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Plenarprotokoll 17/96

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

96. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10889 D


neten Dr. Lukrezia Jochimsen und Edelgard
Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 10893 D
Bulmahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10881 A
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 10896 B
Begrüßung der neuen Abgeordneten Helmut
Heiderich und Ingo Egloff . . . . . . . . . . . . . . 10881 B Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10898 D
Wahl des Abgeordneten Peter Wichtel als Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 10901
0000 A
B
Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10881 B Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10901 C
Erweiterung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 10881 C Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10901 D
Absetzung der Tagesordnungspunkte 27 d und
30 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10882 B Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10903 C
Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 10882 B Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . 10905 A
Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . 10905 C
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10907 C
Tagesordnungspunkt 5: Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Abgabe einer Regierungserklärung durch die DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10909 B
Bundeskanzlerin: zur aktuellen Lage in Ja- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10910 B
pan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10882 D
Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10911 D
Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10912 D
in Verbindung mit
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10913 D

Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . 10914 D


Zusatztagesordnungspunkt 1:
10915 A, B, C
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10921
. . . . . .A, 10923 B
Jürgen Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-
Uhl, weiteren Abgeordneten und der Fraktion 10926 A, 10928 B
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten 10930 B, 10933 A
Entwurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur 10935 B
Änderung des Atomgesetzes und zur Wie- Tagesordnungspunkt 6:
derherstellung des Atomkonsenses
(Drucksache 17/5035) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10882 D Erste Beratung des von den Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet
Dr. Angela Merkel, Kilic, weiteren Abgeordneten und der Frak-
Bundeskanzlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10883 A tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än- Zusatztagesordnungspunkt 2:


derung des Bundeswahlgesetzes
Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede,
(Drucksache 17/4694) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10915 D
Dr. Konstantin von Notz, Jerzy Montag, wei-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10916 A NIS 90/DIE GRÜNEN: Zugang zu verwais-
ten Werken erleichtern
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10917 B (Drucksache 17/4695) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 C

Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10938 A


Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 A
Tagesordnungspunkt 33:
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ a) Zweite und dritte Beratung des von der
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10941 C Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 10943 D eines Ersten Gesetzes zur Änderung des
BVL-Gesetzes
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 10946 A (Drucksachen 17/4381, 17/5034) . . . . . . . 10949 D

Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 10948 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-


schusses für Wirtschaft und Technologie zu
der Verordnung der Bundesregierung: Ein-
hundertsechzigste Verordnung zur Än-
derung der Einfuhrliste – Anlage zum
Tagesordnungspunkt 32: Außenwirtschaftsgesetz –
(Drucksachen 17/4403, 17/4499 Nr. 2,
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
17/4774) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10950 A
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Durchführung der Verordnung c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
(EG) Nr. 4/2009 und zur Neuordnung schusses für Ernährung, Landwirtschaft
bestehender Aus- und Durchführungs- und Verbraucherschutz zu dem Antrag der
bestimmungen auf dem Gebiet des in- Abgeordneten Karin Binder, Ralph Lenkert,
ternationalen Unterhaltsverfahrensrechts Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der
(Drucksache 17/4887) . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 A Fraktion DIE LINKE: Verbraucher-
freundliche Rücknahmepflicht des Ein-
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- zelhandels für Energiesparlampen
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- durchsetzen
zes über die vorläufige Durchführung (Drucksachen 17/2121, 17/3684) . . . . . . . 10950 B
unmittelbar geltender Vorschriften der
d) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Europäischen Union über die Zulas-
schusses für Umwelt, Naturschutz und
sung oder Genehmigung des Inverkehr-
Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab-
bringens von Pflanzenschutzmitteln geordneten Dorothea Steiner, Sylvia Kotting-
(Drucksache 17/4985) . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 B Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
c) Antrag der Abgeordneten Ulrich Lange,
GRÜNEN: Bürgerfreundliches Rück-
Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, nahmesystem für gebrauchte Energie-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion sparlampen im Handel einrichten
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (Drucksachen 17/1583, 17/3278) . . . . . . . 10950 C
Patrick Döring, Werner Simmling, Oliver
Luksic, weiterer Abgeordneter und der e) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Fraktion der FDP: Sicherheit im Eisen- schusses für die Angelegenheiten der Euro-
bahnverkehr verbessern – Strecken- päischen Union zu dem Antrag der Abge-
netz mit Sicherungssystemen ausstatten ordneten Dr. Diether Dehm, Alexander
(Drucksache 17/5046) . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 B Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE: Ge-
d) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, gen Armut und soziale Ausgrenzung –
Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, Soziale Fortschrittsklausel in das EU-
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Vertragswerk aufnehmen
SPD: Rechtsextremistische Einstellungen (Drucksachen 17/902, 17/4773) . . . . . . . . 10950 D
im Sport konsequent bekämpfen – Tole- f) – o)
ranz und Demokratie nachhaltig för-
dern Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
(Drucksache 17/5045) . . . . . . . . . . . . . . . . 10949 C schusses: Sammelübersichten 224, 225,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 III

226, 227, 228, 229, 230, 231, 232 und 233 DIE GRÜNEN: Steuerhinterziehung
zu Petitionen wirksam bekämpfen
(Drucksachen 17/4864, 17/4865, 17/4866,
(Drucksachen 17/1755, 17/4670, 17/1149,
17/4867, 17/4868, 17/4869, 7/4870, 17/
17/1765, 17/5067 (neu)) . . . . . . . . . . . . . . 10952 B
4871, 17/4872, 17/4873) . . . . . . . . . . . . . . 10951 A
Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 10952 B
Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . 10951 A Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10957 A
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 10958 D
Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10954 D
Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 10960 A
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10961 B
Tagesordnungspunkt 7: Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10962 C
a) – Zweite und dritte Beratung des von Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10963 A
den Fraktionen der CDU/CSU und FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 10964 A
zur Verbesserung der Bekämpfung Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10965 B
von Geldwäsche und Steuerhinter-
ziehung (Schwarzgeldbekämpfungs- Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 10966 A
gesetz) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . 10966 C
(Drucksachen 17/4182, 17/5067 (neu)) 10952 A
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
– Zweite und dritte Beratung des von DIE GRÜNEN) 10967 D
der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
der Bekämpfung von Geldwäsche und
Steuerhinterziehung (Schwarzgeld- Tagesordnungspunkt 8:
bekämpfungsgesetz)
(Drucksachen 17/4802, 17/5067 (neu)) 10952 A a) Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer,
Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer
– Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Fraktion der SPD eingebrachten Ent- Stillstand in der Verkehrspolitik über-
wurfs eines … Gesetzes zur Änderung winden – Zukunftskommission zur
der Abgabenordnung (Abschaffung Reform der Infrastrukturfinanzierung
der strafbefreienden Selbstanzeige einrichten
bei Steuerhinterziehung) (Drucksache 17/5022) . . . . . . . . . . . . . . . 10969 C
(Drucksachen 17/1411, 17/5067 (neu)) 10952 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi-
entwicklung zu dem Antrag der Abgeord-
nanzausschusses
neten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
– zu dem Antrag der Fraktionen der Martin Burkert, weiterer Abgeordneter
CDU/CSU und FDP: Steuerhinterzie- und der Fraktion der SPD: Erhalt und
hung wirksam und zielgenau be- Ausbau der Verkehrsinfrastruktur si-
kämpfen chern – Deutschland braucht eine mo-
derne Zukunftsstrategie zur Infrastruk-
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD: turfinanzierung
Instrumente zur Bekämpfung der (Drucksachen 17/782, 17/1479) . . . . . . . . 10969 C
Steuerhinterziehung nutzen und
c) Beschlussempfehlung und Bericht des
ausbauen
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
– zu dem Antrag der Abgeordneten entwicklung zu dem Antrag der Abgeord-
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, neten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
Richard Pitterle, weiterer Abgeordne- Martin Burkert, weiterer Abgeordneter
ter und der Fraktion DIE LINKE: Den und der Fraktion der SPD: Mobilität
Kampf gegen Steuerhinterziehung nachhaltig gestalten – Erfolgreichen
nicht dem Zufall überlassen Ansatz der integrierten Verkehrspoli-
tik fortentwickeln
– zu dem Antrag der Abgeordneten (Drucksachen 17/1060, 17/2226) . . . . . . . 10969 D
Dr. Gerhard Schick, Dr. Thomas Gambke,
Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10970 A
Britta Haßelmann, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10971 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 10972 C – zu dem Antrag der Abgeordneten


Sevim Dağdelen, Jan Korte, Matthias
Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 10974 A W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion DIE LINKE: Für ein
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10975 B wirksames Rückkehrrecht und eine
Stärkung der Rechte der Opfer von
Reinhold Sendker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 10976 B Zwangsverheiratungen
Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10977 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Memet Kilic, Volker
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 10978 C Beck (Köln), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Für eine wirksame und
stichtagsunabhängige gesetzliche Blei-
Tagesordnungspunkt 9: berechtsregelung im Aufenthaltsge-
setz
a) – Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Ent- – zu dem Antrag der Abgeordneten
wurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung Memet Kilic, Volker Beck (Köln),
der Zwangsheirat und zum besseren Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter
Schutz der Opfer von Zwangsheirat und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
sowie zur Änderung weiterer auf- GRÜNEN: Opfer von Zwangsverhei-
enthalts- und asylrechtlicher Vor- ratungen wirksam schützen durch
schriften bundesgesetzliche Reformen und eine
(Drucksachen 17/4401, 17/5093) . . . . 10980 B Bund-Länder-Initiative
– Zweite und dritte Beratung des von – zu dem Antrag der Abgeordneten Josef
den Abgeordneten Rüdiger Veit, Philip Winkler, Volker Beck (Köln),
Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele Memet Kilic, weiterer Abgeordneter
Fograscher, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
und der Fraktion der SPD eingebrach- GRÜNEN: Residenzpflicht abschaf-
ten Entwurfs eines Gesetzes für ein fen – Für weitestgehende Freizügig-
erweitertes Rückkehrrecht im Auf- keit von Asylbewerbern und Gedul-
enthaltsgesetz deten
(Drucksachen 17/4197, 17/5093) . . . . 10980 A
(Drucksachen 17/2325, 17/4681, 17/1571,
– Zweite und dritte Beratung des von 17/2491, 17/3065, 17/5093) . . . . . . . . . . . 10980 D
den Abgeordneten Rüdiger Veit, Dr.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister
Dieter Wiefelspütz, Olaf Scholz, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10981 A
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10982
0000 A
C
… Gesetzes zur Änderung des Auf-
enthaltsgesetzes (Altfallregelung) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 10984 A
(Drucksachen 17/207, 17/5093) . . . . . 10980 A
Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 10985 B
– Zweite und dritte Beratung des von
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
den Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10986 C
Korte, Sevim Dağdelen, weiteren Ab-
geordneten und der Fraktion DIE Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 10988 A
LINKE eingebrachten Entwurfs eines
… Gesetzes zur Änderung des Auf- Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10989 C
enthaltsgesetzes (Bleiberechtsrege- Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
lung und Vermeidung von Ketten- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10990 A
duldungen)
(Drucksachen 17/1557, 17/5093) . . . . 10980 A Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10991 A
b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10992 A
nenausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen,
Tagesordnungspunkt 10:
weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE: Menschenrecht auf Antrag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald,
Freizügigkeit ungeteilt verwirkli- Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer
chen Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 V

Für eine gerechte Angleichung der Renten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
in Ostdeutschland Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej
(Drucksache 17/4192) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10994 C Hunko, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: zum Entwurf eines
Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 10994 D Beschlusses des Europäischen Rates zur
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 10996 A Änderung des Vertrags über die Ar-
beitsweise der Europäischen Union hin-
Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . 10997 C sichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 10999 A
der Euro ist
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn – Ratsdok. 17620/10 (EUCO 30/10), An-
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 11000 A lage 1 –
Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11001 C hier: Stellungnahme gegenüber der
Bundesregierung gemäß Artikel
23 Absatz 3 des Grundgesetzes
– zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel
Tagesordnungspunkt 11:
Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Schick, weiterer Abgeordneter und der Frak-
schusses für die Angelegenheiten der Euro- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Her-
päischen Union stellung des Einvernehmens zwischen
Bundestag und Bundesregierung zur
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ Änderung des Artikels 136 des Vertrags
CSU und FDP: Einvernehmensherstel- über die Arbeitsweise der Europäischen
lung von Bundestag und Bundesregie- Union hinsichtlich eines Stabilitätsme-
rung zur Ergänzung von Artikel 136 chanismus für die Mitgliedstaaten, de-
des Vertrages über die Arbeitsweise der ren Währung der Euro ist
Europäischen Union (AEUV) hinsicht-
lich der Einrichtung eines Europäi- hier: Stellungnahme des Deutschen
schen Stabilitätsmechanismus (ESM) Bundestages nach Artikel 23 Ab-
satz 3 GG i. V. m. § 10 des Geset-
hier: Stellungnahme des Deutschen zes über die Zusammenarbeit von
Bundestages nach Artikel 23 Ab- Bundesregierung und Deutschem
satz 3 des Grundgesetzes i. V. m. Bundestag in Angelegenheiten
§ 10 des Gesetzes über die Zu- der Europäischen Union
sammenarbeit von Bundesregie-
rung und Deutschem Bundestag (Drucksachen 17/4880, 17/4881, 17/4882,
in Angelegenheiten der Europäi- 17/4883, 17/5094) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11002 D
schen Union
Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 11003 C
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD: zum
Entwurf eines Beschlusses des Europäi- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
schen Rates zur Änderung des Vertrags DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11004 C
über die Arbeitsweise der Europäischen
Union hinsichtlich eines Stabilitätsme- Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . 11005 B
chanismus für die Mitgliedstaaten, de- Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11006 B
ren Währung der Euro ist
– Ratsdok. 17620/10 (EUCO 30/10), An- Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11007 D
lage 1 –
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
hier: Stellungnahme des Deutschen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11008 B
Bundestages nach Artikel 23 Ab-
satz 3 des Grundgesetzes (GG) Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 11010 A
i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesre- Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/
gierung und Deutschem Bundes- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11011 B
tag in Angelegenheiten der Euro- Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . 11012 B
päischen Union
Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11012 D
Herstellung des Einvernehmens bezüg-
lich der Ergänzung von Artikel 136 Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
AEUV zur Einrichtung eines Europäi- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11013 D
schen Stabilitätsmechanismus (ESM)
verantwortlich gestalten Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11014 B
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Tagesordnungspunkt 12: Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 11031 D


Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/
schusses für Gesundheit zu dem Antrag der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11032 C
Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl
Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordne- Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 11033 B
ter und der Fraktion der SPD: Qualität und
Transparenz in der Pflege konsequent wei-
terentwickeln – Pflege-Transparenzkrite-
rien optimieren Tagesordnungspunkt 15:
(Drucksachen 17/1427, 17/4925) . . . . . . . . . . 11016 A Erste Beratung des von der Bundesregierung
Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 11016 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung mautrechtlicher Vorschriften
Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11017 B für Bundesfernstraßen
Willi Zylajew (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11018 B (Drucksache 17/4979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11034 C
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . 11019 B Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11034 D
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11020 A Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11036 A
Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11021 A Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11037 B
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 11038 C
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 13: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11039 C
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11040 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Sieb-
ten Gesetzes zur Änderung des Straßen-
verkehrsgesetzes
(Drucksache 17/4981) . . . . . . . . . . . . . . . . 11022 A Tagesordnungspunkt 16:
b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An-
derung des Straßenverkehrsgesetzes trag der Abgeordneten Matthias W. Birkwald,
(Drucksache 17/2766) . . . . . . . . . . . . . . . . 11022 A Diana Golze, Heidrun Dittrich, weiterer Ab-
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär geordneter und der Fraktion DIE LINKE:
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11022 B Aufgaben und Zusammensetzung der Al-
tersarmutskommission – Altersarmut um-
Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11023 B fassend und mit den richtigen Mitteln be-
Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11024 D kämpfen
(Drucksachen 17/4422, 17/4926) . . . . . . . . . . 11042 A
Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 11025 D
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 11042 B
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11026 C Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11043 C
Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11027 B Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11044 C
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11045 D
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 11046 C
Tagesordnungspunkt 14: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 11047 B
schusses für Wirtschaft und Technologie zu
dem Antrag der Abgeordneten Edelgard
Bulmahn, Klaus Barthel, Garrelt Duin, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Tagesordnungspunkt 17:
Fairen Rohstoffhandel sichern – Handel
Erste Beratung des von der Bundesregierung
mit Seltenen Erden offenhalten
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset-
(Drucksachen 17/4553, 17/4910) . . . . . . . . . . 11028 C
zes zur Änderung des Europäische-Be-
Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11028 C triebsräte-Gesetzes – Umsetzung der
Richtlinie 2009/38/EG über Europäische
Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11029 C
Betriebsräte (2. EBRG-ÄndG)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 11030 C (Drucksache 17/4808) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11048 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 VII

Tagesordnungspunkt 18: terer Abgeordneter und der Fraktion der


SPD: Die Reform der Gemeinsamen Fi-
Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- schereipolitik zum Erfolg führen
ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten
Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Josef Philip – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
Winkler, weiterer Abgeordneter und der Frak- Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Weitere (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und
iranische Flüchtlinge aus der Türkei in der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deutschland aufnehmen NEN: Chancen der EU-Fischereireform
(Drucksachen 17/2439, 17/4087) . . . . . . . . . . 11048 C 2013 nutzen und Gemeinsame Fische-
reipolitik grundlegend reformieren
(Drucksachen 17/3179, 17/3209, 17/3957) . . 11060 C
Tagesordnungspunkt 19:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 22:
Koordinierung der Systeme der sozialen Erste Beratung des von der Bundesregierung
Sicherheit in Europa und zur Änderung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset-
anderer Gesetze zes zur Änderung des Lebensmittel- und
(Drucksache 17/4978) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11048 D Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vor-
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11049 A schriften
(Drucksache 17/4984) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11061 A
Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11050 B
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . . 11061 A
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11051 C
Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11062 A
Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11052 C
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 11063 A
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 11053 B
Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11064 A
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11054 A Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11065 B

Tagesordnungspunkt 20:
Tagesordnungspunkt 23:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
des Einsatzes von Videokonferenztechnik in schusses für Ernährung, Landwirtschaft und
gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge-
Verfahren ordneten Ulrike Höfken, Birgitt Bender,
(Drucksache 17/1224) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11055 A Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11055 A Umsetzung der EU-Health-Claims-Verord-
nung voranbringen
Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 11056 B (Drucksachen 17/4015, 17/4892) . . . . . . . . . . 11066 A
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 11057 A Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 11066 B
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Kerstin Tack (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11067 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11057 D
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . 11067 D
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11059 B Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11068 C
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11069 C
Tagesordnungspunkt 21:
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Tagesordnungspunkt 24:
Verbraucherschutz
Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler,
– zu dem Antrag der Abgeordneten Holger Viola von Cramon-Taubadel, Volker Beck
Ortel, Petra Crone, Petra Ernstberger, wei- (Köln), weiterer Abgeordneter und der Frak-
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für wirk- Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11088 C


samen Rechtsschutz im Asylverfahren –
Konsequenzen aus der Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte ziehen Anlage 1
(Drucksache 17/4886) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11070 C
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 11089 A
Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11070 D
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11072 B
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 11072 B Anlage 2

Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11072 D Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen


Abstimmung über den Entschließungsantrag
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11073 C der FDP zu der Abgabe einer Regierungser-
klärung durch die Bundeskanzlerin zur aktu-
ellen Lage in Japan (Tagesordnungspunkt 5)

Tagesordnungspunkt 25: Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 11089 C

Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11090 A


Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weite-
Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen)
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11090 C
NIS 90/DIE GRÜNEN: Transparenter Stress-
test für die Leistungsfähigkeit des Bahn- Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . 11090 D
projektes Stuttgart 21
(Drucksache 17/5041) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11074 C
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11074 D
Anlage 3
Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 11075 C
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11076 B Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) zur na-
mentlichen Abstimmung über die Nummer 3
Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 11077 A des Entschließungsantrags der Fraktion der
SPD zu der Abgabe einer Regierungserklä-
Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11078 B rung durch die Bundeskanzlerin zur aktuellen
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Lage in Japan (Tagesordnungspunkt 5) . . . . . 11091 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11079 C

Anlage 4
Tagesordnungspunkt 26: Erklärung des Abgeordneten Dr. Johann
Antrag der Abgeordneten Claudia Roth (Augs- Wadephul (CDU/CSU) zur namentlichen Ab-
burg), Dr. Frithjof Schmidt, Manuel Sarrazin, stimmung über den Entschließungsantrag der
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU-Beitritts- Abgabe einer Regierungserklärung durch die
verhandlungen mit der Türkei wiederbele- Bundeskanzlerin zur aktuellen Lage in Japan
ben (Drucksache 17/5052) (Tagesordnungspunkt 5) 11091 B
(Drucksache 17/5042) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11080 C
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11080 D
Anlage 5
Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11082 B
Erklärung des Abgeordneten Roderich
Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11083 D Kiesewetter (CDU/CSU) zur namentlichen
Abstimmung über den Entschließungsantrag
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 11085
0000 A
B
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu
Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 11086 B der Abgabe einer Regierungserklärung durch
die Bundeskanzlerin zur aktuellen Lage in Ja-
Claudia Roth (Augsburg) pan (Drucksache 17/5052) (Tagesordnungs-
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . 11087 B punkt 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11091 C
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 IX

Anlage 6 Anlage 11
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Petra Hinz (Essen) (SPD) zur namentlichen Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch
Abstimmung über die Beschlussempfehlung: (CDU/CSU) zur Abstimmung über die Be-
Gegen Armut und soziale Ausgrenzung – So- schlussempfehlung zu dem Antrag:
ziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertrags- Einvernehmensherstellung von Bundestag und
werk aufnehmen (Tagesordnungspunkt 33 e) 11091 C Bundesregierung zur Ergänzung von Artikel
136 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union (AEUV) hinsichtlich der
Einrichtung eines Europäischen Stabilitätsme-
chanismus (ESM)
Anlage 7
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten tages nach Artikel 23 Absatz 3 Grund-
Daniela Kolbe (Leipzig) und Rüdiger Veit gesetz i. V. m. § 10 des Gesetzes über
(beide SPD) zur namentlichen Abstimmung die Zusammenarbeit von Bundesregie-
über die Beschlussempfehlung: Gegen Armut rung und Deutschem Bundestag in An-
und soziale Ausgrenzung – Soziale Fort- gelegenheiten der Europäische Union
schrittsklausel in das EU-Vertragswerk auf- (Tagesordnungspunkt 11) . . . . . . . . . . 11094 C
nehmen (Tagesordnungspunkt 33 e) . . . . . . . . 11092 A

Anlage 12

Anlage 8 Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung


des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än-
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten derung des Europäische-Betriebsräte-Geset-
Manuel Sarrazin, Beate Müller-Gemmeke und zes – Umsetzung der Richtlinie 2009/38/EG
Hans-Christian Ströbele (alle BÜNDNIS 90/ über Europäische Betriebsräte (2. EBRG-
DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstim- ÄndG) (Tagesordnungspunkt 17)
mung über die Beschlussempfehlung: Gegen Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 11095 D
Armut und soziale Ausgrenzung – Soziale
Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk Josip Juratovic (SPD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11096 C
aufnehmen (Tagesordnungspunkt 33 e) . . . . . 11092 C
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 11097 C
Jutta Krellmann (DIE LINKE . . . . . . . . . . . . 11098 B
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/
Anlage 9 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11099 B
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
Elvira Drobinski-Weiß, Heinz Paula, Petra BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11100 A
Crone und Kerstin Tack (alle SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung: Gegen Armut und soziale Aus-
grenzung – Soziale Fortschrittsklausel in das Anlage 13
EU-Vertragswerk aufnehmen (Tagesord-
Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung
nungspunkt 33 e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11093 A der Beschlussempfehlung und des Berichts:
Weitere iranische Flüchtlinge aus der Türkei
in Deutschland aufnehmen (Tagesordnungs-
punkt 18)
Anlage 10 Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 11101 A
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 11102 C
Sibylle Laurischk (FDP) zur Abstimmung
über den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämp- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 11103 B
fung der Zwangsheirat und zum besseren Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 11103 C
Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur
Änderung weiterer aufenthalts- und asylrecht- Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/
licher Vorschriften (Tagesordnungspunkt 9 a) 11093 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11104 A
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Anlage 14 Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 11105 B


Zu Protokoll gegebenen Reden zur Beratung Holger Ortel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11107 A
der Anträge:
– Die Reform der Gemeinsamen Fischerei- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . 11108 C
politik zum Erfolg führen
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 11109 C
– Chancen der EU-Fischereireform 2013 nut-
zen und Gemeinsame Fischereipolitik grund- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/
legend reformieren (Tagesordnungspunkt 21) DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11110 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10881

(A) (C)

Redetext

96. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist der Kollege
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. – Wichtel hiermit gewählt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie zu un-
serer Plenarsitzung. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
Die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen hat am geführten Punkte zu erweitern:
1. März ihren 75. Geburtstag gefeiert und die Kollegin
Edelgard Bulmahn einige Tage später ihren ZP 1 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
60. Geburtstag. Im Namen des gesamten Hauses möchte Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
ich dazu auch auf diesem Wege noch einmal herzlich teren Abgeordneten und der Fraktion
gratulieren und alle guten Wünsche übermitteln. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Ände-
(Beifall) rung des Atomgesetzes und zur Wiederherstel-
(B) Der Kollege Holger Haibach hat mit Wirkung vom lung des Atomkonsenses (D)
1. März auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundes-
– Drucksache 17/5035 –
tag verzichtet. Als seinen Nachfolger begrüße ich den
Kollegen Helmut Heiderich. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
(Beifall) Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ebenso herzlich willkommen heiße ich den Kollegen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ingo Egloff, der als Nachfolger des Kollegen Olaf Ausschuss für Bildung, Forschung und
Scholz die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag er- Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
worben hat.
(Beifall) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Die CDU/CSU-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kol-
legin Sibylle Pfeiffer ihr Amt als Schriftführerin nieder- Ergänzung zu TOP 32
gelegt hat.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Dem Krumwiede, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy
kann nicht zugestimmt werden! – Sören Bartol Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
[SPD]: Wollte sie keine Krawatte tragen? – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Weil
sie keine Krawatte trägt?) Zugang zu verwaisten Werken erleichtern

Als neuer Schriftführer wird der Kollege Peter – Drucksache 17/4695 –


Wichtel vorgeschlagen. Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für Bildung, Forschung und
neten der SPD und der FDP – Dr. Dagmar Technikfolgenabschätzung
Enkelmann [DIE LINKE]: Trägt der Kra- Ausschuss für Kultur und Medien
watte? – Ulrich Kelber [SPD]: Krawattentest
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
bestanden!)
Dr. Gregor Gysi, Jan van Aken, Christine
– Alle entsprechenden Tests sind durchgeführt. Sie dür- Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
fen da ganz beruhigt sein. – Sind Sie damit einverstan- tion DIE LINKE
10882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Alle Exporte von Kriegswaffen und sonstigen Die am 25. Februar 2011 überwiesene nachfolgende (C)
Rüstungsgütern stoppen Unterrichtung soll nunmehr nicht mehr dem Ausschuss
für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zur Mitbera-
– Drucksache 17/5039 – tung überwiesen werden:
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss Tätigkeitsberichte 2008 und 2009 der Bundes-
netzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommu-
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- nikation, Post und Eisenbahnen für den Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- reich Eisenbahnen gemäß § 14 b des
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- Allgemeinen Eisenbahngesetzes
ordneten Katja Keul, Dr. Frithjof Schmidt,
Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der und
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stellungnahme der Bundesregierung
Rüstungsexportberichte zeitnah zum Jahres- – Drucksache 17/4630 –
abrüstungsbericht vorlegen überwiesen:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
– Drucksachen 17/1167, 17/1627 –
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Berichterstattung: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Abgeordneter Rolf Hempelmann Der am 24. Februar 2011 überwiesene nachfolgende
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Antrag soll nunmehr nicht mehr dem Haushaltsaus-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- schuss (8. Ausschuss) gemäß § 96 GO überwiesen wer-
nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge- den; die Mitberatung des Haushaltsausschusses soll je-
ordneten Katja Keul, Marieluise Beck (Bremen), doch bestehen bleiben:
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und Antrag der Abgeordneten Harald Koch, Heidrun
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dittrich, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Gemeinsamen Standpunkt der EU für Waffen-
ausfuhren auch bei Rüstungsexporten an EU-, Jugendfreiwilligendienste weiter ausbauen
NATO- und NATO-gleichgestellte Länder statt Bundesfreiwilligendienst einführen
konsequent umsetzen
(B) – Drucksache 17/4845 – (D)
– Drucksachen 17/2438, 17/3291 – überwiesen:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Berichterstattung: Innenausschuss
Abgeordnete Kerstin Andreae Sportausschuss
Rechtsausschuss
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Verteidigungsausschuss
weit erforderlich, abgewichen werden. Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Die Tagesordnungspunkte 27 d und 30 werden abge- Haushaltsausschuss mitberatend
setzt. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Außerdem mache ich auf einige geänderte Aus- Das ist offensichtlich der Fall. Dann haben wir das so
schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste beschlossen.
aufmerksam: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 sowie den
Der am 27. Januar 2011 überwiesene nachfolgende Zusatzpunkt 1 auf:
Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Familie, Se- 5 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
nioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zur Mitbe- Bundeskanzlerin
ratung überwiesen werden; die Mitberatung des Aus-
schusses für Gesundheit (14. Ausschuss) soll entfallen: zur aktuellen Lage in Japan
Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), ZP 1 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen
Katja Dörner, Kai Gehring, weiterer Abgeordne- Trittin, Renate Künast, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- teren Abgeordneten und der Fraktion
NEN BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Dreizehnten Gesetzes zur Ände-
Bildungsberichte nutzen – Bildungssystem ge- rung des Atomgesetzes und zur Wiederherstel-
rechter und besser machen lung des Atomkonsenses
– Drucksache 17/4436 – – Drucksache 17/5035 –
überwiesen: Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
Technikfolgenabschätzung (f) Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Rechtsausschuss
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10883
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zugehen, dass es in drei der Anlagen zu schweren Schä- (C)
Ausschuss für Bildung, Forschung und den an den Reaktorkernen gekommen ist.
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss Was uns angesichts all dieser Berichte und Bilder, die
wir seit letztem Freitag sehen und zu verstehen versu-
Zu der Regierungserklärung liegen je ein Entschlie- chen, erfüllt, das sind Entsetzen, Fassungslosigkeit, Mit-
ßungsantrag der Koalitionsfraktionen, der Fraktion der gefühl und Trauer. Die Katastrophe in Japan hat ein ge-
SPD und der Fraktion Die Linke sowie zwei Entschlie- radezu apokalyptisches Ausmaß, und es fehlen die
ßungsanträge der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Worte. Unsere tiefste Anteilnahme, unsere Gedanken
Alle Fraktionen haben namentliche Abstimmung über und unsere Gebete sind bei den Menschen in Japan.
ihre Entschließungsanträge verlangt. Insgesamt werden
wir zu den Entschließungsanträgen sieben namentliche (Beifall im ganzen Hause)
Abstimmungen durchführen. In dieser Stunde schwerster Prüfung steht Deutsch-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für land an der Seite Japans. Was immer wir tun können, um
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- den Menschen in Japan bei der Bewältigung dieser
rung zwei Stunden vorgesehen. – Auch dies ist offen- schier unfassbaren Katastrophe zu helfen, das werden
wir weiter tun. Das habe ich Premierminister Kan über-
kundig einvernehmlich und damit so beschlossen.
mittelt, und das hat auch der Bundesaußenminister sei-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nem japanischen Kollegen gesagt.
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. Experten des Technischen Hilfswerks haben in den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) vergangenen Tagen vor Ort bei der Suche nach Überle-
benden geholfen. Ich danke ihnen, und ich danke den
Helfern anderer Organisationen für ihren Einsatz für die
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Menschen in Japan.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am (Beifall im ganzen Hause)
Freitag der letzten Woche, 14.45 Uhr Ortszeit, bebte in
Japan die Erde. Seismologen maßen eine Stärke von 8,9, Ich danke allen Helfern des Krisenstabes im Auswär-
später korrigiert auf 9,0. Es war das schwerste Erdbeben tigen Amt und der Botschaft vor Ort. Sie koordinieren
in der Geschichte Japans. Sein Epizentrum lag circa unsere Hilfe. Sie unterstützen auch alle deutschen
130 Kilometer östlich der Stadt Sendai und circa Staatsangehörigen im Krisengebiet bei einer Ausreise,
400 Kilometer nordöstlich der japanischen Hauptstadt wenn sie das wünschen.
Tokio. Um 16 Uhr Ortszeit desselben Tages traf eine bis Auch die Vereinten Nationen haben ein Team nach
(B) zu 10 Meter hohe Flutwelle auf die Ostküste der japani- Japan entsandt. Es soll die japanische Regierung dabei (D)
schen Hauptinsel Honshu. Sie richtete schwerste Ver- unterstützen, die Aufbaumaßnahmen zu koordinieren.
wüstungen an. Noch am Abend dieses Tages gab es Mel- Ebenfalls ihre Hilfe angeboten hat die Europäische
dungen, wonach in einem Reaktor des Kernkraftwerks Union.
Fukushima I die Kühlung ausgefallen und im Atom-
kraftwerk Onagawa ein Feuer ausgebrochen war. Die ja- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Folgen dieser
panische Regierung rief den atomaren Notstand aus. Katastrophe sind überhaupt noch nicht absehbar. Die Be-
troffenen vor Ort hatten noch fast gar keine Chance, fest-
In den folgenden Tagen und Nächten erschütterten zustellen, in welchen Bereichen sie tatsächlich weitere
zahlreiche, zum Teil schwere Nachbeben das Land – und Hilfe genau benötigen. Denn der Albtraum immer neuer
das bis heute. Erdbeben und Tsunami haben weite Land- Beben und nuklearer Horrorszenarien hat noch kein
striche von Japans Nordosten verwüstet. Ganze Ort- Ende gefunden.
schaften wurden ausgelöscht. Die Zahl der Opfer In dieser Lage ist es unverzichtbar, dass wir den Men-
schnellt seit Tagen in die Höhe. Wie viele es tatsächlich schen in Japan zeigen: Sie sind nicht allein. Dabei zählt
sind – wir wissen es nicht. Zu viele Menschen werden die Geste jedes Einzelnen. Namhafte deutsche Hilfsorga-
vermisst. Unzählige Häuser und Straßen sind zerstört. nisationen haben Spendenkonten eingerichtet. Der Bun-
Unendlich viele Menschen haben ihr Obdach verloren. despräsident hat am Montag dazu aufgerufen, mithilfe
Strom wird rationiert oder ist ganz weg. Treibstoff, von Spenden über diese Organisationen Soforthilfe für
Trinkwasser, Nahrungsmittel sind knapp. Japan zu leisten. Ich möchte diesen Aufruf ausdrücklich
unterstützen.
Rund um das Kernkraftwerk Fukushima wurde die
Evakuierungszone seit Freitag immer wieder erweitert. Die Spendenaktionen sollen vor allem den Menschen
Arbeiter dort führen einen ebenso – man kann es nicht in Japan zugutekommen, die durch Beben, Flutwelle und
anders sagen – heldenhaften wie verzweifelten Kampf die nuklearen Folgen ihr Zuhause verloren haben. Wir
gegen den atomaren Super-GAU. Sie setzen dabei nicht sollten ihnen mit unserer unmittelbaren Unterstützung
nur ihre Gesundheit aufs Spiel, sondern auch ihr Leben ein Zeichen der Solidarität senden.
ein. Immer dramatischer entwickeln sich die Ereignisse (Beifall im ganzen Hause)
dort: ausgefallene Kühlanlagen, Berichte über freilie-
gende Brennstäbe, die sich immer stärker erhitzen, Das ist Hilfe unter Freunden. Japan war und ist ein enger
Explosionen in verschiedenen Reaktoren, in einem Fall Freund Deutschlands, und das sage ich gerade im
wohl auch mit der Folge der Beschädigung eines Sicher- 150. Jahr des Bestehens unserer diplomatischen Bezie-
heitsbehälters, Radioaktivität tritt aus. Es ist davon aus- hungen.
10884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) In dieser Stunde geht es für Unzählige nur um das Ja, es bleibt wahr: Ein Industrieland wie Deutschland, (C)
nackte Überleben. Beinahe verbietet es sich angesichts die größte Wirtschaftsnation Europas, kann nicht von
ihrer Tragödie, bereits jetzt an die wirtschaftlichen Aus- jetzt auf gleich vollständig auf Kernenergie als Brücken-
wirkungen dieser Katastrophe zu denken. Ich will es technologie verzichten, wenn wir unseren Energiever-
deshalb hier auch nur kurz tun, obwohl es für die Zu- brauch weiter eigenständig zuverlässig decken wollen.
kunft Japans von größter Bedeutung ist, wenn die sich
Ich möchte an dieser Stelle, weil es heute ja sicherlich
überschlagenden Schreckensmeldungen hoffentlich bald
auch noch eine Reihe von Auseinandersetzungen geben
ein Ende gefunden haben werden.
wird, noch einmal eines festhalten: In Deutschland gibt
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der dreifachen es einen Konsens aller Parteien, dass wir keine neuen
Katastrophe sind – kurz gesagt – noch nicht abschätzbar. Kernkraftwerke bauen und dass die Kernkraft eine
Nach vergangenen Naturkatastrophen kam Japans Brückentechnologie ist, dass die Kernkraft ausläuft.
Volkswirtschaft durch staatliche Wiederaufbaupro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
gramme schnell wieder auf die Beine. Selbst nach dem derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
schweren Erdbeben um die Stadt Kobe 1995 konnte eine Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Genau
Rezession verhindert werden. Dennoch – so denke ich – keine Einigung!)
muss die Welt dieses Mal darauf vorbereitet sein, dass
die Katastrophe die japanische Wirtschaft vor noch grö- – Die Linke hat wie immer eine Sonderrolle. Entschuldi-
ßere Herausforderungen stellt, als dies frühere Katastro- gung, dass ich Sie mit einbezogen habe. Das werde ich
phen getan haben. natürlich nicht mehr tun.

Japan – auch das dürfen wir nicht vergessen – ist die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Ich befürchte der- Was wir brauchen, ist ein Ausstieg mit Augenmaß.
zeit nicht, dass die Weltwirtschaft signifikant beeinträch-
tigt wird. Trotzdem – das ergänze ich ausdrücklich – Ein Land wie Deutschland hat im Übrigen auch den
werden wir zusammen mit unseren internationalen Part- Verpflichtungen zum Schutz unseres Klimas weiter ge-
nern daran arbeiten, wie mögliche Folgen der Katastro- recht zu werden; denn der Klimawandel ist und bleibt
phe für die globale Konjunktur bestmöglich minimiert eine der großen Herausforderungen der Menschheit.
werden können. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, die Ereignisse in Japan be- Es geht nicht an, dass wir an einem Tag den Klimawan-
deuten nicht allein für Japan eine unfassbare Katastro- del als eines der größten Probleme der Menschheit klas-
phe. Sie sind ein Einschnitt für die ganze Welt, für Eu- sifizieren und an einem anderen Tag so tun, als ob das al-
(B) (D)
ropa, auch für Deutschland. Ich habe es in den les nicht gilt. Wir müssen schon mit einer Zunge
vergangenen fünf Tagen wieder und wieder gesagt, und sprechen.
ich wiederhole es heute: Wir können und wir dürfen
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Sigmar
nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir gehen
Gabriel [SPD]: Zuhören!)
auch nicht zur Tagesordnung über, weder die Menschen
in Deutschland – das zeigt das außergewöhnlich große Ja, es bleibt auch wahr: Energie in Deutschland muss
Interesse an allen Sondersendungen im Fernsehen – für die Menschen bezahlbar sein, und wir haben kein
noch die Politik. Auch die Bundesregierung kann das Problem gelöst, wenn Arbeitsplätze in andere Länder ab-
nicht, und sie ist nicht zur Tagesordnung übergegangen. wandern, wo die Sicherheit der Kernkraftwerke nicht
besser, vielleicht sogar noch geringer ist.
Ja, es bleibt wahr: Derart gewaltige Erdbeben und
Flutwellen, wie sie Japan getroffen haben, treffen uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nach allen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erwar- Und dennoch: Die Bundesregierung konnte und kann
tungen nicht. Auch mit gesundheitlichen Beeinträchti- trotz all dieser unbestrittenen Fakten nicht einfach zur
gungen durch die nukleare Katastrophe in Japan ist für Tagesordnung übergehen, und zwar aus einem alles
uns in Deutschland nach menschlichem Ermessen nicht überragenden Grund:
zu rechnen. Wir sind zu weit von dem Ort der Katastro-
phe entfernt. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Die Wahl!)

Ja, es bleibt wahr: Wir wissen, wie sicher unsere Die unfassbaren Ereignisse in Japan lehren uns, dass et-
Kernkraftwerke sind. Sie gehören zu den weltweit si- was, was nach allen wissenschaftlichen Maßstäben für
chersten, unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden
konnte.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nicht nach
Jetzt geht es wieder los!) allen!)
und ich lehne es auch weiterhin ab, zwar die Kernkraft- Sie lehren uns, dass Risiken, die für absolut unwahr-
werke in Deutschland abzuschalten, aber dann Strom aus scheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends un-
Kernkraftwerken anderer Länder zu beziehen. Das ist wahrscheinlich waren, sondern Realität wurden.
mit mir nicht zu machen.
Wenn das so ist, wenn also in einem so hoch entwi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ckelten Land wie Japan das scheinbar Unmögliche mög-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10885
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) lich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wurde, sind dennoch der Auffassung, dass wir dieses Angebot (C)
dann verändert das die Lage. nicht anzunehmen brauchen, weil wir im beschriebenen
Sinne handeln können – und das umgehend, meine Da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
men und Herren.
Dann haben wir eine neue Lage, dann muss gehandelt
Ich will es noch einmal präzisieren, weil das wirklich
werden. Und wir haben gehandelt. Denn die Menschen
wichtig ist: Die bisher unbestrittene Sicherheit der deut-
in Deutschland können sich darauf verlassen: Ihre Si-
schen Kernkraftwerke beruht auf der Einhaltung des
cherheit und ihr Schutz waren und sind für die Bundesre-
Atomgesetzes, der auf dem Atomgesetz beruhenden
gierung oberstes Gebot.
Rechtsverordnungen und der erteilten Genehmigungen.
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ach du meine Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, dass
Güte!) Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Sze-
narien eintreten können.
Es gilt der Grundsatz: Im Zweifel für die Sicherheit.
(Zurufe von der SPD und der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Auf einmal! – Entschuldigung, die Genehmigungen sind auch zu Ih-
Das ist ja etwas ganz Neues!) ren Zeiten vergeben worden. – Hieraus resultiert die
Notwendigkeit, die Lage unter Berücksichtigung der ak-
Deshalb haben wir im Lichte der Ereignisse in Japan tuellen Ereignisse vorbehaltlos zu analysieren und hie-
veranlasst, dass alle deutschen Kernkraftwerke noch ein- raus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.
mal einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen
werden – im Lichte der neuen Lage! Dazu setzen wir die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Verlängerung der Laufzeiten der deutschen Kernkraft-
Für die dreimonatige Betriebseinstellung der sieben
werke aus,
ältesten Anlagen als vorläufige aufsichtliche Maßnah-
(Ulrich Kelber [SPD]: Das tun Sie ja gerade men sieht das Atomgesetz in § 19 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3
nicht!) eine einschlägige Rechtsgrundlage vor. Auf dieser
Rechtsgrundlage kann bei Vorliegen eines Gefahrenver-
indem wir für den Zeitraum eines dreimonatigen Mora- dachts die einstweilige Betriebseinstellung angeordnet
toriums alle Kernkraftwerke, die 1980 und früher in Be- werden.
trieb gegangen sind, vom Netz nehmen. Besser gesagt:
Wir tun mehr, als ein Moratorium bedeuten würde; denn Jetzt hören Sie wieder gut zu: Ein derartiger Verdacht
ein Moratorium der Verlängerung der Laufzeiten führte ist nach dem Atomrecht – das ist so genau – dann gege-
uns zurück auf die Rechtsgrundlage der rot-grünen Re- ben, wenn sich wegen begründeter Unsicherheiten im
(B) (D)
gierung. Die wiederum würde jetzt nur zur Folge haben, Rahmen der Risikovorsorge Schadensmöglichkeiten
dass Neckarwestheim 1 abgeschaltet werden müsste. nicht völlig ausschließen lassen.
(Sören Bartol [SPD]: Aber für immer!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Thomas Oppermann [SPD]: Das haben wir bei
Alle anderen Kernkraftwerke würden heute, zum jetzi- der Verlängerung schon gesagt! Das ist keine
gen Zeitpunkt, weiterlaufen. neue Lage!)
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der – Hören Sie doch bitte mal zu! Entschuldigung, darf ich
FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- noch einmal wiederholen?
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Was tun wir? NEN]: Nein, lieber nicht!)
(Unruhe) Es ist eine neue Lage.
– Jetzt hören Sie genau zu! Darf ich Sie einfach bitten, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Kelber, dass Sie mal zuhören? NEN]: Nein! Die Lage ist alt!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Im Augenblick rede ich. – Es ist eine neue Lage.
NEN]: Jetzt nicht so arrogant, ja!)
(Michael Groschek [SPD]: 27. März!)
Was tun wir? Bund und Länder sind sich einig, dass
diese Abschaltung durch rechtliche Verfügung der Auf- Hochverehrter Herr Steinmeier, die Kernkraftwerke
sichtsbehörden der Länder angeordnet wird. Das Gesetz – mit Ausnahme von Neckarwestheim – würden nach
über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den der von Rot-Grün geschaffenen Rechtslage heute am
Schutz gegen ihre Gefahren, kurz „Atomgesetz“ ge- Netz sein. Das ist die Wahrheit.
nannt, sieht genau das vor, also eine Anlage vorüberge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hend stillzulegen, bis sich die Behörden Klarheit über
eine neue Lage verschafft haben. Nehmen Sie es doch einfach einmal hin und sagen eben-
falls: Wir haben eine neue Lage. – Das kann man doch
Ich danke an dieser Stelle dem Kollegen Oppermann
erwarten!
ausdrücklich für das Angebot seiner Fraktion an die Ko-
alition, in der nächsten Woche ein gemeinsames, wie Sie Da sich gerade bei älteren Anlagen die Frage nach
es formulieren, Abschaltgesetz zu verabschieden. Wir den in der Auslegung berücksichtigten Szenarien in be-
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) sonderer Weise stellen kann, haben sich die Bundesre- Trassen gehen wird. Das wird sehr zeitnah geschehen, (C)
gierung und die Ministerpräsidenten der Bundesländer noch vor Ostern.
mit Kernkraftwerken
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Auch hier sollten wir uns nicht immer als Erstes ver-
NEN]: Der CDU!)
dächtigen.
dazu entschlossen, diese Anlagen für den Zeitraum der
Meine Damen und Herren, Sicherheit der Kernener-
Überprüfung vom Netz zu nehmen. Dies ist Ausdruck
gie hat nicht nur eine nationale, sondern mindestens
äußerster Vorsorge, der sich die Bundesregierung und
ebenso eine internationale Dimension.
die Ministerpräsidenten zum Schutz der Bevölkerung
verpflichtet sehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich möchte an dieser Stelle festhalten: Dies ist eine Wir werden daher in Europa, international und auch im
aufsichtsrechtliche Maßnahme. Dies ist kein Deal, dies Rahmen der G 20 dafür eintreten, dass die notwendigen
ist keine Absprache, dies ist gar nichts von dem, sondern Schlussfolgerungen aus den Ereignissen in Japan gezo-
dies ist die Anwendung des Atomgesetzes in einer neuen gen werden.
Lage,
Ich habe das Thema „Nukleare Sicherheit“ für den
(Michael Groschek [SPD]: Wahlkampf!) nächsten Europäischen Rat der Staats- und Regierungs-
chefs in der nächsten Woche am 24. und 25. März ange-
nicht mehr und nicht weniger. Das ist Verantwortung, meldet. Der Ratspräsident hat der Aufsetzung dieses Ta-
meine Damen und Herren. gesordnungspunkts bereits zugestimmt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Auf EU-Ebene hat Energiekommissar Oettinger
Ich bin mir dazu sowohl in der Sache als auch im Ver- schnell gehandelt. Ich begrüße, dass er schon begonnen
fahren mit den Ministerpräsidenten der Standortländer hat, Gespräche mit den wichtigsten Akteuren zu führen,
vollkommen einig. und ich unterstütze die Initiative für einen EU-weiten
Stresstest für alle Kernkraftwerke. Wir brauchen in der
(Sigmar Gabriel [SPD]: Das glaube ich!) gesamten Europäischen Union hohe Sicherheitsstan-
Bund und Länder sind hier gemeinsam in der Verantwor- dards, denn bei Sicherheitsrisiken ist nicht nur der Staat,
tung. in dem das Kernkraftwerk steht, betroffen.

Deshalb sage ich auch, dass ich nicht verhehle, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) ich die Debatte des gestrigen Tages über die rechtlichen Ich habe mit Nicolas Sarkozy verabredet, dass Frank- (D)
Grundlagen des Handelns von Bund und Ländern – die reich gemeinsam mit Deutschland eine Initiative der
wird sicherlich gleich fortgesetzt – nur schwer nachvoll- G 20 zur weltweiten Sicherheit von Kernkraftwerken
ziehen kann. einbringt. Der G-20-Präsident, der französische Präsi-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dent, hat bereits die Energieminister der G-20-Länder
nach Paris zu einem Sondertreffen eingeladen.
der FDP)
Wir müssen sicher in unserem politischem Handeln alle Nach dem dreimonatigen Moratorium werden wir
über die endgültigen Konsequenzen für den Betrieb der
juristischen Anforderungen stets ernst nehmen. Darüber
Kernkraftwerke entscheiden.
kann und darf es nicht den geringsten Zweifel geben.
Das sage ich, damit da überhaupt kein Missverständnis (Zuruf von der LINKEN: Indem wir das ab-
entsteht. Aber wir sollten uns in einer Situation äußerster schalten!)
Gefahrenvorsorge – um diese geht es Bund und Ländern
im Licht der Ereignisse von Japan – nicht juristische Dabei wiederhole ich auch an diesem Ort das, was ich
seit Montag sage: Die Lage nach dem Moratorium wird
Tricks unterstellen, wo keine juristischen Tricks unter-
eine andere sein als die Lage vor dem Moratorium, denn
stellt werden können, meine Damen und Herren.
alles kommt auf den Prüfstand.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie wird darüber hinaus – das sage ich, damit auch da
Dazu gehört im Übrigen auch, dass während des Mo- kein Missverständnis entsteht – auch eine andere Lage
ratoriums meine Gespräche natürlich nicht, wie das zu- sein als die Lage zur Zeit des rot-grünen Gesetzes.
nächst mit Blick auf die Anwendung des Atomgesetzes
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sinnvoll ist, auf den Kreis der Ministerpräsidenten be-
NEN]: Ja, weil Sie nicht mehr dagegen kämp-
schränkt bleiben, die vorgestern mit mir beraten haben. fen können!)
Das gilt für alle Gespräche, die die Bundesregierung in
nächster Zeit führen wird. Weder konnten wir nach den Ereignissen in Japan ein-
fach so zur Tagesordnung übergehen, noch ist das rot-
Wenn es um die Akzeptanz und Fortentwicklung der grüne Konzept tragfähig für ein Land wie Deutschland,
Energiepolitik insgesamt geht, werden natürlich auch ge- für die größte Wirtschaftsnation Europas mit dem An-
sellschaftliche Gruppen einbezogen: Wirtschaft, Ge- spruch höchster Sicherheitsstandards im Lichte aller Er-
werkschaften, Umweltverbände, Kirchen. Natürlich kenntnisse.
werden alle Ministerpräsidenten aller Bundesländer ein-
bezogen, zum Beispiel wenn es um neue Leitungen und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10887
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) Wir werden deshalb die bewusst ehrgeizig kurz bemes- gie langfristig zu einer tragenden Säule unserer Strom- (C)
sene Zeit des Moratoriums nutzen, um die Energiewende versorgung ausgebaut werden kann. Schon bald wird ein
voranzutreiben und, wo immer möglich, zu beschleuni- großes KfW-Programm starten, mit dem wir den Start-
gen. Denn wir wollen so schnell wie möglich das Zeital- schuss für neue Investitionen in Offshorewindparks ge-
ter der erneuerbaren Energien erreichen – das ist unser ben.
Ziel –,
Eine wichtige – ich sage: eine unabdingbare – Voraus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – setzung ist auch der Ausbau der Stromnetze. Wer erneu-
Sören Bartol [SPD]: Alles habt ihr doch im erbare Energien will, darf sich dem Bau der dafür erfor-
Haushalt gekürzt! Das gibt es doch nicht!) derlichen großen Stromtrassen, die neu errichtet werden
müssen, nicht verweigern.
und das mit einem Ausstieg mit Augenmaß.
Klar ist dabei: Wenn jetzt die Sicherheit der Kern- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
energie neu bewertet wird Wir müssen in der Perspektive auch über ein System
(Zuruf von der LINKEN: Pi mal Daumen!) debattieren, das Strom aus erneuerbaren Energien flexi-
bel zum Verbraucher bringt, ihn bedarfsgerecht speichert
und möglicherweise – ich kann den Ergebnissen des Mo- und jederzeit verfügbar verteilt.
ratoriums nicht vorgreifen – Anlagen schneller vom
Netz zu nehmen sind, dann müssen wir – das ist die Nicht zuletzt ist die Steigerung der Energieeffizienz
Schlussfolgerung – auch schneller zu einem System der unverzichtbar, und zwar durch moderne Technologien in
Energieversorgung auf der Grundlage erneuerbarer Ener- allen Bereichen, vom Verbraucher bis zur Industrie. Zu
gien kommen. diesem zentralen Handlungsfeld hat der EU-Energie-
kommissar Oettinger gerade einen neuen Aktionsplan
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) für Energieeffizienz vorgelegt.
Das heißt: Wir werden die sehr ambitionierten Maßnah- Für all das brauchen wir – das ist mir besonders wich-
men des Energiekonzepts nicht nur konsequent umset- tig – breite Unterstützung und Akzeptanz in der Gesell-
zen, sondern sie, wo es geht, auch beschleunigen. schaft. Wir wollen kein Dagegen, sondern ein Dafür.
Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
und der notwendigen Netzinfrastruktur noch schneller
voranbringen. Wir werden für die Umsetzung eine klare Die erneuerbaren Energien können wir nur ausbauen,
Zeitplanung vorlegen; denn eines ist klar: Wir brauchen wenn die notwendigen Stromnetze errichtet werden.
(B) eine Brückentechnologie wie die Kernenergie so lange, Hierfür müssen alle, die den Ausbau der erneuerbaren (D)
bis wir einen Anschluss gefunden haben. Alles andere Energien wollen, um mehr Akzeptanz bei den Bürgerin-
hieße, die Probleme unter den Tisch zu kehren. Das tun nen und Bürgern vor Ort werben. Das ist schlicht und er-
wir nicht. Das widerspräche dem Anspruch der christ- greifend heute nicht der Fall.
lich-liberalen Koalition.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- neten der FDP – Zuruf der Abg. Renate Künast
ruf von der SPD: Heiner Geißler!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
– Sie sind doch bloß neidisch, dass Sie Heiner Geißler Die einen werben, die anderen sind dagegen, wo immer
nicht haben. Meine Güte, also wirklich! das geht, oder spielen auf Zeit und sagen, man müsse
lange darüber diskutieren.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Zurufe der Abg. Renate Künast (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Unruhe) NEN]: Jetzt reicht es aber! Verstehen Sie? Sie
– Darf ich ausreden? Wir reden hier über sehr ernsthafte wollten doch keinen Wahlkampf machen! –
Dinge, meine Damen und Herren. Beifall bei Abgeordneten des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ der CDU/CSU und der FDP)
DIE GRÜNEN)
Ich erinnere noch einmal: Unser Energiekonzept sieht Präsident Dr. Norbert Lammert:
für das Jahr 2050 einen Anteil der erneuerbaren Ener- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aussprache ist
gien von 80 Prozent vor. Das ist extrem anspruchsvoll. wie vereinbart im Anschluss an die Regierungserklärung
Wenn wir das diskutieren, müssen wir ehrlich über die vorgesehen.
Voraussetzungen sprechen; dann müssen wir allerdings
auch ganz konkret werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Na los! Fangen Sie an!) Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
Das betrifft etwa den Ausbau der Windenergie an Wann es reicht, Frau Künast, bestimmt die Fraktion,
Land und auf See. Wir werden zeigen, wie konkret neue indem sie entscheidet, wie viel Redezeit sie mir gibt. Sie
Windparks errichtet werden können und die Windener- haben das nicht zu entscheiden. Das ist auch gut so.
10888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C)
DIE GRÜNEN)
Schauen Sie sich einmal Ihre Parteitagsbeschlüsse zum
Ausbau der Stromtrassen an. – Hören Sie doch einmal zu! Ich bin nicht so wie Sie,
dass ich Ausschnitte lese. Ich lese weiter:
Stromeinsparung können wir nur dann erreichen,
wenn die Verbraucher aktiv mitmachen. Neue Anlagen, Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen
seien es Windkraftwerke, Pumpspeicherwerke – auch da gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten
bitte ich, zu schauen, wer wo protestiert – Betrieb der Anlagen.
(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Da können (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie gerne schauen!) Weiter!)

oder hocheffiziente konventionelle Kraftwerke – schauen Aber: keine neuen Sicherheitsstandards.


Sie sich an, wer alles gegen Kohlekraftwerke ist –, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Weiter! Weiterlesen!)
können wir nur errichten, wenn alle hier in diesem
Meine Damen und Herren, heute wird von Ihnen ein
Hause dafür eintreten, dass sie gebaut werden.
Antrag zur sofortigen Inkraftsetzung des kerntechni-
Meine Damen und Herren, schließlich müssen wir schen Regelwerks zur Abstimmung gestellt. Lassen Sie
auch bei einem weiteren Streitthema endlich vorankom- mich dazu ein Wort sagen. Unter Rot-Grün wurde erst
men: bei der Entsorgung von radioaktiven Abfällen. Es einmal gar nichts unternommen, außer dass man etwas
kann nicht sein, dass wir diese Aufgabe weiter in die Zu- ausgearbeitet hat; aber angewandt hat man es nicht.
kunft und damit auf zukünftige Generationen schieben. (Lachen bei Abgeordneten der SPD und des
Wir packen daher auch dieses Thema, das Rot-Grün in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
unverantwortlicher Weise hat liegen lassen, entschlossen
an. Dann ging es in der Großen Koalition um die Frage,
„Was machen wir damit?“, weil sich Herr Gabriel der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wider- Frage „Stillstand in der Sicherheit“ dankenswerterweise
spruch bei Abgeordneten der SPD) nicht mehr ganz so verpflichtet gefühlt hat.
Sie haben damals bei dem vermeintlich tragfähigen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ausstieg in zwei Bereichen nicht die Zukunft im Blick NEN]: Sie wissen schon gar nicht mehr, dass
(B) gehabt und den Kopf in den Sand gesteckt: bei der Ent- letztes Jahr die Laufzeit verlängert worden (D)
sorgung – da haben Sie ein Moratorium für Gorleben ist! – Weitere Zurufe von der SPD und vom
vereinbart – und, das kann ich Ihnen nicht ersparen, bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
der Sicherheit. Herr Trittin, Sie wissen genau: Damals,
im sogenannten Atomkonsens aus dem Jahre 2000, un- – Ich sage das doch ausdrücklich lobend.
terzeichnet 2001, ist vereinbart worden: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Während der Restlaufzeiten Dann hat Herr Gabriel dieses kerntechnische Regelwerk
– ich sage noch einmal, heute wäre nur Neckarwest- zur Erprobung parallel zu den gängigen und geltenden
heim 1 abgeschaltet; alle anderen wären am Netz – Sicherheitsvorschriften laufen lassen. Herr Gabriel ist
dafür kritisiert worden, pikanterweise vom ehemaligen
wird der von Recht und Gesetz geforderte hohe Si- Staatssekretär Herrn Baake von den Grünen. Herr
cherheitsstandard weiter gewährleistet; die Bundes- Gabriel hat im Juni 2009 diese Vorwürfe – ich sage: ge-
regierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen rechterweise – ausführlich zurückgewiesen; ich emp-
Sicherheitsstandard und die diesem zugrundelie- fehle, die Pressemitteilung des BMU vom 16. Juni 2009
gende Sicherheitsphilosophie zu ändern. zu lesen, in der steht, dass diese Vorwürfe „haltlos“ sind.
Er hat im Juni 2009 ebenso gesagt, dass dieses Verfahren
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 15 Monate lang erprobt wird, also nach meinen Berech-
der FDP) nungen bis zum September 2010. Dann haben wir, die
… die Bundesregierung wird keine Initiative neue Regierung, über die Verlängerung der Laufzeiten
ergreifen … debattiert und in diesem Zusammenhang das Atomge-
setz bezüglich der Sicherheitsanforderungen verändert
– so war das.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Abgesenkt haben Sie das!)
NEN]: Weiterlesen! – Dr. Frank-Walter
Steinmeier [SPD]: Weiterlesen! – Claudia und dafür gesorgt, dass in § 7 d des Atomgesetzes eine
Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neue Verpflichtung eingeführt wird – –
NEN]: Weiterlesen!) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
– Ja, natürlich: NEN]: Genau, abgesenkt! – Claudia Roth
[Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Bei Einhaltung – – Das ist ein große Lüge!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10889
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
(A) – Ich finde wirklich, wir sollten uns in diesem Hause (Zurufe von der SPD) (C)
– dazu sind wir verpflichtet – um die Wahrheit bemühen.
Ich rate Ihnen nur eines: Schließen Sie bei dem, was Sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sagen, nicht dauernd von sich auf andere.
neten der FDP – Beifall bei der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
geordneten der LINKEN) Höchste Sicherheit für die noch laufenden Kernkraft-
werke, höchstes Engagement für erneuerbare Energien
Das gilt auch für die Opposition. und eine sichere und wettbewerbsfähige Energieversor-
Wir haben mit der Einführung des neuen § 7 d des gung – dies ist meine, dies ist die Formel der christlich-
Atomgesetzes neu die Verpflichtung der Betreiber der liberalen Koalition für einen neuen energiepolitischen
Kernkraftwerke zur weiteren Risikovorsorge eingeführt, Konsens.
sich immer wieder am neuesten Stand von Forschung Gestatten Sie mir zum Schluss noch ein persönliches
und Technik zu orientieren Wort. So wichtig und unverzichtbar alle Bewertungen,
(Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD]) Lehren und Maßnahmen hier in Deutschland sind, so
wichtig und unerlässlich ist es, dass wir in dieser Stunde
– diese Kategorie hat es in diesem Maß noch nicht gege- zugleich nie den Blick für die Leidenden in Japan verlie-
ben – und immer wieder dynamisch auf neue Anforde- ren, die so schwer geprüft werden.
rungen zu reagieren. Das ist die Realität, und das äußert
sich in der Spezifizierung der Sicherheitsanforderungen (Sören Bartol [SPD]: Das ist unanständig!)
für jede einzelne Anlage. Ihnen gilt unser Mitgefühl. Sie können heute und in der
Zukunft auf die Unterstützung Deutschlands zählen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Herzlichen Dank.
Wer hier behauptet, wir hätten die Sicherheit nicht im (Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU
Blick gehabt, der sagt schlicht und ergreifend die Un- und der FDP)
wahrheit. Die höchsten Sicherheitsanforderungen gab es
unter der christlich-liberalen Koalition. Das ist die Wahr- Präsident Dr. Norbert Lammert:
heit, und die müssen auch Sie zur Kenntnis nehmen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.

(B) Meine Damen und Herren, es ist gut und nötig und (Beifall bei der SPD) (D)
auch sinnvoll, dass wir uns in energiepolitischen Fragen
um die besten Antworten bemühen. Es ist auch gut und Sigmar Gabriel (SPD):
richtig, dass wir darüber immer wieder streiten. Das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-
macht Opposition und Regierung aus, und das macht un- deskanzlerin, für den ersten und den letzten Teil Ihrer
sere Demokratie lebendig. Auch ich war einmal Vorsit- Rede haben Sie die volle Zustimmung nicht nur der
zende einer Oppositionsfraktion und weiß, wie das ist. SPD, sondern, wie ich glaube, des ganzen Hauses.
Aber eines muss beachtet werden: Sie werfen der Regie-
rung und auch mir persönlich vor, jetzt oder vor sechs (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Monaten oder bei der Verabschiedung der Laufzeiten- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
verlängerung oder wahrscheinlich durchgehend die Un- GRÜNEN)
wahrheit zu sagen. Sie werfen uns Täuschung, Trickse- In der Tat berührt jeden Menschen in Deutschland das
rei, mehr oder weniger Rechtsbruch und natürlich Schicksal der Menschen in Japan ungeheuer. Selten hat
Wahlkampftaktik und Ähnliches vor. ein Land in Friedenszeiten eine solche Kette von Kata-
strophen durchleiden müssen wie in diesen Tagen Japan.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich sage offen: Ich glaube, wir alle haben in diesen Ta-
– Ja, meine Damen und Herren, schauen Sie sich das ge- gen viel über den Mut und auch die Tapferkeit dieses
nau an. – Ich halte das hinsichtlich der Aufgabe für abso- Volkes gelernt. Neben Mitgefühl, Trauer und Entsetzen
lut nicht angemessen. Es geht hier um ein wesentliches haben wir auch tiefen Respekt gegenüber der Haltung
Thema. Es geht hier um eine Situation, in der wir über und dem Kampf dieser Menschen entwickelt. Wir hof-
Fragen debattieren, die die Welt vor eine neue Lage ge- fen, dass es am Ende, obwohl die Hoffnung täglich
stellt haben. schwindet, doch noch gelingt, den Super-GAU, also das
unkontrollierte Austreten ungeheurer Mengen von Ra-
Meine Damen und Herren von der Opposition, ich dioaktivität, zu verhindern. Deswegen haben Sie, Frau
finde, dass Ihre Art und Weise der Argumentation abso- Bundeskanzlerin, jede Unterstützung des deutschen Par-
lut respektlos ist. laments verdient, wenn Sie der japanischen Regierung
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und Hilfe und Unterstützung anbieten. Wir denken, dass das
der FDP) die Verpflichtung Deutschlands und auch der internatio-
nalen Völkergemeinschaft ist. Wir danken Ihnen aus-
Ihr Verhalten, das ich in den letzten Tagen gesehen habe, drücklich dafür, dass Sie sehr frühzeitig damit begonnen
ist an Niveaulosigkeit nicht zu überbieten. haben, dafür die Voraussetzungen zu schaffen.
10890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Sigmar Gabriel
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Meine Damen und Herren, das alles war vor Japan. (C)
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- Auch in Deutschland gab es Wasserstoffexplosionen: in
SES 90/DIE GRÜNEN) Brunsbüttel in der Nähe des Reaktordruckbehälters. Es
gab auch bei uns fehlerhafte Installationen, Kühlmittel-
Ich bin nicht sicher, ob es angemessen ist, wenn wir
verluste, mangelhafte Rohrleitungssysteme. Das alles
uns gegenseitig unterstellen, wir seien respektlos und
war vor Japan, und das alles wussten Sie, Frau Bundes-
würden uns unanständig benehmen. Sie meinten, das ge-
kanzlerin. Trotzdem haben Sie damals in der Großen
höre zu Ihrer Rede.
Koalition versucht, mich dazu zu zwingen,
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/
(Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU:
CSU)
Oh!)
– Na ja, wenn man im Parlament ein scharfes Wort führt,
muss man gelegentlich überlegen, ob das Ende einer zwei der ältesten und gefährlichsten Atommeiler in
Rede auch zu dem passt, was man vorher gesagt hat, Deutschland länger laufen zu lassen:
Frau Bundeskanzlerin. (Zuruf von der CDU/CSU: Falsch!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Biblis A und Neckarwestheim 1. Sie haben mich schrift-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der lich dazu aufgefordert, die Laufzeiten dieser beiden
LINKEN) Atomkraftwerke zu verlängern.
Wir erleben gerade das Ende des Atomzeitalters. Es (Zuruf von der SPD: Hört! Hört! – Claudia
war gekennzeichnet durch zwei tiefe Überzeugungen: Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
erstens, dass die Technik nie versagt, und zweitens, dass NEN]: Guck an!)
der Mensch nie versagt, und vor allen Dingen, dass nicht
beides zum gleichen Zeitpunkt passiert. Wir haben bitter Das sind die beiden, bei denen Sie jetzt so stolz darauf
lernen müssen, dass diese beiden Grundannahmen des sind, dass Sie sie, neben einigen anderen, für drei Mo-
Atomzeitalters falsch sind: Weder funktioniert die Tech- nate vom Netz nehmen. Frau Bundeskanzlerin, Sie ha-
nik immer, noch versagen Menschen nie. Tun wir nicht ben einer Laufzeitverlängerung von acht Jahren für diese
so, als würden uns die Risiken der Atomtechnologie Reaktoren zugestimmt. Ohne Ihren Deal und – auch das
erstmals in Japan vor Augen geführt. gehört zur Wahrheit – ohne Ihre Kumpanei mit der
Atomwirtschaft, die durch Tricks, durch geringeres Aus-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
fahren ihrer Kapazitäten, versucht hat, die im Gesetz ur-
Dutzende von Unfällen, viele Beinahekatastrophen und sprünglich vorgesehenen Laufzeiten zu überschreiten,
(B) nicht zuletzt die Katastrophen 1979 in Harrisburg und wären diese Reaktoren längst vom Netz. (D)
1986 in Tschernobyl in der früheren Sowjetunion führen
uns schon seit langer Zeit vor Augen, dass der GAU und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
der Super-GAU eben keine rein mathematischen Un- DIE GRÜNEN)
wahrscheinlichkeiten sind, sondern ganz reale Gefahren, Frau Bundeskanzlerin, Sie haben alle, die gegen diese
die mit unendlichem Leid von Menschen verbunden abenteuerliche Laufzeitverlängerung waren, als Ideolo-
sind. gen verleumdet. Ihr Vizekanzler, Herr Westerwelle, hat
Das berühmte Restrisiko, das der Atomwirtschaft und diejenigen, die gesagt haben, dass das so nicht geht und
den Gläubigen der atomaren Heilslehre in Wissenschaft, dass wir aus der Kernenergie heraus müssen, wörtlich
Medien und politischen Parteien so lächerlich und ver- als „Geisterfahrer“ bezeichnet. Vor dem Hintergrund Ih-
nachlässigbar vorkam, ist gerade zur ganz realen Kata- rer verbalen Kehrtwende frage ich Sie: Wer waren tat-
strophe für Millionen von Menschen in Japan geworden. sächlich die eigentlichen Geisterfahrer der deutschen
Trotzdem sind schon wieder die Beschwichtiger der Energiepolitik in Deutschland?
Atomwirtschaft unterwegs: Das alles könne in Deutsch- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
land und Europa nicht passieren; wir hätten schließlich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
keine Erdbeben und Tsunamis. Oder: Wir hätten doch LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Frau Merkel,
die sichersten Atomkraftwerke der Welt. zuhören!)
Ich erinnere mich noch gut, dass das schwedische Frau Merkel, ich weiß gar nicht, ob es Ihnen auffällt:
Atomkraftwerk Forsmark im Jahre 2006 in einer gefähr- Aber vor einem halben Jahr war der rot-grüne Beschluss
lichen Lage war, weil auch dort die Notstromversorgung zum Ausstieg aus der Atomenergie für Sie unvertretbar,
versagte, und zwar völlig ohne Erdbeben und Tsunami. weil er nach Ihrer Meinung die Atomwirtschaft zu sehr
Als wir damals die deutschen Atomkraftwerksbetreiber bedrängte und weil wir längere Laufzeiten für Deutsch-
fragten, wie das bei ihnen sei, kam sofort, ohne jede Prü- land doch brauchten. Sie haben diesen Beschluss kriti-
fung, die Antwort: Das kann bei uns nicht passieren. – siert, weil wir zu schnell aussteigen wollten. Heute ha-
Als wir dann über § 19 Atomgesetz – damals gab es ben Sie die Chuzpe, SPD und Grüne zu kritisieren, weil
nämlich die ganz konkrete reale Gefahr, dass die Wech- wir angeblich zu langsam ausgestiegen sind. Das ist
selrichter nicht funktionieren – gefordert haben, das ge- doch das Spiel, das Sie hier treiben.
nau zu erfahren, haben sie nach kurzer Zeit kleinlaut zu-
gegeben, dass auch in deutschen Atomkraftwerken (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dieses technische Problem existiert hat. DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10891
Sigmar Gabriel
(A) Frau Dr. Merkel, damit Sie nicht glauben, jeder im Wir hätten sie übrigens damals gerne ganz ohne Weiter- (C)
Haus hätte ein schlechtes Gedächtnis: Ich hatte Ihnen als geltung der alten Sicherheitsanforderungen in Kraft ge-
Bundesumweltminister in der Großen Koalition vorge- setzt. Es handelte sich hier um einen Kompromiss, weil
schlagen und angeboten, die ältesten Atomkraftwerke die Ministerpräsidenten von CDU und CSU gesagt ha-
schneller, als es ursprünglich im Gesetz vorgesehen war, ben: Wir wollen überhaupt keine neuen Sicherheitsan-
vom Netz zu nehmen. Sie haben das als Kanzlerin ver- forderungen. – Das ist doch die Wahrheit.
weigert. Wir hätten sie heute schon nicht mehr, wenn wir
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
das damals gemacht hätten.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Damals haben wir gesagt: Damit keine Unsicherhei-
DIE GRÜNEN) ten in der Atomwirtschaft auftreten, machen wir beides.
Zum Thema Sicherheitspolitik. Am 28. Oktober 2010 Wir lassen die alten weitergelten und erproben die
haben Sie hier mit der Mehrheit von CDU/CSU und neuen. – Im Herbst letzten Jahres hätten Sie in der Tat
FDP die Laufzeitverlängerung durchgepeitscht. Frau die alten völlig abschaffen müssen und die Bewertung
Merkel, ich und wir alle haben Sie damals gewarnt und der Sicherheitslage deutscher Atomkraftwerke auf dem
gesagt: Bevor Sie generelle Laufzeitverlängerungen be- heutigen Stand von Wissenschaft und Technik vorneh-
schließen, machen Sie bitte das, was jeder normale men müssen.
Mensch machen würde, nämlich jedes einzelne Atom- (Hermann Gröhe [CDU/CSU]: Das steht im
kraftwerk darauf zu prüfen, ob deren aktuelle Sicher- Gesetz!)
heitsstandards dem Stand von Wissenschaft und Technik
entsprechen. – Nein, das steht gerade nicht im Gesetz, Herr Kollege
Gröhe. – Die Menschen draußen wissen das nicht; das
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ darf man ihnen aber nicht vorwerfen. Aber wissen Sie,
DIE GRÜNEN) wie viele Seiten das kerntechnische Regelwerk mit den
Das haben Sie abgelehnt. Die äußerste Gefahrenvorsorge modernen Sicherheitsanforderungen umfasst? Über
müssen Sie nicht jetzt machen, die müssen Sie bei einem 1 000 Seiten. Da wird beschrieben, was die Kraftwerks-
Atomkraftwerk immer machen. Das ist immer Ihre Auf- betreiber bei der Notstromversorgung machen müssen.
gabe. Da wird beschrieben, was sie bei den Kühlsystemen ma-
chen müssen. Da wird beschrieben, wie sie Sicherheit
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ konkret verbessern. Das haben Sie abgeschafft. Sie ar-
DIE GRÜNEN) beiten mit einem über 30 Jahre alten kerntechnischen
Regelwerk.
(B) Aber als wir im Parlament zu entscheiden hatten, war (D)
ja längst alles beschlossene Sache. Den Bundestag haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Sie nur noch pro forma und den Bundesrat überhaupt DIE GRÜNEN)
nicht mehr beteiligt. Sie hatten schon mit den Herren der
Atomwirtschaft im Hinterzimmer alles dingfest ge- Herr Gröhe, wenn Sie mit uns über so etwas reden, müs-
macht. sen Sie immer davon ausgehen: Wir kennen die Rechts-
lage sehr genau.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
(Zuruf von der CDU/CSU: Oh!)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sören
Bartol [SPD]: So ist es! Das vergisst man Dann haben Sie in § 7 d des Atomgesetzes nur einen
nicht!) Satz, der in Deutschland seit 1973 geltende Rechtslage
ist, hineingeschrieben, statt ein Regelwerk von 1 000
Damit nicht genug. Sie waren einmal Bundesumwelt- Seiten anzuwenden. Seit dem Urteil über Kalkar müssen
ministerin. Sie das einhalten, was Sie in den § 7 d Atomgesetz hi-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neingeschrieben haben. Ich habe gar nichts dagegen,
NEN]: Morsleben!) dass das im Atomgesetz steht, aber daran mussten sich
vorher schon alle halten.
Dass Sie den Mut haben, hier dem Parlament die Un-
wahrheit über die Anwendung des § 19 des Atomgeset- Schlimm ist, dass Sie die modernen Sicherheitsanfor-
zes zu sagen, ist schon ein starkes Stück. derungen für die Prüfung von Kernkraftwerken außer
Kraft gesetzt haben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
LINKEN) DIE GRÜNEN)

Damals wollten Sie jede Gefahr für den Deal mit der Warum haben Sie das getan? Sie haben das getan, weil
Atomwirtschaft ausschließen. Deshalb haben Sie die Si- die Atomkraftwerksbetreiber Ihnen gesagt haben, dass
cherheitsanforderungen, die wir 2009 in Kraft gesetzt ha- eine ganze Reihe von Atomkraftwerken diesen moder-
ben – die Arbeit daran wurde übrigens unter dem Kolle- nen Sicherheitsstandards nicht standhalten können, weil
gen Trittin begonnen; ich habe sie dann abgeschlossen –, die Atomkraftwerksbetreiber Ihnen gesagt haben, dass
abgeschafft. die alten Meiler nicht auf den Stand von Wissenschaft
und Technik hochgerüstet werden können und dass sie
(Zuruf des Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU]) deshalb endgültig und bereits vor Ablauf der Restlauf-
10892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Sigmar Gabriel
(A) zeiten vom Netz hätten gehen müssen. Das hätte die Mil- Wenn das so ist, Frau Merkel, dann will ich wissen, wie (C)
liardengeschäfte der Atomwirtschaft geschmälert, und die Rechtsakte aussehen. Das will ich allerdings nicht
da haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, etwas gemacht, von Ihrem Atomexperten Mappus in Baden-Württem-
was unverantwortlich ist: Sie persönlich haben Sicher- berg wissen, der ja eine schizophrene Persönlichkeit ist,
heit gegen Geld getauscht. nämlich Atomlobbyist und Atomaufsicht zugleich – ich
frage mich, wie das funktionieren soll –,
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Na, na! –
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie sagen jetzt, es gäbe eine tabulose Prüfung. Wenn Der ist im emotionalen Ausnahmezustand!)
Sie mit völlig veralteten Sicherheitsanforderungen – mehr
als 30 Jahre alt – jetzt eine tabulose Prüfung beginnen sondern Sie, Herr Bundesumweltminister und Frau
wollen, dann brauchen Sie damit gar nicht erst anzufan- Merkel, fordere ich auf, dem Parlament diese Rechtsakte
gen, außer Sie setzen als Allererstes das kerntechnische vorzulegen, und zwar in diesen Tagen, nicht erst in ein
Regelwerk 2009 wieder in Kraft. Das ist der erste Prüf- paar Monaten.
stein für Ihre Glaubwürdigkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ LINKEN)
DIE GRÜNEN)
Wenn die Atomwirtschaft das akzeptiert, dann haben
Die Meiler, die wegen dieses kerntechnischen Regel- Sie, Frau Merkel, einen historischen Erfolg erzielt, dann
werks vom Netz genommen werden müssten, wollen Sie haben Sie wirklich etwas durchgesetzt. Denn dann ist die
jetzt gerade einmal für drei Monate vom Netz nehmen. Atomwirtschaft zum ersten Mal bereit, zu akzeptieren,
Die wären aber schon weg, wenn Sie nicht mitgeholfen dass festgestellt wird, dass von sieben ihrer Meiler eine
hätten, Sicherheitsmängel in diesen Kernkraftwerken zu Gefahr für die Bevölkerung, für Leib, Leben und Ge-
vertuschen. sundheit ausgeht. Das wäre ein historisches Ereignis.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
spruch bei der CDU/CSU und des Abg. Jörg
van Essen [FDP]) Frau Merkel, Sie haben § 19 Atomgesetz völlig zu
Recht zitiert. Die erste Handlung ist nun, dass Sie, Herr
– Keine Sorge, wir können das alles belegen. Bundesumweltminister, den Atomkraftwerksbetreibern
die entsprechenden Anordnungen schicken, und zwar
Derjenige, der Ihnen das aufgeschrieben hat, war ei- durch die Länder. Wenn sie das nicht machen, dann müs- (D)
(B) ner der Cheflobbyisten der deutschen Atomindustrie.
sen Sie sie atomrechtlich weisen. Dann wollen wir ein-
Mit Herrn Hennenhöfer haben Sie ausgerechnet einen mal sehen, ob die Atomwirtschaft das akzeptiert. Wenn
Cheflobbyisten der Atomwirtschaft zum obersten Aufse- sie das machen: à la bonne heure!
her der Reaktorsicherheit in Deutschland gemacht.
(Dr. Norbert Röttgen, Bundesminister: Na
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: also!)
Sehr glaubwürdig! – Zuruf von der SPD: So ist
es!) Dann haben Sie etwas Historisches erreicht. Wir haben
schon immer gesagt, dass von diesen alten Reaktoren di-
Herr Hennenhöfer ist bis heute im Amt und soll jetzt die rekte Gefahren ausgehen. Das haben Sie und die Atom-
Sicherheitsüberprüfung vornehmen, die er vorher ver- kraftwerksbetreiber immer zurückgewiesen.
hindern wollte. Wenn Sie, Frau Merkel, auch nur einen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Funken Glaubwürdigkeit zurückerobern wollen, dann
müssen Sie ihn sofort entlassen. Das verlangen wir von Wenn das allerdings nicht der Fall ist, dann haben Sie ei-
Ihnen! nen Deal gemacht. Dann wollen wir die Preise kennen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, wir wollen also zunächst
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wissen, wie das läuft.
LINKEN) (Zuruf von der CDU/CSU: Damit kennen Sie
Frau Merkel, nicht wir werfen Ihnen vor, dass Sie das sich aus!)
Recht beugen, sondern das tut inzwischen ein früherer Und dann stellt sich doch, was auch immer Sie jetzt der
Präsident des Bundesverfassungsgerichtes. Ihr soge- Öffentlichkeit erzählen, die Frage: Wie glaubwürdig
nanntes Moratorium wirft ja nicht nur energiepolitische, sind Sie, wenn Sie das nur für drei Monate tun?
sondern auch verfassungsrechtliche Fragen auf. Ich lese
Ihnen jetzt einmal vor, wie nach der öffentlichen Erklä- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rung Ihres Umweltministers § 19 Abs. 3 des Atomgeset- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
zes angewandt werden soll, nämlich LINKEN)
Wir wollen erstens, dass das sicher ist und dass wir
… durch gemeinsames staatliches Handeln … nicht
das nach dem Atomgesetz abschalten, und zwar nicht
durch Absprachen, nicht durch Verträge, sondern
nur im Rahmen eines Moratoriums, sondern auf Dauer.
unter dem Gesichtspunkt der staatlichen Verantwor-
tung. (Beifall des Abg. Ulrich Kelber [SPD])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10893
Sigmar Gabriel
(A) Wir wollen zweitens zum Ausstiegsgesetz bis 2020 sind als noch drei Monate zuvor. Wir wollen deshalb im (C)
zurückkehren. Denn Ihre Laufzeitverlängerungen sind Parlament entscheiden, weil bei Ihnen nicht sicher ist,
keine Brücke, sondern eine Dauereinrichtung mindes- was Sie denn morgen denken. Mal sind Sie gegen den
tens bis 2035 und 2040. Das ist keine Übergangstechno- Euro-Rettungsschirm, mal dafür.
logie. Deswegen wollen wir zum Gesetz zurück. Wir
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
wollen das nicht irgendwie durch einen zweiten Deal re-
geln lassen. Das Parlament ist das Gremium, das das zu Mal sind Sie für Steuersenkungen, mal dagegen. Mal
entscheiden hat. sind Sie für Atomenergie, mal dagegen. Weil wir uns
nicht auf Sie verlassen können, wollen wir hier im Parla-
Im Übrigen, Frau Merkel, wenn es stimmt, dass Sie
ment selber entscheiden und nicht Ihnen vertrauen. Da-
eine Energiewende wollen, warum haben Sie dann im
rum geht es hier in Deutschland.
jetzigen Haushalt gar nichts dafür getan, außer die Mög-
lichkeiten für die Energiewende zu verschlechtern? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) LINKEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]:
Mehrheit ist Mehrheit!)
– Das muss man der Öffentlichkeit einmal sagen. Sie ha-
ben am Mittwoch die Eckpunkte des Haushalts beschlos- Präsident Dr. Norbert Lammert:
sen. Heute stellt sich die Kanzlerin hin und sagt, sie Herr Kollege Gabriel, achten Sie freundlicherweise
wolle mehr für die Energiewende tun. auf die Redezeit.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das war gestern!) Sigmar Gabriel (SPD):
Jetzt sage ich Ihnen einmal, was in den Eckpunkten Das mache ich.
steht: Gegenüber 2010 werden die Mittel zur Förderung „Mehrheit ist Mehrheit“, sagt Ihr Kollege. Das zeigt
erneuerbarer Energien um 700 Millionen Euro runterge- ja schon, worauf Sie hinauswollen.
fahren,
(Zurufe von der SPD)
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört!)
Der Zwischenruf ist interessant. „Mehrheit ist Mehr-
werden die Mittel für das 100 000-Dächer-Solarstrom- heit“, sagt er. Das heißt, Sie wollen den Ausstieg nicht.
Programm um ein Drittel und für das Gebäudesanie- Ich glaube, dass Sie da die Wahrheit sagen.
rungsprogramm gegen zu hohen Energieverbrauch,
(B) durch das die Menschen richtig Geld sparen könnten, (Zuruf von der SPD: Gar nichts wollen sie!) (D)
von 2,2 Milliarden Euro in 2009 auf unter 1 Milliarde Ich sage Ihnen: So kann man auf Dauer keine Politik
Euro gekürzt. Das ist die Wahrheit über das, was Sie da machen. Sie versuchen nur, jetzt wahltaktisch mit den
machen. Ängsten der Menschen umzugehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Damit macht
DIE GRÜNEN) ihr Wahlkampf!)
Gestern, einen Tag nach Verkündigung Ihrer Ener- Das ist etwas, was die Bevölkerung in Deutschland
giewende, haben Sie dem Kabinett die Eckpunkte vorge- merkt. Der Titel der Zeit heute ist die Überschrift für das,
legt und zugestimmt. Sie hätten doch diesen Beschluss, was Sie eigentlich machen müssten: „Keine Lügen
Frau Merkel, eigentlich verschieben müssen. mehr!“, Frau Bundeskanzlerin.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE (Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall
GRÜNEN]: Richtig!) beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei
Sie hätten doch sagen müssen: „Jetzt machen wir einmal Abgeordneten der LINKEN)
ein ordentliches Programm“, oder: „Wir lassen wenigs-
tens die Mittel da, wo sie bisher waren“. Nichts davon Präsident Dr. Norbert Lammert:
haben Sie getan. Es ist einfach so, dass man nicht einmal Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
mehr weiß, ob Sie Ihre eigenen Widersprüche eigentlich für die FDP-Fraktion.
noch erkennen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN)
Die Glaubwürdigkeit von Politik – ich weiß, dass das Birgit Homburger (FDP):
nicht Ihnen allein zugeordnet wird, sondern die Men- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
schen leider immer über „die Politiker“ reden – leidet alle stehen unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan.
enorm, Frau Merkel, wenn Sie dieses Maß an Unseriosi- Diese epochale Naturkatastrophe hat Tausende Tote ge-
tät zur Messlatte Ihrer Politik machen. Man kann sich fordert, Tausende Verletzte, zigtausendfaches menschli-
auf nichts verlassen, was Sie sagen. Deshalb können und ches Leid. Unsere Gedanken sind in diesen Tagen bei
wollen wir uns auch nicht darauf verlassen, dass Sie in unseren japanischen Freunden. Unsere Anteilnahme und
drei Monaten zu klügeren Entscheidungen gekommen unser Mitgefühl gelten den Hinterbliebenen. Die Bilder,
10894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Birgit Homburger
(A) die wir sehen, zeigen das Ausmaß der Zerstörung: Ganze Herr Gabriel, Sie haben hier davon gesprochen, dass (C)
Städte sind durch den Tsunami wie weggespült. Diese die Bundesregierung etwas „mit den Herren der Atom-
Bilder begleiten viele von uns tagtäglich in den Gedan- wirtschaft im Hinterzimmer“ ausgehandelt habe. Des-
ken, genauso das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber ei- halb will ich nochmals aus der Vereinbarung zitieren:
ner solchen Naturkatastrophe.
Während der Restlaufzeiten wird der von Recht und
Angesichts einer solch beispiellosen Katastrophe Gesetz geforderte hohe Sicherheitsstandard weiter
sollte man einmal innehalten und die Frage aufwerfen, gewährleistet; die Bundesregierung wird keine Ini-
was in einer solchen Situation tatsächlich zuerst gefor- tiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und
dert ist, was wichtig ist. Während die Menschen in Japan die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphiloso-
versuchen, diese Situation mit einer bewundernswerten phie zu ändern.
Disziplin zu bewältigen, und in anderen Ländern das
Mitgefühl an erster Stelle steht, führt die Opposition hier Dieser Vertrag, Herr Gabriel, trägt die Unterschrift von
eine Debatte, die geradezu dazu führen muss, dass die Herrn Schröder und Herrn Trittin und ist von Herrn
Menschen in diesem Land Angst bekommen, dass sie Steinmeier mit ausgehandelt worden.
den Eindruck bekommen, das Problem, die Katastrophe,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sei hier. Nein, die Katastrophe ist in Japan. Die Men-
schen in Japan brauchen jetzt in der akuten Phase und Wenn jemand etwas „mit den Herren der Atomwirtschaft
bei der Bewältigung langfristiger Folgen unsere Unter- im Hinterzimmer“ ausgehandelt hat, dann sind Sie es,
stützung. Deshalb ist es gut, dass der Krisenstab der nicht diese Bundesregierung.
Bundesregierung unter Leitung von Außenminister
Westerwelle sofort Hilfe gegeben und diese Hilfe in den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Vordergrund gestellt hat. An einem solchen Tag ist es Ulrich Kelber [SPD]: Was stört Sie an dem
wichtig, an dieser Stelle den Helfern ein herzliches Dan- Satz?)
keschön zu sagen.
Sie haben einen Sicherheitsrabatt gewährt, und jetzt ge-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten rieren Sie sich hier als Moralinstanz.
der CDU/CSU)
Wir haben bei der Änderung des Atomgesetzes im
Wir sind uns vollkommen einig darüber, dass ange- letzten Jahr erstmals in der Geschichte der Bundesrepu-
sichts der dramatischen Ereignisse in den japanischen blik Deutschland die Sicherheitsanforderungen dynami-
Kernkraftwerken nicht einfach zur Tagesordnung über- siert,
gegangen werden kann. Nun höre ich immer wieder, wir (D)
(B) (Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Verdün-
müssten die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Ja, die
Sorgen der Menschen sind auch unsere Sorgen; sie sind nisiert haben Sie sie!)
die Sorgen jedes einzelnen Kollegen und jeder einzelnen
Kollegin hier in diesem Haus. indem wir den § 7 d in das Atomgesetz eingefügt haben.
Sie haben hier kritisiert, dass das nur zwei Zeilen seien.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ein Paragraf hat in der Regel auch nur wenige Zeilen.
der CDU/CSU) Dieses Gesetz wird aber selbstverständlich ausgefüllt
mit einem untergesetzlichen Regelwerk, das den neues-
Es ist richtig, dass die Regierung in einer solchen Si- ten, modernsten Standards entspricht. Das ist die Sicher-
tuation schnell und besonnen handeln muss. Wir sind heitsphilosophie, die wir anlegen, und diese hohen Si-
uns bewusst, dass wir über den Tag hinaus Verantwor- cherheitsstandards werden jetzt nochmals überprüft.
tung tragen. Insofern ist das Moratorium zum Zweck der
Sicherheitsüberprüfung richtig. Ich bin dankbar dafür, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
dass die Bundesregierung sofort die Initiative ergriffen der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier
hat, um eine solche Überprüfung auch auf europäischer [SPD]: Das haben die Leute Ihnen falsch auf-
und internationaler Ebene anzustoßen; das ist in glei- geschrieben!)
chem Maße notwendig wie hier in Deutschland.
Mit uns wird es keinen Sicherheitsrabatt geben. Mit
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten uns wird es aber auch kein hektisches Überbordwerfen
der CDU/CSU) aller Entscheidungen geben. Wir machen erst eine ergeb-
nisoffene Prüfung, und danach werden wir die Konse-
Nach wie vor gibt es keine gesicherten Erkenntnisse quenzen ziehen. Ich glaube, dass das ein angemessenes,
darüber, wie sich die Abläufe in den japanischen Kern- überlegtes und konsequentes Vorgehen ist.
kraftwerken tatsächlich darstellen, aber wir haben erste
Erkenntnisse: Es gab Probleme trotz Mehrfachredundan- Diejenigen, die die sofortige Abschaltung der Kern-
zen beim Kühlsystem und bei den Notstromaggregaten. kraftwerke fordern, nehmen für sich in Anspruch, im Be-
Die FDP erwartet, dass die Überprüfung, die jetzt durch- sitz der Wahrheit zu sein. Das hat sich auch in der De-
geführt wird, den neuesten Sicherheitsstandards ent- batte heute Morgen gezeigt. Sie sprechen anderen
spricht. verantwortungsvolles Handeln ab.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
der CDU/CSU) Ach, Frau Homburger!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10895
Birgit Homburger
(A) – Herr Kuhn, weil Sie gerade dazwischenrufen, will ich eine stärkere Nutzung von Steinkohle und Erdgas, also (C)
Ihnen sagen: Ich finde ein solches Verhalten unerträg- durch fossile Energieträger, erfolgt. Wenn dieser Aus-
lich. gleich je zur Hälfte durch Steinkohle und Erdgas erfolgt,
dann verursacht diese dreimonatige Abschaltung zusätz-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
lich 6,3 Millionen Tonnen CO2-Emissionen. So viel zum
der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier
Thema Klima. Auch das muss in einer solchen Debatte
[SPD]: Was haben wir uns von Ihnen anhören
deutlich gemacht werden. Wir brauchen einen Ausgleich
müssen?)
zwischen den verschiedenen Zielen. Dieser Ausgleich
Die Wahrheit ist, dass die Kernkraftwerke auf Basis muss auch in Zukunft berücksichtigt werden. Deshalb
einer Risikoanalyse betrieben werden. Dieses Risiko ha- rate ich Ihnen dringend, Ihre Position zur Energiepolitik,
ben wir unter hohen Sicherheitsauflagen in der Vergan- beispielsweise bezogen auf die Modernisierung von
genheit als verantwortbar betrachtet. Das gilt nicht nur Kohlekraftwerken, zu überdenken.
für die Koalition, sondern auch für Grüne und SPD. Da-
Es gibt mittlerweile eine hocheffiziente neue Genera-
durch, dass Sie einen Atomkonsens vorgelegt haben, ha-
tion von Kohlekraftwerken, die deutlich weniger CO2-
ben Sie deutlich gemacht, dass die Kernkraftwerke auch
Emissionen ausstoßen. Wenn wir die alten Kraftwerke
aus Ihrer Sicht weiterbetrieben werden können. Sie ha-
durch diese neuen ersetzen würden, dann könnten wir an
ben gezeigt, dass auch Sie nach einer Risikoanalyse zu
dieser Stelle hinsichtlich der Grundlast weiterkommen.
dem Schluss kamen, dass der Betrieb technisch verant-
Sie sind es, die im Augenblick in Nordrhein-Westfalen
wortbar ist. Sonst hätten Sie eine solche Entscheidung
diese hocheffiziente Technik verhindern.
nicht treffen können.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
der CDU/CSU – Dr. Erik Schweickert [FDP]:
Genau so ist es!) Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, und
auch unser Energiekonzept sieht vor, dass die Nutzung
Genauso richtig ist es, dass jetzt eine Neubewertung die-
der Kernenergie ausläuft. Aber wir wollten eben nicht
ser hohen Sicherheitsstandards angezeigt ist. Es ist rich-
nur vom Zeitalter der erneuerbaren Energien träumen,
tig, noch einmal darüber nachzudenken, ob noch mehr
sondern wir haben auch gesagt, wir müssen ein Gesamt-
getan werden muss. Genau das tun wir.
konzept haben, wie das tatsächlich erreicht werden kann.
Herr Gabriel, Sie haben Ihre bemerkenswerte Rede Dieses Gesamtkonzept haben wir im letzten Jahr vorge-
mit einer Vielzahl von Diffamierungen gespickt. Sie ha- legt.
ben gesagt, dass die Regierung Sicherheitsprobleme ver-
Wir wollen unser Ziel schneller erreichen, aber dann
(B) tuscht hat, dass Tricks der Atomwirtschaft gebilligt wer- (D)
müssen wir in der Tat über Wasserkraftwerke sprechen,
den, und Sie haben von Deals gesprochen. Sie sprechen
die von der Opposition bekämpft werden,
denen, die zu einem anderen Ergebnis kommen, die Ehre
und die Verantwortung ab. Deshalb will ich Ihnen in al- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
ler Ruhe, aber auch mit allem Nachdruck sagen: Diese
dann müssen wir über Biogasanlagen sprechen, die von
Debatte wird von Ihnen in einem Duktus geführt, der
den Grünen bekämpft werden, und dann müssen wir
Anstand und den nötigen Respekt vor der Meinung an-
über die Nutzung von Windenergie sprechen, die wir ge-
derer vermissen lässt.
rade auch offshore ausbauen wollen. Das haben wir im
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Energiekonzept festgelegt. Nur, wenn das kommt, dann
muss man auch dafür sorgen, dass diese Energie zum
Auch die Emotionalität dieser Debatte rechtfertigt ein
Verbraucher kommt, indem die Leitungen entsprechend
solches Vorgehen nicht. Das ist ein erschreckendes Bei-
ausgebaut werden.
spiel für Ihr Verständnis von demokratischer Kultur und
zeigt, dass Sie nicht regierungsfähig sind. (Beifall des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/
CSU])
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Deshalb ist es notwendig, dass wir über diese Frage
sprechen und hier auch ein Gesetz auf den Weg bringen,
Wenn wir über das Energiekonzept sprechen, dann
das diesen Leitungsausbau beschleunigt.
sprechen wir über Versorgungssicherheit, über Bezahl-
barkeit und über Umweltverträglichkeit. Deshalb müs- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sen wir auch einmal darüber reden, was passiert, wenn der CDU/CSU)
diese sieben Kernkraftwerke jetzt vorübergehend stillge-
Ich finde es ganz bemerkenswert, dass jetzt in dem
legt werden. Wir wollen vor allen Dingen eines nicht:
Energiekonzept der SPD Geld aus dem Bundeshaushalt
Wir wollen nicht, dass Stromimporte aus Kernkraftwer-
für den Leitungsausbau gefordert wird. Das brauchen
ken, die weniger sicher sind, in Deutschland als Ersatz
wir nicht. Dafür gibt es Netzentgelte.
dienen.
Ich will Ihnen deutlich sagen: Der Netzausbau, der
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
zwingend notwendig ist, um die erneuerbaren Energien
der CDU/CSU)
weiter voranzutreiben, ist bisher nicht am Geld geschei-
Im Augenblick führt das Stilllegen dieser Kernkraft- tert, er ist am Protest gescheitert. Zwischenzeitlich zeigt
werke dazu, dass in der Grundlast ein Ausgleich durch sich in Deutschland: Stuttgart 21 ist überall, die Dage-
10896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Birgit Homburger
(A) gen-Gesellschaft hat sich unter Führung von SPD und Aber nun ist die Katastrophe geschehen. Durch keine (C)
Grünen etabliert. Kritik wird sie ungeschehen. Es trifft vornehmlich im-
mer Unbeteiligte und Unschuldige. Unsere gemeinsame
(Widerspruch der Abg. Claudia Roth [Augs- erste Entscheidung muss sein, den Menschen in Japan
burg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) jegliche mögliche Hilfe zu leisten.
Deshalb ist die Gretchenfrage an die Opposition, ob (Beifall bei der LINKEN)
auch Sie zum Umdenken bereit sind, um ein neues Ener-
giekonzept auf den Weg zu bringen. Beenden Sie den Das Ereignis in Japan ist eine Zäsur, ein Zivilisations-
Dauerprotest bruch in der Geschichte des industriell-kapitalistischen
Zeitalters. In den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts
(Zuruf der Abg. Claudia Roth [Augsburg] gelang es deutschen Physikern im Laborversuch, die
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) erste künstliche radioaktive Kernspaltung auszulösen.
Die Büchse der Pandora war geöffnet. Die erste daraus
gegen die Modernisierung der deutschen Energieland-
folgende Katastrophe war die Entwicklung der Atom-
schaft!
bombe.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dann zwischen
Meine Damen und Herren von der Opposition, wir der militärischen und der friedlichen Nutzung der Atom-
wollen diese Situation, diese schwierige Lage zum An- energie unterschieden. In den 50er-Jahren setzten die In-
lass nehmen, neu nachzudenken. Wir haben unser Ener- dustriestaaten, das heißt sowohl die kapitalistischen als
giekonzept überdacht. Wir haben jetzt angeordnet, dass auch die staatssozialistischen Länder, auf die friedliche
es nochmals eine Sicherheitsüberprüfung aller Kern- Nutzung der Atomenergie. Doch die Unterscheidung
kraftwerke gibt, und zwar unter Einbeziehung der Er- zwischen unfriedlicher und friedlicher Atomenergie ist
kenntnisse aus diesem Unglück in Japan. aus zwei Gründen falsch und mit hohen Risiken verbun-
den, die weder beherrschbar noch kontrollierbar sind.
Ich sage ganz deutlich: Wir wollen das Zeitalter er-
neuerbarer Energien schneller erreichen. Sie sind gefor- (Beifall bei der LINKEN)
dert, dazu beizutragen. Wie glaubwürdig Ihre Position Erstens. Wer über die Technologie der friedlichen
ist, wird daran gemessen, ob auch Sie bereit sind, umzu- Nutzung der Atomenergie verfügt und aus AKW Strom
denken. erzeugen kann, ist potenziell in der Lage, auch Atom-
waffen herzustellen. Wir wissen, dass trotz des Nichtver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
breitungsvertrages inzwischen mehr Staaten als die fünf
(B) damaligen Atommächte über Atomwaffen verfügen. Au- (D)
Präsident Dr. Norbert Lammert: ßer den USA, Russland, China, Großbritannien und
Nächster Redner ist der Kollege Gregor Gysi für die Frankreich verfügen auch Pakistan, Indien und Israel
Fraktion Die Linke. über Atomwaffen. Die Beispiele Iran und Nordkorea zei-
gen, dass diese Gefahren nicht beseitigt sind. Es muss
(Beifall bei der LINKEN) endlich konsequent damit begonnen werden, alle Atom-
waffen in dieser Welt zu vernichten. Erst dann hat die in-
Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): ternationale Gemeinschaft das Recht, weltweit den Bau
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Japan neuer Atomwaffen zu unterbinden.
ist eine furchtbare, unvorstellbare Katastrophe passiert. (Beifall bei der LINKEN)
Die Menschen erlebten ein schweres Erdbeben und in
dessen Folge einen Tsunami mit Tausenden Opfern, Zweitens. Mit der Unterscheidung zwischen militäri-
Hunderttausenden Obdachlosen und verheerenden Zer- scher und friedlicher Nutzung der Atomkraft gab man
störungen. Nun werden sie auch noch einen Super-GAU sich dem Trugschluss hin, dass die militärische Nutzung
mit unvorstellbaren Folgen erleben. Millionen Men- viel riskanter wäre. In vielen Industriegesellschaften,
schen können durch die Radioaktivität an Krebs erkran- insbesondere in Frankreich und Japan, erzielte die fried-
ken – mit allen Folgen. liche Nutzung der Atomkraft zur Stromerzeugung eine
hohe Akzeptanz. Diese Akzeptanz beruhte darauf, dass
Dies geschieht den Japanerinnen und Japanern, die als man die Risiken bei der friedlichen Nutzung für be-
Einzige schon die furchtbaren Leiden eines Atombom- herrschbar hielt, sich einen GAU oder gar einen Super-
beneinsatzes durch die USA 1945 auf Hiroshima und GAU nicht vorstellen konnte. Die Unterscheidung zwi-
Nagasaki erleben mussten. Wir trauern um die zahlrei- schen gutem und schlechtem Uran ist falsch. Beides – der
chen Opfer. Unser tiefes Mitgefühl gilt ihren Angehöri- Abwurf einer Atombombe wie ein nicht vorhersehbarer
gen. Unfall in einem Atomkraftwerk – ist hinsichtlich der
Es ist aber unvorstellbar und unverantwortlich, dass Folgen nicht beherrschbar. Unsere Zivilisation kann
gerade nach den schrecklichen Erlebnissen 1945 japani- stark beschädigt, sogar vernichtet werden.
sche Konzerne und japanische Politik den vielfachen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Bau von Atomkraftwerken vorantrieben. Japan hätte der
erste Verweigerer sein müssen. Die Frage stellt sich: Hätten wir alle – die Verantwort-
lichen in Japan, in Deutschland und in allen anderen
(Beifall bei der LINKEN) Ländern – nicht klüger und sehr viel vorsichtiger sein
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10897
Dr. Gregor Gysi
(A) müssen? Es gab den Atomunfall im AKW Three Mile unverzüglichen Ausstieg aus der Gewinnung der Atom- (C)
Island bei Harrisburg in den USA im Jahre 1979. Dort energie zu verkünden. Nur das entspräche Ihrem Amts-
trat – auch ohne Erdbeben, ohne Tsunami – bereits eine eid. Nur das könnte Schaden von unserer Bevölkerung
begrenzte Kernschmelze ein, weil die Kühlsysteme ver- abwenden. Nur dann verhielten Sie sich wie eine Bun-
sagten. Dann kam die unvorstellbar große Katastrophe deskanzlerin für das gesamte Volk. Ihre heutige Erklä-
von Tschernobyl vor 25 Jahren mit einer vollständigen rung spricht noch nicht für Ihre Bereitschaft, diesen
Kernschmelze. Noch immer glüht dieser Reaktor umge- notwendigen Weg zu gehen. Ein dreimonatiges Morato-
ben von einem Betonsarkophag vor sich hin. Die genaue rium, unabhängig von der rechtlichen Bewertung,
Zahl der Opfer ist bis heute nicht bekannt. täuscht und hilft nicht weiter. Wir brauchen keine vo-
rübergehende, sondern eine endgültige Abschaltung der
Diese deutlichen Warnungen wollten nicht verstanden Atomkraftwerke.
werden. Harrisburg wurde nicht wirklich ernst genom-
men und bei Tschernobyl einfach die Unfähigkeit der (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
Russen und der Staatssozialisten unterstellt. Im Unter- Dr. Eva Högl [SPD])
schied dazu – so konnte man es lesen – bauen die Japa-
Unabhängig davon müssen Sie unverzüglich und sofort
ner, die Deutschen und andere nur höchst sichere Atom-
einen Strompreisstopp durchsetzen. Die Konzerne haben
kraftwerke, bei denen nichts passieren könne. Nun sind
genügend Profitpolster. Sie müssen die Verluste tragen,
wir in Japan auf tragische Weise vom Gegenteil über-
nicht die Bürgerinnen und Bürger und nicht die anderen
zeugt worden. Wir alle dürfen und müssen eine einzige
Unternehmen.
logische Konsequenz ziehen: Der 11. März 2011 muss
das Ende des nuklearen Industriezeitalters eingeleitet ha- (Beifall bei der LINKEN)
ben.
Die Politik muss wieder für die Strompreiskontrolle zu-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten ständig werden.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren von der SPD und von den
Das ist nicht nur eine wissenschaftlich-technische, Grünen, Sie haben beim Bundesverfassungsgericht eine
sondern auch eine politische, eine Macht- und eine Normenkontrollklage eingereicht, weil Ihr früherer
Menschheitsfrage. Die Atomindustrie besteht aus Unter- Atomkompromiss von der Mehrheit des Bundestages
nehmen, die die AKW bauen, und Unternehmen, die die unter Ausschluss des Bundesrates aufgekündigt wurde.
AKW betreiben. Diese besitzen nicht nur finanzielle und Diesen Ausschluss und andere Regelungen halten Sie
ökonomische Macht, sie haben nicht nur beträchtlichen und wir für grundgesetzwidrig. Wir haben Ihnen angebo-
Einfluss auf politische Entscheidungen; sie dominieren ten, diese Normenkontrollklage gemeinsam zu erarbei-
(B) diese und damit auch die Bundesregierung und eine ten. Sie haben dies abgelehnt mit dem Hinweis, das sei (D)
große Zahl von Abgeordneten. Ihr Thema und nicht unseres. Sie haben tatsächlich nicht
begriffen, dass dies ein Thema für die gesamte Bevölke-
Schon die Bundesregierung aus SPD und Grünen rung, auch für den linken Teil der Bevölkerung ist.
traute sich nicht, den Atomausstieg einfach per Gesetz
im Bundestag durchzusetzen. Sie ließ sich auf Verhand- (Beifall bei der LINKEN)
lungen mit der Atomlobby ein und schloss mit ihr einen Sie haben uns vorgestern, auch im Angesicht der gewal-
Ausstiegskompromiss ab. Warum, Herr Trittin, konnten tigen Katastrophe, erklärt, dass wir die Klage nur dann
Sie und Ihre sozialdemokratischen Mitstreiter den Atom- mit unterschreiben dürften, wenn wir trotz Ihres Beteili-
lobbyisten nicht einfach sagen, dass die Mehrheit des gungsverbots ein Drittel der Kosten übernähmen. Über-
Bundestages entscheiden wird? Wir sind das höchste de- winden Sie Ihre Kleinkariertheit! Überwinden Sie Ihren
mokratisch gewählte Organ der Bundesrepublik Egoismus! Überwinden Sie Ihren Egozentrismus! Las-
Deutschland. Warum feilschten Sie mit den nicht ge- sen Sie alle, die es wollen, unterschreiben!
wählten Atomlobbyisten herum, bis Sie einen unzurei-
chenden Ausstiegskompromiss erzielten? (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Sie können nicht bei Ihrem alten Kompromiss – mit
Ausnahme der älteren und pannengeprägten AKW –
Warum haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, diesen bleiben. Auch die neueren AKW können nicht mit lan-
Kompromiss auch noch aufgekündigt und auf Drängen gen Fristen – Herr Gabriel, auch nicht zehn Jahre – wei-
der Atomlobbyisten die Verlängerung der Laufzeiten der terlaufen. Auch Sie müssen sich einen Ruck geben und
Atomkraftwerke beschlossen? Es ging um nichts anderes begreifen, dass das nukleare Zeitalter nicht irgendwann,
als um Extraprofite der Stromkonzerne Eon, EnBW, sondern unverzüglich zu beenden ist.
RWE und Vattenfall in Höhe von 120 Milliarden Euro.
Diese Lobbyistenpolitik gefährdet unsere Demokratie. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Es geht nicht nur um die Frage des Ausstiegs, sondern
Dr. Eva Högl [SPD]) zugleich auch darum, ob sich die Politik endlich gegen
die Atomindustrie durchsetzt, ob diesbezüglich das Pri-
Frau Bundeskanzlerin, besitzen Sie doch die Souverä- mat der Politik hergestellt, die Demokratie wieder funk-
nität, den Mut, den Atomlobbyisten klar und deutlich zu tionsfähig wird. Im letzten Jahr konnte während der Fi-
widersprechen, sich hier hinzustellen und Ihren Irrtum nanzkrise jeder erleben, dass die Spekulanten und
hinsichtlich der Risikogefahren einzuräumen und den Bankenchefs das Geschehen und die Politik dominier-
10898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Gregor Gysi


(A) ten. Diese sind eng mit den Atomlobbyisten verbunden. Siebtens. Wir brauchen unverzüglich ein Energiekon- (C)
Gemeinsam scheinen sie eine kaum zu durchdringende zept der Zukunft, das mit unabhängigen Wissenschaftle-
ungeheuerliche Macht zu besitzen. Aber sie haben nur rinnen und Wissenschaftlern, Umweltverbänden und
ein wirkliches Interesse: die Steigerung ihres Profits. kommunalen Energieversorgern erarbeitet werden muss,
Nur wenn die Politik den Mut und die Kraft entwickelt, also nicht mehr die Handschrift der Energiekonzerne tra-
die Dominanz dieser Spekulanten, Bankenchefs, Atom- gen darf. Dazu gehören aus unserer Sicht ein Sofortpro-
lobbyisten und anderer Konzernlobbyisten zu durchbre- gramm für die erneuerbaren Energien, ein umfassendes
chen und den Vorrang der demokratischen Institutionen Energieeffizienzprogramm, ein Netzumbauplan, die Ent-
zu sichern, sind wir für unsere Bevölkerung tätig, retten wicklung und Etablierung effizienter Speichertechnolo-
wir unsere Demokratie und werden wir unserer Funktion gien und eine Dezentralisierung und Rekommunalisie-
als Volksvertreterinnen und Volksvertreter im Bundestag rung der Energieerzeugung.
gerecht!
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der
(Beifall bei der LINKEN) LINKEN: Bravo!)
Die Linke fordert: Erstens. Wir brauchen unverzüg- Achtens. Die Bundesregierung muss sich bei der Or-
lich ein Konzept für die mögliche Hilfe gegenüber den ganisation der Vereinten Nationen und der Europäischen
Japanerinnen und Japanern. Diese Hilfe ist auch zu leis- Union entschieden für einen weltweiten bzw. europäi-
ten. schen Ausstieg aus der Atomenergie für militärische
Zweitens. Die Nutzung der Atomkraft für militärische Zwecke sowie zur Energiegewinnung einsetzen. Das
Zwecke und zur Energieerzeugung muss grundsätzlich Gleiche gilt für ein Moratorium für sämtliche weltweit
ausgeschlossen werden, um den Ausstieg unumkehrbar bzw. europaweit geplanten Neubauten von Atomanlagen –
zu machen. Deshalb brauchen wir diese Verpflichtung egal ob für militärische Zwecke oder zur Energiegewin-
im Grundgesetz. nung.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Das Verbot der Nutzung von Atomenergie ist Bestandteil Eine Volksinitiative der europäischen Völker zu diesen
der Verfassung von Österreich, einem Mitgliedsland der Fragen wäre sehr zu begrüßen.
EU. Es ist also machbar, wenn der politische Wille dazu
vorhanden ist. (Beifall bei der LINKEN)

Drittens. Die ältesten und pannengeschüttelten acht Heute haben wir die Chance, zu beweisen, dass wir
AKW sind sofort und auf Dauer stillzulegen. spät – für die Japanerinnen und Japaner zu spät – Lehren
aus Ereignissen ziehen können. Heute können wir be-
(B) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (D)
weisen: Der Deutsche Bundestag entscheidet nicht län-
Es handelt sich um Biblis A, Neckarwestheim 1, ger im Interesse der Atomlobbyisten, sondern im Inte-
Biblis B, Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser, Philippsburg 1 resse der Bevölkerung unseres Landes und sendet zur
sowie Krümmel. Die verbleibenden neun AKW sind un- Lösung einer Menschheitsfrage ein wichtiges Signal
verzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Verzögern, still- weit über Deutschland hinaus.
zulegen. Hierzu muss die Bundesregierung einen ent- (Anhaltender Beifall bei der LINKEN)
sprechenden Atomausstiegsgesetzentwurf bis spätestens
30. April 2011 vorlegen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat nun der Kollege Volker Kauder für die
CDU/CSU-Fraktion.
Viertens. Verboten werden muss der Export von
Atomtechnologie. Siemens und andere Unternehmen ha- (Beifall bei der CDU/CSU)
ben auch für die AKW in Japan Ausrüstungen geliefert.
Sie müssen verpflichtet werden, diesen Produktionszy- Volker Kauder (CDU/CSU):
klus stillzulegen und aus der Technologie auszusteigen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
(Beifall bei der LINKEN) Wenn man abends die Nachrichten einschaltet oder tags-
über im Büro einen Blick auf das Fernsehgerät wirft,
Ebenso ist folgerichtig, Frau Bundeskanzlerin, dass wir kann man die Bilder, die aus Japan zu uns herüberkom-
keinen Atomstrom importieren dürfen. men, kaum aushalten. Man kann sich buchstäblich vor-
Fünftens. Die Bundesregierung muss sich für die Auf- stellen, wie man selber in einer solchen Situation reagie-
lösung des Euratom-Vertrages einsetzen, damit die damit ren würde, welche Sorgen und Ängste man um sich,
einhergehende Förderung der Atomenergie beendet seine Familie, seine Kinder hätte.
wird.
Gleichzeitig erlebt man Menschen, die in einer Ruhe,
Sechstens. Wir fordern einen Strompreisstopp wie ich sie bei solchen Katastrophen bisher noch nicht
erlebt habe, versuchen, ihr Land wieder aufzubauen und
(Lachen bei der FDP)
die Sache in den Griff zu kriegen. Ich kann nur sagen:
und die Wiedereinführung der Strompreisregulierung Man ist betroffen und beeindruckt zugleich. Die Bilder,
durch die Politik statt durch die Energiekonzerne. die aus Japan kommen, verschlagen einem die Sprache.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10899
Volker Kauder
(A) Vor diesem Hintergrund habe ich es als eine völlig Antrag, der heute vorgelegt wird, am letzten Dienstag in (C)
normale Reaktion betrachtet, dass der Parteivorsitzende unserer Fraktionssitzung einstimmig verabschiedet
der SPD, Gabriel, am Sonntag gesagt hat, dass man ge- wurde. Das zeigt: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
nau dieses Unfassbare, was in Japan geschehen ist, nicht steht geschlossen hinter dem, was die Bundeskanzlerin
instrumentalisieren darf. Ich fand das eine bemerkens- heute Morgen vorgetragen hat.
werte Aussage, Herr Gabriel. Leider Gottes hat sie nur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
ein paar Stunden gehalten. Das ist das Traurige daran.
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Reden Sie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zum Bundestag oder zu Ihrer Fraktion?)
Natürlich ist doch völlig klar, dass man sich die Frage Natürlich erlebe ich Diskussionen, in denen Fragen
stellt: Wie geht es nach diesem Drama in Japan weiter – gestellt werden. Das ist völlig in Ordnung. Wir haben
in diesem Land, in Deutschland, in Europa und überall in uns auf ein Moratorium, eine Denkpause, verständigt.
der Welt? Als ob es nicht schon genug gewesen wäre, Dieses Moratorium kann man nur dann ernsthaft durch-
dass durch Erdbeben und Tsunami ein Teil des Landes führen, wenn man nicht schon beim Start weiß, was am
einfach weggespült wurde, kommt jetzt auch noch dieses Ende herauskommen soll.
Drama um das Kernkraftwerk in Japan hinzu.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Um es noch einmal klar zu sagen, Herr Gabriel: Ihre
Aussage stimmt nicht. Wir haben in unserem Energie- Das wäre keine Überprüfung, sondern die Fortsetzung
konzept klar formuliert: Ausstieg aus der Kerntechnolo- einer Ideologie,
gie und Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Ener- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer ist denn
gien. Das war vor den Ereignissen in Japan, Herr der Ideologe?)
Gabriel, nicht danach.
die wir jetzt gerade nicht brauchen können.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
ruf von der SPD: Montagmorgen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind der Ober-
Ich glaube, dass die Menschen für die Schlachten der ideologe, Herr Kauder!)
Vergangenheit überhaupt kein Verständnis haben.
Natürlich wissen wir, dass es trotz aller Sicherheitsan-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und forderungen – und ich bin der Überzeugung, dass wir
der FDP) jetzt schon die sichersten Kernkraftwerke haben – in die-
Es kommt auch gerade nicht darauf an, zu sagen, ob man ser Technologie ein Restrisiko geben kann und gibt.
(B) recht gehabt hat oder nicht. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D)
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Was denn jetzt?)
GRÜNEN]: Was hat denn Frau Merkel ge- Es wird die Frage zu klären sein: Welches Restrisiko tra-
sagt?) gen wir?
Es kommt jetzt auf die entscheidende Frage an: Was ler- Ich will Ihnen von Rot-Grün einmal etwas sagen:
nen wir und was müssen wir aus dem konkreten Vorgang
lernen, und wie sieht die Zukunft der Energieversorgung (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie uns
in unserem Land und in Europa aus? Das ist die ent- was! Her damit!)
scheidende Frage. Es ist unglaublich, wie Sie sich aufführen. Sie sagen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kernenergie sei nicht verantwortbar, haben aber in Ih-
rem rot-grünen Kompromiss zur Kernenergiepolitik die
Um eine solche Diskussion nach diesem Aufwühlen- Kernkraftwerke 20 Jahre lang weiter am Netz gehalten.
den, das wir aus Japan sehen, wirklich ernsthaft führen
zu können, war es richtig, Frau Bundeskanzlerin, das Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
gnal zu geben: Wir meinen es ernst mit der Überprüfung, rufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
wir machen nicht einfach so weiter, sondern wir haben GRÜNEN)
deswegen ein Moratorium beschlossen, sodass wir einen Was gilt nun eigentlich? Sie haben sich damals – Herr
Teil aussetzen und noch einmal genau überprüfen, wie Trittin spricht ja gleich –, als Sie ausgestiegen sind, die-
die Lage nach den Ereignissen in Japan jetzt aussieht. – sen Ausstieg mit Verzicht auf Sicherheit erkauft, meine
Das ist richtig, und das tragen wir aus den Koalitions- Damen und Herren von Rot-Grün.
fraktionen auch mit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von der CDU/CSU: So ist es!)
Natürlich hat es im Vorfeld dieses Energiekonzeptes Wir haben immer formuliert: Wir wollen, dass an der
Diskussionen über die Frage gegeben, wie Laufzeiten
Sicherheit keinerlei Abstriche gemacht werden. Deswe-
ausgestaltet werden sollen – auch in unserer Fraktion.
gen habe ich die Differenzierung zwischen alten und
Wir sind zu einem Ergebnis gekommen, von dem wir der
neuen Kernkraftwerken nie akzeptiert.
Meinung sind, dass es in der konkreten Situation richtig
war. Umso beeindruckter und dankbarer war ich dann (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
darüber – das muss ich auch einmal sagen –, dass der Jetzt schon!)
10900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Volker Kauder
(A) Ein Kernkraftwerk muss die bestmögliche Sicherheit ha- Das ist es eben nicht. Deswegen geht es nicht nach (C)
ben, ganz egal, wie jung oder wie alt es ist. dem Motto: Dann müssen mehr Kohlekraftwerke gebaut
werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Heute Morgen las ich, was Ministerpräsident Platzeck
Es überzeugt nicht, wenn Sie sagen: Die alten nehmen gesagt hat. Angesichts der Tatsache, dass 13 000 Ar-
wir vom Netz, ohne zu prüfen, ob sie sicher sind, und die beitsplätze im Kohleabbau und der -verstromung beste-
neuen lassen wir einfach weiterlaufen. hen, antwortet Herr Platzeck auf die Fragen, ob jetzt
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht bei der Kohle aufgerüstet werden müsse, wie es
DIE GRÜNEN) mit der Umwelt aussehe und ob man nicht CCS machen
wolle: Wenn CCS keine beherrschbare Technologie ist,
Unsere Politik heißt: Sicherheit zuerst! Das ist unser verwenden wir sie nicht.
Motto.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der SPD)
Danach verfahren wir jetzt auch in dem Moratorium. Aber ich sage Ihnen: Einen weiteren Ausbau der Koh-
Dieses Moratorium ist nichts anderes als die Konkreti- leverstromung, ohne dass wir die CO2-Problematik be-
sierung unserer Aussage „Sicherheit zuerst“. achten, sehe ich noch nicht, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist rich-
tig, was die Bundeskanzlerin gesagt hat: Wir können (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
nicht blauäugig nach dem Motto „Sicherheit zuerst“ nur der CDU/CSU)
in Deutschland verfahren. Wir sind umgeben von Kern- Deswegen führt der Weg ganz eindeutig in den schnelle-
kraftwerken, zum Beispiel von Kernkraftwerken im ren Ausbau erneuerbarer Energie.
Oberrheingraben, auf der anderen Seite des Rheins. Dort
müssen die Fragen nach der Sicherheit genauso gestellt (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
werden. Die Frage der Sicherheit der Kernenergie ist Oh! – Weitere Zurufe von der SPD und der
keine nationale, sondern inzwischen eine weltweite He- LINKEN)
rausforderung. – Da brauchen Sie gar nicht so zu rufen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich will Ihnen jetzt eine Zahl vorstellen: Als Sie da-
Sämtliche kleinkarierte Diskussionen nützen da über- mals den Ausstieg beschlossen haben – man muss immer
(B) haupt nichts. betonen, dass das ein Ausstieg war, der Kernkraftwerke (D)
noch weitere 20 Jahre am Netz hält –, haben Sie relativ
wenig für den Ausbau erneuerbarer Energie getan.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
frage des Kollegen Schlecht? chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN)
Volker Kauder (CDU/CSU): Sie haben die Photovoltaik – –
Es ist ebenfalls klar, dass wir in dem Moratorium (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht nur die Frage „Sicherheit zuerst“, sondern auch die NEN]: Ich habe schon solar geduscht, da
Frage nach der Sicherstellung der Energieversorgung wussten Sie noch nicht, wie man das schreibt!
stellen müssen und werden. Es ist völlig klar, dass wir in Sie sind doch der Clown der Debatte! – Wei-
einem Land, das die Arbeitslosigkeit durch den Erfolg tere Zurufe)
der Industrie überwunden hat, nicht so tun können, als
ob Industrie und Sicherheit von Arbeitsplätzen mit der – Sehr gut, Frau Künast, Sie geben mir das Stichwort.
Energieversorgung nichts zu tun hätten. Das geht auf (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
keinen Fall. NEN]: Sie sind doch der Clown!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sie haben den bemerkenswerten Satz gesagt: Die erfolg-
reiche Automobilindustrie muss schrumpfen, und die
Ich höre bereits die Rufe aus der einen oder anderen
Solarenergie muss wachsen.
Ecke: Natürlich muss das, wenn wir zum Abschalten
oder früheren Vom-Netz-Nehmen von Kernkraftwerken (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kommen, ausgeglichen werden. Ich kann nur sagen: NEN]: Nein, das habe ich nicht gesagt!)
Wenn wir es in diesem Hause ernst meinen mit den vie-
len Diskussionen, die wir bezüglich des Klimawandels Jetzt sage ich Ihnen, was Sie mit Rot-Grün erreicht
bereits geführt haben und die wir noch führen werden, haben. Der Anteil des Stroms, der aus erneuerbaren
dann kann man jetzt nicht auf einmal so tun, als ob das Energien stammt, liegt heute bei 17 Prozent.
Thema „Sicherstellung der Energieversorgung“ frei von (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
solchen Überlegungen wäre.
Die Solarenergie macht genau 2 Prozent aus, meine Da-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) men und Herren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10901
Volker Kauder
(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: mund einmal Rambo-Mappus, ein anderes Mal Atom- (C)
Wo habe ich denn den Satz gesagt?) Mappus heißt, im letzten Jahr als Vorkämpfer der Lauf-
zeitverlängerung aufgespielt hat. Er wollte Minister
Mit diesem Ausbau werden wir in 20 Jahren nicht bei
Röttgen sogar aus dem Kabinett werfen, weil er nicht za-
mehr als den 50 Prozent sein, die wir brauchen.
ckig genug funktioniert hat. Es ist absolut unglaubwür-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dig, was in Baden-Württemberg passiert. Ihre Bemer-
kungen hier belegen sehr deutlich, dass man davon
Deswegen muss der Weg rasch zur Windenergie und in ausgehen muss, dass bestenfalls die Kraftwerke ein biss-
die großen Windparks führen. chen optimiert werden. Aber auch Sicherheitsoptimie-
Frau Künast und Herr Trittin, ich freue mich schon rungen bieten keine Gewähr dafür, dass nicht apokalyp-
darauf, dass Sie mit uns Seite an Seite von Kommune zu tische Katastrophen auf die Bevölkerung zukommen.
Kommune ziehen und dafür werben, dass wir die dafür
Danke schön.
notwendigen Trassen ausbauen. Das ist eine Demonstra-
tion für den Ausbau der Infrastruktur, die notwendig ist, (Beifall bei der LINKEN)
um dieses Land voranzubringen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Volker Kauder (CDU/CSU):
Ich bin sehr gespannt, ob Sie bereit sind, aus der Da- Sehr geehrter Herr Kollege, man sollte nicht glauben,
gegen-Partei zu einer Dafür-Partei zu werden. dass Sie während meiner Rede hier auf Ihrem Platz im
Deutschen Bundestag gesessen sind. Ich habe nämlich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – das glatte Gegenteil von dem gesagt, was Sie gerade un-
Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE terstellt haben. Ich habe gesagt, dass wir während des
GRÜNEN]: Billig! – Weitere Zurufe) Moratoriums alles auf den Prüfstand stellen und nach
dem Moratorium auf Grundlage der zusätzlichen Er-
Das, was die Bundeskanzlerin ausgeführt hat, ist rich-
kenntnisse, die wir gewonnen haben, entscheiden. Ich
tig. Es gibt Situationen im privaten und im öffentlichen
will heute eigentlich keine Schärfe in die Diskussion
Leben, bei denen nachher nichts mehr so ist, wie es vor-
bringen.
her war. Deshalb machen wir in diesem Moratorium
Ernst mit der Aussage: Sicherheit zuerst. Wir laden alle (Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem
ein, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- – Warten Sie einmal ab, wenn es wirklich ernst wird. –
rufe von der SPD) Aber eines will ich Ihnen sagen: Jemand, der jeden Tag
(B) (D)
demonstriert, dass er offenkundig aus seiner eigenen
Präsident Dr. Norbert Lammert: Vergangenheit nichts gelernt hat, braucht mir keine Be-
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol- lehrungen zu geben.
lege Schlecht für die Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Michael Schlecht (DIE LINKE):
Herr Kauder, wenn man Ihre Rede anhört, kann man Präsident Dr. Norbert Lammert:
sicherlich Übereinstimmungen mit Ihnen bei der Bewer- Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin für die
tung der bedrückenden Situation in Japan finden. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Aber ich muss feststellen: Sie haben aus Ihren Be-
obachtungen überhaupt nichts gelernt. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich, wie
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) viele Grüne, kämpfe seit 30 Jahren gegen die Atomener-
Ihre Philosophie ist nach wie vor, dass man Atomkraft- gie. Wir haben in Brokdorf demonstriert, wir haben in
werke sichermachen könne. Grohnde im Wendland demonstriert. Wir haben in einem
sehr schwierigen Kompromiss ein Ausstiegsgesetz auf
Japan hat Folgendes gezeigt – das war vor 25 Jahren den Weg gebracht, das zum ersten Mal in der Geschichte
nach Tschernobyl schon völlig klar; das ist spätestens bis dahin unbegrenzte Laufzeiten endlich begrenzt.
nach der Katastrophe in Japan überdeutlich geworden –:
Das einzig Sichere an der Atomkraft sind die Unsicher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
heit und die gigantische Gefährdung der Bevölkerung. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie verfolgen weiterhin die Philosophie, man müsse die Aufgrund dieses Gesetzes sind die Kraftwerke in
Atomkraft nur sicherer machen; dann könne man sie Stade, Obrigheim und Mülheim-Kärlich vom Netz ge-
auch noch weitere 10, 20 oder 30 Jahre in diesem Lande gangen, in diesem Jahr wären die Kraftwerke Neckar-
tolerieren. Es ist unverantwortlich, was Sie hier vorge- westheim 1, Biblis A und Isar 1 dazugekommen. Sie wä-
tragen haben. ren endgültig stillgelegt worden und müssten nicht nur
(Beifall bei der LINKEN) drei Monate pausieren.
Das wird auch dadurch überdeutlich, dass sich Ihr Mi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nisterpräsident in Baden-Württemberg, der im Volks- und bei der SPD)
10902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Jürgen Trittin
(A) Für dieses Engagement haben wir einen Grund: Eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
Technik, bei der nichts schiefgehen darf, ist nicht verant- und bei der SPD)
wortbar, sie ist nicht menschengerecht; denn Menschen
und ihre Technik machen Fehler. Ich sage Ihnen den- Es gibt Wasserstoffexplosionen, wie in Brunsbüttel
noch: Ich hätte nie geglaubt, dass in einem Land wie Ja- 2001. Es gibt auch ein Verhalten wie das von Vattenfall,
pan parallel in sechs Reaktorblöcken diese Anlagen au- das geglaubt hat, es könne den Reaktor einfach weiter
ßer Kontrolle geraten können. Ich hätte nicht geglaubt, betreiben, bis es von der Aufsicht gezwungen wurde, ihn
dass wir in drei Reaktorblöcken heute von einer Kern- vom Netz zu nehmen.
schmelze ausgehen müssen. Ich hätte auch, ehrlich ge- Meine Damen und Herren, verehrte Frau Bundes-
sagt, nicht geglaubt, dass wir in eine Situation geraten, in kanzlerin, die Kraftwerke, von denen ich hier rede, nen-
der drei Brennelementelager nicht mehr zu kühlen sind nen Sie „die sichersten Atomkraftwerke der Welt“.
und sich entzünden. Ich hätte mir nicht vorstellen kön-
nen, dass nach Hiroshima Japan mit Fukushima eine (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
zweite atomare Katastrophe droht. Deswegen muss un- SES 90/DIE GRÜNEN)
ser Mitgefühl den Menschen gelten. Wir sollten jenen
Tapferen, die unter Einsatz ihres Lebens – das ist wört- Was glauben Sie eigentlich, was die Schweizer oder die
lich zu nehmen: unter Einsatz ihres Lebens – zu retten schwedische Regierung über ihre Kraftwerke sagen?
versuchen, was vielleicht nicht mehr zu retten ist, dan- Was glauben Sie, hätte der japanische Ministerpräsident
ken. noch letzte Woche über seine Kraftwerke gesagt? Sie
überschätzen sich und Ihre eigenen Anlagen, wenn Sie
(Beifall im ganzen Hause) so über die realistischen Risiken in deutschen Atom-
Dieser Unfall ist eine tiefe Zäsur; die Menschen emp- kraftwerken hinwegreden.
finden das so. Vor zwei Tagen haben spontan über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
100 000 Menschen an Mahnwachen teilgenommen. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Aber auch in ganz anderen Kreisen spielt das plötzlich LINKEN)
eine Rolle. Ich bekomme monatlich von einem Finanz-
berater ein Finanztelegramm in Form einer E-Mail. Was Sie haben diesen Altanlagen ohne Sicherheitsüber-
passiert im März? Da, wo sonst für langfristige Wertpa- prüfung, ohne Nachrüstauflage, mit abgesenkten Sicher-
piere geworben wird, prangt ein Aufkleber, auf dem heitsstandards in Ihrem Herbst der Entscheidungen acht
steht: „Atomkraft? Nein danke“. Und: Tun Sie was für Jahre Laufzeitverlängerung gegeben. Lieber Herr
den Ausstieg – wechseln Sie Ihren Stromanbieter. Das Kauder, natürlich unterscheiden Sie zwischen Alt und
zeigt, es gibt in diesem Lande heute einen breiten Kon- Neu. Schauen Sie einmal in das von Ihnen verabschie-
(B) sens, auszusteigen, und zwar wirklich, und es gibt einen dete Gesetz: Die Anlagen der einen Kategorie haben (D)
Konsens, schneller auszusteigen. eine Laufzeitverlängerung von 14 Jahren bekommen,
und die Anlagen der anderen Kategorie haben eine von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 8 Jahren bekommen. Auch Herr Kauder unterscheidet
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der zwischen Alt und Neu, aber nur bei der Auswahl der Ge-
LINKEN) schenke für die Atomindustrie.
Diesen Konsens spüren auch Sie. Herr Mappus hat
gesagt, er sei in einem emotionalen Ausnahmezustand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
In dieser Situation gehört alles auf den Prüfstand. Dazu und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
gehört auch, dass wir Risiken realistisch betrachten und LINKEN)
darstellen. Den Menschen müssen wir sagen: Ja, es ist Wir wollen, dass diese Kraftwerke plus Krümmel jetzt
wahr, dass in Deutschland Erdbeben dieser Größenord- und endgültig und nicht vorübergehend vom Netz gehen.
nung nicht wahrscheinlich sind. Aber es ist auch wahr, Das ist die Voraussetzung für jedes ernsthafte Nachden-
dass das im Rheingraben stehende AKW Biblis über ken.
Jahre nicht gegen die dort möglichen Erdstöße ausgelegt
war, weil über 1 000 armdicke Dübel falsch montiert Es ist nicht ernsthaft, Frau Bundeskanzlerin, zu be-
waren. Wir haben das nicht mehr durchgehen lassen. Wir haupten, man schaffe ein dreimonatiges Moratorium. Ich
haben die hessische Atomaufsicht gezwungen, diesen hätte nicht geglaubt, dass ich jemals in die Situation
Missstand endlich zu beenden. komme, dem Kollegen Heinrich Sander von der FDP zu-
zustimmen. Er hat recht: Eine ernsthafte Sicherheits-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN überprüfung von Anlagen ist in drei Monaten nicht mög-
und bei der SPD) lich; dafür braucht man ein bis anderthalb Jahre. Auf
Von wegen Sicherheitsrabatt! welcher Grundlage wollen Sie vorgehen? Wollen Sie
vorgehen auf der Grundlage Ihrer mit der letzten Atom-
Wir alle mussten jetzt lernen, dass man Kühlwasser gesetznovelle abgesenkten Sicherheitsstandards? Sollen
korrekt mit Bor versetzen muss. Das war im Atomkraft- dann nur die angemessenen und geeigneten Maßnahmen
werk Philippsburg 1 nicht die Regel. Ich musste damals gelten, oder soll dabei der Stand von Wissenschaft und
per Bundesaufsicht die baden-württembergische Auf- Technik gelten?
sicht zwingen, dieses AKW so lange vom Netz zu neh-
men, bis EnBW endlich für ein richtiges Sicherheits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
management gesorgt hat. und bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10903
Jürgen Trittin
(A) Wenn dieser gelten soll, lieber Herr Röttgen, dann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
müssen Sie das kerntechnische Regelwerk in Kraft set- Herr Kollege Trittin, kommen Sie bitte zum Schluss.
zen. Das ist übrigens ganz einfach: Sie müssen ein Do-
kument unterschreiben; Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Sigmar Gabriel [SPD]: So ist es!) Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Es
wird nicht billiger. Es kostet mehr. Wir müssen anderer-
das kommt dann in den Bundesanzeiger. Sie müssen we- seits aber auch klar sagen: Was ist das gegen die Kosten,
der die Bundeskanzlerin noch Herrn Brüderle noch vor denen heute Japan angesichts dieser Katastrophe
Herrn Fuchs fragen. Sie können es einfach machen. Es steht?
ist allein Ihre Kompetenz, aber es ist auch Ihre Verant-
wortung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Deswegen heißt es: Wir müssen raus aus der Atomener-
gie, schneller als vorgesehen. Das Restrisiko ist nach Fu-
Deswegen sage ich zum Schluss: Frau Bundeskanzle- kushima nicht länger zu verantworten. Das ist der rich-
rin, Sie haben davon gesprochen: Wir brauchen einen tige Weg.
Ausstieg mit Augenmaß. – Ihr Regierungssprecher hat
das Wort „Augenmaß“ präzisiert. Herr Seibert sagt: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Selbstverständlich gilt das Energiekonzept weiter, und und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/
deswegen laufen die Anlagen bis 2040. – Das ist ein CSU]: Sofort abschalten bis auf null?)
Ausstieg mit Augenmaß?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das ist übrigens noch nicht einmal die ganze Wahr-
Das Wort hat der Kollege Michael Kauch von der
heit. Wenn die Betreiber der Altkraftwerke – und das
FDP-Fraktion.
steht allein in ihrem Belieben – diese Laufzeiten auf die
neueren Anlagen übertragen, dann reden wir von Lauf- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
zeiten bis 2050. Das ist kein Ausstieg mit Augenmaß; Der wollte ja das Restrisiko tragen! Das hat er
das ist die Bestandsgarantie für eine gescheiterte Tech- ja wörtlich gesagt!)
nik.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Michael Kauch (FDP):
und bei der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Sicherheitsdebatte geht es nicht darum, ob wir Kern-
(B) Ja, wir müssen raus, und zwar schneller. Das ist unbe- (D)
kraftwerke im Rahmen der genehmigten Auslegung si-
quem. Das ist unbequem für Sie, weil Sie Ihre Blockade cher betreiben können. Wenn das nicht gewährleistet
der Windenergie in Hessen, Bayern und Baden- wäre, dann hätten Sie, Herr Trittin, und Sie, Herr
Württemberg endlich aufgeben müssen, wo weniger als Gabriel, die Pflicht gehabt, diese Kraftwerke unverzüg-
1 Prozent des Stroms aus Windenergie erzeugt wird. lich abzuschalten und keinen Übergang von 20 Jahren zu
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gestatten.
und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Es ist unbequem für die FDP, für Herrn Lindner und der CDU/CSU)
auch für manche Sozialdemokraten, die meinen, damit Die Lehre aus Japan ist eine andere. Sie besteht in der
könnte man wieder auf die Kohle setzen. Kohle wird den Frage, ob die Annahmen unserer Sicherheitsphilosophie
Ausbau erneuerbarer Energien jedoch ausbremsen. Des- korrekt sind. Reichen die Sicherheitspuffer aus? Sind die
wegen geht das nicht. Puffer für die größtanzunehmenden äußeren Einwirkun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen – ich nenne nur: Erdbeben – ausreichend? Genau das
ist das Problem, das Japan ereilt hat. Die Puffer haben
Es ist unbequem für die Grünen, weil es jetzt nicht nicht gereicht.
mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie von
mehr Strom aus Biogas geht. Es ist unbequem für uns Deshalb genügt es nicht, nach dem bisherigen oder
alle, weil wir Leitungen bauen und Pumpspeicherkraft- dem neuen kerntechnischen Regelwerk die Kernkraft-
werke errichten müssen. werke zu überprüfen. Nein, auch das Regelwerk selbst
muss überprüft werden; denn es geht um die Annahmen,
(Zuruf von der FDP: Aha!) die den Sicherheitsregeln zugrunde liegen. Das ist eine
– Ja. – Wir alle werden uns mit unseren Ortsverbänden neue Dimension der Diskussion um die Sicherheit unse-
darüber auseinandersetzen müssen. rer Kernkraftwerke.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
FDP – Zuruf von der FDP: Dann aber los!) der CDU/CSU)

– Auch Sie im Thüringer Wald mit Ihren FDP-Ratsfrak- Die Sicherheitsüberprüfung ist notwendig, weil die
gleichen Risiken vor diesem Hintergrund anders zu be-
tionen, meine Damen und Herren.
werten sind. Die Kernkraftwerke müssen, wenn sie den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neuen Anforderungen an die Sicherheitspuffer nicht ent-
10904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Michael Kauch
(A) sprechen, nachgerüstet werden. Wenn sie nicht nachge- zept anpassen. Aber die Grundachse des Energiekonzep- (C)
rüstet werden können oder wenn das wirtschaftlich kei- tes bleibt auch bei einer vorzeitigen Abschaltung eines
nen Sinn macht, dann müssen sie abgeschaltet werden, Teils der Kernkraftwerke erhalten: Wir wollen das Zeit-
unabhängig von möglichen Laufzeiten. alter der erneuerbaren Energien erreichen. Wir haben
schon im bisherigen Energiekonzept beschlossen, dass
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) im Jahr 2050 kein einziges Kernkraftwerk mehr am Netz
Die Koalition von Union und FDP hat bereits bei der sein wird. Wir haben beschlossen, dass 80 Prozent des
Debatte über die Laufzeitverlängerung einen neuen Pa- Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen sollen. Das
ragrafen in das Atomgesetz eingefügt, durch den die wollen wir deshalb erreichen, weil wir die CO2-Emissio-
Aufsicht die Handhabe dafür hat, so zu handeln, wie wir nen bis 2050 um 80 bis 95 Prozent mindern wollen. Das
es jetzt tun. Aufgrund des alten Atomgesetzes, wie es ist der Kern des Energiekonzeptes: der Umbau der Ener-
unter Rot-Grün existierte, war die Aufsicht nur in der gieversorgung hin zu erneuerbaren Energien. Das wer-
Lage, die Anlage dem genehmigten Auslegungszustand den wir als Koalition jetzt beschleunigen.
entsprechend immer wieder nach Wissenschaft und
Technik nachrüsten zu lassen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Ulrich Kelber [SPD]: Eine bewusste Lüge!)
Wir dürfen die Debatte um die Kernkraft nicht von
Die Aufsicht hatte jedoch nicht die Handhabe, der Debatte um den Klimaschutz loslösen. Das, was vor
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist eine bewusste wenigen Wochen auch hier im Deutschen Bundestag dis-
Lüge, was Sie machen!) kutiert worden ist, ist heute nicht weniger wichtig ge-
worden. Klimaschutz bedeutet eine Zukunftsvorsorge
auch die Sicherheitsannahmen grundlegend zu revidie- für kommende Generationen. Er bedeutet auch eine
ren. Das ist erst mit § 7 d, den Schwarz-Gelb in das Zukunftsvorsorge in Bezug auf die Sicherung von Men-
Atomgesetz eingefügt hat, möglich geworden. schenleben, die ansonsten in vielen Ländern durch
Überschwemmungen, Wetterereignisse und ähnliche
(Lachen des Abg. Sigmar Gabriel [SPD]) Phänomene gefährdet wären. Deshalb geht es bei unse-
Das heißt, wir haben schon im letzten Jahr die Voraus- rem Energiekonzept um die Versorgungssicherheit, aber
setzung dafür geschaffen, dass in einer Situation, wie sie eben auch um den Klimaschutz. Diesen können wir nicht
jetzt eingetreten ist, entsprechend gehandelt werden einfach über Bord werfen. Aus diesem Grunde können
kann. wir nicht einfach die Kohlekraftwerke oder die Gaskraft-
werke hochfahren. Nein, wir brauchen mehr erneuerbare
(B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Energien, und das geht nur, wenn die Netze ausgebaut (D)
der CDU/CSU – Sigmar Gabriel [SPD]: So ein werden, wenn die Proteste endlich aufhören und Geneh-
Blödsinn! Man kann nur hoffen, dass Sie das migungsverfahren mit einer Dauer von bis zu acht Jah-
nicht selber glauben!) ren der Vergangenheit angehören. Wir müssen den Netz-
Wenn wir über Kernenergie sprechen, dann müssen ausbau schneller hinbekommen, sonst wird es nicht
wir über das Energiekonzept sprechen. Denn klar ist: mehr erneuerbare Energien in diesem Lande geben.
Wir betreiben die Kernkraftwerke in Deutschland nicht, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
um einigen Unternehmen einen Gefallen zu tun,
der CDU/CSU)
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Wir werden die Speicherentwicklung vorantreiben.
sondern wir betreiben sie, weil das Industrieland Wir werden im Erneuerbare-Energien-Gesetz Anreize
Deutschland darauf angewiesen ist, dass wir eine Ener- für die Integration in das Netz geben und damit dafür
gieversorgung bereitstellen, die jederzeit die Nachfrage sorgen, dass erneuerbare Energien eingespeist werden,
deckt. Dabei geht es nicht ausschließlich um die Menge wenn es notwendig ist. Es gibt daneben die unbequeme
erzeugter Energie. Es geht um die Stabilität unserer Wahrheit: Wir werden auch die CO2-Abscheidung und -Ein-
Energieversorgung. Das ist die Herausforderung, vor der lagerung in die Erde als technologische Option brauchen.
wir stehen. Wenn wir Atomkraftwerke vom Netz neh- Auch hier muss der eine oder andere umdenken, seine
men, geht es nicht einfach um die Erhöhung der Strom- regionalen Interessen zurückstellen und die nationale
menge aus erneuerbaren Energien; vielmehr geht es da- Aufgabe des Klimaschutzes und der Versorgungssicher-
rum, dass diese Strommengen in das Netz integriert heit sehen.
werden können. Das ist die Herausforderung: Wir müs-
sen die Stabilität unserer Energieversorgung sichern. Vielen Dank.
Das kann man im Deutschen Bundestag nicht einfach
mit Schnellschüssen mal eben beschließen. Es sind die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Folgen mit zu bedenken.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Das Wort hat der Kollege Frank-Walter Steinmeier
von der SPD-Fraktion.
Deswegen müssen wir, wenn wir wissen, wie viele
Kraftwerke abgeschaltet werden sollen, das Energiekon- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10905

(A) Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): So sehr ich verstehe, Frau Merkel, dass Ihnen die Dis- (C)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und kussion zur Unzeit kommt: Wir werden diese Fragen
Herren! Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der sich bei nicht einfach wegdrücken können. Das haben auch Sie
den Bildern dieser Tage an 9/11 erinnert fühlt. An die- in den letzten Tagen lernen müssen. Das Leid in Japan
sem Tag gab es Tausende von Opfern, ein Symbolbau- zu instrumentalisieren, um hier in Deutschland eine De-
werk des Westens stürzte in sich zusammen. Wir wuss- batte über die Folgen einer falschen Politik nicht führen
ten damals von dieser Stunde an: Die Welt wird nicht zu müssen, das wird nicht gehen, und das wird Ihnen
dieselbe sein. auch die Bevölkerung nicht durchgehen lassen.
Was wir in Japan mit Grauen und Entsetzen den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
stündlich neuen Nachrichten – so auch jetzt wieder – und DIE GRÜNEN)
Bildern entnehmen, zeigt: Das ist im Vergleich zu 9/11
eine Katastrophe in geradezu quälender Zeitlupe – Tage Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ohne Gewissheit über die wirklichen Dimensionen die- Herr Kollege Steinmeier, erlauben Sie eine Zwischen-
ser schrecklichen Folgen. Doch ahnen wir in diesen Ta- frage des Kollegen Schlecht?
gen der Ungewissheit: Auch dieses Mal wird die Welt
danach nicht dieselbe sein.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Was wir erleben, ist ganz ohne Zweifel eine Katastro- Ja.
phe apokalyptischen Ausmaßes, eine Katastrophe mit
unfassbarem Leid und Tod, eine Katastrophe, die Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
wissheiten aus der Vergangenheit radikal infrage stellt. Bitte, Herr Schlecht.
Angesichts der sich weiter zuspitzenden Schreckensmel-
dungen ist es schwer, in den Routinen unseres Alltags (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
immer die richtige Sprache zu finden. Wenn wir an sol- NEN]: Noch eine „schlechte“ Zwischenfrage? –
chen Tagen des tausendfachen Leids gelegentlich um Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das gibt dem
Worte ringen, dann muss das vielleicht gar nicht schlecht doch Redezeit!)
sein; denn ganz zuvörderst ist dies die Stunde der Anteil-
nahme und Solidarität. Ich möchte dem Bundestagsprä- Michael Schlecht (DIE LINKE):
sidenten ausdrücklich für die Worte danken, die er ges- Herr Steinmeier, Sie haben eben die momentanen
tern in unser aller Namen gefunden hat. Sorgen der Bevölkerung beschrieben. Diese Sorgen
(Beifall im ganzen Hause) müsste die Bevölkerung und müssten wir alle gemein-
(B) sam nicht haben, wenn der Atomausstieg in den sieben (D)
Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Op- Jahren Amtszeit von Rot-Grün wirklich vollzogen wor-
fer, bei den mittlerweile 100 000 Kindern, die nach ihren den wäre, und zwar unumkehrbar.
Eltern suchen und die jetzt bei den vielen Helferinnen
und Helfern sind. In diesen Stunden sind unsere Gedan- (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND-
ken ganz besonders bei denen, die in Fukushima unter NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP:
Einsatz ihres Lebens – ich vermute, in Kenntnis aller Ri- Die Frage!)
siken – darum kämpfen, das Allerschlimmste zu verhin- Weshalb haben Sie eigentlich damals in den sieben
dern. Möglicherweise gelingt ihnen nicht einmal das. Jahren Ihrer Amtszeit nicht Ihr Versprechen aus dem
In dieser Situation des Schreckens muss sich das japa- Wahlkampf 1998, das auch in der Koalitionsvereinba-
nische Volk auf unsere Solidarität und unsere Hilfe ver- rung festgeschrieben wurde – dass Sie so schnell wie
lassen können. Nicht nur die Bundesregierung und die möglich den Atomausstieg vollziehen wollen; „so
Hilfsorganisationen, sondern auch die Menschen in schnell wie möglich“ kann ja wohl nicht sieben Jahre
Deutschland – da bin ich mir ganz sicher – werden ihre heißen –, gehalten und die AKW-Politik in Deutschland
Hilfsbereitschaft in den nächsten Tagen unter Beweis beendet? Dann hätten Sie dem deutschen Volk all die
stellen. Probleme, die wir jetzt mit der Laufzeitverlängerung
usw. haben, ersparen können. Was waren die Gründe,
Die Menschen in Deutschland werden Solidarität weshalb Sie das so gemacht haben?
üben. Aber sie sind zugleich besorgt. Sie zeigen zwar
keine Anzeichen von Panik und Hysterie, aber sie sind (Dorothea Steiner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
verunsichert und irritiert. Japan ist weit entfernt, aber NEN]: Ein peinlicher Beitrag!)
uns in vielem doch so ähnlich. Manche sagen: in dem
Hang zur Perfektion; andere sagen: auch in der Arbeits- Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
moral; Dritte sagen: ganz sicherlich, was die wirtschaft- Herr Kollege, das nenne ich wirklich Mut! Sie kom-
liche Stärke angeht. men aus der Tradition einer Partei, die in für mich unver-
ständlicher Weise immer wieder gesagt hat: Atomkraft-
Wir sind wie Japan ein rohstoffarmes und ein Hoch-
werke in Volkshand sind vertretbar und verantwortbar. –
technologieland. Weil das so ist, fragen sich jetzt ganz
Wer das sagt, der hat uns keine Belehrungen zu erteilen!
viele, ob das, was in Japan passiert, auch bei uns passie-
ren kann. Sie fragen eben nicht die Wirtschaft und spe- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ziell die Energiewirtschaft, sondern sie fragen uns, die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Politik, ob wir verantworten können, was wir tun. CDU/CSU und der FDP)
10906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) Herr Kauder, Sie haben in Ihrer gerade gehaltenen Sie wird schlechter dastehen als nach den Vereinbarun- (C)
Rede dafür plädiert, keine Debatte über die Vergangen- gen, die sie mit dieser Bundesregierung getroffen hat.
heit zu führen. Die Debatte, die nicht nur im Deutschen
Bundestag, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
geführt wird, ist eben keine Debatte über die Vergangen- DIE GRÜNEN)
heit, sondern eine Debatte über die verhängnisvoll fal- Denn was ist jetzt nach der Katastrophe in Japan ein-
sche Politik Ihrer Gegenwart, Herr Kauder. Darum geht getreten? Statt Laufzeitverlängerung haben wir eine Un-
es! sicherheit, wie wir sie in der Geschichte der deutschen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Energiepolitik lange nicht gehabt haben. Zehntausende
DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: von Menschen sind wieder auf der Straße. Sie können es
Sie haben gar nichts verstanden!) ja drehen und wenden, wie sie wollen: Kernkraftbefür-
wortern wie Herrn Mappus steht doch die blanke Panik
Ich unterstelle Ihnen, dass Sie nicht all das, was Sie im Gesicht.
hier gesagt haben, wirklich ernst meinen. Denn Sie ha-
ben in den letzten Tagen gemerkt, dass Sie mit Ihren Wir haben mit dem Atomkonsens – das sei an alle
energiepolitischen Pirouetten, die Sie auf ganz dünnem diejenigen gesagt, die hier kritisch dazu berichtet haben;
Eis vollführen, nicht wirklich glaubwürdig sind. das ist vergessen worden – einen jahrzehntelangen Groß-
konflikt in dieser Gesellschaft befriedet und gleichzeitig
Niemandem ist es verwehrt, aus Katastrophen zu ler- einen verlässlichen Rahmen geschaffen, auch für die
nen, ganz im Gegenteil: Wer aus solchen Katastrophen Wirtschaft – verlässliches Auslaufen der Kernenergie
nichts lernt, der hat in der Politik nichts zu suchen. Aber und gleichzeitig eine Brücke, mit der neue Formen der
dieses Lernen muss ernsthaft und glaubwürdig sein. Wer Energieerzeugung etabliert werden können. Ganz neben-
heute das Gegenteil von dem verkündet, was er über bei, weil das hier noch niemand erwähnt hat: Nur dem
Jahre hinweg vertreten hat, der muss verstehen und ak- Atomkonsens ist es zu verdanken, dass ein Reaktor in ei-
zeptieren, dass es Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit nem deutschen Erdbebengefahrengebiet, nämlich der
gibt, von Mülheim-Kärlich, nicht ans Netz gegangen ist.
Auch der war nach Ihrer Auffassung und nach Auffas-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sung der Energiewirtschaft ein sicherer Reaktor.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
und der kann auch nicht beklagen, Frau Merkel, dass an
DIE GRÜNEN)
der einen oder anderen Stelle bohrend nachgefragt wird.
(B) Sie haben einen Konsens aufgekündigt – gegen die (D)
Frau Merkel, Ihr Glaubwürdigkeitsproblem, das heute
Mehrheit der Bevölkerung. Wenn sie jetzt sagen: „Wir
Morgen noch einmal zutage getreten ist, können nur Sie
nehmen die Sorgen der Bevölkerung ernst“, dann ist das
selbst aus der Welt schaffen. Sie haben die Atomkraft in
eben – mit Verlaub – nicht glaubwürdig. Diese Sorgen
Ihrer gesamten politischen Laufbahn gegen alle Kritik
gibt es nicht erst seit Fukushima; die gibt es seit Sella-
verteidigt. Sie haben Tschernobyl als Betriebsunfall ei-
field, seit Harrisburg, seit Tschernobyl, seit Forsmark.
nes verlotterten Sozialismus abgetan. Sie haben geleug-
Ich könnte die Liste der Namen fortsetzen. Es ist ja gut,
net und nicht akzeptiert, dass erstmals mit Tschernobyl
dass Sie jetzt die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen
die Beherrschbarkeit einer Hochrisikotechnologie in-
wollen. Aber dann gehört eben auch – verdammt noch
frage gestellt war. Sie haben den Atomkonsens leichtfer-
mal! – ein Wort der Einsicht dazu, warum Sie in der Ver-
tig und ohne Not aufgekündigt und die Verlängerung der
gangenheit so leichtfertig über diese Sorgen hinwegge-
Laufzeiten durchgesetzt. Und da können Sie alle mitei-
gangen sind.
nander noch so viel darum herumreden: Das werden die
Menschen nicht vergessen. Machen Sie sich darauf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
keine Hoffnungen! DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Frau Merkel, nicht wir, diejenigen, die wir damals
DIE GRÜNEN) den Atomkonsens auf die Beine gestellt haben und den
Mein Eindruck war schon im letzten Jahr, dass es Ih- Ausstieg aus der Kernenergie vorbereitet haben, haben
nen allen an dem nötigen Verständnis nicht nur für die uns hier in diesem Hohen Haus und in der Öffentlichkeit
gesellschaftspolitische, sondern auch für die ökologische zu entschuldigen. Zu entschuldigen haben sich diejeni-
und am Ende sogar wirtschaftspolitische Dimension die- gen, die das Problem jahrelang, jahrzehntelang ignoriert,
ser Frage und des Atomkonsenses immer schon gefehlt sich über alle Bedenken hinweggesetzt und Laufzeiten
hat. verlängert haben.

Ich habe schon damals, lange vor Japan, Herr Kauder, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
befürchtet und sogar gesagt, dass selbst die Energiewirt- DIE GRÜNEN)
schaft den Tag verfluchen wird, an dem sie diese Regie- Die haben öffentlich Einsicht zu bekennen.
rung zur Laufzeitverlängerung getrieben hat. Ich habe
nicht geahnt und nicht gewusst, dass dieser Tag so Wenn Sie sich jetzt hinstellen und in verzweifelter Art
schnell kommen wird. Ich habe ihn mir nicht einmal her- und Weise völlig unglaubwürdig Kritik an Rot und Grün
beigewünscht. Aber heute weiß die Energiewirtschaft: und den Versuchen, frühzeitig aus der Kernenergie he-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10907
Dr. Frank-Walter Steinmeier
(A) rauszukommen, äußern, ist das nur allzu durchschaubar. (Anhaltender Beifall bei der SPD und dem (C)
Ich finde es dreist und unanständig. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Birgit
Homburger [FDP]: Das sagt der Richtige!)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Merkel, da gibt es nichts zu lachen, sondern ich Das Wort hat der Kollege Dr. Christian Ruck von der
meine das ganz ernst. CDU/CSU-Fraktion.
(Zuruf des Abg. Hans-Michael Goldmann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
[FDP]) neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Sonn-
tagabend waren Sie noch anderer Meinung! –
Wer sich so verhält wie Sie in dem mittleren Teil Ihrer
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Plötzliche Er-
Regierungserklärung heute Morgen, darf nicht seiner-
kenntnisse, ja?)
seits Respekt vom Parlament und der Opposition verlan-
gen. Darum geht es.
Dr. Christian Ruck (CDU/CSU):
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann Kernforderung unseres Entschließungsantrags zur Kata-
[FDP]: Sie haben keinen Respekt! – Weiterer strophe in Japan und den Konsequenzen für Deutschland
Zuruf von der FDP: Das ist unanständig, was ist „ein Innehalten und Nachdenken über das Gesche-
Sie hier tun!) hene.“ Es geht nicht um Hysterie und Hektik, sondern
darum, die Gelegenheit zu einer besonnenen Überprü-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: fung der eigenen Standpunkte zu schaffen. Die logische
Herr Kollege Steinmeier, kommen Sie bitte zum Konsequenz aus dem „Innehalten und Nachdenken“ ist
Schluss. auch das Moratorium bei der Laufzeitverlängerung und
die einstweilige Abschaltung der genannten Kraftwerke.
Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD): (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Herr Goldmann, Respekt darf auch derjenige verlan- GRÜNEN]: Sie haben doch in der Rheinischen
gen, der dieses Parlament ernst nimmt. Da bin ich mit Post gesagt, Sie sind dagegen!)
Ihnen einig. Der Bundestagspräsident Norbert Lammert hat uns
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gestern daran erinnert, dass wir die Debatte in diesem
(B)
DIE GRÜNEN) Hause mit der „angemessenen Sachlichkeit“ führen sol- (D)
len. Ich bedaure sehr, dass heute und in den letzten Ta-
Das Parlament nimmt man ernst, indem man das Parla- gen gerade bei der Opposition von Sachlichkeit und Be-
ment mit den Fragen der Zukunft der Energiepolitik in sonnenheit kaum die Rede sein kann; es ist plumpe
diesem Land beschäftigt und nicht nach dem Muster Polemik. Das Geheule und Gejohle von Teilen der Op-
handelt: Was kümmert mich das Gesetz von gestern? Es position ist beschämend
ist doch peinlich, dass Verfassungsrechtler wie Herr
Morlok und – das beunruhigt Sie noch mehr – (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Nichts davon ist wahr! Hören Sie doch
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE auf damit!)
GRÜNEN]: Herr Kauder!)
und dem Ernst der Lage nicht angemessen.
der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Herr Papier, Sie an den schlichten und einfachen Grund-
der FDP)
satz erinnern: Wer per Gesetz Laufzeiten verlängert,
muss sie auch per Gesetz zurücknehmen. Das ist ein Herr Steinmeier, wenn Sie uns unterstellen, dass wir
ganz schlichter Grundsatz. erst jetzt die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen und
mit diesen Sorgen leichtfertig umgehen; wenn Sie der
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kanzlerin unterstellen, dass sie die Sorgen nicht ernst
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nimmt, dann ist das eine Beleidigung und Verleumdung,
LINKEN) die ich gerade von Ihnen in dieser Schärfe niemals er-
Frau Homburger, wenn ich es richtig gelesen habe: wartet hätte.
Sie haben das „Erbsenzählerei“ genannt. Ich nenne das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Rechtsstaat. der FDP)
(Beifall bei der SPD) Meine sehr verehrten Damen und Herren, zurück zum
Wenn man in diesem Hause an einen wichtigen Grund- Ernst der Debatte. Im letzten Herbst hat die Bundesre-
satz des Rechtsstaats erinnern muss, dann beunruhigt gierung ein umfassendes, bis 2050 reichendes Energie-
mich das wirklich – ich hoffe, auch Sie. konzept vorgestellt, das wir, die Fraktionen der Union
und unseres Koalitionspartners, der FDP, mitgestaltet
Herzlichen Dank. und verabschiedet haben; ich selbst durfte daran mitar-
10908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Christian Ruck


(A) beiten und bin von der Richtigkeit dieses Konzepts voll- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie (C)
kommen überzeugt. entlarven sich in diesen Tagen immer wieder selbst. Sie
fordern von uns, dass wir die Ergebnisse des Morato-
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ riums schon jetzt benennen, obwohl diese doch erst nach
DIE GRÜNEN]: Immer noch?) Abschluss des Moratoriums zutage treten. Das heißt
– Jawohl, immer noch. Denn das Konzept bringt in Ein- doch nichts anderes, als dass Ihnen das Ergebnis der Un-
klang, was unabhängig von den Ereignissen in Japan für tersuchungen, die in den nächsten drei Monaten stattfin-
die Zukunft unseres Landes entscheidend ist: Klima- den, völlig wurscht ist.
schutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit der (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Energie. Der Strom aus der Steckdose muss zunächst GRÜNEN]: Sie haben doch verlängert! –
einmal in die Steckdose. Ulrich Kelber [SPD]: Die Kanzlerin hört gar
(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht zu!)
SES 90/DIE GRÜNEN – Gegenruf des Abg. Das zeigt, dass Sie sich hinter kleinkarierten Diskussio-
Volker Kauder [CDU/CSU]: Was ist daran nen und juristischen Spiegelgefechten verschanzen,
denn falsch?)
(Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Das Konzept enthält Klimaschutzziele und sieht einen
Ausbau der erneuerbaren Energien in einem bisher nicht statt mit uns zu sagen: Die Sicherheitsüberprüfung der
bekannten Maße vor. Das stellt alles in den Schatten, Kernkraftwerke in den nächsten drei Monaten ist unser
was von Rot-Grün jemals auf den Tisch gelegt wurde. gemeinsames oberstes Ziel.
Das, was Sie, Herr Steinmeier und Herr Trittin, als (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Atomkonsens propagiert haben, war nichts anderes als Hans-Michael Goldmann [FDP] – Claudia
eine Mogelpackung. Ihr Energiekonzept war ein Sam- Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
melsurium von Ungereimtheiten, Unbezahlbarkeiten NEN]: Hochinteressant!)
und Unwägbarkeiten.
Auch wenn es wehtut, Herr Trittin, möchte ich Sie
Es ist richtig – dazu stehe ich –, dass dieser Atomkon- noch einmal an den Vertrag von 2000 erinnern. Wer in
sens auch die Verlängerung der Laufzeiten unserer Kern- dem Vertrag mit den Kraftwerksbetreibern ohne Not auf
kraftwerke beinhaltet. Dadurch wollten wir uns die für jegliche Sicherheitsverbesserungen in den Kernkraftwer-
den Ausbau der Netze erforderliche Zeit und das dafür ken in der Zukunft verzichtet hat, der hat meiner Ansicht
notwendige Geld verschaffen; denn die Speicherkapazi- nach jedes Recht verwirkt, hier den Moralapostel zu
tät muss erhöht und neue Technologien müssen entwi- spielen.
(B) (D)
ckelt werden. Ich habe aber immer auch gesagt – Herr
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Trittin, wir haben uns in den letzten 20 Jahren des Öfte-
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ren darüber austauschen können –: Grundvoraussetzun-
Und wer hat den Vertrag unterschrieben?)
gen sind der sichere Betrieb der Kernkraftwerke in
Deutschland und die Klärung der Endlagerfrage. Das un- Noch etwas anderes verstehe ich nicht: Sie haben sieben
terscheidet uns, Herr Trittin. Sie haben gerade selber ge- Jahre Zeit gehabt, die Kernkraftwerke abzuschalten. Zu-
sagt, dass Sie seit 30 Jahren gegen die Kernkraft kämp- erst haben Sie die Chance dazu gehabt, danach Herr
fen. Ganz egal, welche rationalen Argumente dafür oder Gabriel. Das ist aber nicht passiert.
dagegen sprechen: Für Sie ist das Thema abgehakt. Das
zeigt, dass die Bevölkerung von Ihnen keine ideologie- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
freie und ergebnisoffene Diskussion erwarten darf. Weil die Kanzlerin ihn daran gehindert hat!
Das hat er doch gerade gesagt!)
Ich sage ganz deutlich, dass es in diesen Tagen vor al-
– Als Herr Trittin in der Regierung war, gab es keine
lem um die Sicherheit geht. Fakt ist, dass wir zurzeit
Kanzlerin.
nicht davon ausgehen müssen, dass von den japanischen
Kernkraftwerken eine Gefahr für uns ausgeht. Fakt ist, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
dass wir nicht in einem Erdbebengebiet wohnen. Fakt ist Nein! Sie haben doch gerade über Gabriel ge-
auch, dass wir in unseren Kraftwerken eine andere Si- redet!)
cherheitslage haben. Aber wir müssen uns trotzdem Zeit
Dafür, dass Sie die Kernkraftwerke nicht abgeschaltet
nehmen, um die Situation in Deutschland vor dem Hin-
haben, gibt es einen einfachen Grund: Auch Sie wissen,
tergrund des Versagens der Technik in Japan – dabei
dass die deutschen Kernkraftwerke nicht nur aus unserer
geht es vielleicht auch um menschliches Versagen – zu
Sicht, sondern auch aus Sicht der Internationalen Atom-
überprüfen: Sind die Annahmen zur Erdbebensicherheit
energiebehörde zu den sichersten der Welt gehören.
in Deutschland richtig? Hat der Klimawandel vielleicht
Minister Röttgen packt jetzt an, was seine Vorgänger,
Auswirkungen auf die Sicherheit unserer Kernkraft-
Herr Gabriel, und Sie, Herr Trittin, nicht anzufassen ge-
werke? Können terroristische Angriffe auf Kernkraft-
wagt haben, auch die Endlagerfrage.
werke wirklich ausgeschlossen werden, bzw. sind die
Kernkraftwerke hinreichend abgesichert? Das und ande- Wir werden konsequent umsetzen, was jetzt zu tun
res mehr müssen wir vor dem Hintergrund der Katastro- ist: erstens aufgrund der Erfahrungen in Japan unsere
phe in Japan prüfen, und zwar ergebnisoffen und ohne Kraftwerke auch in Bezug auf ganz anders geartete
Tabus, aber auch ohne Hysterie und ohne Panikmache. Schadensfälle, die bei uns vielleicht noch nicht so be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10909
Dr. Christian Ruck
(A) rücksichtigt worden sind, durchchecken, zweitens bei Ihrer Haltung: Wir sehen jetzt alles anders; aber wir hat- (C)
eventuellen Sicherheitslücken die erforderlichen Konse- ten immer recht. Für Sie ist entscheidend, ob die Men-
quenzen einleiten, drittens überprüfen, ob wir beim Aus- schen außerhalb dieses Hauses Ihnen glauben, und ich
bau der erneuerbaren Energien oder bei der Erhöhung frage Sie: Warum sollten sie?
der Energieeffizienz nicht schneller vorangehen können,
und die europäische und internationale Dimension ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
stärkt betrachten. Ich glaube, Kommissar Oettinger hat sowie bei Abgeordneten der SPD)
vollkommen recht, wenn er sagt, dass die europäischen Sie machen jetzt, was Sie vor dem Gesetz zur Laufzei-
Kernkraftwerke einen generellen Sicherheitscheck brau- tenverlängerung hätten tun müssen, und versuchen, dies
chen. Es ist aber reine Heuchelei, zu sagen: Wir schalten als Lehre aus dem Ereignis von Fukushima zu verkau-
unsere Kraftwerke ab; aber die rund 150 europäischen fen. Brauchen Sie erst einen GAU, um Laufzeitverlänge-
Kraftwerke von Temelin bis Cattenom können unbe- rungen und Sicherheitsüberprüfungen zusammenzubrin-
grenzt und ohne Check weiterlaufen. Das ist völlig un- gen?
sinnig und auch inkonsistent.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sowie bei Abgeordneten der SPD)
neten der FDP)
Als baden-württembergische Abgeordnete möchte ich
Wir sind bereit, Konsequenzen zu ziehen, wenn die einen Blick in mein eigenes Bundesland werfen. In die-
Überprüfungsergebnisse dies erfordern. Wir tun dies an- sen Zeiten ist es für eine CDU-Bundeskanzlerin ganz be-
gesichts der Tragweite für unser Land mit der nötigen sonders wichtig, dass die Menschen den Parteikollegen
Besonnenheit und der nötigen Verantwortung. Ich füge Frau Gönner und Herrn Mappus glauben, dem baden-
hinzu, dass allein die Abschaltung der infrage kommen- württembergischen Ministerpräsidenten, der eine Lauf-
den Kraftwerke für die nächsten drei Monate einen zu- zeit von 60 Jahren und Ihren Rücktritt, Herr Röttgen,
sätzlichen Ausstoß von 20 Millionen bis 30 Millionen forderte, weil Sie ihm zu defensiv waren, der den über-
Tonnen CO2 beinhaltet. Auch das gehört zu den Punkten, teuerten Kauf von 45 Prozent der EnBW auf Staatskos-
die wir abwägen müssen. ten damit begründete, er wolle nicht in Paris oder Mos-
Was die Besonnenheit anbetrifft, so rate ich uns, un- kau nach Energie fragen müssen. Alternativen zu
sere japanischen Freunde als Vorbild zu nehmen. Ich entwickeln, ist Herrn Mappus beim Regierungshandeln
habe tiefen Respekt vor der Tapferkeit der Japaner in fremd. Er hat alles getan, das Wachstum der Erneuerba-
dieser schlimmen Situation. Ich habe auch tiefes Mitge- ren in Baden-Württemberg zu verhindern.
fühl für unsere japanischen Freunde in diesem Jubilä-
(B) umsjahr, dem 150-jährigen Bestehen der deutsch-japani- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D)
sowie bei Abgeordneten der SPD)
schen diplomatischen Beziehungen. Wir sollten ihnen
jede Hilfe geben, die wir zu geben in der Lage sind, und Sein stolzes Verhinderungsergebnis für Baden-Württem-
damit zeigen, dass wir auch in dieser schweren Stunde berg lautet: 0,7 Prozent Strom aus Windenergie, 52 Pro-
an der Seite Japans stehen. zent Atomstrom. Das ist ein Armutszeugnis.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
neten der FDP) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wer soll einer Landesatomaufsicht ihre neue Besorg-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nis um die Sicherheit der Atomkraftwerke abnehmen,
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl von nachdem sie im letzten Jahr den Abfluss von 270 000 Li-
Bündnis 90/Die Grünen. tern Reaktorwasser aus dem Philippsburger Brennele-
mentebecken kurzerhand vertuschte, weil der Störfall in
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zeiten der Verlängerungsdebatte störte, und die Mängel-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In Japan liste von Neckarwestheim drei Jahre lang in der Schub-
sind wieder Uhren stehen geblieben, fünf Minuten vor lade ließ und keinerlei Nachrüstung vor dem Geschenk
drei. Im Hiroshima Peace Memorial Museum kann man der Laufzeitverlängerung einforderte?
ebenfalls stehen gebliebene Uhren sehen: 8.15 Uhr am
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
6. August 1945. Dasselbe hochmoderne Land ist von der
Unerhört!)
militärischen wie auch von der zivilen Nutzung der
Atomkraft gleichermaßen grauenvoll getroffen worden. Nein, wem die Interessen der Konzerne immer näher
Es ist an der Zeit, die Uhren des Glaubens an die Atom- waren als die Wahrnehmung der Kontrolle und Sicher-
kraft zum Stehen zu bringen. heit, dem nimmt niemand die Krokodilstränen ab.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Frau Merkel und Sie, Herr Röttgen, bemühen sich, zu Es ist eine Feier wert, dass Neckarwestheim 1 endlich
überzeugen, dass Sie die Zäsur für die Industriegesell- abgeschaltet wird;
schaften begriffen hätten. Es ist nicht entscheidend, ob
die Opposition Ihnen glaubt. Das fällt schwer angesichts (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Beschämend!)
10910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Sylvia Kotting-Uhl
(A) aber es lässt keinen Glauben an Einsicht zu, wenn eingehen. Darin heißt es, die Bundesregierung habe an- (C)
Mappus das in den Kontext eines emotionalen Ausnah- gesichts der aktuellen Geschehnisse in Japan nunmehr
mezustandes seiner Bürger stellt. festgestellt, dass sie im Gesetzgebungsverfahren zur
Laufzeitverlängerung Sicherheitsfragen nicht hinrei-
Wenn Sie es wirklich ernst meinen mit dem Umden- chend beachtet hat. Wenn Sie, die Grünen, das so formu-
ken, damit, dass Sie aus dem GAU von Japan lernen lieren, dann muss ich sagen: Wäre die Situation in Japan
wollen, dann stimmen Sie unseren Anträgen zu. Beugen nicht so traurig und wäre der Umdenk- und Bewertungs-
Sie nicht das Atomrecht, und ziehen Sie nicht § 19 des prozess bei uns nicht so ernst, müsste man das als Heu-
Atomgesetzes zu etwas heran, wozu er nicht gedacht ist. chelei bezeichnen.
Machen Sie kein windiges Moratorium ohne juristische
Grundlage. Nehmen Sie die 11. und 12. Novelle zum Ich stelle fest, dass es ganz bestimmt kein Positions-
Atomgesetz seriös zurück. papier der CDU oder der CSU zum Thema Kernenergie
gibt, in dem nicht klar festgehalten ist, dass Sicherheit
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oberste Priorität hat und Sicherheit vor jeder ökonomi-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. schen Erwägung steht.
Dorothee Menzner [DIE LINKE])
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Überprüfen Sie die Sicherheit der Atomkraftwerke nach
dem neuen kerntechnischen Regelwerk, und schalten Sie Was immer wir in den nächsten drei Monaten politisch
die ältesten sieben Reaktoren und Krümmel dauerhaft entscheiden werden, es wird in der Kontinuität dieser
ab. Erst auf dieser Grundlage können wir über das disku- Politik und unter der schon immer geltenden Überschrift
tieren, was tatsächlich die Lehre aus Fukushima sein „Sicherheit ist das erste Gebot“ stehen.
muss: eine Neubewertung des Risikos Kernschmelze, Man wird genügend Schriften finden, in denen es
die kein Restrisiko mehr ist und für die Schadensvor- heißt, die deutschen Kernkraftwerke seien sicher. Jetzt
sorge betrieben werden muss. komme ich zu dem Grund, aus dem ich mich über den
Als Konsequenz brauchen wir ein neues Energiekon- scheinheiligen Gesetzentwurf der Grünen ärgere. Der
zept mit einem deutlich schnelleren Atomausstieg, der bisher gültige Maßstab für die Sicherheit war nicht allein
übrigens durch die juristische Formulierung der Linken, der Maßstab dieser Bundesregierung. Er war ein ge-
die Atomkraftwerke müssten unverzüglich, „ohne meinsamer Sicherheitsmaßstab. In der Ausstiegsverein-
schuldhaftes Verzögern“ abgeschaltet werden, nicht be- barung von 2000 hat die damalige rot-grüne Bundesre-
schleunigt wird. Die Welt hat sich gegenüber dem Jahr gierung ausdrücklich bestätigt, dass die deutschen
2000 verändert. Das Risiko ist näher, die Frage nach den Kernkraftwerke auf einem international hohen Sicher-
heitsniveau betrieben werden. Ich will gar nicht die Vor-
(B) Alternativen mit dem Wachstum der erneuerbaren Ener- haltung wiederholen, dass Sie sich in einem Deal mit (D)
gien aber auch beantwortbarer.
den Versorgern verpflichtet haben, keine Initiative zu er-
Wenn wir für Japan etwas tun können, dann das: als greifen, um den Sicherheitsstandard und die ihm zu-
hochindustrialisiertes Land beispielhaft vorangehen und grunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. Aber
ein effizientes Energiekonzept auf der Basis erneuerba- fest steht: Nach dem bisherigen Maßstab muss man un-
rer Energien mit Anreizen, Förder- und Ordnungspolitik sere Kernkraftwerke als sicher betrachten. Das haben die
umsetzen. Zeigen, dass es geht – das könnte unsere ge- früheren Minister Trittin und Gabriel offenkundig ge-
meinsame Würdigung der Opfer dieser Katastrophe sein. nauso gesehen, wie es jetzt Minister Röttgen beurteilt;
sonst hätten wir nämlich keine Kernkraftwerke mehr.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Was mich heute wirklich irritiert hat, war die Aussage
von Herrn Gabriel, er habe schon immer gewusst, dass
von den älteren Kernkraftwerken Gefahren für Leib und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Leben der Bevölkerung ausgehen, und er habe nur nicht
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Georg Nüßlein von gehandelt, weil die Bundeskanzlerin ihn dazu angewie-
der CDU/CSU-Fraktion. sen habe. Was ist denn das für eine Verantwortung? Was
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist das für ein Minister? Hat er seinen Amtseid verges-
neten der FDP) sen?
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): neten der FDP – Lachen bei Abgeordneten der
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Liebe SPD)
Frau Kotting-Uhl, auf Ihren Beitrag zum baden- Diese Frage muss er sich gefallen lassen. Wenn ein
württembergischen Wahlkampf will ich hier gar nicht Minister der Überzeugung ist, dass von etwas, das er in
eingehen. Ich muss aber anmerken, dass ich von Ihnen seinem Fachressort zu verantworten hat, Gefahren für
als einer mir bekannten aufrechten Gegnerin der Kern- Leib und Leben der Bevölkerung ausgehen, dann kann
energie ein bisschen mehr erwartet hätte, als dass Sie an er sich doch nicht einfach beiläufig der Richtlinienkom-
dieser Stelle nur Wahlkampfpolitik machen. petenz der Kanzlerin beugen, sondern dann muss er sei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen Rücktritt einreichen.
Ich möchte auf den Gesetzentwurf der Grünen, den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Sie am Ende Ihrer Rede immerhin noch gestreift haben, der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10911
Dr. Georg Nüßlein
(A) Sie glauben doch wohl nicht, dass wir Herrn Gabriel Ich will nichts zum Anteil des Energiepreises an der (C)
diese plumpe Ausrede an dieser Stelle tatsächlich durch- allgemeinen Preisentwicklung sagen. Ich will auch
gehen lassen. nichts zum Vorschlag der Linken sagen, Herr Gysi, wie-
der die Planwirtschaft in Deutschland einzuführen. Das
Ich sage Ihnen ganz offen, dass wir uns die Frage stel- hatten wir schon, und das ist schon einmal kläglich ge-
len müssen: Was hat sich seit dem schrecklichen Erdbe- scheitert.
ben in Japan bei uns geändert? Die Antwort, die man auf
diese Frage geben muss, lautet: nichts und alles. Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Menschen erleben, dass das Unwahrscheinlichste Reali- Wir müssen diesen Versuch, der immerhin über 40 Jahre
tät geworden ist. Die Menschen in Japan und wir alle se- in diesem Land unternommen wurde, nicht wiederholen.
hen, dass das Restrisiko eingetreten ist und die High-
technation Japan die Technik nicht so beherrscht, wie Ich möchte anmerken, dass nach derzeitigem Stand
wir uns das vorstellen. Da ist es natürlich unumgänglich, die anderen europäischen Staaten nicht aus der Kernener-
über bestimmte Themen nachzudenken: über Sicher- gienutzung aussteigen werden. Das heißt für Deutschland
heitsreserven, über das „Was wäre wenn?“, über Natur- zweierlei: Erstens. Wir werden Wettbewerbsnachteile er-
katastrophen in einem bislang unbekannten Ausmaß, dulden müssen. Zweitens. Einen Sicherheitsgewinn, wie
über deren Kombination, über Anschläge, Flugzeugab- wir ihn uns wünschen, wird es jedenfalls auf Basis dieser
stürze und Ähnliches. Mit all diesen Themen müssen wir Konstellation nicht geben. Deshalb bin ich froh, dass sich
uns ohne Panik und Hysterie befassen. An dieser Stelle die Kanzlerin international für eine entsprechende Politik
muss ich das, was manche Kollegen schon gesagt haben, einsetzt. Hinzu kommt, dass das Moratorium unsere Ver-
unterstreichen: Für ihre Duldsamkeit können wir die Ja- sorgungssicherheit tangiert, dass wir nach dem Abschal-
paner, denen unser Mitgefühl gilt, nur bewundern und ten von sieben Kraftwerken auf Kante nähen, was insbe-
ihnen unseren Respekt aussprechen. sondere in Süddeutschland – ich sage das all jenen, die
behaupten, das sei kein Problem, wir würden genug ex-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und portieren – zu spüren sein wird.
der FDP)
Noch viel entscheidender ist: Eine Säule des Energie-
Das Moratorium über drei Monate und das Abschal- konzeptes dieser Bundesregierung ist bereits heute in
ten der vor 1980 in Betrieb gegangenen Reaktoren kön- Teilen weggebrochen, nämlich ein Teil der Finanzierung
nen Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der Oppo- der erneuerbaren Energien aus dem Energie- und Klima-
sition, gerne als Wahlkampfmanöver verunglimpfen. Sie fonds. Ich sage Ihnen: Wir brauchen nichts so dringend
können gerne behaupten, das sei bloß ein Mittel, um Zeit wie Energieforschung; denn das, was wir bei Anerken-
(B) zu gewinnen. Sie können gerne einen Juristenstreit über nung allen Engagements im Bereich der erneuerbaren (D)
die rechtlichen Grundlagen entfachen. Nur dürfen Sie Energien momentan machen, ist nicht der Weisheit letz-
sich am Ende der drei Monate über eines nicht wundern: ter Schluss, wenn man von so etwas in der Energiepoli-
Es wird mit uns kein Weiter-so geben, wie Sie es uns aus tik überhaupt noch reden darf.
wahltaktischen Gründen an dieser Stelle gerne anhängen
wollen. Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wenn ich das so formuliere, dann bitte ich, aufzumer-
ken: Sie wissen sehr genau, dass ich mich zwar einer-
seits für die erneuerbaren Energien einsetze, dass ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
aber andererseits kein Kernenergiegegner bin. In mei- Das Wort hat der Kollege Jürgen Klimke von der
nem Wahlkreis steht das Kernkraftwerk Gundremmin- CDU/CSU-Fraktion.
gen, das über 1 000 Familien die Existenz sichert und bei (Beifall bei der CDU/CSU)
uns in der Bürgerschaft wohl akzeptiert und weit gelitten
ist. Trotzdem rechne ich persönlich mit sehr grundsätzli-
chen Entscheidungen. Es wäre allerdings unseriös, be- Jürgen Klimke (CDU/CSU):
reits heute die Konsequenzen der anstehenden Sicher- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
heitsüberprüfung beschreiben zu wollen. – Ein paar gen! Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklä-
Fakten im Umfeld möchte ich dennoch beschreiben. rung darauf hingewiesen: Vor zweieinhalb Monaten ha-
ben wir hier gemeinsam mit dem Vizeaußenminister
Nachdem die Kanzlerin das Moratorium angekündigt Japans die Feierlichkeiten anlässlich des 150-jährigen
hat, ist der EEX-Großhandelspreis für Strom, welcher Bestehens der deutsch-japanischen diplomatischen Be-
auf Basis der German Power Futures ermittelt wird, in- ziehungen begangen. Wir haben hier im Bundestag auch
nerhalb der beiden letzten Handelstage um 9,5 Prozent eine Debatte dazu geführt. Das zeigt, dass wir, Japan und
gestiegen; ein weiterer Anstieg ist absehbar. Der EEX- Deutschland, in den letzten 150 Jahren trotz einer wech-
Preis für CO2-Emissionsrechte stieg von Montag auf selvollen Geschichte gemeinsam und mit großer gegen-
Dienstag um 8,5 Prozent, Tendenz steigend. Bei zusätz- seitiger Unterstützung erfolgreich große Krisen bewäl-
licher Kohleverstromung wird dieser Anstieg weiteres tigt haben. Das liegt auch daran, dass Japan und
Gewicht bekommen. Damit steht doch eines fest: Die Deutschland in dieser Weltgemeinschaft eine seltene,
ökonomischen Folgen einer Reduktion von Kernenergie- tiefe und einmalige Freundschaft verbindet und beide
strom, wie wir sie immer vorhergesehen haben, werden Länder trotz der geografischen Ferne und der kulturellen
eintreten. Unterschiede viel Verständnis füreinander haben. Diese
10912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Jürgen Klimke
(A) Freundschaft ist gerade in dieser Stunde der Not ein Lassen Sie mich einige kritische Bemerkungen zu der (C)
wertvolles Gut; denn neben unserem Mitgefühl und un- bisherigen Rolle der Internationalen Atomenergiebe-
serer tiefen Trauer möchte ich keinen Zweifel daran las- hörde machen, der IAEA, die ihren Sitz in Wien hat. Seit
sen, dass die deutsche Politik alles dafür tun wird, dass Tagen zeigt sich, dass die Organisation angesichts der
die japanische Nation zu alter Stärke zurückfindet. Ereignisse in den Kernkraftwerken wie gelähmt ist: kein
Experte, keine Expertin in den Krisengebieten, groteske
Die Herausforderungen, die sich aus dieser Natur- Pressekonferenzen, Beschwichtigungstaktik. Die Rolle
und Umweltkatastrophe ergeben, werden von den Japa- der IAEA bei der Atomkatastrophe in Japan sorgt für
nern nicht allein zu bewältigen sein. Angesichts der großen Unmut. Hinter vorgehaltener Hand hören Sie aus
schrecklichen Zahlen von Opfern und Geschädigten, der Diplomatenkreisen, dass es inzwischen massive Be-
möglicherweise aufkommenden Rezession in Japan und schwerden über die Informationspolitik, über die inter-
der zu erwartenden Umweltschäden stehen die Japaner nationale Rolle und vor allen Dingen über die Tatsache
nicht vor einem Gesichtsverlust, wenn sie aktiv auslän- gibt, dass die Organisation ihrer Wächterrolle nicht ge-
dische Hilfe anfordern und auch annehmen; denn bei je- recht wird.
der Katastrophe in der Welt waren es die Japaner, die als
Erste mit ihren Hilfstruppen und mit finanzieller Unter- Man spricht in Diplomatenkreisen von PR-Desastern
stützung vor Ort waren. Diese Bereitschaft zur Nothilfe und der unmöglichen Situation, dass eine Organisation,
wird die Welt jetzt zurückgeben. die immerhin angeblich 2 200 Experten und 90 Aus-
landsbüros hat, nicht in der Lage ist, in angemessener
Angesichts der bedrückenden Opferzahlen und der Form Experten nach Japan zu schicken und dort zu hel-
Masse der Geschädigten in Japan ist internationale Hilfe fen. Ich vermute, dass die Organisation dieses Gremiums
besonders hilfreich und sinnvoll. Wir müssen uns noch nicht in Ordnung ist. Ich glaube, der Sicherheitsrat muss
einmal deutlich vor Augen führen: Bisher gibt es 3 300 dieses Thema dringend auf die Tagesordnung setzen.
Todesopfer. Unbestätigte Schätzungen gehen davon aus, Die Behörde ist im Ernstfall ein dramatischer Ausfall,
dass es nach Abschluss der Aufräumarbeiten Zehntau- und das darf nicht sein.
sende von Toten geben wird. 150 000 Kinder haben ihr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Zuhause verloren. Internationale Wirtschaftsexperten sa-
gen in ihren Schätzungen voraus, dass der Wiederaufbau Ich möchte mich beim Auswärtigen Amt und beim
der besonders betroffenen Region den japanischen Staat Außenminister dafür bedanken, dass er besonnen und
einen dreistelligen Milliardenbetrag kosten wird. Die in- mit großem Anstand den Deutschen in Japan geholfen
ternationalen Finanzmärkte beben. 440 Milliarden Euro hat und vor allen Dingen auch bei der Koordinierung der
wurden durch die Katastrophe bereits vernichtet. Die Hilfe für Japan einen kühlen und klaren Kopf bewahrt
(B) Bank of Japan hat 200 Milliarden Euro in die Finanz- hat. (D)
märkte gepumpt, damit es zu keinem ernsthaften Crash (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
kommt. Kurzfristig wird sich die internationale Außen-
politik auf die humanitäre Hilfe beschränken. Mittel- Lassen Sie mich als Freund Japans abschließend be-
und langfristig müssen die internationalen Gremien An- merken: Ich glaube, es ist jetzt richtig, dass wir alle, vor
strengungen unternehmen, die gemäß den Lehren, die allen Dingen auch dieses Parlament, gegenüber unseren
aus der Katastrophe in Japan gezogen werden müssen, japanischen Parlamentskollegen deutlich machen, dass
notwendig sind. wir dauerhaft, ernst, in Freundschaft und in tiefer Unter-
stützung an ihrer Seite stehen.
Die Freundschaft zu Japan ist in der G 8 unbestritten.
Es gab bereits ein Treffen der zuständigen Außenminis- Danke sehr.
ter, um den Wiederaufbau aktiv zu unterstützen. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
finde es gut, dass der französische Präsident als G-8-Prä- der FDP)
sident Vorschläge ausarbeitet, um die negativen Folgen
für die Weltwirtschaft zu begrenzen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die G 20 steht vor einer weitaus größeren Herausfor- Das Wort hat die Kollegin Erika Steinbach von der
derung. Ihr muss es gelingen, dass sich die vorüberge- CDU/CSU-Fraktion.
hende Schwäche Japans nicht zu einer dauerhaften poli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
tischen Schwäche auswächst; denn Japan ist
international und vor allen Dingen in der asiatischen Re-
Erika Steinbach (CDU/CSU):
gion ein großer und gleichberechtigter Player. Es ist im
deutschen Interesse, dass Japan als Stimme der Demo- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
gen! Es gibt Bilder, die verstummen lassen. Das, was wir
kratie weiter eine prägende Rolle in der Region und in
in den letzten Tagen gesehen und gehört haben, ist von
der Welt einnimmt. Damit dies gelingen kann, müssen
einer albtraumhaften Schrecklichkeit. Zunächst einmal
gerade die anderen asiatischen Länder gemeinsam mit
ist es in erster Linie Zeit, den Menschen in Not Hilfe zu
Japan in der G 20 voranschreiten. Indonesien und Indien
leisten und ihnen, soweit es in unseren Kräften steht, bei-
werden dies tun. Ich hoffe, dass sich auch China interna-
zustehen.
tional für seinen asiatischen Nachbarn einsetzen wird
und die Phase der Schwäche Japans nicht für sich aus- Japan braucht Hilfe durch die Weltgemeinschaft und
nutzt. durch uns. Ich bin froh, dass die Bundesregierung sofort
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10913
Erika Steinbach
(A) Hilfe angeboten hat. Es ist für uns aber auch Zeit, in aller (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
Sachlichkeit zu überprüfen, ob und wo wir bei der Kern- der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Dieser Brei
energie umsteuern sollen oder müssen. schadet den Demokraten!)
Allerdings muss ich eines sagen: Die Debatte der letz- Ich unterstelle keiner Fraktion in diesem Hause, nicht
ten Stunden und das Verhalten der Opposition waren ab- nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen zu
surd. Es erinnert mich an einen Schlagabtausch Konrad treffen, zu denen sie gefunden hat. Ich unterstelle auch
Adenauers im Deutschen Bundestag, als er zu Beginn ei- Ihnen von der Opposition nicht, dass Sie in Hinterzim-
ner Rede sagte: „Ich habe die Lage geprüft“, und die Op- mern mit wem auch immer kungeln und keine Entschei-
position schrie: „Nein, nein, nein!“. Dann setzte er wie- dung eigenständig treffen. Unterstellen Sie dies uns bitte
der an und sagte: „Ich habe die Lage geprüft“, und die auch nicht. Schließen Sie nicht von sich auf andere,
Opposition empörte sich. Daraufhin sagte Konrad wenn Sie so handeln sollten.
Adenauer: „Hätte ich gesagt, ich habe die Lage nicht ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
prüft, dann hätten Sie auch revoltiert“.
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Eben haben
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie gesagt, Sie würden uns nichts unterstellen!
Eben haben Sie das gesagt! Sie widersprechen
Meine sehr geehrten Damen und Herren, so geht es in sich selber im nächsten Satz!)
dieser Frage nicht. Was auch immer die Bundesregie-
rung heute gesagt und getan hätte, Sie wären aus Prinzip – Scheinbar haben Sie einen anderen Ansatz, denn sonst
dagegen gewesen. könnten Sie nicht so einen Brei zusammenrühren.

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau so ist (Michael Groschek [SPD]: Sie gehören ins
es! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hauptsa- historische Museum!)
che, Ihr Weltbild steht!) Schließen Sie vor allen Dingen nicht von den Din-
gen, die Sie vielleicht betreiben – ich muss das so
Die CDU/CSU-Fraktion hat sich auch in Oppositionszei-
annehmen –, auf die Handlungsweise der Bundeskanz-
ten niemals so verantwortungslos verhalten, wie Sie es
lerin.
heute getan haben.
Gestatten Sie noch einige Sätze zur juristischen De-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und batte. Als Nichtjuristin habe ich mehr als einmal
der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]:
Über Verantwortung brauchen Sie uns Sozial- (Ulrich Kelber [SPD]: Feuer gelegt!)
demokraten nicht zu belehren! Schon gar nicht
(B)
in historischer Perspektive! – Weiterer Zuruf aus der Juristenriege den Satz gehört: zwei Juristen, drei (D)
von der SPD: Meine Güte, Frau Steinbach!) Meinungen. Im Zweifel entscheide ich mich natürlich
für die tragfähigsten Argumente und für die Sicherheit.
Sie machen Wahlkampf. Wenn ich alles zusammenad-
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Verfassung?
diere, was seitens der Opposition heute selbstherrlich ge-
Scheißegal! Reden Sie mal mit Herrn
sagt wurde, und wenn Sie das, was Sie heute gesagt ha-
Lammert! Oder mit Herrn Kauder, dem Vorsit-
ben, ehrlich meinen, dann hätten Rot und Grün zu ihren
zenden des Rechtsausschusses!)
Regierungszeiten alle Kernkraftwerke abschalten müs-
sen. Der Weg der Bundeskanzlerin ist verantwortungsvoll,
der Weg der Bundesregierung ist verantwortungsvoll,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und der Weg der Regierungsfraktionen ist verantwor-
der FDP) tungsvoll.
Atomare Gefahren werden aber bei Ihnen offensicht- Danke.
lich mit zweierlei Maß gemessen. Als Umweltminister
war Herr Trittin Schirmherr der Castortransporte. Da- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mals sollten sie ohne Demonstrationen über die Bühne
gehen. Heute demonstrieren die Grünen wieder gegen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
die Castortransporte. Das ist unanständig. Verantwor- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
tungsloser und unanständiger geht es nicht. erteile ich das Wort dem Kollegen Thomas Bareiß von
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der CDU/CSU-Fraktion.
der FDP – Claudia Roth [Augsburg] [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie erzählen was von
Anstand!)
Thomas Bareiß (CDU/CSU):
Etwas anderes schadet, glaube ich, der Demokratie Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
insgesamt und jedem einzelnen Abgeordneten: Das Kon- Herren! Niemanden von uns lassen die Bilder, die wir in
glomerat von Herrn Gabriel mit Vokabeln wie Hinter- den letzten drei bis vier Tagen gesehen haben, kalt: ein
zimmer, Lüge und Atomlobby, zusammengemischt zu Erdbeben von diesem Ausmaß verbunden mit einer töd-
einem Brei, schadet allen. Das schadet der ganzen demo- lichen Flutwelle, über 5 000 Tote und immer noch über
kratischen Klasse. 10 000 Vermisste in Japan.
10914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Thomas Bareiß
(A) Am Ende dieser Debatte sage ich: Bezeichnend ist, sar Oettinger für eine Neubewertung der Reaktorsicher- (C)
dass von Rot-Grün heute nur die Frage nach der Sicher- heit auf europäischer und internationaler Ebene kämpft;
heit deutscher Kernreaktoren gestellt wurde. Das finde denn eines muss uns klar sein: Es wird in Europa auch
ich erbärmlich. weiterhin Kernenergie geben. Wir werden, auch wenn
wir alle Reaktoren abschalten, in Deutschland weiterhin
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU])
Kernenergie haben. Ich halte es für nicht verantwortbar,
Trotz aller verständlichen Emotionen in dieser De- wenn wir deutsche Kernkraftwerke abschalten und uns
batte lassen Sie uns bitte nicht vergessen, dass Sicherheit von ausländischen, unsicheren Kraftwerken abhängig
eine objektive und keine psychologische Grundlage ist. machen.
An der objektiven Sicherheitslage deutscher Kernkraft-
werke hat sich in den letzten sieben Tagen nichts, aber (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
auch gar nichts verändert. Ich glaube, wir brauchen einen offenen Diskussions-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – prozess. Das kann in der Konsequenz auch heißen, dass
Iris Gleicke [SPD]: Interessant!) Kernkraftwerke endgültig vom Netz genommen werden.
Wir stehen aber – daran hat sich in den letzten drei Ta-
Ich sage ganz deutlich: Ich habe aus Überzeugung vor gen nichts geändert – nach wie vor vor großen Heraus-
einem halben Jahr der Laufzeitverlängerung zuge- forderungen beim Ausbau der erneuerbaren Energien.
stimmt. Ich bin auch heute noch davon überzeugt, dass Ein Kernbestandteil unseres Energiekonzepts war, die
diese Entscheidung richtig war. Brücke in das Zeitalter der regenerativen Energien zu
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Endlich einer, gestalten. Auch daran wollen wir zukünftig festhalten.
der dazu steht!) Ich bitte zum Schluss, dass wir die kommenden Debat-
ten sachlich und seriös führen; denn Seriosität habe ich
Sie ist aus meiner Sicht deswegen richtig, weil der As- in den letzten drei Tagen hier im Hause vermisst.
pekt der Sicherheit von Kernkraftwerken in unserem
Land immer oberste Priorität hat und die Sicherheit noch Herzlichen Dank.
vor einem halben Jahr verbessert worden ist. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der FDP)
Mit diesem Anspruch sind wir heute das Land mit den
höchsten Sicherheitsanforderungen an die Kernenergie. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich schließe die Aussprache.
Aber, liebe Freunde, sicherlich ist unbestritten,
(B) Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- (D)
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wir sind nicht
ßungsanträge. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir
auf dem Parteitag!)
nun insgesamt sieben namentliche Abstimmungen und
dass trotz höchster Sicherheitsanforderungen ein Rest- eine einfache Abstimmung durchführen werden. Bitte
risiko bestehen bleibt. Auch Ihnen, Herr Gabriel, sage achten Sie darauf, dass die Stimmkarten, die Sie verwen-
ich deutlich: Ich halte dieses Restrisiko bei deutschen den, auch Ihren Namen tragen.
Kernkraftwerken unter deutschen Sicherheitsstandards
nach wie vor für ethisch verantwortbar. Wir beginnen mit der namentlichen Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU
Wenn Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, und FDP auf Drucksache 17/5048. Dazu liegen uns vier
zu der Einschätzung gelangen, dass dieses Risiko nicht persönliche Erklärungen nach § 31 der Geschäftsord-
mehr verantwortbar ist, müssen Sie, wenn Ihnen die Si- nung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Ich bitte die
cherheit der Menschen in unserem Land wichtig ist, Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
noch heute sofort abschalten und alle Kernreaktoren Plätze einzunehmen. – Sind die Schriftführerinnen und
vom Netz nehmen. Aber das haben auch Sie, Herr Schriftführer an Ort und Stelle? – Das scheint der Fall zu
Trittin, und Sie, Herr Gabriel, in Ihren acht Regierungs- sein. Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die Stimm-
jahren nicht gemacht. karten einzuwerfen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarten
Sieben!) eingeworfen? – Das ist anscheinend der Fall. Ich
Natürlich ist auch unser Anspruch, das Restrisiko so schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
gering wie möglich zu halten und weiterhin zu reduzie- nen und Schriftführer, auszuzählen. Das Ergebnis der
ren. Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)

Vor diesem Hintergrund begrüße ich das Moratorium Wir setzen die Abstimmungen fort und kommen zu
unserer Bundeskanzlerin. Während dieser Zeit muss die dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf
Lage analysiert werden, und es muss aus meiner Sicht Drucksache 17/5049. Die Fraktion der SPD hat getrennte
die Frage beantwortet werden, was wir aus der Analyse Abstimmungen verlangt. Über Nr. 1 des Entschließungs-
lernen können und was die Konsequenz für unsere Si- antrags werden wir mittels Handzeichen abstimmen.
cherheitsstandards und unsere Kernreaktoren ist. Da-
rüber hinaus halte ich es ebenfalls für richtig, dass die 1) Anlage 2
Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem Energiekommis- 2) Ergebnis Seite 10921 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10915
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Über die Nrn. 2, 3 und 4 des Entschließungsantrags wer- Grünen auf Drucksache 17/5051. Das ist die sechste na- (C)
den wir namentlich abstimmen. mentliche Abstimmung. Ich bitte, mit der Abstimmung
zu beginnen.
Wir stimmen zunächst über Nr. 1 des Entschlie-
ßungsantrags ab. Diejenigen, die für Nr. 1 des Ent- Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimmkar-
schließungsantrags der SPD stimmen, bitte ich um das ten zur sechsten namentlichen Abstimmung eingewor-
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält fen? Gibt es noch Nachzügler? – Das ist offenkundig
sich? – Letzteres ist offenkundig die Mehrheit gewesen. nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte,
Nr. 1 dieses Entschließungsantrags ist damit abgelehnt. mit der Auszählung zu beginnen.6)
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über Wir kommen schließlich zur namentlichen Abstim-
Nr. 2 des Entschließungsantrags der Fraktion der SPD mung über den zweiten Entschließungsantrag der Frak-
auf Drucksache 17/5049.1) – Die Urnen sind weiterhin tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5052.7)
besetzt. Ich eröffne diese Abstimmung und gebe gleich- Das ist die siebte namentliche Abstimmung. Ich eröffne
zeitig bekannt, dass dazu zwei Erklärungen nach § 31 die Abstimmung und bitte, die Stimmkarten einzuwer-
unserer Geschäftsordnung vorliegen, die wir zu Proto- fen.
koll nehmen.2)
Haben nun alle Kolleginnen und Kollegen ihre
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte zur Stimmkarte zur siebten namentlichen Abstimmung ein-
zweiten namentlichen Abstimmung eingeworfen? – Ich geworfen? – Das ist der Fall. Dann schließe ich jetzt die
schließe den Wahlgang und bitte die Schriftführerinnen siebte namentliche Abstimmung und bitte die Schriftfüh-
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. rerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
Wir kommen damit zur dritten namentlichen Abstim- nen.8)
mung, nämlich über Nr. 3 des Entschließungsantrags der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5049. Die Urnen Die Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen
sind besetzt. Deswegen eröffne ich die Abstimmung und werden Ihnen später bekannt gegeben. Ich weise darauf
bitte, die Stimmkarten einzuwerfen. hin, dass wir in etwa anderthalb Stunden eine weitere na-
mentliche Abstimmung durchführen werden.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte zur
dritten namentlichen Abstimmung eingeworfen? – Das Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 1. Interfraktio-
ist offenkundig der Fall. Dann schließe ich den Wahl- nell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksa-
gang und bitte, mit der Auszählung zu beginnen.3) che 17/5035 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor-
Wir kommen jetzt unverzüglich zur vierten namentli- schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- (D)
(B) chen Abstimmung, nämlich über Nr. 4 des Ent-
schlossen.
schließungsantrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/5049. Ich bitte, die Stimmkarten einzuwerfen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Die Abstimmung ist eröffnet.
Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Haben alle Kolleginnen und Kollegen ihre Stimm- Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
karte für die vierte namentliche Abstimmung abgege- weiteren Abgeordneten und der Fraktion
ben? Bei mir melden sich nämlich immer mehr Kolle- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
gen, die eine Abstimmung versäumt haben. Deswegen wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bun-
bitte ich um Aufmerksamkeit. – Wenn alle ihre Stimm- deswahlgesetzes
karte abgegeben haben, schließe ich den Wahlgang und
bitte, mit der Auszählung zu beginnen.4) – Drucksache 17/4694 –
Überweisungsvorschlag:
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über Innenausschuss (f)
den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Drucksache 17/5050. – Die Urnen sind weiterhin be- Geschäftsordnung
setzt. Ich eröffne die Abstimmung – es handelt sich um Rechtsausschuss
die fünfte namentliche – und bitte, die Stimmkarten ein- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
zuwerfen. die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
Haben jetzt alle Mitglieder ihre Stimmkarte einge- es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.
worfen? – Das scheint der Fall zu sein. Dann schließe
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
ich den Wahlgang. Ich bitte, mit der Auszählung zu be-
Aussprache nicht teilnehmen wollen, ihre Beratungen
ginnen.5)
außerhalb des Plenarsaales fortzusetzen.
Wir kommen nun zur namentlichen Abstimmung über
den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Volker Beck von Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.
1) Ergebnis Seite 10923 B
2) Anlage 3
3) Ergebnis Seite 10926 A 6) Ergebnis Seite 10933 A
4) Ergebnis Seite 10928 B 7) Anlage 4
5) Ergebnis Seite 10930 B 8) Ergebnis Seite 10935 B
10916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Überhängen die Stimmkreisbewerber in der Reihenfolge (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! José der niedrigsten Stimmzahlen ausscheiden.
Ortega y Gasset sagte einmal:
(Zuruf von der LINKEN: Sehr demokratisch!)
Das Heil der Demokratien, von welchem Typus und
Rang sie immer seien, hängt von einer geringfügi- Das ist der erste Prinzip.
gen technischen Einzelheit ab: vom Wahlrecht. Al- Das zweite Prinzip ist: Hat eine Partei in einem Wahl-
les andere ist sekundär. gebiet in einem Bundesland mehr Direktmandate erzielt,
Das Wahlrecht ist das Kernstück der Demokratie. Es als ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen, dann
ist greifbares und begreifbares Mittel der Teilnahme der werden diese Direktmandate mit den Listenerfolgen an-
Bürger am politischen Prozess. Das Wahlsystem als derer Bundesländer verrechnet, sodass es zu keiner Ver-
Ganzes ist Transformator des Volkswillens. In ihm mani- größerung der betreffenden Fraktion kommt.
festiert sich – in der Stimmabgabe, in der mandatsgemä- (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
ßen Machtverteilung der politischen Parteien im Parla- Sehr gut!)
ment – der Wille des Volkes. Fragen des Wahlrechtes
gehören daher zu den Grundfragen der Demokratie. Warum ist es so wichtig, dass wir diese Überhang-
mandate abschaffen?
Das Bundesverfassungsgericht hat uns am 3. Juli
2008 in seinem Urteil zur fehlenden Verfassungsmäßig- (Zurufe von der CDU/CSU: Das tun Sie gar
keit des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag aufgege- nicht!)
ben, bis zum 30. Juni 2011 die Effekte des negativen Ich habe beim Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen
Stimmgewichtes – das ist etwas Kompliziertes, das der Bundestages eine Untersuchung in Auftrag gegeben. Ich
Bürger nicht so einfach versteht – zu beseitigen. Das ne- zitiere daraus mit Erlaubnis des Präsidiums
gative Stimmgewicht bedeutet: Ich wähle eine Partei,
aber eine andere Partei profitiert davon, und bei meiner (Zurufe von der SPD: Aber anständig zitie-
Partei fällt ein Mandat weg. – Das verkehrt den Sinn des ren!)
Wahlrechts ins Gegenteil. Deswegen müssen wir uns mit und mache mir diese Erkenntnisse zu eigen. Danach ist,
dieser Thematik befassen. legt man die jetzigen Wahlumfragen zugrunde, zu be-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fürchten, dass bei der nächsten Wahl zum Deutschen
Bundestag 30 bis 60 Überhangmandate entstehen. Das
Wir als Fraktion haben bereits im Februar 2009 erst- heißt, die Zahl der Überhangmandate ist durchaus be-
mals hierzu einen Gesetzentwurf vorgelegt, um dieses achtlich und hat hier im Deutschen Bundestag mindes-
(B) negative Stimmgewicht zu beseitigen und die Chance zu tens Fraktionsstärke. Es besteht die ernsthafte Gefahr, (D)
eröffnen, dass dieser Deutsche Bundestag mit einem ver- dass der Wählerwille durch den Effekt der Überhang-
fassungsgemäßen Wahlrecht gewählt wird. Das ist da- mandate in sein Gegenteil verkehrt wird, indem ein Teil
mals gescheitert. Die Kolleginnen und Kollegen der heu- des Hauses die Mehrheit der Zweitstimmen erringt, aber
tigen Koalition meinten damals, das gehe zu schnell; der ein anderer Teil des Hauses die Mehrheit der Mandate
Debattenbedarf sei groß, und man müsse das gründlich hat. Wenn es dazu kommt, dann wird der Hund in der
erörtern. Nun ist ein Jahr ins Land gegangen. Die Grenze Pfanne verrückt. Dann sagen unsere Wählerinnen und
30. Juni 2011 steht vor uns. Im März dieses Jahres gibt Wähler: Das ist keine Demokratie. Wir wollen, dass der
es wieder keinen Vorschlag der regierenden Mehrheit, Deutsche Bundestag den Wählerwillen des deutschen
obwohl sich die Geschäftsführer unzählige Male im De- Volkes abbildet.
zember und im Januar getroffen haben. Die Koalition ist
sich – genauso wie bei Hartz IV – beim Wahlrecht nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einig. Es gibt keinen entsprechenden Vorschlag, den der
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Effekte des
Deutsche Bundestag in den Ausschüssen mit Sorgfalt
negativen Stimmgewichts kritisiert. Zum einen kann der
prüfen kann. Deshalb haben wir heute unseren Vorschlag
Wille des einzelnen Wählers in einem Wahlkreis ins Ge-
erneut vorgelegt, allerdings im Lichte der Anhörung im
genteil verkehrt werden. Zum anderen – das betrifft ei-
Innenausschuss entsprechend verbessert.
nen anderen Prüfmaßstab, der bei der Frage der Über-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – hangmandate von Bedeutung ist – könnten die
Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Oder ver- Mehrheitsverhältnisse verändert werden. Wir müssen
schlechtert!) deshalb eine Lösung wählen, bei der Überhangmandate
vermieden werden.
Wir schlagen vor, dass in Zukunft zwei Prinzipien im
Wahlrecht gelten. Zunächst wird nach dem Verhältnis- Unsere Fraktion klebt nicht an dem vorgelegten Vor-
wahlrecht festgestellt, wie viele Mandate einer Partei zu- schlag, auch wenn ihn das Bundesverfassungsgericht in
stehen. Hat sie mehr Direktmandate gewonnen, als ihr seinem Urteil ausdrücklich als einen der möglichen Lö-
nach dem Verhältniswahlrecht zustehen, dann werden sungswege bezeichnet hat. Meine Damen und Herren
diese Direktmandate nach der Reihenfolge der Wahler- von der Koalition, wir von der Opposition lassen es Ih-
folge quasi von hinten weggenommen. Das sieht übri- nen aber auf keinen Fall durchgehen, dass Sie uns hier
gens auch das bayerische Landeswahlrecht so vor. Der ein Wahlgesetz vorlegen und mit Ihrer knappen Mehr-
bayerische Gerichtshof hat dazu gesagt, es sei nicht zu heit beschließen, das dazu führen kann, dass die Mehr-
beanstanden, wenn eine Regelung dazu führt, dass bei heit der abgegebenen Stimmen nicht zu einer Mehrheit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10917
Volker Beck (Köln)
(A) der Mandate im Deutschen Bundestag führt. Einen sol- vielleicht hat das etwas mit ihrer eigenen Geschichte zu (C)
chen Versuch eines Putsches im Wahlrecht werden wir tun. Sie haben einen ähnlichen Antrag wie heute schon
Ihnen nicht durchgehen lassen. einmal am Ende der 16. Wahlperiode und in der
13. Wahlperiode vorgelegt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich fordere Sie auf: Kommen Sie auf der Grundlage NEN]: Ja, weil wir Regelungsbedarf haben!)
unseres Gesetzentwurfs zurück zum Verhandlungstisch! Dabei kommt die Frage auf: Wo bleiben denn die An-
Verhandeln Sie mit SPD, Grünen und Linken gemein- träge in der 14. und 15. Wahlperiode? Da haben Sie re-
sam über die Wahlrechtsreform! Wir haben einen Vor- giert; da hätten Sie die Mehrheit gehabt, um das „Übel“
schlag gemacht, Ihrer liegt nicht auf dem Tisch. Lassen – aus Ihrer Sicht – zu beseitigen.
Sie uns diese Frage gemeinsam regeln!
Sie haben die ganze Zeit gepennt. Damit haben Sie (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
uns in eine Situation gebracht, in der echte Sorgfalt nicht GRÜNEN]: Das Verfassungsgerichtsurteil ist
mehr möglich ist. Die Berücksichtigung weiterer Fragen, von 2008! Seitdem gibt es den Auftrag an den
die man an das Wahlrecht stellen könnte – unabhängig Gesetzgeber!)
davon, ob das verfassungsrechtlich zwingend ist –, ist Sie haben die Möglichkeit nicht genutzt. Man muss also
nicht mehr möglich; das kann nicht mehr seriös geprüft ganz sachlich und neutral festhalten: Das Thema war Ih-
und diskutiert werden. Wir müssen jetzt zu Potte kom- nen jedenfalls zu jener Zeit nicht ganz so wichtig.
men. Sie können Ihre internen Differenzen nicht dazu
nutzen, um hier quasi am letzten Tag, in der letzten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nacht vor der Sommerpause ein Wahlrecht durchzudrü-
cken, das am Ende einer Überprüfung in Karlsruhe nicht Ich habe grundsätzlich Verständnis dafür, dass Sie
standhalten wird. Ich sage Ihnen: Wenn Sie ein Wahl- dieses Anliegen heute im Deutschen Bundestag vortra-
recht beschließen, das den Volkswillen nicht eindeutig gen. In der Tat: Die Frist drängt; sie läuft Mitte des Jah-
abbildet und dessen Umsetzung nicht garantiert, dann res aus.
sehen wir uns in Karlsruhe wieder, und zwar – wenn Sie (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bis zum Ende der Wahlperiode durchhalten sollten – vor NEN]: Wir haben darauf gewartet, dass Sie et-
der Bundestagswahl. was vorlegen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir können uns jetzt natürlich gegenseitig mangelnden
(B) Fleiß oder mangelnden Willen bei der Lösung des Pro- (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: blems vorwerfen. Aber ich glaube, wir müssen bei einer
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings von ehrlichen Betrachtung der Sache zugeben, dass das nicht
der CDU/CSU-Fraktion. den Kern der Sache trifft. Das Problem ist hochkomplex,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und wer das nicht einsieht, zeigt, dass er sich mit der Sa-
neten der FDP) che nicht hinreichend befasst hat.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): GRÜNEN]: Wir haben dauernd etwas vorge-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und legt!)
Herren! Es fällt mir – ich denke, auch den anderen
Rednern in der Debatte – nicht leicht, sich nach der De- 2008 hat die große Mehrheit des Deutschen Bundes-
batte über die Ereignisse in Japan und die Konsequenzen tages, einschließlich der Kollegen der SPD, das geltende
in Deutschland wieder einem rein innenpolitischen Wahlrecht inklusive des negativen Stimmgewichts in
Thema – man könnte sagen: einem Luxusproblem der Karlsruhe verteidigt. Wir wussten genau, dass dieses ne-
deutschen Politik – zuzuwenden: dem negativen Stimm- gative Stimmgewicht kein Betriebsunfall, kein Schön-
gewicht. heitsfehler des Wahlrechts ist, sondern die unmittelbare,
fast logische Konsequenz der besonderen Verknüpfung
Ich darf eine einleitende Bemerkung in eigener Sache von Direktwahl und Listenwahl in unserem Wahlrecht.
machen. Der Zeitplan ist heute bei uns allen deutlich Man kann ein anderes Wahlrecht wollen. Man kann ein
durcheinandergeraten. Das führt unter anderem dazu, Mehrheitswahlrecht oder ein reines Verhältniswahlrecht
dass fast parallel zu dieser Debatte die jährliche Richter- wollen. Dann würde dieses Problem nicht auftauchen.
wahl im Deutschen Bundestag stattfindet. Ich bitte, es Ich glaube aber, dass diese Verknüpfung richtig ist – ich
ausnahmsweise zu entschuldigen, wenn ich etwas früher, denke, darüber sind wir uns im Grundsatz einig –, auch
vor Ende der Debatte, verschwinden muss. Das gehört wenn sie systembedingt in Einzelfällen zu einem negati-
sich normalerweise nicht; aber ich hoffe, Sie sehen es ven Stimmgewicht führt.
mir nach.
Am Beginn dieser Wahlperiode haben wir uns mit ei-
Die Grünen sind in Sachen Wahlrecht eine umtriebige
nigen Kollegen – die Kollegen Ruppert, Uhl und andere
Partei;
waren dabei – intensiv Gedanken darüber gemacht, wel-
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE che Lösungen es gibt. Die Sache ist komplex und kom-
GRÜNEN]: Nicht nur in Sachen Wahlrecht!) pliziert.
10918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Günter Krings


(A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie auch in einem Telefonat mit mir sagen. Das steht (C)
NEN]: Lange gebrütet, aber kein Ei gelegt! – aber in einem Dokument,
Gegenruf des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/
CSU]: Noch nicht!) (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Gesetz!)
das aus Ihrer Sicht die amtliche Begründung eines Ge-
Wir haben festgestellt, dass die meisten Lösungen, die
setzes der Bundesrepublik Deutschland werden soll. Wir
angeboten werden, entweder noch schlimmere Folgen
machen uns doch lächerlich, wenn wir so etwas in die-
haben – das gilt auch für Ihren Vorschlag; darauf komme
sem Hause zur Gesetzesbegründung erheben.
ich gleich noch zu sprechen – oder das negative Stimm-
gewicht gar nicht oder nur zu einem geringen Teil besei- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tigen. der CDU/CSU)
Hätte es eines Beweises bedurft, dass die Sache Da Sie zu diesem Thema schon öfter etwas vorgelegt ha-
schwierig und nicht einfach zu lösen ist, so haben Sie ben, wäre es gut, wenn Sie die Sache das nächste Mal ei-
diesen Beweis, Herr Kollege Beck, mit diesem wirklich nem Juristen überlassen oder einen Juristen zumindest
sehr dürftigen Gesetzentwurf erbracht. einmal drübergucken lassen – Sie haben in Ihrer Frak-
tion ja kompetente Kollegen –, bevor wir uns hier damit
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Ärmlich! – befassen.
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Selber nichts vorlegen, aber 19 Minu- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
ten unseren madig machen!) GRÜNEN]: Herr Krings!)
Ihr Gesetzentwurf lässt – das ist mein erster Kritikpunkt – Ich komme zum dritten, vielleicht entscheidenden
jegliche Auseinandersetzung mit alternativen Lösungs- Kritikpunkt. Das, was Sie in diesem Gesetzentwurf vor-
ansätzen vermissen. Wenn der Gesetzgeber, gerade wenn schlagen, ist unter regionalen und föderalen Gesichts-
es um die eigene Sache geht, zwischen gänzlich ver- punkten in hohem Maße ungerecht und unfair. Ihr Vor-
schiedenen Lösungen auswählen muss, dann ist es auch schlag basiert im Kern darauf, dass Überhangmandate,
im Licht der aktuellen Rechtsprechung des Bundesver- die in einem Bundesland entstehen, in einem anderen
fassungsgerichts in Karlsruhe geboten, dass er dabei ein Bundesland kompensiert werden. Für Überhangman-
Mindestmaß an Rationalität und Transparenz erkennen date sollen in einem anderen Bundesland Listenmandate
lässt. Genau das fehlt aber bei Ihrem Gesetzentwurf. Sie weggenommen werden. Abgeordneten, die nach dem
haben auf etwa einer halben Seite eine dünne Analyse Wahlergebnis eines Bundeslandes bereits gewählt sind,
– das ist eher eine Nacherzählung – des Urteils des Bun- soll das Mandat also entzogen werden, um Überhang-
(B) desverfassungsgerichts in Karlsruhe vorgenommen. mandate zu kompensieren. Schon heute sind – das ist (D)
richtig – die Länder, in denen es relativ viele Überhang-
Es gibt keine Auseinandersetzung mit Alternativen. mandate gibt, in föderaler Hinsicht im Vorteil; denn sie
Insbesondere fehlt eine Auseinandersetzung mit einer haben aufgrund der Überhangmandate auf Bundesebene
Alternative, die sich geradezu aufdrängt, wenn man da- ein größeres politisches Gewicht. Was wäre die Folge Ih-
nach fragt, welches die Ursache für das negative Stimm- res Vorschlages? Dieses Problem würde verschärft.
gewicht ist. Die Ursache haben Sie gar nicht angespro-
chen. Die Ursache ist die Verknüpfung der Landeslisten, Die Länder, in denen üblicherweise keine Überhang-
die Reststimmenverwertung. Es ist doch naheliegend, mandate anfallen, hätten dadurch einen Nachteil. Ich
sich damit auseinanderzusetzen. Wenn das Problem die komme aus einem solchen Bundesland. Nordrhein-West-
Verbindung der Landeslisten ist, könnte die Trennung falen hatte noch nie ein Überhangmandat. Wir haben ein
der Landeslisten doch die Lösung sein. Es ist immer gut, ausgewogenes Verhältnis von Erst- und Zweitstimmen.
wenn die Lösung etwas mit dem Problem zu tun hat. Das Hier gibt es Hochburgen beider großen Parteien. Wir
gilt nicht nur, aber insbesondere in diesem Fall. sind bereits tendenziell im Nachteil, weil wir nie Über-
hangmandate bekommen können. Das kann man als Teil
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. dieses Wahlsystems akzeptieren. Aber wir wären dann
Dr. Stefan Ruppert [FDP]) doppelt im Nachteil, weil wir zusätzlich quasi als Stein-
bruch für andere Bundesländer mit Überhangmandaten
Dieses Modell ist immerhin in den ersten beiden Bun- herhalten müssten. Diese föderale Ungerechtigkeit
destagswahlen erfolgreich angewendet worden. Inso- taucht in Ihrer Begründung nicht einmal auf. Sie ist mei-
fern hätte man sich damit zumindest auseinandersetzen nes Erachtens der Hauptkritikpunkt und das Hauptpro-
müssen. Mehr verlange ich von Ihnen gar nicht. Ich blem bei Ihrem Vorschlag. Ich frage mich auch, ob es
glaube, das ist nicht zu viel verlangt. wirklich demokratisch und föderal fair wäre, wenn bei-
Ihr Gesetzentwurf – diesen Vorwurf kann ich Ihnen spielsweise ein sächsisches Überhangmandat dazu
leider nicht ersparen – ist auch handwerklich miserabel. führte, dass ein bereits in Nordrhein-Westfalen oder im
kleinen Saarland gewählter Abgeordneter sein Mandat
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Armselig!) verlieren müsste.
Ich will aus der Begründung zitieren: „Alternativ wäre Wenn man das ganz nüchtern auf die letzte Bundes-
die Fraktion“, also Sie, „gesprächsbereit“, auch eine an- tagswahl anwendet, sieht man: Das führt zu grotesken
dere „Lösung zu unterstützen“. Das können Sie in einem Ergebnissen. In Brandenburg hat knapp ein Viertel der
Brief oder einer E-Mail an mich schreiben. Das können Wähler bei der letzten Bundestagswahl der CDU das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10919
Dr. Günter Krings
(A) Vertrauen ausgesprochen. Nach Ihrer Lösung würde nur Interessant ist auch, dass Ihnen die wissenschaftlichen (C)
ein einziger Abgeordneter für Brandenburg im Deut- Unterstützer Ihres Vorschlags so langsam, aber sicher
schen Bundestag sitzen. Das hätte bedeutet, dass etwa ausgehen. Es gab in der letzten Wahlperiode bei Ihnen
330 000 CDU-Wähler in Brandenburg eine Anhörung mit dem Mathematiker Pukelsheim, der
versucht hat, Ihnen da ein wenig auf die Sprünge zu hel-
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: 342 000!) fen. Er hat sich inzwischen offenbar von Ihrem Gesetz-
von einem einzigen Abgeordneten im Deutschen Bun- entwurf distanziert. Sie zitieren ihn auch gar nicht mehr.
destag vertreten würden. Im Durchschnitt vertritt in der Er hat offenbar andere Präferenzen und hat erkannt, dass
Republik ein Abgeordneter etwa 65 000 Wähler. Dieses es eine föderale Unwucht in ihrem Vorschlag gibt.
eklatante Missverhältnis ist wirklich nicht mehr be- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Der redet nur
gründbar und nicht mehr darstellbar. noch mit euch! – Volker Beck [Köln] [BÜND-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Ihr Vor-
schlag?)
Man kann das weiter durchspielen. Bei realistischen
Szenarien sind durchaus Extremfälle denkbar, zum Bei- Ich freue mich daher, dass die Einwände gegen diese fö-
spiel dass ein Land knapp die Hälfte der ihm zustehen- derale Ungerechtigkeit, die in der letzten Wahlperiode
den Mandate verliert, dass es statt der üblichen 20 Man- nur ich hier im Deutschen Bundestag kritisiert habe, zu-
date nur noch 11, 12 oder 13 Mandate hat. Das ist eine mindest in der Wissenschaft auf fruchtbaren Boden ge-
eklatante Benachteiligung von bestimmten Bundeslän- fallen sind. Die Lernkurve bei den Grünen ist wieder
dern. Es ist nicht zu akzeptieren, dass ein Drittel oder ein einmal etwas ungünstiger.
Viertel der Menschen in einem Bundesland eine Partei (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wählt, diese Partei dann aber ohne ein Mandat ausgeht. NEN]: Professor Meyer hat uns unterstützt!
In Brandenburg hätte nur ein Wahlkreis verloren werden Der Verfassungsrichter Simon hat uns unter-
müssen, und dann wären die 330 000 CDU-Wähler ohne stützt! Viele!)
jegliche Vertretung im Deutschen Bundestag gewesen.
Das ist das Gegenteil von Demokratie, und das ist nicht Meine Damen und Herren, vollends lächerlich – jetzt
akzeptabel. wird es ganz bitter für Sie – und absurd ist § 7 Abs. 6 Ih-
res Gesetzentwurfs. Wenn ich darf, zitiere ich:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Erzielt eine Partei bei der Zuteilung mehr Direkt-
mandate, als ihr Sitze nach Absatz 5 zustehen, so
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden die überzähligen Wahlkreissitze der Kandi-
(B) Herr Kollege Krings, erlauben Sie eine Zwischen- daten dieser Partei mit dem geringsten prozentualen (D)
frage des Kollegen Beck? Stimmenanteil nicht besetzt; …
Ich will der Mehrheit Ihrer Fraktion zugutehalten, dass
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): sie diese Vorschrift vielleicht nicht gelesen hat, dass sie
Ich habe ausreichend Redezeit; die brauche ich nicht der eine oder andere vielleicht auch nicht verstanden hat.
zu verlängern. Das mag sein – es ist eine komplizierte Materie –, aber
ich möchte gern Ihre Fraktionskollegen bösgläubig ma-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen. Das ist der erste Vorschlag in der Geschichte des
Wahlrechts der Bundesrepublik Deutschland – man
Die Redezeit wird angehalten.
könnte auch bis zu den Reichstagswahlen zurückgehen –,
nach dem einem in einem Wahlkreis direkt gewählten
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Abgeordneten sein Mandat verweigert wird. Was daran
Das ist ein ganz reizendes Angebot. Aber das ist nicht demokratisch sein soll, möchte ich einmal wissen. Je-
notwendig. Vielen Dank. denfalls ist es Gift für die demokratische Akzeptanz und
für das Vertrauen der Menschen in die Integrität des
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Wahlvorgangs. Diese hanebüchene Regelung kann
GRÜNEN]: Sie wollen sich also jetzt zu Ihren durchaus – ich habe zuerst gar nicht glauben wollen,
Vorschlägen äußern!) dass man so etwas ernsthaft vorschlägt; ich habe es drei-
Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Vor- mal lesen müssen – dazu beizutragen, dass das Vertrauen
schlag ist – das wird vielleicht noch deutlicher, wenn Sie der Menschen in den Wahlvorgang abnimmt. Ich glaube
es im Zusammenhang hören – ein besonderes Beispiel kaum, dass jemand, der als Wähler Opfer Ihrer Regelung
für Willkür. Wenn hier Preise für Willkür und für man- geworden ist, dann noch freudig zur nächsten Bundes-
gelnde demokratische Reife eines Vorschlags tagswahl geht. Ihr Vorschlag ist nichts anderes als ein
großes Programm zur Reduzierung der Wahlbeteiligung
(Lachen des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- in unserem Land.
NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Dieter
Wiefelspütz [SPD]: Machen Sie mal einen Das ist natürlich auch für einen Kandidaten misslich.
Vorschlag!) Er hat einen spannenden Wahlkampf geführt – es kommt
ja gerade in den Wahlkreisen zum Tragen, wo es zwi-
zu verteilen gewesen wären, hätten Sie beide Preise spie- schen zwei oder drei großen Parteien knapp wird –, er
lend abgeräumt. hat, vielleicht knapp, gesiegt, und dann zieht er nicht in
10920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Günter Krings


(A) den Bundestag ein. Diese Perspektive des Kandidaten kraftet! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ (C)
halte ich aber für gar nicht so wichtig. Ich betrachte das DIE GRÜNEN]: Überhangmandat ist auch
mehr aus der Perspektive des Wählers – Sie würden sa- nicht in Ordnung!)
gen: der Wählerinnen und Wähler – in einem Wahlkreis.
Das hätte die Wähler vor Ort nicht motiviert, zur Wahl
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zu gehen. Das hätte die Wahlbeteiligung bei der nächsten
NEN]: Aha! Wieder etwas gelernt!) Bundestagswahl bestimmt nicht gesteigert.
Es könnte zu folgendem Fall kommen: In einem Hätte die CDU deutschlandweit in einem der 16 Bun-
Wahlkreis hat sich die Mehrheit für einen bestimmten desländer nur einen Wahlkreis mehr gewonnen, wäre
Kandidaten entschieden, und dann müssen die Wähler auch bei ihr ein Direktmandat abgezogen worden. Dann
am nächsten Tag in der Zeitung lesen, dass der Kandi- wäre der gleiche Effekt auch bei der CDU eingetreten.
dat, der ihre Interessen in Berlin vertreten soll, nicht in
den Bundestag einrücken kann, weil irgendwo 500 Kilo- Insofern betrifft das Phänomen des Abzuges nicht nur
meter weiter weg so viele Überhangmandate angefallen die CSU, wie Sie es in der Begründung Ihres Gesetzent-
sind, dass sein Mandat sozusagen als Kompensations- wurfs fälschlicherweise schreiben, sondern es betrifft
masse, als Steinbruch benutzt wird. Das hätte zwei mög- alle Volksparteien.
liche Folgen. (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE
Folge eins: Der Kandidat, der gewählt worden ist, GRÜNEN]: So viele gibt es ja nicht!)
kommt nicht in den Bundestag, aber ein anderer Kandi- Alle Volksparteien, deren Kandidaten Direktmandate in
dat, der auf einer Liste abgesichert ist, kommt in den ihren Wahlkreisen gewinnen können, sind von diesem
Bundestag und kann die Wahlkreisinteressen vertreten. Problem betroffen.
Der Gewinner bleibt dann draußen, und der Verlierer
kommt rein. Das wäre geradezu die Verkehrung des Wir haben den Gesetzentwurf der Grünen gewogen
Wahlergebnisses in einem Wahlkreis in sein Gegenteil. und für zu leicht befunden. Er beweist, wie kompliziert
Auch das Gegenteil von demokratischer Akzeptanz wäre die Aufgabe ist. Dies erklärt auch, warum wir von den
die Folge. Koalitionsfraktionen leider – das sage ich bewusst –
heute noch keinen Gesetzentwurf vorlegen können. Mir
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ist es aber lieber, dass wir die Frist des Verfassungsge-
neten der FDP) richts notfalls bis zur Neige ausschöpfen, als dass wir
Folge zwei träte ein, wenn keiner der Kandidaten auf dem Deutschen Bundestag ein dürftiges Machwerk vor-
der Landesliste abgesichert ist. Es ist ja möglich, dass im legen, wie Sie es heute getan haben.
(B) Wahlkreis keiner der Kandidaten auf einer Liste abgesi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D)
chert ist. Dann wäre dieser Wahlkreis ohne jegliche Ver- Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
tretung im Deutschen Bundestag. Ich frage auch hier, ob NEN]: Hochmut kommt vor dem Fall!)
das demokratisch ist.
Das Wahlrecht – das haben, glaube ich, auch Sie be-
Gestatten Sie mir diese Bemerkung: Es mag ja sein, tont, Herr Beck – ist die Grundlage der Demokratie. Das
dass eine Fraktion, Herr Beck, die als einzigen direkt ge- erfordert, dass die Menschen Vertrauen in die Integrität
wählten Kandidaten den Kollegen Ströbele hat, des Wahlvorganges haben. Ein Wahlsystem muss daher
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE für den Bürger nachvollziehbar und durchschaubar sein.
GRÜNEN]: Das werden immer mehr!) Es darf nicht willkürlich erscheinen. Ich glaube, ich habe
eben hinreichend deutlich gemacht, wie willkürlich das
es vielleicht nicht ganz so wichtig findet, dass viele über von Ihnen vorgeschlagene Wahlsystem dem Bürger vor
Direktmandate in den Bundestag kommen – das müssen Ort erscheinen würde. Ein Wahlsystem muss die Sitzver-
sie unter sich ausmachen; vielleicht haben Sie auch ein teilung zwischen den Parteien, aber auch zwischen den
Problem mit direkt gewählten Kandidaten –, Landeslisten dem Wählerwillen gemäß abbilden. Auch
das wird mit Ihrem Gesetzentwurf in föderaler Hinsicht
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang
nicht erreicht. Sie haben die beiden zentralen Probleme
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei
der Wahlrechtsreform nicht gelöst.
unseren Direktwahlergebnissen würde der nie
runterfallen!) Ich stimme Ihnen zu: Wir müssen mit Hochdruck
weiterarbeiten und miteinander reden, um die Sache zu
aber das, was Sie vorschlagen, wäre nicht gut für die De-
regeln. Aber tun Sie sich bitte selber einen Gefallen: Er-
mokratie, nicht gut für die Akzeptanz des Wahlvorgan-
sparen Sie sich die Peinlichkeit und ziehen Sie Ihren Ge-
ges.
setzentwurf zurück, ehe ihn noch mehr Leute lesen!
Was ich hier angesprochen habe, ist keine blanke
Theorie. Bei der letzten Bundestagswahl wären drei Vielen Dank.
CSU-Abgeordnete nicht in den Deutschen Bundestag (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gekommen, obwohl sie in ihren Wahlkreisen gewählt
wurden. Das wäre nicht in Ordnung.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich komme zurück zu den namentlichen Abstimmun-
NEN]: Doch! Das hätte die Demokratie ver- gen. Ich gebe die von den Schriftführerinnen und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10921
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentli- Japan, Drucksache 17/5048: abgegebene Stimmen 586. (C)
chen Abstimmungen bekannt. Mit Ja haben 308 Kolleginnen und Kollegen gestimmt,
mit Nein haben 272 Kolleginnen und Kollegen ge-
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und stimmt. Es gab 6 Enthaltungen. Der Entschließungsan-
der Fraktion der FDP zu der Abgabe einer Regierungser- trag ist angenommen.
klärung durch die Bundeskanzlerin zur aktuellen Lage in

Endgültiges Ergebnis Norbert Geis Dr. Günter Krings Johannes Röring


Abgegebene Stimmen: 586; Alois Gerig Rüdiger Kruse Dr. Norbert Röttgen
davon Eberhard Gienger Bettina Kudla Dr. Christian Ruck
Michael Glos Dr. Hermann Kues Erwin Rüddel
ja: 308
Peter Götz Günter Lach Albert Rupprecht (Weiden)
nein: 272 Dr. Wolfgang Götzer Dr. Karl A. Lamers Anita Schäfer (Saalstadt)
enthalten: 6 Ute Granold (Heidelberg) Dr. Wolfgang Schäuble
Reinhard Grindel Andreas G. Lämmel Dr. Annette Schavan
Ja Hermann Gröhe Dr. Norbert Lammert Dr. Andreas Scheuer
Michael Grosse-Brömer Katharina Landgraf Karl Schiewerling
CDU/CSU Markus Grübel Ulrich Lange Norbert Schindler
Manfred Grund Dr. Max Lehmer Tankred Schipanski
Peter Altmaier Monika Grütters Paul Lehrieder Georg Schirmbeck
Peter Aumer Olav Gutting Dr. Ursula von der Leyen Christian Schmidt (Fürth)
Thomas Bareiß Florian Hahn Ingbert Liebing Patrick Schnieder
Norbert Barthle Dr. Stephan Harbarth Matthias Lietz Dr. Andreas Schockenhoff
Günter Baumann Jürgen Hardt Dr. Carsten Linnemann Nadine Schön (St. Wendel)
Ernst-Reinhard Beck Gerda Hasselfeldt Patricia Lips Dr. Kristina Schröder
(Reutlingen) Dr. Matthias Heider Dr. Jan-Marco Luczak Dr. Ole Schröder
Manfred Behrens (Börde) Helmut Heiderich Daniela Ludwig Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Christoph Bergner Mechthild Heil Dr. Michael Luther Uwe Schummer
Peter Beyer Ursula Heinen-Esser Karin Maag Armin Schuster (Weil am
Steffen Bilger Frank Heinrich Dr. Thomas de Maizière Rhein)
Clemens Binninger Rudolf Henke Andreas Mattfeldt Detlef Seif
(B) Peter Bleser Michael Hennrich Stephan Mayer (Altötting) Johannes Selle (D)
Dr. Maria Böhmer Jürgen Herrmann Dr. Michael Meister Reinhold Sendker
Wolfgang Bosbach Ansgar Heveling Dr. Angela Merkel Dr. Patrick Sensburg
Norbert Brackmann Ernst Hinsken Maria Michalk Bernd Siebert
Klaus Brähmig Peter Hintze Dr. h. c. Hans Michelbach Thomas Silberhorn
Michael Brand Christian Hirte Philipp Mißfelder Johannes Singhammer
Dr. Reinhard Brandl Robert Hochbaum Dietrich Monstadt Jens Spahn
Helmut Brandt Franz-Josef Holzenkamp Marlene Mortler Carola Stauche
Dr. Ralf Brauksiepe Joachim Hörster Dr. Gerd Müller Dr. Frank Steffel
Dr. Helge Braun Anette Hübinger Stefan Müller (Erlangen) Erika Steinbach
Heike Brehmer Thomas Jarzombek Dr. Philipp Murmann Christian Freiherr von Stetten
Ralph Brinkhaus Dieter Jasper Bernd Neumann (Bremen) Dieter Stier
Cajus Caesar Dr. Franz Josef Jung Michaela Noll Gero Storjohann
Gitta Connemann Andreas Jung (Konstanz) Dr. Georg Nüßlein Stephan Stracke
Alexander Dobrindt Dr. Egon Jüttner Franz Obermeier Max Straubinger
Thomas Dörflinger Bartholomäus Kalb Eduard Oswald Karin Strenz
Marie-Luise Dött Hans-Werner Kammer Henning Otte Thomas Strobl (Heilbronn)
Dr. Thomas Feist Alois Karl Dr. Michael Paul Lena Strothmann
Enak Ferlemann Bernhard Kaster Rita Pawelski Michael Stübgen
Hartwig Fischer (Göttingen) Volker Kauder Ulrich Petzold Dr. Peter Tauber
Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Stefan Kaufmann Sibylle Pfeiffer Antje Tillmann
Dr. Maria Flachsbarth Roderich Kiesewetter Beatrix Philipp Dr. Hans-Peter Uhl
Klaus-Peter Flosbach Eckart von Klaeden Ronald Pofalla Arnold Vaatz
Herbert Frankenhauser Ewa Klamt Christoph Poland Stefanie Vogelsang
Dr. Hans-Peter Friedrich Volkmar Klein Ruprecht Polenz Andrea Astrid Voßhoff
(Hof) Jürgen Klimke Eckhard Pols Dr. Johann Wadephul
Michael Frieser Julia Klöckner Thomas Rachel Marco Wanderwitz
Erich G. Fritz Axel Knoerig Dr. Peter Ramsauer Kai Wegner
Dr. Michael Fuchs Jens Koeppen Eckhardt Rehberg Marcus Weinberg (Hamburg)
Hans-Joachim Fuchtel Manfred Kolbe Katherina Reiche (Potsdam) Peter Weiß (Emmendingen)
Alexander Funk Dr. Rolf Koschorrek Lothar Riebsamen Sabine Weiss (Wesel I)
Ingo Gädechens Hartmut Koschyk Josef Rief Ingo Wellenreuther
Dr. Peter Gauweiler Michael Kretschmer Klaus Riegert Peter Wichtel
Dr. Thomas Gebhart Gunther Krichbaum Dr. Heinz Riesenhuber Annette Widmann-Mauz
10922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Klaus-Peter Willsch Burkhardt Müller-Sönksen Peter Friedrich Dr. Ernst Dieter Rossmann (C)
Elisabeth Winkelmeier- Dr. Martin Neumann Sigmar Gabriel Karin Roth (Esslingen)
Becker (Lausitz) Michael Gerdes Michael Roth (Heringen)
Dagmar Wöhrl Dirk Niebel Martin Gerster Marlene Rupprecht
Dr. Matthias Zimmer Gisela Piltz Iris Gleicke (Tuchenbach)
Wolfgang Zöller Dr. Christiane Ratjen- Günter Gloser Anton Schaaf
Willi Zylajew Damerau Ulrike Gottschalck Axel Schäfer (Bochum)
Dr. Birgit Reinemund Angelika Graf (Rosenheim) Bernd Scheelen
FDP Dr. Peter Röhlinger Kerstin Griese Marianne Schieder
Dr. Stefan Ruppert Michael Groschek (Schwandorf)
Jens Ackermann
Björn Sänger Michael Groß Werner Schieder (Weiden)
Christian Ahrendt Frank Schäffler Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen)
Christine Aschenberg- Christoph Schnurr Hans-Joachim Hacker Carsten Schneider (Erfurt)
Dugnus Jimmy Schulz Bettina Hagedorn Ottmar Schreiner
Daniel Bahr (Münster) Marina Schuster Klaus Hagemann Swen Schulz (Spandau)
Florian Bernschneider Dr. Erik Schweickert Michael Hartmann Ewald Schurer
Sebastian Blumenthal Werner Simmling (Wackernheim) Frank Schwabe
Claudia Bögel Judith Skudelny Hubertus Heil (Peine) Rolf Schwanitz
Nicole Bracht-Bendt Dr. Hermann Otto Solms Dr. Barbara Hendricks Stefan Schwartze
Klaus Breil Joachim Spatz Gustav Herzog Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Brüderle Dr. Max Stadler Gabriele Hiller-Ohm Dr. Carsten Sieling
Angelika Brunkhorst Torsten Staffeldt Petra Hinz (Essen) Sonja Steffen
Ernst Burgbacher Stephan Thomae Frank Hofmann (Volkach) Peer Steinbrück
Marco Buschmann Florian Toncar Dr. Eva Högl Dr. Frank-Walter Steinmeier
Sylvia Canel Serkan Tören Christel Humme Christoph Strässer
Helga Daub Johannes Vogel Josip Juratovic Kerstin Tack
Reiner Deutschmann (Lüdenscheid) Oliver Kaczmarek Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Daniel Volk Johannes Kahrs Franz Thönnes
Patrick Döring Dr. Guido Westerwelle Dr. h. c. Susanne Kastner Wolfgang Tiefensee
Rainer Erdel Dr. Claudia Winterstein Ulrich Kelber Rüdiger Veit
Jörg van Essen Dr. Volker Wissing Lars Klingbeil Ute Vogt
Ulrike Flach Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Hans-Ulrich Klose Dr. Marlies Volkmer
Otto Fricke
Dr. Bärbel Kofler Andrea Wicklein
Dr. Edmund Peter Geisen
Nein Daniela Kolbe (Leipzig) Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Wolfgang Gerhardt
Fritz Rudolf Körper Dr. Dieter Wiefelspütz
(B) Hans-Michael Goldmann
Waltraud Wolff (D)
Heinz Golombeck SPD Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner (Wolmirstedt)
Miriam Gruß Ingrid Arndt-Brauer
Ute Kumpf Uta Zapf
Joachim Günther (Plauen) Rainer Arnold
Christine Lambrecht Dagmar Ziegler
Dr. Christel Happach-Kasan Heinz-Joachim Barchmann
Christian Lange (Backnang) Manfred Zöllmer
Heinz-Peter Haustein Doris Barnett
Dr. Karl Lauterbach Brigitte Zypries
Manuel Höferlin Dr. Hans-Peter Bartels
Elke Hoff Klaus Barthel Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka DIE LINKE
Birgit Homburger Sören Bartol
Dr. Werner Hoyer Bärbel Bas Gabriele Lösekrug-Möller Jan van Aken
Heiner Kamp Sabine Bätzing-Lichtenthäler Kirsten Lühmann Agnes Alpers
Michael Kauch Dirk Becker Caren Marks Dr. Dietmar Bartsch
Dr. Lutz Knopek Uwe Beckmeyer Katja Mast Herbert Behrens
Pascal Kober Lothar Binding (Heidelberg) Hilde Mattheis Karin Binder
Dr. Heinrich L. Kolb Gerd Bollmann Petra Merkel (Berlin) Matthias W. Birkwald
Gudrun Kopp Klaus Brandner Ullrich Meßmer Heidrun Bluhm
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Willi Brase Dr. Matthias Miersch Steffen Bockhahn
Sebastian Körber Edelgard Bulmahn Franz Müntefering Christine Buchholz
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Marco Bülow Dr. Rolf Mützenich Eva Bulling-Schröter
Heinz Lanfermann Martin Burkert Manfred Nink Dr. Martina Bunge
Sibylle Laurischk Petra Crone Thomas Oppermann Roland Claus
Harald Leibrecht Martin Dörmann Holger Ortel Dr. Diether Dehm
Sabine Leutheusser- Elvira Drobinski-Weiß Aydan Özoğuz Heidrun Dittrich
Schnarrenberger Garrelt Duin Heinz Paula Werner Dreibus
Lars Lindemann Sebastian Edathy Johannes Pflug Dr. Dagmar Enkelmann
Christian Lindner Ingo Egloff Joachim Poß Klaus Ernst
Michael Link (Heilbronn) Siegmund Ehrmann Dr. Wilhelm Priesmeier Wolfgang Gehrcke
Dr. Erwin Lotter Dr. h. c. Gernot Erler Florian Pronold Nicole Gohlke
Oliver Luksic Petra Ernstberger Dr. Sascha Raabe Diana Golze
Horst Meierhofer Karin Evers-Meyer Mechthild Rawert Annette Groth
Patrick Meinhardt Elke Ferner Gerold Reichenbach Dr. Gregor Gysi
Gabriele Molitor Gabriele Fograscher Dr. Carola Reimann Dr. Rosemarie Hein
Jan Mücke Dr. Edgar Franke Sönke Rix Inge Höger
Petra Müller (Aachen) Dagmar Freitag René Röspel Dr. Barbara Höll
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10923
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Andrej Hunko Dr. Kirsten Tackmann Bärbel Höhn Manuel Sarrazin (C)
Ulla Jelpke Frank Tempel Ingrid Hönlinger Elisabeth Scharfenberg
Dr. Lukrezia Jochimsen Dr. Axel Troost Thilo Hoppe Christine Scheel
Jan Korte Alexander Ulrich Uwe Kekeritz Dr. Gerhard Schick
Jutta Krellmann Kathrin Vogler Katja Keul Dr. Frithjof Schmidt
Caren Lay Johanna Voß Memet Kilic Dorothea Steiner
Sabine Leidig Sahra Wagenknecht Sven-Christian Kindler Dr. Wolfgang Strengmann-
Ralph Lenkert Halina Wawzyniak Maria Klein-Schmeink Kuhn
Michael Leutert Harald Weinberg Ute Koczy
Hans-Christian Ströbele
Stefan Liebich Jörn Wunderlich Tom Koenigs
Dr. Harald Terpe
Ulla Lötzer Sylvia Kotting-Uhl
Dr. Gesine Lötzsch Oliver Krischer Markus Tressel
BÜNDNIS 90/
Thomas Lutze Agnes Krumwiede Jürgen Trittin
DIE GRÜNEN
Dorothee Menzner Fritz Kuhn Daniela Wagner
Cornelia Möhring Kerstin Andreae Stephan Kühn Wolfgang Wieland
Kornelia Möller Marieluise Beck (Bremen) Renate Künast Dr. Valerie Wilms
Niema Movassat Volker Beck (Köln) Markus Kurth Josef Philip Winkler
Wolfgang Nešković Cornelia Behm Undine Kurth (Quedlinburg)
Thomas Nord Birgitt Bender Monika Lazar
Petra Pau Alexander Bonde Agnes Malczak
Enthalten
Jens Petermann Viola von Cramon-Taubadel Jerzy Montag
Ekin Deligöz CDU/CSU
Richard Pitterle Kerstin Müller (Köln)
Yvonne Ploetz Katja Dörner Beate Müller-Gemmeke Josef Göppel
Ingrid Remmers Hans-Josef Fell Ingrid Nestle Siegfried Kauder (Villingen-
Paul Schäfer (Köln) Dr. Thomas Gambke Dr. Konstantin von Notz Schwenningen)
Michael Schlecht Kai Gehring Omid Nouripour
Dr. Ilja Seifert Katrin Göring-Eckardt Friedrich Ostendorff FDP
Kathrin Senger-Schäfer Britta Haßelmann Dr. Hermann Ott
Raju Sharma Bettina Herlitzius Lisa Paus Holger Krestel
Dr. Petra Sitte Winfried Hermann Brigitte Pothmer Dr. Martin Lindner (Berlin)
Kersten Steinke Priska Hinz (Herborn) Tabea Rößner Hans-Joachim Otto
Sabine Stüber Ulrike Höfken Claudia Roth (Augsburg) (Frankfurt)
Alexander Süßmair Dr. Anton Hofreiter Krista Sager Dr. Rainer Stinner

(B) (D)
Ergebnis der zweiten namentlichen Abstimmung, haben gestimmt 277, mit Nein haben gestimmt 311 Kol-
Nr. 2 des Entschließungsantrags der Fraktion der SPD, leginnen und Kollegen, es gab keine Enthaltungen.
Drucksache 17/5049: abgegebene Stimmen 588. Mit Ja

Endgültiges Ergebnis Sabine Bätzing-Lichtenthäler Sigmar Gabriel Oliver Kaczmarek


Abgegebene Stimmen: 588; Dirk Becker Michael Gerdes Johannes Kahrs
davon Uwe Beckmeyer Martin Gerster Dr. h. c. Susanne Kastner
Lothar Binding (Heidelberg) Iris Gleicke Ulrich Kelber
ja: 277
Gerd Bollmann Günter Gloser Lars Klingbeil
nein: 311 Klaus Brandner Ulrike Gottschalck Hans-Ulrich Klose
Willi Brase Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Bärbel Kofler
Ja Edelgard Bulmahn Kerstin Griese Daniela Kolbe (Leipzig)
Marco Bülow Michael Groschek Fritz Rudolf Körper
CDU/CSU Martin Burkert Michael Groß Nicolette Kressl
Petra Crone Wolfgang Gunkel Angelika Krüger-Leißner
Josef Göppel
Martin Dörmann Hans-Joachim Hacker Ute Kumpf
Frank Heinrich
Elvira Drobinski-Weiß Bettina Hagedorn Christine Lambrecht
Rüdiger Kruse
Garrelt Duin Klaus Hagemann Christian Lange (Backnang)
Dr. Johann Wadephul
Sebastian Edathy Michael Hartmann Dr. Karl Lauterbach
Ingo Egloff (Wackernheim) Steffen-Claudio Lemme
SPD
Siegmund Ehrmann Hubertus Heil (Peine) Burkhard Lischka
Ingrid Arndt-Brauer Dr. h. c. Gernot Erler Dr. Barbara Hendricks Gabriele Lösekrug-Möller
Rainer Arnold Petra Ernstberger Gustav Herzog Kirsten Lühmann
Heinz-Joachim Barchmann Karin Evers-Meyer Gabriele Hiller-Ohm Caren Marks
Doris Barnett Elke Ferner Petra Hinz (Essen) Katja Mast
Dr. Hans-Peter Bartels Gabriele Fograscher Frank Hofmann (Volkach) Hilde Mattheis
Klaus Barthel Dr. Edgar Franke Dr. Eva Högl Petra Merkel (Berlin)
Sören Bartol Dagmar Freitag Christel Humme Ullrich Meßmer
Bärbel Bas Peter Friedrich Josip Juratovic Dr. Matthias Miersch
10924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Franz Müntefering Steffen Bockhahn Birgitt Bender Nein (C)
Dr. Rolf Mützenich Christine Buchholz Alexander Bonde
Manfred Nink Eva Bulling-Schröter Viola von Cramon-Taubadel CDU/CSU
Thomas Oppermann Dr. Martina Bunge Ekin Deligöz Peter Altmaier
Holger Ortel Roland Claus Katja Dörner Peter Aumer
Aydan Özoğuz Dr. Diether Dehm Hans-Josef Fell Thomas Bareiß
Heinz Paula Heidrun Dittrich Dr. Thomas Gambke Norbert Barthle
Johannes Pflug Werner Dreibus
Kai Gehring Günter Baumann
Joachim Poß Dr. Dagmar Enkelmann
Katrin Göring-Eckardt Ernst-Reinhard Beck
Dr. Wilhelm Priesmeier Klaus Ernst
Britta Haßelmann (Reutlingen)
Florian Pronold Wolfgang Gehrcke
Bettina Herlitzius Manfred Behrens (Börde)
Dr. Sascha Raabe Nicole Gohlke
Winfried Hermann Dr. Christoph Bergner
Mechthild Rawert Diana Golze
Priska Hinz (Herborn) Peter Beyer
Gerold Reichenbach Annette Groth
Steffen Bilger
Dr. Carola Reimann Dr. Gregor Gysi Ulrike Höfken
Clemens Binninger
Sönke Rix Dr. Rosemarie Hein Dr. Anton Hofreiter
Peter Bleser
René Röspel Inge Höger Bärbel Höhn Dr. Maria Böhmer
Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Barbara Höll Ingrid Hönlinger Wolfgang Bosbach
Karin Roth (Esslingen) Andrej Hunko Thilo Hoppe Norbert Brackmann
Michael Roth (Heringen) Ulla Jelpke Uwe Kekeritz Klaus Brähmig
Marlene Rupprecht Dr. Lukrezia Jochimsen Katja Keul Michael Brand
(Tuchenbach) Jan Korte Memet Kilic Dr. Reinhard Brandl
Anton Schaaf Jutta Krellmann
Sven-Christian Kindler Helmut Brandt
Axel Schäfer (Bochum) Caren Lay
Maria Klein-Schmeink Dr. Ralf Brauksiepe
Bernd Scheelen Sabine Leidig
Ute Koczy Dr. Helge Braun
Marianne Schieder Ralph Lenkert
Tom Koenigs Heike Brehmer
(Schwandorf) Michael Leutert
Sylvia Kotting-Uhl Ralph Brinkhaus
Werner Schieder (Weiden) Stefan Liebich
Oliver Krischer Cajus Caesar
Ulla Schmidt (Aachen) Ulla Lötzer
Gitta Connemann
Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Gesine Lötzsch Agnes Krumwiede
Alexander Dobrindt
Carsten Schneider (Erfurt) Thomas Lutze Fritz Kuhn
Thomas Dörflinger
Ottmar Schreiner Dorothee Menzner Stephan Kühn Marie-Luise Dött
Swen Schulz (Spandau) Cornelia Möhring Renate Künast Dr. Thomas Feist
Ewald Schurer Kornelia Möller Markus Kurth Enak Ferlemann
Frank Schwabe Niema Movassat Undine Kurth (Quedlinburg)
(B) Rolf Schwanitz Wolfgang Nešković
Hartwig Fischer (Göttingen) (D)
Monika Lazar Dirk Fischer (Hamburg)
Stefan Schwartze Thomas Nord
Agnes Malczak Dr. Maria Flachsbarth
Rita Schwarzelühr-Sutter Petra Pau
Jerzy Montag Klaus-Peter Flosbach
Dr. Carsten Sieling Jens Petermann
Kerstin Müller (Köln) Herbert Frankenhauser
Sonja Steffen Richard Pitterle
Beate Müller-Gemmeke Dr. Hans-Peter Friedrich
Peer Steinbrück Yvonne Ploetz
Ingrid Nestle (Hof)
Dr. Frank-Walter Steinmeier Ingrid Remmers
Dr. Konstantin von Notz Michael Frieser
Christoph Strässer Paul Schäfer (Köln)
Omid Nouripour Erich G. Fritz
Kerstin Tack Michael Schlecht
Dr. Michael Fuchs
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Ilja Seifert Friedrich Ostendorff
Hans-Joachim Fuchtel
Franz Thönnes Kathrin Senger-Schäfer Dr. Hermann Ott Alexander Funk
Wolfgang Tiefensee Raju Sharma Lisa Paus Ingo Gädechens
Rüdiger Veit Dr. Petra Sitte Brigitte Pothmer Dr. Peter Gauweiler
Ute Vogt Kersten Steinke Tabea Rößner Dr. Thomas Gebhart
Dr. Marlies Volkmer Sabine Stüber Claudia Roth (Augsburg) Norbert Geis
Andrea Wicklein Alexander Süßmair Krista Sager Alois Gerig
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Kirsten Tackmann
Manuel Sarrazin Eberhard Gienger
Dr. Dieter Wiefelspütz Frank Tempel
Elisabeth Scharfenberg Michael Glos
Waltraud Wolff Dr. Axel Troost
Christine Scheel Peter Götz
(Wolmirstedt) Alexander Ulrich
Dr. Gerhard Schick Dr. Wolfgang Götzer
Uta Zapf Kathrin Vogler
Dr. Frithjof Schmidt Ute Granold
Dagmar Ziegler Johanna Voß
Dorothea Steiner Reinhard Grindel
Manfred Zöllmer Sahra Wagenknecht
Dr. Wolfgang Strengmann- Hermann Gröhe
Brigitte Zypries Halina Wawzyniak
Kuhn Michael Grosse-Brömer
Harald Weinberg
Markus Grübel
DIE LINKE Jörn Wunderlich Hans-Christian Ströbele
Manfred Grund
Jan van Aken Dr. Harald Terpe Monika Grütters
BÜNDNIS 90/ Markus Tressel
Agnes Alpers Olav Gutting
DIE GRÜNEN Jürgen Trittin
Dr. Dietmar Bartsch Florian Hahn
Herbert Behrens Kerstin Andreae Daniela Wagner Dr. Stephan Harbarth
Karin Binder Marieluise Beck (Bremen) Wolfgang Wieland Jürgen Hardt
Matthias W. Birkwald Volker Beck (Köln) Dr. Valerie Wilms Gerda Hasselfeldt
Heidrun Bluhm Cornelia Behm Josef Philip Winkler Dr. Matthias Heider
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10925
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Helmut Heiderich Dr. Michael Meister Dr. Frank Steffel Manuel Höferlin (C)
Mechthild Heil Dr. Angela Merkel Erika Steinbach Elke Hoff
Ursula Heinen-Esser Maria Michalk Christian Freiherr von Stetten Birgit Homburger
Rudolf Henke Dr. h. c. Hans Michelbach Dieter Stier Dr. Werner Hoyer
Michael Hennrich Philipp Mißfelder Gero Storjohann Heiner Kamp
Jürgen Herrmann Dietrich Monstadt Stephan Stracke Michael Kauch
Ansgar Heveling Marlene Mortler Max Straubinger Dr. Lutz Knopek
Ernst Hinsken Dr. Gerd Müller Karin Strenz Pascal Kober
Peter Hintze Stefan Müller (Erlangen) Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Heinrich L. Kolb
Christian Hirte Dr. Philipp Murmann Lena Strothmann Gudrun Kopp
Robert Hochbaum Bernd Neumann (Bremen) Michael Stübgen Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Franz-Josef Holzenkamp Michaela Noll Dr. Peter Tauber Sebastian Körber
Joachim Hörster Dr. Georg Nüßlein Antje Tillmann Holger Krestel
Anette Hübinger Franz Obermeier Dr. Hans-Peter Uhl Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Thomas Jarzombek Eduard Oswald Arnold Vaatz Heinz Lanfermann
Dieter Jasper Henning Otte Stefanie Vogelsang Sibylle Laurischk
Dr. Franz Josef Jung Dr. Michael Paul Andrea Astrid Voßhoff Harald Leibrecht
Andreas Jung (Konstanz) Rita Pawelski Marco Wanderwitz Sabine Leutheusser-
Dr. Egon Jüttner Ulrich Petzold Kai Wegner Schnarrenberger
Bartholomäus Kalb Sibylle Pfeiffer Marcus Weinberg (Hamburg) Lars Lindemann
Hans-Werner Kammer Beatrix Philipp Peter Weiß (Emmendingen) Christian Lindner
Alois Karl Ronald Pofalla Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Martin Lindner (Berlin)
Bernhard Kaster Christoph Poland Ingo Wellenreuther Michael Link (Heilbronn)
Siegfried Kauder (Villingen- Ruprecht Polenz Peter Wichtel Dr. Erwin Lotter
Schwenningen) Eckhard Pols Annette Widmann-Mauz Oliver Luksic
Volker Kauder Thomas Rachel Klaus-Peter Willsch Horst Meierhofer
Dr. Stefan Kaufmann Dr. Peter Ramsauer Elisabeth Winkelmeier- Patrick Meinhardt
Roderich Kiesewetter Eckhardt Rehberg Becker Gabriele Molitor
Eckart von Klaeden Katherina Reiche (Potsdam) Dagmar Wöhrl Jan Mücke
Ewa Klamt Lothar Riebsamen Dr. Matthias Zimmer Petra Müller (Aachen)
Volkmar Klein Josef Rief Wolfgang Zöller Burkhardt Müller-Sönksen
Jürgen Klimke Klaus Riegert Willi Zylajew Dr. Martin Neumann
Julia Klöckner Dr. Heinz Riesenhuber (Lausitz)
Axel Knoerig Johannes Röring FDP Dirk Niebel
Jens Koeppen Dr. Norbert Röttgen Jens Ackermann Hans-Joachim Otto
(B) Manfred Kolbe Dr. Christian Ruck (Frankfurt)
(D)
Christian Ahrendt
Dr. Rolf Koschorrek Erwin Rüddel Christine Aschenberg- Gisela Piltz
Hartmut Koschyk Albert Rupprecht (Weiden) Dugnus Dr. Christiane Ratjen-
Michael Kretschmer Anita Schäfer (Saalstadt) Daniel Bahr (Münster) Damerau
Gunther Krichbaum Dr. Wolfgang Schäuble Florian Bernschneider Dr. Birgit Reinemund
Dr. Günter Krings Dr. Annette Schavan Sebastian Blumenthal Dr. Peter Röhlinger
Bettina Kudla Dr. Andreas Scheuer Claudia Bögel Dr. Stefan Ruppert
Dr. Hermann Kues Karl Schiewerling Nicole Bracht-Bendt Björn Sänger
Günter Lach Norbert Schindler Klaus Breil Frank Schäffler
Dr. Karl A. Lamers Tankred Schipanski Rainer Brüderle Christoph Schnurr
(Heidelberg) Georg Schirmbeck Angelika Brunkhorst Jimmy Schulz
Andreas G. Lämmel Christian Schmidt (Fürth) Ernst Burgbacher Marina Schuster
Dr. Norbert Lammert Patrick Schnieder Marco Buschmann Dr. Erik Schweickert
Katharina Landgraf Dr. Andreas Schockenhoff Sylvia Canel Werner Simmling
Ulrich Lange Nadine Schön (St. Wendel) Helga Daub Judith Skudelny
Dr. Max Lehmer Dr. Kristina Schröder Reiner Deutschmann Dr. Hermann Otto Solms
Paul Lehrieder Dr. Ole Schröder Dr. Bijan Djir-Sarai Joachim Spatz
Dr. Ursula von der Leyen Bernhard Schulte-Drüggelte Patrick Döring Dr. Max Stadler
Ingbert Liebing Uwe Schummer Rainer Erdel Torsten Staffeldt
Matthias Lietz Armin Schuster (Weil am Jörg van Essen Dr. Rainer Stinner
Dr. Carsten Linnemann Rhein) Ulrike Flach Stephan Thomae
Patricia Lips Detlef Seif Otto Fricke Florian Toncar
Dr. Jan-Marco Luczak Johannes Selle Dr. Edmund Peter Geisen Serkan Tören
Daniela Ludwig Reinhold Sendker Dr. Wolfgang Gerhardt Johannes Vogel
Dr. Michael Luther Dr. Patrick Sensburg Hans-Michael Goldmann (Lüdenscheid)
Karin Maag Bernd Siebert Heinz Golombeck Dr. Daniel Volk
Dr. Thomas de Maizière Thomas Silberhorn Miriam Gruß Dr. Guido Westerwelle
Hans-Georg von der Marwitz Johannes Singhammer Joachim Günther (Plauen) Dr. Claudia Winterstein
Andreas Mattfeldt Jens Spahn Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Volker Wissing
Stephan Mayer (Altötting) Carola Stauche Heinz-Peter Haustein Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
10926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Wir kommen zu Nr. 3 des Entschließungsantrags der gen gestimmt, mit Nein 309, und es gab 70 Enthaltungen. (C)
Fraktion der SPD, Drucksache 17/5049: abgegebene Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Stimmen 584. Mit Ja haben 205 Kolleginnen und Kolle-

Endgültiges Ergebnis Hubertus Heil (Peine) Werner Schieder (Weiden) Maria Klein-Schmeink
Abgegebene Stimmen: 585; Dr. Barbara Hendricks Ulla Schmidt (Aachen) Ute Koczy
davon Gustav Herzog Silvia Schmidt (Eisleben) Tom Koenigs
Gabriele Hiller-Ohm Carsten Schneider (Erfurt) Sylvia Kotting-Uhl
ja: 205
Petra Hinz (Essen) Ottmar Schreiner Oliver Krischer
nein: 310 Frank Hofmann (Volkach) Swen Schulz (Spandau) Agnes Krumwiede
enthalten: 70 Dr. Eva Högl Ewald Schurer Fritz Kuhn
Christel Humme Frank Schwabe Stephan Kühn
Ja Josip Juratovic Rolf Schwanitz Renate Künast
Oliver Kaczmarek Stefan Schwartze Markus Kurth
SPD Johannes Kahrs Rita Schwarzelühr-Sutter Undine Kurth (Quedlinburg)
Dr. h. c. Susanne Kastner Dr. Carsten Sieling Monika Lazar
Ingrid Arndt-Brauer Ulrich Kelber Sonja Steffen Agnes Malczak
Rainer Arnold Lars Klingbeil Peer Steinbrück Jerzy Montag
Heinz-Joachim Barchmann Hans-Ulrich Klose Dr. Frank-Walter Steinmeier Kerstin Müller (Köln)
Doris Barnett Dr. Bärbel Kofler Christoph Strässer Beate Müller-Gemmeke
Dr. Hans-Peter Bartels Daniela Kolbe (Leipzig) Kerstin Tack Ingrid Nestle
Klaus Barthel Fritz Rudolf Körper Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Konstantin von Notz
Sören Bartol Nicolette Kressl Franz Thönnes Omid Nouripour
Bärbel Bas Angelika Krüger-Leißner Wolfgang Tiefensee Friedrich Ostendorff
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Ute Kumpf Rüdiger Veit Dr. Hermann Ott
Dirk Becker Christine Lambrecht Ute Vogt Lisa Paus
Uwe Beckmeyer Christian Lange (Backnang) Dr. Marlies Volkmer Brigitte Pothmer
Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Karl Lauterbach Andrea Wicklein Tabea Rößner
Gerd Bollmann Steffen-Claudio Lemme Heidemarie Wieczorek-Zeul Claudia Roth (Augsburg)
Klaus Brandner Burkhard Lischka Dr. Dieter Wiefelspütz Krista Sager
Willi Brase Gabriele Lösekrug-Möller Waltraud Wolff Manuel Sarrazin
(B) Edelgard Bulmahn Kirsten Lühmann (Wolmirstedt) Elisabeth Scharfenberg (D)
Marco Bülow Caren Marks Uta Zapf Christine Scheel
Martin Burkert Katja Mast Dagmar Ziegler Dr. Gerhard Schick
Petra Crone Hilde Mattheis Manfred Zöllmer Dr. Frithjof Schmidt
Martin Dörmann Petra Merkel (Berlin) Brigitte Zypries Dorothea Steiner
Elvira Drobinski-Weiß Ullrich Meßmer Dr. Wolfgang Strengmann-
Garrelt Duin Dr. Matthias Miersch BÜNDNIS 90/ Kuhn
Sebastian Edathy Franz Müntefering DIE GRÜNEN Hans-Christian Ströbele
Ingo Egloff Dr. Rolf Mützenich Kerstin Andreae Dr. Harald Terpe
Siegmund Ehrmann Manfred Nink Marieluise Beck (Bremen) Markus Tressel
Dr. h. c. Gernot Erler Thomas Oppermann Volker Beck (Köln) Jürgen Trittin
Petra Ernstberger Holger Ortel Cornelia Behm Daniela Wagner
Karin Evers-Meyer Aydan Özoğuz Birgitt Bender Wolfgang Wieland
Elke Ferner Heinz Paula Alexander Bonde Dr. Valerie Wilms
Gabriele Fograscher Johannes Pflug Viola von Cramon-Taubadel Josef Philip Winkler
Dr. Edgar Franke Joachim Poß Ekin Deligöz
Dagmar Freitag Dr. Wilhelm Priesmeier Katja Dörner
Peter Friedrich Florian Pronold
Nein
Hans-Josef Fell
Sigmar Gabriel Dr. Sascha Raabe Dr. Thomas Gambke CDU/CSU
Michael Gerdes Mechthild Rawert Kai Gehring
Martin Gerster Gerold Reichenbach Katrin Göring-Eckardt Peter Altmaier
Iris Gleicke Dr. Carola Reimann Britta Haßelmann Peter Aumer
Günter Gloser Sönke Rix Bettina Herlitzius Thomas Bareiß
Ulrike Gottschalck René Röspel Winfried Hermann Norbert Barthle
Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Ernst Dieter Rossmann Priska Hinz (Herborn) Günter Baumann
Kerstin Griese Karin Roth (Esslingen) Ulrike Höfken Ernst-Reinhard Beck
Michael Groschek Michael Roth (Heringen) Dr. Anton Hofreiter (Reutlingen)
Michael Groß Marlene Rupprecht Bärbel Höhn Manfred Behrens (Börde)
Wolfgang Gunkel (Tuchenbach) Ingrid Hönlinger Dr. Christoph Bergner
Hans-Joachim Hacker Anton Schaaf Thilo Hoppe Peter Beyer
Bettina Hagedorn Axel Schäfer (Bochum) Uwe Kekeritz Steffen Bilger
Klaus Hagemann Bernd Scheelen Katja Keul Clemens Binninger
Michael Hartmann Marianne Schieder Memet Kilic Peter Bleser
(Wackernheim) (Schwandorf) Sven-Christian Kindler Dr. Maria Böhmer
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10927
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Wolfgang Bosbach Andreas Jung (Konstanz) Beatrix Philipp Ingo Wellenreuther (C)
Norbert Brackmann Dr. Egon Jüttner Ronald Pofalla Peter Wichtel
Klaus Brähmig Bartholomäus Kalb Christoph Poland Klaus-Peter Willsch
Michael Brand Hans-Werner Kammer Ruprecht Polenz Elisabeth Winkelmeier-
Dr. Reinhard Brandl Alois Karl Eckhard Pols Becker
Helmut Brandt Bernhard Kaster Thomas Rachel Dagmar Wöhrl
Dr. Ralf Brauksiepe Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Peter Ramsauer Dr. Matthias Zimmer
Dr. Helge Braun Schwenningen) Eckhardt Rehberg Wolfgang Zöller
Heike Brehmer Volker Kauder Katherina Reiche (Potsdam) Willi Zylajew
Ralph Brinkhaus Dr. Stefan Kaufmann Lothar Riebsamen
Cajus Caesar Roderich Kiesewetter Josef Rief FDP
Gitta Connemann Eckart von Klaeden Klaus Riegert Jens Ackermann
Alexander Dobrindt Ewa Klamt Dr. Heinz Riesenhuber Christian Ahrendt
Thomas Dörflinger Volkmar Klein Johannes Röring Christine Aschenberg-
Marie-Luise Dött Jürgen Klimke Dr. Norbert Röttgen Dugnus
Dr. Thomas Feist Julia Klöckner Dr. Christian Ruck Daniel Bahr (Münster)
Enak Ferlemann Axel Knoerig Erwin Rüddel Florian Bernschneider
Hartwig Fischer (Göttingen) Jens Koeppen Albert Rupprecht (Weiden) Sebastian Blumenthal
Dirk Fischer (Hamburg) Manfred Kolbe Anita Schäfer (Saalstadt) Claudia Bögel
Dr. Maria Flachsbarth Dr. Rolf Koschorrek Dr. Wolfgang Schäuble Nicole Bracht-Bendt
Klaus-Peter Flosbach Hartmut Koschyk Dr. Annette Schavan Klaus Breil
Herbert Frankenhauser Michael Kretschmer Dr. Andreas Scheuer Rainer Brüderle
Dr. Hans-Peter Friedrich Gunther Krichbaum Karl Schiewerling Angelika Brunkhorst
(Hof) Dr. Günter Krings Norbert Schindler Ernst Burgbacher
Michael Frieser Bettina Kudla Tankred Schipanski Marco Buschmann
Erich G. Fritz Dr. Hermann Kues Georg Schirmbeck Sylvia Canel
Dr. Michael Fuchs Günter Lach Christian Schmidt (Fürth) Helga Daub
Hans-Joachim Fuchtel Dr. Karl A. Lamers Patrick Schnieder Reiner Deutschmann
Alexander Funk (Heidelberg) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Bijan Djir-Sarai
Ingo Gädechens Andreas G. Lämmel Nadine Schön (St. Wendel) Patrick Döring
Dr. Peter Gauweiler Dr. Norbert Lammert Dr. Kristina Schröder Rainer Erdel
Dr. Thomas Gebhart Katharina Landgraf Dr. Ole Schröder Jörg van Essen
Norbert Geis Ulrich Lange Bernhard Schulte-Drüggelte Ulrike Flach
Alois Gerig Dr. Max Lehmer Uwe Schummer Otto Fricke
(B) Eberhard Gienger Paul Lehrieder Armin Schuster (Weil am Dr. Edmund Peter Geisen (D)
Michael Glos Dr. Ursula von der Leyen Rhein) Dr. Wolfgang Gerhardt
Peter Götz Ingbert Liebing Detlef Seif Hans-Michael Goldmann
Dr. Wolfgang Götzer Matthias Lietz Johannes Selle Heinz Golombeck
Ute Granold Dr. Carsten Linnemann Reinhold Sendker Miriam Gruß
Reinhard Grindel Patricia Lips Dr. Patrick Sensburg Joachim Günther (Plauen)
Hermann Gröhe Dr. Jan-Marco Luczak Bernd Siebert Dr. Christel Happach-Kasan
Markus Grübel Daniela Ludwig Thomas Silberhorn Heinz-Peter Haustein
Manfred Grund Dr. Michael Luther Johannes Singhammer Manuel Höferlin
Monika Grütters Karin Maag Jens Spahn Elke Hoff
Olav Gutting Dr. Thomas de Maizière Carola Stauche Birgit Homburger
Florian Hahn Hans-Georg von der Marwitz Dr. Frank Steffel Dr. Werner Hoyer
Dr. Stephan Harbarth Andreas Mattfeldt Erika Steinbach Heiner Kamp
Jürgen Hardt Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Michael Kauch
Gerda Hasselfeldt Dr. Michael Meister Dieter Stier Dr. Lutz Knopek
Dr. Matthias Heider Dr. Angela Merkel Gero Storjohann Pascal Kober
Helmut Heiderich Maria Michalk Stephan Stracke Dr. Heinrich L. Kolb
Mechthild Heil Dr. h. c. Hans Michelbach Max Straubinger Gudrun Kopp
Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Karin Strenz Sebastian Körber
Frank Heinrich Dietrich Monstadt Thomas Strobl (Heilbronn) Holger Krestel
Rudolf Henke Marlene Mortler Lena Strothmann Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Michael Hennrich Dr. Gerd Müller Michael Stübgen Heinz Lanfermann
Jürgen Herrmann Stefan Müller (Erlangen) Dr. Peter Tauber Sibylle Laurischk
Ansgar Heveling Dr. Philipp Murmann Antje Tillmann Harald Leibrecht
Ernst Hinsken Bernd Neumann (Bremen) Dr. Hans-Peter Uhl Sabine Leutheusser-
Peter Hintze Michaela Noll Arnold Vaatz Schnarrenberger
Christian Hirte Dr. Georg Nüßlein Stefanie Vogelsang Lars Lindemann
Robert Hochbaum Franz Obermeier Andrea Astrid Voßhoff Christian Lindner
Franz-Josef Holzenkamp Eduard Oswald Dr. Johann Wadephul Dr. Martin Lindner (Berlin)
Joachim Hörster Henning Otte Marco Wanderwitz Michael Link (Heilbronn)
Anette Hübinger Dr. Michael Paul Kai Wegner Dr. Erwin Lotter
Thomas Jarzombek Rita Pawelski Marcus Weinberg (Hamburg) Oliver Luksic
Dieter Jasper Ulrich Petzold Peter Weiß (Emmendingen) Horst Meierhofer
Dr. Franz Josef Jung Sibylle Pfeiffer Sabine Weiss (Wesel I) Patrick Meinhardt
10928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Gabriele Molitor Florian Toncar Roland Claus Kornelia Möller (C)
Jan Mücke Serkan Tören Dr. Diether Dehm Niema Movassat
Petra Müller (Aachen) Johannes Vogel Heidrun Dittrich Wolfgang Nešković
Burkhardt Müller-Sönksen (Lüdenscheid) Werner Dreibus Thomas Nord
Dr. Martin Neumann Dr. Daniel Volk Dr. Dagmar Enkelmann Petra Pau
(Lausitz) Dr. Guido Westerwelle Klaus Ernst Jens Petermann
Dirk Niebel Dr. Claudia Winterstein Wolfgang Gehrcke Richard Pitterle
Hans-Joachim Otto Dr. Volker Wissing Nicole Gohlke Yvonne Ploetz
(Frankfurt) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Diana Golze Ingrid Remmers
Gisela Piltz Annette Groth Paul Schäfer (Köln)
Dr. Christiane Ratjen- Enthalten Dr. Gregor Gysi Michael Schlecht
Damerau Dr. Rosemarie Hein Dr. Ilja Seifert
Dr. Birgit Reinemund CDU/CSU Inge Höger Kathrin Senger-Schäfer
Dr. Peter Röhlinger Dr. Barbara Höll
Josef Göppel Raju Sharma
Dr. Stefan Ruppert Andrej Hunko
Rüdiger Kruse Dr. Petra Sitte
Björn Sänger Ulla Jelpke
Frank Schäffler Kersten Steinke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Christoph Schnurr DIE LINKE Jan Korte Sabine Stüber
Jimmy Schulz Jutta Krellmann Alexander Süßmair
Jan van Aken
Marina Schuster Caren Lay Dr. Kirsten Tackmann
Agnes Alpers
Dr. Erik Schweickert Dr. Dietmar Bartsch Sabine Leidig Frank Tempel
Werner Simmling Herbert Behrens Ralph Lenkert Dr. Axel Troost
Judith Skudelny Karin Binder Michael Leutert Alexander Ulrich
Dr. Hermann Otto Solms Matthias W. Birkwald Stefan Liebich Kathrin Vogler
Joachim Spatz Heidrun Bluhm Ulla Lötzer Johanna Voß
Dr. Max Stadler Steffen Bockhahn Dr. Gesine Lötzsch Sahra Wagenknecht
Torsten Staffeldt Christine Buchholz Thomas Lutze Halina Wawzyniak
Dr. Rainer Stinner Eva Bulling-Schröter Dorothee Menzner Harald Weinberg
Stephan Thomae Dr. Martina Bunge Cornelia Möhring Jörn Wunderlich

Nr. 4 des Entschließungsantrags der Fraktion der SPD, legen, es gab keine Enthaltungen. Der Entschließungsan-
Drucksache 17/5049: abgegebene Stimmen 593. Mit Ja trag ist abgelehnt.
(B) haben gestimmt 275, mit Nein 318 Kolleginnen und Kol- (D)

Endgültiges Ergebnis Martin Burkert Bettina Hagedorn Steffen-Claudio Lemme


Abgegebene Stimmen: 588; Petra Crone Klaus Hagemann Burkhard Lischka
davon Martin Dörmann Michael Hartmann Gabriele Lösekrug-Möller
Elvira Drobinski-Weiß (Wackernheim) Kirsten Lühmann
ja: 273
Garrelt Duin Hubertus Heil (Peine) Caren Marks
nein: 315 Sebastian Edathy Dr. Barbara Hendricks Katja Mast
Ingo Egloff Gustav Herzog Hilde Mattheis
Ja Siegmund Ehrmann Gabriele Hiller-Ohm Petra Merkel (Berlin)
Dr. h. c. Gernot Erler Petra Hinz (Essen) Ullrich Meßmer
SPD Petra Ernstberger Frank Hofmann (Volkach) Dr. Matthias Miersch
Karin Evers-Meyer Dr. Eva Högl Franz Müntefering
Ingrid Arndt-Brauer Elke Ferner Christel Humme Dr. Rolf Mützenich
Rainer Arnold Gabriele Fograscher Josip Juratovic Manfred Nink
Heinz-Joachim Barchmann Dr. Edgar Franke Oliver Kaczmarek Thomas Oppermann
Doris Barnett Dagmar Freitag Johannes Kahrs Holger Ortel
Dr. Hans-Peter Bartels Peter Friedrich Dr. h. c. Susanne Kastner Aydan Özoğuz
Klaus Barthel Sigmar Gabriel Ulrich Kelber Heinz Paula
Sören Bartol Michael Gerdes Lars Klingbeil Johannes Pflug
Bärbel Bas Martin Gerster Hans-Ulrich Klose Joachim Poß
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Iris Gleicke Dr. Bärbel Kofler Dr. Wilhelm Priesmeier
Dirk Becker Günter Gloser Daniela Kolbe (Leipzig) Florian Pronold
Uwe Beckmeyer Ulrike Gottschalck Fritz Rudolf Körper Dr. Sascha Raabe
Lothar Binding (Heidelberg) Angelika Graf (Rosenheim) Nicolette Kressl Mechthild Rawert
Gerd Bollmann Kerstin Griese Angelika Krüger-Leißner Gerold Reichenbach
Klaus Brandner Michael Groschek Ute Kumpf Dr. Carola Reimann
Willi Brase Michael Groß Christine Lambrecht Sönke Rix
Edelgard Bulmahn Wolfgang Gunkel Christian Lange (Backnang) René Röspel
Marco Bülow Hans-Joachim Hacker Dr. Karl Lauterbach Dr. Ernst Dieter Rossmann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10929
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Karin Roth (Esslingen) Andrej Hunko Uwe Kekeritz Dr. Reinhard Brandl (C)
Michael Roth (Heringen) Ulla Jelpke Katja Keul Helmut Brandt
Marlene Rupprecht Dr. Lukrezia Jochimsen Memet Kilic Dr. Ralf Brauksiepe
(Tuchenbach) Jan Korte Sven-Christian Kindler Dr. Helge Braun
Anton Schaaf Jutta Krellmann Maria Klein-Schmeink Heike Brehmer
Axel Schäfer (Bochum) Caren Lay Ute Koczy Ralph Brinkhaus
Bernd Scheelen Sabine Leidig Tom Koenigs Cajus Caesar
Marianne Schieder Ralph Lenkert Sylvia Kotting-Uhl Gitta Connemann
(Schwandorf) Michael Leutert Oliver Krischer Alexander Dobrindt
Werner Schieder (Weiden) Stefan Liebich Agnes Krumwiede Thomas Dörflinger
Ulla Schmidt (Aachen) Ulla Lötzer Fritz Kuhn Marie-Luise Dött
Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Gesine Lötzsch Stephan Kühn Dr. Thomas Feist
Carsten Schneider (Erfurt) Thomas Lutze Renate Künast Enak Ferlemann
Ottmar Schreiner Dorothee Menzner Markus Kurth Hartwig Fischer (Göttingen)
Swen Schulz (Spandau) Cornelia Möhring Undine Kurth (Quedlinburg) Dirk Fischer (Hamburg)
Ewald Schurer Kornelia Möller Monika Lazar Dr. Maria Flachsbarth
Frank Schwabe Niema Movassat Agnes Malczak Klaus-Peter Flosbach
Rolf Schwanitz Wolfgang Nešković Jerzy Montag Herbert Frankenhauser
Stefan Schwartze Thomas Nord Kerstin Müller (Köln) Dr. Hans-Peter Friedrich
Rita Schwarzelühr-Sutter Petra Pau Beate Müller-Gemmeke (Hof)
Dr. Carsten Sieling Jens Petermann Ingrid Nestle Michael Frieser
Sonja Steffen Richard Pitterle Dr. Konstantin von Notz Erich G. Fritz
Peer Steinbrück Yvonne Ploetz Omid Nouripour Dr. Michael Fuchs
Dr. Frank-Walter Steinmeier Ingrid Remmers Friedrich Ostendorff Hans-Joachim Fuchtel
Christoph Strässer Paul Schäfer (Köln) Dr. Hermann Ott Alexander Funk
Kerstin Tack Michael Schlecht Lisa Paus Ingo Gädechens
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Ilja Seifert Brigitte Pothmer Dr. Peter Gauweiler
Franz Thönnes Kathrin Senger-Schäfer Tabea Rößner Dr. Thomas Gebhart
Wolfgang Tiefensee Raju Sharma Claudia Roth (Augsburg) Norbert Geis
Rüdiger Veit Dr. Petra Sitte Krista Sager Alois Gerig
Ute Vogt Kersten Steinke Manuel Sarrazin Eberhard Gienger
Dr. Marlies Volkmer Sabine Stüber Elisabeth Scharfenberg Michael Glos
Andrea Wicklein Alexander Süßmair Christine Scheel Josef Göppel
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Kirsten Tackmann Dr. Gerhard Schick Peter Götz
Dr. Dieter Wiefelspütz Frank Tempel Dr. Frithjof Schmidt
(B) Dr. Wolfgang Götzer (D)
Waltraud Wolff Dr. Axel Troost Dorothea Steiner
Ute Granold
(Wolmirstedt) Alexander Ulrich Dr. Wolfgang Strengmann-
Reinhard Grindel
Uta Zapf Kathrin Vogler Kuhn
Hermann Gröhe
Dagmar Ziegler Johanna Voß Hans-Christian Ströbele
Michael Grosse-Brömer
Manfred Zöllmer Sahra Wagenknecht Dr. Harald Terpe
Markus Grübel
Brigitte Zypries Halina Wawzyniak Markus Tressel
Manfred Grund
Harald Weinberg Jürgen Trittin
Daniela Wagner Monika Grütters
DIE LINKE Jörn Wunderlich Olav Gutting
Wolfgang Wieland
Jan van Aken Dr. Valerie Wilms Florian Hahn
BÜNDNIS 90/ Dr. Stephan Harbarth
Agnes Alpers Josef Philip Winkler
DIE GRÜNEN Jürgen Hardt
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens Kerstin Andreae Gerda Hasselfeldt
Karin Binder Marieluise Beck (Bremen) Nein Dr. Matthias Heider
Matthias W. Birkwald Volker Beck (Köln) Helmut Heiderich
Heidrun Bluhm Cornelia Behm CDU/CSU Mechthild Heil
Steffen Bockhahn Birgitt Bender Peter Altmaier Ursula Heinen-Esser
Christine Buchholz Alexander Bonde Peter Aumer Frank Heinrich
Eva Bulling-Schröter Viola von Cramon-Taubadel Thomas Bareiß Rudolf Henke
Dr. Martina Bunge Ekin Deligöz Norbert Barthle Michael Hennrich
Roland Claus Katja Dörner Günter Baumann Jürgen Herrmann
Dr. Diether Dehm Hans-Josef Fell Ernst-Reinhard Beck Ansgar Heveling
Heidrun Dittrich Dr. Thomas Gambke (Reutlingen) Ernst Hinsken
Werner Dreibus Kai Gehring Manfred Behrens (Börde) Peter Hintze
Dr. Dagmar Enkelmann Katrin Göring-Eckardt Dr. Christoph Bergner Christian Hirte
Klaus Ernst Britta Haßelmann Peter Beyer Robert Hochbaum
Wolfgang Gehrcke Bettina Herlitzius Steffen Bilger Franz-Josef Holzenkamp
Nicole Gohlke Winfried Hermann Clemens Binninger Joachim Hörster
Diana Golze Priska Hinz (Herborn) Peter Bleser Anette Hübinger
Annette Groth Ulrike Höfken Dr. Maria Böhmer Thomas Jarzombek
Dr. Gregor Gysi Dr. Anton Hofreiter Wolfgang Bosbach Dieter Jasper
Dr. Rosemarie Hein Bärbel Höhn Norbert Brackmann Dr. Franz Josef Jung
Inge Höger Ingrid Hönlinger Klaus Brähmig Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Barbara Höll Thilo Hoppe Michael Brand Dr. Egon Jüttner
10930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Bartholomäus Kalb Eduard Oswald Michael Stübgen Heiner Kamp (C)
Hans-Werner Kammer Henning Otte Dr. Peter Tauber Michael Kauch
Alois Karl Dr. Michael Paul Antje Tillmann Dr. Lutz Knopek
Bernhard Kaster Rita Pawelski Dr. Hans-Peter Uhl Pascal Kober
Siegfried Kauder (Villingen- Ulrich Petzold Arnold Vaatz Dr. Heinrich L. Kolb
Schwenningen) Sibylle Pfeiffer Stefanie Vogelsang Gudrun Kopp
Volker Kauder Beatrix Philipp Andrea Astrid Voßhoff Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Dr. Stefan Kaufmann Ronald Pofalla Dr. Johann Wadephul Sebastian Körber
Roderich Kiesewetter Christoph Poland Marco Wanderwitz Holger Krestel
Eckart von Klaeden Ruprecht Polenz Kai Wegner Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Ewa Klamt Eckhard Pols Marcus Weinberg (Hamburg) Heinz Lanfermann
Volkmar Klein Thomas Rachel Peter Weiß (Emmendingen) Sibylle Laurischk
Jürgen Klimke Dr. Peter Ramsauer Sabine Weiss (Wesel I) Harald Leibrecht
Julia Klöckner Eckhardt Rehberg Ingo Wellenreuther Sabine Leutheusser-
Axel Knoerig Katherina Reiche (Potsdam) Peter Wichtel Schnarrenberger
Jens Koeppen Lothar Riebsamen Annette Widmann-Mauz Lars Lindemann
Manfred Kolbe Josef Rief Klaus-Peter Willsch Christian Lindner
Dr. Rolf Koschorrek Klaus Riegert Elisabeth Winkelmeier- Dr. Martin Lindner (Berlin)
Hartmut Koschyk Dr. Heinz Riesenhuber Becker Michael Link (Heilbronn)
Michael Kretschmer Johannes Röring Dagmar Wöhrl Dr. Erwin Lotter
Gunther Krichbaum Dr. Norbert Röttgen Dr. Matthias Zimmer Oliver Luksic
Dr. Günter Krings Dr. Christian Ruck Wolfgang Zöller Horst Meierhofer
Rüdiger Kruse Erwin Rüddel Willi Zylajew Patrick Meinhardt
Bettina Kudla Albert Rupprecht (Weiden) Gabriele Molitor
Dr. Hermann Kues Anita Schäfer (Saalstadt) FDP Jan Mücke
Günter Lach Dr. Wolfgang Schäuble Petra Müller (Aachen)
Dr. Karl A. Lamers Dr. Annette Schavan Jens Ackermann Burkhardt Müller-Sönksen
(Heidelberg) Dr. Andreas Scheuer Christian Ahrendt Dr. Martin Neumann
Andreas G. Lämmel Karl Schiewerling Christine Aschenberg- (Lausitz)
Dr. Norbert Lammert Norbert Schindler Dugnus Dirk Niebel
Katharina Landgraf Tankred Schipanski Daniel Bahr (Münster) Hans-Joachim Otto
Ulrich Lange Georg Schirmbeck Florian Bernschneider (Frankfurt)
Dr. Max Lehmer Christian Schmidt (Fürth) Sebastian Blumenthal Gisela Piltz
Paul Lehrieder Patrick Schnieder Claudia Bögel Dr. Christiane Ratjen-
Dr. Ursula von der Leyen Dr. Andreas Schockenhoff Nicole Bracht-Bendt Damerau
(B) Ingbert Liebing Nadine Schön (St. Wendel) Klaus Breil Dr. Birgit Reinemund (D)
Matthias Lietz Dr. Kristina Schröder Rainer Brüderle Dr. Peter Röhlinger
Dr. Carsten Linnemann Dr. Ole Schröder Angelika Brunkhorst Dr. Stefan Ruppert
Patricia Lips Bernhard Schulte-Drüggelte Ernst Burgbacher Björn Sänger
Dr. Jan-Marco Luczak Uwe Schummer Marco Buschmann Frank Schäffler
Daniela Ludwig Armin Schuster (Weil am Sylvia Canel Christoph Schnurr
Dr. Michael Luther Rhein) Helga Daub Jimmy Schulz
Karin Maag Detlef Seif Reiner Deutschmann Marina Schuster
Dr. Thomas de Maizière Johannes Selle Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Erik Schweickert
Hans-Georg von der Marwitz Reinhold Sendker Patrick Döring Werner Simmling
Andreas Mattfeldt Dr. Patrick Sensburg Rainer Erdel Judith Skudelny
Stephan Mayer (Altötting) Bernd Siebert Jörg van Essen Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Michael Meister Thomas Silberhorn Ulrike Flach Joachim Spatz
Dr. Angela Merkel Johannes Singhammer Otto Fricke Dr. Max Stadler
Maria Michalk Jens Spahn Dr. Edmund Peter Geisen Torsten Staffeldt
Dr. h. c. Hans Michelbach Carola Stauche Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Rainer Stinner
Philipp Mißfelder Dr. Frank Steffel Hans-Michael Goldmann Stephan Thomae
Dietrich Monstadt Erika Steinbach Heinz Golombeck Florian Toncar
Marlene Mortler Christian Freiherr von Stetten Miriam Gruß Serkan Tören
Dr. Gerd Müller Dieter Stier Joachim Günther (Plauen) Johannes Vogel
Stefan Müller (Erlangen) Gero Storjohann Dr. Christel Happach-Kasan (Lüdenscheid)
Dr. Philipp Murmann Stephan Stracke Heinz-Peter Haustein Dr. Daniel Volk
Bernd Neumann (Bremen) Max Straubinger Manuel Höferlin Dr. Guido Westerwelle
Michaela Noll Karin Strenz Elke Hoff Dr. Claudia Winterstein
Dr. Georg Nüßlein Thomas Strobl (Heilbronn) Birgit Homburger Dr. Volker Wissing
Franz Obermeier Lena Strothmann Dr. Werner Hoyer Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den gestimmt 69, mit Nein 316, und 204 Kolleginnen und
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke, Drucksa- Kollegen haben sich enthalten. Der Entschließungsan-
che 17/5050: abgegebene Stimmen 589. Mit Ja haben trag ist abgelehnt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10931
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Endgültiges Ergebnis Raju Sharma Michael Glos Ulrich Lange (C)
Abgegebene Stimmen: 588; Dr. Petra Sitte Josef Göppel Dr. Max Lehmer
davon Kersten Steinke Peter Götz Paul Lehrieder
Sabine Stüber Dr. Wolfgang Götzer Dr. Ursula von der Leyen
ja: 69
Alexander Süßmair Ute Granold Ingbert Liebing
nein: 315 Dr. Kirsten Tackmann Reinhard Grindel Matthias Lietz
enthalten: 204 Frank Tempel Hermann Gröhe Dr. Carsten Linnemann
Dr. Axel Troost Michael Grosse-Brömer Patricia Lips
Ja Alexander Ulrich Markus Grübel Dr. Jan-Marco Luczak
Kathrin Vogler Manfred Grund Daniela Ludwig
SPD Johanna Voß Monika Grütters Dr. Michael Luther
Sahra Wagenknecht Olav Gutting Karin Maag
Karin Evers-Meyer Halina Wawzyniak Florian Hahn Dr. Thomas de Maizière
Harald Weinberg Dr. Stephan Harbarth Hans-Georg von der Marwitz
DIE LINKE Jörn Wunderlich Jürgen Hardt Andreas Mattfeldt
Jan van Aken Gerda Hasselfeldt Stephan Mayer (Altötting)
Agnes Alpers Nein Dr. Matthias Heider Dr. Michael Meister
Dr. Dietmar Bartsch Helmut Heiderich Dr. Angela Merkel
Herbert Behrens CDU/CSU Mechthild Heil Maria Michalk
Karin Binder Ursula Heinen-Esser Dr. h. c. Hans Michelbach
Peter Altmaier Frank Heinrich Philipp Mißfelder
Matthias W. Birkwald
Peter Aumer Rudolf Henke Dietrich Monstadt
Heidrun Bluhm Thomas Bareiß
Steffen Bockhahn Michael Hennrich Marlene Mortler
Norbert Barthle Jürgen Herrmann Dr. Gerd Müller
Christine Buchholz Günter Baumann
Eva Bulling-Schröter Ansgar Heveling Stefan Müller (Erlangen)
Ernst-Reinhard Beck Ernst Hinsken Dr. Philipp Murmann
Dr. Martina Bunge (Reutlingen)
Roland Claus Peter Hintze Bernd Neumann (Bremen)
Manfred Behrens (Börde)
Dr. Diether Dehm Christian Hirte Michaela Noll
Dr. Christoph Bergner
Heidrun Dittrich Robert Hochbaum Dr. Georg Nüßlein
Peter Beyer
Werner Dreibus Franz-Josef Holzenkamp Franz Obermeier
Steffen Bilger
Dr. Dagmar Enkelmann Joachim Hörster Eduard Oswald
Clemens Binninger
Klaus Ernst Anette Hübinger Henning Otte
Peter Bleser
Wolfgang Gehrcke Thomas Jarzombek Dr. Michael Paul
Dr. Maria Böhmer
Nicole Gohlke Wolfgang Bosbach Dieter Jasper Rita Pawelski
(B) Diana Golze Norbert Brackmann Dr. Franz Josef Jung Ulrich Petzold (D)
Annette Groth Klaus Brähmig Andreas Jung (Konstanz) Sibylle Pfeiffer
Dr. Gregor Gysi Michael Brand Dr. Egon Jüttner Beatrix Philipp
Dr. Rosemarie Hein Dr. Reinhard Brandl Bartholomäus Kalb Ronald Pofalla
Inge Höger Helmut Brandt Hans-Werner Kammer Christoph Poland
Dr. Barbara Höll Dr. Ralf Brauksiepe Alois Karl Ruprecht Polenz
Andrej Hunko Dr. Helge Braun Bernhard Kaster Eckhard Pols
Ulla Jelpke Heike Brehmer Siegfried Kauder (Villingen- Thomas Rachel
Dr. Lukrezia Jochimsen Ralph Brinkhaus Schwenningen) Dr. Peter Ramsauer
Jan Korte Cajus Caesar Volker Kauder Eckhardt Rehberg
Jutta Krellmann Gitta Connemann Dr. Stefan Kaufmann Katherina Reiche (Potsdam)
Caren Lay Alexander Dobrindt Roderich Kiesewetter Lothar Riebsamen
Sabine Leidig Thomas Dörflinger Eckart von Klaeden Josef Rief
Ralph Lenkert Marie-Luise Dött Ewa Klamt Klaus Riegert
Michael Leutert Dr. Thomas Feist Volkmar Klein Dr. Heinz Riesenhuber
Stefan Liebich Enak Ferlemann Jürgen Klimke Johannes Röring
Ulla Lötzer Hartwig Fischer (Göttingen) Julia Klöckner Dr. Norbert Röttgen
Dr. Gesine Lötzsch Dirk Fischer (Hamburg) Axel Knoerig Dr. Christian Ruck
Thomas Lutze Dr. Maria Flachsbarth Jens Koeppen Erwin Rüddel
Dorothee Menzner Klaus-Peter Flosbach Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden)
Cornelia Möhring Herbert Frankenhauser Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt)
Kornelia Möller Dr. Hans-Peter Friedrich Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble
Niema Movassat (Hof) Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan
Wolfgang Nešković Michael Frieser Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer
Thomas Nord Erich G. Fritz Dr. Günter Krings Karl Schiewerling
Petra Pau Dr. Michael Fuchs Rüdiger Kruse Norbert Schindler
Jens Petermann Hans-Joachim Fuchtel Bettina Kudla Tankred Schipanski
Richard Pitterle Alexander Funk Dr. Hermann Kues Georg Schirmbeck
Yvonne Ploetz Ingo Gädechens Günter Lach Christian Schmidt (Fürth)
Ingrid Remmers Dr. Peter Gauweiler Dr. Karl A. Lamers Patrick Schnieder
Paul Schäfer (Köln) Dr. Thomas Gebhart (Heidelberg) Dr. Andreas Schockenhoff
Michael Schlecht Norbert Geis Andreas G. Lämmel Nadine Schön (St. Wendel)
Dr. Ilja Seifert Alois Gerig Dr. Norbert Lammert Dr. Kristina Schröder
Kathrin Senger-Schäfer Eberhard Gienger Katharina Landgraf Dr. Ole Schröder
10932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Bernhard Schulte-Drüggelte Jörg van Essen Serkan Tören Josip Juratovic (C)
Uwe Schummer Ulrike Flach Johannes Vogel Oliver Kaczmarek
Armin Schuster (Weil am Otto Fricke (Lüdenscheid) Johannes Kahrs
Rhein) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Daniel Volk Dr. h. c. Susanne Kastner
Detlef Seif Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Guido Westerwelle Ulrich Kelber
Johannes Selle Hans-Michael Goldmann Dr. Claudia Winterstein Lars Klingbeil
Reinhold Sendker Heinz Golombeck Dr. Volker Wissing Hans-Ulrich Klose
Dr. Patrick Sensburg Miriam Gruß Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Dr. Bärbel Kofler
Bernd Siebert Joachim Günther (Plauen) Daniela Kolbe (Leipzig)
Thomas Silberhorn Dr. Christel Happach-Kasan Enthalten Fritz Rudolf Körper
Johannes Singhammer Heinz-Peter Haustein Nicolette Kressl
Jens Spahn Manuel Höferlin SPD Angelika Krüger-Leißner
Carola Stauche Elke Hoff Ute Kumpf
Dr. Frank Steffel Birgit Homburger Ingrid Arndt-Brauer Christine Lambrecht
Erika Steinbach Dr. Werner Hoyer Rainer Arnold Christian Lange (Backnang)
Christian Freiherr von Stetten Heiner Kamp Heinz-Joachim Barchmann Dr. Karl Lauterbach
Dieter Stier Michael Kauch Doris Barnett Steffen-Claudio Lemme
Gero Storjohann Dr. Lutz Knopek Dr. Hans-Peter Bartels Burkhard Lischka
Stephan Stracke Pascal Kober Klaus Barthel Gabriele Lösekrug-Möller
Max Straubinger Dr. Heinrich L. Kolb Sören Bartol Kirsten Lühmann
Karin Strenz Gudrun Kopp Bärbel Bas Caren Marks
Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. h. c. Jürgen Koppelin Sabine Bätzing-Lichtenthäler Katja Mast
Lena Strothmann Sebastian Körber Dirk Becker Hilde Mattheis
Michael Stübgen Holger Krestel Uwe Beckmeyer Petra Merkel (Berlin)
Dr. Peter Tauber Lothar Binding (Heidelberg) Ullrich Meßmer
Patrick Kurth (Kyffhäuser)
Antje Tillmann Gerd Bollmann Dr. Matthias Miersch
Heinz Lanfermann
Dr. Hans-Peter Uhl Klaus Brandner
Sibylle Laurischk Franz Müntefering
Arnold Vaatz Willi Brase
Harald Leibrecht Dr. Rolf Mützenich
Stefanie Vogelsang Edelgard Bulmahn
Sabine Leutheusser- Manfred Nink
Andrea Astrid Voßhoff Marco Bülow
Schnarrenberger Thomas Oppermann
Dr. Johann Wadephul Martin Burkert
Lars Lindemann Holger Ortel
Marco Wanderwitz Petra Crone
Christian Lindner Aydan Özoğuz
Kai Wegner Martin Dörmann
Dr. Martin Lindner (Berlin) Heinz Paula
Marcus Weinberg (Hamburg) Elvira Drobinski-Weiß
Michael Link (Heilbronn) Garrelt Duin Johannes Pflug
Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Erwin Lotter Joachim Poß
(B) Sabine Weiss (Wesel I) Sebastian Edathy (D)
Oliver Luksic Ingo Egloff Dr. Wilhelm Priesmeier
Ingo Wellenreuther Horst Meierhofer Florian Pronold
Peter Wichtel Siegmund Ehrmann
Patrick Meinhardt Dr. h. c. Gernot Erler Dr. Sascha Raabe
Annette Widmann-Mauz Gabriele Molitor Mechthild Rawert
Klaus-Peter Willsch Petra Ernstberger
Jan Mücke Elke Ferner Gerold Reichenbach
Elisabeth Winkelmeier- Petra Müller (Aachen) Dr. Carola Reimann
Becker Gabriele Fograscher
Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Edgar Franke Sönke Rix
Dagmar Wöhrl Dr. Martin Neumann René Röspel
Dr. Matthias Zimmer Dagmar Freitag
(Lausitz) Peter Friedrich Dr. Ernst Dieter Rossmann
Wolfgang Zöller Dirk Niebel Karin Roth (Esslingen)
Willi Zylajew Sigmar Gabriel
Hans-Joachim Otto Michael Gerdes Michael Roth (Heringen)
(Frankfurt) Martin Gerster Marlene Rupprecht
FDP Gisela Piltz (Tuchenbach)
Iris Gleicke
Jens Ackermann Dr. Christiane Ratjen- Günter Gloser Anton Schaaf
Christian Ahrendt Damerau Ulrike Gottschalck Axel Schäfer (Bochum)
Christine Aschenberg- Dr. Birgit Reinemund Angelika Graf (Rosenheim) Bernd Scheelen
Dugnus Dr. Peter Röhlinger Kerstin Griese Marianne Schieder
Daniel Bahr (Münster) Dr. Stefan Ruppert Michael Groschek (Schwandorf)
Florian Bernschneider Björn Sänger Michael Groß Werner Schieder (Weiden)
Sebastian Blumenthal Frank Schäffler Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen)
Claudia Bögel Christoph Schnurr Hans-Joachim Hacker Silvia Schmidt (Eisleben)
Nicole Bracht-Bendt Jimmy Schulz Bettina Hagedorn Carsten Schneider (Erfurt)
Klaus Breil Marina Schuster Klaus Hagemann Ottmar Schreiner
Rainer Brüderle Dr. Erik Schweickert Michael Hartmann Swen Schulz (Spandau)
Angelika Brunkhorst Werner Simmling (Wackernheim) Ewald Schurer
Ernst Burgbacher Judith Skudelny Hubertus Heil (Peine) Frank Schwabe
Marco Buschmann Dr. Hermann Otto Solms Dr. Barbara Hendricks Rolf Schwanitz
Sylvia Canel Joachim Spatz Gustav Herzog Stefan Schwartze
Helga Daub Dr. Max Stadler Gabriele Hiller-Ohm Rita Schwarzelühr-Sutter
Reiner Deutschmann Torsten Staffeldt Petra Hinz (Essen) Dr. Carsten Sieling
Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Rainer Stinner Frank Hofmann (Volkach) Sonja Steffen
Patrick Döring Stephan Thomae Dr. Eva Högl Peer Steinbrück
Rainer Erdel Florian Toncar Christel Humme Dr. Frank-Walter Steinmeier
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10933
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Christoph Strässer Volker Beck (Köln) Memet Kilic Dr. Hermann Ott (C)
Kerstin Tack Cornelia Behm Sven-Christian Kindler Lisa Paus
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Birgitt Bender Maria Klein-Schmeink Brigitte Pothmer
Franz Thönnes Alexander Bonde Ute Koczy Tabea Rößner
Wolfgang Tiefensee Viola von Cramon-Taubadel Tom Koenigs Claudia Roth (Augsburg)
Rüdiger Veit Ekin Deligöz Sylvia Kotting-Uhl Krista Sager
Ute Vogt Katja Dörner Oliver Krischer Manuel Sarrazin
Dr. Marlies Volkmer Hans-Josef Fell Agnes Krumwiede Elisabeth Scharfenberg
Andrea Wicklein Dr. Thomas Gambke Fritz Kuhn Christine Scheel
Heidemarie Wieczorek-Zeul Kai Gehring Stephan Kühn Dr. Gerhard Schick
Dr. Dieter Wiefelspütz Katrin Göring-Eckardt Renate Künast Dr. Frithjof Schmidt
Waltraud Wolff Britta Haßelmann Markus Kurth Dorothea Steiner
(Wolmirstedt) Bettina Herlitzius Undine Kurth (Quedlinburg) Dr. Wolfgang Strengmann-
Uta Zapf Winfried Hermann Monika Lazar Kuhn
Dagmar Ziegler Priska Hinz (Herborn) Agnes Malczak Hans-Christian Ströbele
Manfred Zöllmer Ulrike Höfken Jerzy Montag Dr. Harald Terpe
Brigitte Zypries Dr. Anton Hofreiter Kerstin Müller (Köln) Markus Tressel
Bärbel Höhn Beate Müller-Gemmeke Jürgen Trittin
BÜNDNIS 90/ Ingrid Hönlinger Ingrid Nestle Daniela Wagner
DIE GRÜNEN
Thilo Hoppe Dr. Konstantin von Notz Wolfgang Wieland
Kerstin Andreae Uwe Kekeritz Omid Nouripour Dr. Valerie Wilms
Marieluise Beck (Bremen) Katja Keul Friedrich Ostendorff Josef Philip Winkler

Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Mit Ja haben gestimmt 278, mit Nein 310 Kolleginnen
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- und Kollegen, Enthaltungen gab es keine. Der Entschlie-
nen, Drucksache 17/5051: abgegebene Stimmen 588. ßungsantrag ist abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis Martin Burkert Gabriele Hiller-Ohm Holger Ortel


(B) Abgegebene Stimmen: 587; Petra Crone Petra Hinz (Essen) Aydan Özoğuz (D)
davon Martin Dörmann Frank Hofmann (Volkach) Heinz Paula
Elvira Drobinski-Weiß Dr. Eva Högl Johannes Pflug
ja: 278
Garrelt Duin Christel Humme Joachim Poß
nein: 309 Sebastian Edathy Josip Juratovic Dr. Wilhelm Priesmeier
Ingo Egloff Oliver Kaczmarek Florian Pronold
Ja Siegmund Ehrmann Johannes Kahrs Dr. Sascha Raabe
Dr. h. c. Gernot Erler Dr. h. c. Susanne Kastner Mechthild Rawert
CDU/CSU Petra Ernstberger Ulrich Kelber Gerold Reichenbach
Karin Evers-Meyer Lars Klingbeil Dr. Carola Reimann
Josef Göppel
Elke Ferner Hans-Ulrich Klose Sönke Rix
Frank Heinrich
Gabriele Fograscher Dr. Bärbel Kofler René Röspel
Rüdiger Kruse
Dr. Edgar Franke Daniela Kolbe (Leipzig) Dr. Ernst Dieter Rossmann
Dr. Peter Tauber
Dagmar Freitag Fritz Rudolf Körper Karin Roth (Esslingen)
Dr. Johann Wadephul
Peter Friedrich Nicolette Kressl Michael Roth (Heringen)
Sigmar Gabriel Angelika Krüger-Leißner Marlene Rupprecht
SPD
Michael Gerdes Ute Kumpf (Tuchenbach)
Ingrid Arndt-Brauer Martin Gerster Christine Lambrecht Anton Schaaf
Rainer Arnold Iris Gleicke Christian Lange (Backnang) Axel Schäfer (Bochum)
Heinz-Joachim Barchmann Günter Gloser Dr. Karl Lauterbach Bernd Scheelen
Doris Barnett Ulrike Gottschalck Steffen-Claudio Lemme Marianne Schieder
Dr. Hans-Peter Bartels Angelika Graf (Rosenheim) Burkhard Lischka (Schwandorf)
Klaus Barthel Kerstin Griese Gabriele Lösekrug-Möller Werner Schieder (Weiden)
Sören Bartol Michael Groschek Kirsten Lühmann Ulla Schmidt (Aachen)
Bärbel Bas Michael Groß Caren Marks Silvia Schmidt (Eisleben)
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Wolfgang Gunkel Katja Mast Carsten Schneider (Erfurt)
Dirk Becker Hans-Joachim Hacker Hilde Mattheis Ottmar Schreiner
Uwe Beckmeyer Bettina Hagedorn Petra Merkel (Berlin) Swen Schulz (Spandau)
Lothar Binding (Heidelberg) Klaus Hagemann Ullrich Meßmer Ewald Schurer
Gerd Bollmann Michael Hartmann Dr. Matthias Miersch Frank Schwabe
Klaus Brandner (Wackernheim) Franz Müntefering Rolf Schwanitz
Willi Brase Hubertus Heil (Peine) Dr. Rolf Mützenich Stefan Schwartze
Edelgard Bulmahn Dr. Barbara Hendricks Manfred Nink Rita Schwarzelühr-Sutter
Marco Bülow Gustav Herzog Thomas Oppermann Dr. Carsten Sieling
10934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Sonja Steffen Richard Pitterle Dr. Konstantin von Notz Erich G. Fritz (C)
Peer Steinbrück Yvonne Ploetz Omid Nouripour Dr. Michael Fuchs
Dr. Frank-Walter Steinmeier Ingrid Remmers Friedrich Ostendorff Hans-Joachim Fuchtel
Christoph Strässer Paul Schäfer (Köln) Dr. Hermann Ott Alexander Funk
Kerstin Tack Michael Schlecht Lisa Paus Ingo Gädechens
Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Ilja Seifert Brigitte Pothmer Dr. Peter Gauweiler
Franz Thönnes Kathrin Senger-Schäfer Tabea Rößner Dr. Thomas Gebhart
Wolfgang Tiefensee Raju Sharma Claudia Roth (Augsburg) Norbert Geis
Rüdiger Veit Dr. Petra Sitte Krista Sager Alois Gerig
Ute Vogt Kersten Steinke Manuel Sarrazin Eberhard Gienger
Dr. Marlies Volkmer Sabine Stüber Elisabeth Scharfenberg Michael Glos
Andrea Wicklein Alexander Süßmair Christine Scheel Peter Götz
Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Kirsten Tackmann Dr. Gerhard Schick Dr. Wolfgang Götzer
Dr. Dieter Wiefelspütz Frank Tempel Dr. Frithjof Schmidt Ute Granold
Waltraud Wolff Dr. Axel Troost Dorothea Steiner Reinhard Grindel
(Wolmirstedt) Alexander Ulrich Dr. Wolfgang Strengmann- Hermann Gröhe
Uta Zapf Kathrin Vogler Kuhn Michael Grosse-Brömer
Dagmar Ziegler Johanna Voß Hans-Christian Ströbele Markus Grübel
Manfred Zöllmer Sahra Wagenknecht Dr. Harald Terpe Manfred Grund
Brigitte Zypries Halina Wawzyniak Markus Tressel Monika Grütters
Harald Weinberg Jürgen Trittin Olav Gutting
DIE LINKE Jörn Wunderlich Daniela Wagner Florian Hahn
Wolfgang Wieland Dr. Stephan Harbarth
Jan van Aken Dr. Valerie Wilms
BÜNDNIS 90/ Jürgen Hardt
Agnes Alpers Josef Philip Winkler
DIE GRÜNEN Gerda Hasselfeldt
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens Kerstin Andreae Dr. Matthias Heider
Karin Binder Marieluise Beck (Bremen) Nein Helmut Heiderich
Matthias W. Birkwald Volker Beck (Köln) Mechthild Heil
Heidrun Bluhm Cornelia Behm CDU/CSU Ursula Heinen-Esser
Steffen Bockhahn Birgitt Bender Rudolf Henke
Peter Altmaier
Christine Buchholz Alexander Bonde Michael Hennrich
Peter Aumer
Eva Bulling-Schröter Viola von Cramon-Taubadel Jürgen Herrmann
Thomas Bareiß
Dr. Martina Bunge Ekin Deligöz Ansgar Heveling
Norbert Barthle
Roland Claus Katja Dörner Günter Baumann Ernst Hinsken
(B) Dr. Diether Dehm Hans-Josef Fell Ernst-Reinhard Beck Peter Hintze (D)
Heidrun Dittrich Dr. Thomas Gambke (Reutlingen) Christian Hirte
Werner Dreibus Kai Gehring Manfred Behrens (Börde) Robert Hochbaum
Dr. Dagmar Enkelmann Katrin Göring-Eckardt Dr. Christoph Bergner Franz-Josef Holzenkamp
Klaus Ernst Britta Haßelmann Peter Beyer Joachim Hörster
Wolfgang Gehrcke Bettina Herlitzius Steffen Bilger Anette Hübinger
Nicole Gohlke Winfried Hermann Clemens Binninger Thomas Jarzombek
Diana Golze Priska Hinz (Herborn) Peter Bleser Dieter Jasper
Annette Groth Ulrike Höfken Dr. Maria Böhmer Dr. Franz Josef Jung
Dr. Gregor Gysi Dr. Anton Hofreiter Wolfgang Bosbach Andreas Jung (Konstanz)
Dr. Rosemarie Hein Bärbel Höhn Norbert Brackmann Dr. Egon Jüttner
Inge Höger Ingrid Hönlinger Klaus Brähmig Bartholomäus Kalb
Dr. Barbara Höll Thilo Hoppe Michael Brand Hans-Werner Kammer
Andrej Hunko Uwe Kekeritz Dr. Reinhard Brandl Alois Karl
Ulla Jelpke Katja Keul Helmut Brandt Bernhard Kaster
Dr. Lukrezia Jochimsen Memet Kilic Dr. Ralf Brauksiepe Siegfried Kauder (Villingen-
Jan Korte Sven-Christian Kindler Dr. Helge Braun Schwenningen)
Jutta Krellmann Maria Klein-Schmeink Heike Brehmer Volker Kauder
Caren Lay Ute Koczy Ralph Brinkhaus Dr. Stefan Kaufmann
Sabine Leidig Tom Koenigs Cajus Caesar Roderich Kiesewetter
Ralph Lenkert Sylvia Kotting-Uhl Gitta Connemann Eckart von Klaeden
Michael Leutert Oliver Krischer Alexander Dobrindt Ewa Klamt
Stefan Liebich Agnes Krumwiede Thomas Dörflinger Volkmar Klein
Ulla Lötzer Fritz Kuhn Marie-Luise Dött Jürgen Klimke
Dr. Gesine Lötzsch Stephan Kühn Dr. Thomas Feist Julia Klöckner
Thomas Lutze Renate Künast Enak Ferlemann Axel Knoerig
Dorothee Menzner Markus Kurth Hartwig Fischer (Göttingen) Jens Koeppen
Cornelia Möhring Undine Kurth (Quedlinburg) Dirk Fischer (Hamburg) Manfred Kolbe
Kornelia Möller Monika Lazar Dr. Maria Flachsbarth Dr. Rolf Koschorrek
Niema Movassat Agnes Malczak Klaus-Peter Flosbach Hartmut Koschyk
Wolfgang Nešković Jerzy Montag Herbert Frankenhauser Michael Kretschmer
Thomas Nord Kerstin Müller (Köln) Dr. Hans-Peter Friedrich Gunther Krichbaum
Petra Pau Beate Müller-Gemmeke (Hof) Dr. Günter Krings
Jens Petermann Ingrid Nestle Michael Frieser Bettina Kudla
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10935
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Dr. Hermann Kues Dr. Heinz Riesenhuber Ingo Wellenreuther Sebastian Körber (C)
Günter Lach Johannes Röring Peter Wichtel Holger Krestel
Dr. Karl A. Lamers Dr. Norbert Röttgen Annette Widmann-Mauz Patrick Kurth (Kyffhäuser)
(Heidelberg) Dr. Christian Ruck Klaus-Peter Willsch Heinz Lanfermann
Andreas G. Lämmel Erwin Rüddel Elisabeth Winkelmeier- Sibylle Laurischk
Dr. Norbert Lammert Albert Rupprecht (Weiden) Becker Harald Leibrecht
Katharina Landgraf Anita Schäfer (Saalstadt) Dagmar Wöhrl Sabine Leutheusser-
Ulrich Lange Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Matthias Zimmer Schnarrenberger
Dr. Max Lehmer Dr. Annette Schavan Wolfgang Zöller Lars Lindemann
Paul Lehrieder Dr. Andreas Scheuer Willi Zylajew Christian Lindner
Dr. Ursula von der Leyen Karl Schiewerling Dr. Martin Lindner (Berlin)
Ingbert Liebing Norbert Schindler FDP Michael Link (Heilbronn)
Matthias Lietz Tankred Schipanski Jens Ackermann Dr. Erwin Lotter
Dr. Carsten Linnemann Georg Schirmbeck Christian Ahrendt Oliver Luksic
Patricia Lips Christian Schmidt (Fürth) Christine Aschenberg- Horst Meierhofer
Dr. Jan-Marco Luczak Patrick Schnieder Dugnus Patrick Meinhardt
Daniela Ludwig Dr. Andreas Schockenhoff Daniel Bahr (Münster) Gabriele Molitor
Dr. Michael Luther Nadine Schön (St. Wendel) Florian Bernschneider Jan Mücke
Karin Maag Dr. Kristina Schröder Sebastian Blumenthal Petra Müller (Aachen)
Dr. Thomas de Maizière Dr. Ole Schröder Claudia Bögel Burkhardt Müller-Sönksen
Andreas Mattfeldt Bernhard Schulte-Drüggelte Nicole Bracht-Bendt Dr. Martin Neumann
Stephan Mayer (Altötting) Uwe Schummer Klaus Breil (Lausitz)
Dr. Michael Meister Armin Schuster (Weil am Rainer Brüderle Dirk Niebel
Dr. Angela Merkel Rhein) Angelika Brunkhorst Hans-Joachim Otto
Maria Michalk Detlef Seif Ernst Burgbacher (Frankfurt)
Dr. h. c. Hans Michelbach Johannes Selle Marco Buschmann Gisela Piltz
Philipp Mißfelder Reinhold Sendker Sylvia Canel Dr. Christiane Ratjen-
Dietrich Monstadt Dr. Patrick Sensburg Helga Daub Damerau
Marlene Mortler Bernd Siebert Reiner Deutschmann Dr. Birgit Reinemund
Dr. Gerd Müller Thomas Silberhorn Dr. Bijan Djir-Sarai Dr. Peter Röhlinger
Stefan Müller (Erlangen) Johannes Singhammer Patrick Döring Dr. Stefan Ruppert
Dr. Philipp Murmann Jens Spahn Rainer Erdel Björn Sänger
Bernd Neumann (Bremen) Carola Stauche Jörg van Essen Frank Schäffler
Michaela Noll Dr. Frank Steffel Ulrike Flach Christoph Schnurr
(B) Dr. Georg Nüßlein Erika Steinbach Otto Fricke Jimmy Schulz (D)
Franz Obermeier Christian Freiherr von Stetten Dr. Edmund Peter Geisen Marina Schuster
Eduard Oswald Dieter Stier Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Erik Schweickert
Henning Otte Gero Storjohann Hans-Michael Goldmann Werner Simmling
Dr. Michael Paul Stephan Stracke Heinz Golombeck Judith Skudelny
Rita Pawelski Max Straubinger Miriam Gruß Dr. Hermann Otto Solms
Ulrich Petzold Karin Strenz Joachim Günther (Plauen) Joachim Spatz
Sibylle Pfeiffer Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Christel Happach-Kasan Dr. Max Stadler
Beatrix Philipp Lena Strothmann Heinz-Peter Haustein Torsten Staffeldt
Ronald Pofalla Michael Stübgen Manuel Höferlin Dr. Rainer Stinner
Christoph Poland Antje Tillmann Elke Hoff Stephan Thomae
Ruprecht Polenz Dr. Hans-Peter Uhl Birgit Homburger Florian Toncar
Eckhard Pols Arnold Vaatz Dr. Werner Hoyer Serkan Tören
Thomas Rachel Stefanie Vogelsang Heiner Kamp Johannes Vogel
Dr. Peter Ramsauer Andrea Astrid Voßhoff Michael Kauch (Lüdenscheid)
Eckhardt Rehberg Marco Wanderwitz Dr. Lutz Knopek Dr. Daniel Volk
Katherina Reiche (Potsdam) Kai Wegner Pascal Kober Dr. Guido Westerwelle
Lothar Riebsamen Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Claudia Winterstein
Josef Rief Peter Weiß (Emmendingen) Gudrun Kopp Dr. Volker Wissing
Klaus Riegert Sabine Weiss (Wesel I) Dr. h. c. Jürgen Koppelin Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Ergebnis der siebten namentlichen Abstimmung, in gebene Stimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 273, mit
diesem Fall über den Entschließungsantrag der Fraktion Nein 311 Kolleginnen und Kollegen, es gab keine Ent-
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5052: abge- haltungen. Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
10936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Endgültiges Ergebnis Oliver Kaczmarek Kerstin Tack Michael Schlecht (C)
Abgegebene Stimmen: 584; Johannes Kahrs Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. Ilja Seifert
davon Dr. h. c. Susanne Kastner Franz Thönnes Kathrin Senger-Schäfer
Ulrich Kelber Wolfgang Tiefensee Raju Sharma
ja: 273
Lars Klingbeil Rüdiger Veit Dr. Petra Sitte
nein: 311 Hans-Ulrich Klose Ute Vogt Kersten Steinke
Dr. Bärbel Kofler Dr. Marlies Volkmer Sabine Stüber
Ja Daniela Kolbe (Leipzig) Andrea Wicklein Alexander Süßmair
Fritz Rudolf Körper Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Kirsten Tackmann
SPD Nicolette Kressl Dr. Dieter Wiefelspütz Frank Tempel
Angelika Krüger-Leißner Waltraud Wolff Dr. Axel Troost
Ingrid Arndt-Brauer (Wolmirstedt) Alexander Ulrich
Ute Kumpf
Rainer Arnold Uta Zapf Kathrin Vogler
Christine Lambrecht
Heinz-Joachim Barchmann Dagmar Ziegler Johanna Voß
Christian Lange (Backnang)
Doris Barnett Manfred Zöllmer Sahra Wagenknecht
Dr. Karl Lauterbach
Dr. Hans-Peter Bartels Brigitte Zypries Halina Wawzyniak
Steffen-Claudio Lemme
Klaus Barthel Harald Weinberg
Sören Bartol Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller DIE LINKE Jörn Wunderlich
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler Kirsten Lühmann Jan van Aken
Caren Marks BÜNDNIS 90/
Dirk Becker Agnes Alpers
Katja Mast DIE GRÜNEN
Uwe Beckmeyer Dr. Dietmar Bartsch
Lothar Binding (Heidelberg) Hilde Mattheis Herbert Behrens Kerstin Andreae
Gerd Bollmann Petra Merkel (Berlin) Karin Binder Marieluise Beck (Bremen)
Klaus Brandner Ullrich Meßmer Matthias W. Birkwald Volker Beck (Köln)
Willi Brase Dr. Matthias Miersch Heidrun Bluhm Cornelia Behm
Edelgard Bulmahn Franz Müntefering Steffen Bockhahn Birgitt Bender
Marco Bülow Dr. Rolf Mützenich Christine Buchholz Alexander Bonde
Martin Burkert Manfred Nink Eva Bulling-Schröter Viola von Cramon-Taubadel
Petra Crone Thomas Oppermann Dr. Martina Bunge Ekin Deligöz
Martin Dörmann Holger Ortel Roland Claus Katja Dörner
Elvira Drobinski-Weiß Aydan Özoğuz Dr. Diether Dehm Hans-Josef Fell
Garrelt Duin Heinz Paula Heidrun Dittrich Dr. Thomas Gambke
Sebastian Edathy Johannes Pflug Werner Dreibus Kai Gehring
Ingo Egloff Joachim Poß Dr. Dagmar Enkelmann Katrin Göring-Eckardt
(B) Siegmund Ehrmann Dr. Wilhelm Priesmeier Klaus Ernst Britta Haßelmann (D)
Dr. h. c. Gernot Erler Florian Pronold Wolfgang Gehrcke Bettina Herlitzius
Petra Ernstberger Dr. Sascha Raabe Nicole Gohlke Winfried Hermann
Karin Evers-Meyer Mechthild Rawert Diana Golze Priska Hinz (Herborn)
Elke Ferner Gerold Reichenbach Annette Groth Ulrike Höfken
Gabriele Fograscher Dr. Carola Reimann Dr. Gregor Gysi Dr. Anton Hofreiter
Dr. Edgar Franke Sönke Rix Dr. Rosemarie Hein Bärbel Höhn
Dagmar Freitag René Röspel Inge Höger Ingrid Hönlinger
Peter Friedrich Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Barbara Höll Thilo Hoppe
Sigmar Gabriel Karin Roth (Esslingen) Andrej Hunko Uwe Kekeritz
Michael Gerdes Michael Roth (Heringen) Ulla Jelpke Katja Keul
Martin Gerster Marlene Rupprecht Dr. Lukrezia Jochimsen Memet Kilic
Iris Gleicke (Tuchenbach) Jan Korte Sven-Christian Kindler
Günter Gloser Anton Schaaf Jutta Krellmann Maria Klein-Schmeink
Ulrike Gottschalck Axel Schäfer (Bochum) Caren Lay Ute Koczy
Angelika Graf (Rosenheim) Bernd Scheelen Sabine Leidig Tom Koenigs
Kerstin Griese Marianne Schieder Ralph Lenkert Sylvia Kotting-Uhl
Michael Groschek (Schwandorf) Michael Leutert Oliver Krischer
Michael Groß Werner Schieder (Weiden) Stefan Liebich Agnes Krumwiede
Wolfgang Gunkel Ulla Schmidt (Aachen) Ulla Lötzer Fritz Kuhn
Hans-Joachim Hacker Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Gesine Lötzsch Stephan Kühn
Bettina Hagedorn Carsten Schneider (Erfurt) Thomas Lutze Renate Künast
Klaus Hagemann Ottmar Schreiner Dorothee Menzner Markus Kurth
Michael Hartmann Swen Schulz (Spandau) Cornelia Möhring Undine Kurth (Quedlinburg)
(Wackernheim) Ewald Schurer Kornelia Möller Monika Lazar
Hubertus Heil (Peine) Frank Schwabe Niema Movassat Agnes Malczak
Dr. Barbara Hendricks Rolf Schwanitz Wolfgang Nešković Jerzy Montag
Gustav Herzog Stefan Schwartze Thomas Nord Kerstin Müller (Köln)
Gabriele Hiller-Ohm Rita Schwarzelühr-Sutter Petra Pau Beate Müller-Gemmeke
Petra Hinz (Essen) Dr. Carsten Sieling Jens Petermann Ingrid Nestle
Frank Hofmann (Volkach) Sonja Steffen Richard Pitterle Dr. Konstantin von Notz
Dr. Eva Högl Peer Steinbrück Yvonne Ploetz Omid Nouripour
Christel Humme Dr. Frank-Walter Steinmeier Ingrid Remmers Friedrich Ostendorff
Josip Juratovic Christoph Strässer Paul Schäfer (Köln) Dr. Hermann Ott
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10937
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) Lisa Paus Dr. Thomas Gebhart Dr. Norbert Lammert Dr. Kristina Schröder (C)
Brigitte Pothmer Norbert Geis Katharina Landgraf Dr. Ole Schröder
Tabea Rößner Alois Gerig Ulrich Lange Bernhard Schulte-Drüggelte
Claudia Roth (Augsburg) Eberhard Gienger Dr. Max Lehmer Uwe Schummer
Krista Sager Michael Glos Paul Lehrieder Armin Schuster (Weil am
Manuel Sarrazin Josef Göppel Dr. Ursula von der Leyen Rhein)
Elisabeth Scharfenberg Peter Götz Ingbert Liebing Detlef Seif
Christine Scheel Dr. Wolfgang Götzer Matthias Lietz Johannes Selle
Dr. Gerhard Schick Ute Granold Dr. Carsten Linnemann Reinhold Sendker
Dr. Frithjof Schmidt Reinhard Grindel Patricia Lips Dr. Patrick Sensburg
Dorothea Steiner Hermann Gröhe Dr. Jan-Marco Luczak Bernd Siebert
Dr. Wolfgang Strengmann- Michael Grosse-Brömer Daniela Ludwig Thomas Silberhorn
Kuhn Markus Grübel Dr. Michael Luther Johannes Singhammer
Hans-Christian Ströbele Manfred Grund Karin Maag Jens Spahn
Dr. Harald Terpe Monika Grütters Dr. Thomas de Maizière Carola Stauche
Markus Tressel Olav Gutting Hans-Georg von der Marwitz Dr. Frank Steffel
Jürgen Trittin Florian Hahn Andreas Mattfeldt Erika Steinbach
Daniela Wagner Dr. Stephan Harbarth Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten
Wolfgang Wieland Jürgen Hardt Dr. Michael Meister Dieter Stier
Dr. Valerie Wilms Gerda Hasselfeldt Dr. Angela Merkel Gero Storjohann
Josef Philip Winkler Dr. Matthias Heider Maria Michalk Stephan Stracke
Mechthild Heil Dr. h. c. Hans Michelbach Max Straubinger
Nein Ursula Heinen-Esser Philipp Mißfelder Karin Strenz
Frank Heinrich Dietrich Monstadt Thomas Strobl (Heilbronn)
CDU/CSU Rudolf Henke Marlene Mortler Lena Strothmann
Michael Hennrich Dr. Gerd Müller Michael Stübgen
Peter Altmaier Dr. Peter Tauber
Jürgen Herrmann Stefan Müller (Erlangen)
Peter Aumer Antje Tillmann
Ansgar Heveling Dr. Philipp Murmann
Thomas Bareiß Dr. Hans-Peter Uhl
Ernst Hinsken Bernd Neumann (Bremen)
Norbert Barthle Arnold Vaatz
Peter Hintze Michaela Noll
Günter Baumann Stefanie Vogelsang
Christian Hirte Dr. Georg Nüßlein
Manfred Behrens (Börde) Andrea Astrid Voßhoff
Robert Hochbaum Franz Obermeier
Dr. Christoph Bergner Marco Wanderwitz
Franz-Josef Holzenkamp Eduard Oswald
Peter Beyer Kai Wegner
Steffen Bilger Joachim Hörster Henning Otte
Anette Hübinger Dr. Michael Paul Marcus Weinberg (Hamburg)
(B) Clemens Binninger Peter Weiß (Emmendingen)
(D)
Peter Bleser Thomas Jarzombek Rita Pawelski
Dieter Jasper Ulrich Petzold Sabine Weiss (Wesel I)
Dr. Maria Böhmer Ingo Wellenreuther
Wolfgang Bosbach Dr. Franz Josef Jung Sibylle Pfeiffer
Andreas Jung (Konstanz) Beatrix Philipp Peter Wichtel
Norbert Brackmann Annette Widmann-Mauz
Klaus Brähmig Dr. Egon Jüttner Ronald Pofalla
Bartholomäus Kalb Christoph Poland Klaus-Peter Willsch
Michael Brand Elisabeth Winkelmeier-
Dr. Reinhard Brandl Hans-Werner Kammer Ruprecht Polenz
Alois Karl Eckhard Pols Becker
Helmut Brandt Dagmar Wöhrl
Dr. Ralf Brauksiepe Bernhard Kaster Thomas Rachel
Siegfried Kauder (Villingen- Dr. Peter Ramsauer Dr. Matthias Zimmer
Dr. Helge Braun Wolfgang Zöller
Heike Brehmer Schwenningen) Eckhardt Rehberg
Volker Kauder Katherina Reiche (Potsdam) Willi Zylajew
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar Dr. Stefan Kaufmann Lothar Riebsamen
Eckart von Klaeden Josef Rief FDP
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt Ewa Klamt Klaus Riegert Jens Ackermann
Thomas Dörflinger Volkmar Klein Dr. Heinz Riesenhuber Christian Ahrendt
Marie-Luise Dött Jürgen Klimke Johannes Röring Christine Aschenberg-
Dr. Thomas Feist Julia Klöckner Dr. Norbert Röttgen Dugnus
Enak Ferlemann Axel Knoerig Dr. Christian Ruck Daniel Bahr (Münster)
Hartwig Fischer (Göttingen) Jens Koeppen Erwin Rüddel Florian Bernschneider
Dirk Fischer (Hamburg) Manfred Kolbe Albert Rupprecht (Weiden) Sebastian Blumenthal
Dr. Maria Flachsbarth Dr. Rolf Koschorrek Anita Schäfer (Saalstadt) Claudia Bögel
Klaus-Peter Flosbach Hartmut Koschyk Dr. Wolfgang Schäuble Nicole Bracht-Bendt
Herbert Frankenhauser Michael Kretschmer Dr. Annette Schavan Klaus Breil
Dr. Hans-Peter Friedrich Gunther Krichbaum Dr. Andreas Scheuer Rainer Brüderle
(Hof) Dr. Günter Krings Karl Schiewerling Angelika Brunkhorst
Michael Frieser Rüdiger Kruse Norbert Schindler Ernst Burgbacher
Erich G. Fritz Bettina Kudla Tankred Schipanski Marco Buschmann
Dr. Michael Fuchs Dr. Hermann Kues Georg Schirmbeck Sylvia Canel
Hans-Joachim Fuchtel Günter Lach Christian Schmidt (Fürth) Helga Daub
Alexander Funk Dr. Karl A. Lamers Patrick Schnieder Reiner Deutschmann
Ingo Gädechens (Heidelberg) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Bijan Djir-Sarai
Dr. Peter Gauweiler Andreas G. Lämmel Nadine Schön (St. Wendel) Patrick Döring
10938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Rainer Erdel Dr. Heinrich L. Kolb Jan Mücke Werner Simmling (C)
Jörg van Essen Gudrun Kopp Petra Müller (Aachen) Judith Skudelny
Ulrike Flach Dr. h. c. Jürgen Koppelin Burkhardt Müller-Sönksen Dr. Hermann Otto Solms
Otto Fricke Sebastian Körber Dr. Martin Neumann Joachim Spatz
Dr. Edmund Peter Geisen Holger Krestel (Lausitz) Dr. Max Stadler
Dr. Wolfgang Gerhardt Patrick Kurth (Kyffhäuser) Dirk Niebel Torsten Staffeldt
Hans-Michael Goldmann Heinz Lanfermann Hans-Joachim Otto
Dr. Rainer Stinner
Heinz Golombeck Sibylle Laurischk (Frankfurt)
Miriam Gruß Harald Leibrecht Gisela Piltz Stephan Thomae
Joachim Günther (Plauen) Sabine Leutheusser- Dr. Christiane Ratjen- Florian Toncar
Dr. Christel Happach-Kasan Schnarrenberger Damerau Serkan Tören
Heinz-Peter Haustein Lars Lindemann Dr. Birgit Reinemund Johannes Vogel
Manuel Höferlin Christian Lindner Dr. Peter Röhlinger (Lüdenscheid)
Elke Hoff Dr. Martin Lindner (Berlin) Dr. Stefan Ruppert Dr. Daniel Volk
Birgit Homburger Michael Link (Heilbronn) Björn Sänger Dr. Guido Westerwelle
Dr. Werner Hoyer Dr. Erwin Lotter Frank Schäffler Dr. Claudia Winterstein
Heiner Kamp Oliver Luksic Christoph Schnurr Dr. Volker Wissing
Michael Kauch Horst Meierhofer Jimmy Schulz Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Dr. Lutz Knopek Patrick Meinhardt Marina Schuster
Pascal Kober Gabriele Molitor Dr. Erik Schweickert

Wir fahren nun in der Debatte fort. Das Wort hat der von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion. Sondern?)
(Beifall bei der SPD) Sie rechnen ununterbrochen hin und her und versuchen,
für die eigene Fraktion in den Verhandlungen den größt-
Thomas Oppermann (SPD): möglichen Vorteil herauszuholen. Sie können sich aber
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Krings, vielen nicht einigen. Das, Herr Krings, ist kein angemessener
Dank für Ihre Offenheit. Nach der wortreichen Kritik am Umgang mit dem Wahlrecht.
Gesetzentwurf der Grünen haben Sie kurz vor Schluss
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) Ihrer Rede in zwei einfachen Sätzen doch noch die Ho- DIE GRÜNEN) (D)
sen heruntergelassen
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So würde ich Das Wahlrecht ist nicht irgendein Recht. Nach unserer
es nicht ausdrücken!) Verfassung geht die Staatsgewalt vom Volke aus,
und etwas eingeräumt. Sie haben keine Lösung, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ich begrüße
das!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Noch! Noch
keine!) und sie wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen
Sie können nichts vorlegen. Nachdem das Bundesverfas- ausgeübt.
sungsgericht vor fast drei Jahren entschieden hat, dass (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr gut!)
unser Wahlrecht in Teilen nicht der Verfassung ent-
spricht und repariert werden muss, haben Sie jetzt, drei Also: Wahlen sind Verfassungsrecht. Wahlen sind De-
Monate vor Ablauf der gesetzten Frist, keine Lösung. mokratierecht. Das Wahlrecht muss so gestaltet werden,
Ich muss sagen: Das ist armselig. dass das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unserer De-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mokratie nicht beeinträchtigt wird.
DIE GRÜNEN) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Genau das
Wir haben Ihnen schon direkt nach der letzten Bun- habe ich vorgetragen!)
destagswahl Gespräche angeboten. Wir haben auch Ge-
spräche mit Ihnen geführt. Wir haben als Opposition Wenn sich die Bürgerinnen und Bürger das Wahlge-
Vorschläge gemacht. setz anschauen, dann stellen sie fest: Dort steht, dass die
gesetzliche Zahl der Mitglieder des Deutschen Bundes-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch nicht tages 598 beträgt. 299 Abgeordnete werden in Wahlkrei-
so tolle!) sen direkt gewählt, und 299 werden mit der Zweit-
stimme über die Landeslisten gewählt. Würde man bei
Aber Sie haben dieses Thema vertagt. Seit drei Monaten
voll besetztem Plenum nachzählen, würde man feststel-
führen Sie keine Gespräche mehr, weil Sie, Union und
len: Es sind nicht 598 Abgeordnete, sondern 621. Vor
FDP, sich untereinander nicht einigen können.
14 Tagen waren es noch 622. Dann ist allerdings der
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Darum geht Freiherr von und zu Guttenberg zurückgetreten und hat
es nicht! – Gegenruf des Abg. Dr. Konstantin sein Bundestagsmandat niedergelegt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10939
Thomas Oppermann
(A) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Deshalb ha- Davon hat in der Vergangenheit auch die SPD profi- (C)
ben Sie ihn so angegriffen! Das war der tiert.
Grund, das Überhangmandat!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!)
Normalerweise kommt dann ein Nachrücker von der
Das macht die Sache aber nicht gut, Herr Kollege, und
Landesliste und ersetzt den Abgeordneten, der sein Man-
deshalb plädieren wir auch mit Blick darauf, dass die
dat niedergelegt hat. Bei Herrn zu Guttenberg ist das
SPD nach den augenblicklichen Umfragen schon wieder
nicht passiert. Das liegt jetzt nicht an der Einzigartigkeit
in den Genuss von Überhangmandaten kommen würde,
oder Unersetzlichkeit von Herrn zu Guttenberg, sondern
dafür, neben dem negativen Stimmgewicht gleichzeitig
daran, dass Herr zu Guttenberg aus einem Landesver-
die grob ergebnisverzerrende Wirkung von Überhang-
band kommt, nämlich aus Bayern,
mandaten zu beseitigen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist kein Lan-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
desverband!)
NEN]: Sehr gut!)
wo die CSU drei Überhangmandate erzielt hat. Solange
Wir machen dies also auch zu unserem eigenen Nachteil
es Überhangmandate gibt, werden verlorene Mandate in-
für den Fall, dass wir wieder in den Genuss von Über-
folge von Mandatsniederlegungen nicht ersetzt. Das
hangmandaten kommen sollten.
heißt, der Deutsche Bundestag ist eine variable Größe.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr großzügig!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: In der Demo-
kratie ist das so! Demokratie ist eine variable Das kann also kein Maßstab sein.
Größe!)
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Mit welchem Vor-
Wir werden schon in 14 Tagen das zweite Schauspiel schlag denn?)
erleben: Dann wird Frau Julia Klöckner,
Wir dürfen das nicht allein durch die parteipolitische
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ministerprä- Brille betrachten, sondern wir sollten mit Sorge sehen,
sidentin!) dass im Fünfparteiensystem, das wir bedauerlicherweise
haben
wenn sie als Oppositionsführerin in den rheinland-pfäl-
zischen Landtag wechselt, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sechs Parteien!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Als Minister- – ja, mit der CSU ist es sogar ein Sechsparteiensystem –,
präsidentin!) der Trend zum Stimmensplitting stärker ausgeprägt sein
(B) wird. (D)
ihr Mandat niederlegen, und – das werden Sie feststellen –
auch für sie rückt niemand nach. (Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Was schlagen Sie
denn vor?)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Seien Sie
doch froh! Das ist ein Geschenk an Sie!) Die Konsequenz wird sein, dass wir noch mehr Über-
hangmandate bekommen, und der Kollege Beck hat
Denn auch in Rheinland-Pfalz hatte die CDU Überhang- schon darauf hingewiesen: Es besteht die konkrete Ge-
mandate. fahr, dass Regierungsmehrheiten nach Zweitstimmen
Insgesamt hat die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen durch Überhangmandate umgedreht werden können und
Bundestag 24 Überhangmandate. wir dann eine in ihrer Legitimität angezweifelte Mehr-
heit haben. Darauf eine Regierung zu stützen, würde
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So viele wie Deutschland ganz sicher direkt in die Verfassungskrise
Sie damals aus Niedersachsen!) führen.
So viele gab es im Deutschen Bundestag noch nie. Deshalb sagen wir: Die Überhangmandate müssen
wir jetzt gleich mit angehen. 24 Überhangmandate, die
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Etwa so viele Sie jetzt haben, das bewegt sich schon sehr stark auf die
hatte die SPD auch, fast!) Fünfprozentgrenze zu. Mit anderen Worten: Die Inhaber
Um 24 Überhangmandate durch Zweitstimmen zu erzie- von Überhangmandaten sind so etwas wie die sechste
len, müsste man 1,6 Millionen Zweitstimmen erhalten. oder, wie Sie wollen, siebte Fraktion hier im Deutschen
Sie haben 24 Extra-Mandate, für die Sie keinerlei Wäh- Bundestag. Sie sind ein Fremdkörper in unserem Wahl-
ler aktivieren mussten. recht. Es geht jetzt darum, die Gelegenheit der verfas-
sungsrechtlichen Reparatur des Wahlrechts zu nutzen,
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Unsinn!) um diesen Fremdkörper aus unserem Wahlrecht zu ent-
fernen.
Das ist eine grobe Verzerrung des politischen Wähler-
willens in Deutschland. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Ruppert [FDP]:
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Und wie wollen Sie es machen?)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter
Krings [CDU/CSU]: Nur die SPD-Überhang- Wir schlagen deshalb vor, dass Überhangmandate
mandate waren gut!) durch Ausgleichmandate kompensiert werden sollen.
10940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Thomas Oppermann
(A) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Oh! Ein grö- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist doch (C)
ßerer Bundestag! Der Bundestag wird groß!) Quatsch! Das ist nicht so! Das stimmt nicht!)
Allerdings ist auch das kein Vorschlag, der überhaupt Das würde zu ganz erheblichen Konsequenzen führen.
keine Probleme mit sich bringt. Es gibt übrigens keine
Lösung ohne Probleme; das muss man fairerweise ein- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Die Fünfpro-
mal sagen. zentklausel bleibt bundesweit!)

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Okay! Das Es ist so, dass wir ein Bundesstaat sind und ein Bun-
ist ein wahres Wort!) desvolk haben. Ihr Vorschlag bedeutete also eine Föde-
ralisierung unseres Wahlrechtes, und die Konsequenz
Auch das, was Sie überlegen, hat positive, aber auch ne- wäre auch, dass die Fünfprozentklausel dann natürlich
gative Ansätze. nicht mehr bundesweit,
Wir wollen Ausgleichsmandate schaffen, sodass die (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Doch! Natür-
Proportionalität der abgegebenen Zweitstimmen wieder- lich! Das entscheiden wir doch hier! Das ist
hergestellt wird, damit sich der Deutsche Bundestag so doch Unsinn!)
zusammensetzt, wie es die Wählerinnen und Wähler mit
ihren Zweitstimmen entschieden haben. Das ist unser sondern landesweit gelten würde.
Ziel. Wir wollen Ausgleichsmandate für die Überhang- (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Quatsch!)
mandate schaffen. Wir wissen: Bei 24 Überhangmanda-
ten kommt man auf ungefähr 45 Ausgleichsmandate. Das heißt, eine verfassungsfeindliche und verfassungs-
widrige Partei wie die NPD – noch ist das leider nicht
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Eher mehr!) festgestellt worden – würde dann in den Ländern, in de-
Das würde zu einer erheblichen Vergrößerung des Deut- nen sie Chancen hat, in den Deutschen Bundestag einzu-
schen Bundestages führen. ziehen, Schwerpunktwahlkämpfe durchführen.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aha!) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das ist doch un-
sere Entscheidung hier beim Wahlgesetz!)
Das streben wir jedoch nicht an. Deshalb sagen wir:
In der übernächsten Wahlperiode müssen wir uns an die Bewahren Sie uns vor einem solchen Wahlrecht mit sol-
Arbeit machen und die Zahl der Wahlkreise verringern. chen Konsequenzen. Bitte nicht!

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Alle Wahl- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
kreise neu?) DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/
(B) CSU]: Sie sehen Hasen! Das ist völliger Un- (D)
– Nein, nicht alle Wahlkreise, aber es ist ein erhebliches sinn!)
Stück Arbeit.
Ich meine, wir sollten alles dafür tun, dass wir am
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Alle Wahl- Ende zu einer einvernehmlichen Lösung kommen. Wir
kreise? Viel Spaß!) streben das nach wie vor an.
– Wenn Sie ein demokratisches Wahlergebnis auch im Wir sind davon überzeugt, dass wir uns mit unserem
Deutschen Bundestag abgebildet haben wollen, dann Vorschlag nicht zu 100 Prozent durchsetzen können,
müssen Sie sich schon Mühe geben. Im Augenblick ist aber ich glaube, es wäre für die Demokratie gut, wenn
das jedenfalls nicht so. – Das ist also unser Vorschlag. wir uns über die grundsätzlichen Spielregeln, wie politi-
scher Einfluss in Deutschland demokratisch verteilt wer-
Was die Grünen vorschlagen, ist eine mögliche Lö-
den soll, vernünftig verständigen könnten. Wir sind dazu
sung, aber nicht die beste. Die Konsequenz, dass ein di-
bereit. Sie müssen sich jetzt aber ein bisschen bewegen;
rekt gewählter Abgeordneter sein Mandat hier nicht
in drei Monaten läuft die Frist ab.
übernehmen kann, ist jedenfalls nicht basisdemokra-
tisch. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dreieinhalb!)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nachdem schon bei den Neuregelungen zu Hartz IV
NEN]: Na ja! In dem Moment ist er noch nicht die Frist um Monate versäumt wurde, sollten wir nicht
direkt gewählt!) erneut eine vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist
verstreichen lassen und dadurch das Bundesverfassungs-
Ich darf hier an eine der vier Wurzeln der Grünen erin-
gericht missachten. Bewegen Sie sich also! Wir sind zu
nern. Immerhin ist das aber ein Vorschlag. Sie haben da-
gegen noch gar keinen Vorschlag. Verhandlungen bereit.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Doch, aber Vielen Dank.


keinen vorgelegt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Herr Krings, ich darf jetzt einmal an das anknüpfen, DIE GRÜNEN)
was Sie bisher zur Diskussion gestellt haben, dass Sie als
Koalition nämlich darüber nachdenken, das deutsche Vizepräsidentin Petra Pau:
Wahlvolk auf 16 autonome Teilgebiete zu verteilen, die Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Dr. Ruppert das
rechtlich voneinander abgegrenzt sind. Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10941
Vizepräsidentin Petra Pau
(A) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz könne man liefern, aber Gesprächsbedarf sei derzeit (C)
Josef Jung [CDU/CSU]) nicht vorhanden.
(Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!)
Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Mehrere Initiativen gerade von mir und meiner Frak-
Herren! Das Wahlrecht – das haben alle Vorredner zu tion, auf die Grünen zuzugehen, und alle Gesprächsan-
Recht betont – ist einerseits ein hochpolitisches Recht, gebote haben Sie abgelehnt. Gleiches ist mir mit dem
das andererseits aber möglichst im breiten Konsens aller Kollegen Wieland als zuständigem Berichterstatter pas-
Demokraten zu regeln ist. Es ist so etwas wie die Gram- siert, der auch zweimal Gesprächsangebote abgelehnt
matik des demokratischen Diskurses. Der Bürger muss hat. Deshalb sollten Sie nicht so tun, als ob Sie keine Ge-
diese Regeln kennen und verinnerlichen. Er muss wis- sprächsangebote bekommen hätten.
sen, wie sich sein Wahlverhalten in ein konkretes Wahl- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
ergebnis umsetzt und was seine Erst- und seine Zweit-
stimme inhaltlich bewirken. Wenn man das ernst nimmt,
Vizepräsidentin Petra Pau:
dann muss man wissen, dass jedwede Änderung am
Wahlrecht auch Auswirkungen auf eine eingeübte Praxis Kollege Ruppert, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Wählers hat: Der Wähler muss sich bei der Beant- des Kollegen Beck?
wortung der Frage, wie er nun in Zukunft wählen muss,
umstellen. Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Ja, gerne.
Ich glaube, hier ist es wie mit der Grammatik der
Sprache oder der Rechtschreibung: Abrupte Änderungen
und ein Systemwechsel – bei einem an sich bewährten Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Wahlrecht – bieten sich hier nicht an, weil wir damit Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich,
auch an der Legitimation des Verfahrens rütteln würden. nachdem wiederholt die angesetzten Gespräche abgesagt
und die bereits für den Dezember versprochenen Formu-
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE lierungen der Koalition weder im Dezember noch im Ja-
GRÜNEN]: Bleiben wir also bei einem Wahl- nuar oder Februar übermittelt wurden, den Parlamentari-
gebiet!) schen Geschäftsführern mitgeteilt habe, dass wir unseren
Vorschlag zur Debatte stellen werden, damit das Gesetz-
Deswegen sollten wir aus meiner Sicht keinen System-
gebungsverfahren eingeleitet wird?
wechsel vornehmen, obwohl uns das Bundesverfas-
(B) sungsgericht klar gesagt hat, dass die Bandbreite mögli- Wir haben ausdrücklich betont, dass wir jederzeit zu (D)
cher Wahlsysteme in der Bundesrepublik, die Gesprächen bereit sind. Aber da die Gesprächstermine
verfassungsgemäß wären, durchaus groß ist. abgesagt und die zugesagten Formulierungen nicht über-
mittelt wurden – das ist aber notwendig, damit die Dis-
Ich bin der festen Überzeugung, dass sich dieses
kussion über die Vorschläge der Koalition stattfinden
Wahlrecht bewährt hat und dass wir deswegen den Auf-
kann –, haben wir gesagt: Jetzt müssen wir das Gesetz-
trag des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass nehmen
gebungsverfahren einleiten, damit das Hohe Haus die
müssen, sozusagen minimalinvasiv an der Stelle gegen
wahlrechtlichen Fragen in angemessener Form prüft.
das Problem vorzugehen, an der es entsteht.
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
Ich zitiere aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil der Weg, den unser Gesetzentwurf vorsieht, am Schluss
– das hätte Herr Beck vielleicht auch noch einmal lesen des Urteils ausdrücklich als eine der zwei Hauptideen
sollen –: des Verfassungsgerichtes hierzu erwähnt wird? An ande-
Der Effekt des negativen Stimmgewichts lässt sich rer Stelle werden noch weitere Ideen wie das Graben-
daher nicht isoliert beheben, sondern erfordert wahlsystem erwähnt, denen wir beide als Vertreter klei-
grundlegende Vorarbeiten, die die verschiedenen nerer Parteien wahrscheinlich nicht nähertreten wollen.
Vor- und Nachteile in den Blick nehmen. Wir sind auch zu Gesprächen mit Ihnen jederzeit be-
Leider sind die Grünen diesem Rat nicht gefolgt; sie ha- reit. Das ist aber nur dann sinnvoll, wenn wir den Vor-
ben isoliert einen einzelnen Vorschlag vorgelegt. schlag der Koalition kennen und wissen, ob es auf der
Grundlage dieses Vorschlags Gesprächsmöglichkeiten
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE und Veränderungsmöglichkeiten gibt. Bislang steht die
GRÜNEN]: Zwei Vorschläge, wo Sie nicht Koalition beim Wahlrecht nackt da.
mal einen haben, wäre zu viel verlangt!)
Was mich daran auch in kollegialer Hinsicht ausge- Dr. Stefan Ruppert (FDP):
sprochen ärgert, ist, dass das Zugehen auf Herrn Beck Sehr geehrter Herr Beck, zunächst einmal muss man
am Rande des Plenarsaals, das Telefonieren mit seinem festhalten: Alle angebotenen Gespräche wurden Ihrer-
Büro und die Gesprächsangebote bei allen gleichen Inte- seits abgesagt. Ich habe mehrere Fachgespräche mit Ver-
ressen, die wir beide als Vertreter kleiner Parteien durch- fassungsrechtlern und Mathematikern geführt und ver-
aus haben – auch wenn Sie sich derzeit stärker fühlen sucht, mich tief in das Thema hineinzudenken. Ich habe
mögen, als Sie sind –, immer huldvoll mit der Aussage daran Interesse als Demokrat, der zwar nicht persönlich,
beantwortet wurde, die Zahlen bzw. Berechnungen aber aus historischer Sicht die Situation einer Großen
10942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Stefan Ruppert


(A) Koalition kennt, bei der es in den 60er-Jahren seitens der gekommen. Das lag nicht an den Berichterstattern. Ich (C)
Volksparteien Initiativen zur Änderung des Wahlrechts habe zum Beispiel mit Frau Fograscher sehr interessante
gegeben hat. Ich war bereit, mit Ihnen darüber ins Ge- Gespräche geführt, in denen wir uns über diese Pro-
spräch zu kommen. bleme ausgetauscht haben. Frau Fograscher sagt die Ter-
mine also nicht ab.
Wie Sie und auch Herr Oppermann richtig gesagt ha-
ben, gibt es nicht die eine Lösung, die alle Probleme be- Insofern glaube ich, dass es noch nicht zu spät, aber
hebt. Aber wir müssen miteinander darüber reden, wel- an der Zeit ist, jetzt zu einer Lösung zu kommen, die
che Vor- und Nachteile bestehen. Das geht aber nicht, nicht nur punktuell ein Problem in den Blick nimmt, wie
wenn Sie jeden Gesprächstermin absagen. Sie es getan haben, sondern die mehrere Dinge beachtet:
Berliner Zweitstimme – das haben Sie aus meiner Sicht
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
völlig zu Recht und richtig mit gelöst –, Wahlprüfung,
GRÜNEN]: Ich rede mit Ihrem Verhandlungs-
Wahlzulassung sowie die Frage des negativen Stimmge-
führer!)
wichts.
– Zwei Termine haben Sie abgesagt, einen hat Herr
Wieland abgesagt. Bei Ihrem Vorschlag haben Sie leider einen Fehler ge-
macht. Sie haben sich zwei Berater geholt – so lese ich es
(Widerspruch des Abg. Thomas Oppermann zumindest –, nämlich Herrn Meyer und Herrn Pukelsheim.
[SPD]) Herr Pukelsheim wird im Vorschlag zur 16. Legislatur-
periode erwähnt, Herr Meyer im zweiten Teil, mit dem
Jetzt kommen wir zu Ihrem Vorschlag. Zunächst ein-
Sie die CSU-Überhangmandate adressieren. Sie haben
mal muss man noch einen Aspekt isoliert betrachten. Die
nur leider den Fehler gemacht, dass Sie die beiden pro-
OSZE hat uns kritisiert, weil wir die Wahlzulassung und
blematischsten Teile von deren Vorschlägen kombiniert
Wahlprüfung in Deutschland nicht regeln. In einem Be-
haben. Das hat Ihnen Herr Krings sachlich richtig und
richt zur Bundestagswahl 2009 hat die OSZE festge-
nachvollziehbar vorgeführt.
stellt, dass weder die Wahlzulassung noch die Wahlprü-
fung in Deutschland ausreichend geregelt sind. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Unser Verfassungsgericht ist zwar mit den bestehen- NEN]: Sachlich war das nicht!)
den Regelungen einverstanden, wie wir wissen, aber es Sie haben die beiden verfassungsrechtlich prekärsten
ist kein Ruhmesblatt, sage ich, wenn etwa im Falle der Dinge kombiniert und kommen so zu einer Lösung, die
Pauli-Partei keine Möglichkeit besteht, gegen eine Ent- in dieser Form sicherlich nicht verfassungsgemäß wäre.
scheidung des Bundeswahlausschusses vorzugehen. Das
wurde uns auch mehrfach ins Stammbuch geschrieben. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
(B) GRÜNEN]: Jetzt kommen Sie mal mit Ihrer (D)
Aber leider verlieren Sie im grünen Gesetzentwurf kein
einziges Wort zu diesem dringenden und wichtigen Lösung!)
rechtsstaatlichen Problem. 342 000 Wähler in Brandenburg sollen genauso viel
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Gewicht haben wie 62 000 Wähler in Baden-Württem-
GRÜNEN]: Wo ist Ihr Wort dazu? Das ist das, berg. Sie wollen doch wohl nicht sagen, dass Sie das
was interessiert!) Problem des negativen Stimmgewichts auf der einen
Seite beheben, um dann einen derart ungleichen Erfolgs-
Ich kann Ihnen sagen – auch das hätte ich in den Ge- wert an anderer Stelle wieder einzuführen? Wenn Sie das
sprächen mit Ihnen gern erörtert –: nachrechnen würden, würden Sie selbst feststellen, dass
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ein solcher Vorschlag untragbar und grotesk ist.
GRÜNEN]: Ich treffe mich mit Ihnen! Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ruppert, sprechen Sie mich an!)
Auch beim Problem der Überhangmandate kurieren
In der Tat gibt es auch dort große fachliche Schwierig- Sie ein Phänomen,
keiten. In ein knappes zeitliches Verfahren mit 72 Tagen
vor der Wahl müssen Sie die Zulassung eines Rechts- (Zuruf von der CDU/CSU: Einen Fehler mit
schutzes etwa zum Bundesverwaltungsgericht integrie- dem nächsten!)
ren. über das man durchaus reden kann. Aber mit der födera-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE len Unwucht, die dadurch entsteht, führen Sie einen
GRÜNEN]: Die Welt ist kompliziert!) neuen Fehler ein.
Sie müssen das auch in Einklang mit Art. 41 GG brin- (Thomas Oppermann [SPD]: Entsteht bei Aus-
gen, der die Wahlprüfung dem Bundesverfassungsge- gleichsmandaten aber nicht!)
richt und dem Bundestag und nicht etwa dem Bundes- – Genau, darauf komme ich noch zu sprechen. Sie ent-
verwaltungsgericht zuweist. steht bei Ausgleichsmandaten nicht.
Also liegen viele Probleme im Detail. Sie wären es
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wert, fachlich, in aller Ruhe und möglichst konsens- NEN]: Aber vergrößert den Bundestag!)
orientiert debattiert zu werden. Nur, dazu sind wir – viel-
leicht bin ich zu sehr von der Perspektive des kleinen Insofern ist die Lösung mit Blick auf die Ausgleichs-
Berichterstatters geprägt – meiner Meinung nach nicht mandate eindeutig zu bevorzugen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10943
Dr. Stefan Ruppert
(A) Allerdings – jetzt komme ich auf die Ausgleichsman- ßerung des Parlaments. In dem anderen Fall, dass keine (C)
date zu sprechen – kurieren die Ausgleichsmandate, Überhangmandate auftreten, gibt es diesen Hebel nicht.
Herr Oppermann, im strengen Wortsinn der Entschei- Deswegen kuriert Ihr Vorschlag, den Bundestag auf 450
dung des Bundesverfassungsgerichts das negative oder 500 Mitglieder zu verkleinern, das Problem in der
Stimmgewicht nicht. Sache nicht ernsthaft. Verkleinern Sie den Bundestag auf
500 Mitglieder, dann bleiben Sie in dem einen Fall bei
(Thomas Oppermann [SPD]: Doch!) 500, in dem anderen Fall aber erreichen Sie 680 Mitglie-
Sie kurieren das Ergebnis und das Verhältnis untereinan- der. Diese Bandbreite zu erklären, ist meiner Meinung
der, also sozusagen die Folgen. Wenn man nur den ein- nach nur schwer möglich.
zelnen Abgeordneten betrachtet, bleibt das folgende (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Phänomen: Es kann sich schädlich auswirken, dass ein NEN]: Das gibt es bei Landesparlamenten
CDU-Wähler die CDU gewählt hat, weil er seiner Partei auch!)
in der Summe aller Mandate ein Mandat weniger be-
schert hat. Ich will einige Takte zu dem sagen, was meiner Mei-
nung nach jetzt folgen muss. Es gibt einen relativ schma-
(Thomas Oppermann [SPD]: Aber nicht im len Korridor von denkbaren Lösungsansätzen.
Ergebnis!)
Sie haben das Trennungsmodell angeführt. Bei einem
– Doch. unitarischen Wahlvorgang ist es uns aus meiner Sicht
(Thomas Oppermann [SPD]: Nein!) möglich, die 5-Prozent-Hürde auf die Bundesebene zu
verlagern. Das ist kein verfassungsrechtliches Problem.
– In der Summe wird es ein Mandat weniger. Sie kurie- Es gibt aber bei sehr kleinen Wahlgebieten verfassungs-
ren dann die Folgen, indem Sie das wieder in ein richti- rechtliche Probleme, weil die 5-Prozent-Hürde dort fak-
ges Verhältnis zueinander setzen. Aber wenn Sie den tisch angehoben wird.
Wortlaut der Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richts lesen, müssen Sie zumindest darüber diskutieren, Sie können ein Ausgleichsmodell erarbeiten, das nur
ob das wirklich das Problem beseitigt. Sonst wäre Ihr einen geringeren Ausgleich vorsieht, oder bei Ihrem
Vorschlag meiner Ansicht nach einer der wichtigen, die Ausgleichsmodell Modifikationen vornehmen.
zu debattieren sind. All diese Systeme führen verfassungsrechtlich aber
Allerdings setzten Sie sich einem Vorwurf aus; das zu Kollateralschäden, die es gegeneinander abzuwägen
hat der Kollege Krings auch schon in einem Zwischenruf gilt. Das hätten wir lieber im Gespräch miteinander und
gesagt. Wenn Sie ausgleichen, gibt es in einem Bundes- nicht im Streit untereinander gemacht.
(B) tag, der viele Überhangmandate umfasst, einen sehr gro- (D)
(Thomas Oppermann [SPD]: Aber wir können
ßen Hebel für den Ausgleich. ja noch reden!)
Ich nenne Ihnen ein Beispiel, das man der CSU nicht Insofern fand ich das Vorpreschen gerade für eine Partei
wünschen will; das wird nie passieren, keine Angst. Sie wie die Grünen, die an einem demokratischen Konsens
sinkt bei den Zweitstimmen auf 30 Prozent ab. interessiert ist, äußerst unangebracht. Wir sollten den
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Noch zu viel! – Diskussionsprozess insofern jetzt beschleunigen und in-
Thomas Oppermann [SPD]: Ganz kurz davor!) tensivieren.

Das ist wirklich ein rein hypothetisches Modell. Nehmen (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir also an, sie sinkt auf 30 Prozent ab, gewinnt aber NEN]: Steht doch selbst in unserem Entwurf
nach wie vor alle Wahlkreise. Dann werden nach dem drin!)
Modell der Grünen reihenweise die Mandate ihrer direkt Vielen Dank.
gewählten Abgeordneten aberkannt, was sicherlich – das
hat Herr Krings schon gesagt – zu untragbaren Ergebnis- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sen führt.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin
NEN]: Immer attraktiver, unser Modell!) Wawzyniak das Wort.
Aber nicht nur das: Sie erzielt auch 15 oder 16 Über- (Beifall bei der LINKEN)
hangmandate, die dann im Verhältnis zu einer Partei wie
der SPD, die vielleicht 45 Prozent erreicht hat, ausgegli-
Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
chen werden müssen. Das bedeutete, dass Sie alleine für
die SPD einen Ausgleich von 60 oder 70 Mandaten Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
schaffen müssten. Herren! Wir Linken wollen ein einfaches, demokrati-
sches und transparentes Wahlrecht. Die Vorschläge der
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist leis- Linken hierzu kommen ungefähr ab Minute sieben mei-
tungsgerecht! – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/ ner Rede.
CSU]: Das hätte die gerne!)
Die Bürgerinnen und Bürger können derzeit maximal
Das heißt in dem einen Fall, dass Überhangmandate alle vier Jahre direkt auf Politik Einfluss nehmen, indem
auftreten, erzeugen Sie einen enormen Hebel zur Vergrö- sie uns für vier Jahre ein Mandat geben. Fakt ist: Das
10944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Halina Wawzyniak
(A) Wahlrecht ist unübersichtlich und kompliziert. Doch re- der hat die CSU zu viele Listenmandate, und deswegen (C)
den wir bedauerlicherweise nicht deshalb hier darüber, sitzt Herr Singhammer jetzt nicht im Parlament“? Ganz
sondern – das ist zu Recht gesagt worden – weil uns das ehrlich, wer soll denn nach so einer Entscheidung noch
Bundesverfassungsgericht einen Auftrag gegeben hat, einmal wählen gehen?
nämlich den Auftrag, das Problem zu lösen, dass unter
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Umständen ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem
neten der CDU/CSU und der FDP)
Verlust an Sitzen der Landesliste oder ein Verlust an
Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landes- Ich finde, ein CSU-Bashing ist an der einen oder anderen
liste führt. Das nennt man negatives Stimmgewicht der Stelle angebracht, aber bitte bei Inhalten und nicht bei so
Zweitstimmen, also der Stimmen, die man für die Lan- einem wichtigen Punkt wie dem Wahlrecht.
desliste einer Partei abgibt.
(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er-
Das Bundesverfassungsgericht hat uns vorgegeben, langen] [CDU/CSU]: Gott sei Dank sind wir
bis zum 30. Juni eine Lösung zu finden. Die Grünen ha- von Ihnen nichts anderes gewohnt!)
ben dankenswerterweise wenigstens einen Vorschlag auf
den Tisch gelegt, auch wenn dieser nicht wirklich über- Jetzt lassen wir das Verfassungsrecht einmal kurz bei-
zeugend ist. Was wollen die Grünen? Die Grünen wol- seite und betrachten ein politisches Argument gegen das
len, dass die Direktmandate auf das Zweitstimmenergeb- Argument der Grünen. Die Nichtanerkennung gewonne-
nis auf Bundesebene angerechnet werden, und einige ner Direktmandate stärkt das Parteimonopol. Querköpfe
von diesen, wenn man mehr Direktmandate als Zweit- in den eigenen Reihen finden häufig keinen Platz auf den
stimmen bundesweit hat, wegfallen. Aus diesen bundes- Landeslisten, sondern gewinnen Mandate meist direkt.
weit so errechneten Sitzen der Parteien werden dann Die Stimmen für diese Kandidaten würden bei Verab-
wieder per Verhältnisrechnung die Sitze auf Landes- schiedung dieses Gesetzentwurfs unter Umständen über-
ebene bestimmt. Ob der Vorschlag verfassungsgemäß ist haupt nicht mehr zur Geltung kommen. Ich finde, an die-
– darauf ist hier schon hingewiesen worden –, muss be- ser Stelle werfen Sie, die Grünen, das Problem der
zweifelt werden. Das Verfahren, das die Grünen vor- Listenverbindung CDU/CSU völlig zu Recht auf; aber
schlagen, klingt kompliziert, die Lösung geht allein zulasten Bayerns und hat wenig
mit Gerechtigkeit zu tun. Wir Linken lassen keine Lö-
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Ist es auch!) sung zulasten Bayerns zu.
und es ist kompliziert. Genau das ist das Problem. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der CDU/CSU und der FDP – Thomas
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Oppermann [SPD]: Herr Uhl zieht seine Rede
Dr. Stefan Ruppert [FDP])
(B) zurück!) (D)
Die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wäh-
ler können überhaupt nicht nachvollziehen, was gemäß Es ist ja nicht so, dass in der Wissenschaft nicht auch
andere Lösungen debattiert werden. Es gibt den Vor-
Ihrem Gesetz passieren soll.
schlag, ein reines Mehrheitswahlrecht einzuführen. Das
Nehmen wir ein zunächst theoretisches Beispiel: Die lehnt die Linke ab. Es gibt den Vorschlag, ein reines Ver-
Linke gewinnt bei einer Bundestagswahl 76 Listenplätze hältniswahlrecht einzuführen. Ich persönlich kann dem
und 80 Direktmandate. sehr viel abgewinnen. Wir, die Linke, debattieren da-
rüber aber noch. Es gibt den Vorschlag, ein Grabenwahl-
(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Ein Horrorszenario!)
system einzuführen. Dieses System finden wir nicht
In diesem Fall würden die vier Direktmandate mit dem überzeugend. Es gibt den Vorschlag, eine Bundesliste
schlechtesten prozentualen Ergebnis, die die Linke ge- einzuführen. Diesen Vorschlag lehnt die Linke ab. Au-
wonnen hat, herausfallen. Jetzt könnten wir sagen: Das ßerdem gibt es den Vorschlag, Listenverbindungen abzu-
ist uns egal. schaffen. Auch das lehnen wir ab. Worüber wir ebenfalls
diskutieren, ist die Schaffung von Ausgleichsmandaten.
Ich gebe Ihnen nun ein einfacheres Beispiel: Bei der
Bundestagswahl 2009 hätte es nach dem Modell der (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Grünen beispielsweise den Abgeordneten Singhammer GRÜNEN]: Jetzt kommt Minute sieben!)
von der CSU getroffen.
Die spannende Frage ist, wann die Koalition einen
(Thomas Oppermann [SPD]: Auch kein schlechtes Antrag vorlegt. Die Grünen haben wenigstens, wie ich
Beispiel! – Zurufe von der LINKEN: Oh!) schon gesagt habe, etwas vorgelegt. Ich befürchte, dass
wir Folgendes erleben werden – in diesem Parlament ein
Jetzt erzählen Sie mir einmal, wie Sie das den Wählerin-
normales Schauspiel –: Kurz vor knapp kommt ein An-
nen und Wählern des Wahlkreises München-Nord erklä-
trag. Er wird an die Ausschüsse überwiesen. Dann findet
ren wollen.
eine Anhörung statt. Diese Anhörung wird nicht ausge-
(Thomas Oppermann [SPD]: Singhammer wertet, und dann wird hier ruck, zuck ohne seriöse De-
kann man das schon erklären, aber sonst ist es batte entschieden. – Dieses Verfahren lässt Bürgerinnen
schwer!) und Bürger außen vor, im Übrigen auch Parteien; denn
dann entscheiden allein die Fraktionen.
Soll man sich vor diese Wählerinnen und Wähler stellen
und sagen: „Entschuldigung, Sie haben Herrn Wir als Linke debattieren seit mehr als einem halben
Singhammer zwar direkt ins Parlament gewählt, aber lei- Jahr über das Wahlrecht. Wir debattieren darüber, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10945
Halina Wawzyniak
(A) Änderungen am Wahlrecht an mehr Stellen als allein in hen kann und ob wir die Wahlausschüsse wirklich benö- (C)
Bezug auf das negative Stimmgewicht nötig sind. Wir tigen.
finden, dass die Gestaltung unseres Wahlrechts eine
Wir debattieren darüber, ob die 5-Prozent-Hürde in
Frage der Demokratiegestaltung ist. Es muss beim Wahl-
Deutschland tatsächlich erforderlich ist, um die Demo-
recht darum gehen, wie wir Bürgerinnen und Bürgern
kratie zu bewahren.
mehr Einfluss auf Politik geben.
Wir debattieren, ob neben dem aktiven Wahlalter
(Beifall bei der LINKEN)
auch das passive Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt werden
Bürgerinnen und Bürger engagieren sich: Tausende soll.
waren bei Antiatomprotesten. 20 000 haben das Bündnis (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
„Dresden Nazifrei!“ bei der Blockade unterstützt.
Circa 20 000 haben an der Demonstration „Freiheit statt Wir debattieren, ob das Wahlrecht für Menschen, die
Angst“ teilgenommen. Die Wahlbeteiligung hingegen legal länger hier in Deutschland leben, aber keine deut-
sinkt. Dass die Wahlbeteiligung sinkt, hat sicherlich et- sche Staatsbürgerschaft haben, eingeführt werden soll.
was mit Schröders Basta-Politik zu tun, und auch „Mut-
Seien Sie sicher, in Kürze erhalten Sie einen umfas-
tis Moratoriumspolitik“ wird daran nichts ändern.
senden Vorschlag von uns!
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ihre Es geht aber um mehr als das Wahlrecht. Für uns ist
Redezeit ist um!) das Wahlrecht nur ein Bestandteil der Erneuerung der
– Ich habe noch ein bisschen Redezeit. Warten Sie ab. – Demokratie. Wir finden, dass ein umfassendes Demo-
Wir haben jedoch zur Kenntnis zu nehmen, dass sich kratisierungskonzept nötig ist. Dazu gehören für uns bei-
Bürgerinnen und Bürger zwar engagieren, aber entweder spielsweise die Ausweitung des Petitionsrechts, mehr
weniger oder gar nicht in Parteien. Das ist ein Problem. Möglichkeiten zu direkter Demokratie, das Verbot von
Wir müssen uns fragen, ob nicht das Wahlrecht eine Leihbeamten in Ministerien und das Verbot von Spenden
Möglichkeit bietet, die Demokratie zu demokratisieren. von Unternehmen an Parteien.

Reden wir doch einmal über das Verfahren der Zulas- Wir wollen auch einen Demokratisierungs-TÜV bei
sung von Parteien. Man trifft sich im Bundeswahlaus- allen Gesetzen, die beschlossen werden, und eine Bun-
schuss, in dem die im Bundestag vertretenen Parteien desregierung, die ihr Handeln an Recht und Gesetz
über die Zulassung ihrer Konkurrenz entscheiden, orientiert.

(Thomas Oppermann [SPD]: Habt ihr jetzt ja (Beifall bei der LINKEN)
(B) hinter euch!) (D)
Mit einem Demokratisierungs-TÜV beispielsweise wäre
und das nach den Kriterien des § 2 Parteiengesetz, in Hartz IV gescheitert, und nicht nur, weil Hartz IV Armut
dem es um so wichtige Fragen wie die Ernsthaftigkeit per Gesetz ist. Hartz IV ist nämlich auch ein Demokra-
der politischen Zielsetzung geht. Ehrlich gesagt, finde tiebeteiligungsausschlussgesetz. Gerade im ländlichen
ich es schon absurd, dass die Parteien über die eigene Raum ist es mit dem Regelsatz fast unmöglich, sich an
Konkurrenz entscheiden. Dass diese Entscheidung an- politischen Entscheidungsprozessen und Aktionen zu
hand dieser interpretierbaren Kriterien getroffen wird, ist beteiligen. Schauen Sie sich einmal an, wie viel im Re-
viel absurder. Der Gipfel der Unverschämtheit ist aber, gelsatz für Fahrtkosten vorgesehen ist. Außerdem – wir
dass Parteien, die vom Bundeswahlausschuss nicht zu- reden ja über Wahlen – stellt die Anrechnung von Auf-
gelassen werden, nicht einmal die Chance haben, sich wandsentschädigungen für die Wahrnehmung kommu-
einzuklagen. Mindestens das hätten die Grünen in ihrem naler Mandate, zumindest teilweise, eine Unverschämt-
Gesetzentwurf aufgreifen müssen. heit dar, weil sie eine Schlechterbehandlung ist.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Die Grünen springen zu kurz mit ihrem Gesetzent-
wurf. Er ist inhaltlich nicht überzeugend. Es ist mehr nö-
Wir, die Linke, debattieren seit einem halben Jahr tig als eine Änderung des Wahlgesetzes anhand der von
über die Demokratisierung des Wahlrechts. Ich verspre- Ihnen aufgeworfenen Fragen. Die Regierungskoalition
che Ihnen: Wir legen Ihnen mehr auf den Tisch als nur sollte schnell etwas auf den Tisch packen. Wir alle sind
Antworten auf die bereits gestellten Fragen. aufgefordert, das Wahlrecht umfassend zu reformieren.
Wir debattieren darüber, wie der Einfluss der Bürge- Ich bitte Sie: Denken Sie über die Einführung eines De-
rinnen und Bürger auf die Parteilisten erhöht werden mokratie-TÜV nach!
kann, und wir debattieren darüber, ob es dazu sinnvoll (Beifall bei der LINKEN)
ist, drei Stimmen innerhalb einer Landesliste verteilen
zu können.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir debattieren darüber, ob es das Wahlrecht verein- Der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl hat für die Unions-
fachen würde, wenn die Erststimme entfallen würde. fraktion das Wort.
Wir debattieren darüber, wie konkret der Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schutz einer Partei bei Nichtzulassung zur Wahl ausse- neten der FDP – Thomas Oppermann [SPD]:
10946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Petra Pau


(A) Jetzt erklären Sie einmal, warum Herr ernst nehmen Sie die Mehrheitsentscheidung von Wäh- (C)
Singhammer nicht zurücktreten muss!) lern bei einer demokratischen Wahl im jeweiligen Wahl-
kreis? Die Wähler entscheiden sich doch aus guten
Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Gründen für diesen oder jenen Kandidaten. Dann wer-
Darauf komme ich noch zu sprechen. den die Stimmen zusammengezählt, und man kommt zu
einem Ergebnis. Der Wähler hat sich entschieden, und
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und sei es nur mit einer Stimme – diese Mehrheitswahl ist ein
Kollegen! Wir haben ein in der Tat kompliziertes ehernes Prinzip der Demokratie –: Der Kandidat A oder
Rechtsproblem zu lösen. Als Jurist sagt man gewöhn- die Kandidatin B soll uns im deutschen Parlament ver-
lich: Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. treten.
Ein Blick ins Grundgesetz erleichtert vielleicht die Klä-
rung dieser komplizierten Rechtsfrage. Art. 38 Abs. 1 Jetzt sagen Sie, wenn es zu viele Überhangmandate
Satz 1 lautet: gebe, müssten diese ausgeglichen werden. Das würde
dazu führen, dass die Wähler in dem einen oder anderen
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wer- Wahlkreis Pech gehabt haben, es für sie dumm gelaufen
den in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher ist.
und geheimer Wahl gewählt.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Wahlkreis
Es geht also darum, wie wir unser Wahlrecht organisie- zweiter Klasse!)
ren, um diese Grundsätze unserer Demokratie zu erfül-
len. – Eben, Wahlkreis zweiter Klasse. – Das heißt, die Erst-
stimmen der Minderheit verfallen ebenso wie die Erst-
Nun haben die Grünen einen Vorschlag gemacht, der stimmen der Mehrheit. Damit werden alle Erststimmen
nicht ganz taufrisch ist. Er kommt uns bekannt vor; denn eines gesamten Wahlkreises in den Papierkorb geworfen.
er ist ziemlich wortgleich vor zwei Jahren, wie ich Das kann man doch nicht allen Ernstes vorschlagen.
glaube, schon einmal eingebracht worden. Herr Ströbele, reden Sie mit Ihrem Kollegen Beck!
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Plagiat! – (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ein NEN]: Das ist ein Fraktionsantrag!)
Plagiat!)
Stellen Sie sich einmal vor, man würde mit Ihnen, dem
– Ein Plagiat in eigener Sache. glorreichen grünen Abgeordneten Ströbele, dem einzi-
Es ist also nicht so, dass Sie, Kollege Beck, sich ganz gen direkt gewählten Abgeordneten der Grünen, so ver-
fahren,
neue Gedanken gemacht haben, über die wir uns jetzt
(B) unbedingt austauschen müssen. Dennoch müssen wir (D)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
uns damit beschäftigen, und ich setze mich gern mit Ih- GRÜNEN]: Das kann nicht passieren!)
rem Antrag auseinander.
indem in Ihrem Wahlkreis sowohl die Erststimmen für
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE die anderen als auch die Erststimmen für den großen
GRÜNEN]: Ihre Reden hören sich auch immer Ströbele unter den Tisch fallen gelassen würden, weil
gleich an!) Sie dort so knapp abgeschnitten haben.
Sie sagen, dass im Falle von Überhangmandaten vom Ich kann mir schon vorstellen, dass die Partei der
Volk gewählte Abgeordnete, die einen Wahlkreis direkt Grünen ein gestörtes Verhältnis zum direkt gewählten
gewonnen haben, nicht in dieses Hohe Haus einziehen Abgeordneten hat.
dürfen sollen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Absurd!) NEN]: Warum? Wir sind stolz auf Ströbele!)
Man muss sich die Absurdität dieses Vorschlags einmal – Weil Sie nur einmal eine Erfahrung mit einem direkt
zu Gemüte führen. In Ihrem Vorschlag heißt es: gewählten Abgeordneten gemacht haben, nämlich mit
Herrn Ströbele. Man schaue sich einmal an, wie er von
Erzielt eine Partei bei der Zuteilung mehr Direkt-
seiner Fraktion behandelt wird, wie oft er für die Grünen
mandate, als ihr Sitze nach Absatz 5 zustehen, so
im Parlament sprechen darf. Er ist ein unsicherer Kanto-
werden die überzähligen Wahlkreissitze der Kandi-
nist, weil er vom Volk direkt gewählt ist, und deswegen
daten dieser Partei mit dem geringsten prozentualen
ist er keine schützenswerte Persönlichkeit.
Stimmenanteil nicht besetzt; …
Ihr Vorschlag ist wirklich wirr. Ich bitte Sie: Ziehen
Man muss sich das einmal vorstellen. Von einer Partei
Sie Ihren Antrag zurück! Sie können damit nur Schaden
wurden 20 oder 30 Personen gewählt, und man sucht
anrichten.
sich die heraus, die den geringsten prozentualen Anteil
haben. Diese sind zwar vom Volke gewählt, können aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
nicht ins Parlament einziehen. Das ist allen Ernstes Ihr Holger Krestel [FDP])
Vorschlag, meine Damen und Herren!
Der Antrag ist auch deswegen verwunderlich, weil
Was ist das für ein Signal, das Sie nach außen senden? die Grünen doch eigentlich die Partei sind, die sich auf
Was haben Sie für eine Beziehung zum Wählervolk? die Fahnen geschrieben hat: mehr direkte Demokratie,
Was für eine Beziehung haben Sie zum Wahlkreis? Wie mehr unmittelbarer Bezug zwischen Volk und Regieren-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10947
Dr. Hans-Peter Uhl
(A) den, mehr direkte Einflussnahme der Menschen draußen Meine Damen und Herren von den Grünen, ich (C)
im Lande auf das, was wir hier tun. Aber nun wollen Sie könnte damit leben, zusammen mit dem Kollegen
beschließen, dass das Mandat einer Person, für die sich Gauweiler München im Deutschen Bundestag allein zu
die Menschen in einem Wahlakt klar entschieden haben, vertreten.
zusammen mit den anderen, die zu viel sind, da sie aus
arithmetischen Gründen nicht ins Schema passen, gestri- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen wird. Damit treffen Sie die von der Mehrheit des NEN]: Das ist doch eine gute Vertretung!)
Volkes direkt Gewählten. Das ist doch kein grüner Ge- Aber ist das wirklich Ihr Hauptinteresse? Wollen Sie das
danke; das ist ein völlig abwegiger Gedanke. Ich ver- wirklich?
stehe überhaupt nicht, wie Sie auf eine solche Idee kom-
men können. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Darum geht es doch gar nicht!)
Dann sagen Sie, die Wähler in dem Wahlkreis, die das
Pech gehabt haben, dass keiner ihrer Kandidaten ins Par- Ich könnte, wie gesagt, gut mit der Schlagzeile leben:
lament gekommen ist, können ja 50 Kilometer weiter Gauweiler und Uhl vertreten München im Parlament.
fahren, in den Nachbarwahlkreis, wo die Wähler viel- (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜND-
leicht mehr Glück gehabt haben, weil sie ihren Kandida- NIS 90/DIE GRÜNEN])
ten in den Bundestag bringen konnten. Ist das Ihr Vor-
schlag als Notlösung für diese Fälle? – Bei uns beiden wird es Ihnen nicht gelingen; das ist
das Problem, das Sie haben.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was ist Ihr Vorschlag, Herr Uhl?) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist das Demokratische an unserem
Nach der Evidenztheorie ist dieser Idee, wie man als Vorschlag!)
Jurist sagt, die Verfassungswidrigkeit auf die Stirn ge-
schrieben. Sie ist völlig abwegig. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir sollten
uns dem Auftrag, den das Bundesverfassungsgericht uns
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE gegeben hat, mit allem Ernst widmen. Das Bundesver-
GRÜNEN]: Das Bessere ist immer der Feind fassungsgericht hat nicht gesagt, dass Überhangmandate
des Guten!) verfassungswidrig sind, und es hat nicht gefordert, Über-
Herr Wieland, Sie sind doch auch ein guter Jurist. Wa- hangmandate abzuschaffen. Es hat nur die abwegige, bi-
rum haben Sie nicht gegen diesen wirren Vorschlag Pro- zarre Situation bei der Nachwahl in Dresden zum Anlass
genommen, festzustellen: Ein Wahlsystem, bei dem eine
(B) test eingelegt? Partei davor warnt, ihr die Zweitstimme zu geben, weil (D)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie durch mehr Zweitstimmen einen Nachteil hat, kann
NEN]: Weil der Bayerische Verwaltungsge- nicht richtig sein. Das ist in der Tat eine bizarre Situa-
richtshof gesagt hat, das gehe! Diesem traue tion. Die Ursache dafür muss beseitigt werden. Daran
ich! Sie offenbar nicht!) sollten alle Parteien arbeiten.
Frustrieren Sie die Wähler nicht durch solche Vor- Ich halte es für ganz schädlich, bei der Reform des
schläge; denn Sie würden ihnen die Wirkungslosigkeit Wahlrechts eine knappe Mehrheitsentscheidung herbei-
ihrer Stimme vor Augen führen, wenn Sie so etwas zum zuführen. Wahlrecht ist materielles Verfassungsrecht.
Gesetz machen würden. Jede Mehrheit im Parlament sollte bemüht sein, so viele
Stimmen der Opposition wie möglich für ein verändertes
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Wahlsystem zu gewinnen. Unser Wahlsystem hat uns
GRÜNEN]: Nur, wie werden Sie die Wähler 60 Jahre lang gute Dienste erwiesen. Die Kombination
frustrieren? Das ist die interessante Frage!) aus Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht ist zu-
Ich rede hier nicht pro domo. Ich bin in einem groß- gegebenermaßen etwas kompliziert, aber dem Grunde
städtischen Wahlbezirk, in München, viermal direkt ge- nach gar nicht so schlecht. Wir sollten uns zusammen-
wählt worden. Ich habe mit Ihrem Vorschlag keine Pro- setzen und den Effekt des negativen Stimmgewichts
bleme; nicht dass Sie denken, ich hätte Angst davor. Wir – vielleicht nicht vollständig, aber zu großen Teilen –
haben in Bayern – es wurde schon von der Kollegin der ausgleichen. Wenn wir uns zusammensetzen – die Grü-
Linken angesprochen – alle 44 Wahlkreise direkt gewon- nen haben sich zwei-, dreimal einer Teilnahme an Be-
nen, ohne Ausnahme. Dadurch haben wir viele Über- sprechungen mit uns verweigert; das sollte hier auch ein-
hangmandate. Wir haben das einmal durchgerechnet. mal erwähnt werden –,
Wenn Ihr Vorschlag Gesetz würde, würde es auf die (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
CSU, auf Bayern, auf uns angewandt werden. Schauen GRÜNEN]: Was? – Wolfgang Wieland
wir einmal, wer diejenigen sind, die jetzt im Parlament [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Un-
sitzen und das geringste Wahlergebnis haben. Da sind in sinn!)
der Tat der Kollege aus München-Nord, der Kollege
Singhammer, und der Kollege aus München-Ost, der sollte es möglich sein, mit möglichst vielen Fraktionen
Kollege Frankenhauser, zu nennen. Wenn es drei wären, dieses Hohen Hauses ein neues Wahlrecht zu kreieren.
wäre noch die Kollegin Dagmar Wöhrl aus Nürnberg be- Wir sind daran interessiert. Wir wollen keinen Allein-
troffen. Sie alle wären dann nicht mehr im Parlament. gang der Koalition. Wir wollen mit allen Kräften in die-
10948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Hans-Peter Uhl


(A) sem Parlament dem Auftrag des Bundesverfassungsge- schäftsführern, und wir können natürlich untereinander (C)
richts gerecht werden jederzeit Gespräche führen. Aber wir werden nicht zu ei-
ner Lösung kommen, wenn es dafür keinen offiziellen
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Sehr rich-
Rückhalt von oben gibt.
tig!)
und das negative Stimmgewicht – aber nur dieses – be- Was können wir tun? Es gibt natürlich – das ist schon
seitigen. angesprochen worden – rechnerische, theoretische Mög-
lichkeiten, das Wahlrecht zu ändern, um ein negatives
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stimmgewicht zu vermeiden. Wir wollen aber das Sys-
tem, das sich auch nach unserer Ansicht bewährt hat,
Vizepräsidentin Petra Pau: nicht gänzlich aushebeln, indem wir ein reines Mehr-
Das Wort hat die Kollegin Fograscher für die SPD- heitswahlrecht oder ein reines Verhältniswahlrecht ein-
Fraktion. führen. Wir wollen im System bleiben, aber zugleich
auch die Problematik der Überhangmandate regeln.
(Beifall bei der SPD)
Überhangmandate können einer Fraktion an die Re-
Gabriele Fograscher (SPD): gierung verhelfen, auch wenn sie nicht die Mehrheit der
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Wählerstimmen hat. Überhangmandate können zu wech-
gen! Es gibt in diesen Tagen sicherlich andere Themen, selnden Mehrheiten im Bundestag führen. Scheidet ein
die die Menschen bewegen, als das Wahlrecht. Aber das Abgeordneter, in dessen Bundesland es Überhangman-
Wahlrecht ist nun einmal Grundlage unserer Demokra- date gibt, aus dem Bundestag aus, so gibt es keinen
tie. Es ist Voraussetzung für die demokratische Teilhabe Nachrücker über die Landesliste. Es ist schon angespro-
der Bürgerinnen und Bürger. Das Wahlrecht muss garan- chen worden, dass es zum Beispiel für Herrn zu
tieren, dass der Wählerwille in diesem Hause abgebildet Guttenberg keine Nachbesetzung gibt. Bei knappen Re-
wird. Es regelt die Legitimation von uns allen hier im gierungsmehrheiten könnte das dazu führen, dass sich
Hause. Herr Krings, es handelt sich eben nicht um ein während einer Legislaturperiode die Mehrheiten verän-
Luxusproblem. dern.

Wahlrechtsfragen sind natürlich immer auch Macht- Was schlagen die Grünen jetzt vor? Sie wollen die
fragen. Das Wahlrecht entscheidet über die Mehrheits- Überhangmandate einer Partei mit den Listenmandaten
verhältnisse im Haus. Deshalb betrifft dieses Thema alle dieser Partei in einem anderen Bundesland verrechnen.
Fraktionen. Daher haben wir in der Vergangenheit Ände- Das hätte zur Konsequenz, dass eine Partei, die in einem
Bundesland ein Überhangmandat erzielt, in einem ande-
(B) rungen im Wahlrecht stets gemeinsam vorgenommen. ren Bundesland ein Listenmandat weniger erhält. Das ist (D)
Herr Uhl, das Gesprächsangebot, das Sie heute gemacht
haben, nehmen wir von der SPD natürlich gerne an. zwar rechtlich machbar, weil das Bundesvolk und nicht
Aber es hat sehr lange gedauert, bis Sie uns dieses unter- die Ländervölker wählen. Aber die Akzeptanz in den
breitet haben. Landesverbänden, die vermutlich keine Überhangman-
date haben werden und auf Listenmandate verzichten
(Beifall bei der SPD) müssten, geht gegen null.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli 2008 das Sie regeln in dem vorgelegten Entwurf die Schwach-
sogenannte negative Stimmgewicht für verfassungswid- stelle Ihres letzten Entwurfs neu, nämlich die Frage, wie
rig erklärt. Ich will noch einmal den Grund nennen: Bei Überhangmandate verrechnet werden sollen, wenn eine
bestimmten Konstellationen kann ein Zuwachs bei den Partei nur in einem Bundesland antritt. Das betrifft ja
Zweitstimmen einer Partei dazu führen, dass sie ein insbesondere die CSU. Sie schlagen vor, dass, wenn
Mandat verliert. Auf der anderen Seite kann die Nichtab- Überhangmandate entstehen, nur so viele direkte Bewer-
gabe einer Stimme für die Partei, die der Wähler eigent- ber ein Mandat erhalten, wie ihre Partei Mandate über
lich unterstützen will, von Vorteil sein. Dieser Effekt Zweitstimmen bekommt.
wurde bei der Nachwahl 2005 in Dresden offensichtlich.
Dadurch werden die Grundsätze der Gleichheit und Un- Ich spreche jetzt nicht so sehr für die CSU, aber dieser
mittelbarkeit der Wahl verletzt. Deshalb hat der Zweite Fall kann natürlich auch in Bezug auf alle anderen Par-
Senat des Bundesverfassungsgerichts den Gesetzgeber teien eintreten, auch hinsichtlich der SPD in Bayern.
verpflichtet, bis zum 30. Juni 2011 eine verfassungsge- Deshalb wollen wir das nicht. Es ist den Bürgerinnen
mäße Neuregelung zu finden. und Bürgern nämlich nicht vermittelbar, dass ein Direkt-
kandidat, den sie mit Mehrheit im Wahlkreis gewählt ha-
Leider müssen wir aber heute, gut drei Monate vor ben, diesen Wahlkreis im Bundestag dann nicht vertritt.
Ablauf dieser Frist, feststellen: Die Bundesregierung
und die sie tragenden Fraktionen tun nichts. Es gibt kei- Wir schlagen Ihnen ein zweistufiges Verfahren vor;
nen Gesetzentwurf, nicht einmal Eckpunkte. Auch in der Kollege Oppermann hat das mehrfach auch schon
heutigen Debatte habe ich keinen entsprechenden Vor- schriftlich getan. Für die Wahl des nächsten Bundestages
schlag gehört. Es gab Gespräche zwischen den Fraktio- wollen wir die Überhangmandate zunächst durch Aus-
nen. Sie sind nicht weitergeführt worden. Ich weiß nicht, gleichsmandate ausgleichen. Diese zusätzlichen Aus-
mit wem Herr Ruppert Gespräche geführt hat, aber man gleichsmandate würden den Bundestag vergrößern; das
muss das einmal auf eine vernünftige Basis stellen. Es ist richtig. Deshalb bieten wir an, in einem zweiten
gab Gespräche zwischen den Parlamentarischen Ge- Schritt die Anzahl der Wahlkreise zu reduzieren, um den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10949
Gabriele Fograscher
(A) Bundestag auf die Größe von knapp 600 Abgeordneten Überweisungsvorschlag: (C)
zurückzuführen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss
Wir haben heute viel darüber diskutiert, wo die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Schwierigkeiten und Nachteile der einzelnen Modelle
liegen. Wir haben allerdings keinen wirklichen Vor- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
schlag vonseiten der Koalitionsfraktionen gehört. Ich Gerster, Sönke Rix, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
schlage Ihnen deshalb vor, noch einmal in ernsthafte Ge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
spräche einzutreten und uns noch einmal Sachverstand
Rechtsextremistische Einstellungen im Sport
von außen zu holen. Lassen Sie uns deshalb noch einmal
konsequent bekämpfen – Toleranz und Demo-
eine Anhörung terminieren und uns wirklich darum be-
kratie nachhaltig fördern
mühen, dieses spezielle Problem, dessen Lösung uns das
Bundesverfassungsgericht aufgetragen hat, noch vor der – Drucksache 17/5045 –
nächsten Bundestagswahl zu lösen. Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)
Herzlichen Dank. Innenausschuss
(Beifall bei der SPD) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver-
fahren
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ergänzung zu TOP 32
Ich schließe die Aussprache.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Krumwiede, Dr. Konstantin von Notz, Jerzy
wurfs auf Drucksache 17/4694 an die in der Tagesord- Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Zugang zu verwaisten Werken erleichtern
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
– Drucksache 17/4695 –
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 a bis d sowie
Überweisungsvorschlag:
Zusatzpunkt 2 auf: Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Bildung, Forschung und
32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Technikfolgenabschätzung
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- Ausschuss für Kultur und Medien
führung der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 und
(B)
zur Neuordnung bestehender Aus- und Durch- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- (D)
führungsbestimmungen auf dem Gebiet des ten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vor-
internationalen Unterhaltsverfahrensrechts geschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
– Drucksache 17/4887 – einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
Überweisungsvorschlag: weisungen so beschlossen.
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 33 a bis o auf.
Es handelt um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu de-
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- nen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich weise darauf
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die hin, dass wir über Tagesordnungspunkt 33 e namentlich
vorläufige Durchführung unmittelbar gelten- abstimmen werden. Bitte begeben Sie sich erst zu den
der Vorschriften der Europäischen Union über Urnen, wenn ich die namentliche Abstimmung aufrufe.
die Zulassung oder Genehmigung des Inver-
kehrbringens von Pflanzenschutzmitteln Tagesordnungspunkt 33 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
– Drucksache 17/4985 –
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Überweisungsvorschlag: Gesetzes zur Änderung des BVL-Gesetzes
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) – Drucksache 17/4381 –
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
Lange, Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, cherschutz (10. Ausschuss)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick – Drucksache 17/5034 –
Döring, Werner Simmling, Oliver Luksic, weite- Berichterstattung:
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp
Sicherheit im Eisenbahnverkehr verbessern – Elvira Drobinski-Weiß
Streckennetz mit Sicherungssystemen ausstatten Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
– Drucksache 17/5046 – Friedrich Ostendorff
10950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt (C)
Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
lung auf Drucksache 17/5034, den Gesetzentwurf der ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen ge-
Bundesregierung auf 17/4381 anzunehmen. Ich bitte die- gen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen ange-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um nommen.
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Tagesordnungspunkt 33 d:
mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthal- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
tung der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Grünen an- und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem
genommen. Antrag der Abgeordneten Dorothea Steiner,
Dritte Beratung Sylvia Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem DIE GRÜNEN
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Bürgerfreundliches Rücknahmesystem für ge-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zu- brauchte Energiesparlampen im Handel ein-
vor angenommen. richten

Tagesordnungspunkt 33 b: – Drucksachen 17/1583, 17/3278 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Berichterstattung:


richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- Abgeordnete Michael Brand
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Gerd Bollmann
Bundesregierung Judith Skudelny
Ralph Lenkert
Einhundertsechzigste Verordnung zur Ände- Dorothea Steiner
rung der Einfuhrliste – Anlage zum Außen-
wirtschaftsgesetz – Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3278, den Antrag der Fraktion
– Drucksachen 17/4403, 17/4499 Nr. 2, 17/4774 – Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1583 abzu-
Berichterstattung: lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Abgeordneter Erich G. Fritz Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
(B) empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions- (D)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- fraktionen gegen die Stimmen von SPD und Bündnis 90/
lung auf Drucksache 17/4774, die Aufhebung der Ver- Die Grünen bei uneinheitlicher Stimmabgabe der Frak-
ordnung auf Drucksache 17/4403 nicht zu verlangen. tion Die Linke angenommen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Das ganze Haus hat Tagesordnungspunkt 33 e:
zugestimmt. Die Beschlussempfehlung ist damit ange- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
nommen. richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
Tagesordnungspunkt 33 c: der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm,
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abge-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- ordneter und der Fraktion DIE LINKE
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Gegen Armut und soziale Ausgrenzung – So-
Ralph Lenkert, Caren Lay, weiterer Abgeordneter ziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertrags-
und der Fraktion DIE LINKE werk aufnehmen
Verbraucherfreundliche Rücknahmepflicht – Drucksachen 17/902, 17/4773 –
des Einzelhandels für Energiesparlampen
Berichterstattung:
durchsetzen
Abgeordnete Dr. Johann Wadephul
– Drucksachen 17/2121, 17/3684 – Dr. Eva Högl
Gabriele Molitor
Berichterstattung:
Alexander Ulrich
Abgeordnete Josef Rief
Manuel Sarrazin
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
Dr. Erik Schweickert Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Karin Binder lung auf Drucksache 17/4773, den Antrag der Fraktion
Nicole Maisch Die Linke auf Drucksache 17/902 abzulehnen.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wir stimmen nun auf Verlangen der Fraktion Die
lung auf Drucksache 17/3684, den Antrag der Fraktion Linke namentlich über die Beschlussempfehlung ab. Zu
Die Linke auf Drucksache 17/2121 abzulehnen. Wer dieser Abstimmung liegen mir Erklärungen nach § 31
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10951
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) unserer Geschäftsordnung vor.1) Ich bitte die Schriftfüh- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- (C)
rerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze ein- tungen? – Die Sammelübersicht 227 ist einstimmig an-
zunehmen. – Kann ich die Abstimmung eröffnen? Sind genommen.
alle notwendigen Schriftführer an den vorgesehenen
Tagesordnungspunkt 33 j:
Plätzen versammelt? – Das ist der Fall. Dann ist die Ab-
stimmung eröffnet. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Darf ich fragen, ob alle anwesenden Mitglieder des
Hauses ihre Stimme abgegeben haben? – Ich höre keinen Sammelübersicht 228 zu Petitionen
Protest. Dann ist das also der Fall. Ich schließe die Ab-
stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- – Drucksache 17/4868 –
führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2) tungen? – Die Sammelübersicht 228 ist bei Enthaltung
der Linken mit den Stimmen der übrigen Fraktionen an-
Wir setzen die Abstimmungen fort.
genommen.
Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Peti- Tagesordnungspunkt 33 k:
tionsausschusses, Tagesordnungspunkt 33 f bis o.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 33 f: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 229 zu Petitionen
ausschusses
(2. Ausschuss) – Drucksache 17/4869 –
Sammelübersicht 224 zu Petitionen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 229 ist gegen die Stim-
– Drucksache 17/4864 – men der SPD-Fraktion mit den Stimmen der anderen
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer Fraktionen angenommen.
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelüber- Tagesordnungspunkt 33 l:
sicht 224 ist einstimmig angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 33 g: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 230 zu Petitionen
(B) (D)
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/4870 –
Sammelübersicht 225 zu Petitionen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
– Drucksache 17/4865 – tungen? – Die Sammelübersicht 230 ist mit den Stim-
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- von Linken und Grünen angenommen.
tungen? – Die Sammelübersicht 225 ist einstimmig an-
genommen. Tagesordnungspunkt 33 m:

Tagesordnungspunkt 33 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-


ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 231 zu Petitionen

Sammelübersicht 226 zu Petitionen – Drucksache 17/4871 –


Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
– Drucksache 17/4866 –
tungen? – Die Sammelübersicht 231 ist mit den Stim-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- men von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stim-
tungen? – Die Sammelübersicht 226 ist mit den Stim- men der SPD und der Grünen angenommen.
men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
Tagesordnungspunkt 33 n:
der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Tagesordnungspunkt 33 i: ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Sammelübersicht 232 zu Petitionen
ausschusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 17/4872 –
Sammelübersicht 227 zu Petitionen
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
– Drucksache 17/4867 – tungen? – Die Sammelübersicht 232 ist mit den Stim-
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
1) Anlagen 5 bis 8 von SPD und Grünen bei Enthaltung der Linken ange-
2) Ergebnis Seite 10954 D nommen.
10952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Tagesordnungspunkt 33 o: weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen
Sammelübersicht 233 zu Petitionen – Drucksachen 17/1755, 17/4670, 17/1149, 17/1765,
17/5067 (neu) –
– Drucksache 17/4873 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Berichterstattung:
tungen? – Die Sammelübersicht 233 ist mit den Stim- Abgeordnete Manfred Kolbe
men der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen Martin Gerster
der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Dr. Daniel Volk

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a und b auf: Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und FDP liegt ein Entschließungsantrag der SPD vor.
a) –Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Bekämpfung von Geldwäsche und Steuerhin- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
terziehung (Schwarzgeldbekämpfungsgesetz) Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegen
– Drucksache 17/4182 – Manfred Kolbe für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der FDP)
zur Verbesserung der Bekämpfung von Geld-
wäsche und Steuerhinterziehung (Schwarz- Manfred Kolbe (CDU/CSU):
geldbekämpfungsgesetz) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
– Drucksache 17/4802 – dem vorliegenden Gesetzentwurf beweisen die Koali-
tionsfraktionen CDU/CSU und FDP erneut, dass unions-
– Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion geführte Bundesregierungen seit 2005 die Steuerhinter-
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Geset- ziehung energisch bekämpfen.
zes zur Änderung der Abgabenordnung (Ab-
schaffung der strafbefreienden Selbstanzeige (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
bei Steuerhinterziehung) der FDP – Zuruf von der SPD: Großer Ap-
(B) plaus!) (D)
– Drucksache 17/1411 –
Ich nenne einige Beispiele: Wir haben die Strafverfol-
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- gung bandenmäßiger Hinterziehung von Umsatz- und
schusses (7. Ausschuss) Verbrauchsteuern auf eine rechtlich tragfähige Grund-
– Drucksache 17/5067 (neu) – lage – § 370 Abs. 3 der Abgabenordnung – gestellt. Wir
haben erstmals die Möglichkeit der Anordnung der Tele-
Berichterstattung: kommunikationsüberwachung bei schweren Steuerhin-
Abgeordnete Manfred Kolbe terziehungstatbeständen eingeführt. Wir haben die Ver-
Martin Gerster jährungsfrist für besonders schwere Steuerhinterziehung
Dr. Daniel Volk auf zehn Jahre verlängert. In diesem Jahr haben wir es
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts erreicht, dass der Informationsaustausch mit zahlreichen
des Finanzausschusses (7. Ausschuss) Finanzzentren nach OECD-Standard erfolgt.

– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und Suaviter in modo, fortiter in re, wie schon die alten
FDP Römer sagten, also verbindlich im Umgang, aber hart in
der Sache, das ist dabei unser Motto. Wir beleidigen we-
Steuerhinterziehung wirksam und zielgenau der die Indianer noch die Republik Burkina Faso mit ih-
bekämpfen rer Hauptstadt Ouagadougou; dafür bekämpfen wir die
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD Steuerhinterziehung wirkungsvoll.

Instrumente zur Bekämpfung der Steuerhin- Zentrales Thema dieses Gesetzentwurfs war die
terziehung nutzen und ausbauen Frage, ob wir die strafbefreiende Selbstanzeige gemäß
§ 371 Abgabenordnung beibehalten wollen oder nicht.
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Grundsätzlich halten wir, die Koalitionsfraktionen, an
Höll, Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer der Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige fest,
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE da wir den an der Steuerhinterziehung Beteiligten einen
Berichtigungsweg offenhalten wollen. Außerdem liegt
Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht
die strafbefreiende Selbstanzeige im staatlichen, fiskali-
dem Zufall überlassen
schen Interesse, da viele Sachverhalte ansonsten nicht
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard aufgedeckt würden, auch nicht bei einem wesentlich
Schick, Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, größeren Ermittlungseinsatz. Deshalb führt dieser Weg
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10953
Manfred Kolbe
(A) letztendlich zu einem höheren Steueraufkommen. Ge- Wir wollen zweitens den früheren Ausschluss der (C)
rade in letzter Zeit erfolgten als Folge des Ankaufs der Selbstanzeige, nicht erst beim Erscheinen des Prüfers,
CDs Zehntausende von Selbstanzeigen, die zu Mehrein- sondern bereits bei der Bekanntmachung der Prüfungs-
nahmen von mehreren Milliarden Euro führten. anordnung.
Wir halten daher grundsätzlich an der strafbefreien- Wir wollen drittens einen Zuschlag zu den Hinterzie-
den Selbstanzeige fest. Diese ist entgegen einer weit ver- hungszinsen, um den Steuerhinterzieher wirtschaftlich
breiteten Meinung auch kein Fremdkörper im Strafrecht. stärker zu belasten.
Wir haben im Strafrecht zahlreiche Regelungen, wo
Lassen Sie mich mit dem Ausschluss der Teilselbst-
auch nach Vollendung der Tat noch durch tätige Reue ein
anzeige beginnen. In der gestrigen Sitzung des Finanz-
gesetzlicher Anspruch auf Strafbefreiung entsteht,
ausschusses wurde der Ausschluss der Teilselbstanzeige
(Joachim Poß [SPD]: Tätige Reue ist das hier noch einmal präzisiert.
aber nicht! Tätige Reue durch CDs!)
Bis Anfang letzten Jahres hatte die Rechtsprechung
etwa, Herr Poß, bei der freiwilligen Aufgabe der Geld- des BGH Teilselbstanzeigen als wirksam angesehen. Es
fälschung, auch wenn das gefälschte Geld bereits in Um- reichte also aus, dass ein Konto angegeben wurde, dann
lauf gebracht worden ist. Wenn der Täter dann das Tat- war man insoweit straffrei. Das galt auch während der
werkzeug vernichtet, hat er immer noch einen Anspruch Amtszeit Ihres – das sage ich in Richtung der linken
auf Strafbefreiung. Ein anderes Beispiel ist die Selbstan- Seite des Hauses – Bundesfinanzministers Lafontaine.
zeige bei Geldwäsche oder bei der Verhinderung von Der sah damals offenbar keinen Anlass, an dieser doch
Subventionsbetrug. relativ großzügigen Regelung irgendetwas zu ändern.
(Joachim Poß [SPD]: Das sind gute Hinweise Mit Grundsatzbeschluss vom 20. Mai 2010 hat der
für Gesetzesänderungen! – Gegenruf der Abg. BGH das eingeengt. Er hat eine ausreichende Teilselbst-
Nicolette Kressl [SPD]: Das ist jetzt aber über- anzeige nur noch dann angenommen, wenn der Steuer-
trieben, Herr Poß!) pflichtige seine unvollständige Einkommensteuererklä-
rung dahin gehend berichtigt, dass er bislang gänzlich
Also, die strafbefreiende Selbstanzeige entspricht ei- verschwiegene Zinseinkünfte nicht nur eines Kontos an-
nem allgemeinen Grundsatz des Strafrechts, dass es in gibt, sondern aller Konten. Der BGH verlangt also zu-
bestimmten Fällen im staatlichen Interesse liegt, die tä- mindest seit Mai des letzten Jahres eine vollständige
tige Reue auch mit einem Strafbefreiungsanspruch zu Selbstanzeige der gesamten Tat, also etwa die komplette
honorieren. Einkommensteuererklärung für einen Veranlagungszeit-
Auch die die Steuern verwaltenden Länder befürwor- raum.
(B) (D)
ten das letztlich. Herr Poß, ich zitiere da Ihren Finanz- Unser Gesetzentwurf wird hier noch deutlicher. Für
minister von Rheinland-Pfalz, den Herrn Kühl, eine wirksame Selbstanzeige ist es künftig erforderlich,
(Joachim Poß [SPD]: Ja, ich kenne den!) dass alle unverjährten Steuerstraftaten einer Steuerart
vollständig offenbart werden. Anknüpfungspunkt ist die
wortwörtlich: einzelne hinterzogene Steuer, sodass mit der Neurege-
Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbe- lung nunmehr alle unverjährten Steuerverkürzungen ei-
freiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich ner Steuerart, also zum Beispiel alle verkürzten Ein-
profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst an- kommensteueransprüche der noch nicht verjährten
zeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver Veranlagungszeiträume, offenbart werden müssen. Nur
als der Einsatz von Ermittlern. noch dann tritt die strafbefreiende Wirkung der Selbstan-
zeige ein.
So Herr Kühl, SPD.
Dabei – das sei hinzugefügt – bedeutet „in vollem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Umfang“ natürlich nicht, dass auf Euro und Cent alles
der FDP) angegeben werden muss. Bagatellabweichungen sind
nach wie vor möglich. Aber es muss für alle noch offe-
Dementsprechend hat auch der Bundesrat am 11. Fe-
nen Veranlagungszeiträume die Selbstanzeige erklärt
bruar 2011 mit überragender Mehrheit einen entspre-
werden. Es wird also keine Salamitaktik bei der Selbst-
chenden Gesetzentwurf gebilligt.
anzeige mehr geduldet, bei der scheibchenweise vorge-
Der heute hier zu beratende Gesetzentwurf geht auf gangen wird.
eine Initiative meiner Fraktion vom März des vergange-
Herr Schick, als Folge dieser deutlichen Ausweitung
nen Jahres zurück, bei der wir gesagt haben, wir wollen
ist eine Übergangsregelung erforderlich,
die strafbefreiende Selbstanzeige grundsätzlich beibe-
halten, aber wir wollen sie dahin gehend einschränken, (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
dass sie nicht mehr als Teil einer Hinterziehungsstrategie GRÜNEN]: Aber Sie wählen die falsche! Das
missbraucht werden kann. ist der Punkt!)
Deshalb haben wir damals drei Maßnahmen vorge- weil eine Strafbarkeit nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz
schlagen. Wir wollen erstens den Ausschluss der Teil- im Voraus bestimmt sein muss. Nulla poena sine lege.
selbstanzeige. Wir wollen eine Straffreiheit nur bei um- Diese Übergangsregelung musste also auch aus verfas-
fassender Selbstanzeige. sungsrechtlichen Gründen eingeführt werden.
10954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Manfred Kolbe
(A) Lassen Sie mich zum zweiten strittigen Punkt kom- Manfred Kolbe (CDU/CSU): (C)
men: zur zusätzlichen Zahlung in Höhe von 5 Prozent Herr Präsident, ich bin punktgenau zum Schluss ge-
der hinterzogenen Steuern. Darüber wurde am intensivs- kommen.
ten diskutiert. Politischer Wille der Koalitionsfraktionen
war, den Steuerhinterzieher wirtschaftlich stärker zu be- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
lasten als den bloß säumigen Steuerzahler. Das ist übertrieben, Sie haben eine Minute überzogen.
Wir haben deshalb gestern im Finanzausschuss vorge- (Heiterkeit)
schlagen, dass bei Steuerhinterziehungen über 50 000
Euro pro Tat, das heißt pro Steuerart und pro Veranla-
Manfred Kolbe (CDU/CSU):
gungszeitraum, eine zusätzliche Zahlung in Höhe von
5 Prozent auf den Hinterziehungsbetrag erstmalig einge- Punktgenau ist auch dieser Gesetzentwurf. Wir wäh-
führt wird. Die Betragshöhe von 50 000 Euro knüpft an len punktgenau den richtigen Weg zwischen der Beibe-
die Rechtsprechung des BGH zu dem Regelbeispiel des haltung der strafbefreienden Selbstanzeige und ihrer
§ 370 Abs. 3 Nr. 1 Abgabenordnung an, wo das Merk- Einschränkung, um künftig den Missbrauch als Teil ei-
mal des „großen Ausmaßes“ bei 50 000 Euro hinterzo- ner Hinterziehungsstrategie zu verhindern.
gener Steuer als erfüllt angesehen wird. Danke.
Rechtstechnisch wird diese Zusatzzahlung wie folgt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgestaltet. Für eine Steuerverkürzung mit einem Hin-
terziehungsvolumen von über 50 000 Euro je Steuerart Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und Veranlagungszeitraum wird künftig nach einer Wenn das punktgenau ist: Sie haben Ihre Rede um
Selbstanzeige allein nicht mehr die Rechtsfolge Straf- 22 Prozent überzogen, wie ich sofort im Kopf ausge-
freiheit eintreten. Vielmehr wird nach dem neuen rechnet habe.
§ 398 a Abgabenordnung, der § 153 a Strafprozessord-
nung nachempfunden ist, nur noch dann von der Straf- Zwischendurch gebe ich Ihnen das von den Schrift-
verfolgung abgesehen, wenn neben der Entrichtung von führerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
Steuern und Hinterziehungszinsen eine Zahlung in Höhe namentlichen Abstimmung zur Beschlussempfehlung
von 5 Prozent der jeweiligen verkürzten Steuern zuguns- des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäi-
ten der Staatskasse erfolgt. Wir fassen also die schweren schen Union zu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Ge-
Steuerhinterzieher deutlich härter an als bisher. gen Armut und soziale Ausgrenzung – Soziale Fort-
schrittsklausel in das EU-Vertragswerk aufnehmen“,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Drucksachen 17/902 und 17/4773, bekannt: abgegebene
(B) Stimmen 561. Mit Ja haben gestimmt 434, mit Nein ha- (D)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: ben gestimmt 64, Enthaltungen 63. Die Beschlussemp-
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. fehlung ist damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Wolfgang Bosbach Alexander Funk Frank Heinrich


Abgegebene Stimmen: 561; Norbert Brackmann Ingo Gädechens Rudolf Henke
davon Klaus Brähmig Dr. Thomas Gebhart Michael Hennrich
Michael Brand Norbert Geis Jürgen Herrmann
ja: 434
Dr. Reinhard Brandl Alois Gerig Ansgar Heveling
nein: 64 Helmut Brandt Eberhard Gienger Ernst Hinsken
enthalten: 63 Dr. Ralf Brauksiepe Michael Glos Peter Hintze
Dr. Helge Braun Josef Göppel Christian Hirte
Ja Heike Brehmer Peter Götz Robert Hochbaum
Ralph Brinkhaus Dr. Wolfgang Götzer Franz-Josef Holzenkamp
CDU/CSU Cajus Caesar Ute Granold Joachim Hörster
Gitta Connemann Reinhard Grindel Anette Hübinger
Peter Altmaier Alexander Dobrindt Hermann Gröhe Thomas Jarzombek
Peter Aumer Thomas Dörflinger Michael Grosse-Brömer Dieter Jasper
Thomas Bareiß Marie-Luise Dött Markus Grübel Dr. Franz Josef Jung
Norbert Barthle Dr. Thomas Feist Manfred Grund Andreas Jung (Konstanz)
Günter Baumann Enak Ferlemann Monika Grütters Dr. Egon Jüttner
Ernst-Reinhard Beck Hartwig Fischer (Göttingen) Olav Gutting Bartholomäus Kalb
(Reutlingen) Dirk Fischer (Hamburg) Florian Hahn Hans-Werner Kammer
Manfred Behrens (Börde) Dr. Maria Flachsbarth Dr. Stephan Harbarth Alois Karl
Dr. Christoph Bergner Klaus-Peter Flosbach Jürgen Hardt Bernhard Kaster
Peter Beyer Herbert Frankenhauser Gerda Hasselfeldt Siegfried Kauder (Villingen-
Steffen Bilger Michael Frieser Dr. Matthias Heider Schwenningen)
Clemens Binninger Erich G. Fritz Helmut Heiderich Volker Kauder
Peter Bleser Dr. Michael Fuchs Mechthild Heil Dr. Stefan Kaufmann
Dr. Maria Böhmer Hans-Joachim Fuchtel Ursula Heinen-Esser Roderich Kiesewetter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10955
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Eckart von Klaeden Dr. Christian Ruck Dr. Hans-Peter Bartels Kirsten Lühmann (C)
Ewa Klamt Erwin Rüddel Klaus Barthel Caren Marks
Volkmar Klein Albert Rupprecht (Weiden) Sören Bartol Katja Mast
Jürgen Klimke Anita Schäfer (Saalstadt) Bärbel Bas Hilde Mattheis
Axel Knoerig Dr. Wolfgang Schäuble Sabine Bätzing-Lichtenthäler Petra Merkel (Berlin)
Jens Koeppen Dr. Annette Schavan Dirk Becker Ullrich Meßmer
Manfred Kolbe Dr. Andreas Scheuer Uwe Beckmeyer Franz Müntefering
Dr. Rolf Koschorrek Karl Schiewerling Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Rolf Mützenich
Hartmut Koschyk Norbert Schindler Gerd Bollmann Manfred Nink
Michael Kretschmer Tankred Schipanski Klaus Brandner Thomas Oppermann
Gunther Krichbaum Georg Schirmbeck Willi Brase Holger Ortel
Dr. Günter Krings Christian Schmidt (Fürth) Martin Burkert Aydan Özoğuz
Rüdiger Kruse Patrick Schnieder Petra Crone Heinz Paula
Bettina Kudla Dr. Andreas Schockenhoff Martin Dörmann Johannes Pflug
Dr. Hermann Kues Nadine Schön (St. Wendel) Elvira Drobinski-Weiß Joachim Poß
Günter Lach Dr. Kristina Schröder Garrelt Duin Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Karl A. Lamers Dr. Ole Schröder Sebastian Edathy Florian Pronold
(Heidelberg) Bernhard Schulte-Drüggelte Ingo Egloff Dr. Sascha Raabe
Andreas G. Lämmel Uwe Schummer Siegmund Ehrmann Mechthild Rawert
Dr. Norbert Lammert Armin Schuster (Weil am Petra Ernstberger Gerold Reichenbach
Katharina Landgraf Rhein) Karin Evers-Meyer Dr. Carola Reimann
Ulrich Lange Detlef Seif Elke Ferner Sönke Rix
Dr. Max Lehmer Johannes Selle Gabriele Fograscher René Röspel
Paul Lehrieder Reinhold Sendker Dr. Edgar Franke Dr. Ernst Dieter Rossmann
Dr. Ursula von der Leyen Dr. Patrick Sensburg Dagmar Freitag Michael Roth (Heringen)
Ingbert Liebing Bernd Siebert Peter Friedrich Marlene Rupprecht
Matthias Lietz Thomas Silberhorn Sigmar Gabriel (Tuchenbach)
Dr. Carsten Linnemann Johannes Singhammer Michael Gerdes Anton Schaaf
Dr. Jan-Marco Luczak Jens Spahn Martin Gerster Axel Schäfer (Bochum)
Daniela Ludwig Carola Stauche Iris Gleicke Bernd Scheelen
Dr. Michael Luther Dr. Frank Steffel Günter Gloser Marianne Schieder
Karin Maag Erika Steinbach Ulrike Gottschalck (Schwandorf)
Dr. Thomas de Maizière Christian Freiherr von Stetten Angelika Graf (Rosenheim) Werner Schieder (Weiden)
Hans-Georg von der Marwitz Dieter Stier Kerstin Griese Ulla Schmidt (Aachen)
Andreas Mattfeldt Gero Storjohann Michael Groschek Silvia Schmidt (Eisleben)
(B) Stephan Stracke Carsten Schneider (Erfurt)
(D)
Stephan Mayer (Altötting) Michael Groß
Dr. Michael Meister Max Straubinger Wolfgang Gunkel Ottmar Schreiner
Maria Michalk Karin Strenz Hans-Joachim Hacker Swen Schulz (Spandau)
Philipp Mißfelder Thomas Strobl (Heilbronn) Bettina Hagedorn Ewald Schurer
Dietrich Monstadt Lena Strothmann Klaus Hagemann Frank Schwabe
Marlene Mortler Michael Stübgen Michael Hartmann Rolf Schwanitz
Dr. Gerd Müller Dr. Peter Tauber (Wackernheim) Stefan Schwartze
Stefan Müller (Erlangen) Antje Tillmann Hubertus Heil (Peine) Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Philipp Murmann Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Barbara Hendricks Sonja Steffen
Michaela Noll Arnold Vaatz Gustav Herzog Peer Steinbrück
Dr. Georg Nüßlein Stefanie Vogelsang Gabriele Hiller-Ohm Dr. Frank-Walter Steinmeier
Franz Obermeier Andrea Astrid Voßhoff Petra Hinz (Essen) Christoph Strässer
Eduard Oswald Dr. Johann Wadephul Frank Hofmann (Volkach) Kerstin Tack
Henning Otte Marco Wanderwitz Dr. Eva Högl Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Dr. Michael Paul Kai Wegner Christel Humme Franz Thönnes
Rita Pawelski Marcus Weinberg (Hamburg) Josip Juratovic Wolfgang Tiefensee
Ulrich Petzold Peter Weiß (Emmendingen) Oliver Kaczmarek Rüdiger Veit
Sibylle Pfeiffer Sabine Weiss (Wesel I) Johannes Kahrs Ute Vogt
Beatrix Philipp Ingo Wellenreuther Dr. h. c. Susanne Kastner Dr. Marlies Volkmer
Ronald Pofalla Peter Wichtel Ulrich Kelber Andrea Wicklein
Christoph Poland Annette Widmann-Mauz Lars Klingbeil Waltraud Wolff
Ruprecht Polenz Klaus-Peter Willsch Hans-Ulrich Klose (Wolmirstedt)
Eckhard Pols Elisabeth Winkelmeier- Dr. Bärbel Kofler Uta Zapf
Thomas Rachel Becker Daniela Kolbe (Leipzig) Dagmar Ziegler
Dr. Peter Ramsauer Dagmar Wöhrl Nicolette Kressl Manfred Zöllmer
Eckhardt Rehberg Wolfgang Zöller Brigitte Zypries
Angelika Krüger-Leißner
Katherina Reiche (Potsdam) Willi Zylajew
Ute Kumpf
Lothar Riebsamen FDP
Christine Lambrecht
SPD
Josef Rief Christian Lange (Backnang) Christian Ahrendt
Klaus Riegert Ingrid Arndt-Brauer Dr. Karl Lauterbach Christine Aschenberg-
Dr. Heinz Riesenhuber Rainer Arnold Steffen-Claudio Lemme Dugnus
Johannes Röring Heinz-Joachim Barchmann Burkhard Lischka Daniel Bahr (Münster)
Dr. Norbert Röttgen Doris Barnett Gabriele Lösekrug-Möller Florian Bernschneider
10956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Sebastian Blumenthal Hans-Joachim Otto Dr. Barbara Höll Kai Gehring (C)
Claudia Bögel (Frankfurt) Andrej Hunko Katrin Göring-Eckardt
Nicole Bracht-Bendt Gisela Piltz Ulla Jelpke Britta Haßelmann
Klaus Breil Dr. Christiane Ratjen- Dr. Lukrezia Jochimsen Bettina Herlitzius
Rainer Brüderle Damerau Jutta Krellmann Winfried Hermann
Angelika Brunkhorst Dr. Birgit Reinemund Caren Lay Priska Hinz (Herborn)
Ernst Burgbacher Dr. Peter Röhlinger Sabine Leidig Dr. Anton Hofreiter
Marco Buschmann Dr. Stefan Ruppert Ralph Lenkert Bärbel Höhn
Sylvia Canel Björn Sänger Michael Leutert Ingrid Hönlinger
Helga Daub Frank Schäffler Stefan Liebich Thilo Hoppe
Reiner Deutschmann Christoph Schnurr Ulla Lötzer Uwe Kekeritz
Dr. Bijan Djir-Sarai Jimmy Schulz Dr. Gesine Lötzsch
Katja Keul
Patrick Döring Marina Schuster Thomas Lutze
Memet Kilic
Rainer Erdel Dr. Erik Schweickert Dorothee Menzner
Jörg van Essen Werner Simmling Cornelia Möhring Sven-Christian Kindler
Ulrike Flach Judith Skudelny Kornelia Möller Maria Klein-Schmeink
Otto Fricke Dr. Hermann Otto Solms Niema Movassat Ute Koczy
Dr. Edmund Peter Geisen Joachim Spatz Wolfgang Nešković Tom Koenigs
Dr. Wolfgang Gerhardt Dr. Max Stadler Thomas Nord Sylvia Kotting-Uhl
Hans-Michael Goldmann Torsten Staffeldt Petra Pau Oliver Krischer
Heinz Golombeck Dr. Rainer Stinner Jens Petermann Agnes Krumwiede
Miriam Gruß Stephan Thomae Richard Pitterle Stephan Kühn
Joachim Günther (Plauen) Florian Toncar Yvonne Ploetz Renate Künast
Dr. Christel Happach-Kasan Serkan Tören Ingrid Remmers Markus Kurth
Heinz-Peter Haustein Johannes Vogel Paul Schäfer (Köln) Monika Lazar
Manuel Höferlin (Lüdenscheid) Dr. Ilja Seifert Agnes Malczak
Elke Hoff Dr. Daniel Volk Kathrin Senger-Schäfer Jerzy Montag
Birgit Homburger Dr. Guido Westerwelle Raju Sharma Kerstin Müller (Köln)
Dr. Werner Hoyer Dr. Claudia Winterstein Dr. Petra Sitte Beate Müller-Gemmeke
Michael Kauch Dr. Volker Wissing Kersten Steinke Ingrid Nestle
Dr. Lutz Knopek Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Sabine Stüber Dr. Konstantin von Notz
Pascal Kober Alexander Süßmair Omid Nouripour
Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Kirsten Tackmann Friedrich Ostendorff
Gudrun Kopp
Nein
Frank Tempel Dr. Hermann Ott
Dr. h. c. Jürgen Koppelin Dr. Axel Troost
(B) DIE LINKE Lisa Paus (D)
Sebastian Körber Alexander Ulrich
Jan van Aken Brigitte Pothmer
Holger Krestel Kathrin Vogler
Patrick Kurth (Kyffhäuser) Agnes Alpers Tabea Rößner
Johanna Voß
Heinz Lanfermann Dr. Dietmar Bartsch Claudia Roth (Augsburg)
Sahra Wagenknecht
Sibylle Laurischk Herbert Behrens Halina Wawzyniak Krista Sager
Harald Leibrecht Karin Binder Harald Weinberg Manuel Sarrazin
Sabine Leutheusser- Matthias W. Birkwald Jörn Wunderlich Elisabeth Scharfenberg
Schnarrenberger Heidrun Bluhm Christine Scheel
Lars Lindemann Steffen Bockhahn Dr. Gerhard Schick
Christian Lindner Christine Buchholz Enthalten Dr. Frithjof Schmidt
Dr. Martin Lindner (Berlin) Eva Bulling-Schröter Dorothea Steiner
BÜNDNIS 90/
Michael Link (Heilbronn) Dr. Martina Bunge Dr. Wolfgang Strengmann-
DIE GRÜNEN
Dr. Erwin Lotter Roland Claus Kuhn
Oliver Luksic Dr. Diether Dehm Kerstin Andreae Hans-Christian Ströbele
Horst Meierhofer Heidrun Dittrich Marieluise Beck (Bremen) Dr. Harald Terpe
Patrick Meinhardt Werner Dreibus Volker Beck (Köln) Markus Tressel
Gabriele Molitor Dr. Dagmar Enkelmann Cornelia Behm Jürgen Trittin
Jan Mücke Wolfgang Gehrcke Birgitt Bender Daniela Wagner
Petra Müller (Aachen) Nicole Gohlke Viola von Cramon-Taubadel Wolfgang Wieland
Burkhardt Müller-Sönksen Diana Golze Ekin Deligöz Dr. Valerie Wilms
Dr. Martin Neumann Annette Groth Katja Dörner Josef Philip Winkler
(Lausitz) Dr. Gregor Gysi Hans-Josef Fell
Dirk Niebel Inge Höger Dr. Thomas Gambke
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10957
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Nun erteile ich als nächstem Redner in dieser Debatte gelegt. Dieser Vorstoß wird von den Praktikern der (C)
dem Kollegen Martin Gerster für die SPD-Fraktion das Steuer-Gewerkschaft und vielen anderen zweifelsfrei
Wort. unterstützt. Es hat allerdings unglaublich lange gedauert,
bis Schwarz-Gelb überhaupt etwas zu Papier gebracht
(Beifall bei der SPD) hat. Ich will anmerken: Womöglich auch vom Urteil des
BGH getrieben – sonst wäre von Ihnen vielleicht gar
Martin Gerster (SPD): nichts gekommen –, haben Sie ein Papier vorgelegt. Un-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- fertig, unsicher und unabgesprochen war Ihr Gesetzent-
gen! Geschätzter Herr Kolbe, wenn man Ihnen hier zu- wurf in der ersten Lesung. Von einer Abschaffung der
hört, kann man sich eigentlich nur wundern. Sie sagen, strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung,
wie toll und wie schön diese Koalition sei, wie toll die- wie ursprünglich angekündigt, war bei Ihnen letztend-
ses Schwarzgeldbekämpfungsgesetz sei. Der Beifall aus lich kein Wort mehr zu lesen.
den Reihen der Koalition war ja auch phänomenal; er Drei Anhörungen zu diesem Thema im Finanzaus-
war richtig tosend. schuss haben wir hinter uns. Sachverständige haben uns
(Manfred Kolbe [CDU/CSU]: So wie bei Ih- eindringlich und wiederholt darauf hingewiesen, welch
nen!) fachliche Unzulänglichkeiten Ihr Gesetzentwurf beinhal-
tet und welche heute schon absehbaren Probleme es bei
Wenn man sich die Entwicklung dieses Gesetzent- der Umsetzung Ihres Gesetzentwurfes in der Praxis ge-
wurfes und das Ergebnis genauer anschaut, könnte man ben wird. Doch von all dem wollten Sie nichts wissen.
leicht auf die Idee kommen, bei dem Titel Ihres Gesetz- Ihnen ging es in den Anhörungen – das war der Ein-
entwurfes handele es sich um einen Tippfehler. Man druck von vielen – um etwas anderes. Beide Fraktionen,
könnte denken, dass Sie statt Schwarzgeldbekämpfungs- die Union auf der einen Seite, die FDP auf der anderen
gesetz eigentlich ein Schwarz-Gelb-Bekämpfungsgesetz Seite, haben ihre eigenen Sachverständigen in den Stel-
meinten. lungskrieg geschickt, als es um die Frage „Strafzu-
(Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: schlag: ja oder nein?“ ging. Das war in den Anhörungen
Das ist ein ganz neuer Witz, Herr Kollege! Ein des Finanzausschusses das eigentliche Thema. So war
ganz neuer!) die Gefechtslage.

Um es mit den Worten des französischen Politikers (Beifall bei der SPD)
Edgar Faure zu sagen: Ein Kompromiss ist dann voll- Eines war deutlich spürbar: Kopf und Hinterteil der
kommen, wenn beide bekommen, was sie eigentlich gar Koalition marschierten los. Das Problem war nur: Sie
(B) nicht haben wollten. – Selten passte dieses Zitat so gut marschierten in unterschiedliche Richtungen. Dann be- (D)
wie bei diesem schwarz-gelben Schwarzgeldbekämp- wegt sich bekanntermaßen gar nichts.
fungsgesetz.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Im Übrigen: Wer Kopf und wer Hinterteil ist, das über-
Auf die Abstimmung mussten wir – mit „wir“ meine lasse ich an dieser Stelle Ihnen.
ich die ehrlichen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler – (Dr. Volker Wissing [FDP]: Warum? Sagen Sie
lange genug warten. Wir erinnern uns: Ein Jahr ist ver- es uns doch!)
gangen seit der Ankündigung einer Initiative durch die
Unionsfraktion. Damals, Anfang 2010 – wir wissen es Es ist kein Wunder, Herr Kollege Wissing, dass wir die-
genau –, kamen die sogenannten Steuer-CDs auf den ses Thema in der letzten Sitzungswoche leider nicht ab-
Markt, die reuigen Sünder waren unterwegs und erstatte- schließend beraten konnten, weil Sie sich noch nicht ei-
ten Selbstanzeige. Es gab vollmundige Ankündigungen. nig waren. Aber ich billige Ihnen gerne zu – Sie haben es
CSU-Kollege Michelbach – er ist heute leider nicht da; gesagt –: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit.
er wird wissen, warum – forderte damals in der ARD die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Manfred
komplette Abschaffung der strafbefreienden Selbstan- Kolbe [CDU/CSU])
zeige.
Das ist richtig, solange das Ergebnis stimmt.
(Nicolette Kressl [SPD]: Ja!)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das stimmt bei uns
Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller sagte, ja!)
Steuerflüchtlinge dürften nicht mehr straffrei davonkom-
men. Wörtlich sagte er den Satz – er ist fast maßge- Gleich vorweg: Es stimmt nicht.
schneidert im Hinblick auf Ihren jetzigen Gesetzentwurf, (Dr. Daniel Volk [FDP]: Ach so! Schade! –
Ihren Änderungsantrag und die heutige Debatte –: Der Joachim Poß [SPD]: Bei Wissing hat noch nie
Staat darf sich seinen Anspruch, Unrecht zu bestrafen, etwas gestimmt!)
nicht abkaufen lassen. – Wo Herr Müller recht hat, hat er
recht. Das muss man ganz klar sagen. Ihr Ziel haben Sie nämlich gründlich verfehlt. Dies gilt
auch im Hinblick auf die Ankündigungen und die gewal-
(Beifall bei der SPD) tigen Erwartungen, die Sie in dieser Frage selbst ge-
weckt haben. Hier haben Sie kläglich versagt.
Wir, die SPD-Fraktion, haben einen Gesetzentwurf
zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige vor- (Beifall bei der SPD)
10958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Martin Gerster
(A) Die größte öffentliche Beachtung fand der Eiertanz daraus aber leider nicht die notwendigen Konsequenzen. (C)
um den Strafzuschlag. Ich gebe Ihnen einen kurzen Ihre Versuche, den Gesetzentwurf zu verteidigen, sind
Rückblick auf die formulierten Ansprüche und die Wirk- untauglich.
lichkeit der Kompromissfindung innerhalb der Koali-
Herr Kolbe, Sie haben wieder das Prinzip der tätigen
tion. In der Zeitschrift Das Parlament hat der FDP-Kol-
Reue beschworen. Ich sage Ihnen ganz klar: Diese Reue
lege Daniel Volk noch am 28. Februar dieses Jahres, also
ist reine Fiktion, genauso wie die Behauptung, der Steu-
vor weniger als drei Wochen, einen Aufschlag abge-
erhinterzieher sei künftig gezwungen, vollständig reinen
lehnt. Wörtlich wurde er wie folgt zitiert:
Tisch zu machen. Ich zitiere nochmals die Kollegen
Der Verwaltungszuschlag ist ein verkappter Straf- Flosbach und Kolbe vom 7. März in der Zeitschrift Das
zuschlag. Parlament:
(Ulrike Flach [FDP]: So ist es ja auch!) Strafbefreiung soll nur derjenige erwarten dürfen,
der noch alle verfolgbaren Steuerhinterziehungen
Das passt nicht zu der strafbefreienden Erklärung. der Vergangenheit vollständig offenbart.
Klaus-Peter Flosbach und Manfred Kolbe von der CDU In der Praxis ist dieser Anspruch nicht umsetzbar.
sagten dazu wörtlich in derselben Ausgabe der Zeit-
schrift Das Parlament: (Beifall bei der SPD)
Es ist ein Gebot der Steuergerechtigkeit, dass die Sie wissen das spätestens seit der Anhörung, aber Sie ha-
Nachzahlung eines Steuerhinterziehers nicht ben öffentlichkeitswirksam die Kulisse einer allumfas-
ebenso behandelt wird wie die Nachzahlung eines senden Beichte reumütiger Steuersünder aufgebaut – eine
ehrlichen Steuerzahlers. Kulisse, die sich in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht
wiederfindet.
(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Und wie
ist es jetzt?) Ich sage Ihnen voraus: Die Steuerverwaltungen wer-
den sich bei Ihnen noch ganz herzlich bedanken, wenn
Nur, die Wahrheit ist: Das Problem, dass Steuersäu- die ersten Widersprüche eingegangen und die ersten
mige finanziell schlechter gestellt sind als der zur Selbst- Streitfälle anhängig sind. Die Sachverständigen haben in
anzeige bereite Steuerkriminelle, beheben Sie mit dem der Anhörung dazu alles Notwendige gesagt, aber Sie
jetzt auf dem Tisch liegenden Gesetzentwurf überhaupt tragen es auf dem Rücken der Beamtinnen und Beamten
nicht. aus.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Angesichts dieser mageren Bilanz des Gesetzent-
(B) der LINKEN) wurfs wäre es besser gewesen, Sie hätten den Mut aufge- (D)
bracht, einen klaren Schnitt zu machen und die strafbe-
Sie treten letztendlich Ihr selbst formuliertes Gebot der
freiende Selbstanzeige abzuschaffen, wie wir es in
Steuergerechtigkeit mit Füßen. Aus meiner Sicht noch
unserem Gesetzentwurf fordern.
schlimmer: Demjenigen, der mehr Geld als den neuen
Grenzbetrag von 50 000 Euro auf dem Hinterzieherkerb- Danke schön.
holz hat, wird die relativ bequeme Möglichkeit eröffnet,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sich gegen Zahlung eines 5-Prozent-Zuschlags von der
der LINKEN)
Strafverfolgung freizukaufen. Ich frage mich: Welche
Botschaft soll denn davon ausgehen? Wie sagte es doch
der CDU-Ministerpräsident Peter Müller vor einem Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Jahr? Ich wiederhole es gerne noch einmal. Er mahnte, Das Wort hat nun Kollege Volker Wissing für die
der Staat dürfe sich seinen Anspruch, Unrecht zu bestra- FDP-Fraktion.
fen, nicht abkaufen lassen. (Beifall bei der FDP)
Oder anders: Wer strategisch und in großem Maßstab
Steuern hinterzieht, sollte vielleicht besser gleich die Dr. Volker Wissing (FDP):
5 Prozent mit einplanen. Nur wer sich den Zuschlag Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nicht leisten kann, wird bestraft. Ihr Koalitionskompro- Über dieses Thema wurde hier schon viel gesprochen;
miss – ich denke, das wird deutlich – hat nur ein einziges das ist ganz klar. Wir haben intensive Beratungen im Fi-
Motiv: Angst vor Gesichtsverlust. Generalprävention, nanzausschuss geführt. Nur, lieber Kollege Gerster, Sie
werte Kolleginnen und Kollegen der Koalition, sieht an- erwecken hier den Eindruck, als hätte die SPD bei die-
ders aus – effektive Bekämpfung von Steuerhinterzie- sem Thema jemals gehandelt. Sie reden nur darüber. Die
hung auch. Koalition hingegen handelt und legt einen konkreten Ge-
(Beifall bei der SPD) setzentwurf vor. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen,
die es mit der Bekämpfung von Steuerhinterziehung
Geradezu gebetsmühlenartig haben Sie in der Vergan- nicht ernst meinen, und uns, die Fakten schaffen.
genheit immer wieder beschworen, Steuerhinterziehung
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sei kein Kavaliersdelikt. Damit haben Sie natürlich
recht. Denn Steuerhinterziehung ist eine Straftat, die un- Meine Damen und Herren, wir verfolgen mit dem Ge-
serem Gemeinwesen das dringend benötigte Geld für setzentwurf genau das, was wir den ehrlichen Steuerzah-
wichtige Aufgaben und Vorhaben entzieht. Sie ziehen lerinnen und Steuerzahlern schuldig sind: Wir sorgen da-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10959
Dr. Volker Wissing
(A) für, dass kein ehrlicher Bürger unter Verdacht gerät, nur (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
weil er vergessen hat, etwas beim Finanzamt einzurei- NEN]: Wie viele Arbeitnehmer verdienen denn
chen. Deshalb bleibt es bis 50 000 Euro bei der strafbe- so viel, dass sie 50 000 Euro pro Jahr hinterzie-
freienden Selbstanzeige für ehrliche Steuerzahlerinnen hen können? Das ist doch Mumpitz!)
und Steuerzahler, meine Damen und Herren.
Wir wollten nicht die Verdächtigung der ehrlichen Ar-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – beitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern die schär-
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fere Sanktionierung derjenigen, die systematisch Steuern
NEN]: Das ist ja wohl dreist!) hinterziehen. Sie verhalten sich unehrlich.
Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass der Ehrliche in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Deutschland nicht länger der Dumme ist, und erhöhen Nicolette Kressl [SPD]: Da muss ich aber
die Sanktionen. Schwere Fälle der Steuerhinterziehung wirklich lachen!)
werden trotz strafbefreiender Selbstanzeige in Zukunft Mit der jetzt gefundenen Lösung wird schärfer sank-
schärfer sanktioniert. tioniert. Das Geschäftsmodell der Steuerhinterziehung
Es darf nämlich nicht so wie unter SPD-Finanzminis- gibt es in Deutschland nicht mehr. Die Teilehrlichkeit
tern bleiben. Damals konnte man die strafbefreiende wird nicht mehr belohnt. Das alles ist uns gelungen. Wir
Selbstanzeige als Geschäftsmodell nutzen. Wer künftig haben damit eine Lösung erreicht, durch die der Anstän-
50 000 Euro an Steuern hinterzieht, bleibt nicht mehr dige nicht zum Verlierer gemacht wird. Das ist gute Ge-
straffrei, nur weil er sich selbst anzeigt. In diesen Fällen setzgebung.
gilt künftig, dass die Steuerhinterziehung auch bei Selbst- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
anzeige strafbar bleibt. Nur wer sich selbst offenbart und
zusätzlich zu den fälligen Zinsen eine Geldbuße zahlt, Wenn einige Sachverständige, die bei der Anhörung
kommt künftig um eine Verurteilung herum. Es kommt im Finanzausschuss anwesend waren, diese Debatte ver-
also zur strafverfahrensrechtlichen Einstellung gegen folgen, dann kann ich ihnen sagen: Herzlichen Dank für
Geldauflage. Das ist die Konstruktion, die wir gewählt all den Sachverstand, den Sie uns zur Verfügung gestellt
haben. Das haben Sie noch nicht verstanden. Deswegen haben. Ihre wertvollen Hinweise sind hier ganz konkret
haben Sie hier wenig Sinnvolles gesagt. in die Gesetzgebung mit eingeflossen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Hat aber
bei der SPD) nicht geholfen!)

Die unwürdige Situation, dass erst ein Beamter zu Deswegen haben wir den Entwurf nach der Anhörung
(B)
Hause klingeln muss, damit man als entdeckt gilt, wird auch noch einmal korrigiert und uns mit der Beratung (D)
von uns abgeschafft. Künftig kann man eine strafrechtli- Zeit genommen. Wir haben im Ziel keine Unterschiede
che Prüfungsanordnung zustellen, und dann ist die Falle gehabt, aber wir wollten die Interessen der ehrlichen
zu. Das erhöht das Entdeckungsrisiko, und jeder, der et- Steuerzahlerinnen und Steuerzahler eben auch berück-
was zu offenbaren hat, sollte die Chance nutzen und sich sichtigt finden, und wir wollten eine verfassungskon-
jetzt ehrlich machen. Unter Schwarz-Gelb wird es ernst forme Lösung.
mit der Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Das ist Sie von der SPD tun hier so, als wären Sie diejenigen,
das Signal, das auch von dieser Debatte ausgehen muss. die die Bekämpfung der Steuerhinterziehung immer ver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) folgt hätten.
(Joachim Poß [SPD]: Ja!)
Wir haben uns viel Mühe mit der Beratung dieses Ge-
setzentwurfs gemacht, und das nicht, weil wir unter- Seit Jahren reden Sie darüber, passiert ist in der Regie-
schiedliche Auffassungen gehabt hätten, sondern weil es rungsverantwortung unter SPD-Finanzministern nichts.
eine komplizierte Sache war. Wir mussten eine verfas-
sungskonforme Lösung finden, wir mussten eine praxis- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist eine Lüge!)
taugliche Lösung finden, und wir mussten – das war der – Frau Kressl, die SPD hat es mit den Grünen nicht ge-
FDP besonders wichtig – für die ehrlichen Steuerzahle- schafft, die strafbefreiende Selbstanzeige zu verschärfen,
rinnen und Steuerzahler einen fairen Weg der Verschär- und Sie haben es auch nicht in der Großen Koalition ge-
fung finden. Nicht die Kriminalisierung, die Verdächti- schafft, dieses Problem zu lösen.
gung der Ehrlichen, sondern die Sanktion der Unehr-
lichen war unser Ziel. Genau das haben wir erreicht. Jetzt kann man sich natürlich fragen, warum das so
ist. Wenn man sich Ihren Alternativvorschlag näher an-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schaut, dann wird das klar. Sie wollen nämlich keine
Manfred Zöllmer [SPD]: Was Sie unter „ehr- wirkliche Lösung und schlagen etwas vor, was nicht
lich“ verstehen!) geht. Beantworten Sie doch einmal glaubwürdig fol-
gende Fragen:
Ein Zuschlagen im Falle einer bloßen Korrektur der
Steuererklärung hätte dazu geführt, dass jeder Arbeit- Sie wollen die strafbefreiende Selbstanzeige abschaf-
nehmer, der eine Kleinigkeit korrigiert hätte, unter dem fen. Warum machen Sie einen solchen Vorschlag, durch
Verdacht gestanden hätte, dass er die Korrektur nach ei- den die Verfassung verletzt wird, nach der sich kein Bür-
ner vorsätzlichen Täuschung vorgenommen hat. ger selbst belasten muss und nach der er gleichzeitig an
10960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Volker Wissing


(A) der vollständigen Erhebung seiner Steuerdaten mitwir- Damit komme ich zum springenden Punkt: Nur das (C)
ken muss? Warum lehnen denn amtierende Finanzminis- Risiko der Entdeckung bringt dem Staat die gewünsch-
ter Ihren Vorschlag ab? Warum haben Sie in elf Jahren ten Steuereinnahmen. Das letzte Jahr war das beste Bei-
eigener Verantwortung das, was jetzt angeblich ein so spiel: Nach den Berichten in den Medien über Steuer-
guter Vorschlag ist, nicht umgesetzt? An der CDU/CSU CDs ging eine Flut von 30 000 Selbstanzeigen ein. Der
kann das in der letzten Legislaturperiode jedenfalls nicht größte Teil der hinterzogenen Gelder kam aus den be-
gelegen haben; sie war schnell mit uns einig. kanntgewordenen Herkunftsländern und Geldinstituten.
Vielen Dank. Statt nur ein bisschen an der Selbstanzeige herumzu-
doktern, muss die Wahrscheinlichkeit, dass Steuerhinter-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ziehung aufgedeckt wird, erhöht werden. Deshalb ver-
langen wir, dass die Finanzämter mehr Personal be-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: kommen, um effektiv Steuerhinterzieher verfolgen und
Das Wort hat nun Richard Pitterle für die Fraktion Die aufdecken zu können.
Linke.
Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich auf ei-
(Beifall bei der LINKEN) nem internationalen automatischen Informationsaustausch
in Steuersachen zu bestehen. Der vorgelegte Gesetzent-
Richard Pitterle (DIE LINKE): wurf führt nicht dazu, dass sich die Steuerhinterzieher in
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Deutschland bei ihren kriminellen Machenschaften we-
nen und Kollegen! Herr Wissing, ich befürchte, niger sicher fühlen. Die Regierungskoalition behauptet
Schwarz-Gelb hat ein neues Geschäftsmodell eingeführt. zwar, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verhindern
Das wird sich künftig vielleicht „5 plus“ nennen, aber zu wollen, dass die strafbefreiende Selbstanzeige als In-
dazu komme ich noch. strument der Steuergestaltung missbraucht wird. Aber
selbst nach Ihren jüngsten Nachbesserungen im Finanz-
Die Möglichkeit, durch eine Selbstanzeige der Bestra-
ausschuss besteht ein Widerspruch zwischen Text und
fung zu entgehen, ist ein Privileg. Von diesem Privileg
Begründung des Gesetzentwurfs. In der Begründung
profitieren überwiegend Menschen mit viel Geld. Weil
heißt es wörtlich – ich zitiere –:
sie das Geld mehr lieben als ihre gesellschaftlichen Ver-
pflichtungen, werden sie zu Steuerhinterziehern, oder sie Nur wer sich für eine vollständige Rückkehr in die
entziehen sich der Steuerpflicht, indem sie aus steuerli- Steuerehrlichkeit entscheidet, kann sich der Straf-
chen Gründen ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, wie freiheit sicher sein.
manches Supermodel oder mancher Supertrainer.
(B) Nach dem Text des Gesetzentwurfs wird man jedoch (D)
Die Hartz-IV-Empfänger, die sich etwas dazuverdie- schon straflos gestellt, wenn man die falschen Angaben
nen, ohne es der Agentur für Arbeit mitzuteilen, haben zu einer Steuerart vollständig berichtigt.
dieses Privileg nicht. Sie werden knallhart wegen der Er-
schleichung von Sozialleistungen angeklagt und müssen Es geht gar nicht um das in der Diskussion angespro-
sich vor Gericht verantworten. Finden Sie das gerecht? chene Argument der Nichtzahlung der Hundesteuer.
Wir nicht. Deshalb gehört nach Meinung der Linken die Aber erklären Sie mir doch bitte, warum jemand, der
strafbefreiende Selbstanzeige abgeschafft. Diese wird seine Angaben zur Einkommensteuer korrigiert, aber
von zu vielen als taktisches Instrument benutzt, wenn es nicht seine Hinterziehung bei der Umsatzsteuer offen-
darum geht, dem Staat die Steuern, die ihm zustehen, bart, straflos gestellt wird. Das ist nach Ihrem Gesetzent-
vorzuenthalten. wurf der Fall.

Steuerhinterziehung ist kriminell. Sie ist kein Kava- So ist aus der von Ihnen behaupteten bissigen Ver-
liersdelikt. Bei keiner anderen Straftat weiß der Täter schärfung ein Papiertiger geworden. Sie gaukeln den
von vornherein, dass die Straftat schon dann, wenn er Bürgerinnen und Bürgern vor, etwas zu unternehmen.
nur eine Bedingung erfüllt, ohne Folgen bleibt. Das be- Ich frage Sie: Warum haben Sie nicht einmal vorgese-
deutet, dass die strafbefreiende Selbstanzeige dazu bei- hen, dass die Korrektur der falsch erklärten Steueranga-
trägt, Steuerhinterziehung attraktiv zu machen. Sie macht ben mit einer Versicherung an Eides statt ergänzt wird?
die Hinterziehung ein Stück weit kalkulierbar und nimmt Das würde das Risiko der Strafbarkeit derjenigen erhö-
dem Risiko der Entdeckung den Schrecken. hen, die sich nicht vollständig offenbaren.
Durch Berichte über CDs in den Medien wissen die Sie haben die Dreistigkeit, zu behaupten, mit Ihrem
Steuerhinterzieher, ob ein Entdeckungsrisiko besteht und Gesetzentwurf wäre dem Taktieren mit der Selbstan-
dass sie dem Staat eventuell doch ihre verheimlichten, zeige bei Steuerhinterziehung ein Riegel vorgeschoben.
ins Ausland transferierten Einkünfte anzeigen sollten. Damit das Taktieren wirklich beendet wird, muss die
Würde die strafbefreiende Selbstanzeige ganz abge- strafbefreiende Selbstanzeige abgeschafft werden.
schafft, hätte dies zwei Folgen: Die Steuerhinterziehung (Beifall bei der LINKEN)
würde gefährlicher, sodass sich weniger Menschen
trauen, Steuern zu hinterziehen. Dadurch erhöhten sich Die Regierung verweist darauf, dass der Staat vom In-
die Steuereinnahmen für den Staat. Deshalb hat die Ab- strument der strafbefreienden Selbstanzeige profitiere,
schaffung der strafbefreienden Selbstanzeige eine gene- weil Quellen aufgedeckt würden, die der Staat nicht er-
ralpräventive und eine fiskalische Wirkung. schlossen hätte. Aber auch hier täuschen Sie die Öffent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10961
Richard Pitterle
(A) lichkeit. In anderen Staaten gibt es dieses Instrument vornehmen. In diesem Gesetzentwurf ist nur ein kleiner (C)
nicht, aber es gibt dort eine Bestimmung, dass das Ge- Schritt enthalten. Wir fordern die umfassende Behand-
richt bei einer Selbstanzeige von der Bestrafung absehen lung des Themas aber für die nächsten Beratungen im
kann. Ich sage Ihnen, worin der Unterschied liegt: Das Ausschuss ein.
Ganze findet nicht zwischen der Finanzverwaltung und
dem Steuerhinterzieher statt, sondern ist ein öffentliches Der Kern dieses Gesetzentwurfs ist die strafbefrei-
gerichtliches Verfahren. Dadurch wird auch klar, dass es ende Selbstanzeige. Was Sie da machen
sich nicht um ein Kavaliersdelikt handelt. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Ist gut!)
In Kanada ist übrigens die Möglichkeit, durch eine in der Öffentlichkeitsarbeit und in Ihren heutigen Reden,
Selbstanzeige der Strafbarkeit zu entgehen, auf ein einzi- ist ein großer Bluff.
ges Mal beschränkt. Warum nehmen Sie sich das nicht
zum Vorbild? Wie viele Brücken wollen Sie den Unehr- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
lichen noch bauen? Sie stellen wenige Punkte der Verschärfung in den
Die Bundesregierung schafft es sogar, den kriminel- Vordergrund, die teilweise bereits der Bundesgerichtshof
len Steuerhinterzieher weiterhin besser zu behandeln als festgelegt hat, und Sie machen den Leuten damit vor,
einen säumigen Steuerehrlichen. Bei steuerehrlichen dass es wirklich darum ginge, systematisch durchzugrei-
Bürgerinnen und Bürger, die ihre Einkünfte dem Staat fen. Aber an vielen Passagen in diesem Gesetzentwurf
offenlegen, wird die Steuer festgesetzt. Wenn sie mit der stellen wir fest, dass das Gegenteil der Fall ist.
Zahlung der festgesetzten Steuer in Verzug kommen, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Gesetze macht im-
müssen sie darauf 12 Prozent pro Jahr an Säumniszu- mer noch das Parlament, nicht der Bundesge-
schlag zahlen. richtshof!)
Der kriminelle Hinterzieher jedoch, der sich selbst an-
– Genau. Deswegen komme ich auf die einzelnen Punkte
zeigt, zahlt mit 6 Prozent Hinterziehungszinsen pro Jahr
zu sprechen.
nur die Hälfte. Im Gesetzentwurf schlagen Sie vor, bei
hinterzogenen Steuern von über 50 000 Euro einen Zu- Aber die rechtlichen Verhältnisse werden sich durch
schlag von 5 Prozent einzuführen, um straffrei zu blei- dieses Gesetz an manchen Stellen verschlechtern. Herr
ben. Dann zahlt er also 11 Prozent insgesamt. In jedem Wissing, ich finde es sehr interessant, wie Sie argumen-
Fall muss er weniger bezahlen als der steuerehrliche tieren, Stichwort: die ehrlichen Arbeitnehmerinnen und
Bürger, der gerade nicht flüssig ist. Wir fordern, dass der Arbeitnehmer. Welcher Arbeitnehmer und welche
Zuschlag schon für den ersten Euro hinterzogener Steu- Arbeitnehmerin hat denn die Möglichkeit, pro Jahr
(B) ern gelten muss. 5 Prozent sind zu wenig; 12 Prozent 50 000 Euro Steuern zu hinterziehen? (D)
sind angemessen. Ihre Ablehnung eines höheren Zu-
schlags zeugt nur davon, wie egal Ihnen Steuerehrlich- (Heiterkeit bei der LINKEN)
keit und Steuergerechtigkeit sind. Werfen Sie doch einmal einen Blick in die Statistik. Die
(Beifall bei der LINKEN) meisten Menschen wären froh, wenn Sie so viel im Jahr
verdienen würden.
Unsere Zustimmung für diese Politik bekommen Sie
nicht. (Zurufe von der FDP)

(Beifall bei der LINKEN) Aber Sie appellieren hier an die ehrlichen Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer. Das Gros der Menschen
hat von dieser Regelung überhaupt nichts; seien Sie doch
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ehrlich.
Das Wort hat nun Kollege Gerhard Schick für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zurufe von der FDP)
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Er zieht jetzt den
Vergleich zu Rot-Grün!) Wenn Sie wenigstens Ihren eigenen Ansprüchen ge-
recht werden würden; das aber tun Sie nicht. Ich zitiere
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus dem Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP.
NEN): Unterzeichnet haben ihn Volker Kauder, Hans-Peter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Friedrich und Birgit Homburger. Darin heißt es:
werde als Erstes einen Satz zum Thema Geldwäsche sa- … dem Steuerhinterzieher darf durch seine Hinter-
gen, das mir sehr am Herzen liegt. Ich glaube, dass wir ziehungsstrategie gegenüber einem bloß säumigen
in Deutschland einen massiven Fehler machen, indem Steuerpflichtigen, der eine ordnungsgemäße Erklä-
wir in Bund und Ländern dieses Thema nebenbei in dem rung abgegeben hat, kein wirtschaftlicher Vorteil
einen oder anderen Gesetz behandeln. Denn in der entstehen.
Summe ebnen Bund und Länder organisierter Kriminali-
tät den Weg nach Deutschland und unterstützen damit im (Dr. Volker Wissing [FDP]: Tut es auch nicht!)
Ausland genau die Strukturen, die wir angeblich so Das setzen Sie mit diesem Gesetzentwurf nicht um.
falsch und problematisch finden. Deswegen müssen wir
uns das Thema Geldwäsche noch einmal gründlicher (Dr. Volker Wissing [FDP]: Doch!)
10962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Gerhard Schick


(A) – Sie setzen es unterhalb der Grenze von 50 000 Euro Manfred Kolbe (CDU/CSU): (C)
pro Jahr nicht um, weil es da bei der bisherigen Rege- Herr Kollege Schick, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
lung bleibt, nämlich Hinterziehungszinsen in Höhe von nehmen, dass sich die Rechtsprechung des Bundesge-
6 Prozent und Säumniszuschlag in Höhe von 12 Prozent. richtshofs auf eine Tat bezieht, also einen Veranlagungs-
zeitraum bzw. eine Einkommensteuererklärung – und
(Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP]) nur auf diese eine Tat –, während in unserem Gesetzent-
Sie setzen es aber noch nicht einmal bei den Fällen wurf verlangt wird, dass alle Veranlagungszeiträume ei-
über 50 000 Euro um; denn dann gelten 11 Prozent, das ner Steuerart angegeben werden müssen, damit es zu ei-
heißt, der Säumniszuschlag in Höhe von 12 Prozent ist ner wirksamen Selbstanzeige kommt? Es gibt also eine
immer noch höher. Sie sind also an Ihren eigenen An- deutliche Ausweitung gegenüber der Rechtsprechung
sprüchen gescheitert. des Bundesgerichtshofs, auch gegenüber dem Beschluss
vom 20. Mai.
Das gilt auch für den zweiten Anspruch, den Sie da-
mals formuliert haben – ich zitiere wieder –: Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Strafbefreiung soll nur noch derjenige erwarten
dürfen, der alle noch verfolgbaren Steuerhinterzie- Im Gesetzentwurf der Bundesregierung war noch von
hungen der Vergangenheit vollständig offenbart. mehreren Steuerarten die Rede. An dieser Stelle schrän-
ken Sie es ein. Damit kommt es nicht zur vollständigen
Das schränken Sie jetzt auf eine einzige Steuerart ein. Steuerehrlichkeit. Das ist genau der Punkt, den wir ein-
Das heißt eben nicht: alle Hinterziehungen. Damit ver- fordern.
schlechtern Sie die Lage gegenüber der Rechtsprechung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
des Bundesgerichtshofes einmal mehr, der sagt:
sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus-
Die Benennung aller denkbaren Handlungsvarian- Peter Flosbach [CDU/CSU]: Beantworten Sie
ten zur Korrektur von unrichtigen und unvollständi- die Frage!)
gen Angaben … macht deutlich, dass das Gesetz Ich will auf den Punkt, den ich angesprochen habe,
die vollständige Rückkehr zur Steuerehrlichkeit zurückkommen. Sie sagen, es bedürfe eines Vertrauens-
will. Nur unter dieser Voraussetzung wird der Täter schutzes für die Leute, und Sie beziehen sich auf den al-
straffrei. ten Rechtsgrundsatz: nulla poena sine lege. Aber die un-
Die vollständige Ehrlichkeit, die auch in der Begrün- echte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich möglich. Es
dung zu dem Gesetzentwurf steht, ist nicht mehr erfor- bedarf einer Abwägung. Durch die Übergangsfristen
(B) derlich, wenn dieses Gesetz in Kraft tritt. kann man dieses Problem, wie wir es vorgeschlagen ha- (D)
ben, lösen. Wir schlagen vor, dass die Menschen, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine unehrliche Teilselbstanzeige abgegeben haben, sich
sowie bei Abgeordneten der SPD) innerhalb von zwölf Monaten vollständig ehrlich ma-
chen müssen. Das lehnen Sie ab, weil Sie einen Be-
Notwendig wäre es, einzuschränken, dass man das standsschutz für Tricksereien festschreiben wollen. Da-
mehrmals im Leben tun kann. Reue heißt doch nicht, mit wird deutlich, um was es hier insgesamt geht.
dass ich am nächsten Tag gleich wieder damit anfange.
Warum ist es nicht möglich, einen klaren Schnitt zu ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
chen, damit man die Tat nicht mehrfach wiederholen Dr. Volker Wissing [FDP]: Es gibt auch noch
kann? rechtsstaatliche Prinzipien! Und das bleibt
auch so! – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]:
Ich komme auf den Kernpunkt, den wir mit einem Die Grünen stehen über allen rechtsstaatlichen
Änderungsantrag in den Vordergrund gestellt haben, weil Prinzipien!)
wir ein Verhalten besonders unanständig finden: Durch
die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kann sich – Die Rechtsauffassung – das ist in der Anhörung
jemand, der nur sein Konto bei der Credit Suisse aufge- deutlich geworden – ist genau von zwei, juristisch
deckt hat, aber nicht das Konto bei der UBS, nicht mehr durchaus kundigen Sachverständigen geäußert worden,
auf seine unehrliche Teilselbstanzeige berufen. Es bedarf nämlich dass die Übergangsregelung, die Sie schaffen,
einer Übergangsfrist; da haben Sie, Herr Kolbe, voll- in der Praxis Probleme schafft und einen falschen Anreiz
kommen recht. Aber so, wie Sie die Übergangsfrist aus- setzt. Es wurde deutlich, dass man rechtlich beide Wege
gestalten, wird diese Trickserei bei der Selbstanzeige für gehen kann, aber Sie entscheiden sich für den problema-
die Zukunft unter Bestandsschutz gestellt. Damit versto- tischen Weg. Das ist der Punkt.
ßen Sie wieder gegen einen Grundsatz, den Sie in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Öffentlichkeit hochhalten, nämlich dass sich Trickserei des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE])
nicht mehr lohnen soll. Doch genau das schreiben Sie in
dem Gesetzentwurf fest. Sie sagen, etwas anderes sei Ich finde, wir müssen diesen Gesetzentwurf auch vor
verfassungsrechtlich nicht möglich. dem Hintergrund des Zustands des Steuervollzugs in
Deutschland, an dem sich dringend etwas verändern
muss, bewerten. Der Bundesgerichtshof hat 2007 festge-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: stellt: Der Steuervollzug in Deutschland ist gesetzwid-
Eine Zwischenfrage von Herrn Kolbe. Bitte schön. rig, weil ein gleichmäßiger Vollzug nicht möglich ist. –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10963
Dr. Gerhard Schick
(A) Vor diesem Hintergrund ist es natürlich wichtig, dass wir Die christlich-liberale Koalition hat sich Steuerge- (C)
hier Gesetze machen, die an den Kern des Problems he- rechtigkeit zum Ziel gesetzt; Herr Poß, ich hoffe, auch
rangehen und die Entdeckungswahrscheinlichkeit erhö- die Opposition agiert in diesem Sinne. Das bedeutet,
hen, anstatt falsche Anreize zu setzen, sodass die Ehrli- dass an eine strafbefreiende Selbstanzeige hohe Anfor-
chen die Dummen sind. Das muss verhindert werden. derungen zu stellen sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der eingebrachte Gesetzentwurf basiert auf drei
und bei der SPD sowie des Abg. Richard Grundlagen:
Pitterle [DIE LINKE])
Erstens. Wir korrigieren Defizite im deutschen
Rechtssystem bei der Bekämpfung von Geldwäsche und
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Terrorismusfinanzierung. Die Erweiterung des Geldwä-
Das Wort hat nun Kollege Peter Aumer für die CDU/ schestraftatbestandes im vorliegenden Gesetzentwurf
CSU-Fraktion. wird ein wichtiger Beitrag, Geldwäsche und Terroris-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) musfinanzierung in Deutschland noch wirksamer zu be-
kämpfen.
Peter Aumer (CDU/CSU): Zweitens. Die christlich-liberale Koalition konkreti-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- siert das Steuerstrafrecht zielgenau. Das erfolgt aufgrund
nen und Kollegen! Das Schwarzgeldbekämpfungsge- eines Urteils des Bundesgerichtshofs im Mai 2010; Kol-
setz, das wir heute beschließen, geht auf eine Initiative lege Kolbe hat dies vorher schon angesprochen. Darin
der Union zurück. Es zeigt konsequentes Handeln und entschied das Gericht, dass sich Steuersünder mit einer
ist eine Antwort auf die Flut von Selbstanzeigen nach Selbstanzeige vor einer Bestrafung nicht mehr einfach so
dem Auftauchen der Steuerhinterziehungs-CDs. retten können. Die Selbstanzeige muss alle den Behör-
den verheimlichten Konten betreffen, und sie muss vor
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Entdeckung der Straftat erfolgen. Eine Selbstanzeige
NEN]: Inkonsequent! Das haben Sie doch ge- während einer polizeilichen Durchsuchung genügt nicht.
rade gehört!) Zukünftig ist ein Steuersünder nur noch dann straffrei,
– Das ist eine Frage der Einschätzung. Sie schätzen das wenn er die komplette Steuerart im nicht verjährten
so ein und wir so. Ich glaube, wir sind auf der richtigen Steuerzeitraum zurückzahlt. Damit werden nur diejeni-
Seite. gen zu Steuerhinterziehern, die versuchen, ihr zu ver-
steuerndes Geld in verschiedenen Staaten am Fiskus vor-
Wir haben frühzeitig eine Verschärfung der Voraus- beizuschleusen. Dieser Hinterziehungstaktik muss ein
(B) setzungen für die strafbefreiende Selbstanzeige gefor- Riegel vorgeschoben werden. (D)
dert, und wir setzen das, was wir gefordert haben, auch
in konkrete Taten um. Das, was die christlich-liberale Wir, meine sehr geehrten Damen und Herren der Op-
Koalition verspricht, das hält sie auch. position, setzen das um, was der Bundesgerichtshof ent-
schieden hat. Die vom BGH festgestellte Steuerhinter-
Die Bundesregierung hat in den letzten Jahren ihren ziehung großen Ausmaßes – das sind Hinterziehungen
Teil dazu beigetragen, Steuerlücken zu schließen. Die von über 50 000 Euro – werden durch die christlich-
Doppelbesteuerungsabkommen mit unseren europäi- liberale Koalition mit einem Strafzuschlag in Höhe von
schen Nachbarn sind nahezu abgeschlossen. Aber das al- 5 Prozent der hinterzogenen Steuer belegt. Herr
les allein reicht nicht aus. In den sieben Jahren von Rot- Dr. Schick, Sie haben in Ihren Ausführungen etwas
Grün schaffte es die damalige Bundesregierung nicht, durcheinandergebracht: Bei denen, die Steuerhinterzie-
Steuerunehrlichkeit erfolgreich zu bekämpfen. Nun, in hung von unter 50 000 Euro begehen, gibt es diesen
der Opposition, kann es Ihnen nicht weit genug gehen, Strafzuschlag nicht.
und Sie verlangen, dass die strafbefreiende Selbstan-
zeige gänzlich abgeschafft wird. Die SPD-Finanzminis- Außerdem haben wir Rechtssicherheit geschaffen.
ter der Länder sehen dies jedoch anders. Wieder einmal Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsauffassung
typisch SPD: Die Rechte weiß nicht, was die Linke tut. der Bundesregierung bestätigt. Die vom Bund gekauften
Steuer-CDs dürfen zur Aufklärung von Steuerhinterzie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und hung benutzt werden. Anstatt auf Amnestie zu setzen,
der FDP) wie Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren von
Oder besser: die Pragmatiker gegen die Utopisten. Rot-Grün, erhöhen wir den Druck auf die Steuerhinter-
ziehungstaktiker. Steuerhinterziehung ist kein Kavaliers-
Herr Gerster, Sie sprachen vorhin von Anspruch und delikt. Auch Hinterziehungstaktiker müssen erkennen,
Wirklichkeit in Ihrer Regierungszeit. Der Anspruch, den dass der Staat ernst macht im Kampf gegen die Steuer-
Sie an sich stellen sollten, wurde nicht in die Wirklich- hinterziehung. Somit haben wir unser Ziel erreicht, dass
keit umgesetzt. Wir reden nicht nur, wir handeln. ein Steuerhinterzieher nach einer Selbstanzeige nicht
besser dasteht als der steuerehrliche Bürger.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Das zeigt ganz klar, dass bei uns Anspruch und Wirk- Die christlich-liberale Koalition macht ernst im
lichkeit sehr nahe beieinanderliegen. Kampf gegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung. Wir
wollen den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber auch
(Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]) das Funktionieren unseres Gemeinwesens durch ausge-
10964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Peter Aumer
(A) glichene Haushalte und Steuerehrlichkeit sichern. Unser Schwarz-Gelb überhaupt keine Rolle gespielt haben. Die (C)
Gesetzentwurf enthält hierzu wirksame und zielgenaue ganze taktische Vorausschau von Steuerkriminalität
Schritte. Wir reden nicht nur, sondern handeln auch. hatte man gar nicht im Blick. Roland Koch hat das ja
Deswegen bitten wir Sie, für unseren Gesetzentwurf zu noch genutzt bei seiner Verschiebung von Spenden in die
stimmen. Schweiz.
Herzlichen Dank. (Joachim Poß [SPD]: Ja, sicher! Der war ge-
gen den Ankauf der CDs! Zum Schutz der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Steuerhinterzieher! Wie die FDP!)

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Man muss aufpassen, was da wirklich passiert ist. Wir
Das Wort hat nun Kollege Lothar Binding für die haben ein Kontenabrufverfahren. Wir haben eine EU-
SPD-Fraktion. Richtlinie zur Zinsbesteuerung auf eine Weise entwi-
ckelt, dass Sie heute überhaupt erst die Möglichkeit ha-
(Beifall bei der SPD) ben, über so etwas nachzudenken, wie Sie es tun.
Es gab Abkommen mit der Schweiz, Liechtenstein,
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): San Marino, Monaco und Andorra. Das waren Oasen,
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! von denen Sie früher behauptet haben, diese spielten für
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wissing hat mich Deutschland gar keine Rolle.
ein bisschen provoziert, etwas anders vorzugehen, als
ich es ursprünglich dachte. Ich will Ihnen noch etwas ganz Grundsätzliches sa-
gen, etwas, für das wir Peer Steinbrück heute noch dank-
(Joachim Poß [SPD]: Von dem darf man sich bar sein müssen: Das war die Idee, bei der OECD so et-
doch nicht provozieren lassen!) was zu initiieren wie die schwarzen Listen. Das hat doch
Ich will ihn nämlich an das Gesetz erinnern, das CDU/ überhaupt erst dazu geführt, dass wir heute viele Dop-
CSU und SPD im Jahr 2008 gemacht haben. Die Über- pelbesteuerungsabkommen korrigieren können, dass es
schrift lautet: Steuerhinterziehungsbekämpfungsgesetz. mehr Transparenz zwischen den Ländern gibt, dass wir
Damit sollte die Steuerverkürzung bekämpft werden. über einen automatischen Informationsaustausch nach-
denken können. Das gab es früher gar nicht.
(Joachim Poß [SPD]: Die FDP hat damals da-
gegen gesprochen!) Sie hatten lange Zeit, aber nichts getan. Ich habe Ih-
nen gerade belegt, was wir alles getan haben. Es ist
Jetzt werden Sie sagen: 2008 ist wahnsinnig spät, das schön, dass Sie das alles jetzt als Basis für Ihre Gesetz-
(B) war lange Zeit nach Rot-Grün. – Denn ich habe dieses gebung nutzen können. So muss es auch sein, wenn sich (D)
Gesetz auch genannt, damit die FDP keine Mühe haben die Fraktionen, die die Regierung wählen, in den Legis-
soll, sich später daran zu erinnern. Ich will aber auch auf laturperioden abwechseln.
die 16-jährige CDU/CSU-FDP-Geschichte verweisen.
Sie müssen auch immer gucken, woher man kommt. (Zuruf von der FDP)
Was fanden wir denn 1998 vor? Was wir vorgefunden Es gibt noch eine weitere Sache. Sie haben nämlich
haben, haben wir sofort 2001 und 2003 korrigiert. vorhin von Arbeitnehmern gesprochen, die wir beson-
Ich erinnere Sie an das Steuerverkürzungsbekämp- ders belastet hätten.
fungsgesetz aus dem Jahr 2003 und an das Steuerände- (Joachim Poß [SPD]: Der hat hier immer für
rungsgesetz aus dem Jahr 2003. Ich erinnere Sie an so et- Steuerhinterzieher gestimmt!)
was Sensibles wie an die Datenbank ZAUBER, bei der
es um Risikoprofile geht, mit denen man abschätzen – Ja, genau.
kann: Wer tut etwas in der Welt, das illegal ist?
Im Gesetzentwurf der SPD steht aber etwas ganz an-
Ich erinnere Sie insbesondere an die Unternehmen- deres. Hätten Sie ihn gelesen, dann wüssten Sie, dass wir
steuerreformen. Es gibt doch nichts Schöneres, als einen die leichtfertige Steuerverkürzung als Ordnungswidrig-
Gewinn vermeintlich legal ins Ausland zu verschieben. keit auffassen. Da gibt es überhaupt gar keine Strafe in
Das heißt, man nutzt zwar die Infrastruktur in Deutsch- dieser Art und Weise. Sie wissen, dass auch die Steuer-
land, um den Gewinn zu erzielen, aber man will die korrektur als Ordnungswidrigkeit aufgefasst wird. Des-
Steuern, die darauf zu zahlen sind, nicht entrichten. Die halb bitte ich Sie, das formell zurückzunehmen. In unse-
FDP war immer aggressiv dagegen, dass wir diese Steu- rer Familie würde man sagen: Das war eine glatte Lüge.
ergestaltungsmodelle verhindern.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Weil das ein brisantes Thema ist und weil das interna-
DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Klaus-Peter
tional von einer viel größeren Bedeutung ist als das, was
Flosbach [CDU/CSU])
ich zur Korrektur dessen, was Herr Wissing gesagt hat,
Erinnern Sie sich daran, was wir den Betriebsprüfern einbringen konnte, will ich noch einen anderen Aspekt
an die Hand gegeben haben, wie wir die Abgabenord- ansprechen. Ich war letzten Dienstag in Brüssel. Dabei
nung geändert haben. Noch etwas Sensibles möchte ich ist mir etwas aufgefallen, was im Zusammenhang mit
nennen: die LUNA zur länderübergreifenden Namensab- DBA, internationaler Steuergestaltung bzw. -hinterzie-
frage. Das alles sind Dinge, die in den 16 Jahren unter hung eine ganz große Rolle spielt: der Blick auf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10965
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) Deutschland. Ich habe noch niemals in Brüssel erlebt, (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Er konnte (C)
dass über Deutschland so viele Witze gemacht wurden sich das erlauben, weil er einen guten Ruf
wie jetzt, dass so viele hämische Bemerkungen über die hatte!)
Kanzlerin gemacht wurden von prominenten Teilneh-
mern an dieser Konferenz, dass so viele ablehnende Vor- von der „Kavallerie“ gesprochen hat, was, glaube ich, zu
schläge gemacht wurden. weitaus mehr diplomatischen Verstimmungen geführt
hat als vieles andere. Insofern sollte man bei der Be-
(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sind das trachtung dieses Themas etwas ehrlicher sein.
alle Ihre Argumente heute?)
(Nicolette Kressl [SPD]: Deshalb haben wir
Im Übrigen – da können Sie Ihren Kollegen fragen – ha- jetzt die Amnestie!)
ben Vertreter von Opposition und Regierungskoalition
diese Angriffe in Brüssel sehr gut abgewehrt. Aber dass Ich glaube, das war kein guter Hinweis von Ihnen.
es sie gibt, ist das Drama. Sie werden nicht erleben, dass (Beifall bei der FDP)
ich in Brüssel als Oppositionspolitiker auftrete; nein, ich
vertrete unser Land. Hier müssen wir aber kritisch da- Wenn ich mir die Redebeiträge von der Opposition
rüber reden. anhöre, habe ich das Gefühl, dass Sie im Wesentlichen
die Praxisnotwendigkeiten nicht vor Augen haben. Mit
Da ist etwas beim Umgang mit dem Ausland passiert,
dem Bild, das Sie hier zeichnen, unterstellen Sie, dass es
sodass es dort kein Vertrauen mehr gibt.
bei der strafbefreienden Selbstanzeige nur um die krimi-
Ich glaube, daran müssen wir wieder arbeiten. Das nellen Steuerhinterzieher gehe, die ihr Vermögen ins
liegt nicht daran, dass unsere Exekutive schlecht verhan- Ausland schaffen, um es dort unversteuert zu lagern. Ich
delt. Auch die Berater von Herrn Koschyk im Finanz- möchte nur kurz an Folgendes erinnern: Tatsächlich geht
ministerium sind im Regelfall exzellent. Vielmehr liegt es um die kleinen Arbeitnehmer, die kleinen Handwer-
es daran, wie wir uns international aufstellen. Darüber ker, die kleinen Selbstständigen,
müssen wir reden. Denn Schwarzgeld, Steuerhinterzie-
hung, Steuerbetrug, Steuergestaltung und Verlagerung (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von Gewinn und Einkommen werden gelegentlich so ab- NEN]: Das ist ja ein übler Vorwurf!)
getan, als wären das abstruse Vorstellungen oder als die mit einem Steuersystem konfrontiert werden, das
schummele jemand da nur ein bisschen. Die Menschen wohl nach einhelliger Auffassung einige Kompliziert-
vergessen, dass, wenn das in Schutz genommen wird, sie heiten aufweist. In einem solchen Steuersystem ist die
diejenigen sind, die dann zur Kasse gebeten werden. Gefahr, dass man unbeabsichtigt einen Fehler macht, er-
(B) Denn immer wenn einer etwas hinterzieht, muss das von heblich. Deswegen wollen wir für die Veranlagungspra- (D)
einem anderen bezahlt werden. Wer sich daran erinnert, xis das Instrument der strafbefreienden Selbstanzeige
geht mit diesen Themen sensibler um. beibehalten, und zwar genau bis zu einem Steuerhinter-
ziehungsbetrag von 50 000 Euro. Herr Kollege Schick,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: davon profitieren gerade die kleinen Arbeitnehmer.
Herr Binding, Sie erinnern sich bitte an die Zeit. (Lachen bei der SPD)

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Es sind die kleinen Arbeitnehmer, die geschützt werden,
Vielen Dank für die Erinnerung. wenn es um einen Steuerhinterziehungsbetrag von 5 bis
50 000 Euro geht.
(Heiterkeit)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Für jeden, der sich daran erinnert, lohnt es sich, den Ent- der CDU/CSU – Dr. Gerhard Schick [BÜND-
schließungsantrag der SPD noch einmal zu lesen, denn NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kleine Arbeit-
darin ist sehr viel Weiterführendes zu finden. nehmer zahlt doch nicht 50 000 Euro im Jahr!)
Schönen Dank. Wir wollen, dass diejenigen, deren Steuerhinterzie-
(Beifall bei der SPD) hungsbeträge bei über 50 000 Euro im Jahr liegen – da
sind wir uns einig, dass das eben nicht die kleinen Ar-
beitnehmer und Unternehmer sind –, härter angepackt
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Das ist für uns der entscheidende Punkt.
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Möchten Sie eine Zwischenfrage zulassen?
der CDU/CSU)
Dr. Daniel Volk (FDP):
Dr. Daniel Volk (FDP):
Ja.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Herr Binding, zu dem Thema „Ton-
fall gegenüber dem Ausland“ möchte ich nur kurz daran Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
erinnern, dass Ihr SPD-Finanzminister Steinbrück Bitte schön.
10966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) Nicolette Kressl (SPD): weiten. Alle Bürger sollten regelmäßig eine eidesstattli- (C)
Herr Kollege Volk, nachdem Sie gerade diejenigen als che Versicherung abgeben, dass sie keine Straftat began-
die kleinen Arbeitnehmer bezeichnet haben, die über gen haben. Das wäre doch eine hervorragende Idee. Da
50 000 Euro Steuern hinterziehen, – es dabei darum geht, die Sicherheit des Staates zu ge-
währleisten, müssen wir dafür eine eigenständige Be-
Dr. Daniel Volk (FDP): hörde einrichten. Weil es um die Staatssicherheit geht,
Nein, unter 50 000 Euro! empfehle ich, diese Behörde als Behörde für Staatssi-
cherheit zu bezeichnen. Das wäre genau der richtige Be-
griff.
Nicolette Kressl (SPD):
– frage ich Sie: Könnte es sein, dass Sie in Ihrer Rede Ich will damit sagen: Ihr Verständnis von Rechtsstaat-
Bruttoeinkommen und Steuerhinterziehungsbeträge ver- lichkeit ist konträr zu unserem Verständnis. Rechtsstaat-
wechselt haben? lichkeit heißt für uns: Wir unterstellen jedem Bürger zu-
nächst einmal nicht Strafbarkeit, sondern wir unter-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike stellen ihm erst einmal Ehrlichkeit. Wir wollen jedem
Flach [FDP]: Zuhören hilft!) Bürger die Möglichkeit geben, dass er sich selber in die
Steuerehrlichkeit zurückbegibt. Das machen wir mit die-
Dr. Daniel Volk (FDP): sem Gesetz.
Entschuldigung, Frau Kollegin Kressl, ich habe doch
davon gesprochen, dass das Instrument für diejenigen mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
einem Steuerhinterziehungsbetrag von unter 50 000 Euro der CDU/CSU)
gelten soll. Sie müssen mir einfach zuhören. Das Ent-
scheidende an der Sache ist – ich bin noch bei der Beant- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wortung Ihrer Frage, Frau Kollegin –, dass gerade diese Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat nun das Wort
unteren Einkommensschichten im Zweifel keine Steuer- für die CDU/CSU-Fraktion.
beratung in Anspruch nehmen, sondern ihre Steuererklä-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
rung selber machen. Das heißt, diese stehen besonders in
der Gefahr, eine fehlerhafte Steuererklärung abzugeben.
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
(Joachim Poß [SPD]: Herr Kollege, wo treten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie denn sonst noch auf?) Trotz Haushaltskrise, trotz Wirtschaftskrisen und Fi-
Frau Kollegin Kressl, die Grenze von 50 000 Euro nanzkrisen arbeiten wir in der christlich-liberalen Koali-
(B) – das wissen Sie genauso gut wie ich – stammt aus der tion an einer Vereinfachung des Steuerrechts. Wir wer- (D)
Rechtsprechung. Das ist nämlich die Grenze zu einem den auch weiterhin daran arbeiten – das ist für alle
schweren Fall von Steuerhinterziehung. wichtig –, dass diejenigen, die diesen Staat mit Sozialab-
gaben und Einkommensteuer stützen, insbesondere die
(Nicolette Kressl [SPD]: Der „kleine Arbeit- Bezieher mittlerer Einkommen, in den nächsten Jahren
nehmer“!) entlastet werden.
Die von uns vorgesehene Grenze orientiert sich also an (Beifall bei der CDU/CSU)
der Rechtsprechung in Deutschland.
Das setzt aber voraus, dass wir auf der anderen Seite
Sie müssen daran denken, dass auch der kleine Kas- dafür sorgen müssen, dass diejenigen, die Steuern zahlen
senwart eines Vereins eine Steuererklärung abgeben müssen, es auch tun und dass das Steuersubstrat für den
muss. Er muss möglicherweise innerhalb einer bestimm- Staat erhalten bleibt.
ten Frist eine Umsatzsteuervoranmeldung abgeben. Da-
bei können sehr schnell Fehler unterlaufen. Für diese (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg]
Steuerpflichtigen wurde die entsprechende Regelung ge- [SPD])
schaffen. Diejenigen, die Steuern hinterziehen, müssen zur Kasse
Wir behalten die strafbefreiende Selbstanzeige praxis- gebeten werden. Das ist einer der wichtigsten Punkte für
tauglich in dem unteren Einkommensbereich bei. Aber uns, wenn wir eine Entlastung erreichen wollen.
die schwerkriminellen Steuerhinterzieher fassen wir, weil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
es keine Straffreiheit, sondern allenfalls eine Befreiung neten der SPD)
von der Strafverfolgung gibt, wenn eine entsprechende
Geldauflage gezahlt wird. Etwas Entsprechendes gibt es Genau dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
auch in anderen Deliktsbereichen, etwa die Einstellung SPD, setzen wir jetzt mit dem Schwarzgeldbekämp-
nach § 153 a Strafprozessordnung. fungsgesetz konsequent um.
(Beifall bei der FDP) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Oberhalb
von 50 000 Euro!)
Herr Kollege Pitterle, Ihren Vorschlag, dass derjenige,
der eine strafbefreiende Selbstanzeige stellt, an Eides Es geht um Schwarzgeldbekämpfung, und es geht um
statt versichern soll, dass er ansonsten keine Steuerstraf- Steuerhinterziehung. Kollege Binding, in diesem Gesetz
taten begangen hat, halte ich für besonders „fruchtbar“. – das ist der zentrale Punkt – geht es um Steuerhinterzie-
Ich würde vorschlagen, dass wir das auf alle Bürger aus- her, die nicht entdeckt sind, das heißt, die keine Steuern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10967
Klaus-Peter Flosbach
(A) zahlen. Wie hat Herr Steinbrück gesagt? Lieber sen ist und die dem, was Praktiker, Wissenschaftler und (C)
25 Prozent von x als 100 Prozent von nix. Es geht für die Finanzverwaltung sagen, völlig entgegensteht.
uns um die zentrale Frage: Soll jemand, der Steuern hin-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
terzogen hat, die Möglichkeit haben, durch eine Selbst-
anzeige straffrei auszugehen? Das ist einfach eine populistische Wende. Normaler-
weise müssten Sie rote Ohren bekommen; denn Ihre
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Nein, das sollte Amnestie ging weit über das hinaus, was heute durch die
er nicht!) strafbefreiende Selbstanzeige geschehen soll. Bei einer
Wir hatten eine Anhörung mit vielen Experten. Diese strafbefreienden Selbstanzeige haben wir folgende Si-
haben deutlich gemacht: Genau das ist der richtige Weg. tuation: Die Betroffenen zahlen die Steuern für bis zu
Gebt den Menschen eine Chance, durch eine Selbstan- zehn Jahre zuzüglich 6 Prozent Zinsen für jedes Jahr
zeige wieder zur Steuerehrlichkeit zurückzukehren! Die- nach, demnächst außerdem noch einen Zuschlag von
ser Meinung waren Wissenschaftler, Praktiker sowie vor 5 Prozent.
allen Dingen die Damen und Herren von der Finanzver- Allein die Steuer-CDs – es hieß ja nur, die CD ist ge-
waltung, von der OFD. Allerdings haben Sie recht: Die kauft worden – haben im vergangenen Jahr 26 400 Steu-
Steuer-Gewerkschaft war nicht dieser Meinung. erzahler dazu bewogen, sich selbst anzuzeigen. Im
Die Experten wollten eine Brücke zur Steuerehrlich- Durchschnitt mussten sie 80 000 Euro Steuern und Zin-
keit haben. Lothar Binding, Herr Poß, Herr Scheelen, sen nachzahlen. Es waren insgesamt 2 Milliarden Euro,
mehrfach ist hier in der Geschichte herumgekramt wor- die in die Kassen von Bund, Ländern und Gemeinden
den. Ich brauche allerdings gar nicht weit in die Ge- gekommen sind. Deswegen waren auch die Länder an
schichte zurückzugehen, sondern muss nur auf das Jahr einer solchen Lösung interessiert: Sie haben in diesem
2003 verweisen. Damals gab es eine Steueramnestie von Fall allein 850 Millionen Euro bekommen, die Kommu-
Rot-Grün. nen 300 Millionen Euro.

(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
ein guter Versuch! – Dr. Daniel Volk [FDP]:
Das war ein untauglicher Versuch!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
– „Das war ein guter Versuch“, sagt Lothar Binding. Kollegen Schick zulassen?
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es ist
aber schiefgegangen!) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
(B) Zu Ihrem Antrag von damals? – Bitte. (D)
Deswegen lese ich einmal vor, was Rot-Grün damals vor-
geschlagen hat – ich zitiere aus der Drucksache 15/1521, (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein, zu
Seite 1 –: den Ministerpräsidenten, die die nicht kaufen
wollten!)
Der Gesetzentwurf
– zur Steueramnestie – Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
soll dazu beitragen, durch eine attraktive Regelung
Herr Flosbach, meinen Sie, dass ein schlechtes Gesetz
für die Vergangenheit einen Anreiz zu bieten, in die
der Vergangenheit es rechtfertigt, heute ein schlechtes
Steuerehrlichkeit zurückzukehren und damit einen
Gesetz vorzulegen? Ich habe das damalige Gesetz nicht
Beitrag zum Rechtsfrieden zu leisten.
für richtig gehalten, aber Ihr heutiges Gesetz ist schlecht,
So steht es im Gesetzentwurf von Rot-Grün. und darum geht es.
Das zweite Zitat – ich habe noch eine ganze Reihe da-
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
bei – lautet folgendermaßen: Dieses in die Zukunft ge-
richtete Angebot zur Rückkehr in die Steuerehrlichkeit Vielen Dank. – Das ist ein ausgesprochen gutes Ge-
sei gegenüber denjenigen, die in der Vergangenheit Steu- setz. Sie müssen nur auf die Praktiker aus der Anhörung
ern hinterzogen hätten, äußerst fair. Gleichzeitig könne hören, die deutlich gesagt haben: Das ist genau der rich-
der ehrliche Steuerzahler mit dieser Regelung leben, tige Weg. Machen Sie nicht, wie von Herrn Gerster vor-
weil die fiskalische Belastung zukünftig auf eine höhere geschlagen, den Fehler, die Selbstanzeige abzuschaffen.
Anzahl Steuerpflichtiger verteilt werde. Das gibt ein Chaos im Steuerrecht. Behalten Sie die
Selbstanzeige bei. Sie ist die einzige Möglichkeit, wie-
Darum geht es. Wir wollen diejenigen, die Steuern der zur Steuerehrlichkeit zurückzufinden. Sonst müssen
hinterzogen haben, dazu bewegen, sich selbst anzuzei- Sie möglicherweise, wie von Herrn Pitterle vorgeschla-
gen, damit sie in die Steuerehrlichkeit zurückfinden und gen – Sie hätten wahrscheinlich am liebsten alle hinter
anschließend wieder Steuern in diesem Staat zahlen. Das Mauern –, Tausende und Abertausende von Fahndern
ist der Inhalt des Gesetzes, und das haben Sie damals einsetzen.
auch so gesehen. Deswegen bin ich überrascht, dass Sie,
Wir wollen die Leute in die Steuerehrlichkeit zurück-
Herr Gerster, nicht nur unsere Verfahrensweise angreifen
führen, und das ist der zentrale Punkt dieses Gesetzes.
und inhaltlich wenig sagen, sondern auch eine neue
Position vortragen, die bisher nicht Ihre Position gewe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
10968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Klaus-Peter Flosbach
(A) Liebe Kollegen von der SPD, wir haben 2007, 2008 Es ist wichtig, dass auch die Länder dem zustimmen (C)
und 2009 viele gute Dinge gemacht, von der Telefon- wollen. Es geht hier auch darum, wie wir unseren Staat
überwachung über die Verlängerung der Verjährungsfrist finanzieren. Es ist eine wichtige Maßnahme dieses Ge-
bei Steuerhinterziehung auf zehn Jahre bis hin zu den setzes, dass wir Steuersündern die Rückkehr in die Steu-
Auskunftsabkommen mit Luxemburg und Liechtenstein; erehrlichkeit ermöglichen wollen.
jetzt kommt noch eines mit der Schweiz hinzu. Wir sind
Wir brauchen die damit zu erzielenden Steuereinnah-
auf dem richtigen Weg, das Risiko zu erhöhen. Das wol-
men, etwa für die Familien. Wir haben Anfang letzten
len wir doch auch. Wir wollen das Risiko der Entde-
Jahres die Familien um 4,6 Milliarden Euro entlastet.
ckung erhöhen. Deswegen sollten wir aber trotzdem
1,6 Milliarden Euro wurden im Rahmen von Hartz IV
nicht die strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen.
für die Bildungsangebote bereitgestellt. All dies müssen
Wir haben im Rahmen der Diskussion erfahren, dass wir finanzieren. Dazu brauchen wir eben auch diejeni-
es immer noch Lücken im Gesetz gibt. Deswegen haben gen, die beispielsweise bisher Steuern hinterzogen ha-
wir drei zentrale Änderungen – auch nach dem BGH-Ur- ben, aber in Zukunft ihre Steuern wieder zahlen wollen
teil – vorgenommen. und damit einen Beitrag für diesen Staat leisten.
Wer in diesem Wirtschaftssystem die Chance nutzt,
Wir haben gesagt: Wenn der Prüfer vor der Tür steht,
ist es zu spät. Dann gibt es keine Selbstanzeige mehr. Geld zu verdienen, wer in diesem Sozialsystem lebt, wer
Bisher war es so: Wenn eine Prüfungsanordnung er- Rechte in diesem Staat für sich in Anspruch nimmt, –
folgte, hatte der Steuerpflichtige immer noch die
Chance, sich selbst anzuzeigen. Das schaffen wir ab. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wenn die Prüfungsanordnung erfolgt ist, ist die Chance Herr Kollege.
zur Selbstanzeige nicht mehr gegeben. Das heißt, wir
verschärfen hier drastisch. Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
– ist verpflichtet, seinen Beitrag für diesen Staat zu
Das Zweite ist die Teilselbstanzeige. Wenn einer in
leisten.
die Schweiz Geld verschoben hat und dazu eine Selbst-
anzeige macht, gleichzeitig beispielsweise nach Vielen Dank.
Luxemburg Geld verschoben, sich dafür aber nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
selbst angezeigt hat, gilt für diesen Tatbestand die
Selbstanzeige nicht. Er ist nach wie vor strafrechtlich zu
verfolgen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ich schließe die Aussprache.
(B) Drittens gibt es den neuen Strafzuschlag ab einem Be- (D)
trag von 50 000 Euro – so hat der BGH die besonders Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
schweren Fälle bezeichnet –, mit dem wir weitere 5 Pro- tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Gesetzent-
zent kassieren. wurf zur Verbesserung der Bekämpfung von Geldwäsche
und Steuerhinterziehung. Der Finanzausschuss empfiehlt
Wir haben in der Koalition festgehalten: Es soll teuer unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
werden. Es soll teurer werden im Vergleich zu allen, die Drucksache 17/5067 (neu), den Gesetzentwurf auf
bisher pünktlich ihre Steuern gezahlt haben. Drucksache 17/4182 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Diejenigen, die zustimmen wollen, bitte ich um das
Wer die Anhörung aufmerksam verfolgt hat, wird Handzeichen. – Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? –
auch mitbekommen haben, dass der Vertreter der Ober- Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung ange-
finanzdirektion deutlich gesagt hat: Es geht hier um Ein- nommen.
künfte aus Kapitalvermögen. Es geht nicht um die Kfz-
Steuer, Hundesteuer oder andere. – Das ist der Punkt. Dritte Beratung
Hier geht es darum, die größeren Beträge für diesen und Schlussabstimmung. Wenn Sie zustimmen wollen,
Staat zu erhalten. Gerade die Praktiker aus Steuerverwal- mögen Sie bitte aufstehen. – Die Gegenstimmen! – Ent-
tung und Finanzverwaltung haben gesagt: Versucht haltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Bera-
nicht, fahrlässige Steuerverkürzungen oder Fehler zu kri- tung bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen
minalisieren! Es geht darum, denjenigen, die Fehler ma- und Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenom-
chen, auch die Möglichkeit zu geben, durch eine Berich- men.
tigung ihrer Steuererklärung in der Veranlagung wieder
zur Steuerehrlichkeit zurückzufinden oder ihren Fehler Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent-
einzugestehen. Sie müssen nicht strafrechtlich verfolgt schließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache
werden. 17/5085. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wol- Entschließungsantrag gegen die Stimmen von SPD,
len wir alle!) Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
– Das freut mich, dass auch Sie das wollen. Dann wäre Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
es gut, wenn Sie unserem Gesetz zustimmten. empfehlung des Finanzausschusses zu dem Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Be-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) kämpfung von Geldwäsche und Steuerhinterziehung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10969
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b in sei- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Zuruf (C)
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5067 von der CDU/CSU: Chaotischer Verein! –
(neu), den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Drucksache 17/4802 für erledigt zu erklären. Wer NEN]: Im Ausschuss haben sie sich enthal-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt ten!)
dagegen? – Enthaltungen? – Sie ist einstimmig ange-
nommen. Wollt ihr eine Auszeit? – Also: Die Beschlussempfeh-
lung wurde angenommen. Die Koalitionsfraktionen so-
Dann komme ich zur Abstimmung über den Gesetz- wie die SPD haben der Beschlussempfehlung im We-
entwurf der Fraktion der SPD zur Änderung der Abga- sentlichen zugestimmt.
benordnung (Abschaffung der strafbefreienden Selbstan- (Heiterkeit bei der SPD – Beifall der Abg.
zeige bei Steuerhinterziehung). Der Finanzausschuss Petra Ernstberger [SPD])
empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/5067 (neu), den Gesetzentwurf Bündnis 90/Die Grünen haben dagegen gestimmt. Die
auf Drucksache 17/1411 abzulehnen. Ich bitte diejeni- Fraktion Die Linke hat sich enthalten.
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 8 a bis c auf:
Der Gesetzentwurf ist abgelehnt. Zugestimmt haben die a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
SPD und die Fraktion Die Linke; die übrigen Fraktionen Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-
des Hauses haben abgelehnt. Damit entfällt die dritte Be- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
ratung.
Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden –
Wir setzen die Abstimmungen über die Beschluss- Zukunftskommission zur Reform der Infra-
empfehlungen des Finanzausschusses fort. strukturfinanzierung einrichten

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Be- – Drucksache 17/5022 –


schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- Überweisungsvorschlag:
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1755 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
mit dem Titel „Steuerhinterziehung wirksam und zielge- Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
nau bekämpfen“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Haushaltsausschuss
Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(B) haben CDU/CSU und FDP, abgelehnt SPD, Linke und richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und (D)
Bündnis 90/Die Grünen.
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ab- der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa- Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der
che 17/4670 mit dem Titel „Instrumente zur Bekämp- Fraktion der SPD
fung der Steuerhinterziehung nutzen und ausbauen“. Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt sichern – Deutschland braucht eine moderne
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Zukunftsstrategie zur Infrastrukturfinanzie-
ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und rung
FDP, dagegen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Die
Fraktion Die Linke hat sich enthalten. – Drucksachen 17/782, 17/1479 –
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe f Berichterstattung:
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags Abgeordneter Reinhold Sendker
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1149 mit dem c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Titel „Den Kampf gegen Steuerhinterziehung nicht dem richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Zufall überlassen“. Wer stimmt für die Beschlussemp- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol,
Beschlussempfehlung wurde angenommen. Die Fraktion Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der
Die Linke hat dagegen gestimmt, die übrigen Fraktionen Fraktion der SPD
dafür.
Mobilität nachhaltig gestalten – Erfolgreichen
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe g Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fort-
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags entwickeln
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
17/1765 mit dem Titel „Steuerhinterziehung wirksam – Drucksachen 17/1060, 17/2226 –
bekämpfen“. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Berichterstattung:
Was war jetzt bei der SPD: War nur eine dafür oder Abgeordneter Steffen Bilger
alle? – Seid ihr zu faul? Ich frage also noch einmal: Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt da- Nach einer interfraktionellen Verabredung ist für die
gegen? – Wer enthält sich? Aussprache hierzu eine Dreiviertelstunde vorgesehen. –
10970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Das ist die Situation. Dabei wissen wir doch alle, dass (C)
schlossen. nur eine gute Verkehrsinfrastruktur wirtschaftliches
Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand in Deutsch-
Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem land voranbringt. Wir haben einen steigenden Investi-
Kollegen Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das tionsbedarf. Wer will das eigentlich leugnen? Der von
Wort. Ihnen verantwortete Haushalt zeigt, dass der Bereich der
Verkehrsinfrastruktur unterfinanziert ist, auch wenn Sie
Uwe Beckmeyer (SPD): über die Presse bekunden, dass das Haushaltsvolumen
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und nun bei über 10 Milliarden Euro liegt. Das ist gegenüber
Herren! Wir Sozialdemokraten haben unseren Antrag 9,75 Milliarden Euro eine Steigerung. Wir wissen aber,
mit dem Satz überschrieben: „Stillstand in der Verkehrs- dass dieser Zuwachs durch Preissteigerungen fast kom-
politik überwinden – Zukunftskommission zur Reform plett aufgefressen wird.
der Infrastrukturfinanzierung einrichten“. Das ist unser Das bedeutet, dass wir etwas tun müssen. Ich erwarte
Ziel. von Ihnen, dass Sie bald etwas tun. Diese Legislaturpe-
Wir stellen im Hinblick auf den Erhalt und Ausbau ei- riode dauert schon anderthalb Jahre. Dafür ist zu wenig
nen steigenden Investitionsbedarf fest. Wir erleben, dass geschehen. Wenn wir uns anschauen, was Sie von
Schwarz-Gelb den Stillstand organisiert. Dabei brauchen Schwarz-Gelb in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben
wir eine gesellschaftliche Reformdebatte; sie ist drin- haben, und überlegen, welche Projekte umgesetzt wur-
gend notwendig. den – wir haben der Bundesregierung entsprechende
Fragen gestellt –, stellen wir fest, dass dabei nichts he-
Wir müssen die Basis der wirtschaftlichen Prosperität rausgekommen ist. Wir haben das Ergebnis der Bemü-
in Deutschland mit einer guten Infrastruktur sichern. Wir hungen der Koalitionsfraktionen wie folgt abgefragt:
wollen Mobilität sozial gerecht und ökologisch sinnvoll
organisieren. Wir wollen die umweltfreundlichen Ver- Erstens. Wie sieht es mit der Kreditfähigkeit der
kehrsträger Schiene und Wasserstraße weiter stärken, VIFG aus? – Die Prüfung ist noch nicht abgeschlossen,
und wir wollen Bundesstraßen mit nachgeordneter Be- ist die Antwort.
deutung abstufen, was eine alte Forderung der Reform- Zweitens. Wie sieht es mit den Direktzuweisungen
kommission ist. Wir wollen deutlich mehr Geld für der Lkw-Mauteinnahmen an die VIFG im Haushalt 2010
Lärmschutzmaßnahmen an Straßen und Schienenwegen aus? – Sie sind nicht vorgesehen.
ausgeben. Wir brauchen die Akzeptanz der Menschen in
unserem Land für Investitionen in die Infrastruktur. Je- Drittens. Wie sieht es mit dem Finanzierungskreislauf
(B) der von uns, der mit den Menschen draußen im Land re- aus? – Er verfehlt bei sinkenden Mauteinnahmen und zu- (D)
det, weiß, dass diese Menschen fragen: Was macht ihr, sätzlichen Steuermitteln, die auch weiter benötigt wer-
um uns vor Lärm zu schützen? Habt ihr spezielle Pro- den, seine Wirkung.
gramme? Weitet ihr die Programme aus? Wann sind
Lärmschutzmaßnahmen bei uns dran? – Wir wollen die Viertens. Gibt es Prioritäten bei der Umsetzung von
Menschen früher am Planungsprozess beteiligen – diese Verkehrsprojekten? – Es werden keine Prioritäten ge-
Lehre haben wir aus den Erfahrungen im letzten Jahr ge- setzt.
zogen –, aber wir wissen auch, dass wir die Planungszei- Fünftens. Ist eine Ausweitung der ÖPP vorgesehen? –
ten verkürzen müssen. Außerdem wollen wir, dass die Fehlanzeige, keine Initiative. Die Bundesregierung, so
Bundesregierung dem Bundestag turnusmäßig einen ver- heißt es, erarbeitet derzeit keine diesbezügliche Geset-
kehrsträgerübergreifenden Netzzustandsbericht vorlegt. zesinitiative.
Der letzte Punkt ist: Wir brauchen eine bedarfsgerechte
Finanzierung der Investitionen in die Infrastruktur. Eine Sechstens. Wie sieht es mit der zweiten Staffel der
Finanzierung nach Kassenlage ist gerade für die Ver- ÖPP-Projekte aus? – Man tritt auf der Stelle. Ausschrei-
kehrsinfrastruktur fatal. bungen sind noch nicht erfolgt.
Herr Minister, ich freue mich, dass Sie an dieser De- Siebtens. Was ist mit der Abstufung bei den Bundes-
batte teilnehmen. Wir erwarten, dass Sie noch in dieser fernstraßen, die in dem Beschluss von Bundestag und
Legislaturperiode ein Konzept zur Sicherung der Infra- Bundesrat vorgesehen ist? – Sie ist zurzeit nicht vorgese-
strukturfinanzierung vorlegen. Wir müssen – das ist die hen. Die Gespräche sind noch nicht abgeschlossen, heißt
Voraussetzung – gemeinsam mit der Gesellschaft ein es.
Leitbild für die Mobilität im 21. Jahrhundert erarbeiten.
Wir erwarten, dass Sie, der verantwortliche Minister, Achtens. Gibt es eine Kappung der Gewinnabfüh-
eine Zukunftskommission zur Weiterentwicklung der In- rungsverträge zwischen DB Holding und DB Netz? Das
frastrukturfinanzierung in Deutschland einsetzen. ist nicht unsere Position, aber Ihre. Bundesminister
Ramsauer verkündet per Interview mit der Nachrichten-
Herr Bundesminister Ramsauer, was ist Ihr Ziel? Vor agentur Reuters, diese Pläne seien vom Tisch. In der of-
einigen Tagen charakterisierte jemand Ihre Politik fol- fiziellen Antwort der Bundesregierung heißt es: Ergeb-
gendermaßen – ich will das gerne zitieren –: Ohne Ziel nisse liegen noch nicht vor.
stimmt jede Richtung.
Neuntens. Was ist mit der LuFV Straße? – Diese ist
(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig!) derzeit nicht geplant.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10971
Uwe Beckmeyer
(A) Meine sehr geehrten Damen und Herren, was planen und dass wir kräftig investieren müssen. Allerdings (C)
Sie denn? Es herrscht Schweigen. Es kommt nichts. Wir muss ich feststellen, dass Sie diesem Anspruch, den Sie
haben zurzeit kein Konzept der schwarz-gelben Regie- mit dem, was Sie hier vorgetragen haben, formulieren, in
rung zur Finanzierung der Infrastruktur, zur Steigerung keinster Weise gerecht werden.
der Finanzierungsmöglichkeiten in diesem Land vorlie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gen, und das ist ein Problem, weil uns das zurückwirft.
Sie haben unseren Antrag im Ausschuss mit Ihrer Dem wird auch der Antrag, den Sie vorgelegt haben,
schwarz-gelben Mehrheit abgelehnt. Das kann ich noch in keinster Weise gerecht. Es werden Wahrheiten formu-
nachvollziehen. Dass aber die eigene Bundesregierung liert, die wir alle kennen, Wahrheiten, die wir benannt
dem Auftrag der schwarz-gelben Mehrheit – und den haben, die wir auch freimütig einräumen, nämlich dass
Antrag haben Sie selber beschlossen – nicht nachkommt, wir gern noch mehr Geld hätten, um es in die Verkehrs-
ihn gar ignoriert, ist erstaunlich und ein bemerkenswer- infrastruktur zu stecken. Aber Sie suggerieren, wir wür-
ter Vorgang. den die Investitionen zurückfahren. Auf der ersten Seite
Ihres Antrags heißt es:
Herr Minister, Sie sind ein Getriebener der Not und,
wie ich manchmal den Eindruck habe, ein wenig zu mut- Das Investitionsvolumen ist ausgehend von rund
los. Ich hoffe, dass das nicht auch in Ideenlosigkeit mün- 12 Milliarden Euro im Jahr 2009 auf 9,75 Milliar-
det. Ich habe den Wunsch und die Bitte, dass Sie alles den Euro im Jahr 2011 gesunken.
tun, damit hier in Deutschland ein gesamtgesellschaftli-
Damit wollen Sie uns weismachen, dass wir die Leistun-
cher Konsens gefunden werden kann.
gen zurückfahren. Das Gegenteil ist der Fall. Unsere In-
vestitionen sind so hoch wie in den vergangenen Jahren
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht mehr, und das perspektivisch bis 2014. Ich darf da-
Herr Kollege! ran erinnern, dass in den Jahren 2001 bis 2008 die Inves-
titionslinien deutlich darunter lagen, und da waren so-
Uwe Beckmeyer (SPD): zialdemokratische Verkehrsminister für den Etat
Ja, ich komme zum Schluss, sehr geehrte Frau Präsi- verantwortlich.
dentin. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Man erzählt sich, dass Sie ein Klavierspieler sind und Sie blenden bei dieser Diskussion vollkommen aus,
das Klavierspiel beherrschen. Wenn man Ihre Politik an- wie es um unsere finanzielle Situation bestellt ist. Sie
schaut und sie mit dem Musizieren vergleicht, sage ich ignorieren die Schuldenbremse. Ich erinnere mich noch
nur: Mit den kleinen Musikstücken – französisch: Baga- gut an die Haushaltsdebatte, die wir hier geführt haben.
(B) tellen – sind Sie nun wirklich am Ende. Ich glaube, Sie (D)
Wir haben als Koalition dafür gekämpft – und sind auch
müssen jetzt langsam zum Konzert kommen; – erfolgreich gewesen; der Minister hat hervorragend ver-
handelt –, dass wir das Investitionsvolumen auf diesem
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Stand beibehalten können. Wir haben dennoch Mut ge-
Herr Kollege! zeigt – hier werden wir unserer Verantwortung gerecht –
und nehmen die notwendigen Einsparungen im Etat vor,
Uwe Beckmeyer (SPD): um die Voraussetzungen der Schuldenbremse einzuhal-
– denn das ist gerade in der Verkehrspolitik absolut ten. Dafür haben wir in anderen Bereichen Prügel kas-
notwendig. siert. Man kann aber nicht so tun, als hätten wir im Ver-
kehrsbereich nichts geplant und nur Einsparungen
Herzlichen Dank. vorgenommen.
(Beifall bei der SPD) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Messen Sie sich doch
mal an Ihren eigenen Ansprüchen!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – Ja, Herr Beckmeyer, wir sehen das genauso wie Sie.
Der Kollege Patrick Schnieder hat jetzt das Wort für Der Bundesverkehrswegeplan ist überzeichnet. Das ist
die CDU/CSU-Fraktion. ein Erbe der rot-grünen Regierung aus dem Jahre 2003.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie werfen uns das jetzt vor die Füße und sagen: Löst
neten der FDP) heute das Problem. – So kann es nicht gehen.
Sie sagen, es gebe einen Stillstand in der Verkehrspo-
Patrick Schnieder (CDU/CSU): litik. Das erlebe ich in meinem Wahlkreis, in meiner Re-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gion, dort, wo sozialdemokratische Ministerpräsidenten
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir befinden regieren.
uns, verehrter Herr Kollege Beckmeyer – so dachte ich
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Genau!)
jedenfalls nach Lektüre des Antrags und zu Beginn Ihrer
Rede –, auf der gleichen Linie, nämlich dass die Ver- Ich nehme das Beispiel A 1 zwischen Nordrhein-Westfa-
kehrsinfrastruktur in Deutschland eine herausragende len und Rheinland-Pfalz; wir warten seit Jahren, seit
Bedeutung hat, dass sie, wie Sie beschrieben haben, die Jahrzehnten auf den Lückenschluss. Warum? Weil in
Lebensader für Gesellschaft und Wirtschaft ist, Voraus- Düsseldorf blockiert wird, und zwar seit der Übernahme
setzung für Wohlstand und Chancen in unserem Land, der Regierungsgeschäfte im Mai 2010 auf ein Neues.
10972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Patrick Schnieder
(A) (Gustav Herzog [SPD]: Quatsch! – Winfried land leistungsfähig zu halten. Wir tun dies unter realisti- (C)
Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schen und ehrlichen Rahmenbedingungen.
waren jahrzehntelang an der Regierung!)
Vielen Dank.
Wir erleben das beim Hochmoselübergang. Dort sind die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Grünen dagegen. Florian Pronold [SPD]: Es wäre spannend ge-
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE wesen, wie! Aber da hört die Rede auf!)
GRÜNEN]: Da merkt man, wie erfolgreich au-
ßerparlamentarische Oppositionsarbeit sein Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
kann!) Die Kollegin Sabine Leidig hat das Wort für die Frak-
tion Die Linke.
Wir erleben das in der Region Trier. Überall dort, wo Rot
und Grün das Sagen haben wollen, rudern sie zurück. (Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist ja unglaublich!) Sabine Leidig (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
Der Antrag ist voller Widersprüchlichkeiten. Sie for- und Kollegen! Ich bin froh, dass die SPD-Fraktion er-
dern mehr Transparenz, mehr Akzeptanz – dem kann neut Gelegenheit gibt, über die grundlegende Ausrich-
man durchaus zustimmen –, aber gleichzeitig kritisieren tung der Verkehrspolitik zu reden; denn ich glaube, dass
Sie die Einführung eines Finanzierungskreislaufs Straße. dies absolut notwendig ist. Ich glaube allerdings nicht,
dass es um mehr Geld für die Infrastruktur geht, sondern
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, weil Sie das inte-
um eine Frage ganz grundsätzlicher Natur: Wohin treibt
grierte Modell zerstört haben!)
unsere Verkehrs- und Mobilitätspolitik? Ich will jetzt gar
– Herr Beckmeyer, gerade dadurch, dass wir die Einnah- nicht auf einzelne Maßnahmen eingehen – wir haben das
men aus der Maut in den Straßenbau stecken, vergrößern im Rahmen verschiedener Anträge gemacht –, sondern
wir die Transparenz und Akzeptanz. Sie wollen die Ver- auf zwei Beiträge aufmerksam machen, die mich in die-
kehrsträger gegeneinander ausspielen. Das machen wir ser Woche in der Enquete-Kommission, die sich mit den
nicht mit. Das wird es mit uns nicht geben. Problemen von Wachstum, Wohlstand und Lebensquali-
tät beschäftigt, haben aufhorchen lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Dr. Anton Hofreiter [BÜND- Der erste Beitrag stammt von Professor Schneidewind,
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was unternehmen Sie dem Präsidenten des Wuppertal-Instituts. Er hat deutlich
(B) dagegen? Ich bin gespannt, wie Sie verhin- gemacht, dass die Klima- und Umweltbelastungen ge- (D)
dern, dass die SPD das macht!) rade im Verkehrsbereich nicht verringert werden, und
zwar deshalb, weil Belastungen verschoben werden
Herr Beckmeyer, Sie fordern eine Berücksichtigung – wir führen diese Diskussionen gerade im Zusammen-
ökologischer Belange. Sie fordern eine verstärkte Redu- hang mit E 10 und dem Biosprit – und weil die Energie-
zierung des CO2-Ausstoßes. Aber ich lese kein einziges einsparungen durch mehr Fahrerei aufgefressen werden.
Wort – ich habe auch in Ihrer Rede nichts dazu gehört –
zur Elektromobilität. Ich wundere mich über Ihr Verhält- Der zweite Hinweis kam vom Sachverständigen
nis zum Lang-Lkw, durch den wir gerade im Lastge- Herrn Michael Müller, der darauf aufmerksam gemacht
schäft Verkehre vermeiden können. hat, dass die größte Herausforderung völlig unterschätzt
wird, nämlich die Tatsache, dass die Erdölförderung seit
(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LIN- 2004 nicht mehr zunimmt und die Endlichkeit dieses
KEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Genau!) Rohstoffes gerade für den Mobilitätssektor sehr harte
Konsequenzen hat. Diese Konsequenzen beginnen nicht
Statt drei Fahrten muss man nur zwei unternehmen.
erst, wenn der letzte Tropfen Öl verbraucht ist, sondern
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ja Steinzeit- schon dann, wenn die Preise drastisch ansteigen.
politik, was Sie hier vorschlagen! – Gustav Es geht also nicht nur darum, den Verkehr von der
Herzog [SPD]: Sie und der Monstertruck! Sie Straße auf die Schiene oder von der Luft auf das Wasser
kommen mir gerade recht!) zu verlagern. Es geht nicht nur um einen besseren ÖPNV
– Herr Herzog, das ist eine Frage der Begrifflichkeit. – darum geht es natürlich auch –, es geht nicht nur um
Das zeigt, wie man dazu steht. Lärmschutz – darum geht es auch –, und es geht nicht
nur um mehr Transparenz, damit die Leute neue Ver-
Wer von Umweltschutz, von CO2-Vermeidung redet, kehrsprojekte akzeptieren. Vielmehr geht es eigentlich
kann sich diesen Themen nicht verweigern. darum, Konzepte zu entwickeln, um Verkehr zu reduzie-
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE ren bzw. zu vermeiden.
GRÜNEN]: Doch!) (Beifall bei der LINKEN)
Deshalb sage ich: Die Koalition ist auf einem guten Das ist in der Verkehrspolitik allerdings ein völliges
Weg. Wir stehen für Fortschritt in der Verkehrspolitik. Tabu. Stattdessen wird irrwitzigen Verkehrswachstums-
Stillstand produzieren Sie. Wir unternehmen jede Kraft- prognosen hinterherbetoniert. Ich will nur darauf hin-
anstrengung, um die Verkehrsinfrastruktur in Deutsch- weisen: Sie gehen von 3 Prozent mehr privaten Pkw,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10973
Sabine Leidig
(A) 80 Prozent mehr Güterverkehr und einer Verdopplung trag zum Klimaschutz und zur Verbesserung der Lebens- (C)
des Flugverkehrs in den nächsten 10 bis 15 Jahren aus. qualität. Aber dazu braucht man Investitionsprogramme.
Das ist doch völliger Wahnsinn. Dazu müssten die Städte umgestaltet werden.
Der naheliegendste Vorschlag, um den Verkehr zu re- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
duzieren, wäre, endlich Kostenwahrheit zu praktizieren. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Auch dazu hat sich die SPD geäußert. Ich zitiere an die- NEN])
ser Stelle den ehemaligen Bundespräsidenten Horst
Köhler, der beim Internationalen Verkehrsforum im Mai Dazu brauchen wir Fahrradringe. Dazu brauchen wir den
letzten Jahres Folgendes gesagt hat: Vorrang von Fahrrad und Fußgängern. Das können die
Kommunen aber nicht alleine stemmen. Hier müsste der
Wer Menschen oder Waren befördert, der zahlt Bund beispringen und Geld investieren.
heute Treibstoff, Personal, Verkehrsträger, Gebüh-
ren. Er zahlt aber wenig bis gar nicht für Luftver- (Peter Götz [CDU/CSU]: Zurück in die DDR!)
schmutzung, Lärmbelästigung, Gesundheitskosten, Zum Thema Elektroautos hat sich der Deutsche
Umwelt- und Klimaschäden. Nur deswegen kann Städtetag in der letzten Woche beachtlicherweise ausge-
es … billiger sein, Krabben aus der Nordsee nicht sprochen kritisch geäußert. In einer Stellungnahme heißt
an der Nordsee, sondern in Marokko pulen zu las- es:
sen und anschließend doch in Deutschland zu ver-
kaufen. Ein wertvolles Hin und Her? Ich finde Auch ein elektrisch angetriebenes Auto bleibt ein
nein … Gefährt mit vier Rädern. Als solches verbraucht es
Flächen sowohl im ruhenden als auch im fließenden
Horst Köhler sagte weiter: Verkehr und erhöht den ohnehin schon viel zu gro-
Im Gegensatz zur Stromsteuer, die die Bahn bezah- ßen Kfz-Bestand in den Städten weiter.
len muss, ist Kerosin weiterhin von der Energie- Insofern setzen Sie auf ein völlig falsches Pferd, und
steuer befreit – ebenso übrigens wie Schiffstreib- das sagen Ihnen Ihre Kommunalpolitiker auch ganz
stoff. Wäre es im Sinne der Gleichbehandlung der deutlich.
Verkehrsträger nicht gerecht, die Aussetzung der
Energiesteuer für Kerosin und Schiffstreibstoff zu (Beifall bei der LINKEN)
beenden? Am besten so international wie möglich. Zum Schluss möchte ich noch das Thema Geschwin-
Ich weiß, das bedeutet schwierige Verhandlungen. digkeit ansprechen; denn auch hier wird dem Wahn ge-
Aber wir sollten es anpacken … folgt, dass „immer schneller“ immer besser sei. Giganti-
(B) So Horst Köhler. sche Mengen an Investitionsmitteln werden in die (D)
Hochgeschwindigkeit gesteckt, und zwar sowohl auf der
(Beifall bei der LINKEN) Straße als auch auf der Schiene. Das ist ausgesprochen
Er ist übrigens kurz danach zurückgetreten, fragwürdig. Auch hier ist ein völliges Umdenken nötig;
denn Geschwindigkeit hat mit der Verbesserung der Le-
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bensqualität gar nichts zu tun. Man weiß inzwischen,
NEN]: Ja! Er musste zurücktreten, nachdem er dass es trotz der Tatsache, dass die Verkehre schneller
das gesagt hat!) fließen, zu keiner Zeitersparnis kommt. Vielmehr ist es
nachdem Herr Joachim Hunold, der Chef von Air Berlin, so, dass die Menschen die gleiche Zeit für Mobilität auf-
in der Öffentlichkeit massiv Kritik geübt hat. Ich muss wenden, dass sie dabei aber viel weitere Wege zurückle-
Ihnen sagen: Ich schließe nicht aus, dass die Automobil- gen. Wir haben aber kein besseres Leben durch schnelle-
und Flugzeugkonzerne in der Bundesrepublik genauso res Rasen.
viel Druck aufbauen wie die Atom- und Energiekon- Ich muss sagen: Mir wäre es lieber, Herr Beckmeyer,
zerne im Energiesektor es würde einen Stillstand, ein Innehalten in der Ver-
(Beifall bei der LINKEN) kehrspolitik geben. Das gibt es aber nicht. Die Regie-
rungskoalition hat den Finanzierungskreislauf Straße be-
und damit die Demokratie und der notwendige Umbau schlossen und setzt weiter auf den Auto- und Lkw-
genauso massiv behindert werden. Verkehr.
Ein weiteres wichtiges Mittel zur Reduzierung von
Verkehr wäre, dass wir unsere Städte umgestalten. Hier Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
müssen die Verkehrsinfrastrukturen verändert werden. Frau Kollegin!
Wir brauchen viel bessere Bedingungen, beste Bedin-
gungen für Leute, die nicht motorisiert unterwegs sind, Sabine Leidig (DIE LINKE):
für Fahrradfahrerinnen und Fahrradfahrer, für Fußgänge- Wenn es wirklich um die Zukunftsfähigkeit des Lan-
rinnen und Fußgänger. Wenn nur jede zweite innerstädti- des geht, dann brauchen wir ein Moratorium, das keinen
sche Autofahrt, die weniger als 5 Kilometer lang ist – ich einzigen Kilometer Aus- und Neubau von Autobahnen
bitte Sie, jetzt zuzuhören –, stattdessen mit dem Fahrrad vorsieht, bevor nicht ein Verkehrswendekonzept auf dem
unternommen würde, würde in den Städten bereits ein Tisch liegt, das für die Zukunft taugt.
Viertel weniger Autos fahren. Dieser Anteil entspricht
einer gigantischen Zahl. Das wäre ein sehr großer Bei- (Beifall bei der LINKEN)
10974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: des nächsten Bundesverkehrswegeplanes, um nur einige (C)
Der Kollege Werner Simmling hat nun das Wort für zu nennen.
die FDP-Fraktion.
Wir befinden uns doch mitten in der Debatte und auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) in der Umsetzung all dieser Punkte. Sie fordern an dieser
Stelle plakativ ein Leitbild „Mobilität des 21. Jahrhun-
Werner Simmling (FDP): derts“, obwohl Sie doch genau wissen, dass die Bundes-
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr- regierung nichts verabschieden wird und kann, wofür
ten Kollegen und Kolleginnen! Meine Damen und Her- das angekündigte Weißbuch Verkehr der Europäischen
ren! Ihre Aussage zum Stillstand der Verkehrspolitik ist Kommission entscheidende Bedeutung hat.
wohl nicht so ganz ernst gemeint. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das liegt vor!)
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Doch! Mal in- Eine Festlegung auf bestimmte ordnungs- und steuer-
nehalten! Mal nachdenken, was Sie da so trei- politische Maßnahmen im Verkehrsbereich findet eben
ben!) auf EU-Ebene statt und muss abgewartet bzw. dort erst
– Ich kann das nicht nachvollziehen, zumal die hohe Be- einmal verhandelt werden. Ich frage mich sowieso, wes-
deutung der Verkehrsinfrastruktur – ich glaube, da sind halb die Fraktion der SPD diesen Forderungskatalog erst
wir uns hier alle einig, meine Damen und Herren – ganz jetzt aufstellt – das wurde vorher schon gesagt –, obwohl
unbestritten ist. sie bis zum Herbst 2009, also über elf Jahre, den Ver-
kehrsminister stellte.
Wir alle wissen von der Unterfinanzierung, unter der
wir leiden. Dazu bedurfte es nicht der Anträge, die uns (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist ein Weckruf
hier vorliegen. Im Kabinett hat der Bundesverkehrsmi- an Sie!)
nister – er ist jetzt leider nicht da – Was wollen Sie denn tatsächlich? Sie artikulieren bei-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Er ist schon gegan- spielsweise folgenden Vorwurf:
gen!) Die Einführung eines Finanzierungskreislaufs
für eine Erhöhung der Investitionslinie gekämpft und sie Straße durch die Bundesregierung, der die Einnah-
für 2012 durchgesetzt. Aber – wir wissen es alle – das men aus der Lkw-Maut lediglich für Investitionen
reicht bei weitem nicht. Wir alle hätten gerne mehr Geld. in die Straße vorsieht, schwächt das Gesamtver-
kehrsnetz und macht die Schiene damit komplett
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Endlich einmal ein von den Steuereinnahmen der öffentlichen Hand
ehrliches Wort!) abhängig.
(B) (D)
Der Staat hat dafür Sorge zu tragen – ich denke, das Was das an der Stelle soll, verstehe ich nicht.
ist hier allgemeine Auffassung –, dass die notwendige
Verkehrsinfrastruktur geschaffen und erhalten wird. Der (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist Ihr Problem!)
unzureichende Ausbau muss aber nicht nur eine Frage Der Bereich Schiene hat gezeigt, dass es positiv sein
der fehlenden Mittel sein, wenn man innovative Lösun- kann, wenn Mautmittel, also Trassenentgelte, für Inves-
gen zulässt. titionen zur Verfügung stehen, weil sie von den Begehr-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – lichkeiten bei der jährlichen Haushaltsplanung entkop-
Sabine Leidig [DIE LINKE]: Welche wären pelt werden und somit ein verlässlicher Finanzierungs-
das?) kreislauf entsteht. Warum soll das nicht auch für Straßen
gelten?
Ihren Aufruf zu einer beschleunigten Umsetzung der
(Beifall bei der FDP)
politischen Prozesse hin zu einer Strategie für eine zu-
kunftsfähige Verkehrsinfrastruktur unterschreiben wir Der Verkehrsträger Straße ist erheblich konjunkturanfäl-
alle; der politische Wille dazu ist, so glaube ich, auch in- liger als der Verkehrsträger Schiene. Eine verlässliche
terfraktionell vorhanden. Sie selbst erwähnen in Ihren Finanzierungsgrundlage für die Unterhaltung und den
Anträgen den Bundestagsbeschluss der Regierungsfrak- Ausbau der Bundesfernstraßen ist daher entsprechend
tionen. Die Aufträge sind zur Genüge klar formuliert. dringlich. Zudem werden die fehlenden Mautmittel in
den Bereichen Schiene und Wasserstraßen durch zusätz-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber es passiert
liche Haushaltsmittel ergänzt. Sie argumentieren hier
nichts!)
also mit einer krassen Fehldarstellung.
Es geht hier um die Herstellung des Finanzierungskreis-
(Beifall des Abg. Patrick Döring [FDP] – Uwe
laufs Straße, die Beseitigung der Haushaltsabhängigkeit
Beckmeyer [SPD]: Schauen Sie mal in den
bedarfsgerechter Verkehrsinvestitionen,
Haushalt hinein! Das ist eine Fehldarstellung
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Welcher Be- Ihrerseits!)
darf? Wessen Bedarf? Wer hat denn diesen Be-
Darüber hinaus denken wir, die CDU/CSU und die
darf?)
FDP, darüber nach, wie man die Mittel beim Verkehrs-
mehrjährige Planungssicherheit für Investitionsprojekte, träger Schiene erhöhen kann, zum Beispiel durch die
Planungsbeschleunigung sowie die Weiterentwicklung Kappung der Gewinnabführungs- und Beherrschungs-
der Priorisierung von Investitionsprojekten im Rahmen verträge. Das würde nämlich dafür sorgen, dass die Mit-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10975
Werner Simmling
(A) tel im Netz bleiben. Sie stellen es wieder so dar, als die Frage: Wer regiert denn dieses Land? Wer trägt denn (C)
würde der Staat bei Unabhängigkeit der DB Netz gar die Regierung? Die Regierung und die Vertreter der Re-
keine Mittel mehr als Subventionen bereitstellen. Das gierungsfraktionen sind es, die dieses Land regieren
stimmt nicht. Der Verkehrsträger Schiene wird immer müssen. Sie dürfen nicht darauf hoffen, dass wir Ihnen
subventioniert bleiben; beispielsweise werden die Regio- die gesamte Arbeit abnehmen.
nalisierungsmittel für den ÖPNV weiter fließen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zum Schluss noch ein weiteres bemerkenswertes Zi- sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
tat aus Ihrem Antrag: Dorothee Menzner [DIE LINKE])
Dabei entlasten die Investitionen aus der Lkw-Maut Wenn man sich dann anschaut, was jetzt eigentlich
in die Schieneninfrastruktur den Verkehrsträger dringend notwendig wäre, dann wird es ganz düster bei
Straße und führen in der Gesamtbilanz auch für die diesen beiden Parteien. Wir wissen, dass die Verkehrsin-
Logistikunternehmen auf der Straße zu Kostener- frastruktur für lange Zeiträume geplant und gebaut wird.
sparnissen. Weniger Verkehr auf der Straße führt zu
weniger Staus und zu einem besseren Zustand der Eine Eisenbahntrasse oder Ähnliches wird für die
Straße. Daraus folgen Kostenersparnisse durch nächsten 50 bis 100 Jahre errichtet. Eine Autobahn soll
Zeitgewinn und weniger Verschleiß am rollenden mindestens 40 bis 50 Jahre halten.
Material. Wenn man sieht, wie die vielen Milliarden investiert
Sie sagen also – ich übersetze das einmal ins Verständli- werden, wird es ganz duster. Wissen wir, welche Ent-
che –: Durch die Mittel aus der Lkw-Maut, die in die wicklungen in 30 oder 40 Jahren auf uns zukommen?
Schieneninfrastruktur geflossen sind, wird der Verkehrs-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
träger Straße entlastet, weil sich dort dann weniger Ver-
wissen wir noch nicht! Aber Sie sind dann be-
kehr abspielt. Gleichzeitig haben die Logistikunterneh-
stimmt dagegen!)
men einen Vorteil, weil sie weniger auf der Straße
befördern. – Das müssen Sie sich einmal auf der Zunge Es geht um Entwicklungen, zu denen auch die Bundesre-
zergehen lassen. Ich glaube, da schießen Sie sich schräg gierung oder die Bundeskanzlerin, als sie sich noch Kli-
von hinten durch die Brust ins Auge. makanzlerin nannte, eingestanden haben, dass sie real
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sind. Wir wissen, dass wir bis zum Jahr 2050 – das ist
der CDU/CSU) auf der einen Seite mit 40 Jahren noch sehr lange hin,
auf der anderen Seite ziemlich nah, was die Verkehrsin-
Ich meine, auf eine solche Verkehrsinfrastrukturpolitik frastruktur und die Planungszeiträume angeht – den
(B) können wir in einem solch hochindustrialisierten Land CO2-Ausstoß um 95 Prozent senken müssen, nicht etwa, (D)
gerne verzichten. um den Klimawandel zu verhindern, sondern um ihn in
Vielen Dank. einem für unser Überleben und das unserer Kinder er-
träglichen Maß zu halten. Das wissen wir. Wenn Sie mir
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht glauben: Es ist, wie gesagt, der Beschluss der Bun-
desregierung.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Angesichts dessen muss man sich fragen, wie wir die
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter für Bündnis 90/Die für unseren Wohlstand entscheidende Mobilität sinnvol-
Grünen. lerweise aufrechterhalten können. Weil die jetzige Mobi-
lität zu über 90 Prozent vom Erdöl abhängt und in dem
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sehr kurzen Zeitraum von 40 Jahren der CO2-Ausstoß
NEN): um 95 Prozent gesenkt werden muss, müssen wir uns et-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und was anderes überlegen.
Kollegen! Es mutet schon etwas seltsam an, dass ausge-
rechnet die Vertreter der Partei, die immer ganz laut (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Steuersenkungen fordert, die Steuerdisziplin verwässert sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
und gleichzeitig fordert, dass der Haushalt saniert wer- KEN)
den muss, wortreich beklagen, dass nicht genug Geld für Was haben Sie uns vorgelegt? Sie haben vorgeschla-
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung gen, dass die Mautmittel zu 100 Prozent in den Bereich
steht. Straße fließen sollen. Das ist alles, was wir an etwas
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) grundlegenderen Reformen in der Verkehrsinfrastruktur-
finanzierung von dieser Regierung gehört haben. Das
Was jetzt bitte? Mehr Geld oder Steuersenkungen heißt, Sie stecken mehr Geld in die Straße, die extrem
oder weniger Schulden? Alles passt auf jeden Fall nicht erdölabhängig ist.
zusammen.
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Noch seltsamer mutet es an, wenn man sich vergegen- NEN]: E10!)
wärtigt, dass die Vertreter der Regierungsparteien wort-
reich beklagen, dass die Opposition nicht für alles eine Was machen Sie sonst? Die Bahn muss eine Zwangs-
Lösung hat. Es mag ja sein, dass wir in unseren Anträ- dividende von 500 Millionen Euro abgeben. Wird sie da-
gen nicht für alles eine Lösung haben; aber es stellt sich durch gestärkt?
10976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Anton Hofreiter


(A) Was ist mit den positiven Maßnahmen, die Sie sogar Im Übrigen kann auch von mangelnder Initiative und (C)
in Ihrem Koalitionsvertrag festgehalten haben, wie die fehlender Zukunftsstrategie keine Rede sein. Ich will das
Aufhebung der Gewinnabführungs- und Beherrschungs- gerne mit einigen Argumenten begründen.
verträge? Nichts passiert. Das ist die Tragik. Sie setzen
nicht einmal das wenige Positive um, das Sie beschlos- Erstens. Es kann nicht geleugnet werden, dass die In-
sen haben. vestitionen in die Verkehrsinfrastruktur der letzten Jahre
einen sehr positiven Beitrag zur Überwindung der Wirt-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schafts- und Finanzkrise in Deutschland geleistet haben
sowie bei Abgeordneten der SPD) und es der Koalition danach gelungen ist, die Investi-
tionslinie auf hohem Niveau zu erhalten und in 2012
Es ist sogar noch mehr Positives in Ihrem Koalitions- wieder auf 10 Milliarden Euro erhöhen zu können.
vertrag enthalten. Ich will das durchaus sagen: Manches
darin ist positiv. Die nichtbundeseigenen Eisenbahnen Sie wenden ein, das seien aber keine 12 Milliarden
sollen eine eigene Finanzierung bekommen. Das ist sehr Euro wie vor einigen Jahren, meine sehr verehrten Da-
sinnvoll. Aber was passiert? Nichts. Wie man aus dem men und Herren der SPD-Fraktion, wissen aber genau,
Verkehrsministerium hört, ist nicht ein einziger Referent dass das mit dem Fortfall der Konjunkturfördermittel er-
damit beschäftigt. klärbar ist.
Was soll das? Wenn Sie schon einmal etwas Positives Darüber hinaus sollten Sie auch nicht vergessen, dass
beschließen, warum setzen Sie nichts davon um? in diesem Jahr, 2011, mehr investive Mittel für die Ver-
kehrsinfrastruktur als in den Jahren vor der Krise zur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Verfügung stehen. Dies ist ein großer Erfolg, den wir uns
Deshalb muss man leider den Schluss ziehen: Der in der heutigen Debatte nicht zerreden lassen.
Stillstand in der Verkehrspolitik ist in dem Bereich, wo
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Maßnahmen nötig sind, umfassend. Da, wo Sie etwas
tun, tun Sie das Falsche. Das Richtige, das Sie beschlos- Natürlich – das hat Kollege Schnieder schon deutlich
sen haben, setzen Sie nicht um. gemacht – hätten wir gern noch mehr Geld zur Verfü-
gung. Insofern ist es für uns von ganz hoher Bedeutung,
Deshalb fordere ich Sie auf: Kehren Sie um! Machen
mit den vorhandenen Investitionsmitteln vor allem die
Sie eine vernünftige Verkehrspolitik! Wir werden Ihnen
Qualität der Bestandsnetze von Schiene, Straße und der
aus der Opposition heraus weiter mit konstruktiven An-
Wasserwege zu sichern sowie Engpässe zu beseitigen.
trägen helfen.
(Hans-Werner Kammer [CDU/CSU]: Als Ich stimme Ihnen in Ihrer Antragsformulierung aus-
(B)
Bremser zur Verfügung stehen!) drücklich zu, dass „der gestiegene Bedarf nach einem (D)
nachhaltigen Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner
Wenn Sie selber keine Ideen haben, setzen Sie unsere an Verkehrswegen … angemessen mit zu berücksichti-
Anträge um! gen“ ist, nicht zuletzt durch den Bau von Umgehungs-
straßen.
Danke.
Ich frage aber: Was sind diese plakativen Forderun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen wert, wenn Sie dort, wo Sie regieren, zum Beispiel
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- in Nordrhein-Westfalen – das ist für die nächste Woche
KEN) angekündigt –, bedeutende Umgehungsstraßenprojekte
auf Eis legen? Da kann ich nur feststellen: Tut nach un-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: seren Worten, aber nicht nach unseren Werken. Das ist
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Reinhold alles andere als glaubwürdig.
Sendker das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Patrick Schnieder [CDU/CSU]: So ist das!
der FDP) Stillstand wird bei der SPD produziert! – Uwe
Beckmeyer [SPD]: Das ist die Politik Ihres
Bundesverkehrsministers, die er angekündigt
Reinhold Sendker (CDU/CSU):
hat!)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Lassen Sie mich mit einer Feststellung beginnen: Mit Blick auf die Substanzerhaltung unserer Ver-
Dass Sie als SPD den angeblichen Stillstand in der Ver- kehrswege stehen wir natürlich auch neueren Ansätzen
kehrspolitik der christlich-liberalen Regierung prokla- der Optimierung von Bestand und Ausbau, die jetzt dis-
mieren, den man in langen Regierungsjahren selbst zu kutiert werden, mit großem Interesse gegenüber, vor al-
verantworten hat, ist für mich alles andere als glaubwür- lem wenn sie ein Einsparpotenzial und darüber hinaus
dig. Selbst Frau Kollegin Leidig ist Ihren Vorwürfen, mehr Transparenz bieten.
Herr Beckmeyer, und Ihrem Plädoyer für den Stillstand
nicht gefolgt. Ein weiterer Punkt ist von Bedeutung, nämlich die öf-
fentlich-private Partnerschaft, kurz: ÖPP. Sie sprechen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sich in Ihrer Antragsformulierung für eine Beteiligung
der FDP) von privatem Kapital im Rahmen von ÖPP aus, soweit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10977
Reinhold Sendker
(A) die Lösung effizienter und kostengünstiger ist. Das se- von hoher Bedeutung – beim Straßenbau erreicht werden (C)
hen wir genauso. können.
Sie wissen, dass nach den ersten vier erfolgreichen (Uwe Beckmeyer [SPD]: Beginnen Sie noch
Projekten nun die zweite Staffel am Start ist, die auch in diesem Jahr!)
wirtschaftliche Anreize bietet, weil allein schon die Bün-
Daher lautet mein Fazit: Genau das sind zukunftswei-
delung der baubedingten Staus auf einen kürzeren Zeit-
sende Ansätze. Das ist moderne Verkehrsinfrastruktur-
raum volkswirtschaftlichen Nutzen stiftet. Das ist für
politik. Das ist alles andere, meine sehr verehrten Damen
uns wichtig.
und Herren der Opposition, als Stillstand.
Weniger erfreulich ist es aber dann, wenn wir wieder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
einmal von der Zurückhaltung in Nordrhein-Westfalen
Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist letztes
erfahren. Verkehrsstaatssekretär Horst Becker wurde
Jahrhundert!)
jüngst zitiert: Wir sind keine Freunde dieses Modells.
So werden wir auch zukünftig für eine hohe Investi-
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
tionslinie kämpfen und neue zielführende Ansätze der
GRÜNEN]: Kluger Mann! Sehr kluger Mann!
Verkehrsinfrastrukturpolitik verfolgen.
Der kann rechnen!)
Dafür steht unser Minister. Wir unterstützen ihn gerne
Bei allem, was auch immer darauf folgt, dürfen wir
dabei.
im Ergebnis feststellen: Von Stillstand kann in der von
uns verantworteten Verkehrspolitik mit Blick auf die Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
ÖPP gar keine Rede sein.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]:
Ein Mann der Straße!)
Ich komme nun auf meinen dritten Punkt zu sprechen.
Die Koalition hat den Finanzierungskreislauf Straße – Sie
haben es eben gesagt – und damit mehr Transparenz her- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gestellt, und das ist gut so. Der Kollege Michael Groß hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Sie fordern in Ihrem Antrag auch mehr Transparenz.
Im gleichen Antrag kritisieren Sie den jetzt realisierten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Finanzierungskreislauf Straße, der aber gerade mehr
Transparenz stiftet. Ich finde, das passt nun wirklich Michael Groß (SPD):
(B) nicht zusammen. Wer Transparenz will, muss auch dafür Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (D)
eintreten, dass die Lkw-Maut, die für die Straßennutzung und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
gezahlt wird, der Straße zufließt. Alles andere ist den Simmling, Sie fordern innovative Konzepte und Lösun-
Bürgern nicht zu vermitteln und bleibt im Ergebnis in- gen. Wo sind die Konzepte?
transparent.
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – NEN]: Er hat eine altbackene Rede gehalten!)
Sabine Leidig [DIE LINKE]: Welche Bürger
haben Sie denn gefragt? – Dr. Anton Hofreiter Sie haben in der Koalitionsvereinbarung darauf hinge-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Selbst die wiesen, dass wir Prioritäten setzen müssen. Wo ist Ihre
Autofahrer sind doch der Meinung, dass die Prioritätensetzung? Sie haben darauf hingewiesen, dass
Lkw besser auf der Schiene sind!) wir transparente Kriterien brauchen. Wo sind die trans-
parenten Kriterien? Sie, Herr Schnieder, und Sie, Herr
Erlauben Sie mir, abschließend in der Kürze der Zeit Sendker, weisen immer auf die lange Regierungszeit von
bei der modernen Verkehrspolitik noch einen vierten Rot-Grün hin. In NRW haben Sie fünf Jahre lang die
Punkt anzusprechen, Stichwort: Verkehrsinfrastrukturfi- Verantwortung getragen.
nanzierungsgesellschaft VIFG. Die Koalitionsvereinba-
rung der christlich-liberalen Regierung sieht einen Prüf- (Patrick Schnieder [CDU/CSU]: Da ging es
auftrag zur Herstellung eines Finanzierungskreislaufs voran in der Verkehrspolitik!)
Straße Ihre Minister sind durch NRW gereist und haben vieles
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- versprochen, unter anderem alle Ortsumgehungen, die
NEN]: „Prüfen“ heißt nicht handeln!) zur Diskussion standen. Mich wundert, was Herr
Ramsauer gestern in dapd angekündigt hat. Ich zitiere:
unter direkter Zuweisung der Lkw-Maut an die VIFG
vor. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU)
will die schweren Frostschäden auf den Bundes-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Und?) fernstraßen notfalls mit Mitteln für den Neubau von
Ortsumgehungen ausbessern.
Den ersten Teil haben wir bereits erledigt.
Ist das Ihre Antwort? Ist das die Logik, der Sie folgen?
Dabei geht es ganz besonders um die Frage, inwieweit
durch die Weiterentwicklung dieser Gesellschaft mehr- (Reinhold Sendker [CDU/CSU]: Ortsumgehungen
jährige Planungs- und Finanzierungssicherheit – das ist streichen, kann es ja auch nicht sein!)
10978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Michael Groß
(A) – Nein, ich sage nur, was Ihr Minister dazu sagt. – Ihr raussetzung. Wir brauchen schnellstens Schwachstellen- (C)
Minister ist als Infrastrukturminister angetreten. Es feh- analysen und Engpassreduzierungen, und wir brauchen
len aber nach Aussagen der Experten und Fachverbände die geforderte Reformdebatte zur Mobilität. Das könnte
mindestens 3 Milliarden Euro im Jahr. Sie haben gerade eine Zukunftskommission zur Infrastrukturfinanzierung
eine Haushaltsverbesserung von circa 300 Millionen tun, um einen breiten Konsens in der Diskussion herzu-
Euro pro Jahr angekündigt. Sie können rechnerisch stellen. Die Lösung kann nicht sein, dass der Masterplan
nachvollziehen, dass das bei weitem nicht ausreichen Güterverkehr und Logistik durch den Minister lediglich
wird. in einen Aktionsplan Güterverkehr und Logistik umbe-
nannt wird, der uns inhaltlich auch noch zurückwirft.
Die Staudatenbank des ADAC zeigt den Handlungs- Klapp-rechner statt Laptops, Aktionsplan statt Master-
bedarf: Von 1 000 als Engpässe definierten Autobahn- plan, das kann nicht die Antwort sein.
kilometern sind nur 430 Kilometer im Vordringlichen
Bedarf des Bundesverkehrswegeplans. Auf Anfragen Danke.
antworten Sie, dass Bauprojekte des Vordringlichen Be-
darfs mit abgeschlossener Planung nicht durchgeführt (Beifall bei der SPD)
werden könnten, weil kein Geld vorhanden sei. In NRW
wird sich die Umsetzung des RRX verzögern, weil Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zugesagte 15 Millionen Euro dem Land NRW vorenthal- Das Wort hat der Kollege Ulrich Lange für die CDU/
ten. Damit verhindern Sie, dass circa 31 000 Personen- CSU-Fraktion.
fahrten täglich auf die Schiene verlagert werden können.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sie setzen auf die Finanzierungskreisläufe. Nach dem neten der FDP)
Finanzierungskreislauf Straße soll auch die Schiene ei-
nen bekommen. Ein Teil der 500 Millionen Euro der von
der Deutschen Bahn abzuführenden Dividende soll dem Ulrich Lange (CDU/CSU):
Ministerium verbleiben. Die Dividende soll ab 2015 auf Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
750 Millionen Euro erhöht werden. Ein großer Teil gen! Was uns als Bundesbürger, als Verkehrsteilnehmer
bleibt im allgemeinen Haushalt und fließt nicht in die – mit Ausnahme der Kollegin Leidig, wie ich eben ge-
wichtigen Schienenprojekte. Eine Frage zu Ihrer Pro- lernt habe –, eint, ist Ärger über Stau auf Straßen wegen
blemlösung stellen Sie sich nicht: Was passiert eigent- Baustellen
lich mit den Wasserstraßen?
(Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ich fahre nicht
29 aktuell überprüfte und bedarfsgerechte Bahnpro- Auto!)
(B) jekte, die umgesetzt werden sollen, haben ein Investi- (D)
tionsvolumen von 26 Milliarden Euro. Hinzu kommen – nein, Sie treten in die Pedale –, über unpünktliche und
noch Kosten für die im Bau befindlichen Projekte. Die volle Züge, über Verspätungen im Flugverkehr.
Bahn kündigt zusätzlich ein „Wachstumsprogramm (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Miserable
Schiene“ an und will Alternativrouten zu den überlaste- Bahnhöfe zum Beispiel!)
ten Hauptverkehrsachsen für den Güterverkehr durch
Deutschland ausbauen. Die zusätzlichen Kosten betra- All das beklagen wir im Einzelfall. Dieses Phänomen ist
gen 2,2 Milliarden Euro. Wie wollen Sie außerdem die auch nicht neu.
Rheintalbahn und die Hafenhinterlandanbindung finan-
zieren? Die Finanzierungskreisläufe werden den not- Genauso wenig neu ist das Sammelsurium, das Sie,
wendigen Ausbau der Schiene nicht stärken und be- lieber Kollege Beckmeyer, uns heute vorgelegt haben.
schleunigen, sondern schwächen. Sie verhindern einen Keine Ihrer Forderungen ist neu. Allein die Antwort auf
integrierten Netzansatz. die Frage, wie Sie das alles finanzieren wollen, bleiben
Sie wieder einmal schuldig. Auch wenn Sie es nicht hö-
Ebenso ist für uns nicht erkennbar, wie Sie eigentlich ren wollen: Elf Jahre Ihrer eigenen Regierungskunst ha-
die Vorgaben der Europäischen Union umsetzen wollen. ben uns etwas hinterlassen: eine offene Baustelle; auf-
Das neue Weißbuch liegt im Entwurf vor. Dort ist for- grund des Bundesverkehrswegeplanes von Rot-Grün
muliert, dass der großstädtische Verkehr bis 2050 im stehen wir jetzt im Stau. Diesen Stau wird unser Ver-
Wesentlichen CO2-frei ausgestaltet sein soll. Ein euro- kehrsminister zusammen mit dieser Koalition auflösen,
päisches Kernnetz soll bis 2030 funktionstüchtig umge- lieber Kollege Beckmeyer.
setzt sein. 30 Prozent des Straßengüterverkehrs bei Stre-
cken über 300 Kilometern sollen bis 2030 auf Schiff (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – La-
oder Bahn verlagert sein und bis 2050 sogar über die chen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE
Hälfte. Wie wollen Sie das tun? GRÜNEN – Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie lösen
sich eher selbst auf! – Winfried Hermann
(Patrick Döring [FDP]: Da merkt man schon, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie wis-
wie irreal das Weißbuch ist!) sen auch, dass Sie jetzt auch schon sechs Jahre
an der Regierung sind?)
Mobilität ist eine zentrale Frage der Zukunft. Sie
muss den wachsenden Anforderungen gerecht werden. – Ja. Der Verkehrswegeplan stammt trotzdem aus Ihrer
Sie muss bezahlbar, umweltverträglich, sicher und zu- Regierungszeit, lieber Kollege Hermann, nicht aus unse-
verlässig sein. Lärmschutz ist dabei eine wichtige Vo- rer.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10979
Ulrich Lange
(A) Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause darin einig (Uwe Beckmeyer [SPD]: Also es passiert wie- (C)
– diejenigen, die ganz links sitzen, lasse ich einmal au- der nichts, oder was?)
ßen vor –, dass wir eine nachhaltige Finanzierung einer
Sie schreiben in Ihrem Antrag:
besseren Verkehrsinfrastruktur brauchen. Dafür zu sor-
gen, ist eine politische Daueraufgabe, die nicht auf ein- Mit jeder in die Verkehrswege investierten Mil-
mal zu lösen sein wird. Auch über die Bedeutung der liarde Euro werden rund 20 000 Arbeitsplätze …
Verkehrsnetze dürfte hier kein Streit bestehen. gesichert.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Dann tun Sie endlich Herr Kollege Beckmeyer, machen Sie mit! Das ist ein
was!) Regelsatz, der Arbeit schafft für die Infrastruktur. Dann
sind wir sofort dabei. Gehen wir nächsten Mittwoch ge-
Aber im Gegensatz zu Ihnen, lieber Kollege
meinsam rüber in den anderen Raum und reden darüber.
Beckmeyer, wissen wir nicht nur um diese Bedeutung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sondern Sie tun auch nichts!) NEN]: Toller Vorschlag! Das ist der Robin
– der Kollege Schnieder hat schon vorhin die Linien Hood des Bundestags! Aber Sie wissen schon,
ganz deutlich gezeichnet –, sondern wir handeln auch: dass Sie an der Regierung sind, oder?)
Wir verstetigen nämlich auf hohem Niveau. Auch hier brauchen wir nicht noch einmal anzusetzen;
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- denn ist es alles mehrfach vorgetragen worden.
NEN]: Oh Gott! Den Satz kenne ich schon seit Natürlich gibt es im Bereich ÖPP noch Potenzial. Wir
langem!) werden es heben. Da bin ich mir sicher.
– Ja, wir verstetigen auf hohem Niveau. Wir sind alle für die Verlagerung von Verkehr auf die
Lieber Kollege Hermann, bei Ihnen waren die An- Schiene und auf die Wasserstraße, weil wir wissen, dass
sätze niedrigschwelliger: 2001 bis 2008 9,4 Milliarden wir den Zuwachs der Verkehre auf der Straße alleine
Euro, jetzt 9,7 Milliarden Euro. nicht bewältigen können. Ich kann Sie nur auffordern,
vor Ort mitzugehen und für den Schienenausbau zu wer-
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ben und nicht dieses Katz-und-Maus-Spiel zu betreiben
NEN]: Das ist zehn Jahre her! – Dr. Anton nach dem Motto: Wir sind zwar für den Ausbau, aber
Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Al- nicht hier.
lein die Inflation!)
(B) Lieber Kollege Beckmeyer, das Jahr 2009 mit den Kollege Hofreiter hat gerade von der Macht der Bür- (D)
gerinitiativen gesprochen. Ich kann das auch anders nen-
12 Milliarden Euro ist nicht der Maßstab. Sie selber wis- nen. Das ist die Macht, all das zu verhindern, was Sie
sen ganz genau, dass in diesem Betrag Mittel des hier plakativ darstellen. Herr Kollege Hofreiter, ehrlich
Konjunkturpakets II enthalten waren. gesagt finde ich das nicht seriös.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Aber das war not- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
wendig, Herr Kollege!) GRÜNEN]: Davon habe ich gar nicht gespro-
Genauso wenig redlich ist es, zu sagen: 8 Milliarden chen!)
Euro sind im Schienenverkehr gebunden. Wodurch sind – Sie haben vorhin den Einwurf gebracht: die Macht der
sie denn gebunden? Wer hat sie denn gebunden? Wer Bürgerinitiativen.
trägt denn die Verantwortung? Schauen Sie in den Spie-
gel! Dann wissen Sie, wer dafür verantwortlich ist, dass Zeigen Sie gemeinsam mit uns den Mut! Gehen Sie
diese Mittel bereits gebunden sind. gemeinsam mit uns den schwierigen Weg der Finanzie-
rung! Wir alle hätten gerne mehr Geld. Gehen Sie nächs-
Wendet man sich der Gretchenfrage in Ihrem Antrag, ten Mittwoch gemeinsam mit mir zur größten Haushalts-
des Pudels Kern, zu, nämlich der Finanzierung, dann position. Wir alle wissen um die Notwendigkeit der
stellt man fest: Da kommt nichts. Sie haben lediglich Verkehrsinfrastruktur. Wir alle wissen um die Notwen-
eine vage Vorstellung von der Einrichtung einer Kom- digkeit der Verkehrsnetze. Wir gehen es mutig an. Wir
mission. werden uns innerhalb des Finanzierungsrahmens bewe-
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, immerhin etwas!) gen, den wir gemeinsam mit Ihnen im Zusammenhang
mit der Schuldenbremse festgelegt haben. Wir wissen,
Herr Kollege Beckmeyer, ich mache Ihnen und dem dass wir dazu den richtigen und mutigen Minister haben.
Kollegen Groß folgenden Vorschlag: Wir gehen am
Mittwochvormittag vom Raum 600 im Paul-Löbe-Haus Herzlichen Dank.
quer hinüber in den Raum 200. Dort tagt der Ausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
für Arbeit und Soziales, dem auch ich angehöre. Dort
werden rund 45 Prozent unseres Haushaltsvolumens be- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
raten. Reden Sie dort mit Ihren Kolleginnen und Kolle-
Ich schließe die Aussprache.
gen darüber, dass wir Geld für die Infrastruktur brau-
chen; denn auch bei Ihnen gibt es keine wunderbare Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Geldvermehrung. Drucksache 17/5022 an die in der Tagesordnung aufge-
10980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein- (Bleiberechtsregelung und Vermeidung von (C)
verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Kettenduldungen)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- – Drucksache 17/1557 –
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Erhalt und schusses (4. Ausschuss)
Ausbau der Verkehrsinfrastruktur sichern – Deutschland
braucht eine moderne Zukunftsstrategie zur Infrastruk- – Drucksache 17/5093 –
turfinanzierung“. Berichterstattung:
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Abgeordnete Reinhard Grindel
lung auf Drucksache 17/1479, den Antrag der Fraktion Rüdiger Veit
der SPD auf Drucksache 17/782 abzulehnen. Wer stimmt Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ulla Jelpke
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Memet Kilic
men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen und Josef Philip Winkler
die Linke. Dagegen hat die SPD-Fraktion gestimmt. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten. richts des Innenausschusses (4. Ausschuss)
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 8 c, zur Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke,
schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeord-
und Stadtentwicklung zu dem Antrag der Fraktion der neter und der Fraktion DIE LINKE
SPD mit dem Titel „Mobilität nachhaltig gestalten – Er-
folgreichen Ansatz der integrierten Verkehrspolitik fort- Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt
entwickeln“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- verwirklichen
schlussempfehlung auf Drucksache 17/2226, den Antrag – zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim
auf Drucksache 17/1060 abzulehnen. Wer stimmt für die Dağdelen, Jan Korte, Matthias W. Birkwald,
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls an- LINKE
genommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen.
Dagegen gestimmt hat die SPD-Fraktion. Enthalten ha- Für ein wirksames Rückkehrrecht und eine
ben sich Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Stärkung der Rechte der Opfer von Zwangs-
verheiratungen
(B) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: (D)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Winkler, Memet Kilic, Volker Beck (Köln),
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes weiterer Abgeordneter und der Fraktion
zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN
besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat
sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und Für eine wirksame und stichtagsunabhän-
asylrechtlicher Vorschriften gige gesetzliche Bleiberechtsregelung im
Aufenthaltsgesetz
– Drucksache 17/4401 –
– zu dem Antrag der Abgeordneten Memet Kilic,
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer
neten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Gabriele Fograscher, weiteren Abgeordneten und DIE GRÜNEN
der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei- Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam
nes Gesetzes für ein erweitertes Rückkehr- schützen durch bundesgesetzliche Refor-
recht im Aufenthaltsgesetz men und eine Bund-Länder-Initiative
– Drucksache 17/4197 – – zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic,
neten Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Geset- Residenzpflicht abschaffen – Für weitestge-
zes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes hende Freizügigkeit von Asylbewerbern und
(Altfallregelung) Geduldeten
– Drucksache 17/207 – – Drucksachen 17/2325, 17/4681, 17/1571,
17/2491, 17/3065, 17/5093 –
– Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, Berichterstattung:
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE Abgeordnete Reinhard Grindel
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset- Rüdiger Veit
zes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10981
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Ulla Jelpke Die Änderungen, über die wir heute sprechen, sind in (C)
Memet Kilic einem sorgfältigen Reifeprozess geplant und vorbereitet
Josef Philip Winkler worden.
Hierzu ist verabredet worden, eine Dreiviertelstunde (Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist doch ein Witz!)
lang zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Wi- Wir beraten heute einen Gesetzentwurf, der nach meiner
derspruch. Dann ist das so beschlossen. festen Überzeugung geeignet ist, die Integration der
Das Wort hat der Bundesminister Dr. Hans-Peter Menschen in unserem Land zu fördern und voranzubrin-
Friedrich. gen.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Wo ist denn der För-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deraspekt?)
Fördern und Fordern, das sind ehrliche und gute Koordi-
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-
naten für eine erfolgreiche Integrationspolitik,
nern:
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Damen und Herren! In den letzten Jahrzehnten haben GRÜNEN]: Ganz so erfolgreich war die
Menschen aus aller Welt in Deutschland eine neue Hei- nicht!)
mat gefunden. Sie haben durch ihre Arbeit und ihr ge- übrigens nicht nur in Bezug auf die Integration von Mi-
sellschaftliches Engagement, sei es in Vereinen, Kultur- granten, sondern auch in Bezug auf alle Menschen, die
einrichtungen oder Sozialinitiativen, einen Beitrag zum in der Mitte der Gesellschaft aufgenommen werden sol-
Wohle unseres Landes geleistet und sich an der Gestal- len.
tung unserer Gesellschaft, ihrer neuen Heimat, beteiligt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rüdiger
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Veit [SPD]: Das ist ein guter Satz!)
Hört! Hört!)
Wir fördern die Integration der bei uns lebenden Mi-
Menschen unterschiedlicher Religionen und unter- granten, indem wir sie nicht alleinlassen. Wir schaffen
schiedlicher Kulturen leben in unserem Lande friedlich Rahmenbedingungen, die den Menschen eine erfolgrei-
zusammen. che Eingliederung in unsere Gesellschaft ermöglichen.
Zugleich fordern wir die Bereitschaft, sich selbst aktiv
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: um Integration zu bemühen. Jeder Migrant trägt selbst
(B) Auch Islam!) die Verantwortung für seine erfolgreiche Integration in (D)
unsere Gesellschaft.
Der Respekt vor unterschiedlichen religiösen Überzeu-
gungen und kulturellen Traditionen ist ein Grundpfeiler Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, umfasst
unserer toleranten und weltoffenen Gesellschaft. Die Re- verschiedene Regelungsbereiche:
ligionsfreiheit ist ein elementar wichtiger Pfeiler unserer
Erstens. Wir gewähren Ausländerinnen, die in
freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Deutschland integriert waren und in ihr Herkunftsland
(Aydan Özoğuz [SPD]: Ach!) verschleppt und zwangsverheiratet wurden, ein eigen-
ständiges Rückkehrrecht. Gleichzeitig führen wir einen
Das Pflegen von mitgebrachten Traditionen ist ein eigenen Straftatbestand „Zwangsheirat“ ein.
Recht, das in diesem freien Land ein jeder hat.
(Aydan Özoğuz [SPD]: Das ist Symbolik! –
Aber wir sind uns wohl auch einig, dass alle Men- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
schen, die in unserem Lande leben, sich nach unseren GRÜNEN]: Das bringt eh nichts!)
freiheitlich-demokratischen Werten richten müssen. Das klare Signal, das wir damit geben, lautet: Wer junge
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Frauen zwangsverheiratet oder solches Handeln unter-
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE stützt, kann sich nicht auf andersartige kulturelle oder re-
GRÜNEN]: Erst einmal nach den Gesetzen!) ligiöse Traditionen berufen, sondern er begeht strafbares
Unrecht, das unsere Gesellschaft nicht zu tolerieren be-
Die Mehrheit der in unserem Land lebenden Migranten reit ist.
hat sich bereits erfolgreich in die Gesellschaft integriert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Gleichwohl kennen wir auch Defizite. Sie anzusprechen Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
und zu beseitigen, ist unser Auftrag. Wir wollen eine Ge- GRÜNEN]: Das war schon vorher strafbar! –
sellschaft, in der Jungen und Mädchen aus Migrantenfa- Aydan Özoğuz [SPD]: Das wurde vorher auch
milien eine echte Chance bekommen, hier in unserem nicht toleriert!)
Land erfolgreich ihren Weg zu gehen. Wir wollen ein
wirkliches Miteinander, kein Nebeneinander und schon Zweitens. Wir verlängern die Mindestbestandsdauer
gar nicht ein Gegeneinander. Deswegen muss es darum einer Ehe, die erforderlich ist, um ein eigenständiges
gehen, gemeinsam pragmatische Lösungen zu finden, Aufenthaltsrecht zu erhalten, auf drei Jahre. Damit ver-
um Integrationspolitik in unserem Land noch erfolgrei- ringern wir den Anreiz zur Eingehung einer Scheinehe
cher zu machen. und erhöhen die Möglichkeit der Aufdeckung.
10982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich


(A) (Aydan Özoğuz [SPD]: Das glauben auch nur Keiner wird wohl leugnen, dass sich nur derjenige in (C)
Sie!) unsere Gesellschaft einbringen und sie aktiv mitgestalten
kann, der auch Deutsch spricht. Wer die aktive Bereit-
Wir fordern von denjenigen, die sich um Zuzug nach schaft zum Erwerb der deutschen Sprache nicht klar und
Deutschland bemühen, dass sie dies unter Beachtung der unmissverständlich einfordert, der schädigt letztlich die
geltenden Zuwanderungsregeln tun. Wer eine Ehe allein Migranten selbst. Er beraubt sie der Möglichkeit, sich
zu dem Zweck eingeht, ein Aufenthaltsrecht zu begrün- sozial und wirtschaftlich zu integrieren. Er lässt zu, dass
den, unterläuft diese Regel. Deswegen machen wir mit diese Menschen Gefahr laufen, dauerhaft von Sozialleis-
unserem Gesetzentwurf deutlich, dass wir diesen Miss- tungen abhängig zu sein. Das will keiner von uns.
brauch mit aller Entschiedenheit bekämpfen.
Der vorliegende Gesetzentwurf bietet pragmatische
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lösungsansätze für eine solide und wahrhaftige Integra-
neten der FDP) tionspolitik. Ich möchte Sie herzlich bitten, diesen Ge-
setzentwurf zu unterstützen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vielen Dank.
Herr Minister, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kilic zulassen? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


nern: Rüdiger Veit hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Nein danke. (Beifall bei der SPD)
Drittens. Wir gewähren bislang nur geduldeten Ju-
gendlichen, die sich schon lange in Deutschland aufhal- Rüdiger Veit (SPD):
ten, erfolgreich die Schule besuchen, einen Schul- oder Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Berufsabschluss haben und gut integriert sind, ein eige- Sehr geehrter Herr Minister, das war Ihre erste Rede als
nes Aufenthaltsrecht. Wenn sie bisher geduldet waren Bundesinnenminister in diesem Haus. Deswegen habe
und sich gut integriert haben, erhalten sie also jetzt ein ich alle Veranlassung, Ihnen namens der SPD-Fraktion
eigenes Aufenthaltsrecht. Denn es gehört zu unserer bei aller Gegensätzlichkeit in der Sache, über die noch
Politik des Förderns und Forderns, dass erbrachte Inte- zu reden sein wird, gutes Gelingen zu wünschen.
grationsleistungen entsprechend belohnt werden. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Rüdiger,
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das finde ich nett!) (D)
Viertens. Zu unserer Politik des Forderns gehört es, Soweit es in meiner Macht steht, setze ich mich dafür
dass wir Verstöße gegen Integrationsverpflichtungen ein, mit Ihnen konstruktiv zusammenzuarbeiten, wenn
künftig stärker sanktionieren. Wir verlangen von den dieses Bemühen entsprechend erwidert wird.
hier lebenden Ausländern, dass sie sich mit den Grund- Es gibt durchaus Unterschiede in der Sache. Das wird
werten unserer Gesellschaft vertraut machen und auch heute deutlich. Wenn ich Ihnen das im Hinblick da-
Deutsch lernen. Denn wer auf Dauer hier leben will, rauf, dass Sie den Gesetzentwurf hier begründet haben,
muss Deutsch sprechen können. Der Besuch der Integra- sage, dann ist das nicht als ein persönlicher Angriff zu
tionskurse ist deshalb für noch nicht integrierte Auslän- verstehen; denn der Beitrag der übrigen hier Versammel-
der verpflichtend. ten zu diesem Gesetz, von dem Sie gesprochen haben,
Klar ist: Integration ist ein langer Prozess, und Inte- war wesentlich größer. Sie haben die Vorschriften in die-
gration braucht vielfältige Begegnungen: im privaten sem Gesetz jetzt für sich selbst nachvollzogen.
Bereich, in der Nachbarschaft, in der Schule, im Verein Der Gesetzentwurf der Bundesregierung beinhaltet
und im Beruf. Gerade deswegen ist das Erlernen der eine Reihe von durchaus lobenswerten Ansätzen. Aber
deutschen Sprache der wichtigste Schlüssel zur Integra- dabei bleibt es meistens. Unter plakative Überschriften
tion. stellen Sie eine Reihe von Regelungen zur Bekämpfung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) von Zwangsheirat, zur Schaffung einer gesonderten Alt-
fallregelung und zur Lockerung der Residenzpflicht. In
Aus diesem Grunde machen wir deutlich, dass es auf der konkreten Ausgestaltung all dieser Instrumente neh-
eine erfolgreiche Teilnahme an diesen Integrationskur- men Sie aber wieder die Hälfte zurück von dem, was Sie
sen ankommt. Vor allem verlangen wir, dass ausrei- eigentlich regeln wollen. Man hat den Eindruck: Sie
chende Deutschkenntnisse erworben werden. Von denje- wollen ein paar Stichworte aus der Koalitionsvereinba-
nigen, denen das nicht gelingt, werden wir künftig rung abarbeiten und diese Themen – Beerdigung in der
regelmäßig weitere Integrationsbemühungen einfor- Holzklasse – möglichst noch vor dem 27. März irgend-
dern. Ihre Aufenthaltserlaubnis wird deshalb jeweils nur wie erledigt sehen. Das wird allein daran deutlich, dass
um maximal ein Jahr verlängert, bis sie den Integrations- die wirklich gute Anhörung, die wir zu allen Gesetzent-
kurs erfolgreich abgeschlossen haben oder nachweisen würfen durchgeführt haben, von uns allen nur unzurei-
können, dass ihre Integration anderweitig erfolgt ist. Wir chend ausgewertet werden konnte, weil der Zeitablauf
schaffen damit einen Anreiz, sich zügig in die Lebens- – die Anhörung war am Montag – gar nichts anderes zu-
verhältnisse in Deutschland zu integrieren. lässt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10983
Rüdiger Veit
(A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hier in Deutschland bleiben kann? Warum nicht diese (C)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wesentlich umfassendere Regelung?
LINKEN)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Trotzdem gab es einige Versuche. Es gibt aber bis zum BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
heutigen Tag keine Erklärung, warum das so furchtbar Ich will auf weitere Einzelheiten unseres Gesetzent-
eilig ist. Wir hätten das genauso gut in der nächsten Sit- wurfs eingehen. Nach vielen Änderungen im Ausländer-
zungswoche machen können. und Aufenthaltsrecht brauchen wir endlich einen Schnitt
Ich will begründen, warum ich von plakativen Über- und müssen mit dem Institut der Kettenduldung in
schriften gesprochen haben. Die Regelung zur Bekämp- Deutschland ein für alle Mal Schluss machen. Dieser Si-
fung der Zwangsheirat ist gut und schön; dafür sind wir tuation müssen wir uns stellen.
alle. Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf dazu einge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bracht und vertreten diesen in erster Linie. Herr Minis- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
ter, Sie haben eben gesagt, dass die Opfer von Zwangs- LINKEN)
heirat vornehmlich in Deutschland gut integrierte junge
Frauen sind. Warum muss man dann aber noch einmal Das ist Ihnen nicht gelungen. Es gibt einen nicht ganz
eine positive Integrationsprognose über sie abgeben, da- produktiven Kompromiss aus den Vorstellungen von
mit sie zurückkehren können? Das leuchtet mir über- CDU/CSU und FDP. Wenn ich das einmal sagen darf:
haupt nicht ein. Wenn wir das Rückkehrrecht gerade des- Die FDP, die wir in der letzten Legislaturperiode gele-
halb einräumen, weil die betroffenen Frauen unter gentlich als Mitstreiter an unserer Seite hatten, kann ich
Androhung von Gewalt oder durch List aus Deutschland heute leider nicht mehr wiedererkennen.
verbracht wurden und dann zwangsverheiratet worden (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sind, dann frage ich mich, warum wir ihnen bei dem Ver- NEN]: Wir auch nicht! – Memet Kilic
such der Rückkehr, die technisch schwierig genug ist, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die kann sich
noch eine positive Integrationsprognose abverlangen. selbst nicht mehr erkennen! – Gegenruf der
Das kann ich nicht nachvollziehen. Abg. Gisela Piltz [FDP]: Ich kann die SPD
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ auch nicht mehr erkennen bei den Bürgerrech-
DIE GRÜNEN) ten!)
Zur Verlängerung der Ehebestandszeiten wird meine Wir durften in der Vergangenheit erleben, dass die FDP
Kollegin Aydan Özoğuz noch etwas sagen. Mir sei nur gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen und uns ver-
sucht hat, gerade die Kolleginnen und Kollegen von der
(B) der Hinweis erlaubt, dass selbst die Kirchen in ihrem (D)
Schreiben vom 11. März 2011 – bei aller Achtung vor Union von vernünftigen Regelungen im Ausländerrecht
dem Institut der Ehe – sagen, dass man, wenn ausländi- zu überzeugen. Das spiegelt sich in dem, was hier und
sche Frauen von ihren Männern mit Gewalt hier in heute vorliegt, aber nicht unbedingt wider.
Deutschland festgehalten werden, nicht noch einen Tat- So geht das bei allen Themen, die in dem Gesetzent-
beitrag dazu leisten darf, dass sie noch ein Jahr länger in wurf angesprochen sind, weiter. Ich nenne nur das Stich-
dieser verzweifelten Situation ausharren müssen. Das wort „Residenzpflicht“. Da gehen Sie heran.
wird meine Kollegin gleich näher ausführen.
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Immerhin!)
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Lesen
Sie mal die Härtefallregelung, Herr Kollege! – Da gibt es leichte Lockerungen bei den Regelungen für
Gegenruf des Abg. Josef Philip Winkler Arbeitsaufnahme und Ausbildung.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist völlig (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Im Ge-
unpraktikabel, Herr Kollege!) gensatz zu vorher!)
Lassen Sie mich zu der Altfallregelung kommen, die Aber wir müssten viel weiter gehen. Dieses Institut ist
Sie uns anbieten. Kollege Grindel hat die humanitäre längst überholt. Schon heute sind viele Landkreise und
Seite der Koalition entdeckt und sieht darin einen beson- Länder – das geschieht sogar länderübergreifend – im
deren Vorstoß. Ich gebe zu, dass Sie dem, was wir von Begriff, diese Regelung zu ändern, weil sie keinen Sinn
Ihnen schon lange erwarten, endlich näherkommen. Sie mehr macht. Wir gehen nicht so weit und sagen, dass das
wollen keine stichtagsbezogene Altfallregelung, sondern alles abgeschafft werden muss und dass wir überhaupt
eine, die alle – auch in der Zukunft – erfasst. Das ist zu- keine Beschränkungen des Aufenthalts mehr brauchen.
nächst im Grundsatz zu begrüßen. Schon aus Gründen der Steuerung der damit verbunde-
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Immerhin!) nen finanziellen Lasten wollen auch wir eine Wohnort-
zuweisung für Asylbewerber und Geduldete, damit sie
Aber warum beschränken Sie das dann auf Antragsteller sich nicht beispielsweise in Großstädten vermehrt ansie-
zwischen 15 und 21 Jahren? Warum sagen Sie nicht ge- deln. Aber eine Residenzpflicht in dem Sinne, dass Asyl-
nauso wie wir, dass derjenige, der hier in Deutschland bewerber und Geduldete den Kreis oder die Stadt ohne
mindestens einen Hauptschulabschluss erworben hat, Ausnahmegenehmigung und ohne große Verwaltungs-
bleiben kann? Warum sagen Sie nicht genauso wie wir, verfahren nicht verlassen dürfen, lehnen wir ab. Wir
dass ein minderjähriger geduldeter Ausländer nach vier werden mit entsprechenden Gesetzentwürfen auf Sie zu-
Jahren bei einer positiven Integrationsprognose ebenfalls kommen.
10984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Rüdiger Veit
(A) Kurzum – damit ich meiner Kollegin die Redezeit (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
nicht wegnehme; das habe ich ihr versprochen –: Rich- Abhängig vom Integrationswillen!)
tige kleine Trippelschritte unter ganz großen Überschrif-
Besonders wichtig ist uns die Verbesserung des Op-
ten, das ist im Grunde genommen der Duktus des Wer-
ferschutzes. Wir werden eben nicht nur die Täter bestra-
kes, das Sie hier vorgelegt haben. Wir halten an unseren
fen, sondern auch den Opfern eine Perspektive geben. Es
Vorlagen fest, insbesondere an der Regelung betreffend
wird erstmalig ein eigenständiges Wiederkehr- und
die Wiederkehr von Opfern nach Zwangsheirat, aber
Rückkehrrecht für ausländische Opfer von Zwangsver-
auch an der sehr viel ausdifferenzierteren Regelung für
heiratungen geben. Die bisherige Regelung, wonach der
Altfälle, für Geduldete.
Aufenthaltstitel für verschleppte junge Frauen nach
Wir bitten um Zustimmung zu unseren Vorlagen. Ih- sechs Monaten automatisch erlischt, ermöglichte es lei-
rem Gesetzentwurf können wir aus den genannten Grün- der bis heute, diese Zwangslage noch stärker auszunut-
den leider nicht zustimmen. zen und Frauen jede Fluchtperspektive zu nehmen.
Nachdem über das Rückkehrrecht schon sehr lange dis-
Danke sehr. kutiert wird, ist es der christlich-liberalen Koalition nun
zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Betroffenen geschaffen zu haben.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschlep-
Der Kollege Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP- pung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dient
Fraktion. übrigens auch die Verlängerung der Antragsfrist für die
Aufhebung der Ehe.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäfti-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
gung oder Ausbildung zu erleichtern. Damit steigern wir
Herr Minister, auch seitens der FDP-Fraktion gratu- die Chancen von jungen Migranten, auf dem Arbeits-
lieren wir Ihnen herzlichst zu Ihrem neuen Amt. Wir markt Fuß zu fassen und sich in unserer Gesellschaft
wünschen Ihnen viel Erfolg. Auf gute, spannende Zu- weiterzuentwickeln.
sammenarbeit!
Wir haben uns auf die Verlängerung der Ehemindest-
(Zuruf von der SPD: Das glaube ich nicht! – bestandszeit auf drei Jahre zur Erlangung eines eigen-
(B) Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE ständigen Aufenthaltstitels geeinigt. Das hilft, Schein- (D)
GRÜNEN]: Spannungsreich!) ehen besser zu bekämpfen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ko- (Zurufe von der SPD: Das stimmt doch nicht!)
alition aus Union und FDP hat eine neue Integrations-
Opfern häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu großer
politik auf den Weg gebracht. Insofern hätten Sie zu Be-
Zahl gibt und die als Argument gegen die Anhebung der
ginn keine bessere Rede halten können.
Ehemindestbestandszeit angeführt werden, kann durch
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE die Härtefallregelung geholfen werden. Und die Sach-
GRÜNEN]: Wirklich?) verständigenanhörung hat gezeigt: Die jetzt getroffene,
per Änderungsantrag aufgenommene gesetzliche Klar-
Wir werden die Chancen der Zuwanderung für unser stellung wird zu einem stärkeren Schutz der Frauen bei-
Land besser nutzen und den Zusammenhalt unserer tragen. Wir mahnen die Ausländerbehörden an dieser
durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft stärken; Stelle zu einer großzügigen Handhabung.
Fördern und Fordern gehören zusammen. Das tun wir
mit dem vorliegenden Gesetzespaket. Wir schaffen hier- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mit den Einstieg in eine dauerhafte bundesgesetzliche Zentrales integrationspolitisches Anliegen der FDP
Bleiberechtsregelung. Erstmals wird für minderjährige ist das Beherrschen der deutschen Sprache. Eine unbe-
und heranwachsende geduldete Ausländer ein vom Auf- fristete Niederlassungserlaubnis erhält nur noch derje-
enthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht in ei- nige, der sich hinreichend auf Deutsch verständigen
nem Bundesgesetz geschaffen. Die rot-grüne Koalition kann oder sich hier einbringt. Natürlich muss niemand
hat das nicht zustande gebracht. Die christlich-liberale aus Deutschland ausreisen, weil er nicht perfekt Deutsch
Koalition dagegen eröffnet Perspektiven für Menschen, spricht. Aber diejenigen, die sich nicht integrieren wol-
die in unser Land gekommen sind. len, erhalten in Zukunft nur eine vorübergehende Auf-
(Rüdiger Veit [SPD]: Das meinst du doch nicht enthaltserlaubnis.
ernst!) (Rüdiger Veit [SPD]: Wie viele sind das eigent-
lich?)
Wir helfen Frauen in Not. Die Gleichberechtigung der
Frau ist einer der wesentlichen Bestandteile unserer Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von
Rechts- und Werteordnung, deren Vermittlung auch eine ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.
der entscheidenden Integrationsaufgaben ist. Zwangs- Mulitkultiromantik oder Desintegration durch Weg-
heirat wird explizit als Straftat benannt. schauen helfen uns nicht weiter.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10985
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
(A) (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- Damit betreiben Sie meiner Meinung nach rechtspopu- (C)
NIS 90/DIE GRÜNEN) listischen Stimmenfang.
– Lieber Herr Wieland, Sie bestätigen das gerade. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht beste-
hende Defizite der Integrationspolitik ohne Scheuklap- GRÜNEN – Gisela Piltz [FDP]: Frau Präsi-
pen an. Es gilt, die Chancen der Zuwanderung für unser dentin! – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]:
Ist das parlamentarisch?)
Land besser zu nutzen.
Im Unterschied zum Kollegen Veit sieht die Linke in
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: diesem Gesetzentwurf ein Dokument der Absage an eine
Herr Kollege, möchten Sie eine Frage des Kollegen offene und humane Integrationspolitik. Ich komme da-
Veit zulassen? mit zu den Verschärfungen, die Sie jetzt einführen wol-
len, insbesondere bei der Aufenthaltserlaubnis, die so
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): lange nur um ein Jahr verlängert werden soll, bis die Be-
stätigung eines erfolgreichen Sprachtests vorgelegt wor-
Das muss jetzt nicht sein.
den ist. Man muss sich einfach einmal vorstellen, was es
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE bedeutet, wenn Menschen immer wieder zur Ausländer-
GRÜNEN]: Möchten Sie die Schallplatte mal behörde laufen müssen. Ausgerechnet die Fraktionen der
wechseln?) Union und der FDP haben noch vor wenigen Monaten,
als wir hier über den Haushalt beraten haben, nicht zuge-
Mit dem Gesetz, das als Entwurf vorliegt, werden in
stimmt, als es darum ging, ausreichende finanzielle Mit-
ausgewogener Weise Maßnahmen zur Förderung der In-
tel für Integrationskurse zur Verfügung zu stellen.
tegration ergriffen. Die Koalition aus CDU/CSU und
FDP will die Chancen der Integration für ausländische (Gisela Piltz [FDP]: Wir haben mehr Geld als
Menschen in Deutschland verbessern. Der Schlüssel für vorher zur Verfügung gestellt!)
gesellschaftlichen Zusammenhalt ist die erfolgreiche In-
tegration. Hierfür stellen wir die Weichen. – Ich bin jetzt dran. – Sie haben die Mittel zur Deckung
von Fahrtkosten und Kinderbetreuungskosten gekürzt.
Vielen Dank.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – GRÜNEN]: Die Teilzeitkurse haben sie auch
Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gestrichen!)
Sie stellen sie falsch!)
(B) Eine ausreichende finanzielle Ausstattung ist notwendig. (D)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wenn man sich die Wartelisten anschaut und sieht, wie
viele Menschen an Integrationskursen teilnehmen wol-
Die Kollegin Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion
len, dann kann man nicht permanent von Integrations-
Die Linke.
verweigerern in unserer Gesellschaft reden und diese an
(Beifall bei der LINKEN) den Pranger stellen. Dazu sage ich nur: Sarrazin lässt
grüßen! – Wir von der Linken lehnen das ab.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Veit hat hier eben dargelegt, dass wir heute über Zum angeblichen Schutz für Zwangsverheiratete, den
einen Gesetzentwurf beraten, der im Schweinsgalopp Sie einführen wollen. Ich meine, es handelt sich hier um
durch den Bundestag getrieben wurde. Am Montag hat- reine Symbolpolitik. Sie selber sagen im Übrigen in Ih-
ten wir eine Anhörung, bei der fünf von sieben Sachver- rem Gesetz, dass wir bereits einen Straftatbestand haben,
ständigen grundlegende Kritik an diesem Gesetzentwurf der Zwangsheirat unter Strafe stellt.
geäußert haben. Ein Protokoll der Anhörung liegt bis (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
heute nicht vor. Das heißt, wir können die Anhörung GRÜNEN]: Mit dem gleichen Strafmaß wohl-
überhaupt nicht vernünftig auswerten. gemerkt!)
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Aber du
Die Frage ist, ob ein neuer Straftatbestand die Frauen
warst doch da! – Gegenruf der Abg. Monika
vor Zwangsverheiratung schützt. In Wahrheit geht es
Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein gu-
hier meiner Meinung nach in erster Linie nicht um die
tes Argument!)
Opfer von Zwangsehen. Dasselbe gilt im Übrigen für die
Herr Wolff, Sie haben in Ihrer Rede sehr deutlich ge- hier schon angesprochene Verlängerung der Ehebe-
macht, warum Sie dieses Gesetzesvorhaben hier schnell standszeit. Bislang mussten ausländische Ehepartner,
durchziehen wollen. Man kann sich des Eindrucks nicht die einen deutschen Partner haben, zwei Jahre hier sein,
erwehren, dass es Ihnen vor allem um die Wahlen in um ein eigenständiges Aufenthaltsrecht zu bekommen.
Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg geht, dass Sie Jetzt haben Sie die notwendige Ehebestandszeit auf
auf Stimmungsmache gegen vermeintliche Integrations- drei Jahre erhöht und damit für eine Verschärfung ge-
verweigerer setzen, die Sie – auch in der Anhörung – sorgt. Alle – Menschenrechtsorganisationen, die Kir-
nicht einmal beziffern konnten. Seit Monaten fahren Sie chen, aber auch die Sachverständigen bei der Anhörung
gemeinsam mit dem Kollegen Grindel diese Kampagne. am Montag – haben gesagt: Das verlängert das Leid der
10986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Ulla Jelpke
(A) Frauen; denn diejenigen, die in Zwangsehen leben und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
Gewalt erfahren, müssen dadurch garantiert noch länger Das war der Wunsch nach mehr Toleranz bei der Re-
in ehelicher Abhängigkeit verbleiben und haben nicht dezeit.
die Möglichkeit, sich von ihren Ehemännern zu trennen.
Es ist die reinste Heuchelei, wenn Sie hier so tun, als (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Den Satz zu Ende
würden Sie sich für diese Frauen einsetzen. Im Gegen- sprechen lassen!)
teil: Mit Ihrem Gesetz verschärfen Sie ihre Situation. Sie – Ich habe Ihnen das Ende Ihrer Redezeit mit einem Si-
machen es den Frauen schwerer. gnal angekündigt. Sie haben viele Sätze zu Ende spre-
Ich will ganz deutlich sagen: Es gibt keine empiri- chen können, bevor ich versucht habe, Sie akustisch da-
schen Untersuchungen, die Ihre These von den vielen rauf hinzuweisen, dass Ihre Redezeit weit überschritten
sogenannten Scheinehen belegen. Das ist uns auch in der war.
Anhörung am Montag bestätigt worden. Dort wurde ge- Das Wort hat der Kollege Josef Winkler für
sagt, dass häufig zu schnell von Verdachtsfällen die Bündnis 90/Die Grünen.
Rede ist und sich im Nachhinein herausstellt, dass der
Verdacht falsch war. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Jetzt
mach die Kritik wenigstens niveauvoll!)
Ein Wort zum Bleiberecht für Jugendliche, das hier
schon angesprochen wurde. Es ist wirklich eine Meister-
leistung, Jugendlichen, die gute Schulleistungen erbrin- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gen, die Verantwortung für ihre Geschwister und ihre El- NEN):
tern aufzubürden. Sie sollen das Bleiberecht für Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Geschwister und Eltern erwirken. Ich frage mich, welch Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister, auch namens
ein Verständnis von Pädagogik Sie haben. Wissen Sie ei- meiner Fraktion biete ich konstruktive Zusammenarbeit
gentlich, was es bedeutet, wenn Kinder und Jugendliche an. In der nächsten Sitzungswoche – oder wann auch im-
unter einem derartigen Druck schulische Leistungen er- mer Sie vorhaben, den Innenausschuss zu besuchen –
bringen müssen? Ich halte es für unerträglich, dass Sie können wir über Ihre Perspektiven für die Innenpolitik
Politik auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen Deutschlands diskutieren. Das, was heute auf der Tages-
betreiben. Das lehnt die Linke ab. ordnung steht, haben Sie aufgrund des Zeitablaufs nicht
maßgeblich mitgestalten können. Dennoch will ich mich
(Beifall bei der LINKEN) darauf konzentrieren.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sehr geehrte Damen und Herren von den Regierungs-
(B) Frau Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss. fraktionen, Sie wollen Regelungen zum besseren Schutz (D)
der Opfer von Zwangsverheiratungen und eine Bleibe-
rechtsregelung für gut integrierte Jugendliche einführen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Absicht ist lobenswert. Wir haben aber feststellen
Zum Schluss möchte ich sagen, dass uns dieser Ge- müssen, dass Sie die Regelungen, die eigentlich mög-
setzentwurf in allen Punkten nicht weit genug geht. lichst vielen helfen sollten, so eng gefasst und hand-
werklich so schlecht gemacht haben, dass jeweils nur ein
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sehr kleiner Teil der Betroffenen davon profitieren wird.
Frau Jelpke! Darüber muss man hier einmal sprechen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ulla Jelpke (DIE LINKE): und bei der SPD sowie der Abg. Ulla Jelpke
Er zielt in die falsche Richtung. [DIE LINKE])

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das gilt zum Beispiel für das Rückkehrrecht der Op-
Frau Jelpke! fer einer Zwangsheirat. Es widerspricht der Zielsetzung
eines effektiven Schutzes der Frauen, die zum Zweck
der Heirat verschleppt wurden, dass das Rückkehrrecht
Ulla Jelpke (DIE LINKE): von einer positiven Integrationsprognose abhängig ge-
Wir sind der Meinung, dass man ihn unbedingt ableh- macht werden soll und nicht ohne Einschränkung als
nen muss. Rechtsanspruch ausgestaltet ist. Schließlich geht es vor
allem darum, dass es sich hierbei um Opfer handelt, und
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nicht darum, ob die Integrationsprognose positiv ist. Das
Frau Jelpke! ist schlecht gemacht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Es ist schon angekündigt worden, dass es weitere An- Es fehlt auch eine Beweislastregelung zugunsten der
träge gibt. Das wird auch die Linke so halten. Opfer von Zwangsheirat, die sich nicht ausschließlich
auf Fälle körperlicher, häuslicher Gewalt bezieht. In vie-
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. – Frau Prä-
len Fallkonstellationen werden die Frauen durch psychi-
sidentin, ein bisschen mehr Toleranz!
schen Druck in eine ausweglose Situation gebracht. Ihr
(Beifall bei der LINKEN) Vorschlag bzw. die Ergänzung in der Begründung, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10987
Josef Philip Winkler
(A) Sie, Herr Kollege Wolff, vorgenommen haben, hilft den Die betroffenen Frauen müssen Anzeige bei der Poli- (C)
Frauen nicht. zei erstatten und ärztliche Atteste vorlegen. Es muss ein
besonders schwerer Fall sein, und es dürfen keine Zwei-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das sehen die fel bestehen. Erst dann greift die Härtefallregelung. Dass
Sachverständigen aber anders, Josef!) sie bisher selbst bei schweren Fällen körperlicher Gewalt
Wie soll das attestiert werden? Das ist wirklich schwie- nicht gegriffen hat, haben Sie versucht zu korrigieren.
rig. Das wird in der Regel nicht helfen. Aber die Hürden sind viel zu frauenfeindlich gestaltet.
Die Frauen müssen sich nicht mehr zwei Jahre verprü-
Es fehlt auch eine aufenthaltsrechtliche Regelung für geln lassen, sondern drei Jahre, bis sie einen eigenständi-
die aus einer Zwangsehe hervorgegangenen Kinder. Das gen Aufenthaltstitel erwerben. Das ist nicht christlich,
heißt, die Frau, die im Ausland lebt, dort Kinder bekom- und das ist nicht liberal.
men hat und aus der Zwangsehe ausbrechen will, kann
eben nicht ohne Weiteres nach Deutschland zurückkom- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
men. Sie müsste erst den Sorgerechtsstreit gewinnen, das und bei der SPD)
Visumverfahren für sich und ihre Kinder betreiben und
dann natürlich noch die von Ihnen so geschätzte positive Sie konnten das auch nicht begründen. Sie sagen nur, es
Integrationsprognose vorweisen. Das ist wirklich Stuss lägen Anhaltspunkte aus der ausländerbehördlichen Pra-
und wird diesen Frauen nicht helfen. In dem Punkt bin xis vor und es gebe so viele Scheinehen, dass man das
ich mir mit dem Kollegen Veit von der SPD-Fraktion innerhalb von zwei Jahren nicht aufklären könne; deswe-
völlig einig. gen müsse man das auf drei Jahre ausweiten.

(Rüdiger Veit [SPD]: So ist es!) (Rüdiger Veit [SPD]: Wenn sich das später he-
rausstellt, kann die Aufenthaltserlaubnis so-
Die SPD-Fraktion wird, glaube ich, unserem Antrag wieso widerrufen werden!)
hierzu auch zustimmen.
– Das kann sowieso widerrufen werden. Das ist richtig,
(Rüdiger Veit [SPD]: Genau!) Herr Kollege Veit.
Ein anderer Punkt, der bereits angesprochen wurde. Ich will noch einen Punkt ansprechen. Den Vorschlag
Ich finde es schäbig, dass Sie mit der Verlängerung der des Bundesrats, der eine Bleiberechtsregelung für gut in-
Mindestehebestandszeit die Abhängigkeit der Opfer von tegrierte Jugendliche vorsieht, haben Sie aufgegriffen.
Zwangsverheiratung von ihrem Ehepartner um ein Jahr Allerdings haben Sie ihn verschlechtert. Der Bundesrat
verlängern. Die Meinung der Kirchen hierzu wurde eben hat vorgeschlagen, dass die „überwiegende Lebensunter-
(B) vorgetragen. Von wegen christlich-liberal! haltssicherung“ vonseiten der Eltern ausreichen soll. Das (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ist eine realistische Regelung, weil die Menschen über
bei der SPD und der LINKEN) Jahre vom Arbeitsmarkt ferngehalten wurden. Sie schla-
gen vor, dass die Menschen ihren Lebensunterhalt voll-
Nur weil Sie vermuten – übrigens gegen die Daten aller ständig sichern sollen. Das führt dazu, dass für die Eltern
Ermittlungsbehörden in der gesamten Bundesrepublik –, das Bleiberecht nicht erreichbar ist und dass sie spätes-
dass es heute mehr Scheinehen als früher gibt, müssen tens mit der Volljährigkeit ihrer Kinder mit der Abschie-
sich nun die zwangsverheirateten Frauen ein Jahr länger bung rechnen müssen.
prügeln lassen. Das ist schlicht und ergreifend schäbig
gegenüber diesen Frauen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist Herr Kollege.
doch Quatsch!)
Ihre Härtefallregelung greift nicht, Herr Wolff. Sie greift Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nicht! NEN):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Oder sie werden nur geduldet. Das ist ein unsicherer
bei der SPD und der LINKEN) Aufenthalt und keine Zukunftsperspektive.

Wir werden das in einem Jahr überprüfen. Dann werden Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. – Ich
Sie sehen: Ihre Härtefallregelung ist Stuss, finde, heute ist ein schlechter Tag für die Integrations-
politik in Deutschland. Sie sollten wirklich nicht so wei-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie wis- termachen.
sen doch, dass das Blödsinn ist!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
und die Änderungen, die von der Opposition vorgelegt bei der SPD und der LINKEN)
wurden und die auch die Sachverständigen in der Anhö-
rung im Innenausschuss vorgetragen haben, hätten hel-
fen können. Betreiben Sie keine Symbolpolitik! Tun Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nicht so, als hätten Sie geholfen! Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
10988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) Reinhard Grindel (CDU/CSU): Zukunft und nicht nur eine Altfallregelung mit einem (C)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stichtag, die sich häufig als zu starr erwiesen hat.
Lieber Hans-Peter Friedrich, natürlich auch von der
(Rüdiger Veit [SPD]: Dann könnt ihr unserem
CDU/CSU-Fraktion herzlichen Glückwunsch zum
Entwurf zustimmen! Der ist umfassender!)
neuen Amt als Bundesinnenminister. Spannend muss un-
sere Zusammenarbeit nicht unbedingt sein, sondern sie Wir verbinden auch nicht mehr den Aufenthaltstitel
muss gut, vertrauensvoll und harmonisch sein. Ich bin gut integrierter Jugendlicher mit dem Schicksal der El-
ganz sicher, dass das gelingen wird. Wir werden eine tern; denn es hat oft zu Leid geführt, wenn der Jugendli-
wunderbare Zusammenarbeit che keine Perspektive in Deutschland hatte, weil sich
(Zurufe von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seine Eltern hier nicht ordnungsgemäß verhalten hatten.
Es wird in Zukunft genau umgekehrt sein. Erstmals ist
zwischen Franken und allen anderen in unserer Arbeits- die Integrationsleistung des Jugendlichen entscheidend.
gruppe haben. Glück auf für Ihre wichtige Aufgabe! Er wird belohnt, wenn er erfolgreich die Schule besucht
und die Gewähr dafür bietet, sich in die Lebensverhält-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rüdiger nisse bei uns in Deutschland einzufügen.
Veit [SPD]: Wenn Sie das sagen!)
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Wenn ich das richtig verstanden habe, Frau Kollegin GRÜNEN]: Wenn nicht, wird die ganze Fami-
Özoğuz, ist Ihr Ehemann heute zum Innensenator in lie bestraft!)
Hamburg berufen worden. Grüßen Sie ihn herzlich von
uns! Gratulieren Sie ihm dazu! Ich bin ganz sicher: In Zeiten des demografischen Wandels brauchen wir
Wenn er in Zukunft abends nach Hause kommt und von jeden Jugendlichen. Wir machen Ernst damit. Jeder be-
seinen Problemen als Innensenator berichtet, wird er sa- kommt die Chance, sein Glück in Deutschland zu ma-
gen: Die Handlungsmöglichkeiten, die die mir in Berlin chen. Das haben wir als christliche Demokraten und als
eröffnet haben, sind eigentlich ganz gut. freie Demokraten hinbekommen. Sie haben das nie hin-
bekommen, um das ganz deutlich zu sagen.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP – Aydan Özoğuz [SPD]: Ihnen ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
auch nichts zu peinlich, oder? – Josef Philip Rüdiger Veit [SPD]: Das hätten wir schon vor
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er ein paar Jahren haben können!)
kann auch eine SMS schicken!)
Es ist wahr: Die Integrationsanforderungen an die Ju-
Ich glaube, dass wir heute eine Vielzahl von Vorschlä- gendlichen sind hoch. Sie müssen erhebliche Integra-
(B) gen vorlegen, auf die Sie in Ihrer Regierungszeit sehr tionsleistungen nachweisen. Diese Anforderungen sor- (D)
stolz gewesen wären. Herr Kollege Veit, Herr Kollege gen dafür, dass wir Pull-Effekte vermeiden. Wir wollen
Winkler, wenn Sie ehrlich sind, geben Sie das zu. Blei- einen Anreiz für Integration schaffen. Wir wollen Zu-
berecht für gut integrierte Jugendliche, wanderung in die Sozialsysteme verhindern. Aber wir
wollen mit dieser Bleiberechtsregelung diejenigen för-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!)
dern, die sich anstrengen und die es verdienen, dafür be-
eine Rückkehrmöglichkeit für Zwangsverheiratete und lohnt zu werden.
Zwangsverschleppte
Das Gleiche gilt für die Eltern der gut integrierten Ju-
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig! – gendlichen; was Sie hier dazu gesagt haben, ist falsch.
Rüdiger Veit [SPD]: Das steht nur auf der Pa- Sie werden in Zukunft in Deutschland bleiben dürfen,
ckung darauf!) weil das Bleiberecht ihrer Kinder ansonsten ins Leere
laufen würde.
und Verbesserungen bei der Residenzpflicht für Asylbe-
werber – Sie hätten sich in einer rot-grünen Sänfte durch (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Josef
Kreuzberg tragen lassen, wenn Sie das zu Ihrer Regie- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
rungszeit hinbekommen hätten. Das möchte ich klar sa- Das war nicht zutreffend!)
gen.
Aber wir sagen den Eltern: Wenn ihr euren Lebensunter-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – halt selbst bestreiten könnt, wenn ihr keine Straftaten be-
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE gangen habt, wenn ihr die Behörden nicht täuscht, dann
GRÜNEN]: Das ist nicht mein Wahlkreis! – könnt ihr über den Status des Geduldeten hinaus ein ei-
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genständiges Aufenthaltsrecht erwerben. Das ist der ent-
NEN]: Aber nur für Mindestlohn! – Heiterkeit scheidende Punkt. Die Eltern dürfen in jedem Fall blei-
bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE ben, weil die Bleiberechtsregelung für ihre Kinder sonst
GRÜNEN) ins Leere laufen würde. Aber ein eigenständiges Aufent-
haltsrecht setzt auch eigenständige Integrationsleistun-
Das Bleiberecht für gut integrierte ausländische Ju- gen voraus. Wir setzen einen Anreiz, sich zu integrieren.
gendliche ist eine fundamentale humanitäre Verbesse-
rung und bedeutet ein großes Stück Zukunftssicherung (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
für viele junge Menschen mit Migrationshintergrund. GRÜNEN]: Dafür müsste man erst einmal ei-
Erstmals schaffen wir eine gesetzliche Regelung für die nen Arbeitsplatz haben!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10989
Reinhard Grindel
(A) Insofern machen wir an dieser Stelle auch bei den Eltern, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
wie bei den Kindern, ernst mit dem Grundsatz „Fördern Bitte schön, Herr Veit.
und Fordern“. Das halte ich für eine richtige und zu-
kunftsweisende Integrationspolitik. Rüdiger Veit (SPD):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Kollege Grindel, habe ich das eben aus Ihrem
neten der FDP) Munde richtig verstanden, dass Sie bis zum heutigen
Tage überhaupt keine Zahlen oder Schätzungen dazu ha-
Mit dem neuen Aufenthaltsrecht stärken wir die Inte- ben, wie viele Integrationsverweigerer in dem von Ihnen
grationskurse. Wir sorgen dafür, dass die Ausländerbe- beschriebenen Sinne es überhaupt gibt? Das würde sich
hörden endlich konsequent überprüfen, ob ein Neuzu- mit den Auskünften Ihrer Sachverständigen vom Montag
wanderer seiner Pflicht, einen Integrationskurs zu decken.
besuchen, nachkommt. Wir schreiben vor, dass Neuzu- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das hat er erst mal
wanderer nur noch für ein Jahr eine Aufenthaltserlaubnis nur behauptet!)
erhalten und deren Verlängerung davon abhängt, dass sie
den Integrationskurs ordnungsgemäß besucht haben.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
(Rüdiger Veit [SPD]: Bürokratiemonster!) Ich habe gesagt, dass solche Untersuchungen zum
ersten Mal von allen Ausländerbehörden in Deutschland
Es ist nicht so, wie von einigen Organisationen durchgeführt werden. Bisher gab es das punktuell. Auf
fälschlich verbreitet, dass der Aufenthalt vom erfolgrei- diesem Wege haben wir valide Zahlen bekommen.
chen Bestehen der Abschlussprüfung abhängt. Das spielt
bei der Niederlassungserlaubnis eine Rolle. Das war (Rüdiger Veit [SPD]: Nein! Die haben Sie
schon immer so; das ist geltende Rechtslage. eben nicht!)

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Wir wissen: Ja, es gibt Integrationsverweigerung.
GRÜNEN]: Stimmt auch nicht!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist eine minimale Zahl!)
Künftig wird aber schneller auffallen, wenn sich jemand
beharrlich weigert, seiner Pflicht zum Besuch des Inte- Alle Ausländerbehörden müssen nun nach einem Jahr
grationskurses nachzukommen. Wir werden also erst- genau überprüfen: Sind die Neuzuwanderer, die nicht
mals das bekommen, was Sie immer anmahnen: belast- ausreichend Deutsch sprechen, ihrer Pflicht, einen Inte-
bare Zahlen über Integrationsverweigerer. Wir geben grationskurs zu besuchen, tatsächlich nachgekommen?
(B) den Ausländerbehörden ein Instrument, um dagegen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (D)
vorzugehen und dafür zu sorgen, dass die Integrations- GRÜNEN]: Falsch!)
angebote, die wir vorhalten und in die wir viele Hundert
Millionen Euro investieren, angenommen werden. Ich Nach einem Jahr werden wir also wissen, wer von de-
halte das für genau den richtigen Weg. nen, die verpflichtet waren, einen Integrationskurs zu be-
suchen, sich beharrlich geweigert hat.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das sind keine Integrationsverweige- NEN]: Stimmt doch gar nicht! Es geht doch
rer! Das sind Leute, die den Test nicht beste- darum, ob die den Test bestehen, und nicht da-
hen!) rum, ob die dort hingehen! Die könnten jeden
Tag dort hingehen und es trotzdem nicht schaf-
Mit dem neuen Aufenthaltsrecht stärken wir die fen!)
Rechte von Zwangsverheirateten, und wir bekämpfen
konsequent Scheinehen. Wir wissen von den Visastellen Wir werden zum ersten Mal flächendeckend für ganz
unserer Botschaften, gerade aus den Hauptherkunftslän- Deutschland sehr genau wissen, wie viele Personen die-
dern der nachziehenden Ehegatten, dass die Zahl der ser Pflicht nicht nachgekommen sind. Natürlich gibt es
Scheinehen nach wie vor hoch ist und der Nachweis bestimmte Gründe, die es unmöglich machen können, ei-
schwerfällt. nen Integrationskurs zu besuchen, zum Beispiel eine
Schwangerschaft oder gesundheitliche Probleme. Uns
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geht es aber darum, festzustellen, wer sich beharrlich
NEN]: Das wissen aber nur Sie! Die Bundesre- weigert.
gierung sagt, sie weiß von nichts! Das haben Die Ausländerbehörden werden mit diesen Personen
Sie sich scheinbar selber ausgedacht!) intensive Gespräche führen, um sie davon zu überzeu-
gen, wie wichtig es ist, Deutsch zu lernen. Wer dies kriti-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: siert, der will nicht nur nicht wissen, wie viel Integra-
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine Zwischen- tionsverweigerung es gibt, sondern der hilft auch nicht
frage des Kollegen Veit? dabei, alle Zuwanderer dafür zu gewinnen, die deutsche
Sprache zu lernen, etwas über unsere Gesetze und die
verfassungsrechtlichen Grundlagen zu erfahren. Das ist
Reinhard Grindel (CDU/CSU): das Ziel. Wir wollen die Menschen nicht nach Hause
Ja, selbstverständlich. schicken. Wir wollen gern Zahlen zur Integrationsver-
10990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Reinhard Grindel
(A) weigerung. Wir wollen, dass alle Zuwanderer die vor- gentlich müssten auch Sie diese Informationen haben; (C)
handenen Integrationsangebote tatsächlich annehmen Sie sind ja des Öfteren in der Türkei –, dass Sie die Mit-
und die Ausländerbehörden dies überprüfen. Das ist das arbeiterinnen unserer Visastellen in Istanbul, Ankara und
Ziel unserer Gesetzesänderung. Izmir, die für Visa zum Zwecke der Familienzusammen-
führung bzw. des Ehegattennachzuges zuständig sind
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
– es sind fast nur Frauen, die dort tätig sind –, einmal
neten der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Aha!
fragen sollten, wie ich es getan habe: Wie hoch schätzen
Das heißt also, Sie haben keine Zahlen! Das
Sie die Zahl der Scheinehen?
wollte ich nur wissen!)
Ich komme zum Thema Scheinehen zurück. Wir wis- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ach, das sind
sen von den Visastellen, die die Entwicklung sehr genau Schätzungen, Vermutungen!)
beurteilen und beobachten können, dass die Zahl der Schließlich haben sie in ihrer jahrelangen Tätigkeit um-
Scheinehen nach wie vor hoch ist. Eine der wenigen fangreiche Erkenntnisse gewonnen.
neuen Erkenntnisse, die wir in der Anhörung gewonnen
haben, ist, dass die Ausländerbehörden in der Tat sagen: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Wir brauchen mehr Zeit, um Scheinehen aufdecken zu GRÜNEN]: Ja, aber nicht zur Anzeige ge-
können. – Diese zusätzliche Zeit werden wir ihnen mit bracht! – Gegenruf des Abg. Clemens
unserer Gesetzesänderung einräumen. Binninger [CDU/CSU]: Das ist doch auch bes-
ser!)
(Rüdiger Veit [SPD]: Die haben alle Zeit der
Welt!) Die Mitarbeiterinnen werden Ihnen sagen: Diese Zahl
dürfte in den letzten Jahren stabil geblieben sein.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wenn Sie dann sagen, es habe im Jahr 2000 5 000
Herr Kollege Grindel, erlauben Sie eine weitere Zwi-
Verdachtsfälle gegeben – damals galt eine vierjährige
schenfrage, diesmal des Kollegen Kilic vom Bündnis 90/
Mindestehebestandszeit; die Ausländerbehörden hatten
Die Grünen?
also vier Jahre Zeit, um solche Scheinehen aufzudecken –
und wir hätten jetzt, bei nur zwei Jahren Mindestehebe-
Reinhard Grindel (CDU/CSU): standszeit, nur 1 000 Verdachtsfälle, dann ist das doch
Selbstverständlich. ein Argument zu meinen Gunsten. Denn das ist klar:
Wenn man mehr Zeit hat, um Verdachtsfällen nachzuge-
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hen, dann deckt man auch mehr auf. Genau diese Mög-
(B) Herr Kollege Grindel, in Ihrem Gesetzentwurf führen lichkeit wollen wir den Ausländerbehörden eröffnen. (D)
Sie aus, dass die Zahl der Fälle, in denen der Verdacht
einer Scheinehe besteht, zugenommen hat. In diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn
Zusammenhang hat die Linke die Bundesregierung ge- Wunderlich [DIE LINKE]: Nehmen Sie zehn
fragt, weshalb sie vor diesem Hintergrund die Mindest- Jahre! Dann haben Sie 5 000 Vermutungen!
ehebestandszeit von zwei auf drei Jahre verlängern will. Unmöglich!)
Auf diese Frage hat die Bundesregierung geantwortet, Um auch das zu sagen, lieber Kollege Winkler: Die
im Jahre 2010 habe es circa 5 000 und im Jahre 2000 Härtefallregelung in § 31 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz prä-
circa 1 000 solcher Fälle gegeben. Als wir, die Grünen, zisieren wir, indem wir die häusliche Gewalt als Regel-
eine ähnliche Frage gestellt haben, hat das Innenministe- beispiel in das Gesetz hineinschreiben. Der Tatbestand
rium eine andere Zahl erwähnt. Uns wurde für das Jahr der häuslichen Gewalt gab den Frauen übrigens schon
2009 die Zahl 529 genannt. vorher die Möglichkeit, ein eigenständiges Aufenthalts-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- recht zu erhalten. Deswegen sind diese Frauen hinrei-
NEN]: Ermittlungsverfahren wohlgemerkt!) chend geschützt.
– Ermittlungsverfahren, ja. – Daraufhin haben wir noch (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
einmal gefragt, weil uns keine schlüssige Zahl genannt GRÜNEN]: Das können wir zählen! Das kön-
werden konnte. Herr Ole Schröder hat unsere Frage nen ganz wenige Fälle sein!)
heute wie folgt beantwortet: Es gibt dazu überhaupt
keine Statistik; wir können das nicht schlüssig darlegen. In der Anhörung haben die Auskunftspersonen keinen
einzigen Fall benennen können, in dem die Härtefallre-
(Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Genau!) gelung nicht hinreichend berücksichtigt worden und ins
In Ihrem Gesetzentwurf schreiben Sie aber, die Zahl Leere gelaufen wäre. Insofern ist es unfair und nicht in
dieser Fälle habe zugenommen. Müssen wir das so ver- Ordnung, wenn Sie unsere Gesetzesänderung hier als
stehen, dass Sie Ihre letzte Patrone ins Blaue schießen? schäbig bezeichnen. Das Gegenteil ist der Fall: Die
Ist es anständig, wenn der Gesetzgeber eine solche Be- Frauen, die in der Ehe unter Gewalt und anderen schwe-
gründung anführt? ren Nachteilen leiden, sind hinreichend geschützt. Daran
ändert sich mit unserer neuen gesetzlichen Regelung
überhaupt nichts. Das war uns wichtig.
Reinhard Grindel (CDU/CSU):
Herr Kilic, ich habe schon mehrfach, bei der Einbrin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gung des Gesetzentwurfes und auch eben, gesagt – ei- Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10991
Reinhard Grindel
(A) NEN]: Sie verschlechtern es! Lesen Sie mal, Fraktion in der letzten Stunde nur noch mit einer Person (C)
was die Grünen geschrieben haben!) in dieser Anhörung vertreten war.
Insofern möchte ich abschließend sagen: Wir haben (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Die Anhörung in-
mit diesem Gesetzentwurf eine Vielzahl von Anregun- teressiert die überhaupt nicht!)
gen aus dem Bereich der Nichtregierungsorganisationen
Sie haben den Sachverstand überhaupt nicht gewürdigt.
aufgenommen. Wir haben Anregungen aus dem Bereich
Sie haben in der letzten Woche viele Punkte nachge-
der Innenministerien aufgenommen. Daher bin ich mir
reicht, und diese Punkte sollten die Sachverständigen
ganz sicher: Mit der Bleiberechtsregelung, mit den Ver-
mit behandeln. Sie haben selber gesagt, dass das gar
besserungen für Opfer von Zwangsheirat und Zwangs-
nicht möglich war. Daher hätte etwas mehr Respekt vor
verschleppung und bei der Residenzpflicht
dem, was uns Sachverständige liefern, gezeigt, dass Sie
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die Bi- es mit diesem Gesetz ernst meinen. Dass Sie es nicht
schofskonferenz und alle sprechen sich dage- ernst meinen, zeigt, dass Sie es heute in aller Eile durch-
gen aus!) peitschen müssen. Auch heute gibt es auf die Frage, wa-
rum darüber nicht vernünftig gesprochen wird, nicht
wird es zu einer positiven Entwicklung im Zusammenle- eine inhaltliche Antwort.
ben zwischen Deutschen und Ausländern kommen. Der
Grundsatz, den der Minister hier eingefordert hat, näm- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
lich „Fördern und Fordern“, findet sich in unserem Ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard
setzentwurf exakt wieder, und deshalb bitte ich um Zu- Grindel [CDU/CSU]: Sagen Sie mal was zur
stimmung. Sache!)
Herzlichen Dank fürs Zuhören. Kurz gesagt: Dass es gut ist, dass das Rückkehrrecht
eingeführt wird, wurde erwähnt. Es sollte aber unabhän-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gig davon gestaltet werden, wie alt die Betroffenen sind.
An dieser Stelle noch der kurze Hinweis: Es ist auch
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: egal, ob sie volljährig sind, wenn sie nach Deutschland
Das Wort hat die Kollegin Aydan Özoğuz von der eingereist sind. Das wurde hier noch nicht explizit ge-
SPD-Fraktion. sagt, und daher möchte ich es hier erwähnen. Es ist doch
vollkommen unabhängig davon. Denn selbst wenn sie
(Beifall bei der SPD)
nach Ihren Kriterien integriert wären, wäre das kein Hin-
dernis. Insofern könnten Sie sich hinsichtlich dieses
Aydan Özoğuz (SPD): Punktes wirklich ein wenig bewegen.
(B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D)
Herr Friedrich, ich schließe mich natürlich den guten Dass der eigene Straftatbestand „Zwangsheirat“ Sym-
Wünschen meiner Fraktion an. Ich denke, wir werden bolpolitik ist, wurde hier schon mehrfach gesagt, und
hier durchaus noch einiges auszudiskutieren haben; über zwar zu Recht. Sie tun immer so – auch Herr Friedrich
gewisse Dinge, die Sie gleich am Anfang Ihrer Amtszeit hat das heute getan –, als wäre das vorher überhaupt kein
gesagt haben, möchte ich noch sprechen, aber an anderer Thema gewesen. Sie wissen: Es war schon ein Straftat-
Stelle. bestand.

Lieber Herr Grindel, ich sage es vorweg: Ich werde (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Unterfall
Sie auch in Zukunft nie darüber befragen, was Ihre Frau der Nötigung! Was ist das für eine Signalwir-
abends zu den Dingen sagt, die Sie hier am Tag von sich kung?)
geben. Jetzt haben Sie symbolisch einen eigenen Straftatbestand
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem eingeführt und meinen, damit etwas verhindern zu kön-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Hans- nen. Kein Sachverständiger – auch keiner von Ihren –
Peter Uhl [CDU/CSU]: Er hat die Antwort ge- hat diese Prognose bestätigt. Es bleibt also erst einmal
wusst! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ abzuwarten.
DIE GRÜNEN]: Nie sollst du ihn befragen!) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Doch, sie
Ich sage das nur mal; ich kenne Sie schließlich ein biss- haben es bestätigt!)
chen. Wir sollten es dabei belassen. – Nein, das haben sie nicht bestätigt. Da waren wir wohl
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Meine Frau in verschiedenen Anhörungen.
können Sie alles fragen! Die findet echt gut, (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
was ich hier mache!) GRÜNEN]: Wir können es ja nicht nachprü-
fen, weil das Protokoll noch nicht vorliegt!)
– Ich habe es ja freundlich gesagt.
Sie haben eben gesagt, dass Sie mit sehr vielen NGOs
Es steht am Ende fest, dass hier ein Gesetz unnötig
gesprochen haben. Ich frage mich wirklich, mit welchen.
durchgepeitscht wird; das haben alle Sachverständigen
Gerade weil Sie das Christliche hier immer wieder wie-
am Montag gesagt.
derholen: Die Prälaten der EKD und des Kommissariats
Ich habe mich gewundert, wie geduldig diese Sach- der deutschen Bischöfe haben am 11. März 2011 an uns
verständigen eigentlich waren, zumal die CDU/CSU- alle geschrieben. Sie haben gesagt, dass die Annahme
10992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Aydan Özoğuz
Özoðuz
(A) vollkommen haltlos ist, dass man mit der Erhöhung der Ihrer Meinung nach einen Anreiz. Was Sie damit in (C)
Mindestehebestandszeit von zwei auf drei Jahre etwas Wirklichkeit erreichen, ist doch Folgendes: Diejenigen,
verhindern kann. Es bringe die Frauen in eine schlechte die mit guter Bildung hierherkommen und eine gute Vo-
Lage, hieß es, und man solle das auf gar keinen Fall ma- raussetzung haben, eine fremde und zudem schwere
chen. Sprache wie Deutsch schnell zu lernen, sollen schnell
raus aus dieser Sache sein, eine solche Aufenthaltser-
Es haben uns sehr viele Organisationen geschrieben.
laubnis längerfristig haben und hier gut bleiben und ar-
Wir haben mit ihnen darüber gesprochen. Man fragt
beiten können. Die anderen werden an einem Gängel-
sich: Mit wem haben Sie gesprochen? Vielleicht haben
band gehalten.
Sie ja mit welchen gesprochen, aber das, was sie gesagt
haben, haben Sie in dieses Gesetz dann aber nicht einge-
arbeitet. Das kann man festhalten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Özoğuz.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aydan Özoğuz (SPD):
Bei der Anhörung wurde auch gesagt, dass man doch Ich bin sofort beim letzten Satz. – Damit schaffen Sie
auch einmal mit der Gruppe der potenziell Betroffenen so etwas wie eine zweite Kettenduldung.
oder mit denjenigen sprechen sollte, die mit diesen di-
rekt zusammenarbeiten. Es gibt beispielsweise ein Ak- (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]:
tionsbündnis muslimischer Frauen, das sich gegründet Quatsch!)
hat und sogar vom Bundesministerium gefördert wird. Es wird also immer scheibchenweise etwas dazugege-
Sie haben nie mit ihnen gesprochen, wie ich erfahren ben. Sie verhindern, dass diejenigen arbeiten können;
habe. Auch die haben noch einmal gesagt: Diese Frauen denn niemand gibt ihnen Arbeit, wenn sie keine ordentli-
haben Angst, sich zu melden; sie haben Angst vor Ab- che Aufenthaltsperspektive haben. Sie verhindern, dass
schiebung. Es wird eher so sein, dass sie noch ein drittes sie wirklich Anreize haben, sich hier viel besser zu inte-
Jahr in diesem Gefängnis der Ehe bleiben, als dass ihnen grieren.
mit dieser Regelung wirklich geholfen wird. – Was Sie
da machen, geht also einfach nicht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
DIE GRÜNEN)
Die Zahlenspielerei und Ihren Hinweis auf Visastel- Aydan Özoğuz (SPD):
(B) len finde ich schon besonders bemerkenswert. Das wird für die gesamte deutsche Gesellschaft in (D)
meinen Augen kein Vorteil sein.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die sind ja wohl
am nächsten dran! Wer denn sonst?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Die Bundesregierung sagt ja selber, belastbare Zahlen
könne man nicht nennen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist bei Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
Scheinehen ja auch nicht überraschend!) der Kollege Serkan Tören von der FDP-Fraktion das
Was macht dann der Abgeordnete Grindel? Er fährt in Wort.
die Visastelle und fragt: Was habt ihr denn für Zahlen? (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Die antworten: Wir verdächtigen soundso viele. – Das der CDU/CSU)
sind dann für Sie all die Scheinehen. Das kann doch nun
nicht wirklich irgendeine belastbare Größe für unser Ar- Serkan Tören (FDP):
beiten hier im Bundestag sein. Das halte ich für absurd.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Aydan, ich war am Montag auch in der Anhörung. Dort
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Reinhard haben uns die Sachverständigen ganz eindeutig gesagt,
Grindel [CDU/CSU]: Reden Sie doch einmal dass ein eigener Straftatbestand „Zwangsehe“ eine Si-
mit denen! – Josef Philip Winkler [BÜND- gnalwirkung hat und ganz klar zeigt, dass unsere Gesell-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau so ist es aber!) schaft mit so etwas nicht klarkommt und dass wir das
auch strikt unterbinden wollen.
Letzter Punkt. Die Integrationskurse.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da haben
der CDU/CSU)
wir Gutes geschafft!)
Dass wir ein Problem mit Scheinehen haben, zeigt ja
Sie haben eben noch einmal von Anreizen gesprochen.
auch der Beispielsfall eines ehemaligen SPD-Abgeord-
Das Wort „Anreiz“ ist ja gefallen. Wenn man den Leuten
neten aus Hamburg. Ich glaube, dass das durchaus vor-
dann, wenn sie den Deutschtest bestehen, die Aufent-
handen ist; darüber brauchen wir uns hier auch nicht zu
haltserlaubnis gibt – übrigens nur für bis zu einem Jahr;
streiten.
Sie sagen ja: „bis zu einem Jahr“; es ist einmal festzuhal-
ten, dass Sie nicht „ein Jahr“ sagen –, dann schafft das (Dr. Peter Danckert [SPD]: Glaube!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10993
Serkan Tören
(A) Sprachkenntnisse sind und bleiben die Voraussetzung (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (C)
für ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland. GRÜNEN]: Unabsichtlich wäre auch
Dieses Kriterium gilt übrigens für alle Einwanderungs- schlimm! – Rüdiger Veit [SPD]: Dann sollten
länder. Ob Neuseeland oder Kanada: Für eine Permanent Sie es anders hineinschreiben! Das ist ganz
Residence, also eine Niederlassungserlaubnis, werden einfach!)
mindestens grundlegende Sprach- und Landeskenntnisse
es ist auch den vielen Tausend Jugendlichen und ihrer
gefordert.
berechtigten Hoffnung gegenüber unwürdig.
Ich halte diese Voraussetzung für sachlich völlig rich- Mit diesen Regelungen sagen wir nicht: Seht zu, wo
tig. Es ist unerträglich, wie insbesondere die Kollegen ihr bleibt und wie ihr zurechtkommt! – Nein, insbeson-
der Linken immer wieder versuchen, dieses Kriterium dere wir Liberale sagen: Bemüht euch, so gut ihr könnt,
als Schikane gegenüber Zuwanderern darzustellen. und nehmt eure Chancen wahr! Dann habt ihr eine si-
(Zuruf von der LINKEN): Das ist es doch chere und gute Zukunft in Deutschland.
auch!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Deutsche Sprachkenntnisse sind die Voraussetzung
für Teilhabe am Arbeitsmarkt und an der Gesellschaft. Das ist keine Sanktion. Es ist ein Anreiz, eine Einla-
Diejenigen, die das leugnen, handeln verantwortungslos. dung und ein großartiges Versprechen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksam-
keit.
Wenn wir Zuwanderer verpflichten, Deutsch zu lernen,
und kostenintensive Angebote schaffen, dann müssen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wir auch klare Erwartungen und Ziele definieren und vor der CDU/CSU)
allem auch deren Einhaltung überprüfen, mit allen Kon-
sequenzen, und zwar zeitnah. Es soll künftig nach einem Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jahr erfolgen. Ich halte das nicht nur für die Motivation Ich schließe die Aussprache.
der Zuwanderer für wichtig, sondern auch – das sage ich
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
in aller Deutlichkeit – für die Arbeit der Ausländerbe-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämp-
hörden vor Ort.
fung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Op-
Die meisten Zuwanderer nehmen die Kurse ernst und fer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer
wollen unsere Sprache zügig lernen. aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften.
(B) (D)
(Aydan Özoğuz [SPD]: Na eben!) Zuvor will ich noch mitteilen, dass eine Erklärung
nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegt, die wir zu Pro-
Für alle anderen gibt es nun klare Anreize. tokoll nehmen.1)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Bleiberecht für Der Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Minderjährige war längst überfällig. Jetzt werfen uns Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/5093, den Ge-
aber einige Propheten und Hobbystatistiker vor, das vor- setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/4401
liegende Gesetz sei kein echter Fortschritt; in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
(Rüdiger Veit [SPD]: Das stimmt ja auch!) stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
denn letztlich würden nur sehr wenige Jugendliche da-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
von profitieren, weil wir den erfolgreichen Schulbesuch
die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
voraussetzen, das aber nicht bis auf die letzte Schul- und
Kopfnote definieren. Dritte Beratung
Die Welt ist jenseits von Zeugnissen und Urkunden und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
komplizierter, als es Ihre Fantasie vielleicht zulässt. Das Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
gilt insbesondere für junge Menschen mit einem unsi- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
cheren Aufenthaltsstatus. Genau deshalb legen wir das ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Kriterium „erfolgreich“ auch nicht bis ins letzte Detail Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion
fest. Die Behörden vor Ort brauchen den Spielraum, um der SPD für ein erweitertes Rückkehrrecht im Aufent-
den Realitäten dieser Schüler Rechnung zu tragen. Da haltsgesetz. Der Innenausschuss empfiehlt unter
mag es Krankheit, Traumata oder eine unzureichende Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
Förderung geben. Vielleicht musste der Jugendliche in che 17/5093, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD
seiner Schulkarriere eine Klasse wiederholen. Das alles auf Drucksache 17/4197 abzulehnen. Ich bitte diejeni-
kann und sollte vor Ort und im Einzelfall berücksichtigt gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
werden. Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Uns zu unterstellen, wir wollten den Kreis der be- Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
günstigten jungen Menschen absichtlich besonders klein
halten, ist nicht nur falsch, 1) Anlage 10
10994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) tionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Ent- Unter Buchstabe h empfiehlt der Ausschuss die Ab- (C)
haltung der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Ge- nen auf Drucksache 17/2491 mit dem Titel „Opfer von
schäftsordnung die weitere Beratung. Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundes-
gesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative“.
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-
der SPD zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der In- stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
nenausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Be- ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/5093, den Ge- stimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die
setzentwurf der SPD auf Drucksache 17/207 Grünen sowie Enthaltung der SPD-Fraktion angenom-
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf men.
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
ter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen be i seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und Enthaltung der trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/3065 mit dem Titel „Residenzpflicht abschaffen –
Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abge-
Für weitestgehende Freizügigkeit von Asylbewerbern
lehnt. Wiederum entfällt die weitere Beratung.
und Geduldeten“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Auch
Linke zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes. Der Innen- diese Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
ausschuss empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschluss- alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
empfehlung auf Drucksache 17/5093, den Gesetzentwurf Linke und Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1557 abzuleh- SPD-Fraktion angenommen.
nen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 10 auf:
men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge- W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Diana Golze,
genstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Auch hier LINKE
entfällt die weitere Beratung. Für eine gerechte Angleichung der Renten in
Ostdeutschland
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e seiner
(B) Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der – Drucksache 17/4192 – (D)
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2325 mit dem Ti- Überweisungsvorschlag:
tel „Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt verwirk- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
lichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Haushaltsausschuss
Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Unter Buchstabe f empfiehlt der Ausschuss die Ab- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall.
sache 17/4681 mit dem Titel „Für ein wirksames Rück- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
kehrrecht und eine Stärkung der Rechte der Opfer von ner das Wort dem Kollegen Roland Claus von der Frak-
Zwangsverheiratungen“. Wer stimmt für diese Beschluss- tion Die Linke.
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
(Beifall bei der LINKEN)
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim- Roland Claus (DIE LINKE):
men der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktion Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Herren! Die Linke fordert in der Tat gleiche Renten für
gleiche Lebensleistungen in Ost und West. Ich stelle erst
Weiterhin empfiehlt der Innenausschuss unter einmal erstaunt fest, dass der neue Bundesinnenminister,
Buchstabe g seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung der bis eben hier auf der Regierungsbank saß, die sein
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf neuer Arbeitsplatz ist, inzwischen den Plenarsaal verlas-
Drucksache 17/1571 mit dem Titel „Für eine wirksame sen hat. Ich weiß, dass der Bundesinnenminister für den
und stichtagsunabhängige gesetzliche Bleiberechtsrege- Osten zuständig ist. Vielleicht muss ihm jemand erklä-
lung im Aufenthaltsgesetz“. Wer stimmt für diese Be- ren, dass es sinnvoller wäre, hier zu bleiben.
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
neten der SPD)
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktionen Die
Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie Enthaltung der Ich weiß, dass derjenige, der die Begriffe Ost und
SPD-Fraktion angenommen. West in den Mund nimmt, zuweilen als Ewiggestriger
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10995
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) angesehen wird. Aber zweigeteiltes Rentenrecht ist noch Nichts ist bisher geschehen. Deshalb erwarte ich, dass (C)
immer Realität in dieser Republik und nicht irgendein von der Kanzlerinnenpartei, der CDU, in dieser Debatte
Phantomschmerz der Linken. hier jetzt Klarheit geschaffen wird.
Ich will Ihnen von der jungen Frau Tina H. aus (Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich
Naumburg an der Saale erzählen. Tina H. wurde am [DIE LINKE]: Schön wäre es!)
16. November 1989 geboren, eine Woche nach dem
Mauerfall. Im September 2006 begann sie ihre Berufs- Die Linke hat diese Problematik bekanntlich von An-
ausbildung, und ab diesem Datum erwarb sie Rentenan- fang an benannt –
sprüche. Das war der Tag, an dem ihr gesagt wurde: Mit (Max Straubinger [CDU/CSU]: Purer Populis-
deinem Eintritt in das Berufsleben musst du Rentenab- mus!)
schläge Ost in Kauf nehmen. Du bist uns 11 Prozent we-
niger wert. Du kriegst weniger. mir ist es seit Volkskammerzeiten 1990 bekannt – und
bringt nun einen Vorschlag ein, der von mehreren Ge-
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werkschaften und Sozialverbänden ausgearbeitet wurde,
NEN]: Sehr verkürzt dargestellt! – Silvia in dem gewissermaßen schon ein Kompromiss steckt.
Schmidt [Eisleben] [SPD]: Sehr verkürzt! – Zugleich wird damit aber auch klar, dass in diesem
Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Bündnis ein Weg gefunden wurde, der gangbar ist. Wir
– Natürlich ist das verkürzt, aber Fakt ist doch auch: Das wissen, er ist nicht einfach, aber wir wollen diesen Weg
ist 21 Jahre nach der deutschen Einheit so etwas von ab- gehen und das Problem im Zeitraum 2012 bis 2016 ge-
surd, dass Sie von der Koalition nicht dazwischenrufen, löst wissen.
sondern sich einfach nur schämen sollten. Das muss Ih- Der Lösungsweg wird in unserem Antrag beschrie-
nen einmal so gesagt werden. ben: Es muss eine deutliche Verbesserung der Lage der
(Beifall bei der LINKEN) Ostrentner von heute geben, die Hochwertung der Ost-
löhne soll weiter bleiben, und es soll eine steuerfinan-
Wenn Sie selbst den Nachwendegeborenen gleiches zierte, stufenweise Zuschlagsregelung für die Jahre 2012
Recht verweigern, dann ist das ein Anachronismus, den bis 2016 geben. Dagegen erheben sich zuweilen Ein-
wir überwinden wollen. wände; die Argumente sind aber hinlänglich ausge-
tauscht.
(Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht aus-
(B) Ich darf Sie erinnern: In Ihrem eigenen Koalitionsver- geräumt!) (D)
trag steht auf Seite 84 der Satz:
Wir dürfen hierbei nicht außer Acht lassen, dass im
Wir führen in dieser Legislaturperiode ein einheitli- Osten im Moment sehr viele auf ein Leben in Altersar-
ches Rentensystem in Ost und West ein. mut hinarbeiten. Vergessen wir nicht: Nur 50 Prozent der
Beschäftigten haben überhaupt einen Arbeitsvertrag mit
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tarifbindung. Wir haben einen Lohn- und Einkommens-
NEN]: Da lassen wir uns überraschen!) abstand zwischen Ost und West von inzwischen etwa
Nichts ist bisher geschehen. Aber auf die Frau Bundes- 800 Euro monatlich. Wir haben im Osten im Vergleich
kanzlerin – das weiß ich wohl – haben im Osten viele zur gesamten Bundesrepublik einen doppelt so hohen
Menschen vertraut. Sie hatten die Erwartungshaltung: Teilzeit- und Leiharbeitsanteil. Das alles führt dazu, dass
Sie weiß doch, was bei uns los ist. Sie muss sich doch Rentenansprüche künftig so gering sind, dass Altersar-
für uns einsetzen. – Alles bisher Fehlanzeige. Sie ist da- mut entsteht. Das ist ein Zustand in dieser Republik, den
mit verantwortlich für sehr viel Enttäuschung und Frust wir einfach nicht hinnehmen und nicht dulden wollen.
in den neuen Bundesländern. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Ich habe schon im Vorfeld gehört, unsere Forderun-
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- gen seien billiger Wahlkampf. Dazu sage ich Ihnen nur
NIS 90/DIE GRÜNEN] – Max Straubinger eines: Billig ist das wirklich nicht, was wir hier vorschla-
[CDU/CSU]: Sie hat sehr viele Arbeitsplätze gen.
geschaffen, die Sie vernichtet haben und wei-
terhin vernichten werden!) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE
Ich will Sie auch daran erinnern, dass es Bundeskanz- GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]:
lerin Merkel war, die am 9. Deutschen Seniorentag teil- Das ist wahr!)
nahm, der im Juni 2009, drei Monate vor der Bundes-
tagswahl, stattfand. Dort hat sie eine Lösung für die Wenn Wahlkampf heißt, den Leuten vor der Wahl die
Angleichung der Ostrenten noch in der ersten Hälfte der Wahrheit zu sagen und die Lügen der Regierung Lügen
Legislaturperiode versprochen. zu nennen, dann können Sie das auch Wahlkampf nen-
nen.
(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Da hat sie noch Zeit!) (Beifall bei der LINKEN)
10996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Letztlich belügen Sie ein Stück weit Ihre Wähler, weil (C)
Das Wort hat der Kollege Frank Heinrich von der das so nicht machbar ist. Das Ganze ist illusorisch, nicht
CDU/CSU-Fraktion. nur im Hinblick auf das Finanzvolumen. Wenn man an
einem Mobile auf der einen Seite etwas kappt,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hängt dann
schief!)
Frank Heinrich (CDU/CSU): dann kann man nicht davon ausgehen, dass es auf der an-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und deren Seite keinen Ausschlag gibt; schließlich wird die
Kollegen! Das Ziel ist klar – wir sind uns an dieser Stelle Balance nicht gewahrt. Wir haben es nicht mehr nur mit
auch einig –: eine gerechte Angleichung der Renten in den Unterschieden zwischen Ost und West zu tun; inzwi-
Ostdeutschland. schen gibt es in Deutschland auch andere Unterschiede.
Sich nur darauf zu berufen, dass die Spaltung zwischen
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das ist seit Ost und West noch da ist – sie ist tatsächlich noch da –,
15 Jahren überfällig!) ist nicht legitim; das ist nämlich nicht das Einzige, was
man in die Waagschale werfen muss. Sie wollen Unge-
Sie haben die entsprechende Passage aus unserer Koali- rechtigkeit verhindern. Darin sind wir mit Ihnen einig.
tionsvereinbarung zitiert. Wir sind auf dem Weg dahin, Folgte man Ihren Vorschlägen, bliebe aber die Unge-
dieses Ziel zu erreichen. Es geht uns darum, dass eine rechtigkeit aufseiten der alten Bundesländer bestehen.
Gleichbehandlung von Ost und West stattfindet, das
heißt, dass es zu einem einheitlichen Rentenwert in Ost Das Problem ist: Die differenzierte Entgeltberech-
und West kommt. nung im Osten geschah in der Hoffnung, dass es zu einer
Lohnsteigerung kommt, die bis heute aufgrund einiger
Gleichwohl sage ich aus ostdeutscher Perspektive, die Behinderungen in der gewünschten Schnelligkeit nicht
ich repräsentiere: Angleichung heißt nicht automatisch, eingetreten ist. Aufgrund bestimmter Faktoren ist es also
dass ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner mehr Geld nicht schnell genug geschafft worden, das Ziel der Ren-
bekämen. Der Sachverständigenrat kam zu verschiede- tenangleichung zu erreichen. Im Ziel als solchem sind
nen Ergebnissen und stellte unter anderem fest, dass die wir mit Ihnen aber einig.
jetzigen Rentner aus den neuen Bundesländern nicht au-
tomatisch mehr Rente bekämen, da ein höherer Renten- Was die Problembeschreibung angeht, liegen wir nah
wert durch weniger Entgeltpunkte – ich weiß, da sind beieinander. Sie werfen uns vor, seit 20 Jahren nichts ge-
wir anderer Meinung als Sie – ausgeglichen werden tan zu haben. Dabei stellen Sie eine Verbindung zum
(B) müsste. Es ist nur recht und billig, dass Sie das den Bür- Thema Altersarmut her; das haben Sie hier ebenfalls ein- (D)
gerinnen und Bürgern ebenfalls sagen. gebracht. Wir haben aber darüber geredet. Die Kommis-
sion für die Entwicklung von Konzepten gegen Altersar-
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Aber so mut macht sich an die Arbeit. Auch wenn dieses Thema
eine Lösung wollen wir nicht! Das ist gegen erst in einer Weile auf uns zukommt, gehen wir es also
bestehendes Recht! Das ist doch Quatsch!) jetzt schon an. Zu sagen, nichts sei geschehen, ist ein-
Die unterschiedliche Bewertung der Löhne in Ost und fach ein bisschen lapidar.
West weiterhin festzuschreiben, wie Sie es fordern, (Roland Claus [DIE LINKE]: Lassen Sie ihn wei-
würde meiner Meinung nach gerade nicht zu einer terreden, Herr Präsident! Das ist so klasse!)
Gleichbehandlung führen, um die es uns – Stichwort:
Gerechtigkeit – doch eigentlich gehen sollte. Die An- Wir haben uns mit unserem Koalitionspartner unter-
gleichung – so sehen wir das; ich weiß nicht, was Sie halten. Ich habe mit Kollegen aus der SPD-Fraktion ge-
sich vorstellen – führte dazu, dass diejenigen, die jetzt in sprochen. Wir haben mit Verdi Gespräche über das von
Frankfurt an der Oder Anwartschaften erarbeiten, eben Ihnen als Maßstab bezeichnete Verdi-Modell geführt.
nicht oder nur nach einem längeren Arbeitszeitraum (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist
Renten in der gleichen Höhe bekommen wie diejenigen, vernünftig!)
die in Frankfurt am Main Anwartschaften erarbeiten.
Das ist ebenfalls ungerecht. Wir haben mit Bürgern verschiedenster Zugehörigkeit
Gespräche geführt, mit Bürgern aus dem Osten wie aus
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Jetzt hat er es dem Westen, mit Bestandsrentnern sowie mit zukünfti-
endlich einmal gesagt, was er sich vorstellt!) gen Rentnern. Wir haben festgestellt: Viele in den neuen
Wenn Sie, liebe Kollegen von der Linken, den Ein- Bundesländern sind ungehalten. Das liegt aber auch da-
druck erwecken, dass es möglich sei, nur die Entgelt- ran, dass Sie diese Haltung ein Stück weit schüren.
punkte bzw. Rentenpunkte anzugleichen, ohne dabei die Wenn wir uns aber einzig und allein darum kümmern,
Höherwertung der Einkommen anzutasten, schüren Sie führt das dazu, dass Bürger aus dem Westen genauso un-
eine Illusion – unter anderem eine finanzielle –, sowohl gehalten reagieren. Ich möchte aus einer Bürgerzuschrift
bezogen auf den Einzelbürger als auch auf die Kassen. zitieren: Das Baumaterial für die Brücke der Renten-
überleitung nach 1990 war Geld, viel Geld. Dieses Geld
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Warum kam ausschließlich aus dem Westen. Der Osten war
muss man das anpassen? Können Sie das ein- pleite, wie ein Staat nur pleite sein kann. – Da wird auf
mal erklären?) das gleiche Pferd gesetzt und nicht verstanden, warum
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10997
Frank Heinrich
(A) wir noch einmal nur die eine Seite betonen wollen. Auch Ihren Mündern gehört – war eine große Leistung, auch (C)
aus dieser Perspektive müssen wir als Bundespolitiker wenn noch etwas Arbeit dabei bleibt. Die Löhne sind
denken. nach 1990 enorm gestiegen. Daran konnten auch Rent-
nerinnen und Rentner teilhaben. Das war nicht selbstver-
Im Ziel sind wir uns relativ einig. Bei der Bewertung ständlich. Auch da ist noch etwas nachzulegen.
sind wir uns nicht ganz einig. Über den Lösungsweg
sind wir uns überhaupt nicht einig. Wir wollen gerne (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Im Durch-
sorgfältig arbeiten und dann einen Vorschlag präsentie- schnitt fehlen 140 Euro im Monat!)
ren.
Genau an dieser Stelle gilt es, anzusetzen. Das haben Sie
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ihr wollt! auch in Ihrem Antrag angesprochen. Dies geht zum ei-
Aber „wollen“ reicht nicht!) nen durch Angleichung und zum anderen durch Maß-
nahmen auf dem Arbeitsmarkt.
Heute Morgen gab es eine Pressemitteilung der
Volkssolidarität, in der Professor Dr. Gunnar Winkler Sie wissen aus unseren Stellungnahmen im Sozialaus-
mit den Worten wiedergegeben wird: schuss, dass es uns besonders wichtig ist, das Sozialsys-
tem über Arbeit stabiler zu machen und damit auch die
Bis heute liegt dem Bundestag lediglich ein Antrag Renten für die Menschen in Ostdeutschland zu stützen.
der Fraktion DIE LINKE vor, während sich alle an- Diesen Weg gilt es weiterzugehen. Über die Richtung
deren bislang zurückhalten. sind wir uns einig, über den Weg leider noch nicht.
Das ist nicht wahr. Wir arbeiten. Wir wollen aber erst Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
dann etwas vorlegen, wenn es wirklich eine gute Diskus-
sionsgrundlage darstellt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ihr wollt seit
Jahren! Aber es passiert nichts!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat die Kollegin Silvia Schmidt von der
Jemand sagte mir gestern: Gutes Rechnen und Gründ- SPD-Fraktion.
lichkeit geht vor Schnelligkeit.
(Beifall bei der SPD)
(Zurufe von der LINKEN)
– Nein, wir wollen nicht verzögern. Wir wollen aber, wie Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD):
es immer wieder angekündigt wird, zur Mitte der Legis- Guten Tag, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
latur dieses Ding sauber vorstellen. Kollegen! 20 Jahre nach der Wiedervereinigung kann (D)
(B)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn man es den Rentnerinnen und Rentnern in den neuen
Wunderlich [DIE LINKE]: Wollen, wollen, Bundesländern wirklich nicht mehr zumuten, dass im-
wollen! – Matthias W. Birkwald [DIE mer noch unterschiedliche Rentenberechnungssysteme
LINKE]: Da haben Sie nicht mehr viel Zeit!) existieren. Das ist so.

In der heutigen Pressemitteilung der Volkssolidarität (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
heißt es außerdem: LINKEN)

Wir wissen um die Schwierigkeiten einer gerechten Lieber Roland Claus, auf der einen Seite reden wir
Lösung, … von Ungerechtigkeiten. Auf der anderen Seite sagen Sie
aber: Die Höherwertung im Osten soll bleiben. Dann
Von Vertrösten oder davon, die Umsetzung durch Untä- würden neue Ungerechtigkeiten entstehen, zusätzlich zu
tigkeit zu übergehen, kann keine Rede sein. Die Schwie- denen, die zurzeit schon stattfinden. Die Leute in den
rigkeit besteht darin, eine wirkliche Gleichbehandlung neuen Bundesländern, die 100 Prozent Tarif bekommen,
umzusetzen. erhalten natürlich später deutlich mehr Rente als jemand,
der in Frankfurt am Main arbeitet.
Unser Ziel ist weiterhin – wie in der Koalitionsverein-
barung geschrieben – eine weitgehende Angleichung der (Roland Claus [DIE LINKE]: Die Berechnung
Lebensverhältnisse in Ost und West bis zum Jahr 2019. folgt dem Ziel, nicht umgekehrt! – Weiterer
Wir suchen nach Möglichkeiten, die auf der einen Seite Zuruf der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE
einen Weg bieten, die Bestandsrenten nicht zu mindern, LINKE])
und die auf der anderen Seite die Anwartschaften, die
jetzt erarbeitet werden, nicht von vornherein verschlech- Das ist so, und das können wir auch nicht wegdenken.
tern. Lassen wir es einmal dabei.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich glaube auch nicht, dass sich die Deutschen schä-
men müssen. Gerade die Rentenleistung – das haben die
Das wirkt für viele wie die Quadratur des Kreises. Das Väter der Einheit durchaus so gewollt – war ein großer
ist aber unsere Aufgabe, die wir uns vorgenommen ha- Solidaritätsakt. Diesen muss man einfach anerkennen.
ben und der wir uns stellen. Wer das nicht macht, verkennt die Lage.
Im Ziel sind wir uns einig, aber nicht im Weg. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Übertragung des Rentensystems – das habe ich auch aus der CDU/CSU)
10998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Silvia Schmidt (Eisleben)


(A) Wir brauchen – ich habe es schon in meiner letzten (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Bei den (C)
Rede deutlich gemacht – endlich ein einheitliches Ren- Banken geht es, bei den Rentnern nicht!)
tenrecht, um Ost und West in unserer Gesellschaft zu-
sammenzuführen. Wir haben neue Vorschläge vorgelegt, auf die ich
ganz kurz eingehen möchte. Ich hatte bereits in meiner
Sehr verehrter Herr Heinrich, Sie haben das Modell letzten Rede angesprochen, dass wir vorschlagen, für
des Sachverständigenrates angesprochen. Dieses be- bestimmte Personengruppen – bei einigen stimmen wir
inhaltet im Grunde genommen eine rein technische Lö- natürlich nicht überein –, zum Beispiel mithelfende Fa-
sung. Im Klartext verlangt es von den Rentnern und milienmitglieder, Balletttänzerinnen und -tänzer oder
Rentnerinnen in den neuen Bundesländern, dass sie auf Krankenschwestern, einen Solidarfonds aufzulegen.
die höhere Bewertung ihrer Verdienste um die fehlenden
ungefähr 11 Prozent verzichten. Das halte ich für unge- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das war
recht. Hier müssen wir zügig nach neuen Lösungsmög- die Rentenüberleitung, Frau Kollegin! Jetzt
lichkeiten suchen. Dabei werden auch Sie sicher mitma- geht es um Rentenangleichung!)
chen. Denn es kann doch Frauen und Männern, die 35 oder
40 Jahre gearbeitet haben, nicht zugemutet werden, spä-
(Beifall bei der SPD)
ter zum Amt gehen und Grundsicherung beantragen zu
Wir können allerdings sehr schnell dafür sorgen – das müssen. Wir erwarten, dass man hier noch einmal tief in
habe ich bereits beim letzten Mal angesprochen; das fin- die Tasche greift und 500 Millionen Euro in diesen
det sich auch im Positionspapier der SPD-Landesgruppe Fonds steckt, um diesen Frauen und Männern entgegen-
Ost –, dass zum Beispiel die Kindererziehungszeiten und zukommen.
die Wehrpflichtszeiten in Ost und West einen einheitli-
Ich will noch einen anderen wichtigen Bereich an-
chen Rentenwert erhalten. Auf beiden Seiten haben Müt-
sprechen. Im Grunde genommen brauchen wir entweder
ter Kinder erzogen – ich glaube, da gibt es wirklich
eine Mindestrente, wie sie bis 1991 bestanden hat und
keine Unterschiede –, und ebenso gab es auf beiden Sei-
auch noch fortgeführt wird – allerdings nicht mehr in
ten die Wehrpflicht; diese anderthalb Jahre müssen in
dem Maße –, oder eine Sockelrente, damit Altersarmut
gleicher Weise angerechnet werden. Hier können wir
in Zukunft gar nicht mehr entstehen kann.
schnell handeln. Es gibt keinen sachlichen Grund, da
eine Trennung vorzunehmen. (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Da geht es
um Rentenreform! – Matthias W. Birkwald
(Beifall bei der SPD)
[DIE LINKE]: Das ist noch eine andere Bau-
stelle!)
(B) Wir können an diesen Beispielen sehr deutlich machen, (D)
dass die Lebensphasen in Ost und West gleich viel wert
Das wird ein Problem für die Kommunen sein. Das müs-
sind. Die Angleichung der Kindererziehungszeiten würde
sen wir erneut angehen.
im Schnitt pro Person 240 Euro im Jahr mehr kosten. Ich
denke, das kann sich eine Solidargemeinschaft durchaus (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Alles an-
leisten. sprechen und nichts machen!)
Die Rentensystemangleichung, das heißt die Anglei- Die SPD hat im Willy-Brandt-Haus beschlossen, ge-
chung der Rentenwerte auf der Basis von Entgeltpunk- meinsam mit der Kommission für Konzepte gegen Al-
ten, sowie die Höherwertung niedriger ostdeutscher Ein- tersarmut einen Lösungsweg zu suchen. Diesen werden
kommen stellen eine sehr schwierige Aufgabe dar. wir dann sicherlich mit Ihnen gemeinsam gehen können.
Darüber müssen wir – da sind wir alle uns im Deutschen
Bundestag wohl einig – noch heftig diskutieren, um eine (Beifall bei der SPD)
gerechte Lösung zu finden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
Den Vorschlag von Verdi finde ich persönlich sehr in den letzten Wochen und Monaten oft genug über das
gut. Er ist auf zehn Jahre angelegt. In Ihrem Vorschlag Thema Rentenangleichung in Ost und West diskutiert
hingegen, lieber Roland Claus, wird von fünf Jahren aus- und wissen, dass es für uns alle kein leichtes Thema ist.
gegangen. Das ist etwas zu kurz gesprungen. Wir wollen Gerechtigkeit walten lassen, und zwar, wenn
es geht, für alle. Ich bin deshalb froh, dass die Koalition
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Be- aus CDU/CSU und FDP zum Beispiel Verbesserungen
standsrentner sollen das auch noch bekommen im Bereich des Opferentschädigungsgesetzes vorgenom-
können!) men hat. Egal ob jemand in Frankfurt am Main oder in
Frankfurt an der Oder Opfer einer Gewalttat geworden
Wenn wir die Lebensarbeitszeit der Rentner und Rentne- ist: Er bekommt von der Unfallversicherung die gleiche
rinnen im Bestand ansehen und in diesem Zusammen- Entschädigung.
hang von Redlichkeit sprechen, dann müssen wir uns
auch die Frage stellen, ob es redlich ist, davon auszuge- Dieser Weg, den Sie da eingeschlagen haben, ist ein
hen, dass diese Aufgabe innerhalb von fünf Jahren ge- richtiger Weg. Wir sollten diesen Weg gemeinsam wei-
stemmt werden kann. Das schafft keiner; da sollten wir tergehen. Die Rentnerinnen und Rentner müssen sich auf
ganz ehrlich sein. Der Haushalt gibt das im Moment die Politik verlassen können. Für sie ist es nicht nach-
nicht her. Das sollten wir unbedingt zur Kenntnis neh- vollziehbar, wenn Schwarz-Gelb so entscheidet und
men. dann Rot-Grün vielleicht anders entscheidet. Rentnerin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 10999
Silvia Schmidt (Eisleben)
(A) nen und Rentner brauchen Sicherheit. Das sind wir ihnen den zweidreiviertel Jahren weiter an dem arbeiten, was (C)
schuldig. wir uns im Koalitionsvertrag vom Oktober 2009 vorge-
nommen haben. Wir wollen und werden ein einheitliches
(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE Rentenrecht einführen.
LINKE]: Aber nicht erst in zehn Jahren!)
Die FDP-Fraktion hat mit einem Antrag im Juni 2008
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: als erste Fraktion im Deutschen Bundestag deutlich ge-
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der macht, wie sie sich das vorstellt. Wir glauben nämlich,
FDP-Fraktion. dass es 20 Jahre nach der deutschen Einheit Zeit ist, ein
einheitliches Rentenrecht mit einheitlichen Rentenwer-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten, mit einheitlichen Entgeltpunkten und mit einer ein-
heitlichen Beitragsbemessungsgrenze einzuführen. Bei
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wahrung aller Ansprüche, also bei Wahrung aller An-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wartschaften, die Rentner in den neuen Bundesländern,
Herr Claus, weil Ihre Aussagen seltsam anmuten, will aber auch Erwerbstätige mit Rentenanwartschaften er-
ich zunächst an Ihre Adresse Folgendes sagen: Die Un- worben haben – mit einem Wort: bei Besitzstandswah-
terschiede zwischen Ost und West in der Rente hatten rung –, soll ab einem Stichtag im ganzen Bundesgebiet
und haben wir nur, weil 1961 „angeblich“ niemand die ein gleicher Beitrag einen gleichen Rentenanspruch er-
Absicht hatte, eine Mauer zu bauen. bringen. Ich denke, das ist eine klare und faire Lösung.
Das kann die Richtschnur für das sein, was wir tun wol-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) len.
Auf der einen Seite dieser Mauer wurde in den fol- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
genden vier Jahrzehnten eine Volkswirtschaft vor die der CDU/CSU)
Wand gefahren. Sie können auch sagen: an die Mauer
gefahren. Auf der anderen Seite der Mauer ist ein Staat Dem hat sich übrigens der Sachverständigenrat der
mit stabilen sozialen Sicherungssystemen entstanden, Bundesregierung in seinem Jahresgutachten 2008/09 an-
geschlossen. Ich zitiere von Seite 365 dieses Gutachtens:
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das ist
doch billig!) Da sich der in den ersten Jahren nach der Vereini-
der selbst die große Herausforderung der Überführung gung einsetzende Prozess einer Angleichung der in
der Altersanwartschaften aus der ehemaligen DDR in Ostdeutschland gezahlten Löhne in den letzten Jah-
ren zunehmend verlangsamt hat, seit dem Jahr 2005
(B) das System des SGB VI gemeistert und geschultert hat. zum Stillstand gekommen zu sein scheint und einer (D)
Das ist eine riesige Leistung.
zunehmenden Heterogenität der regionalen Entloh-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie nungsstrukturen in beiden Gebietsständen gewi-
des Abg. Anton Schaaf [SPD] – Roland Claus chen ist, führt das in den neuen Ländern geltende
[DIE LINKE]: Sie fahren bei der Landtags- Rentenrecht zu verteilungspolitisch kaum zu ver-
wahl vor die Wand!) mittelnden Effekten.
Ich finde es schon sehr bemerkenswert, dass sich Auf Seite 376 des gleichen Gutachtens des Sachver-
heute die politischen Erben derjenigen, die damals die ständigenrats heißt es:
Mauer gebaut haben, hier hinstellen und sagen: Ihr er-
höht die Renten nicht schnell genug. Eine … Option besteht darin, eine besitzstandswah-
rende Umbasierung der rentenrechtlichen Größen
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Geht es sowohl in den alten wie in den neuen Ländern zu ei-
nicht eine Nummer kleiner?) nem bestimmten Stichtag … auf bundesweit ein-
Herr Claus, so kann man es nicht machen. Das ist poli- heitliche Größen durchzuführen.
tisch nicht glaubwürdig. Sie fischen hier im Trüben.
Das ist genau das, was die FDP zuvor schon vorgeschla-
Aber niemand, der das System ernsthaft beleuchtet, wird
gen hatte.
Ihnen das abnehmen.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- Einen Punkt, der für uns ganz wichtig war und den
rufe von der LINKEN) wir auf Vorschlag der Kollegen aus den neuen Ländern
in unserer Fraktion aufgenommen haben, hat der Sach-
Wir wollen unverändert eine zügige und zeitnahe An- verständigenrat weggelassen: eine Abfindungsregelung
gleichung des Rentenrechts in Ost und West. Das ist der für Entgeltpunkte Ost, die zum Umstellungsstichtag
Punkt, auf den wir uns im Koalitionsvertrag mit den noch eine Anpassungserwartung haben. Wir wollen hier
Kollegen der Union verständigt haben. Herr Claus, eine ein Wahlrecht schaffen, was ich nach wie vor für eine
Legislaturperiode umfasst vier Jahre. faire Lösung halte. Man soll sich für diese Anpassungs-
(Roland Claus [DIE LINKE]: Sie haben es für erwartung entweder mit einer Einmalzahlung abfinden
die erste Hälfte versprochen!) lassen oder die weitere Entwicklung des Entgeltpunktes
Ost abwarten können. Mit dieser Lösung werden die An-
Wir haben erst eineinviertel Jahre dieser Legislaturpe- wartschaften der Versicherten in den neuen Bundeslän-
riode hinter uns; wir wollen auch noch in den kommen- dern fair berücksichtigt.
11000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) Den Weg, den Sie, Herr Claus, vorschlagen, halte ich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das könnte eng (C)
allerdings für nicht gangbar. Sie haben gesagt, dass das werden!)
auch etwas kostet. Ja, es kostet etwas.
Entgeltpunkte, allgemeiner Rentenwert, Stufenmodell
(Max Straubinger [CDU/CSU]: 6 Milliarden!) etc.: Das ist alles unglaublich kompliziert.
Sie haben die Zahlen nicht genannt. Das sind in der (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Endausbaustufe, also nach fünf Jahren, erwartungsge- Und das in vier Minuten!)
mäß etwa 6 Milliarden Euro pro Jahr, und zwar steuer- Vor 20 Jahren gab es eine Debatte darüber, wie man
finanziert. die Ost-Mark in D-Mark umrechnet. Viele Ökonomen
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- haben davor gewarnt, das eins zu eins zu machen. Poli-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was kostet denn das tisch war das aber nicht anders möglich. In der Rente ist
FDP-Modell?) das aber nicht eins zu eins geschehen, sondern man hat
gesagt, dass man die Rente während einer Übergangszeit
Wenigstens ist das Ganze nicht auch noch beitragsfinan- für Ost und West unterschiedlich berechnet.
ziert, denn dann wäre das Äquivalenzprinzip ganz offen-
sichtlich verletzt. Im Ergebnis hätte man nun unter- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das hat mit der
schiedliche Rentenzahlungen für gleiche Beiträge, und Währungsunion nichts zu tun!)
das ist etwas, was man nur schwer vermitteln kann. Dementsprechend wurde für die Rente eine D-Mark im
Osten anders angesetzt als im Westen.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund – das ist
meine letzte Bemerkung in dieser Debatte – des Gutach- (Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Vollkommener
tens des Bundesrechnungshofes, das den Kollegen im Unsinn!)
Haushaltsausschuss im April 2010 zugeleitet wurde. Da-
rin ist sehr deutlich gesagt worden – ich zitiere aus dem Diese Übergangsfrist gilt immer noch. Deswegen finden
Bericht des Rechnungshofes an den Haushaltsausschuss –: wir es sehr richtig, dass, wie im Koalitionsvertrag steht,
jetzt endlich ein einheitliches Rentenrecht in Ost und
Es besteht die Gefahr, dass die Gruppe der Beschäf- West hergestellt werden soll.
tigten, die auf Westniveau bezahlt werden, so groß
Der Unterschied im Rentenrecht ist Folgender: Im
ist, dass die Regelungen über die Entgeltpunkte Ost
Laufe seines Lebens sammelt man Entgeltpunkte, und
und über die Beitragsbemessungsgrenze Ost nicht
diese Entgeltpunkte werden am Ende mit dem aktuellen
mehr mit dem ursprünglichen Zweck vereinbar
Rentenwert multipliziert. Bei den Entgeltpunkten zählt
sind, dem Durchschnittsverdiener Ost einen gleich
(B) ein im Osten verdienter Euro mehr für die Rente – im (D)
hohen Rentenertrag wie einem Durchschnittsver-
letzten Jahr noch 19 Prozent mehr – als ein im Westen
diener im alten Bundesgebiet zu verschaffen.
verdienter.
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist es! Das sa- Auf der anderen Seite ist der aktuelle Rentenwert im
gen die nur nicht!) Osten um zehn Prozent geringer. Im letzten Jahr betrug
Herr Claus, dieses Problem, das der Bundesrech- er 24,13 Euro im Osten und 27,20 Euro im Westen. Das
nungshof schon im letzten Jahr beschrieben hat, würden führt also dazu, dass bei der Rente die Menschen im Os-
Sie mit Ihrer stufenweise steuerfinanzierten Lösung ten insgesamt quasi bevorzugt werden, denn 1 Euro im
noch weiter verschärfen. Am Ende wäre das gar nicht Osten führt zu einer höheren Rente als 1 Euro im Wes-
mehr darstellbar. Deswegen können wir Ihrem Vorschlag ten. Wir halten das für ungerecht und möchten sowohl
nicht zustimmen. Nehmen Sie Vernunft an. Sehen Sie diese Aufwertung als auch die unterschiedliche Behand-
sich das, was wir vorgeschlagen haben, einmal in Ruhe lung bei der Rente mit unterschiedlichen Rentenwerten
an. Ich glaube, das ist ein fairer und gerechter Weg, auf abschaffen.
den man sich verständigen könnte. Aber Ihre Vorschläge (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
können unsere Zustimmung nicht finden.
Man muss allerdings an beides herangehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Problem ist: Der Satz im Koalitionsvertrag ist
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) toll, es gibt aber immer noch kein Konzept der Bundes-
regierung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir hatten im
Das Wort hat der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann- letzten Jahr auch ein bisschen was anders zu
Kuhn von Bündnis 90/Die Grünen. tun, Herr Strengmann-Kuhn! Zwei große,
wichtige Gesetze haben uns gut beschäftigt!
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ Es ist nicht so, dass wir die Hände in den
DIE GRÜNEN): Schoß gelegt hätten!)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ob- – Stellen Sie eine Frage, Herr Kolb. – Richtige Vor-
wohl ich nur vier Minuten Zeit habe, muss man den Zu- schläge gibt es noch nicht. Es gibt ein paar Andeutun-
schauerinnen und Zuschauern erst einmal ganz kurz er- gen. Das, was Herr Heinrich gesagt hat, klang relativ
klären, worüber wir hier überhaupt reden. sympathisch. Das nähert sich sehr dem Konzept der Grü-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11001
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) nen an. Das Konzept der FDP liegt davon allerdings Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
noch weit weg. Von der Regierung haben wir bisher Der Kollege Max Straubinger hat das Wort.
noch gar nichts dazu gehört. Es gab Antworten auf An-
fragen, die lauteten: Es ist alles kompliziert und muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gerecht sein. – Das ist richtig. Es ist kompliziert, und es
muss auch gerecht sein. Aber wir erwarten von der Re- Max Straubinger (CDU/CSU):
gierung endlich einmal Vorschläge. Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin gespannt auf die Vorschläge von Herrn
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Strengmann-Kuhn. In der Regel sind Sie immer dage-
DIE GRÜNEN)
gen.
Umgekehrt macht die Linke jetzt einen Vorschlag.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/
Den halten wir allerdings auch nicht für überzeugend.
DIE GRÜNEN]: Wir sind dafür!)
Denn erstens wollen wir ein einheitliches Rentenrecht so
schnell wie möglich. Die Rentenversicherung braucht Das wissen wir ja in diesem Haus. Von daher werden wir
ein bisschen Zeit, jedoch wäre eine Änderung zum Bei- die Beratungen abwarten.
spiel zum 1. Juli nächsten Jahres möglich. Wir brauchen
nicht, wie die Linke das jetzt vorschlägt, ein Stufenmo- Die Linken fordern heute wieder populistisch eine
dell bis 2016, das die Grenze zwischen Ost und West Rentenangleichung, die eine gravierende Besserstellung
noch weiter zementiert. Nach Ihrem Vorschlag gäbe es der Menschen im Osten im Rentensystem bedeuten
auch nach 2016 noch immer kein einheitliches Renten- würde, nämlich die Angleichung des Rentenwertes auf
recht. Sie wollen einfach nur den aktuellen Rentenwert Westniveau bei gleichzeitiger Beibehaltung der Höher-
vereinheitlichen. bewertung der Ostzahlungen.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das (Roland Claus [DIE LINKE]: Populistisch
eine tun und das andere nicht lassen!) sind eure Erklärungen!)

Das ist immer noch keine Einheit. Sie wollen die Grenze Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist sicherlich
beibehalten. nicht im Sinne eines von den Bürgerinnen und Bürgern
getragenen und auch verstandenen Rentensystems. Mit
Die Kollegin Schmidt sagte vorhin, das sei alles viel Ihrem Antrag würde eine gewaltige Spaltung in
zu schnell, was die Linke fordere. Sie wolle lieber noch Deutschland vollzogen werden. Das lehnen wir natürlich
länger warten. Auch das ist nicht unsere Position. ab.
Wir wollen möglichst bald, so schnell wie möglich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
(B) (D)
ein einheitliches Rentenrecht in Ost und West. Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Das ist genau das,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Also sozusagen was dahintersteckt!)
die FDP-Position!) – Das ist das Interesse der Linken in unserem Lande.
Der zweite Punkt, den wir für unbefriedigend halten, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]:
ist schon angesprochen worden. Nach dem Konzept der Quatsch!)
Linken wird wieder einmal Geld ausgeschüttet, ohne zu
sagen, wo es denn herkommt. Herr Claus sagte selber, es Man muss auch darlegen, dass gerade die jetzigen
sei nicht ganz billig. Aber wo das Geld denn herkommen Rentnerinnen und Rentner und die zukünftigen Rentne-
soll, sagt er nicht. rinnen und Rentner, die in Ostdeutschland leben, erst
durch die Wiedervereinigung eine wichtige und gute Al-
Man sieht also: Die Regierung hat kein Konzept. Die tersversorgung bekommen haben. Denn im bankrotten
Linke hat ein Konzept, das falsch ist. Bei der SPD weiß System der DDR waren sie in der Vergangenheit auf die
man nicht so genau, wie das Konzept aussieht. Es ist Almosen angewiesen, die der Fünfjahresplan den Rent-
also gut, dass es die Grünen gibt, die Konzeptpartei. nerinnen und Rentnern zugestanden hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
derspruch bei der CDU/CSU und der FDP)
Das ist die Realität, Herr Kollege Claus.
Wir werden nächste Woche einen Antrag vorlegen, mit
dem wir unser Konzept zur Diskussion stellen. Wenn wir über die Rentenüberleitung und die Anglei-
chung der Renten in Ost und West reden, dann sollten
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Ihr seid doch wir auch anfügen, dass die durchschnittlichen Renten
immer dagegen!) der Menschen im Osten höher sind als im Westen. Das
Dann können wir im Ausschuss noch einmal darüber re- ist eine große solidarische Leistung auch der Beitrags-
den. Wie gesagt, der Herr Heinrich war ja schon so weit, zahlerinnen und Beitragszahler im Westen. Dazu stehen
dass er sich unserem Konzept sehr genähert hat. Viel- wir.
leicht können wir ihm ein paar Ideen vermitteln. Ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
freue mich auf die weitere Debatte dazu.
der FDP)
Vielen Dank.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie soll-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten in unserem Land keine Spaltung betreiben.
11002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Max Straubinger
(A) Der Kollege Strengmann-Kuhn hat bereits verdeut- Landes zu erhalten. Ich erinnere mich noch an die De- (C)
licht, dass das unterschiedliche Lohnniveau in Ost und batte, die wir heute frühmorgens geführt haben: Der
West im jetzigen Rentenrecht gut berücksichtigt wird. Ich Kollege Gysi hat hier seine eigene wirtschaftspolitische
möchte es den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Philosophie dargelegt. Demnach soll der Siemens-Kon-
Tribüne anhand von Zahlen verdeutlichen: Der Durch- zern auf Exporte von Maschinen und Anlagen für Kraft-
schnittslohn im Westen liegt heute bei 31 000 Euro. Da- werke verzichten. Damit würden wichtige, ertragreiche
mit erwirtschaftet man im Westen einen Entgeltpunkt in Arbeitsplätze in unserem Land vernichtet, die dazu an-
der Rentenversicherung. Der Durchschnittsverdienst im getan sind, unser Rentenversicherungssystem zu stützen
Osten liegt bei 26 000 Euro. Damit erwirtschaftet man und den Menschen soziale Sicherheit zu geben.
im Osten ebenfalls einen Entgeltpunkt.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht
(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: So ist das!) um Atomkraftwerke! – Katja Mast [SPD]:
Herr Straubinger!)
Das bedeutet: Es werden gleiche Verhältnisse geschaf-
fen, obwohl ungleiche Beitragszahlungen erfolgt sind. Daran zeigt sich sehr deutlich: Sie wollen wieder zurück
Dazu stehen wir. Herr Kollege Claus, die gesellschaftli- zum alten sozialistischen System und damit die Men-
che Spaltung, die die Fraktion der Linken mit ihrem An- schen sozusagen in Armut gleichmachen.
trag herbeireden will, gibt es also nicht. Damit sollen nur
dumpfe Gefühle geweckt werden, mit denen Sie im (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
Wahlkampf bei den Bürgerinnen und Bürgern punkten Das werden wir verhindern. Wir lehnen deshalb Ihre An-
wollen. träge ab. Die Menschen können sich auf unser bewährtes
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rentenversicherungssystem verlassen.

Das wird aber nicht verfangen – davon bin ich über- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
zeugt –, denn die Bürgerinnen und Bürger in der ehema- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ligen DDR, in Ostdeutschland, wissen, dass sie sich auf
das deutsche Rentenversicherungssystem verlassen kön-
nen und sie darüber hinaus eine gerechte Leistung für Präsident Dr. Norbert Lammert:
das bekommen, was sie in ihrem Leben erwirtschaftet Ich schließe die Aussprache.
haben. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Verehrte Damen und Herren, es ist schon unver- Drucksache 17/4192 an die in der Tagesordnung aufge-
schämt, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Wir haben führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
(B) da noch ein kleines Finanzierungsproblem.“ Kollege verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist (D)
Kolb hat dargelegt, dass die Umsetzung Ihres Antrags zu die Überweisung so beschlossen.
Mehrausgaben der Steuerzahler in unserem Land in Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Höhe von 6 Milliarden Euro führen würde.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Pro Jahr!) richts des Ausschusses für die Angelegenheiten
– Pro Jahr, wohlgemerkt. – Das wird von Ihnen ver- der Europäischen Union (21. Ausschuss)
brämt. – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Macht eine und FDP
anständige Steuerpolitik, dann geht das!)
Einvernehmensherstellung von Bundestag
Wir zahlen bereits Steuermittel in Höhe von 80 Milliar- und Bundesregierung zur Ergänzung von
den Euro in unser Rentensystem, um damit für Solidari- Artikel 136 des Vertrages über die Arbeits-
tät in unserer Gesellschaft zu sorgen. Es ist aber notwen- weise der Europäischen Union (AEUV) hin-
dig, darauf hinzuweisen, dass die Finanzierung unseres sichtlich der Einrichtung eines Europäi-
Rentenversicherungssystems vor allem über Beitrags- schen Stabilitätsmechanismus (ESM)
zahlungen und weniger über Steuermittel gewährleistet
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
werden muss.
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundgesetzes i. V. m. § 10 des Geset-
neten der FDP) zes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem
Mit der Beitragsbezogenheit wird letztendlich die Grund- Bundestag in Angelegenheiten der Eu-
lage für eine vernünftige Rente geschaffen. Davon wird ropäischen Union
aber mit Ihrem Antrag verstärkt Abstand genommen.
Deswegen lehnen wir Ihren Antrag auch unter diesem – zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Gesichtspunkt ab.
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäi-
Ich möchte auf einen weiteren wichtigen Punkt einge- schen Rates zur Änderung des Vertrags über
hen. Damit wir den Bürgerinnen und Bürgern auch zu- die Arbeitsweise der Europäischen Union
künftig gute Rentenleistungen bieten können, ist es ent- hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
scheidend, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des für die Mitgliedstaaten, deren Währung der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11003
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Euro ist – Ratsdok. 17620/10 (EUCO 30/10), Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die (C)
Anlage 1 – Aussprache 45 Minuten dauern. – Auch dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
Grundgesetzes (GG) i. V. m. § 10 des nächst dem Kollegen Michael Link für die FDP-Frak-
Gesetzes über die Zusammenarbeit tion.
von Bundesregierung und Deutschem (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bundestag in Angelegenheiten der Eu- der CDU/CSU)
ropäischen Union
Herstellung des Einvernehmens bezüglich Michael Link (Heilbronn) (FDP):
der Ergänzung von Artikel 136 AEUV zur Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die FDP
Einrichtung eines Europäischen Stabilitäts- setzt als Europapartei fest und konsequent auf die euro-
mechanismus (ESM) verantwortlich gestal- päische Integration. Ein ganz zentraler Teil der europäi-
ten schen Integration ist die gemeinsame Währung. Diese
gemeinsame Währung ist in schweres Fahrwasser gera-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether ten. Ich lege aber großen Wert darauf, zu sagen: Wir ha-
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, wei- ben es nicht mit einer Euro-Krise zu tun.
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall bei der FDP)
LINKE
Das ist eine Verschuldungskrise, teilweise auch eine
zum Entwurf eines Beschlusses des Europäi- Banken- und Wirtschaftskrise. Die Ursache für diese
schen Rates zur Änderung des Vertrags über Verschuldungskrise liegt weit vor dem Jahr 2008, in dem
die Arbeitsweise der Europäischen Union die Finanzkrise begonnen hat.
hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
für die Mitgliedstaaten, deren Währung der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Euro ist – Ratsdok. 17620/10 (EUCO 30/10), der CDU/CSU – Mechthild Dyckmans [FDP]:
Anlage 1 – Sehr richtig!)
Ursachen waren extrem laxe und nachlässige Ausgaben-
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes- programme, eine überbordende Staatsverschuldung und
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 ein fortgesetztes Verstoßen gegen den Stabilitäts- und
des Grundgesetzes Wachstumspakt. In den letzten Jahren hat die Europäi-
(B)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel sche Kommission zwar 26 Defizitverfahren eingeleitet, (D)
Sarrazin, Alexander Bonde, Dr. Gerhard die Euro-Gruppe hat darauf aber exakt null Mal mit
Sanktionen reagiert.
Schick, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aus meiner Sicht ist es wichtig, immer wieder zu sa-
gen: Wir haben keine Euro-Krise, aber wir haben eine
Herstellung des Einvernehmens zwischen Krise, was die Art und Weise angeht, wie wir mit unse-
Bundestag und Bundesregierung zur Ände- ren Regeln umgehen. In zahlreichen Mitgliedstaaten ha-
rung des Artikels 136 des Vertrags über die ben wir eine Verschuldungskrise. Das gilt übrigens auch
Arbeitsweise der Europäischen Union hin- für die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere seit
sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für der Regierungszeit von Rot-Grün, und wir müssen heute
die Mitgliedstaaten, deren Währung der hart arbeiten, um das aufzuarbeiten.
Euro ist
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes- der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜND-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 GG NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Verschuldung
i. V. m. § 10 des Gesetzes über die Zu- macht Herr Schäuble!)
sammenarbeit von Bundesregierung FDP- und CDU/CSU-Fraktion wollen, dass mit einem
und Deutschem Bundestag in Angele- Europäischen Stabilisierungsmechanismus die Lehre aus
genheiten der Europäischen Union dieser Verschuldungs- und Bankenkrise gezogen wird.
– Drucksachen 17/4880, 17/4881, 17/4882, Der ESM und der Pakt für den Euro müssen ganz ent-
17/4883, 17/5094 – scheidend dazu beitragen, dass die Stabilität im Euro-
Währungsgebiet wiederhergestellt wird und künftige
Berichterstattung: Verschuldungskrisen vermieden werden. Dadurch kann
Abgeordnete Michael Stübgen die europäische Integration gefestigt werden.
Michael Roth (Heringen) Die EU benötigt daher dringend bessere Regeln, die
Michael Link (Heilbronn) Gläubiger wie Schuldner zu mehr Vorsicht bei der Kre-
Dr. Diether Dehm ditvergabe anhalten. Keinesfalls – ich unterstreiche das –
Manuel Sarrazin darf eine Erleichterung bei der Kreditvergabe ermöglicht
werden.
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD zu
ihrem eigenen Antrag vor. (Beifall bei der FDP)
11004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Michael Link (Heilbronn)


(A) Der ESM darf kein Superkreditinstrument werden. Zur Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Disziplinierung der Regierungen mit Blick auf übergro- Bitte schön.
ßes Schuldenmachen bedarf es wirksamer, sanktionsbe-
wehrter Schuldenschranken im Stabilitätspakt und im je- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
weiligen nationalen Recht. Die FDP-Fraktion unter- NEN):
streicht deshalb ausdrücklich – das wird auch in dem Herr Kollege, Sie haben zur Gläubigerbeteiligung ge-
Koalitionsantrag deutlich –, dass wir im Bereich der au- sprochen. Ich würde mich dafür interessieren, wie die
tomatisierten Sanktionen vorankommen müssen. Das se- Position Ihrer Fraktion dazu ist, dass die irische Regie-
hen wir übrigens ebenso wie unsere Kollegen im Euro- rung der Auffassung ist, dass es bei den irischen Banken
päischen Parlament. Die sehr guten Vorschläge von eine Gläubigerbeteiligung geben kann, die anderen euro-
Kommissar Rehn zur sogenannten Reverse Majority päischen Regierungen das aber bisher in der Sache ab-
– Rückholbarkeit von Sanktionen nur innerhalb von lehnen, also gerade die Gläubigerbeteiligung, die Sie
zehn Tagen mit umgekehrter Mehrheit – zielen aus unse- einfordern, konkret verhindert wird. Wie steht Ihre Frak-
rer Sicht in die richtige Richtung. Dadurch geraten wir tion dazu?
erst gar nicht in die Verschuldungskrise.
Viel wichtiger als der ESM und die darin enthaltenen Michael Link (Heilbronn) (FDP):
Reparaturinstrumente ist die Vorsorge. In den nächsten Die Dinge, die jetzt zur Gläubigerbeteiligung in dem
Wochen und Monaten müssen wir diesbezüglich – das Beschluss stehen – darin stehen sehr lange Passagen zur
sage ich an die Adresse der Bundesregierung – noch in- Gläubigerbeteiligung –, sind in der Theorie sehr gut.
tensiv arbeiten, damit wir zu automatisierten Sanktionen Bleiben sie allerdings Rhetorik, dann droht dieser ge-
kommen können. samte ESM so, wie wir ihn jetzt machen, zu scheitern.
Die Gläubigerbeteiligung muss effizient sein und darf
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten – deshalb habe ich das gerade vorhin gesagt – politisch
der CDU/CSU) nicht manipuliert werden. Die Weiche zwischen tempo-
rär zahlungsunfähig und dauerhaft insolvent darf nicht
Die Erfahrung hat gezeigt, dass Regeln wie die des immer wieder von der Euro-Gruppe in die Richtung ge-
Stabilitätspakts bei entsprechendem Willen politisch so stellt werden, dass es keine Gläubigerbeteiligung gibt
interpretiert werden können, dass sie ihre Wirksamkeit und dass man sich anders durchwurschteln kann. Das
faktisch verlieren. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir wollen wir dezidiert nicht.
die Kontrollfunktion der Märkte wirken lassen. Die An-
leger müssen mit ihren Anlagen im Risiko stehen. Nur Wir wollen aber auch nicht – das ist ja auch Teil Ihrer
(B) dann lassen sie bei der Kreditvergabe Vorsicht walten. Frage, Herr Kollege Schick – die Art von Gläubigerbe- (D)
Nur dann werden Zinsen verlangt, die dem Risiko des je- teiligung, wie sie beispielsweise in dem Teil Sekundär-
weiligen Schuldners entsprechen, um sich gegen den marktaufkauf, Buy-back-Aktionen angelegt war. Diese
Verlust der Forderungen abzusichern. Nur durch risiko- Art von Gläubigerbeteiligung ist für uns keine wirkliche,
gerechte Zinsen wird das Schuldenmachen auf ein für sie ist keine harte Gläubigerbeteiligung. Sie ist letztlich
das jeweilige Land erträgliches Maß begrenzt. Dieser etwas, was aus unserer Sicht auch gegen das No-bail-
Mechanismus funktioniert automatisch und besser, als out-Gebot verstoßen würde.
jeder Pakt es jemals könnte. Ich würde jetzt gern mit meiner Rede fortfahren.
Eine zentrale Forderung der Koalition war deshalb (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE
immer, dass eine absehbare und kalkulierbare obligatori- GRÜNEN]: Ich habe die Antwort noch nicht
sche Begleitbeteiligung der Gläubiger erfolgt. Das ist in gehört!)
dem ESM-Verfahren enthalten. Wir hätten uns das
Es ist für uns extrem wichtig – ich habe das Bail-out-
durchaus noch stärker vorstellen können – das sage ich
Verbot erwähnt –, dass wir das No-bail-out-Gebot in den
auch ganz deutlich –, aber wir wissen, dass man bei eu- Verhandlungen sichern konnten. Das No-bail-out-Gebot
ropäischen Lösungen natürlich auch immer gewisse gilt, und der neue Art. 136 AEUV wird nicht eine Art
Kompromisse eingehen muss. Umso klarer muss sein Spezialgesetz, eine Lex specialis, zum Art. 125. Es wird
– dies sage ich insbesondere mit Blick auf das Bundes- keine Relativierung des Bail-out-Verbots, jedenfalls
finanzministerium und die letzten Verhandlungsschritte nicht mit unserem Koalitionsantrag, den wir heute vorle-
bei der Euro-Gruppe am 21. März –, dass wir an diesem gen, geben. Deshalb erwarten wir auch, dass dort, wo
Punkt keinerlei Aufweichungen mehr zulassen dürfen. noch Fragen sind – zum Beispiel bei den Primärmarktan-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leihen –, bei der Umsetzungsgesetzgebung entspre-
der CDU/CSU) chende Präzisierungen erfolgen. Es muss deutlich wer-
den, dass es auch bei diesen Primärmarktanleihen nicht
um organisierte große Programme geht, sondern um
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ausnahmefälle unter Konditionen und dadurch auch ein
Herr Kollege Link, lassen Sie Zwischenfragen zu? klarer Abstand sowohl zum Bail-out-Verbot gewahrt ist
als auch umgekehrt das Ultima-Ratio-Prinzip gewähr-
leistet ist. Denn es war für uns auch ein absolut zentraler
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Punkt, dass alle Hilfsmaßnahmen, gerade wenn es um
Gern. Darlehen des ESM geht, nur als Ultima Ratio erfolgen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11005
Michael Link (Heilbronn)
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) standenen nationalen Sinne. Es geht um Solidarität, weil (C)
wir als Exportnation ein Interesse an stabilen Märkten
Kolleginnen und Kollegen, wir haben im Koalitions- haben müssen, weil wir an Wohlstand und sozialer Stabi-
antrag sehr deutlich gemacht – wir werden auch auf dem lität in allen europäischen Mitgliedstaaten ein Interesse
weiteren Weg der Umsetzung darauf achten –, dass es haben müssen, weil wir an einem starken Euro und an ei-
notwendig ist, dass der Bundestag vor jeder Aktivierung ner Europäischen Union, die sich nicht ständig mit sich
des ESM im Wege seiner Zustimmungspflicht konstitu- selbst beschäftigt, sondern auch in der Lage ist, ihrer in-
tiv beteiligt wird, das heißt, ein Parlamentsvorbehalt ge- ternationalen Verantwortung gerecht zu werden, ein In-
setzt wird. Betroffen ist hierbei nicht mehr und nicht we- teresse haben müssen.
niger als das Königsrecht des Parlaments, die
Haushaltssouveränität. (Beifall bei der SPD)
Betroffen ist auch – das Verfassungsgericht hat immer Insofern hat mich die Diskussion der vergangenen
wieder darauf hingewiesen – Art. 20 des Grundgesetzes, Monate, die maßgeblich auf das Konto von CDU/CSU
das Demokratiegebot. Wir werden deshalb großen Wert und FDP geht, befremdet. Wenn wir von Solidaritäts-
darauf legen, dass die Ratifizierung der Vertragsände- union sprechen, sprechen Sie von Transferunion. Sie
rung, zu der wir heute das Einvernehmen erteilen wol- flirten mit dem Boulevard nach dem Motto: Gutes deut-
len, und die Umsetzungsgesetzgebung in einem Schritt sches Geld hat in Griechenland, in Spanien und in Irland
erfolgen, um dadurch immer ein ganz konkretes Kon- nichts zu suchen. Die sollen sich gefälligst selbst um ihre
troll- und Mitwirkungsrecht des Bundestages zu gewähr- Probleme kümmern und sie selbst lösen.
leisten. Es ist uns nicht leichtgefallen, Ihren Weg, den Sie
Im Übrigen wünschen wir, dass wir den Pakt – das eben als lang beschrieben haben, zu verfolgen. Das war
möchte ich nur einflechten – so gestalten, dass wir den eher ein Zickzackkurs.
Staaten, die heute noch nicht Teil der Euro-Zone sind, (Dr. Rainer Stinner [FDP]: Das liegt an Ihnen!)
den Beitritt erleichtern können. Ich erinnere immer wie-
der daran: Europäische Integration lebt auch davon, dass Die berühmte Springprozession ist nichts dagegen. Sie
wir alle 27 mitnehmen. Ich weiß, es gibt diesbezüglich haben einmal erklärt, dass es überhaupt keinen Rettungs-
große Bedenken bei den Partnern. Wir müssen deshalb schirm geben soll. Dann haben Sie sich nach langem
unbedingt immer darauf achten, dass wir es auch denje- Ach und Weh für einen Rettungsschirm ausgesprochen.
nigen, die heute noch nicht am Pakt und an der Euro- Dann hat die Bundeskanzlerin erklärt: Ja, Rettungs-
Zone teilnehmen, ermöglichen, noch aufzuspringen. Wir schirm schon, aber er ist zeitlich befristet bis 2013.
müssen das leicht und erreichbar machen. (Michael Link [Heilbronn] [FDP]: Ist er ja
(B) (D)
Mit der Verabschiedung des Antrags der Koalition auch!)
und unter den in ihm formulierten Rahmenbedingungen Jetzt wurde ein Stabilitätsmechanismus, also ein Ret-
stellen wir das gesetzlich gebotene Einvernehmen mit tungsschirm, implementiert, der über 2013 hinaus dauer-
der Bundesregierung für die Änderung des Art. 136 haft gilt. Sie haben lang und breit erklärt – das findet
AEUV her und werden unserer Integrationsverantwor- sich auch in Ihren Anträgen –, der ESM, der Rettungs-
tung gerecht. Wir danken insbesondere der Frau Bundes- schirm, dürfe um keinen einzigen Euro aufgestockt wer-
kanzlerin, dem Bundesaußenminister und dem Bundes- den. Jetzt wird der ESM aufgestockt; aus Sicht der SPD
minister der Finanzen für den in den Verhandlungen geschieht dies aus guten Gründen.
bisher zurückgelegten weiten Weg und für die erreichten
Ergebnisse. Wir wissen, dass diese Verhandlungen Bei Ihnen weiß man nie, was Sie eigentlich wollen.
schwer sind und herausfordernd bleiben. Wir werden als Sie müssen einmal klären: Werden Sie Ihrer eigenen Tra-
FDP-Fraktion die Verhandlungen deshalb weiterhin ak- dition als europafreundliche Partei gerecht, die in Eu-
tiv unterstützen und begleiten. ropa nicht einen Teil des Problems, sondern einen Teil
der Lösung sieht,
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Michael Link [Heilbronn] [FDP]: Ja! Genau
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das machen wir!)
der CDU/CSU)
oder wollen Sie weiterhin mit dem Boulevard, mit der
Bild-Zeitung flirten, weil Sie meinen, Sie könnten da-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
durch Ihr populistisches Mütchen kühlen, liebe Kolle-
Michael Roth ist der nächste Redner für die SPD- ginnen und Kollegen von CSU, FDP und leider auch
Fraktion. Teilen der CDU?
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Man muss deutlich sagen: Es gibt nur noch wenige
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu-
Europaparteien hier in diesem Parlament. Das sind die
ropäischer Stabilitätsmechanismus – was für ein techno-
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
kratisches Wort. Worum geht es? Es geht um Solidarität
im wohlverstandenen Sinne, nicht nur im wohlverstan- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und
denen europäischen Sinne, sondern auch im wohlver- der FDP)
11006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Michael Roth (Heringen)


(A) und sicherlich auch die Partei Bündnis 90/Die Grünen. (Patrick Döring [FDP]: Oh! Sehr gut!) (C)
Sie hingegen haben sich von Ihrer eigenen Verantwor-
tung verabschiedet. als in Ihrem Windschatten bei der Harakiripolitik, die
von der Bundeskanzlerin betrieben wurde, mit unterzu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gehen.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]:
Sie müssen nur in ein einziges Nachbarland fahren, Aha! Ich denke, Sie haben zugestimmt! Was
um das zu sehen. Das deutsch-französische Tandem denn nun?)
funktioniert nicht mehr. Sprechen Sie einmal mit Ihrem
Parteifreund Jean-Claude Juncker. Er wird Ihnen ins – Ich persönlich habe zugestimmt, auch wenn es mir, lie-
Stammbuch schreiben, wie das früher lief und wie es ber Herr Kollege, weniger darum ging, der Bundeskanz-
heute unter Bundeskanzlerin Merkel läuft. Ich appelliere lerin den Weg zu ebnen. Mir war wichtiger, dass die Eu-
an Sie: Werden Sie Ihrer eigenen Tradition gerecht. ropäische Union eine Solidaritätsunion ist und dass
Dann kann etwas Gutes daraus werden. Aber, Kollege Partner, die in eine Krise geraten sind, Hilfe bekommen,
Link, erklären Sie uns nicht in acht Minuten nur, was Sie allerdings nicht einfach so, sondern mit einer entspre-
nicht wollen. Sagen Sie uns doch einfach einmal, was chenden Konditionierung, mit Bedingungen.
Sie wollen und wo Sie Europa konstruktiv mitgestalten Die Bundesregierung hat meine und unsere Zustim-
wollen. mung auch bei einer anderen mehr als berechtigten For-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derung, nämlich im Hinblick auf Zinsvergünstigungen
DIE GRÜNEN) für Irland. Irland kann nur dann Solidarität von der Euro-
päischen Union erwarten, wenn man endlich bereit ist,
Dazu habe ich in Ihrem Redebeitrag leider – das sage ich die FDP-Politik in Irland zu beenden und die Körper-
trotz aller persönlichen Wertschätzung – relativ wenig schaftsteuer von 12,5 Prozent im Interesse des Landes
gehört. und im Interesse der Bürgerinnen und Bürger angemes-
sen zu erhöhen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Patrick
Es gibt den Wunsch zu Zwischenfragen, Herr Kollege Döring [FDP]: Dafür ist aber nicht der Bun-
Roth. destag zuständig! Dafür sind die Länder selbst
zuständig!)
Michael Roth (Heringen) (SPD):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind bereit, die-
Okay.
(B) sen Europäischen Stabilitätsmechanismus vom Grund- (D)
satz her mitzutragen. Deswegen werden wir dem Antrag
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Bundesregierung auf Einvernehmensherstellung
Bitte schön. heute zustimmen. Aber wir knüpfen unsere Zustimmung
an die Erfüllung bestimmter Erwartungen. Wir erwarten,
Dr. Daniel Volk (FDP): dass die Bundesregierung ihrer Verpflichtung gegenüber
Herr Kollege Roth, ist Ihre Partei bzw. Ihre Fraktion dem Deutschen Bundestag endlich gerecht wird und den
ihrer europäischen Verantwortung dadurch gerecht ge- Bundestag in EU-Angelegenheiten frühestmöglich und
worden, dass sie sich bei den Beschlussfassungen im Zu- umfassend unterrichtet. An dieser Stelle will ich ein
sammenhang mit den Rettungsaktionen im Falle Grie- Dankeschön an den Bundestagspräsidenten aussprechen,
chenlands hier im Hause verantwortungslos enthalten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
hat, oder wie wurde sie ihrer Verantwortung gerecht?
der im Interesse aller im Deutschen Bundestag vertrete-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nen Parteien deutlich gemacht hat, dass das Armutszeug-
der CDU/CSU – Gerd Bollmann [SPD]: Ste- nis, das sich die Bundesregierung beim sogenannten
hen bleiben, bitte!) Pakt für Wettbewerbsfähigkeit selbst ausgestellt hat,
nicht der Maßstab im Hinblick auf ihre Pflichten zur Un-
Michael Roth (Heringen) (SPD): terrichtung des Bundestages sein kann und darf.
Lieber Herr Kollege, da fragen Sie den Falschen. Ich
habe der Griechenland-Hilfe nämlich zugestimmt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Und In allen Hauptstädten und allen EU-Institutionen wird
Ihre Fraktion?) über einen Pakt für Wettbewerbsfähigkeit diskutiert, und
die Medien berichten breit darüber. Aber die Bundesre-
Ich habe aber großes Verständnis für meine Fraktion, die gierung stellt sich hin und sagt: Wir können Ihnen keine
es sich in dieser Frage nicht leicht gemacht hat. Informationen zukommen lassen, weil es diesen Pakt gar
nicht gibt. – Inzwischen gibt es auch einen Pakt für den
(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja, ja! Da war die
Euro. Wir sind am 11. März dieses Jahres erstmals da-
SPD wieder mal gespalten!)
rüber unterrichtet worden. Ich weiß, dass es Kolleginnen
– Mir ist eine aufrechte Position als frei gewählter Abge- und Kollegen in der FDP-Fraktion, aber auch bei CDU
ordneter lieber, und CSU gibt, die mit uns einer Meinung sind. Insofern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11007
Michael Roth (Heringen)
(A) habe ich Ihren Beifall gerade vermisst, liebe Kollegin- durchaus angebracht. Denn diese sagen zu Recht: Es (C)
nen und Kollegen. kann ja nicht angehen, dass nur die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler sowie die Staaten für das aufzukom-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
men haben, was andere verursacht haben, die Gläubiger
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
und Banken aber weitgehend ungeschoren davonkom-
Darüber hinaus sind wir der Auffassung: Der Stabili- men. – Das ist mit unseren Vorstellungen von Solidarität
tätsmechanismus ist notwendig. Auch die Aufstockung in der Europäischen Union auch in Bezug auf den euro-
ist notwendig. Aber dies allein reicht nicht: päischen Stabilitätsmechanismus unvereinbar.
Erstens. Wir brauchen eine angemessene Parlaments- (Beifall bei der SPD)
beteiligung. Wir müssen auch die Lehren aus der verhee-
renden Unterrichtungspolitik der Bundesregierung in Ein Letztes – und das ist für uns als ein wirtschaftlich
den vergangenen Wochen und Monaten ziehen. Ich sehr starkes Land sicherlich nicht ganz einfach –: Auch
appelliere an CDU/CSU und FDP, hier eine interfraktio- die Länder mit einem Leistungsbilanzüberschuss stehen
nelle Verständigung herbeizuführen. Wir sind zu Ge- in der Verantwortung.
sprächen bereit. Wir sollten auch die richtigen Konse- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: In der Tat!)
quenzen aus dem Status quo ziehen. Hier haben Sie uns
auf Ihrer Seite. Es kann nicht angehen, dass die Lohnentwicklung mit
der Produktivitätsentwicklung nicht mehr in ein Verhält-
Zweitens. Wir brauchen nicht nur einen Pakt für den nis zu setzen ist. Es kann für die gesamte Europäische
Euro, sondern auch einen Pakt für Wachstum und soziale Union nicht gut sein, dass die Bundesrepublik Deutsch-
Stabilität. land in den letzten zehn Jahren eine Nettolohnentwick-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) lung von minus 4 Prozent hatte, der EU-Durchschnitt
aber bei rund 20 Prozent Plus liegt. Daher muss deutlich
Eine Konsolidierung kann nur mit nachhaltigem Wachs- werden: Wohlstand und nachhaltiges Wachstum können
tum erfolgreich sein. Ich bin beeindruckt, was die grie- nur erreicht werden, wenn auch die Arbeitnehmerinnen
chische Regierung den Bürgerinnen und Bürgern zuzu- und Arbeitnehmer sowie die sozial Schwächeren von
muten und welch hohen Preis sie dafür zu zahlen bereit diesem Wachstumsmodell profitieren.
ist. Aber wir erkennen doch schon jetzt, dass all die An-
strengungen, die wir in Bundesrat und Bundestag wahr- Insofern erwarten wir von der Bundesregierung eine
scheinlich niemals durchbekämen, nicht ausreichen, um bessere Beteiligung des Parlaments. Wir erwarten, dass
dieses Land aus der Krise zu führen. Sie nicht nur Nein sagen, dass Sie nicht nur zögern und
zaudern, sondern dass Sie in den EU-Institutionen wie-
(B) Insofern darf eine notwendige Konsolidierung nicht der das Maß an Überzeugungsfähigkeit erreichen kön- (D)
zu einer Austeritätspolitik führen, die jegliches Wachs- nen, das Ihre Vorgängerregierungen vorbildlich erreicht
tum hemmt, die die Länder in einen Teufelskreislauf haben. Hier arbeiten Sie weit unter den Möglichkeiten
führt und die diese Länder weiterhin zum sozialen Deutschlands –
Schlusslicht der Europäischen Union werden lässt. Hier
brauchen wir eine andere Politik, die den sozialen Be-
reich in den Blickpunkt nimmt, die Wachstum in den Präsident Dr. Norbert Lammert:
Blickpunkt nimmt und die auch die soziale Stabilität in Herr Kollege, Sie hätten kurz vor – –
den Blickpunkt nimmt.
(Beifall bei der SPD) Michael Roth (Heringen) (SPD):
– und weit unter den Möglichkeiten, die einer deut-
Des Weiteren fordern wir eine Beteiligung der Kri- schen Bundesregierung zustünden.
senverursacher. Deshalb nehmen wir Sie, liebe Bundes-
regierung, beim Wort. In den Schlussforderungen zum Vielen Dank.
Gipfel steht zu lesen, dass die europäische Finanztrans- (Beifall bei der SPD)
aktionsteuer sondiert wird. Wir erwarten einen entspre-
chenden Vorschlag der EU-Kommission. Darüber hinaus
erwarten wir, dass sich die Bundesregierung vorbehalt- Präsident Dr. Norbert Lammert:
los hinter das Ziel einer europäischen Finanztransaktion- Ich wollte Ihnen noch die Gelegenheit einer informel-
steuer stellt und dass diejenigen, die diese Krise maß- len Verlängerung der Redezeit durch Zulassung einer
geblich verursacht haben, stärker in die Pflicht Zusatzfrage zuschustern.
genommen werden, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Nun hat das Wort der Kollege Michael Meister für die
DIE GRÜNEN)
CDU/CSU-Fraktion.
Gleichermaßen brauchen wir eine entsprechende
Gläubigerbeteiligung. Ich gebe es offen zu: Diesbezüg- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
lich sind wir mit unseren Diskussionen in allen Fraktio-
nen noch nicht am Ende angelangt. Hier wäre sicherlich Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
ein bisschen mehr Fürsorge und ein bisschen mehr Sen- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sibilität auch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sollen heute unser Einverständnis
11008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Michael Meister


(A) (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass sie falsch sind, nicht weiter aufrechterhalten soll. (C)
NEN]: Nein, Einvernehmen!) Wir wissen jetzt ja, dass die EZB inzwischen über
70 Milliarden Euro an Staatsanleihen in ihrem Portfolio
zur Änderung der europäischen Verträge zur Errichtung
hat, das inzwischen ein so hohes Risiko trägt, dass das
des europäischen Stabilitätspaktes erteilen. Ich will zu-
EZB-Stammkapital im Dezember verdoppelt werden
nächst einmal feststellen: Wir als Unionsfraktion sind
musste. Damit die EZB wieder eine größere politische
der Meinung, dass wir einen dauerhaft stabilen Euro ha-
Unabhängigkeit erhält, gab es den Vorschlag, dass sie
ben wollen. Dies bedeutet: Wir bekennen uns zum Euro.
durch einen Aufkauf, der durch die EFSF finanziert
Wir bekennen uns zum stabilen Euro, und wir bekennen
wird, von diesen Titeln zum Teil entlastet werden
uns zur Dauerhaftigkeit dieser Währung.
könnte. Das haben Sie unglaublicherweise abgelehnt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sehen Sie es nicht auch so, dass Sie dadurch die fal-
Ich glaube, es ist richtig, dass wir an dieser Stelle So- sche Struktur, dass die EZB ein politischer Player am
lidarität nicht missverstehen, Kollege Roth, indem wir Markt wird, aufrechterhalten, anstatt die politische Un-
sagen: Falsche Strukturen werden wir mit viel Geld dau- abhängigkeit der EZB zu wahren?
erhaft aufrechterhalten.
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hat Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
doch keiner gesagt!) Lieber Herr Kollege Sarrazin, ich bin nicht Mitglied
Vielmehr verstehen wir Solidarität so, dass wir motivie- des EZB-Rates, sondern ich bin Abgeordneter des Deut-
ren und Anreize setzen, damit sich falsche Strukturen zu schen Bundestages, und ich bin fest davon überzeugt,
richtigen Strukturen verändern. Denn dann ist Solidarität dass die Grundsäule unserer europäischen Währung und
nicht mehr erforderlich. Das heißt, wir müssen die Län- die Stabilität, von der ich vorhin sprach, dadurch ge-
der und Staaten ermutigen, das Richtige zu tun. In die- währleistet werden, dass wir als Politik die Unabhängig-
sem Sinne sind wir bereit, Solidarität zu üben, aber keit der Zentralbank wahren.
nicht, indem wir zu einer Transferunion werden und dau- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
erhaft falsche Strukturen mitfinanzieren.
Deshalb habe ich niemals die Empfehlung an den Zen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tralbankrat gegeben, sich in die von Ihnen skizzierte
Ich will hier ausdrücklich sagen, dass an der No-bail- Lage zu bringen. Es ist auch nicht meine Aufgabe als
out-Klausel festgehalten wird und dass sie durch diese politisch Verantwortlicher, Handlungsoptionen der Euro-
Vertragsänderung nicht tangiert wird. Das ist für uns ex- päischen Zentralbank in welcher Weise auch immer zu
(B) trem wichtig. fordern oder zu bewerten. (D)
Das ist mein Verständnis von Unabhängigkeit, und
Präsident Dr. Norbert Lammert: wir als Politiker sollten alles dafür tun, dass wir die Eu-
Herr Kollege Meister, darf der Kollege Sarrazin Ihnen ropäische Zentralbank nicht in eine Lage führen, in der
schon zu diesem frühen Zeitpunkt Ihrer Rede eine Zwi- sie selbst glaubt, etwas tun zu müssen, um den Geldwert
schenfrage stellen? zu stabilisieren.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU): (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Es verwundert mich, dass er so wissbegierig ist, aber NEN]: Genau das haben Sie doch getan!)
ich will ihn nicht hindern. Bitte sehr. Das ist unsere Verantwortung, und dazu tragen wir zum
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ich glaube Beispiel bei – ich sehe den Kollegen Barthle an –, indem
nicht, dass er wissbegierig ist!) wir eine ordentliche Fiskalpolitik in Deutschland betrei-
ben.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vielleicht will er ja gar nichts wissen, sondern Ihnen
etwas mitteilen. Meine Damen und Herren, wir beschließen heute die
Ultima Ratio, und zwar deshalb, weil wir glauben, dass
(Heiterkeit im ganzen Hause) wesentliche Stufen der Prävention vorgeschaltet werden
müssen.
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident, ich muss das hier als Frage formulie- Die erste Prävention ist der Pakt für den Euro. Ich
ren. glaube, dass der Pakt für den Euro richtig ist, weil wir
hier über die Best Practice reden. Wir wollen uns also
hin zum Besten und nicht zum Durchschnitt bewegen,
Präsident Dr. Norbert Lammert: und wir sagen: Er ist offen für jeden, der mitwirken will,
Nein, nicht einmal das. und nicht nur für die Euro-Länder. Ich glaube, dass das
ein guter Ansatz ist, um dafür zu sorgen, dass die einzel-
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nen Volkswirtschaften im Euro-Raum leistungsfähiger
Herr Kollege, Sie haben ja eindrucksvoll davon gere- werden, wodurch Fehlentwicklungen, wie wir sie jetzt
det, dass man falsche Strukturen nach der Erkenntnis, haben, von vornherein präventiv vermieden werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11009
Dr. Michael Meister
(A) Herr Kollege Roth, deshalb ist es richtig, dass wir uns Aber der Bankensektor ist aus dem Ruder gelaufen, und (C)
über die Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Volkswirt- plötzlich musste das nationale Bankensystem gestützt
schaften Gedanken machen. Sie bezieht sich doch nicht werden.
nur auf den Euro-Raum, wie Sie das skizziert haben. Wir
brauchen ein gemeinsames Niveau und müssen viel- Deshalb müssen wir, was die Aufsicht über den Fi-
leicht ein paar Leistungsbilanzüberschüsse abbauen. Un- nanzsektor angeht, eine bessere Regulierung für den
sere Wettbewerber sitzen aber außerhalb Europas. Es Finanzsektor erarbeiten. Sonst wird all das, was wir zu-
stellt sich doch die Frage, inwieweit der Euro-Raum ge- gunsten der Euro-Stabilisierung tun, nicht wirksam sein.
genüber China, den USA und anderen Ländern über- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
haupt wettbewerbsfähig ist. Ich glaube, deshalb ist es der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]:
richtig, dass wir uns zum Besten hin bewegen und an der Gute Idee!)
Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.
– Ja, das machen wir auch. Wir haben die europäische
Wir haben ein riesiges Problem hinsichtlich der De- Aufsicht installiert. Sie ist mittlerweile in Arbeit. Wir
mografie und arbeiten in Deutschland daran. Das ist sehr sind auch dabei, entsprechende Aufsichtsregeln und Re-
schwierig und tut uns sehr weh, weil die Sozialsysteme geln für das Finanzsystem zu entwickeln. Ich glaube, wir
tangiert werden. Ich glaube aber, dass wir die Frage be- sind auf einem guten Weg, und es ist vernünftig, das ge-
antworten müssen, wie wir im Sinne einer vernünftigen meinsam zu tun. Denn niemand von uns hat das, was
Solidarität dauerhaft leistungsfähige, nachhaltige Sozial- jetzt eingetreten ist, vorhergesehen.
systeme in Europa haben können. Das ist doch eine ver-
nünftige Aufgabe, die wir im Sinne einer besseren Situa- Wir kommen nun zu dem eigentlichen Punkt, dem
tion für unsere Volkswirtschaften gemeinsam angehen ESM. Ich stelle ihn deshalb ans Ende, weil er kein Re-
sollten. Deshalb ist der Pakt für den Euro ein richtiger gelwerk sein soll, das wir regelmäßig zur Stabilisierung
Schritt der Prävention. des Euro einsetzen, sondern die Ultima Ratio. Ja, wir
wollen einen dauerhaften, festen Mechanismus schaffen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) aber wir wollen nicht, dass er dauerhaft in Anspruch ge-
Zweitens. Wir leisten Prävention, indem wir den nommen wird. Vielmehr wollen wir erstens vermeiden,
Maastricht-Vertrag endlich wieder stärken. 2003/2004 dass er in Anspruch genommen wird, und zweitens soll
wurde er bedauerlicherweise massiv geschwächt, und er, wenn er in Anspruch genommen wird, das Land nach
zwar indem Deutschland plötzlich zu Konsequenzen ge- kurzer Zeit wieder in die Lage versetzen, ohne ihn aus-
drängt wurde, die sich aus dem Maastricht-Vertrag erga- zukommen.
ben. An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir den Vertrag Deshalb wollen wir Voraussetzungen schaffen, die
(B) wieder stärken, indem zum Beispiel das Kriterium Ge- dem Problem des Landes gerecht werden und eine Ge- (D)
samtschulden stärker in den Fokus rückt. Wir müssen fährdung der gesamten Euro-Zone vermeiden. Wir for-
von politischen Einflüssen wegkommen hin zu einem dern aber auch harte Auflagen für das jeweilige Land,
quasi automatischen Entscheidungsverfahren, bei dem sich einem Anpassungsprogramm zu unterziehen. Ich
Politik eine weniger große Rolle spielt. glaube, dass das der richtige Ansatz ist, um dieser Ziel-
Wir müssen aber auch unsere Vorbildrolle ausbauen. setzung genügen zu können.
Statt von anderen ein besseres Verhalten zu fordern, Eine letzte Bemerkung: Wir haben dafür Sorge getra-
müssen wir von uns selbst ein besseres Verhalten im gen, dass sich kein Automatismus entwickeln kann. Der
Sinne der Fiskalpolitik einfordern. Das ist die Aufgabe, Stabilitätsmechanismus kann nur mit unserer Zustim-
vor der wir stehen. Dazu bekennen wir uns auch. mung aktiviert werden. Auch das halte ich für wichtig
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und richtig.
neten der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich glaube, es ist auch notwendig, dass wir für die neten der FDP)
einzelnen Länder mehr Transparenz schaffen, damit frü- Ich freue mich – erlauben Sie mir, abschließend da-
her erkennbar wird, ob ihre Entwicklung gut oder weni- rauf hinzuweisen, dass ich das toll finde, Herr Roth –,
ger gut ist, damit die Kapitalmärkte viel früher über die dass Sie angekündigt haben, dem ESM zustimmen zu
Zinsfestlegung der Risikolage des Landes entsprechend wollen. Ich halte es für gut, wenn wir in Deutschland
positives oder weniger positives Verhalten adäquat be- eine möglichst breite parlamentarische Basis dafür ha-
werten. Denn dann werden die jeweiligen Regierungen ben.
viel früher ihren Kurs ändern müssen, statt auf eine Not-
lage zuzusteuern, wie wir sie in Griechenland oder Ir- Wir sprechen heute über das Außenverhältnis der
land erlebt haben. Bundesrepublik Deutschland zur Europäischen Union.
Dazu geben wir heute eine Stellungnahme ab.
Wenn ich von Irland spreche, will ich einen weiteren
Punkt nennen, der in dieser Debatte bisher nicht vorge- Wir haben zu klären, wie wir die Diskussionen in
kommen ist, der aber zwingend dazugehört. Sie haben es Deutschland selbst führen. Dabei stellt sich die Frage,
kurz angesprochen. Ich glaube, es reicht nicht, den Blick wie stark wir den Deutschen Bundestag an den Entschei-
allein auf die Fiskalpolitik und den Maastricht-Vertrag dungen, die zu treffen sind, beteiligen. Diese Diskussion
zu richten. In Irland war das alles in Ordnung. Auch die müssen wir aber nach innen führen. Ich bin der Mei-
volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit war gegeben. nung, dass wir bei solch grundlegenden Entscheidungen
11010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Michael Meister


(A) unser Parlament mit einbeziehen. Dafür werden wir ob sie das am Schluss bezahlt bekommt. Mittlerweile (C)
Sorge tragen. Ich freue mich auf die Debatte, die wir ge- weiß sie, dass sie genau so wie vorher weitermachen
meinsam führen werden. kann. Der Steuerzahler zahlt es, und Sie heben heute
wieder für so ein Geschäft die Hand.
Vielen Dank.
Wie oft haben wir – Michael Roth hat angesprochen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dass wir auch das Soziale mitdenken müssen – als Linke
im Bundestag gesagt, dass uns der Lissabon-Vertrag
Präsident Dr. Norbert Lammert: keine Antwort auf solche Fragen gibt? Wie oft haben wir
Nur zur Erläuterung: Ich bitte um Nachsicht, dass ich gesagt: Wenn wir das Soziale mitdenken müssen, brau-
nach Überschreiten der vorgesehenen Redezeit nicht chen wir zum Beispiel auch die soziale Fortschrittsklau-
auch noch Zwischenfragen aufrufe. Ich glaube, das ver- sel? Immer hieß es, wir könnten die Verträge nicht ver-
steht sich unter dem Gesichtspunkt des beschlossenen ändern. Jetzt werden die Verträge verändert, ohne das
Zeitmanagements im Ergebnis von selbst. Soziale mitzudenken.
Nächster Redner ist der Kollege Alexander Ulrich für (Dr. Eva Högl [SPD]: Wir fordern das aber! –
die Fraktion Die Linke. Zurufe von der FDP)
(Beifall bei der LINKEN) Heute Nachmittag haben wir die Chance gehabt, die
soziale Fortschrittsklausel zu beschließen. Die Allpartei-
Alexander Ulrich (DIE LINKE): enkoalition des Lissabon-Vertrags hat heute Mittag mit
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Nein gestimmt. Michael Roth, die SPD sollte sich schä-
nehme es vorweg: Die Linke wird dem vorliegenden An- men, dass man vor der Europawahl den Gewerkschaften
trag nicht zustimmen, die Hand für eine soziale Fortschrittsklausel gereicht hat
und heute dagegen stimmt.
(Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Verpasste
Chance!) (Zuruf des Abg. Michael Roth [Heringen]
[SPD])
weil wir damit zum wiederholten Male nicht die Ursa-
chen der Krise angehen, sondern wieder nur ein einziges Das ist diese unglaubwürdige Politik. Es war wieder
Symptom falsch behandeln. einmal Wählerbetrug von der SPD und von den Grünen
beim Thema der sozialen Fortschrittsklausel.
Es ist schon fast absurd, Herr Meister, wenn Sie sa-
gen: Wir wollen keine Transferunion. – Irgendwann (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(B) müssen doch auch Sie einsehen: Wenn Deutschland dau- Michael Stübgen [CDU/CSU]) (D)
erhaft immense Außenhandelsüberschüsse erwirtschaf- Nun geht es wieder um eine Vertragsänderung, die
tet, dann ist in der Europäischen Union eine Transfer- nicht dazu dient, die EU sozialer zu machen, sondern
union unumgänglich. Das zu verschweigen und immer dazu, einen dauerhaften Bankenrettungsplan einzufüh-
wieder so zu tun, als wäre es nicht so, ist tatsächlich ein ren. An den Beispielen Irland und Griechenland kann
Märchen. Aber daran glaubt fast niemand mehr. man jetzt schon sehen, wer für diese Bankenrettung im-
(Beifall bei der LINKEN) mer wieder aufs Neue bezahlt:
Es geht auch nicht darum, dass wir tatsächlich die Ur- (Zuruf von der CDU/CSU: Der deutsche Steu-
sachen bekämpfen. Es geht einmal mehr darum, dass wir erzahler!)
die Märkte beruhigen sollen. Ich kann mich gut daran die Steuerzahler, die Beschäftigten, die Arbeitslosen, die
erinnern, dass der Herr Finanzminister im Europa- Rentnerinnen und Rentner, Studierende und Kinder. Die
ausschuss gesprochen hat. Dabei war folgende Aussage Profiteure der Krise müssen weiterhin nichts zahlen. Da
wesentlich: Wir müssen das tun, um die Märkte zu beru- haben manche Vorredner das Richtige gesagt, aber es
higen. werden keine Maßnahmen ergriffen, mit denen man das
Das zeigt im Prinzip, dass wir aus der Krise nichts ge- ändern kann.
lernt haben. Die Märkte können weiterhin Staaten vor An die Bundesregierung gerichtet sage ich: Es ist ge-
sich hertreiben. Sie können weiterhin ihre Spielchen an radezu absurd, dass die gute Idee einer europäischen
den Börsen treiben. Und wir wollen mit so einem Instru- Wirtschaftsregierung von der Bundeskanzlerin derart
ment etwas verändern? Nein, im Gegenteil: Sie werden pervertiert wird, wie es im Zusammenspiel mit Frank-
sich auch in Zukunft Wege suchen, um die einzelnen reich geplant ist – oder auch nicht.
Länder gegeneinander auszuspielen und den Euro zu
schwächen, um ihre Börsengeschäfte zu machen. Jeder (Zuruf von der FDP: Oder auch nicht? –
seriöse Banker, mit dem man sich unterhält, sagt auch, Nein!)
dass das alles nur Sonntagsreden gewesen seien, die
Wie kommt man auf die Idee zu glauben, die deut-
auch Sie im Bundestag immer wieder verbreitet haben,
als sich die Finanzkrise zu einer Wirtschaftskrise entwi- schen Rezepte seien europaweit erfolgreich einzusetzen?
ckelt hat, dass es genau so weitergehe wie vorher. Glaubt denn jemand wirklich, dass sich der Euro stabili-
sieren wird, wenn man Menschen in ganz Europa jetzt
Im Gegenteil: Das ist falsch. Es geht nicht genau so empfiehlt, bis 70 zu arbeiten? Glaubt denn wirklich je-
wie vorher weiter. Vorher wusste die Finanzwelt nicht, mand, dass man in ganz Europa empfiehlt, mit Steu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11011
Alexander Ulrich
(A) erdumpingprozessen den Euro zu stabilisieren? Glaubt in Zukunft sogar verstärkt bekämpfen, weil sie nicht der (C)
denn jemand wirklich, dass mit Sozialabbau die Wachs- Weg ist, der Europa voranbringt.
tumskräfte entfaltet werden können? Glaubt denn
jemand wirklich, dass man mit einem Import von unge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sicherten Arbeitsverhältnissen, Leiharbeit und Niedrig- sowie bei Abgeordneten der SPD)
lohnbereichen Wachstumskräfte entfalten kann? Wir sind für die Einführung eines europäischen Stabi-
Wer diese Rezepte in eine europäische Wirtschaftsre- litätsmechanismus. Warum? Schauen Sie sich einmal das
gierung einbringen kann, wird die Krise auf eine Art und vergangene Jahr an. Niemandem von Ihnen ist vorzu-
Weise verschärfen, die wir bisher nicht kennen. Die werfen, wenn er dazulernt. Aber wenn man das Gerede
Krise wird nicht beendet werden, sondern die Reichen der Koalition der letzten Monate mit dem vergleicht,
werden reicher, und die Armen werden ärmer. Griechen- was Sie heute hier beschließen, dann muss ich sagen,
land, Portugal, Irland und andere Länder werden nie ihre dass ich es schon dreist finde, dass Sie nicht einmal den
Probleme beseitigen können. Mut haben, hier zu bekennen: Wir haben dazugelernt,
weil wir dazulernen mussten.
(Zuruf von der LINKEN: So ist es!)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Ich komme zum Schluss: Die Linke lehnt die vorge- DIE GRÜNEN und der SPD)
legte Vertragsänderung ab. Wir erwarten, dass wir euro-
paweit an die Ursachen der Krise gehen. Dazu gehört Ich erinnere an das nationale Geschrei gegen Griechen-
auch, dass wir endlich das Thema umsetzen, über das land, das Ausschließen eines permanenten Schirms und
Herr Schäuble immer sagt, er würde dafür kämpfen: die vieles mehr. Herzliche Glückwünsche, Kollegen, Sie
Finanztransaktionsteuer. Das ist auch nur Placebopolitik. sind zurück in der Realität. Aber auch: Willkommen zu-
Die Bundesregierung kämpft nicht dafür. Das wäre je- rück in Europa.
doch eine wesentliche Maßnahme, um die Märkte tat- (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Haben Sie
sächlich zu beruhigen. Denn Zocker müssen endlich ru- nicht auch dazugelernt, Herr Sarrazin?)
higgestellt werden, aber diese Bundesregierung reicht
ihnen weiterhin die Hand. – Ich gebe zu: Ich habe viel im letzten Jahr dazugelernt.
Ich möchte einmal von Ihnen hören, dass das, was Sie
Vielen Dank. heute beschließen, zum Glück nichts mehr mit dem zu
(Beifall bei der LINKEN) tun hat, was vor einem Jahr von den Kollegen der FDP-
Fraktion und von Herrn Schlarmann erzählt wurde. Ge-
ben Sie das doch einfach zu.
(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
Das Wort erhält nun der Kollege Manuel Sarrazin für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Aber seien wir ganz ehrlich: Könnten wir uns eigent-
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lich vorstellen, dass ein Scheitern des Euro sinnvoll sein
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- könnte? Könnten wir, Grüne und SPD, uns vorstellen,
ren! Wir Grüne stimmen dem vorgelegten Antrag über dass der Bundestag die Rolle der Bundesregierung aus
die Einvernehmensherstellung von Bundestag und Bun- dem Frühjahr 2010 wiederholt? Nein. Ihr ewiges Zögern
desregierung zur Ergänzung von Art. 136 AEUV zu. Wir war teuer genug für Deutschland und Europa. Deswegen
befürworten die Einführung einer Rechtsgrundlage für werden wir diese Rolle von Ihnen hier nicht wiederho-
einen permanenten Notfallschirm für den Euro. Dass mit len.
dieser Änderung nicht die Union, sondern die Staaten er-
mächtigt werden, halten wir nicht für die beste Lösung. (Mechthild Dyckmans [FDP]: Hören Sie doch
Wir Grüne hätten uns eine europäische Lösung ge- auf, zu schreien!)
wünscht, vor allem weil wir damit die maßgebliche Kon- Ihre Politik hat genug Porzellan zerschlagen. Oftmals
trolle des Europäischen Parlaments über diese Institution reden Sie von deutschen Interessen, aber Sie wahren da-
ermöglicht hätten. bei nicht einmal deutsche Interessen. Nehmen wir das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beispiel, das gerade genannt wurde, nämlich dass die
sowie bei Abgeordneten der SPD) EZB inzwischen ein massives Interesse daran hat, Staa-
ten aufrechtzuerhalten, damit sie nicht zusammenbricht,
Aber weil sich die Regierungen – leider auch diese weil sie einen hohen Anteil von Anleihen aufgekauft hat.
Bundesregierung – von Anfang an geweigert haben, der Nehmen wir die Frage der Gläubigerbeteiligung, die
EU mehr Kompetenzen zu geben, ist die vorliegende Herr Schick gerade dargestellt hat. Auch in diesen Punk-
Änderung der Weg, den wir gehen müssen. Auch wir ge- ten vertreten Sie weiterhin ideologische Positionen, die
hen ihn mit. Es ist nicht der beste Weg, aber in dieser Si- Lösungen verhindern. Das kann man Ihnen immer noch
tuation der bestmögliche. vorwerfen.
Damit Ihnen das ganz klar ist: Wir billigen damit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
nicht Ihren Weg einer Renationalisierung europäischer Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Wir haben
Entscheidungen, wir billigen damit nicht Ihre neue Liebe die Ideologie der Unabhängigkeit der EZB!
für die Unionsmethode, und wir werden diese Methode Das ist wohl wahr!)
11012 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Manuel Sarrazin
(A) Wir haben darüber hinaus in den letzten Monaten be- wofür aus meiner Sicht eine Ratifizierung gemäß Art. 59 (C)
merkt, wie Sie den Deutschen Bundestag behandelt ha- Abs. 2 Grundgesetz durch den Deutschen Bundestag
ben. Der Bundestag – das ist dokumentiert – wurde wie- notwendig gewesen wäre.
derholt gesetzeswidrig seiner Informationsrechte
Um unsere grundsätzliche Zustimmung zur EFSF und
beraubt. Die Bundesregierung muss aufhören, sich nicht
um auch unsere grundsätzliche Zustimmung zu diesen
an das EUZBBG zu halten und es sogar noch offenkun-
weitgehenden Kompetenzen zu dokumentieren sowie
dig durch die Konstruktion einer Lex specialis – § 5
um auf das Versagen der Bundesregierung, die Ratifika-
Abs. 4 EUZBBG – falsch zu interpretieren. Wir sagen:
tion durch den Bundestag einzuholen, hinzuweisen, ha-
Verbessern Sie das, ansonsten werden wir Probleme ha-
ben wir kurz vor der Sommerpause im letzten Jahr den
ben, künftig noch die wichtigen europäischen Entschei-
EFSF-Rahmenvertrag als Entwurf eines Zustimmungs-
dungen so verfassungsfest durch dieses Haus zu bringen,
gesetzes in den Deutschen Bundestag eingebracht. Das
dass auch Karlsruhe sie akzeptieren kann.
heißt, wir haben den Deutschen Bundestag gebeten, den
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sie haben Vertrag zur Schaffung des Fonds „Europäische Finanz-
doch bis jetzt auch nicht zugestimmt!) Stabilitäts-Fazilität“ mit Sitz in Luxemburg zu ratifizie-
ren, und Sie haben das abgelehnt. Werfen Sie uns nicht
– Was wollten Sie? Stellen Sie doch eine Zwischenfrage.
vor, wir hätten uns nicht getraut, uns hinzustellen und zu
(Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU] mel- sagen: Wir stehen zum Rettungsschirm. – Aufgrund Ih-
det sich zu einer Zwischenfrage) rer Schluderei hatten wir zunächst formale Gründe für
unsere Ablehnung. Wir haben noch versucht, Ihnen eine
– Jetzt kommt sie, wunderbar. – Können Sie, Herr Präsi- goldene Brücke zu bauen, und Sie haben die Möglich-
dent, die Zwischenfrage bitte während der nächsten keit ausgeschlagen, darüberzugehen.
25 Sekunden aufrufen?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich komme zum Schluss. Ein Bundeskanzler sagte
Das Bestellen von Zwischenfragen sieht die Ge- einmal:
schäftsordnung eigentlich nicht vor. Aber bei meiner
sprichwörtlichen Liberalität wollen wir das einmal aus- Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie
probieren. wurde eine Hoffnung für viele. Sie ist heute eine
Notwendigkeit für alle.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP) Das sagte Konrad Adenauer 1963. Wenn Sie, verehrte
Damen und Herren von der Koalition, im Jahre 2011
(B) wieder einen europapolitischen Kurs beschreiten wollen, (D)
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): der Deutschland gerecht wird, dann folgen Sie den An-
Herr Präsident, ich habe der Geschäftsordnung ent- trägen von SPD und Grünen.
nommen, dass man auch Zwischenbemerkungen machen
darf. Darauf haben Sie ja hingewiesen. Danke sehr.
Herr Kollege Sarrazin, wie kommen Sie eigentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dazu, uns so schulmeisterlich zu belehren? Schließlich und bei der SPD – Gunther Krichbaum [CDU/
haben Sie noch nicht einmal dem bisherigen Rettungs- CSU]: Da ist ja St. Pauli noch erfreulicher!)
schirm zugestimmt. Wie kommen Sie angesichts Ihrer
bisherigen Verweigerung dazu, uns in Aussicht zu stel- Präsident Dr. Norbert Lammert:
len, an praktischer Europapolitik mitzuwirken? Geben Das Wort erhält der Kollege Thomas Silberhorn für
Sie dafür doch einmal eine Erklärung ab. die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- neten der FDP)
NEN]: Ganz dünn!)
Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Sehr geehrter Herr Wadephul, unsere Fraktion hat Herren! Die Kollegen Michael Roth und Manuel
dem Euro-Rettungsschirm damals nicht zustimmen kön- Sarrazin haben uns gerade mit starken Worten erklärt,
nen, was notwendig wäre, um Deutschland auf den richtigen
europapolitischen Kurs zu bringen,
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah!)
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nicht
weil eine Mehrheit kritisierte, dass kein Rahmenvertrag
Deutschland, Sie!)
vorliege und damit die Handlungsgrundlage nicht klar
sei. Aus meiner persönlichen Sicht war das damals nicht und dass sie sich selbst für gute Europäer halten; aber
ganz richtig. Als uns aber der Rahmenvertrag vorgelegt leider haben sie sich jeweils in ihrer eigenen Fraktion
wurde, hatte sich die historische Situation insofern wei- nicht durchsetzen können.
terentwickelt, als, um das Triple-A-Rating zu erhalten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dem Direktorium der EFSF weitgehende Kompetenzen
zugebilligt werden mussten – aus meiner Sicht zu Recht –, So kann man Europapolitik nicht betreiben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11013
Thomas Silberhorn
(A) Wir beraten heute einen Antrag, der, soweit ich das Deswegen plädiere ich nach wie vor dafür, dass wir (C)
überblicken kann, erstmals ein Verhandlungsmandat für Regelungen für eine Umstrukturierung von Staaten und
die Bundesregierung formuliert, bevor die Bundeskanz- eine Umschuldung von Banken schaffen, wenn es denn
lerin zum Europäischen Rat, also zum Treffen der EU- nicht anders geht. Eine solche Umschuldung würde auch
Staats- und Regierungschefs, reist. Ich finde, das ist stil- bedeuten, dass man eine Gläubigerbeteiligung ermög-
bildend. Das steht dem Bundestag gut zu Gesicht. Das licht. Denn es ist schon schwer vermittelbar, dass wir mit
macht deutlich, dass wir als Parlamentarier selbstbe- Steuermitteln das Risiko von denen übernehmen, die mit
wusst unserer Verantwortung nachkommen. Staatsanleihen hohe Zinserträge erwirtschaftet haben,
während diese Gläubiger selbst keinen angemessenen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
Wir warten nicht einfach ab, was der Regierung, die wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
natürlich schätzen und die wir unterstützen, am Verhand- der FDP – Michael Roth [Heringen] [SPD]:
lungstisch einfällt, um es hinterher abzunicken, sondern Sehr gut! Sehen wir genauso!)
wir formulieren im Vorhinein unsere Erwartungen. Wir
legen Maßgaben fest; so heißt es in diesem Antrag. Wir Ich sage: Wer hohe Risiken eingeht, um damit hohe Zins-
unterstützen damit ausdrücklich die Verhandlungslinie erträge zu erwirtschaften, der muss dann, wenn sich
der Bundesregierung. Wir setzen ihr zugleich höflich, diese Risiken realisieren, auch mithaften. Das müssen
aber bestimmt Grenzen. Ich denke, das ist ein guter wir umsetzen.
Kurs. Das sollten wir auch künftig beibehalten, wenn es
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
um die Verhandlung europäischer Verträge geht.
SPD und der FDP – Michael Roth [Heringen]
Die geplante Vertragsänderung und die Errichtung [SPD]: Da können wir auch klatschen!)
des Europäischen Stabilisierungsmechanismus sind ein
Schließlich geht es darum, dass der Deutsche Bundes-
Konstrukt, das wir nochmals sehr genau überdenken
tag seine Beteiligungsmöglichkeiten wahrt und sich aus-
müssen, spätestens dann, wenn es um die Beantwortung
reichende Beteiligungsrechte sichert, wenn dieser Euro-
der Frage geht, wie das mit dem vertraglichen Verbot der
päische Stabilisierungsmechanismus errichtet werden
Schuldenübernahme zu vereinbaren ist; das Verbot der
soll bzw. er im konkreten Einzelfall aktiviert werden
Schuldenübernahme soll ja ausdrücklich nicht angetastet
soll. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass in jedem Fall ei-
werden.
ner Finanzhilfe der Deutsche Bundestag angemessen be-
Deshalb bin ich persönlich gegen den Ankauf von teiligt werden muss.
Staatsanleihen, weil nach meiner Bewertung ein Ankauf
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) von Staatsanleihen bedeutet, dass man neue Schulden NEN]: „Angemessen beteiligen“ ist interes- (D)
übernimmt und dass aus nationalen Schulden verge-
sant!)
meinschaftete europäische Schulden werden.
Über die Einzelheiten werden wir uns unterhalten.
Deswegen stelle ich zumindest die Frage, weshalb der
Aber das muss Kern der Diskussion der nächsten Tage
Ankauf von Staatsanleihen nach Auffassung der Bun-
sein, die wir fraktionsübergreifend führen sollten.
desregierung keine Schuldenübernahme sein soll. Ich
stelle die weitere Frage, wann nach Auffassung der Bun- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
desregierung denn dann überhaupt eine Übernahme von
Schulden vorliegen soll. Wenn man das Verbot der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Schuldenübernahme so interpretiert, dass nur dann,
Herr Kollege Silberhorn, erlauben Sie zum Schluss
wenn Schulden realisiert werden, sie auch übernommen
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Schick?
werden, dann wäre diese Regelung doch ziemlich ausge-
höhlt. Deswegen müssen wir noch einmal gut überlegen,
ob das der richtige Schritt ist. Thomas Silberhorn (CDU/CSU):
Sehr gern.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn wir Bitte schön, Herr Schick.
über diesen Stabilisierungsmechanismus Finanzhilfen
gewähren, dann kann das natürlich nur dann Sinn ma-
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
chen, wenn die berechtigte Erwartung besteht, dass ein
Staat, dem geholfen wird, auch wieder auf die Füße Herr Kollege, ich habe vorhin schon einmal versucht,
kommt, dass er selbst wieder am Finanzmarkt Kapital beim Kollegen von der FDP-Fraktion herauszufinden,
erhalten kann, dass er wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wie denn angesichts der Haltung zur Gläubigerbeteili-
zurückgewinnt. Wenn das alles nicht mehr gelingt, wenn gung, die Sie gerade beschrieben haben und die ich auch
absehbar ist, dass ein Staat seine Schulden dauerhaft teile, Sie die Position der europäischen Regierungen und
nicht tragen kann, dann muss auch eine Umschuldung meines Wissens auch der Bundesregierung einschätzen
möglich sein. und bewerten, dass die Gläubiger irischer Banken gerade
nicht beteiligt werden, sondern dass das Petitum der iri-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schen Regierung bisher nicht positiv beantwortet worden
der FDP) ist, die Gläubiger irischer Banken beteiligen zu können.
11014 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Gerhard Schick


(A) Zum Hintergrund. Wenn wir die Gläubiger dieser erreicht werden, dass ein permanenter Stabilitätsmecha- (C)
Banken beteiligen, sinkt die Last für den irischen Staat. nismus für die 17 Euro-Länder geschaffen wird. Zwar
Damit sinkt das Risiko, dass der deutsche Steuerzahler hat die Wirtschafts- und Finanzkrise die Einrichtung die-
im Falle Irlands zur Kasse gebeten wird. ses Mechanismus beschleunigt; gleichwohl – jetzt bitte
zuhören, Herr Roth! – geht es um weit mehr als einen
Dass das nicht getan worden ist, leuchtet mir nicht ein bloßen Mechanismus. Es geht darum, die EU zukunfts-
angesichts der Grundposition, die Sie jetzt noch einmal fähig zu machen und für dauerhafte Stabilität zu sorgen.
vorgetragen haben. Wir haben für die 27 EU-Staaten bereits einen einheitli-
chen Binnenmarkt und werden ab Mai dieses Jahres
Thomas Silberhorn (CDU/CSU): auch einen einheitlichen Arbeitsmarkt haben. 17 Staaten
Herr Kollege, ich stehe hier, um meine Position dar- haben eine einheitliche Währung. Diese Währung – das
zulegen. Deswegen erkläre ich nochmals mit Nachdruck, kann man nicht oft genug betonen – gilt es stabil zu hal-
dass ich es für richtig und für notwendig halte, dass ten.
dann, wenn mit Steuermitteln ausgeholfen wird, damit
ein Teilverzicht von Gläubigern auf ihre Forderungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einhergehen muss. Das ist am Ende nur auf europäischer neten der FDP)
Ebene verhandelbar und entscheidbar. Von einer instabilen Währung wären alle Bürger betrof-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fen, sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern.
der FDP) Die Kaufkraft der Währung muss erhalten bleiben, damit
die Bürger für ihr verdientes Geld bei stabilen Preisen ei-
Ich muss als Parlamentarier aber doch dieses Interesse nen adäquaten Gegenwert bekommen.
formulieren dürfen. Schön, dass wir da einer Meinung
sind. Vieles wurde schon gesagt; das werde ich in meiner
Rede nicht mehr ansprechen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Beteili-
gung des Bundestages sagen. Es geht nicht nur um die Ein Grundproblem ist, dass nahezu alle europäischen
Errichtung und die Aktivierung dieses Europäischen Sta- Staaten seit Jahren mehr ausgegeben haben, als sie ein-
bilisierungsmechanismus. Wir müssen im Zusammen- genommen haben, wodurch sie drastische Schulden-
hang damit nochmals unsere Beteiligung an der bereits berge angehäuft haben.
etablierten Europäischen Finanz-Stabilisierungs-Fazili- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
tät überdenken. Wir müssen auch im Blick behalten,
dass die Vertragsänderung eine recht unbestimmte For- Eine Verkleinerung der Schuldenberge öffnet die Sicht
(B) mulierung beinhaltet, die erst dann bestimmbar wird, auf eine zukunftsorientierte Politik. Eine solche Politik (D)
wenn es konkret um Finanzierungshilfen geht. Deswe- brauchen wir.
gen ist hier eine Beteiligung des Bundestages notwen- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dig. NEN]: Mit Zukunft für Zukunft!)
Lassen Sie uns auch beim Pakt für den Euro für eine Insofern ist es sehr zu begrüßen, dass mit den Beschlüs-
angemessene Beteiligung des Bundestages sorgen. Denn sen des Europäischen Rates folgendes Ziel formuliert
wenn die Bundesregierung sich in Brüssel mit den ande- wurde: Alle müssen einen weiteren Beitrag zur langfris-
ren Partnern in Bereichen koordinieren will, die in die tigen Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen leisten.
nationale Zuständigkeit fallen, dann ist das einerseits Damit werden die Staaten gezwungen, sich den Kern-
eine Selbstverpflichtung der Bundesregierung, anderer- problemen der öffentlichen Haushalte zu widmen. Die
seits wird sie damit aber auch die Erwartung verbinden, größten Ausgabeposten und damit die größten Probleme
dass der Deutsche Bundestag nachvollzieht und umsetzt, der öffentlichen Haushalte sind: Rente, Arbeitsmarkt,
was als Ergebnis dieser Koordination auf europäischer Krankenversicherung und teilweise auch der Finanz-
Ebene herausgekommen ist. Das erfordert, dass der markt.
Deutsche Bundestag im Vorhinein ausreichend infor-
miert und angemessen beteiligt wird. Die anderen europäischen Länder, insbesondere dieje-
nigen mit schrumpfender Bevölkerung, haben fast alle
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. mit diesen Problemen zu kämpfen. Wenn wir uns zu-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) künftig an einem Stabilitätsmechanismus beteiligen, ist
es nur folgerichtig, dass in anderen Ländern keine Be-
dingungen herrschen dürfen, die dann im Grunde auf un-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
sere Kosten gehen.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt die Kollegin Bettina Kudla von der CDU/CSU- Nun zum Stabilitätsmechanismus selbst. Die detail-
Fraktion das Wort. lierte Ausgestaltung des künftigen ESM wird in Kürze
im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens durch den
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundestag zu beschließen sein. Die inhaltlichen Eck-
punkte zum ESM sind in dem Antrag der Regierungs-
Bettina Kudla (CDU/CSU): fraktionen festgelegt. Zwei Punkte wurden jetzt mehr-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen fach angesprochen. Den Ankauf von Staatsanleihen auf
und Herren! Mit der vorliegenden Vertragsänderung soll dem Primärmarkt halte ich durchaus für vertretbar; denn
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11015
Bettina Kudla
(A) das ist im Grunde eine Überbrückungsmaßnahme für ei- der Europäischen Union auf Drucksache 17/5094. Ich (C)
nen Staat, der sich am Kapitalmarkt finanzieren will, um informiere darüber, dass dazu zwei persönliche Erklä-
sich über eine kurzfristig schwierige Zeit zu retten. Ein rungen nach § 31 der Geschäftsordnung vorliegen, die
Ankauf auf dem Sekundärmarkt wäre keinesfalls vertret- wir zu Protokoll nehmen.1)
bar.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) empfehlung, die Annahme des Antrages der Fraktionen der
Zur Gläubigerbeteiligung – auch dieses Thema wurde CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/4880 mit dem
schon angesprochen –: Wenn man Gläubiger zu einem Titel „Einvernehmensherstellung von Bundestag und
zu frühen Zeitpunkt beteiligen würde, dann würde es un- Bundesregierung zur Ergänzung von Artikel 136 des
ter Umständen eine Kettenreaktion im Bankensektor ge- Vertrages über die Arbeitsweise des Europäischen
ben, die zu entsprechenden Verwerfungen führt. Deswe- Union (AEUV) hinsichtlich der Einrichtung eines Euro-
gen ist es richtig, dass ab Mitte 2013 entsprechende päischen Stabilitätsmechanismus (ESM) – hier: Stel-
Klauseln in Anleihen aufgenommen werden, damit sich lungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23
die Gläubiger und andere Marktteilnehmer auf eine Abs. 3 GG …“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
eventuelle Beteiligung einstellen können. Dann wird die lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
Lage auf dem Kapitalmarkt stabil bleiben. schlussempfehlung ist angenommen.

Was unseren eigenen Beitrag zum ESM betrifft: Wir Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
werden wie auch andere Staaten Bürgschaften in enor- der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion
mer Höhe ausstellen und gegebenenfalls auch Einzah- der SPD auf Drucksache 17/4881 mit dem Titel „Her-
lungen in die künftige Stabilitätsgesellschaft vornehmen. stellung des Einvernehmens bezüglich der Ergänzung
Ein Ausreichen von Geldern aus dieser Gesellschaft von Art. 136 AEUV zur Einrichtung eines Europäischen
wird aber nur als Ultima Ratio unter strengsten Bedin- Stabilitätsmechanismus (ESM) verantwortlich gestal-
gungen und unter der Maßgabe erfolgen – ich glaube, ten“. Zu dem Antrag liegt ein Änderungsantrag der Frak-
das ist der deutliche Unterschied zu den Vorschlägen in tion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer
den Anträgen der Opposition –, dass in erster Linie das stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/5095? –
betreffende Land seine Probleme selber lösen muss. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsan-
trag ist abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wir behaup- tionen und der Fraktion Die Linke bei Zustimmung der
ten doch nichts anderes!) SPD-Fraktion und von Bündnis 90/Die Grünen.
Im Hinblick auf die geäußerte Kritik, dass automati- Damit kommen wir zur Abstimmung über Nr. 2 der
(B) sche Sanktionen fehlen, sei angemerkt: Der Pakt ist so Beschlussempfehlung: Ablehnung des Antrags der Frak- (D)
ausgestaltet, dass ein Land, welches sich unter den Ret- tion der SPD auf Drucksache 17/4881. Wer stimmt für
tungsschirm begibt, weitgehende Eingriffe in seine Sou- diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
veränität hinnehmen muss. Mit Verlaub: Vorschläge in haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen
den Anträgen der Opposition wie Euro-Bonds oder die mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
soziale Fortschrittsklausel hemmen eher das Wirt- tion Die Linke bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
schaftswachstum und schützen die Interessen unserer von Bündnis 90/Die Grünen.
Bürger nicht.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Die von der Bundesregierung durchgesetzte gesetzli- Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/4882 zum Ent-
che Verankerung einer Schuldenbremse auch in anderen wurf eines Beschlusses des Europäischen Rates zur Än-
europäischen Ländern wird maßgeblich zur Trendum- derung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäi-
kehr bei der Verschuldung der Staaten beitragen. Diese schen Union hinsichtlich eines Stabilitätsmechanismus
Trendumkehr muss schnellstmöglich erreicht werden, für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist. Wer
damit sich die Staaten selbst am Kapitalmarkt finanzie- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenstim-
ren können. Wir erwarten diese Trendumkehr in zwei bis men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
drei Jahren. Allerdings ist der ESM dauerhaft angelegt. angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen,
Daher ist es umso wichtiger, dass der Deutsche Bundes- der SPD-Fraktion und von Bündnis 90/Die Grünen ge-
tag in jedem einzelnen Fall entscheiden muss, ob ein gen die Fraktion Die Linke.
Land Hilfe aus der Stabilitätsgesellschaft bekommt.
Auch das haben wir in unserem Antrag vorgesehen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An-
Schönen Dank. trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/4883 mit dem Titel „Herstellung des Einverneh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mens zwischen Bundestag und Bundesregierung zur Än-
derung des Artikels 136 des Vertrages über die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Arbeitsweise der Europäischen Union hinsichtlich eines
Ich schließe die Aussprache. Stabilitätsmechanismus für die Mitgliedstaaten, deren
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten 1) Anlage 11
11016 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Währung der Euro ist“. Wer stimmt für diese Beschluss- Es handelt sich um einen Antrag der SPD, der aus dem (C)
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die April des letzten Jahres stammt. Bevor er jetzt sozusagen
Beschlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen aus Zeitgründen verfällt, hat die SPD-Fraktion ihn noch
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke ge- einmal ins Plenum zurückgeholt.
gen die Stimmen der SPD-Fraktion und von Bündnis 90/
Die Grünen. Er ist allerdings in allen wesentlichen Punkten über-
holt. Vieles stimmte schon nicht, als Sie ihn geschrieben
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: haben. Eigentlich hätten Sie ihn im Ausschuss für erle-
digt erklären müssen, aber Sie konnten sich nicht von
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ihm trennen.
richts des Ausschusses für Gesundheit
(14. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke der CDU/CSU)
Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD Deshalb hören Sie heute noch einmal die Kritik. Im
Ausschuss wurde selbst von den anderen Oppositions-
Qualität und Transparenz in der Pflege konse- fraktionen, von den Grünen und von den Linken, erheb-
quent weiterentwickeln – Pflege-Transparenz- liche Kritik an der Qualität dieses Antrags geübt. Viel-
kriterien optimieren leicht hören wir das alles gleich noch einmal.
– Drucksachen 17/1427, 17/4925 – Kommen wir aber zur Sache selbst. Wir sind uns doch
Berichterstattung: ohnehin alle darüber einig, dass die Transparenz im Pfle-
Abgeordneter Willi Zylajew gebereich noch weiter erhöht werden soll, dass die Pfle-
gebedürftigen und ihre Angehörigen natürlich ein Recht
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die haben, zu erfahren, wo sie gute Pflege erwarten können
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- und wie die einzelnen Einrichtungen einzuschätzen sind,
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- und zwar insbesondere dann, wenn der Pflegefall eintritt.
schlossen. Denn wir wissen, dass das häufig besonders kurzfristig
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- sein kann, dass man von dieser Situation oft überrascht
ner dem Kollegen Heinz Lanfermann von der FDP-Frak- wird, zum Beispiel nach Schlaganfällen. Insofern kann
tion das Wort. Transparenz gar nicht groß genug geschrieben werden.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) Im Übrigen gilt das auch für die Anbieter selbst, denen (D)
Heinz Lanfermann (FDP): wir immer wieder empfohlen haben, von sich aus voran-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- zugehen, auf Transparenz zu setzen, auch weil es natür-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Es ist immer gut, zu lich Wettbewerb gibt. Das ist auch gut so. Die Pflegebe-
späterer Stunde noch einmal über die Pflege zu spre- dürftigen oder ihre Angehörigen, die sich ja meist darum
chen, insbesondere nachdem Gesundheitsminister kümmern, sollen wählen können und sollen insofern als
Philipp Rösler das Jahr 2011 zum Jahr der Pflege erklärt Kunden verstanden werden und nicht als Objekte, die ir-
hat und die Dinge durch die in guter Atmosphäre geführ- gendwie zu versorgen sind. Das Internet bietet zum Bei-
ten Gesprächsrunden, die allseits gelobt werden, auf ei- spiel neue Möglichkeiten, die genutzt werden. Man kann
nen guten Weg gebracht hat. sich erkundigen, welche Angebote denn in der Umge-
bung – das ist meist wichtig – vorhanden sind. Natürlich
Wir werden in diesem Jahr noch öfter über die Pflege war das auch das Ziel, als man die Pflege-Transparenz-
sprechen. Wir werden auch darüber sprechen, wie wir vereinbarung oder – wie man so schön sagt – den Pflege-
den finanziellen und demografischen Herausforderungen TÜV eingeführt hat.
begegnen wollen; auch dies wird ein spannendes Thema
werden. Meine Damen und Herren, gerade auch meine Kolle-
gin von der SPD, natürlich steht der Pflege-TÜV seit sei-
(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE
ner Einführung, insbesondere die Bewertungssystema-
GRÜNEN]: Nach den Wahlen!)
tik zur Berechnung der Noten, in der Kritik. Das kann
Selbstverständlich werden wir auch über Qualitätsver- bei einem neuen System auch nicht verwundern, das
besserungen sprechen. Wir werden außerdem darüber bundesweit unter zum Teil unterschiedlichen Bedingun-
sprechen, wie wir den Pflegebedürftigkeitsbegriff aus- gen angewandt wird. Selbstverständlich ist für mich,
füllen werden. dass zum Beispiel daran festgehalten werden muss, dass
die Prüfungen unangemeldet erfolgen, oder dass nie-
(Elisabeth Scharfenberg [BÜNDNIS 90/DIE mand schlechte pflegerische Leistungen durch gutes
GRÜNEN]: Und wer das nachher bezahlt!) Essen – so erfreulich das sein mag – oder eine schöne
Darüber könnte man jetzt noch vieles sagen. Aber der Aussicht ausgleichen kann. Es ist unstrittig, dass es beim
Anlass dieser Debatte ist ja – das will ich nicht ver- Bewertungssystem einen gewissen Nachbesserungsbe-
schweigen – ein Antrag, der kaum noch geeignet ist, eine darf gibt.
ganze Debatte zu füllen.
Den zu konkretisieren und ein entsprechendes Verfah-
(Ulrike Flach [FDP]: Genau!) ren zu finden, war und ist Aufgabe der Selbstverwaltung,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11017
Heinz Lanfermann
(A) die aber leider aufgrund einer gewissen Selbstblockade führen deshalb nicht zu dem Ergebnis, das wir uns ge- (C)
in ihren Reihen diese Aufgabe nicht bewältigt hat. wünscht haben. Das gewünschte Ergebnis wäre nämlich
gewesen, die Transparenz von Einrichtungen und ambu-
Dabei ist der Vorwurf der SPD, das Ministerium sei
lanten Pflegediensten zu erhöhen, damit ihre Qualität
untätig gewesen, objektiv falsch. Wer auch immer sich
richtig eingeschätzt werden kann. Das sollte dazu füh-
bemüht hat – Frau Widmann-Mauz, Herr Kapferer oder
ren, dass Angehörige und Pflegebedürftige zum Beispiel
wer auch immer –, für Einigkeit zu sorgen, zu moderie-
über das Internet erfahren können, welche Einrichtung
ren, zu helfen – es hat nicht funktioniert. Deswegen ha-
für sie die richtige ist.
ben wir jetzt gehandelt.
In dem Infektionsschutzgesetz, das gestern im Kabi- Ich darf es an dieser Stelle sagen: Es war für uns alle
nett beschlossen wurde, gibt es einen Artikel, mit dem – für alle Fraktionen – immer ein wichtiges und richtiges
dieses Problem jetzt gelöst wird. Sie wissen: Bisher Anliegen, für mehr Transparenz und Qualität zu sorgen;
mussten Veränderungen einstimmig beschlossen wer- dies hat uns geeint. Daher sollten wir uns jetzt auf den
den. Das hat sich nicht bewährt. Der funktionierende Weg machen und in der Tat die richtige Lösung finden.
Konfliktlösungsmechanismus heißt jetzt Schiedsstelle. Dafür streiten wir; denn es ist richtig: Die Bewertungs-
Wir wollten keine Verordnung; wir wollten nichts von kriterien, die vereinbart worden sind, lassen oftmals
oben herab machen. Wir wollten nicht, dass die Regie- nicht den Blick in die Einrichtung zu.
rung etwas macht. Wir wollten, dass die Selbstverwal- Ich möchte das am Beispiel einer Einrichtung hier aus
tung zum Zuge kommt, und wir wollten Gruppen oder Berlin festmachen. Da werden im Qualitätsbereich 1
Verbände natürlich auch nicht ausschließen. – Pflege und medizinische Versorgung – zum Beispiel
Aber sie müssen einsehen: Irgendwann ist Schluss. Es folgende Noten vergeben: Ist der Umgang mit Medika-
muss zügig gehandelt werden. Deswegen haben wir ge- menten sachgerecht? Note: 4,1. Werden erforderliche
wisse Zeitvorstellungen, bis wann man sich einigen Dekubitusprophylaxen durchgeführt? Note: 3,4. Werden
muss oder wann man eine Schiedsstelle anrufen kann. erforderliche Prophylaxen gegen Stürze durchgeführt?
Man sollte durchaus noch einmal darüber diskutieren, Note: 3,6. Wird die Pflege im Regelfall von denselben
was richtig ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Wir Pflegekräften durchgeführt? Note: 4,8. Im Gegensatz
werden uns im Ausschuss bei den Beratungen sicherlich dazu werden in den weicheren Bereichen, zum Beispiel
noch damit auseinandersetzen. Sie sind alle herzlich ein- bei der Angehörigenarbeit, Noten wie 1,0 vergeben. Ge-
geladen, an diesem – in dem Falle – kleinen Reformvor- samtnote: 1,3.
haben der Regierung mitzuarbeiten. Das sind genau die Kriterien, an denen es zu arbeiten
Ich glaube, wir werden gemeinsam sehen, dass dieser gilt. Wir sagen: Es kann nicht sein, dass bestimmte
(B) Konfliktlösungsmechanismus die Selbstverwaltung Wohlfühlkriterien dazu führen, dass Mängel im pflegeri- (D)
stärkt. Auch das ist gut für die Pflege, für die Betroffe- schen Bereich überdeckt werden; deswegen ist dieser
nen. Punkt so wichtig. Wir haben die Bewertung der Qualität
von Pflegeeinrichtungen gemeinsam mit Schwarz im
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Pflege-Weiterentwicklungsgesetz auf den Weg ge-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bracht, welches dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz
nachfolgte. Es ist wichtig, dafür zu sorgen, dass die Bau-
steine für mehr Qualität und Transparenz in der Pflege
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stimmig sind; sie dürfen nicht dazu führen, dass Ange-
Das Wort hat die Kollegin Hilde Mattheis von der hörige keinen richtigen Blick in die Einrichtung erhal-
SPD-Fraktion. ten, denn dann könnten wir es gleich lassen.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)

Hilde Mattheis (SPD): Ich wollte mit meinem Beispiel deutlich machen: Die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gravierenden pflegerischen Mängel dürfen nicht von
Herr Lanfermann hat gerade betont, dass die Koalitions- weichen Kriterien überdeckt werden; das darf nicht sein.
fraktionen das Jahr der Pflege ausgerufen haben. Ich Deshalb kam es schon nach Veröffentlichung der ersten
muss feststellen: Unser Antrag ist genau richtig. Denn Pflegenoten im Jahr 2010 unter Fachleuten zu intensiven
gestern hat das Kabinett nach vielen Monaten des War- Diskussionen. Die Fachwelt hat gesagt: Das muss über-
tens endlich eine Lösung für das Problem vorgelegt, das arbeitet werden.
wir im Bereich der Qualität und Transparenz in der Schlecht ist, dass sich die Bundesregierung so viel
Pflege beobachten mussten: Es kann zu einer Blockade- Zeit für die Überarbeitung genommen hat und jetzt die
haltung kommen. Wir werden in den nächsten Wochen Reform an ein Gesetz anhängen muss. Es wäre wichtig
und Monaten darüber zu diskutieren haben, ob die gewesen, schon im Herbst darauf hinzuwirken, dass wir
Schiedsstellenlösung unseren Ansprüchen wirklich ge- in diesem Bereich eine Nachbesserung erhalten.
recht wird.
(Beifall bei der SPD)
Unser Antrag vom April letzten Jahres hat vorwegge-
nommen, was im Herbst für alle offensichtlich wurde: Die Frage ist in der Tat, ob die Schiedsstellen die rich-
Die Vereinbarungen zu Qualität und Transparenz sind in tige Lösung sind. Schiedsstellen sind zur Moderation
zwei ganz wichtigen Punkten wirklich mangelhaft; sie zwischen Blöcken angelegt.
11018 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Hilde Mattheis
(A) (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Welchen Vor- (Hilde Mattheis [SPD]: Doch! – Mechthild (C)
schlag haben Sie denn gemacht?) Rawert [SPD]: Sie haben ihn wirklich nicht
gelesen!)
Schiedsstellen sind dazu aufgerufen, einen Kompromiss-
vorschlag zu erarbeiten. Neue Lösungen sind nicht ge- Frau Mattheis, SPD und CDU/CSU haben in der Gro-
fragt. Schiedsstellen brauchen Zeit. Ob dadurch das Ver- ßen Koalition den Pflege-TÜV gemeinsam eingerichtet.
trauen der Bevölkerung in die Aussagekraft der Wir wollten die Leistungen stationärer und ambulanter
Ergebnisse steigt, wage ich zu bezweifeln. Wegen der Einrichtungen erfassen und vergleichbar machen – das
Zweifel an der Schiedsstellenlösung fordern wir, auch war unser gemeinsames Ziel –, und zwar durch unange-
andere Lösungen in Betracht zu ziehen und zum Beispiel meldete Prüfungen. Der Pflege-TÜV ist eine wichtige
den Vorschlag der A-Länder nach einer bundesrechtli- Hilfe für Angehörige; das wissen wir alle. Wir wollen
chen Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung ihn weiterentwickeln. Die Heime profitieren davon.
aufzugreifen oder das Deutsche Netzwerk für Qualitäts- Qualitätsunterschiede werden abgebildet. Schwächen,
entwicklung in der Pflege zu beauftragen. Eines ist klar: aber auch positive Dinge werden deutlich. Jeder gute
Wir müssen alles tun, um der Verpflichtung, der wir uns Träger müsste interessiert daran sein, bewertet und beno-
im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz gemeinsam ver- tet zu werden.
schrieben haben, gerecht zu werden.
Die SPD erkennt das auch an. In Ihrem Antrag steht
(Beifall bei der SPD) unter II., dass die Transparenzvereinbarungen geeignet
Für meine Partei und meine Fraktion ist klar: Über sind, um Qualität und Qualitätsunterschiede abzubilden.
Qualität in der Pflege kann und darf nicht verhandelt Ihr Antrag enthält aber überhaupt keinen Vorschlag, wie
werden. Sie steht für einen Kompromiss nicht zur Verfü- wir die Dinge verbessern können. Sie haben eben nur
gung. Wenn wir Qualität einfordern, dann meinen wir das Verfahren erläutert, das zwischenzeitlich angewen-
auch Qualität. Davon rücken wir nicht ab. Die Bevölke- det wurde.
rung hat auch in diesem Bereich ein Recht auf Informa- Wir wollten nicht – das wollten Sie übrigens auch
tion und Transparenz. nicht –, dass Ministerialbeamte die Begriffe Qualität und
Vielen Dank. Transparenz für den Bereich der Pflege definieren. Wir
haben das der Selbstverwaltung überlassen, also den
(Beifall bei der SPD) Fachleuten bei den Krankenkassen und den Fachleuten
bei den Leistungserbringern, von denen einige heute hier
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sind. Jetzt hat sich gezeigt, dass die Transparenzkriterien
Das Wort hat der Kollege Willi Zylajew von der optimiert werden müssen. Damit waren fast alle Träger
(B) (D)
CDU/CSU-Fraktion. einverstanden. Nur zwei kleine Trägerverbände, der Ver-
band Deutscher Alten- und Behindertenhilfe und der Ar-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beitgeber- und Berufsverband Privater Pflege, waren an-
derer Auffassung. Das Ministerium hat dann sehr
Willi Zylajew (CDU/CSU): beherzt eingegriffen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
gerade einen Beitrag der Kollegin Mattheis gehört, der, (Hilde Mattheis [SPD]: Beherzt ist etwas an-
verehrte Frau Mattheis, überhaupt nichts mit dem Antrag deres! Nach Monaten!)
zu tun hatte, den wir heute beraten. – ja, nicht in der Basta-Manier des Herrn Schröder – und
(Hilde Mattheis [SPD]: Doch! Sie haben ihn die Fachleute gebeten, sich darauf zu verständigen, die
nicht gelesen, Herr Zylajew!) Kriterien weiterzuentwickeln. Dies ist passiert.

– Doch. Ich habe ihn sogar dabei. Ich kann Ihnen den Wir richten eine Schiedsstelle ein. Gestern hat das
Antrag gerne zur Verfügung stellen. Kabinett Entsprechendes auf den Weg gebracht. Wir
sind gespannt, welche Optimierungsvorschläge Sie für
(Lachen bei der SPD) die Schiedsstelle haben. Das werden wir uns dann in
In dem Antrag steht etwas über Qualität und Transpa- Ruhe anschauen. Uns ist die Frist von drei Monaten
renz in der Pflege, zur konsequenten Weiterentwicklung wichtig. Um es noch einmal zu sagen: Die Träger und
und zur Optimierung. In dem Antrag steht – wenn Sie Leistungserbringer haben, wenn sie Änderungswünsche
wollen, lesen Sie das nach –: „Der Deutsche Bundestag haben, drei Monate Zeit, sich zu verständigen. Danach
stellt fest: …“ wird es eine Schiedsstellenentscheidung geben. Das ist
der vernünftigste, durch Fachleute geprägte Weg.
(Hilde Mattheis [SPD]: Das steht meistens
drin!) (Hilde Mattheis [SPD]: Sie ziehen das Verfah-
ren in die Länge!)
Das ist aber auch schon alles. Er enthält keine Forderun-
gen. Dann steht hier: „Der Deutsche Bundestag ist der Aber auch dazu steht nichts in Ihrem Antrag. Im Antrag
Auffassung … Der Deutsche Bundestag fordert die Bun- heißt es nur – ich wiederhole mich –: „Der Deutsche
desregierung auf …“. Etwas Substanzielles ist in Ihrem Bundestag stellt fest: … Der Deutsche Bundestag ist der
Antrag nicht enthalten. Dort steht nichts von dem, was Auffassung, dass …“ Das war es. Dass Sie heute ein biss-
Sie eben gesagt haben. chen klüger sind, akzeptiere ich gern.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11019
Willi Zylajew
(A) Ich will an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich sa- (Heinz Lanfermann [FDP]: Wieso ich? Ich (C)
gen, dass die Leistungserbringer mit dem, was wir tun, habe noch nie falsch zitiert! Ich habe nicht ein-
zum größten Teil ausgesprochen zufrieden sind. Es gibt mal einen Doktortitel!)
eine neue Befragung der Basis, nicht der Funktionäre.
Für mich ist dann ganz logisch, dass durch das Sicht-
Danach sind in Westfalen-Lippe 98 Prozent der Einrich-
barmachen von guter und schlechter Qualität in Pflege-
tungen der Meinung, die Prüfung sei fachkompetent. –
einrichtungen es eben nicht der Markt sein kann, der da-
Sie haben den praktischen Nutzen, den Wert der Prüfung
für sorgt, dass schlechte Pflege verschwindet. Mit der
herausgestrichen. 53,2 Prozent meinen, der Wert der
gesetzlichen Pflegeversicherung, die sich sozial nennt,
Prüfung sei hoch, 37,9 Prozent meinen, er sei eher hoch,
aber nicht den tatsächlichen Pflegebedarf eines Men-
7,5 Prozent meinen, er sei eher gering, und nur
schen abdeckt, werden die Pflegebedürftigen gegen die
1,4 Prozent meinen, der Wert sei gering. Insofern hat die
Pflegekräfte ausgespielt, und umgekehrt. Solange das so
Basis dieses Verfahren längst angenommen.
ist, brauchen wir im Interesse der Pflegebedürftigen und
Wir schaffen Transparenz, wir optimieren. Wir orien- des Pflegepersonals eine Weiterentwicklung der Pflege-
tieren uns nicht an dem, was Sie im Antrag geschrieben noten.
haben, sind nicht zufrieden mit banalen Feststellungen, (Beifall bei der LINKEN)
die nicht weiterhelfen, sondern machen die Transparenz-
vereinbarungen in der Weiterentwicklung zu einem her- So wie die Pflegenoten heute erhoben werden, erge-
vorragenden Instrument für Pflegebedürftige und deren ben sie ein unklares Abbild der Pflege. Es ist noch im-
Angehörige. Sie haben ja die Quittung für Ihren Antrag mer möglich, schlechte Pflege beispielsweise in der
bekommen. Nicht einmal die Kolleginnen und Kollegen Wundversorgung mit einem gut sichtbaren Speiseplan zu
der anderen Oppositionsfraktionen haben Ihrem Antrag kaschieren. Bei der Weiterentwicklung der Pflegenoten
im Ausschuss auch nur eine Stimme gegeben. Dieses Er- hakt es, und zwar gewaltig. Ich verstehe nicht, warum
gebnis spricht doch für sich. Die Qualität dieses Antrags über die Weiterentwicklung der Pflegenoten überhaupt
ist schon vor einem Jahr dürftig gewesen; heute ist der noch gestritten wird. Noch viel weniger verstehe ich, wie
Antrag überholt. zwei kleine Arbeitgeberverbände – sie wurden ge-
nannt –, die nicht einmal 5 Prozent der Pflegeeinrichtun-
Danke schön. gen vertreten, die Weiterentwicklung der Pflegenoten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) blockieren können.
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Unerhört!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Ganze führt doch im Ergebnis zu einem Vertrauens-
(B) Das Wort hat die Kollegin Kathrin Senger-Schäfer verlust und zu Skepsis gegenüber den Pflegeeinrichtun- (D)
von der Fraktion Die Linke. gen.
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist das!)
Was gut gemeint ist, kann so schlicht keine Wirkung zei-
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): gen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN)
Kollegen! Menschen, die gepflegt werden, müssen das
bekommen, was sie brauchen. Die Grundvoraussetzung Allen ist klar: Gute, qualitativ hochwertige Pflege
dafür ist, dass gute Pflege erkennbar wird. Genau daran hängt entscheidend von qualifiziertem und motiviertem
müssen sich die Pflegeeinrichtungen messen lassen. Wo- Personal ab. Dafür steht die Linke seit jeher.
ran sonst sollten sich Angehörige halten, wenn sie den
(Beifall bei der LINKEN – Heinz Lanfermann
bestmöglichen Pflegeplatz für Mutter oder Vater suchen?
[FDP]: Aha!)
Wie wir alle wissen, wird die soziale Dienstleistung
Pflege in Deutschland knallhart über den Wettbewerb or- – Ja, das ist so. – Die äußerst schwere und aufopferungs-
ganisiert. Wir sagen: Das geht nicht. volle Arbeit des Pflegepersonals kann, gerade im Inte-
resse der Pflegebedürftigen, nicht hoch genug wertge-
(Beifall bei der LINKEN) schätzt werden.
Pflege ist eine öffentliche Daseinsfürsorge, und sie Bringen wir es doch einmal auf den Punkt: Wir befin-
darf nichts mit Profitmacherei zu tun haben. Herr den uns mitten im Pflegenotstand. Die Hauptursachen
Lanfermann, auch wenn Sie sagen, dass Pflegebedürf- dafür sind schlechte Arbeitsbedingungen, schlechte Be-
tige in erster Linie Kunden sind: Für uns sind Pflegebe- zahlung und die daraus resultierende fehlende Attraktivi-
dürftige in erster Linie Menschen. tät des Pflegeberufs. Wir meinen, dass es deshalb zwin-
(Beifall bei der LINKEN – Hilde Mattheis gend notwendig ist, die Arbeitsbedingungen bei den
[SPD]: Für uns auch! – Heinz Lanfermann Pflegenoten zu berücksichtigen.
[FDP]: Von „in erster Linie“ hat niemand ge- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
sprochen! Sie dürfen nicht falsch zitieren,
sonst kommen Sie in die Zeitung!) Eine Pflegerin, die im Minutentakt arbeiten muss, die für
An- und Auskleiden und Körperpflege nur wenige Mi-
– Das müssen Sie gerade sagen. nuten zur Verfügung hat, wird auf Dauer so im Stress
11020 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Kathrin Senger-Schäfer
(A) sein, dass ihr kaum Raum bleibt für ausführliche Gesprä- Wir haben von Anfang an kritisiert, dass die Kosten- (C)
che und Fürsorge, die zu Pflegende so dringend brau- träger und die Leistungserbringer die Bewertungskrite-
chen. Das macht die Qualität der Pflege aus meiner Sicht rien unter sich ausmachen. Dieser Mangel wird leider
entscheidend aus; denn die Arbeitsbedingungen in der auch durch den Antrag der SPD-Fraktion nicht geheilt.
Pflege haben Einfluss auf die Pflegequalität. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dieser wichtige Aspekt wird im Antrag der SPD zwar Dies steht auch im Hinblick auf die weitere Überarbei-
erwähnt, findet sich dann aber in den Forderungen leider tung der Transparenzkriterien leider nicht auf der
nicht wieder. Agenda. Ich frage: Wann beziehen wir endlich die
(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Richtig!) Adressaten und Adressatinnen des Pflege-TÜV mit ein?

Die Linke kann sich daher nur enthalten. Grüne Politik ist für uns immer auch Politik für Ver-
braucherinnen und Verbraucher. Wir begrüßen Regelun-
(Beifall des Abg. Willi Zylajew [CDU/CSU]) gen, die wirklich darauf abzielen, Transparenz für Ver-
braucherinnen und Verbraucher herzustellen. Deshalb ist
Darüber, was die Bundesregierung nun zur Zukunft es wichtig, diese Zielgruppe nicht länger in die Irre zu
der Pflegenoten vorschlägt, wird an anderer Stelle zu führen. Genau das tut derzeit die Gesamtnote des Pflege-
diskutieren sein. Sie alle können sich ganz sicher sein, TÜV. Wir Grüne plädieren dafür, die Gesamtnote als
dass wir jeden Ihrer Vorschläge im Interesse der zu Pfle- Erstes abzuschaffen.
genden und der Pflegekräfte äußerst kritisch begleiten
werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN) Die Gesamtnote hat ihr Ziel, mehr Transparenz zu schaf-
fen, verfehlt. Sie verleitet dazu, sich nicht detailliert mit
den Einzelbereichen zu beschäftigen. Der Heimalltag ist
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nun einmal komplex; er lässt sich nicht schnell in eine
Das Wort hat die Kollegin Elisabeth Scharfenberg Note packen. Es wäre vermessen, zu meinen, dass man
von Bündnis 90/Die Grünen. aufgrund dieser Note ein Urteil darüber fällen könnte,
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ wie gut in einem Heim gearbeitet wird oder wo genau
DIE GRÜNEN) die Defizite eines Pflegedienstes sind. Aber diese Ge-
samtnote gaukelt uns den Durchblick vor.
Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Uns geht es darum, auch Lebensqualität zu beurteilen.
NEN): Pflege, die es schafft, Lebensqualität zu bieten und zu er-
(B) Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- höhen, ist eine gute Pflege. (D)
gen! Die Pflege-Transparenzvereinbarung, besser be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
kannt als Pflege-TÜV – er wurde schon mehrmals ge-
nannt –, sollte Transparenz erzeugen. Mit dieser Lebensqualität und Wohlbefinden sind aber in hohem
Verheißung war man angetreten. Anhand einer einzigen Maße subjektiv. Genau darin liegt die Schwierigkeit. Le-
Pflegenote sollte die Qualität einer Pflegeeinrichtung bensqualität bedeutet nicht für jede und jeden das Glei-
oder eines Pflegedienstes zu erkennen sein. Diese eine che. Prüfungen und Benotungen sind im Sinne des Ver-
Note setzt sich aus einer Fülle von Einzelnoten für unter- braucherschutzes zwar wichtig. Sie dürfen aber nicht
dazu führen, dass die Lebenswelt dadurch standardisiert
schiedliche Leistungsbereiche zusammen. Keine Rück-
oder normiert wird. Dann wird der Pflege-TÜV zum
sicht wurde darauf genommen, was miteinander vergli-
Selbstzweck, und dann dient er überhaupt nicht zur Hilfe
chen und gegeneinander aufgewogen wurde, ob nun für die Betroffenen. Wenn der Pflege-TÜV wirklich zum
Äpfel mit Birnen oder Speisepläne mit Demenzkonzep- Wegweiser werden soll, dann ist noch sehr viel zu tun,
ten. Anstatt in der Pflege für Transparenz zu sorgen, ver- und das zusammen mit den Nutzerinnen und Nutzern.
nebelt der Pflege-TÜV die wahre Situation im Pflege-
alltag. Transparenz wird auf eine transparente Im Übrigen: Herr Lanfermann, Sie sprachen vom Jahr
Dokumentation reduziert. Die Frage ist, was für den der Pflege.
Nutzer und die Nutzerin am Ende dabei herauskommt. (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja! 2011!)
Diese Frage ist unbeantwortet geblieben.
Es wird sich zeigen, wie dieses Jahr der Pflege mit Inhal-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten gefüllt wird,
Der Fehler beim Pflege-TÜV ist unserer Ansicht nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schon bei seiner Geburt zu finden. Es sollte in allererster sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg.
Linie um die Verbraucherinnen und Verbraucher gehen; Mechthild Rawert [SPD])
ihnen sollte er dienen. Doch bei der Erarbeitung der Kri-
terien wurden wichtige Geburtshelfer außen vor gelas- und zwar im Sinne der Nutzerinnen und Nutzer, der Pfle-
sen, zum Beispiel die für uns wichtigste Gruppe, die Ver- gebedürftigen, der Angehörigen und der Pflegenden. An
braucherverbände und die Selbsthilfeorganisationen. diesen Inhalten wird man Sie letztendlich messen.
Diese wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie hat- Vielen Dank.
ten gerade einmal ein Stellungnahmerecht. Größere Zu-
geständnisse räumte man ihnen nicht ein, und das ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nach dem Motto: zwar für euch, aber bitte ohne euch. sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11021

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Willi Zylajew [CDU/CSU]: Sehr gut! Ge- (C)
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat nau!)
der Kollege Stephan Stracke von der CDU/CSU-Frak-
tion das Wort. Denn diese Einrichtungen haben zu Recht einen An-
spruch darauf, dass sich gute, qualitätsvolle Leistung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) auch lohnt. Deshalb muss eine klare Unterscheidbarkeit
zu schlechteren Einrichtungen gegeben sein. Auch darin
Stephan Stracke (CDU/CSU): liegt die Verantwortung der Selbstverwaltung.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Herren! Gute Pflege braucht Qualität. Gute Pflege neten der FDP)
braucht Instrumente, um Qualität zu sichern und weiter-
zuentwickeln. Deswegen haben wir interne Qualitätsma- Es war gut, dass das Bundesministerium für Gesund-
nagementverfahren, Expertenstandards und Qualitäts- heit von Beginn an den Umsetzungsprozess eng begleitet
prüfungen. Aber für den Verbraucher, gerade für die und immer wieder auf die Wahrnehmung von Verant-
Pflegebedürftigen und deren Angehörige, ist es wichtig, wortung der Leistungspartner gedrängt hat. Umso ent-
dass Leistungen im ambulanten wie im stationären Be- täuschender ist es, dass sich die Selbstverwaltung letzt-
reich und ihre Qualität verständlich, übersichtlich und lich selbst blockiert. Das liegt zum einen daran, dass
vergleichbar beurteilt werden können. Der Verbraucher aufgrund der Vereinbarungen das Einstimmigkeitsprin-
möchte bei der nicht immer einfachen Suche nach der zip angewendet werden muss, und zum anderen daran,
passenden Pflege eine Entscheidungshilfe bekommen. dass auch das Kündigungsrecht keine wirkliche Wirkung
Deswegen haben wir Pflegequalität sichtbar gemacht entfalten kann, da das alte Recht bis zur Geltung einer
und für Transparenz der Pflegeleistungen gesorgt. Des- neuen Vereinbarung weiterhin gilt. Es ist allerdings nicht
wegen hat der Medizinische Dienst der Krankenversi- akzeptabel, dass diese Selbstblockade besteht. Wir wol-
cherung rund 18 000 Pflegeeinrichtungen auf Transpa- len diese Eigenblockade mit einer Schiedsstellenlösung
renz überprüft und 14 000 Transparenzberichte im überwinden. Diese Schiedsstellenlösung entspricht dem
Internet veröffentlicht. Das ist ein echter Beitrag zu Wunsch relevanter Teile der Selbstverwaltung und ist ein
mehr Transparenz in der Pflege. Konfliktlösungsmechanismus, der der Systematik des
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- SGB XI Rechnung trägt. Durch die Möglichkeit der
neten der FDP) Fristverkürzung bei der Anrufung der Schiedsstelle be-
steht die Chance auf eine rasche Auflösung der derzeiti-
Die Transparenzvereinbarungen und ihre Weiterent- gen Blockade.
(B) wicklung haben wir bewusst in die Hände der Selbstver- (D)
waltung gelegt. Dort wollen wir sie auch belassen. Denn Wenn Sie nun, liebe Frau Kollegin Mattheis, kritisie-
die Selbstverwaltung verfügt wie kaum jemand anders ren, dass Schiedsstellenlösungen unter Umständen zu
über die Möglichkeit, Sachverstand mit praxistauglichen Kompromissen verleiten, dann stellen Sie indirekt die
und flexiblen Lösungen zu verbinden. Das ist ihre Auf- gesamte Konzeption infrage. Selbstverständlich ist die
gabe und Verantwortung zugleich. Aus dieser Verant- Transparenzvereinbarung, so wie sie angelegt ist, auf
wortung werden wir sie nicht entlassen. eine Vereinbarung der Selbstverwaltung bezogen. Daher
verabschieden Sie sich wieder von einem Stück dessen,
Zu verantwortlichem Handeln der Selbstverwaltung was wir in der Großen Koalition vereinbart haben. Das
gehört auch, zu begreifen, dass die Qualität der Pflege finde ich etwas schade.
und nicht zuletzt auch die Transparenz für die Pflegebe-
dürftigen und ihre Angehörigen stets weiterentwickelt (Hilde Mattheis [SPD]: Das ist ja lächerlich!)
werden müssen. Wie in der Pflege selbst muss auch bei
den Transparenzvereinbarungen das Ergebnis stimmen, Ich erwarte nun, dass sich die Selbstverwaltung ihrer
und hieran mangelt es. Hieran mangelt es beispielsweise Verantwortung bewusst ist und dementsprechend han-
bei dem System der Zufallsstichprobe, wie sie bislang in delt. Ich erwarte von der Selbstverwaltung, dass das der-
den Vereinbarungen verankert ist. So werden wichtige zeit unzureichende System der Zufallsstichprobe durch
Kriterien wie Flüssigkeitsversorgung, Ernährungszu- ein geeigneteres System ersetzt wird und dass Verrech-
stand und Wundliegen gerade im ambulanten Bereich nungsmöglichkeiten und Überstrahlungseffekte in Zu-
nur unzureichend erfasst. Die Gefahr des Übersehens kunft nicht mehr gegeben sind. Ich bin mir sicher, dass
von gravierenden Pflegemängeln ist deshalb groß. Zu- das Bundesministerium für Gesundheit diesen anstehen-
dem ist die Vergleichbarkeit der Prüfergebnisse nicht ge- den Weiterentwicklungsprozess weiterhin eng begleiten
währleistet. Schlechte Bewertungen können aufgrund wird, und ich bin mir gewiss, dass die Hausspitze auf
der Mittelwertbildung einfach ausgeglichen werden, und diese Weise der Selbstverwaltung den notwendigen Rah-
durch die Durchschnittsbildung werden Einrichtungen men aufzeigt, in dem Veränderungen notwendig und
mit einem größeren Anteil an Pflegefällen mit großem sinnvoll sind. Diesen Prozess werden nicht zuletzt wir
Risiko benachteiligt. vonseiten der christlich-liberalen Koalition entsprechend
begleiten.
All das gefährdet die Glaubwürdigkeit des Transpa-
renzinstruments als solches. Die Träger, die hieran nichts Herzlichen Dank.
ändern wollen, leisten gerade den Pflegeeinrichtungen,
die gute Arbeit leisten, einen Bärendienst. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
11022 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bestandsschutzes auch schwerere Fahrzeuge mit dem (C)
Ich schließe die Aussprache. Führerschein der alten Klasse 3 fahren. Da diese Fahrer
den freiwilligen Feuerwehren nunmehr aus Altersgrün-
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- den langsam nicht mehr zur Verfügung stehen, müssen
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- jüngere Fahrer nachrücken, die aber nicht mehr über die
trag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Qualität und benötigte Fahrerlaubnis für die zwischenzeitlich aus
Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln – technischen Gründen auch schwerer gewordenen Ein-
Pflege-Transparenzkriterien optimieren“. Der Ausschuss satz-fahrzeuge verfügen. Nicht nur in meinem Heimat-
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- land Bayern, in dem rund 300 000 Ehrenamtliche in den
sache 17/4925, den Antrag der Fraktion der SPD auf freiwilligen Feuerwehren aktiv sind, führt dies zu dra-
Drucksache 17/1427 abzulehnen. Wer stimmt für diese matischen Engpässen bei den Einsatzfahrten. Das ist
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer eine aus meiner Sicht nicht akzeptable Situation, für die
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- es jetzt endlich eine vernünftige Lösung gibt. Das Bun-
men mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
die Stimmen der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Lin- setzt die Vorschläge der Ehrenamtlichen um.
ken und der Grünen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Patrick
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
Döring [FDP]: Gutes Ministerium!)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Ursache für diese Entwicklung ist die sogenannte
Änderung des Straßenverkehrsgesetzes 2. EU-Führerschein-Richtlinie von 1991, nach der das
Fahrerlaubnisrecht und insbesondere die deutschen
– Drucksache 17/4981 – Fahrerlaubnisklassen zum 1. Januar 1999 an die gemein-
Überweisungsvorschlag: schaftsrechtlichen Vorgaben anzupassen waren. Seither
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) dürfen mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B für Pkw nur
Innenausschuss noch Kraftfahrzeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse
Rechtsausschuss
von bis zu 3,5 Tonnen gefahren werden. Für Kraftfahr-
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten zeuge mit einer zulässigen Gesamtmasse zwischen
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des 3,5 Tonnen und 7,5 Tonnen ist hingegen eine Fahrerlaub-
Straßenverkehrsgesetzes nis der Klasse C 1 und für Kraftfahrzeuge über 7,5 Ton-
nen eine Fahrerlaubnis der Klasse C erforderlich. Diese
– Drucksache 17/2766 – Rechtsänderung wurde von der Europäischen Union ein-
Überweisungsvorschlag: geführt. Aus europarechtlichen Gründen ist es leider (D)
(B) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ausgeschlossen, der Forderung nachzukommen, eine
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass Angehörige der
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi- freiwilligen Feuerwehren, der nach Landesrecht aner-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be- kannten Rettungsdienste und des Katastrophenschutzes
schlossen. mit einer Fahrerlaubnis der Klasse B Einsatzfahrzeuge
mit einer zulässigen Gesamtmasse von bis zu 4,25 Ton-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- nen fahren dürfen.
ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Andreas
Scheuer das Wort. Die in der vergangenen Legislaturperiode beschlos-
sene Rechtsgrundlage für eine Sonderfahrberechtigung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zum Führen von Einsatzfahrzeugen der freiwilligen Feu-
erwehren bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von bis
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär beim zu 4,75 Tonnen bzw. 7,5 Tonnen reicht nach meiner Ein-
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: schätzung und auch aus Sicht der betroffenen Organisa-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! tionen nicht aus, um die Einsatzfähigkeit der betroffenen
Die freiwilligen Feuerwehren, aber auch die Rettungs- Organisationen tatsächlich zu verbessern.
dienste und das Technische Hilfswerk leisten mit ihren
Einsätzen einen unschätzbaren Dienst für unsere Gesell- Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf werden die
schaft. Nicht selten setzen sie bei ihrem Einsatz Leib und Vereinbarungen der Koalitionsfraktionen im Koalitions-
Leben aufs Spiel: für andere, für den Nächsten. Ich vertrag umgesetzt. Es werden weitere Erleichterungen
möchte auch unseren Einsatzkräften, die im Katastro- für Ehrenamtliche geschaffen, die kostengünstig und un-
phenschutz tätig sind, vor allem den Mitgliedern des bürokratisch zu handhaben sind.
THW, für ihren Einsatz und für ihre Bereitschaft, auch in Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die betroffenen Or-
Japan zu helfen, danken. Herzlichen Dank dafür. ganisationen eine organisationsinterne Einweisung und
(Beifall im ganzen Hause) – das ist das Entscheidende – auch eine organisationsin-
terne Prüfung auf Einsatzfahrzeugen mit einer zulässi-
Leider gibt es immer weniger junge Ehrenamtliche, gen Gesamtmasse von bis zu 7,5 Tonnen durchführen
die über eine zum Führen der Einsatzfahrzeuge notwen- können.
dige Fahrerlaubnis verfügen. Lediglich ältere Fahr-
erlaubnisinhaber, die ihre Fahrerlaubnis vor dem So wird ein einfaches und kostengünstiges Verfahren
1. Januar 1999 erworben haben, können aufgrund des geschaffen, mit dem den jeweiligen Bedürfnissen vor
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11023
Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer
(A) Ort entsprechend mit den vorhandenen Einsatzfahrzeu- Fahrerlaubnis, sondern um eine Ausnahmeregelung zum (C)
gen ausgebildet und geprüft werden kann. Dabei wird bestehenden Führerscheinrecht.
zwischen einer Sonderfahrberechtigung bis zu einer zu-
lässigen Gesamtmasse von 4,75 Tonnen einerseits und Ich möchte kurz – der Staatssekretär hat damit begon-
bis zu einer zulässigen Gesamtmasse von 7,5 Tonnen an- nen – weiter auf die Historie eingehen. Vor etlichen Jah-
dererseits differenziert, da die Anforderungen an die ren wurde in Brüssel unter Beteiligung der damaligen
Fahrerinnen und Fahrer mit der Höhe des Fahrzeugge- schwarz-gelben Bundesregierung ein neues Führer-
wichts zunehmen. scheinrecht verhandelt. Der Grund waren Sicherheitsbe-
denken, dass mit steigendem Kraftfahrzeugverkehr die
Im Gegensatz zu vorherigen Regelungen aufgrund jetzigen Fahrerlaubnisklassen nicht mehr die Realität ab-
des tatsächlich geltend gemachten Bedarfs werden jetzt bildeten.
auch Anhänger in die Fahrberechtigungen aufgenom-
men. Das Resultat wurde eben erläutert. Unter anderem
kann man mit dem PKW-Führerschein Klasse B nur
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch Fahrzeuge bis 3,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse
führen.
Zudem wird die Möglichkeit eröffnet, in Anlehnung an
das in Deutschland bewährte System der professionellen Die Zustimmung zur Neuregelung auch durch die da-
Ausbildung die Ausbildung auch durch Fahrlehrer vor- malige Bundesregierung war gut und richtig. Die Folgen
nehmen zu lassen. hat auch der Herr Staatssekretär eben dargelegt.
Die Ermächtigung zur Ausstellung der Fahrberechti- Nach immerhin elf Jahren des neuen Rechtes gibt es
gungen wird dabei unmittelbar auf die Landesregierun- inzwischen immer weniger Ehrenamtliche mit den alten
gen übertragen. So wird sichergestellt, dass den jeweili- Führerscheinklassen, die noch die Fahrzeuge bis
gen regionalen Gegebenheiten Rechnung getragen wird 7,5 Tonnen zulässige Gesamtmasse führen können. Das
und möglichst passgenaue Regelungen getroffen werden ist problematisch, weil wir in der Bundesrepublik
können. Wir appellieren an die Landesregierungen, diese Deutschland unseren Rettungsdienst zum Beispiel in der
Basisvereinbarung, die wir jetzt treffen, zum Wohl der Feuerwehr, im Technischen Hilfswerk, im DRK, in der
Ehrenamtlichen zügig umzusetzen. DLRG und in vielen anderen Organisationen hauptsäch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich ehrenamtlich regeln. Die Leistungsfähigkeit war so-
mit gefährdet.
Ich werbe daher um Ihre Zustimmung zu dem unbü-
rokratischen Gesetzentwurf, der sicherstellt, dass das eh- Dazu kommt, dass die Feuerwehrfahrzeuge immer
schwerer und die regulären Fahrerlaubnisse immer teu-
(B) renamtliche Engagement wieder für mehr junge Freiwil- rer werden. Die Rettungsdienste waren also in einer sehr (D)
lige beim Technischen Hilfswerk, bei den nach
Landesrecht anerkannten Rettungsdiensten, den freiwil- schwierigen Situation.
ligen Feuerwehren sowie den Organisationen des Kata- Es war die Große Koalition, die darauf reagiert hat,
strophenschutzes interessant wird. Wer sich engagiert und zwar mit der fünften Änderung des StVG. Dadurch
gewinnt, vor allem mit den Gesetzentwürfen der christ- wurden die Länder ermächtigt, Sonderfahrerlaubnisse zu
lich-liberalen Koalition und ihrer Bundesregierung. erteilen, um den Ehrenamtlichen im Rettungsdienst zu
(Gustav Herzog [SPD]: Na, na! Nicht so viel erlauben, die Fahrzeuge zu führen.
Eigenlob, Herr Kollege!) Das Ergebnis war ein Kompromiss in Zusammenar-
In diesem Sinne freuen wir uns, dass wir für die Eh- beit mit allen Beteiligten: mit den Verbänden der Ver-
renamtlichen einen weitreichenden Vorschlag beschlie- kehrssicherheit, mit den betroffenen Rettungsorganisa-
ßen, der schon lange diskutiert wird und den wir jetzt tionen und der Politik. Der Inhalt lautete, dass bis
endlich umsetzen. 4,75 Tonnen eine organisationsinterne Einweisung aus-
reichte. Damit durften nur Einsatzfahrzeuge gefahren
Herzlichen Dank. werden. Laut Auskunft des BMVBS haben lediglich
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Baden-
Württemberg von dieser Regelung Gebrauch gemacht.
Das sind lediglich vier von 16 Bundesländern, die diese
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Möglichkeit hatten.
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann von der
SPD-Fraktion. (Zuruf von der FDP: Alle schwarz-gelb regiert!)
(Beifall bei der SPD) Die zweite Regelung bis 7,5 Tonnen sah eine verein-
fachte Fahrausbildung und eine vereinfachte Prüfung
vor. Hierbei konnte aber eine Umschreibung zur privaten
Kirsten Lühmann (SPD):
Nutzung erst nach einer gewissen Zeit möglich gemacht
Herr Präsident! Sehr geehrte Anwesende! Als ich werden.
eben von einer Besuchergruppe, die uns jetzt auf der Tri-
büne zuhört, gefragt wurde, worum es in der Debatte Diese zweite Regelung wurde aber niemals umge-
geht, habe ich flapsig gesagt: um den Feuerwehrführer- setzt, weil das BMVBS die Ermächtigungsverordnung
schein. Aber wir sollten einmal klarstellen, worum es für die Länder nie erlassen hatte. Wir wissen also gar
sich handelt. Es handelt sich nicht um eine neue Art der nicht, ob diese Regelung der Großen Koalition ausrei-
11024 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Kirsten Lühmann
(A) chend gewesen wäre, um das Problem der Rettungs- unter Druck, weil sie wissen, dass ihre Wehr dringend (C)
dienste zu beheben. neue Fahrzeugführende benötigt.
Trotzdem haben wir jetzt eine neue Regelung vor uns Insofern möchte ich mit Ihnen die Frage diskutieren:
liegen. Ist die Regelung ausreichend, oder brauchen wir nicht
vielmehr bundesweit einheitliche Richtlinien über die
(Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Jetzt haben wir Ausgestaltung dieser Einweisungsfahrten? Und brau-
die richtige!) chen wir nicht unabhängige Prüfer und Prüferinnen, die
Die jetzige Regelung hat einen erheblichen Vorteil: Sie anschließend das Ergebnis dieser Einweisung begutach-
ist nahezu kostenfrei. Die alte Regelung sah Kosten für ten müssen?
eine reduzierte Schulungs- und Prüfungsgebühr vor. Bei Ich bitte Sie, noch intensiver als der Staatssekretär auf
der neuen Regelung führt, wenn es möglich ist, der Kol- die Frage einzugehen, ob diese Regelung konform zum
lege bzw. die Kollegin die Schulung mit einem ganz nor- EU-Recht ist. Ich erinnere Sie daran: Im August hat der
malen Einsatzfahrzeug durch, also ohne Möglichkeit für Bundesrat einen Entwurf im Bundestag eingebracht, der
den Schulenden, die Fahrt zu beeinflussen oder selbst wie der jetzige aussah. Das Ministerium hat ihn zurück-
die Prüfung abzunehmen. Organisationsintern entstehen gezogen, weil es europarechtliche Bedenken hatte, die
nahezu keine Kosten. jetzt laut Auskunft des BMVBS ausgeräumt sind. Aber
das Ministerium hat mir auch mitgeteilt, dass sich andere
Aber die Feuerwehrfahrzeuge werden immer schwe-
Häuser, zum Beispiel das BMJ, noch nicht geäußert ha-
rer, insbesondere die wasserführenden Fahrzeuge. Diese
ben.
Regelung schafft nur für gut die Hälfte aller Fahrzeuge,
nämlich etwa 13 000, Abhilfe. Auf bundesdeutschen Weiterhin stellt sich die Frage: Warum kam es zur
Straßen sind jedoch auch Feuerwehrfahrzeuge über Änderung der Rechtsauffassung? Haben wir eventuell
7,5 Tonnen in einer Größenordnung von 11 000 Fahr- die Kommission gefragt,
zeugen unterwegs. Auch über diese sollten wir reden.
(Zuruf von der FDP: Besser nicht!)
Wir sollten in den Ausschussberatungen genau prü-
oder verabschieden wir wieder eine Regelung, die gut
fen, ob die vorgelegten Regelungen zumutbar sind. Was
gemeint ist, die aber dann wieder von der Kommission
meine ich damit? Geprüft werden muss, ob sie zum ei-
als europarechtswidrig gestoppt wird?
nen für die Begünstigten zumutbar sind. Der Begünstigte
ist der Ehrenamtliche, der seine Freizeit opfert und nicht Meine Herren und Damen, Sie sehen: Es gibt eine
selten auch seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Wir möch- Menge Diskussionsstoff. Ich freue mich auf die Beratun-
(B) ten ihn nicht in schwierige Situationen bringen. Was gen. (D)
meine ich damit? Ein junger Mensch mit zwei Jahren
Fahrerlaubniserfahrung und einer kurzen Einweisung Herzlichen Dank.
durch einen Kollegen fährt einen Lkw mit 7,5 Tonnen in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Einsatzfahrt mit Sirene und Blaulicht unter starkem der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
nervlichem Druck, denn er stellt sich die Frage: Was er- GRÜNEN)
wartet mich am Einsatzort?
Was das bedeutet, weiß ich sehr genau, zumindest Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
was den Pkw angeht, weil ich in meiner Tätigkeit als Po- Das Wort hat der Kollege Oliver Luksic von der FDP-
lizeibeamtin sehr viele Einsatzfahrten gemacht habe. Fraktion.
Obwohl ich daran gewöhnt war, weil ich es vier- bis
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
fünfmal in der Woche tun musste, war das schon sehr be-
lastend. Wie erst wird es für die jungen Leute sein, die es
mit wesentlich weniger Schulung machen müssen? Oliver Luksic (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) beraten heute über die Entwürfe der Bundesregierung
Aus der Studie der BASt ergibt sich, dass bei Fahrten und des Bundesrates zur Schaffung des sogenannten
mit Sonderrechten ein achtmal höheres Risiko besteht, Feuerwehrführerscheins. Beide Entwürfe stimmen in ih-
einen Unfall mit Schwerverletzten zu verursachen. Man ren grundlegenden Zielen überein. Wir wollen die Mög-
muss sich die Frage stellen: Kann es Probleme geben, lichkeit schaffen, dass in Zukunft bei der freiwilligen
wenn einer der Unfallbeteiligten lediglich eine Sonder- Feuerwehr, bei Rettungsdiensten, beim THW und bei
fahrerlaubnis hat und Zweifel an seiner Eignung zum sonstigen Katastrophenschutzeinheiten engagierte Eh-
Führen dieses Fahrzeugs geltend gemacht werden? renamtliche für ihre dortige Arbeit einen Führerschein
für Fahrzeuge bis 4,75 Tonnen bzw. 7,5 Tonnen machen
Aber wir sollten auch prüfen, ob diese Regelungen können. Die Koalition setzt damit einen weiteren Punkt
zumutbar für die Schulenden sind. Denn sie befinden aus der Koalitionsvereinbarung im Verkehrsbereich um.
sich in einer Zwickmühle. Es sind Kollegen, es sind
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ausbilder, und es sind Prüfer. Als Kollegen wollen sie
niemanden verprellen oder in die Pfanne hauen. Als Wir tun dies, um die Einsatzfähigkeit der freiwilligen
Ausbildende wollen sie sichere Feuerwehrwagenfüh- Feuerwehren und anderer Dienste dauerhaft aufrechter-
rende ausbilden. Und als Prüfende stehen sie erheblich halten zu können; denn seit 1999 dürfen mit den neu er-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11025
Oliver Luksic
(A) worbenen Pkw-Führerscheinen nur Fahrzeuge bis wir sie ausgesetzt haben. Das ist ein Erfolg der Regie- (C)
3,5 Tonnen gefahren werden. Allerdings übertreffen in rung. Aber durch deren Aussetzung fällt eine Rekrutie-
der Praxis selbst die kleineren Einsatzfahrzeuge leicht rungsquelle zum Beispiel für das THW weg, nämlich die
diese Grenze. Das liegt neben der verstärkten Ausstat- Verpflichtung zu einem langjährigen Ersatzdienst.
tung mit Fahrerassistenzsystemen auch an der Ausrüs-
Ich glaube, auch unter diesem Aspekt sollten wir die
tung, die zu Einsätzen mitgenommen werden muss.
Einführung des Feuerwehrführerscheins vorantreiben,
Nach Angaben des Deutschen Feuerwehrverbandes be-
damit das Ehrenamt gestärkt wird.
nötigen aber bundesweit über 16 000 Fahrzeuge fünf
oder mehr mögliche Fahrer, um ständig einsatzfähig zu (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sein, also um rund um die Uhr Sicherheit für die Bürge- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
rinnen und Bürger gewährleisten zu können. GRÜNEN)
Es musste also eine Lösung gefunden werden, wie wir Lassen Sie mich zum Abschluss kurz auf die Diskus-
den Freiwilligendienst in den verschiedenen Rettungs- sion eingehen, die auch im Bundesrat geführt wurde. Der
und Katastrophenschutzorganisationen zukunftsfest ma- federführende Verkehrsausschuss hat eine bundesein-
chen. Das tun wir mit diesem Gesetz. Spätestens wenn heitliche Lösung gefordert, auch wenn im Gesetzentwurf
die jetzt noch aktiven Jahrgänge, die im Besitz einer des Bundesrates weiterhin die Länderlösung vorgesehen
Fahrerlaubnis für die Einsatzfahrzeuge über 3,5 Tonnen ist. Zwar kann man über eine bundeseinheitliche Lösung
sind, aus dem Dienst ausscheiden, brauchen wir weiter- diskutieren, aber es ist sinnvoll, eine Länderlösung anzu-
hin gut ausgebildete Nachwuchskräfte, die die Einsatz- streben. Eine solche Lösung stärkt die Länderhoheit und
fahrzeuge führen können. Daher sehen sowohl der Ent- ermöglicht passgenaue Lösungen für jedes Bundesland.
wurf der Bundesregierung als auch der des Bundesrates Allerdings werden die Länder nicht davon abgehalten,
eine Lösung vor, nach der sowohl organisationsintern sich eng abzusprechen, damit es zu keiner völligen Zer-
eingewiesen als auch geprüft wird. Das spart Kosten, das splitterung der Rechtslage kommt. Ich hoffe, bei diesem
baut Bürokratie ab, und das ist genau das, was wir als Thema finden wir einen breiten Konsens zwischen den
christlich-liberale Koalition wollen. Fraktionen. Es geht um die Sicherung der Einsatzfähig-
keit unserer Rettungsorganisationen und um die Stär-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
kung des Ehrenamtes.
Wir haben immer wieder gehört, dass durch diese Vielen Dank.
Vorgehensweise die Verkehrssicherheit gefährdet werde,
doch ich meine, es sind verantwortungsvolle Bürgerin- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nen und Bürger, die den Dienst in den Feuerwehren ver-
(B) sehen. Außerdem stehen in beiden Gesetzentwürfen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
klare Anforderungen an diejenigen, die einweisen und Das Wort hat der Kollege Thomas Lutze von der
prüfen dürfen. Es ist also nicht so, dass in Zukunft Fraktion Die Linke.
schlecht ausgebildete Einsatzfahrer auf den Fahrzeugen
sitzen. Vor allem ist uns wichtig, dass dieses Vorgehen (Beifall bei der LINKEN)
den klammen Kommunen Geld spart, die sonst in der
Praxis häufig Nachschulungen oder Fortbildungen zum Thomas Lutze (DIE LINKE):
Erwerb von Führerscheinen gerade bei der freiwilligen Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
Feuerwehr bezuschussen oder ganz übernehmen. Ich gen! Angesichts der großen Einigkeit über dieses Thema
kenne das aus meiner Tätigkeit im Rat meiner Heimatge- gestatten Sie mir, dass ich mich kurzfasse. Es macht
meinde. Wir gewährleisten mit dem sogenannten Feuer- nämlich wenig Sinn, hier sämtliche Details meiner Vor-
wehrführerschein dauerhaft die Sicherheit der Bevölke- rednerinnen und Vorredner zu wiederholen.
rung bei Bränden und Unfällen, und wir entlasten die
Kommunen. Das ist gerade für unsere Koalition ein (Beifall des Abg. Dr. Lutz Knopek [FDP])
wichtiger Ansatz. – Es ist etwas ungewohnt, als Oppositionspolitiker aus
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dieser Richtung Applaus zu bekommen. – Das meiste,
was gesagt wurde, war sachgemäß und richtig.
Ich möchte den Blick noch auf einen weiteren Aspekt,
der eben genannt wurde und uns allen sehr wichtig ist, Im Gegensatz zu meiner Kollegin von der SPD sehe
lenken, nämlich die Stärkung des Ehrenamtes. Es muss ich keinen sonderlich großen Diskussionsbedarf. Es gibt
uns gelingen, dass in Zukunft weiterhin junge Leute sa- einzelne Punkte wie die EU-Konformität und die ein-
gen: Ja, ich möchte mich für die Gesellschaft engagieren heitlichen Prüfrichtlinien, über die in der Tat diskutiert
und ein Ehrenamt übernehmen. Das muss das Ziel aller werden muss; aber das sind Details. Ich denke, die damit
Parteien hier im Hause sein. Hierfür müssen wir Anreize verbundenen Probleme wird man im Verkehrsausschuss
schaffen. Ich glaube, der Feuerwehrführerschein ist ein in absehbarer Zeit einvernehmlich lösen können.
solcher Anreiz. Gerade in kleineren Gemeinden spielen Es ist zu Recht gesagt worden: Die freiwilligen Feu-
Organisationen wie die Feuerwehr oder das THW für erwehren hatten bei der Vereinheitlichung der Umset-
das Leben im Dorf und den Zusammenhalt in der Ge- zung des europäischen Rechts das Nachsehen. Ehren-
meinde, auch zwischen den Generationen, eine wichtige amtlich engagierte junge Menschen mit der alten Führer-
Rolle. Wir müssen gerade in diesem Zusammenhang an scheinklasse 3 gibt es immer weniger. Ich selber – man
die Aussetzung der Wehrpflicht denken. Es ist gut, dass merkt an meinem Dialekt, dass ich in der DDR aufge-
11026 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Thomas Lutze
(A) wachsen bin – hatte einen Führerschein für Fahrzeuge Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
bis 2,8 Tonnen. Mit dem Tag der Deutschen Einheit war Das Wort hat die Kollegin Dr. Valerie Wilms vom
ich berechtigt, Fahrzeuge bis 7,5 Tonnen zu steuern, Bündnis 90/Die Grünen.
ohne jemals auf einem solchen Lkw gesessen zu haben.
Es gab auch keine Fahrprüfung. Das war halt so. Das Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
war für mich eine sehr positive Erfahrung. Diese Rege-
lung ist, wie gesagt, korrigiert worden. Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es ist keine Frage: Feuer-
Das Problem für die Betroffenen ist allerdings gleich- wehren, Technisches Hilfswerk, DLRG und Katastro-
zeitig banal und fatal: Wer als junger Mensch nicht ge- phenschützer bilden eine wichtige Grundlage für die Si-
rade eine Betätigung als Kraftfahrerin oder Kraftfahrer cherheit in unserem Land. Sie kommen dorthin, wo
in der Transportbranche anstrebt, der wird die Kosten andere weglaufen. Das sollte uns auch einen Applaus
und die Mühen einer zusätzlichen offiziellen Führer- des Hauses wert sein.
scheinausbildung sicherlich nicht in Kauf nehmen. Eine
Lösung, die den Angehörigen der freiwilligen Feuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wehren und weiterer Dienste das Führen von Fahrzeugen sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
bis 4,75 Tonnen ermöglicht, erweist sich offensichtlich SPD und der FDP)
als nicht ausreichend – darauf haben auch die Vorredner Diese Helfer sind auch immer wieder Botschafter un-
hingewiesen –, weil viele Einsatzfahrzeuge einfach auf- seres Landes. Sie helfen, wenn andere Länder in Not ge-
grund der Entwicklung die Gewichtsgrenzen überschrei- raten sind. Diese Tage werden völlig überschattet von
ten. Die Fahrzeuge, die angeschafft werden, werden in
der Katastrophe in Japan. Auch hier sind unsere Helfer
der Tendenz immer schwerer. Als Lösung bietet sich ein-
vor Ort. Diese Helfer können in kürzester Zeit Menschen
zig und allein die Anhebung der Gewichtsgrenze im
retten, versorgen und erste Schritte zur Normalität ge-
Rahmen des sogenannten Feuerwehrführerscheins auf
7,5 Tonnen an. Dazu gibt es gar keine Alternative. hen. Mit einer guten Infrastruktur in der Not- und Kata-
strophenhilfe tragen wir ganz entscheidend zur Erhal-
Kritisiert wurde die Möglichkeit der organisationsin- tung und Sicherung unseres Wohlstandes bei.
ternen Ausbildung und Prüfung. Natürlich wäre der opti-
male Weg eine ordentliche Ausbildung durch professio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nelle Fahrlehrer. Wir reden allerdings hier im Parlament sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
über eine Notlösung. Eine professionelle Ausbildung, SPD und der FDP)
wie sie sicherlich wünschenswert wäre, ist für die meis- Voraussetzung für einen guten Katastrophenschutz
ten Organisationen und auch für die betroffenen ehren- sind viele freiwillige Helfer, die gut ausgestattet und gut
(B) amtlichen Helfer im Prinzip schlichtweg nicht finanzier- ausgebildet sind. Gleichzeitig wissen wir, dass beson- (D)
bar. ders die freiwilligen Feuerwehren auch eine wichtige so-
Zur Wahrheit gehört auch: Den Inhabern des alten ziale Aufgabe wahrnehmen. Viele junge Menschen ha-
Führerscheins Klasse 3 wurde die Lkw-Fahrberechtigung ben hier eine Möglichkeit, sich zu engagieren und sich
erteilt, ohne dass die Auszubildenden jemals eine Ausbil- zu bilden. Nicht wenige finden als Helferinnen und Hel-
dung für einen 7,5-Tonner hatten. fer ihren Sinn des Lebens. Das müssen wir unterstützen.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Kirsten Lühmann [SPD]: Das stimmt!)
Eine organisationsinterne Ausbildung und Prüfung ist im
Prinzip eine Verbesserung des Standards, der bis 1999 Deswegen müssen wir eine Lösung finden, wie wie-
gegolten hat. der mehr Menschen die Einsatzfahrzeuge fahren dürfen.
Meine Vorredner und Vorrednerinnen haben relativ deut-
Gestatten Sie mir eine letzte Anmerkung, weil das
vielleicht an diesem Punkt ein bisschen zur Gretchen- lich aufgezeigt, worin die Schwierigkeiten liegen. Auf
frage wird. Im Gegensatz zum Kollegen Luksic würde diese möchte ich deshalb nicht eingehen. Pragmatische
ich empfehlen, eine bundesweit einheitliche Regelung Lösungen begrüßen wir an dieser Stelle, wenn sie nicht
anzustreben und dies nicht in die Länderhoheit zu geben. zulasten der Sicherheit gehen.
Ich kann nicht erkennen, wie sich eine freiwillige Feuer- Für mich gibt es beim vorliegenden Entwurf durchaus
wehr in einem Ort in Thüringen unterscheidet von einer Fragen, die wir nicht so einfach vom Tisch fegen kön-
freiwilligen Feuerwehr in einem Ort im Saarland. Das nen. So ist zum Beispiel das Unfallrisiko bei Einsatz-
funktioniert alles nach demselben Prinzip. Deshalb sehe fahrten unter Blaulicht achtmal so hoch wie bei norma-
ich keinen Grund, ländereinheitliche Regelungen zu ma- len Fahrten. Dazu werden Katastrophenschützer oft
chen. Lassen Sie uns das bundesweit einheitlich regeln. Extremsituationen ausgesetzt, auf die sie gut vorbereitet
Die freiwilligen Feuerwehren, das Technische Hilfswerk werden müssen. Auch die oft hohen Fahrgeschwindig-
und die ganzen Organisationen arbeiten alle nach dem- keiten und die Anforderungen an die Reaktionsfähigkeit
selben Prinzip. Die Notwendigkeit für eine länderspezi- benötigen eigentlich eher eine bessere Ausbildung, als
fische Hoheit kann ich beim besten Willen nicht erken-
dass darauf verzichtet werden kann.
nen.
Im Ernstfall sind manche sonst überfordert und ver-
Danke schön.
schlimmern die Probleme, statt schnell und gezielt zu
(Beifall bei der LINKEN) helfen. Als Helfer braucht man deswegen eine gründli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11027
Dr. Valerie Wilms
(A) che theoretische und praktische Ausbildung und sollte tungsdienste ein wichtiger und fester Bestandteil des ge- (C)
psychologisch geschult werden. Ich habe hierbei Ver- sellschaftlichen Lebens.
trauen in die Fähigkeiten der Feuerwehren, diese Ausbil-
dung selbst zu übernehmen. Wir sollten aber darauf ach- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
ten, dass wir nicht nur handeln, weil es eine kosten- DIE GRÜNEN)
günstige Lösung ist. Wir wollen kein Dumping zulasten Unsere Aufgabe – so sehe ich es – ist, diese Arbeit zu
der Sicherheit. unterstützen.
Als Grüne sehen wir daher Diskussionsbedarf und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wollen hierzu gern im zuständigen Fachausschuss bera-
ten. Wir erkennen klar den Bedarf für eine Lösung. Da Ein besonderer Dank ist in diesem Zusammenhang
müssen wir ran. Wir müssen dies aber in aller Ruhe tun dem Bundestagskollegen und jetzigen Staatssekretär
und die Ansätze abwägen. Ich hoffe dabei auf die Bereit- Andreas Scheuer auszusprechen, der in unseren Arbeits-
schaft der Koalitionsfraktionen. Ich gehe davon aus, dass gruppen immer wieder deutlich gemacht hat, dass wir
wir daraus gelernt haben und durchgepeitschte Gesetze hier eine bessere Lösung benötigen, als bisher verein-
nicht mehr der Stand der Dinge sind. bart.
Der vorliegende Gesetzentwurf verfolgt einen Ansatz, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den wir in den Ausschüssen beraten werden. Wir Grüne
arbeiten hieran gern konstruktiv mit. Dabei sollten wir Laut einer Schätzung wären 16 000 Einsatzfahrzeuge
ernsthaft die Frage diskutieren, ob wir eine bundesein- in der Gewichtsklasse 3,5 bis 7,5 Tonnen von der Neure-
heitliche Richtlinie brauchen oder ob wir das den Län- gelung betroffen. Das bedeutet, dass rund 100 000 eh-
dern überlassen sollten. Lassen Sie uns gemeinsam an renamtliche Einsatzkräfte davon profitieren würden. Für
einer guten Lösung für unsere Ehrenamtler vor Ort ar- jedes Fahrzeug müssen in der Regel fünf Personen mit
beiten. Fahrerlaubnis zur Verfügung stehen, damit es im Falle
des Falles einsatzfähig ist. Nichts wäre schlimmer, als
Vielen Dank.
wenn ein Einsatz anstünde und niemand das Fahrzeug
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bewegen könnte. Selbstverständlich kann man sich auf
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die Straße stellen, einen Lkw anhalten und den Fahrer
SPD, der FDP und der LINKEN) innerhalb kürzester Zeit dienstverpflichten. Aber darauf
möchte man sich nicht unbedingt verlassen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich halte es für sachgerecht, die Kompetenz, den Feu-
(B) Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erwehrführerschein durch Rechtsverordnungen spezi- (D)
erteile ich das Wort dem Kollegen Gero Storjohann von fisch auszugestalten, bei den Ländern zu belassen. Das
der CDU/CSU-Fraktion. wurde hier schon kritisch diskutiert. Der Feuerwehrfüh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rerschein sollte in diesem Fall aber in allen Bundeslän-
dern anerkennungsfähig sein. Denn Feuerwehrleute
müssen ja durchaus beruflich flexibel sein und möchten,
Gero Storjohann (CDU/CSU):
wenn sie sich zwischen Schleswig-Holstein und Meck-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lenburg-Vorpommern bewegen, nicht jedes Mal mit ei-
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles ist hier ner anderen Rechtsverordnung konfrontiert werden.
gesagt worden. Die älteren Kollegen erinnern sich noch
an die Anfangsdebatten zum Feuerwehrführerschein. (Patrick Döring [FDP]: So ist es! – Kirsten
Lühmann [SPD]: Genau! Also machen wir es
(Iris Gleicke [SPD]: Was heißt „die älteren“? –
bundeseinheitlich!)
Kirsten Lühmann [SPD]: Die erfahreneren!)
Wir sind jetzt dabei, ein gutes Gesetz auf den Weg zu Wir halten es sehr wohl für sinnvoll, dass die Bundeslän-
bringen. Ein schlanker und unbürokratischer Feuerwehr- der hier eigenverantwortlich tätig sind. Denn die Fahr-
führerschein wäre längst möglich gewesen, scheiterte zeuge in Bayern zeichnen sich durch eine andere Funk-
aber an der ehemals sozialdemokratischen Hausführung tionsfähigkeit aus als die in Schleswig-Holstein. Die einen
im Bundesverkehrsministerium. haben Flüsse zu sichern, die anderen Deiche.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Die SPD ist die einzige Fraktion, die Zweifel bezüg-
Patrick Döring [FDP]: Endlich sagt das mal ei- lich der Verkehrssicherheit bei Einsatzfahrten ange-
ner! – Iris Gleicke [SPD]: Na, na, na!) bracht hat. Ich glaube nicht, dass es spezielle Untersu-
chungen in Bezug auf Feuerwehreinsatzfahrten gibt; die
Die christlich-liberale Koalition unterstützt – das Untersuchungen beziehen sich allgemein auf Blaulicht-
kann nicht oft genug gesagt werden – mit dem neuen fahrten. Hier geht es in erster Linie um Personen, die in
Feuerwehrführerschein die vielen Tausend Bürgerinnen diesem Bereich hauptberuflich tätig sind. Schon heute
und Bürger, die sich bei den technischen Hilfswerken, gibt es Unfallgeschehen bei Einsatzfahrzeugen im Be-
beim Katastrophenschutz oder bei unseren Feuerwehren reich Polizei und Feuerwehr; das ist nicht zu bestreiten.
ehrenamtlich für unsere Gesellschaft engagieren. Sie tra- Deswegen brauchen wir eine Topausbildung.
gen mit ihrer Arbeit zu unser aller Sicherheit bei. Gerade
im ländlichen Raum sind die Feuerwehren und die Ret- (Kirsten Lühmann [SPD]: Richtig!)
11028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Gero Storjohann
(A) Diese erfolgt bei den Feuerwehren auch. Der Führer- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: (C)
schein allein sichert nicht die Befähigung, das Fahrzeug
im Einsatz unter Stress sicher zu lenken. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜND- nologie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abge-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) ordneten Edelgard Bulmahn, Klaus Barthel,
Garrelt Duin, weiterer Abgeordneter und der
Aber wir sprechen hier in erster Linie von Fahrzeugen Fraktion der SPD
im ländlichen Bereich. Die Verkehrssituation dort ist
nicht vergleichbar mit der in Hamburg, München oder Fairen Rohstoffhandel sichern – Handel mit
Köln. Im ländlichen Bereich kann man solche Einsätze Seltenen Erden offenhalten
üben. Wenn die jungen Leute Fahrzeugführer werden
wollen, können sie dort entsprechend vorbereitet wer- – Drucksachen 17/4553, 17/4910 –
den. Berichterstattung:
(Florian Pronold [SPD]: Da sind die Straßen Abgeordneter Klaus Breil
schlechter!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Die feuerwehrtechnische Ausbildung halten wir sehr Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
wohl für sinnvoll. Wir haben auch keinen Zweifel daran, derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist es
dass die Feuerwehr die bestmögliche Ausbildung garan- so beschlossen.
tieren wird. So habe ich jedenfalls meine Feuerwehr Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
kennengelernt. Sie ist korrekt und achtet darauf, dass al- ner dem Kollegen Klaus Breil von der FDP-Fraktion das
les gut abgewickelt wird. Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem (Beifall bei der FDP)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, auch ich weiß, dass dieser Klaus Breil (FDP):
Feuerwehrführerschein von den Kommunalpolitikern, Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
hauptsächlich Bürgermeistern, aber auch von den Feuer- gen! Wir – damit meine ich die christlich-liberale Koali-
wehrkameraden förmlich herbeigesehnt wird. Deswegen tion und unsere Bundesregierung – wissen: Die stark ge-
ist hiermit eine gründliche Beratung, aber auch eine stiegene Nachfrage nach Seltenen Erden hat in den
schnelle Umsetzung versprochen. Trotzdem wird das vergangenen Monaten zu einem raschen Preisanstieg ge-
(B) Gesetz nicht durchgepaukt; denn wir haben schon eine führt. Wir wissen auch, dass das protektionistische Ver- (D)
lang andauernde Diskussion geführt und sollten jetzt zu halten der Volksrepublik China der deutschen Industrie
einer Entscheidung kommen. Sorgen bereitet. China ist derzeit der einzige Exporteur
Seltener Erden. Deshalb fürchtet die Industrie um ihre
(Patrick Döring [FDP]: Wohl wahr!)
Versorgung mit diesen wichtigen Rohstoffen.
Die Kommunen werden es uns danken. Da ich schon
Es ist offensichtlich, dass hier die Politik zusammen
jetzt Wahlkreisabgeordnete der SPD erlebe, die die Seg-
mit der Wirtschaft reagieren muss.
nungen des neuen Feuerwehrführerscheins als eigene
Idee verkaufen, möchte ich die Prognose wagen, dass (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
wir hier im Parlament zu einer breiten Mehrheit kom-
men. Es hilft auch den Teams der Feuerwehrkameraden, Aber mit Verlaub: Bundeswirtschaftsminister Rainer
wenn sie wissen: Sie bekommen unsere breite Unterstüt- Brüderle hat im Oktober letzten Jahres seine Roh-
zung. Die Punkte, die angesprochen wurden, werden wir stoffstrategie veröffentlicht und entsprechende Rohstoff-
noch würdigen müssen. Glück auf in den Ausschussbe- dialoge initiiert. Der Antrag der SPD läuft diesen Initia-
ratungen! tiven hinterher.

(Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Patrick
NEN]: Glück auf?) Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wie wahr!)

Wir sollten es kurzfristig schaffen, ein gutes Gesetz auf Rohstoffversorgung ist die Zukunftsaufgabe. Das er-
den Weg zu bringen. gibt sich schon alleine aus folgendem Zusammenhang:
Wachsende Weltbevölkerung bedeutet wachsender Ener-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gie- und Rohstoffbedarf. Dabei sind noch unter keiner
Bundesregierung, schon gar nicht unter Rot-Grün, so
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: viele Initiativen zur Rohstoffversorgung gestartet wor-
Ich schließe die Aussprache. den wie unter Rainer Brüderle. Zusätzlich zu den Aktivi-
täten der auch im weltweiten Vergleich hochkompeten-
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- ten Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe
würfe auf den Drucksachen 17/4981 und 17/2766 an die in Hannover hat der Bundeswirtschaftsminister vieles
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- auf den Weg gebracht: Rohstoffdialoge, Rohstoffstrate-
schlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist nicht der gie, Rohstoffagentur, eine eigene Unterabteilung „Roh-
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. stoffpolitik“ im Ministerium und bilaterale Rohstoffpart-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11029
Klaus Breil
(A) nerschaften. Das sind unsere Antworten auf die sen wir dafür sorgen, dass Sanktionen vonseiten der (C)
drängenden Fragen der Rohstoffversorgung. WTO auch greifen.
Bei den Rohstoffpartnerschaften möchte ich zudem Dafür stehen wir Liberale, dafür stehen unsere Bun-
auf die hervorragende Arbeit eines weiteren liberalen desminister Rainer Brüderle und Dirk Niebel, und dafür
Bundesministers hinweisen: Dirk Niebel hat in seinem steht die ganze Bundesregierung.
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Vielen Dank.
und Entwicklung auf die Fehler der Vergangenheit re-
agiert. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Arnold
Vaatz [CDU/CSU]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Klaus Barthel von der SPD-
Höhere Investitionen in Entwicklungsländer sollen zu- Fraktion.
allererst privatwirtschaftlich angestoßen werden. Nur
dadurch werden die Strukturen vor Ort stabilisiert. Vo- (Beifall bei der SPD)
raussetzung dafür ist aber Transparenz. Sie verhindert il-
legale Aktivitäten. Wirtschaftswachstum aus der eigenen Klaus Barthel (SPD):
Mitte ist der Schlüssel, um Armut sukzessive abzu- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am
bauen. Ende unserer Beratungen über unseren Antrag zu fairem
Investitionen vor Ort, besonders in den vor- und nach- Rohstoffhandel in Plenum und Ausschüssen ist zweierlei
gelagerten Wertschöpfungsketten, schaffen Arbeits- deutlich: Erstens, Herr Breil, müsste die Koalition ei-
plätze. Sie führen zu Folgeinvestitionen und damit zu gentlich froh sein, dass wir die Debatte über die künftige
Weiterentwicklungen. Rohstoffpartnerschaften werden Rohstoffversorgung in Deutschland und über die welt-
so zu Win-win-Situationen. weite Rohstoffpolitik einmal von den Homepages des
Wirtschaftsministeriums und der Institute in den Deut-
Wir fordern von den Partnerregierungen aber die Ein- schen Bundestag geholt haben und unabhängig von den
haltung von Menschenrechten, gutes und transparentes schubweisen Panikattacken auf den Börsenparketten be-
Regierungshandeln und die Bekämpfung von Korrup- handeln. Zweitens müsste die Koalition, wenn sie ihre
tion. Wir müssen vor allem ganz besonders darauf ach- Redner und ihre Reden ernst nimmt, unserem Antrag ei-
ten, dass Umwelt- und Sozialstandards angemessen gentlich zustimmen. Argumente dagegen haben wir bis
hohen Maßstäben genügen; sonst darf es keine Unter- heute nicht gehört. Wir haben bemerkt, dass viele in der
stützung geben. Koalition insgeheim froh sind, dass wir dem Bundes-
(B) wirtschaftsminister endlich einmal Dampf machen, da- (D)
Die Bundesregierung hat jedenfalls ihre Hausaufga-
mit er es nicht länger bei flotten Sprüchen und der Ver-
ben gemacht. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
kündung irgendwelcher Strategien belässt.
SPD, dürfen das natürlich gerne durch nachlaufende An-
träge bestätigen. In der Kürze folgende Anmerkungen: Die Engpässe
und die Preisexplosion bei den Seltenen Erden sind nur
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie kurz auf
die Spitze des Eisbergs. Mit Recht stellt eine aktuelle
den aktuellsten Stand bringen. Die Bundesregierung ist
Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik fest – ich
derzeit in Gesprächen über bilaterale Rohstoffpartner-
zitiere –:
schaften. Ein Beispiel dafür ist Mongolia. Dort liegt ne-
ben der weltweit wichtigsten neu entwickelten Kupfer- Die Allokation von Ressourcen gilt als eines der
mine Oyu Tolgoi die Bayan-Obo-Mine mit einem der größten Sicherheitsrisiken des 21. Jahrhunderts.
attraktivsten Vorkommen Seltener Erden. Dies alles
Wenn erst einmal die Produktion wichtiger Güter, wie
zeigt: Die Bundesregierung bedarf ihrer Fingerzeige
zum Beispiel elektronischer Geräte, wegen Rohstoffeng-
nicht, auch dann nicht, wenn es um die Erleichterung des
pässen eingeschränkt werden müsste, dann stiege der
Handels mit Seltenen Erden geht.
Druck allenthalben sehr schnell. Wenn es erst einmal eng
Noch in diesem Jahr beginnen zwei weitere Minen geworden ist, dann kann sich der Druck auch in Rich-
außerhalb Chinas mit der Förderung Seltener Erden. Es tung Panikreaktionen und falscher Risikobereitschaft
bleibt abzuwarten, wie sich dies auf Verfügbarkeit und auswachsen.
Preise auswirken wird.
Auf nationaler Ebene können wir das Rohstoffpro-
So birgt die gegenwärtige Situation sicher auch Chan- blem nicht lösen, aber wir können einen Beitrag zur Lö-
cen für andere Länder, ihre Vorkommen umweltverträg- sung leisten. Der Ruf nach der Wirtschaft und den freien
licher zu explorieren. Gleichwohl: Die Situation der letz- Weltmärkten reicht nicht, weil das Drama der rohstoff-
ten Monate ist für uns und ganz besonders für die reichen Länder unter dem Regime freier Märkte gerade
deutsche Wirtschaft ein deutlicher Weckruf. Es war ein darin besteht, dass die Menschen dort – mit wenigen
Fehler der Industrieunternehmen, das erste Glied in der Ausnahmen – nichts von dem Rohstoffreichtum haben
Wertschöpfungskette der Rohstoffwirtschaft ohne Not und dass es gerade die Rohstofflieferländer sind, die
aufzugeben. Für eine Rückwärtsintegration ist es heute weit überdurchschnittlich am Mangel an Demokratie,
zu spät. Die Kosten dafür wären schlicht zu hoch. Also Rechtsstaatlichkeit, sozialer Gerechtigkeit und Wohl-
werden wir uns dafür einsetzen, einseitige Abhängigkei- stand leiden. Der Verdacht liegt nahe, dass der Rohstoff-
ten und Handelsbarrieren abzubauen. Im Übrigen müs- reichtum und diese Mängel etwas miteinander zu tun ha-
11030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Klaus Barthel
(A) ben und dass die Gefahr groß ist, dass genau dies zu welt- und Technologiepolitik miteinander verbindet, also (C)
Instabilität und zu Verwerfungen führt, wie wir das ge- ressortübergreifend wirkt“.
rade in Nordafrika erleben. Hat nicht gerade jener freie
Ich finde, wir sollten endlich anfangen, daran zu ar-
Markt zu den Fehlentwicklungen geführt, die wir heute
beiten.
beklagen, nämlich dass wir die Erkenntnisse über die
Knappheiten übersehen haben, dass es Monopole und (Beifall bei der SPD)
Oligopole bei der Gewinnung und dem Handel mit Roh-
stoffen gibt, dass es Spekulationen gibt? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wenn wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratin- Das Wort hat der Kollege Andreas Lämmel von der
nen heute vom ungehinderten Zugang zu sicherer Roh- CDU/CSU-Fraktion.
stoffversorgung für die Industrie sprechen, dann meinen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
wir damit bestimmte Bedingungen: weltweit geltende
faire Regeln, möglichst weitgehende Ausschaltung von
Spekulation und die Vermeidung von einseitigen politi- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
schen Eingriffen, von welcher Seite auch immer. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wenn man täglich die Zeitungen aufschlägt und in
(Beifall bei der SPD) die Wirtschaftsteile blickt, stellt man fest: Rohstoffe sind
Drittens. Eine dieser Regeln ist die Transparenz über das Megathema an allen Fronten.
Vorkommen, Handelsströme und Verbrauch, über Fi- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nanzströme und Verteilung der Erträge. Dies finge bei NEN]: An allen Fronten?)
uns damit an, dass die Erkenntnisse unserer steuerfinan-
zierten Deutschen Rohstoffagentur und der Bundesan- Dabei geht es nicht nur um Seltene Erden, sondern um
stalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, allge- Rohstoffe insgesamt. Wenn man sich die Rangfolge der
mein zugänglich sind und nicht nur ausgewählten bzw. zehn wertvollsten Unternehmen der Welt genau an-
unmittelbar interessierten Kreisen. Die Forderung nach schaut, stellt man fest, dass in diesem Jahr von den
offenen Märkten und Transparenz verträgt sich nicht mit Top 10 immerhin fünf Unternehmen mit der Förderung,
der Geheimnistuerei, der wir dort teilweise begegnen. der Verarbeitung und dem Verkauf von Bodenschätzen
befasst sind. 2006 war es nur ein Unternehmen in den
Zur internationalen Transparenzinitiative, EITI, wird Top 10. Daran kann man also sehen: Rohstoffe sind zum
Kollege Raabe noch einiges sagen. Nur so viel: Verbal einen ein wichtiges Thema und zum anderen ein guter
unterstützt die Koalition diese Transparenz. Aber wer Stoff, Geschäfte zu machen.
genau zuhört, erkennt, dass Schwarz-Gelb mit Transpa-
(B) (D)
renz immer nur die anderen meint. Wie sonst wäre es er- Herr Barthel, damit wir uns nicht falsch verstehen:
klärbar, dass es ausgerechnet die Bundesregierung ist, Der von Ihrer Fraktion gestellte Antrag, den Sie vertei-
die auf europäischer Ebene bisher auf der Bremse steht, digt haben, ist im Grunde nicht falsch, sondern veraltet.
wenn es um die volle Unterstützung von EITI durch die Die Dinge, die Sie fordern – ich komme gleich darauf –,
EU geht, sind nämlich zum großen Teil schon in Arbeit bzw. sind
schon erledigt. Es ist interessant, dass die rot-grüne Re-
(Beifall bei der SPD) gierung damals nicht in der Lage war, eine Rohstoffstra-
wenn es um die Schaffung wirksamer Regeln zur Kor- tegie zu entwickeln. Erst die christlich-liberale Koalition
ruptionsbekämpfung in der EU geht? Selbst in den USA hat das Thema angepackt. Sie hat im Dialog mit Politik,
gibt es mit dem Dodd-Frank-Act solche Regeln schon Wirtschaft und allen beteiligten Partnern eine Roh-
seit über einem Jahr. Heute, liebe Kollegen und Kolle- stoffstrategie auf den Weg gebracht, über die wir heute
ginnen von der Koalition, wäre die Chance für ein klares diskutieren können.
Wort in dieser Frage, zur Haltung der Bundesregierung
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
zu diesen Initiativen und zu Wahrheit und Klarheit bei
neten der FDP)
der Haltung in der Europäische Union.
Meine Damen und Herren, die Rohstoffstrategie der
Viertens wären noch Energieeffizienz und Recycling
Bundesregierung ist ein ganzheitlicher Ansatz für die
zu erwähnen. Ein Blick auf die Reden in der ersten Bera-
Rohstoffversorgung der deutschen Wirtschaft. Sie geht
tung über diesen Antrag ergibt: Da sind spannende Sa-
beispielsweise in die aktuelle Technologieoffensive oder
chen über erneuerbare Energien und über Erneuerbarkeit
in die aktuelle Mittelstandsoffensive des Bundeswirt-
insgesamt gesagt worden, nämlich dass das alles wahn-
schaftsministeriums ein. Ebenso sind organisatorische
sinnig teuer sei. Dann wurde wieder auf die billige
Maßnahmen im Bundeswirtschaftsministerium getroffen
Atomenergie angespielt. Lesen Sie es noch einmal nach
worden. Es wurde eine Unterabteilung „Rohstoffpolitik“
und korrigieren Sie es bitte! Das wäre sehr hilfreich.
eingerichtet. Herr Barthel, so etwas hat es unter Rot-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Grün nie gegeben.
DIE GRÜNEN)
Sie haben korrekt angemerkt, dass die Sicherung der
Zum Schluss darf ich noch einmal die SWP zitieren. Rohstoffbasis „zuallererst Aufgabe der Unternehmen“
Ihrer Meinung nach bedarf es „eines integrierten Ansat- ist; darin stimmen wir überein. Dazu muss man sagen:
zes für eine Rohstoffstrategie, die Wirtschafts- und Ent- Die Politik kann nur flankierend wirken, also nur unter-
wicklungspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, Um- stützende Maßnahmen ergreifen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11031
Andreas G. Lämmel
(A) Ich komme zu drei Punkten aus Ihrem Antrag. Ers- Ich komme zu einer Maßnahme, die Sie nicht gefor- (C)
tens. Sie fordern Rohstoffpartnerschaften und Rohstoff- dert haben – die Bundesregierung hat sie unabhängig
abkommen sowie einen „offenen und fairen Zugang im von Ihnen ergriffen –, der Einrichtung der Deutschen
Rohstoffhandel“. Es wird schon seit einiger Zeit über Rohstoffagentur. Die Deutsche Rohstoffagentur wird der
Rohstoffpartnerschaften verhandelt. Dafür brauchen wir deutschen Wirtschaft die Daten liefern, die notwendig
nicht Ihren Anstoß. Bevor man wirklich über Rohstoff- sind, um zu sehen, welche Rohstoffe in welcher Menge
partnerschaften verhandeln kann, muss die Wirtschaft auf der Welt vorhanden sind, wo abgebaut werden kann,
ihre Bedarfe formulieren; sie muss sich darüber klar wo man sich an welchen Neuaufschlüssen beteiligen
sein, über welche Rohstoffe, über welche Mengen ver- kann. Gerade bei den Seltenen Erden – das wissen Sie
handelt werden soll. Herr Barthel, die erste Rohstoffpart- ganz genau – gibt es weltweit Lagerstätten, also nicht
nerschaft steht kurz vor ihrem Abschluss bzw. ist schon nur in China. Um den Engpass abzubauen, der auch
sehr weit ausverhandelt. Dann werden wir doch einmal durch China verursacht wird, muss es jetzt darum gehen,
sehen, ob Sie diese Partnerschaft wirklich unterstützen. neue Lagerstätten zu erschließen. Wir werden sehen, wie
Ihre Unterstützung an dieser Stelle letztendlich aussieht.
Sie machen einen bemerkenswerten Schwenk. Sie
verknüpfen in Ihrem Antrag erstmalig die Außenpolitik Herr Barthel, in Ihrem Antrag fordern Sie, dass die
und die Entwicklungszusammenarbeit mit der Rohstoff- Bundesregierung Instrumente bereitstellt, die dazu die-
politik. Eine solche Verknüpfung haben Sie bisher im- nen, die Versorgung der deutschen Wirtschaft mit Roh-
mer geleugnet. Ich kann mich noch genau daran erin- stoffen zu gewährleisten. Ich kann Ihnen sagen, welche
nern, wie die SPD-Ministerin für Entwicklungszusam- Instrumente es gibt – die Bereitstellung dieser Instru-
menarbeit hier im Plenum stand und jeglichen Zusam- mente hätten Sie in Ihrem Antrag gar nicht fordern müs-
menhang geleugnet hat. Wir danken Ihnen für diesen sen –: Es gibt Hermesbürgschaften, es gibt die ungebun-
Schwenk; denn er macht die Arbeit in Zukunft mögli- denen Finanzkredite, und es wird eine Explorations-
cherweise leichter. unterstützung geben. Das sind die Instrumente, die im
Moment erforderlich sind, damit sich die deutschen Un-
Sie wissen, dass hinsichtlich des freien Zugangs zu ternehmen auf dem Rohstoffmarkt stärker einbringen
Rohstoffmärkten ein Verfahren der WTO gegen China können.
läuft. Auch hier ist die Bundesrepublik Deutschland, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bundesregierung aktiv geworden.
Fazit: Das Thema Rohstoffsicherung ist längst ein be-
Zweitens. Sie fordern die Nutzung heimischer Lager- deutender Teil der politischen Agenda der christlich-li-
stätten; das ist ein ganz spannendes Thema. Ich halte das beralen Koalition. Anträge Ihrer Fraktion dazu brauchen
(B) für einen guten Vorschlag. Er wird übrigens umgesetzt. wir nicht. Es ist notwendig, dass wir das Rohstoffthema (D)
Vielen Dank, dass Sie mit Ihrem Antrag den Abbau von insgesamt betrachten und die Diskussion nicht auf die
Rohstoffen in Sachsen unterstützen. Wir werden uns das Seltenen Erden verengen. Die christlich-liberale Koali-
gut merken. Jeder Abbau von Rohstoffen ist ein Eingriff tion beachtet diesen Grundsatz. Herr Barthel, weil Ihr
in die Natur. Wir sind sehr gespannt, zu sehen, ob Sie die Antrag veraltet ist, können wir ihm leider nicht zustim-
Abbauaktivitäten vor Ort unterstützen oder ob die SPD, men.
die Grünen oder die Linken vielleicht in vorderster Front
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
stehen, wenn es darum geht, den Abbau von Rohstoffen
sowie neue Aufschlüsse zu verhindern. Dann zeigt sich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
möglicherweise ein Gegensatz zwischen der Politik, die
Sie draußen machen, und dem, was Sie hier am Pult er- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
zählen. Das Wort hat die Kollegin Ulla Lötzer von der Frak-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tion Die Linke.
neten der FDP) (Beifall bei der LINKEN)
Wir haben in Deutschland ein großes Problem. Große
Ulla Lötzer (DIE LINKE):
Teile des Landes sind in Flora-Fauna-Habitat-Schutzge-
biete eingeteilt. Wir werden darüber diskutieren müssen, Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Stellen
ob Sie uns unterstützen, wenn es darum geht, möglicher- wir die Debatte einmal wieder vom Kopf auf die Füße,
weise auch in Natura-2000-Gebieten Rohstoffabbau zu Herr Lämmel.
betreiben und dort Rohstoffvorkommen zu erschließen. (Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der SPD: Sie müssen den Antrag Richtig ist: China fördert derzeit 90 Prozent der Seltenen
zu Ende lesen!) Erden. Richtig ist aber auch: China verfügt nur über
knapp 30 Prozent der Reserven an Seltenen Erden. Die
Drittens. Sie thematisieren das Recycling. Recycling deutsche Industrie freute sich wie andere auch über die
ist wichtig und richtig. Herr Barthel, hier hoffen wir auf billigen Rohstoffe. Niemand scherte sich auch nur einen
Ihre Unterstützung, wenn es im Deutschen Bundestag Deut um die katastrophalen Arbeits- und Umweltbedin-
zur Lesung der Novelle des Kreislaufwirtschaftsgesetzes gungen, unter denen sie in China gefördert werden. Den
kommt. Dann werden wir sehen, wie viel Ihre Unterstüt- Rest der Seltenen Erden hat man in der Erde gelassen,
zung wert ist. weil die Lieferung aus China viel billiger war. Diese Ab-
11032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Ulla Lötzer
(A) hängigkeit hat nicht China produziert, diese Abhängig- nisse vorgelegt werden können, als sie mit diesem An- (C)
keit ist selbst gewählt. Statt jetzt darüber zu klagen oder trag, aber vor allem auch im Rahmen der Rohstoffstrate-
China die Schuld zuzuschieben, hätten Sie besser vorher gie der Bundesregierung vorgelegt worden sind.
eine andere Rohstoffpolitik gemacht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Beifall bei der LINKEN und der Abg. Ingrid
Klaus Barthel [SPD])
Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Kollege Barthel, die von Ihnen geforderte weiterge-
hende Handelsliberalisierung als Lösung verbessert den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zustand aber nicht. Wer einen fairen Handel will, muss Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Nestle von
erst einmal anerkennen, dass die Rohstoffe den Roh- Bündnis 90/Die Grünen.
stoffländern gehören. Da wir dies anerkennen, haben
diese Länder aus unserer Sicht auch die Legitimation,
Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Exportbeschränkungen zu verfügen und regulierende
Maßnahmen zu erlassen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Staatssekretär Pfaffenbach hat in der letz-
Sie, Kollege Lämmel, führen die Diskussion, als
ten Sitzung des Wirtschaftsausschusses gesagt, Deutsch-
ginge es um den freien Zugriff unserer Wirtschaft auf
land sei ein rohstoffarmes Land.
unsere Rohstoffe, die scheinbar nur aufgrund eines
Missverständnisses der Natur im Boden anderer Länder (Zuruf von der FDP: Da hat er aber recht!)
liegen.
Das ist typisch für den Tunnelblick von Schwarz-Gelb.
(Klaus Barthel [SPD]: Nicht in Sachsen!)
(Andreas G. Lämmel [CDU/CSU]: Oh!)
Statt einer verschärften Konkurrenz um den Zugang
Diese Perspektive ist nicht nur einseitig. Sie geht an der
zu begrenzten Rohstoffen, brauchen wir auf internatio-
Realität vorbei;
naler Ebene partnerschaftliche Regeln und die Einfüh-
rung sozialer und ökologischer Mindeststandards in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Handelsverträgen. Statt Freihandel brauchen wir eine
faire Beteiligung der Entwicklungs- und Schwellenlän- denn wir verfügen über Rohstoffe hier vor Ort. Eine
der an den Gewinnen und eine Verhinderung von Roh- Tonne Handyschrott enthält 60-mal mehr Gold als eine
stoffspekulationen. Tonne Golderz, außerdem weitere knappe Rohstoffe wie
Tantal. Recycling als Rohstoffgewinnungsstrategie hat
(Beifall bei der LINKEN) enormes Potenzial – in Deutschland und darüber hinaus. (D)
(B)
Hauptziel einer Rohstoffpolitik sollte nicht Beschaf- (Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir
fungskonkurrenz, sondern die drastische Reduzierung doch!)
des Ressourcenverbrauchs sein.
Allein in Europa werden nur 40 Prozent des Elektronik-
(Beifall bei der LINKEN) schrotts korrekt recycelt. Nach Schätzungen der UN lan-
den weltweit jedes Jahr 40 Millionen Tonnen Elektroge-
Derzeit verbrauchen einige wenige Industrieländer in-
räte im Müll. Die ausgedienten Telefone, Computer oder
nerhalb weniger Jahrzehnte hemmungslos die begrenz-
Fernseher enthalten viele wertvolle und teils sehr seltene
ten Ressourcen der Welt. Trotz des Bekenntnisses zur
Metalle, die in großen Mengen zurückgewonnen werden
Rohstoffeffizienz ist der absolute Verbrauch an Rohstof-
und so der Wirtschaft zur Verfügung stehen könnten.
fen in der EU der 27 in den letzten Jahren um mehr als
10 Prozent gestiegen. Einen weiteren wichtigen Beitrag (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
muss der Ausbau eines umfassenden Recyclingsystems
Auch für die Umwelt ist es besser, die Rohstoffe, die wir
für die wichtigen Metalle leisten. Kollege Breil, ich weiß
schon haben, mit innovativen Verfahren aus dem Müll
zwar, dass Ihnen das ein Gräuel ist, aber an dieser Stelle
wieder herauszulösen, als sie unter steigenden Belastun-
muss der Staat steuernd eingreifen. Er muss Anreize
gen für die Umwelt auszugraben. Damit wir dieses Po-
schaffen und darf nicht, wie in Ihrer Rohstoffstrategie
tenzial nutzen können, brauchen wir aber eine andere
– die eine Luftnummer ist – leere Versprechungen ma-
Rohstoffstrategie, als die Bundesregierung sie vorgelegt
chen.
hat. Die Kernbotschaft einer modernen Ressourcenstra-
(Beifall bei der LINKEN) tegie ist: Ressourceneffizienz, Recycling, Substitution.
Wir brauchen konkrete politische Maßnahmen. Wir Die Industrie muss ressourcensparender arbeiten und
müssen Rohstoffeffizienz bei der öffentlichen Beschaf- schon beim Design der Produkte über die Wiederver-
fung zwingend vorschreiben. Wir brauchen eine Förde- wertbarkeit nachdenken. Hierfür und nicht für das Gra-
rung des ökologischen Umbaus der Industrie durch eine ben nach den Ressourcen sollte die Wirtschaftspolitik in
regulierende Industriepolitik, eine Besteuerung des Roh- erster Linie Anreize setzen,
stoffverbrauchs, was die EU-Kommission vorgeschlagen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
hat, und viele andere Maßnahmen. Wir haben jetzt Gele-
bei Abgeordneten der SPD)
genheit, in der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohl-
stand, Lebensqualität“ eine Konzeption zu entwickeln, zum Beispiel mit Ordnungspolitik und finanziellen An-
mit der dann – hoffentlich gemeinsam – bessere Ergeb- reizen wie einer besseren Förderung von Forschungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11033
Ingrid Nestle
(A) und Entwicklungsausgaben. Das ist auf Dauer aussichts- Rohstoffe liegen. Ich glaube, dass wir alle uns fragen (C)
reicher als die Beschaffungsstrategie. Die Bundesregie- müssen: Warum sind viele Länder arm, warum sind die
rung setzt mit dem Fokus auf die Beschaffung von Roh- Menschen in diesen Ländern arm, obwohl dort Roh-
stoffen die falsche Priorität. Aber leider springt auch die stoffe wie Öl, Gold und Diamanten oder eben auch Sel-
SPD auf diesen Zug auf. Auch sie unterschätzt die Po- tene Erden vorhanden sind? Für viele Entwicklungslän-
tenziale von Ressourceneffizienz, Recycling, Substitu- der sind Rohstoffe leider mehr Fluch als Segen.
tion.
Natürlich kann man es sich leicht machen und sagen,
(Klaus Barthel [SPD]: Das steht doch darin!) dass die dortigen Regierungen dafür sorgen müssen,
dass mehr entsprechende Steuern erhoben und die Um-
Natürlich muss auch die von uns Grünen vorgeschla-
weltstandards eingehalten werden. Aber ein Teil der
gene Innovationsstrategie durch eine Sicherung des Zu-
Wahrheit ist auch, dass es deutsche, dass es unsere Kon-
gangs zu Rohstoffen flankiert werden. Vor allem für
zerne sind, die in diesen Länder Rohstoffe abbauen, und
kleine und mittlere Unternehmen brauchen wir funktio-
dass Unternehmen hier von diesen Rohstoffen profitie-
nierende offene Rohstoffmärkte. Aber Rohstoffpartner-
ren
schaften, wie jetzt mit Kasachstan angedacht, dürfen
nicht exklusiv sein und damit die offenen Märkte gefähr- (Zuruf von der LINKEN: Genau!)
den. Sie müssen Win-win-Situationen für alle Beteilig-
ten schaffen. Das heißt, auch die Menschen in den Ab- und sich zu wenig Gedanken darüber machen, was vor
bauländern müssen davon profitieren, durch transparente Ort in diesen Ländern passiert. Deswegen können wir
Zahlungsströme, durch ökologisch und sozial verant- das nicht, wie es in der Rohstoffstrategie der Bundesre-
wortbare Abbaubedingungen. Solche Partnerschaften gierung steht, allein der Privatwirtschaft überlassen.
dürfen den berechtigten Anspruch der Menschen auf De- Vielmehr brauchen wir verbindliche Regeln, damit Um-
mokratie und Mitbestimmung in ihren Ländern nicht be- welt- und Sozialstandards eingehalten werden und die
hindern. Rohstoffe endlich den Menschen zugutekommen, die sie
fördern, und den Ländern, aus denen sie stammen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, in Ih-
rem Antrag steht sehr viel Richtiges, aber wir würden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
die Schwerpunkte anders setzen. Die Antwort auf Res- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sourcenverknappung muss heißen: weniger verwenden, LINKEN)
wiederverwenden und durch günstigere Rohstoffe erset- Ich möchte kurz aus einem Artikel zitieren, in dem
zen. die Situation im Zusammenhang mit dem Abbau in
(Klaus Barthel [SPD]: Steht doch alles darin!) China beschrieben wird. Hier steht:
(B) (D)
Sie vernachlässigen darüber hinaus die europäische Per- Aber auch dort, wo der chinesische Staat die Förde-
spektive, und Sie setzen auf die überholte Philosophie rung der Seltenen Erden direkt kontrolliert, ge-
„mehr für uns“. schieht dies unter völliger Missachtung von Um-
weltschutz und Gefährdung der Anwohner. …
(Florian Pronold [SPD]: Die lesen unseren An- unweit der Stadt Baotou. Auch hier werden die Sel-
trag auch nicht zu Ende, genauso wenig wie tenen Erden nicht mit umweltschonenden Metho-
Herr Lämmel! Das sparen die auch ein! Das ist den isoliert, sondern durch Auswaschen mit Schwe-
eine ganz moderne Reform von Ressourcen- felsäure, Nitratsalzen und anderen Chemikalien.
schonung, dass Sie unseren Antrag nicht zu Anschließend wird die Brühe einfach in einen
Ende lesen!) künstlichen See gepumpt, für den ein Staudamm er-
– Nein, wir haben den Antrag durchaus gelesen. – Wir richtet wurde. Der Giftsee ist inzwischen zwölf Ki-
richten den Fokus eher auf die Ressourceneffizienz, das lometer lang – auch dies ein Weltrekord. Er ist nicht
„Wenigerverwenden“, das Wiederverwenden und das nur voller Chemie, sondern enthält auch Tonnen ra-
Ersetzen durch günstigere Rohstoffe; denn wir können in dioaktiven Thoriums, das so gut wie immer in den
den Industrieländern nicht länger erwarten, dass auf- Seltene-Erden-Erzen enthalten ist.
grund eines überproportionalen Verbrauchs ein überpro- Wenige Kilometer von der Kloake entfernt lagen
portionales Recht auf Zugang zu Rohstoffen besteht. bis vor kurzem mehrere Dörfer, die sich den un-
Vielen Dank. rühmlichen Namen „Krebsdörfer“ erwarben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Denn dort sind viele Menschen elendig an Krebs gestor-
bei der SPD und der LINKEN) ben.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich sage deshalb: Wir dürfen nicht zulassen, dass
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe für die diese Zustände in China und in anderen Entwicklungs-
SPD-Fraktion. ländern vorherrschen, dass wir mit unseren Handys und
unserer Produktion entsprechender Güter dazu beitra-
gen.
Dr. Sascha Raabe (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Herr Lämmel, Sie haben zitiert, dass auch wir der
und Kollegen! Es mag paradox klingen, dass ausgerech- deutschen Wirtschaft zum Beispiel Hermesgarantien ge-
net in vielen der ärmsten Länder dieser Erde die meisten ben möchten. In unserem Antrag steht aber, dass staatli-
11034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Sascha Raabe


(A) che Garantien nur dann gegeben werden dürfen, wenn Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
sich die Unternehmen strikt dazu verpflichten, die Herr Kollege!
OECD-Leitlinien, den Global Compact der Vereinten
Nationen, die EITI-Vereinbarungen für Transparenz und Dr. Sascha Raabe (SPD):
Umwelt- und Sozialstandards einzuhalten. Nur dann Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem An-
dürfen diese Bürgschaften gegeben werden. trag.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vielen Dank, Frau Präsidentin.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
GRÜNEN)
Ich sage an dieser Stelle: Diese Bundesregierung geht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
mit Hermesbürgschaften ganz anders um, als wir es da- Ich schließe die Aussprache.
mals zusammen mit den Grünen in unseren Richtlinien
2001 vorgesehen haben. Wir haben Hermesbürgschaften Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
nur gegeben, wenn die ökologischen und sozialen Krite-
der Fraktion der SPD mit dem Titel „Fairen Rohstoff-
rien gestimmt haben. Sie geben Hermesbürgschaften
handel sichern – Handel mit Seltenen Erden offenhal-
mittlerweile nur nach den Kriterien, dass dadurch die
ten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
Außenwirtschaft gefördert wird und möglichst viele Pro-
fehlung auf Drucksache 17/4910, den Antrag der
fite gemacht werden. Sie schrecken nicht einmal davor
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/4553 abzulehnen.
zurück, Hermesbürgschaften für den Bau von Atom-
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
kraftwerken in Brasilien und auch anderswo in der Welt
stimmt dagegen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Zu-
zu geben. Das ist ein Skandal. Wir dürfen nicht mit deut-
stimmung durch die CDU/CSU, die FDP, Bündnis 90/
schen Steuergeldern die Umwelt belasten, Menschen
Die Grünen und Die Linke angenommen. Die SPD hat
ausbeuten und Atomkraftwerke in Entwicklungs- und dagegen gestimmt.
Schwellenländern bauen.
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 15 auf:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
GRÜNEN) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung mautrechtlicher Vorschriften für Bun-
Wir haben in unserem Antrag natürlich keine umfas- desfernstraßen
(B) sende Antwort auf die Rohstoffstrategie der Bundesre- – Drucksache 17/4979 – (D)
gierung gegeben; da haben wir einen noch viel breiteren
Überweisungsvorschlag:
Ansatz. Es ist wichtig, dass wir nicht immer nur mit gu- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
ten Worten Appelle an die deutsche Industrie und Wirt- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
schaft richten, sondern dass wir fordern und sagen, dass Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
das eine mit dem anderen verbunden ist.
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
Wir verstehen unter Rohstoffpartnerschaften – das tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
möchte ich zum Schluss noch sagen – Partnerschaften, Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
die über die Einhaltung der Transparenzregelungen nicht Kollegen Dr. Andreas Scheuer.
nur der Entwicklung des Landes dienen, sondern über
die Verteilung der Gewinne – das steht in unserem An- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
trag – auch der Bevölkerung zugutekommen. Auch da- neten der FDP)
rüber müssen wir mit den Regierungen reden.
Dr. Andreas Scheuer, Parl. Staatssekretär beim
Ich hoffe, dass wir bald auch hier im Deutschen Bun- Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung:
destag ein Gesetz verabschieden – der Kollege Barthel Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
hat es angesprochen –, mit dem alle Unternehmen, die an nen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Neuregelung
der Börse notiert sind, verpflichtet werden, ihre Geld- mautrechtlicher Vorschriften für Bundesfernstraßen soll
zahlungen offenzulegen. Wenn selbst die USA ein sol- die Autobahnmaut für schwere Lkw auch auf Teile der
ches Gesetz verabschieden, – Bundesstraßen ausgedehnt werden. Es handelt sich um
eine Erweiterung des mautpflichtigen Straßennetzes.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Alle anderen Merkmale wie die Mautsätze und die
Bemautung nur von Lkw ab 12 Tonnen bleiben unverän-
Herr Kollege. dert. Es sollen auch nur Abschnitte von Bundesstraßen
bemautet werden, die ausbaumäßig einer Autobahn na-
Dr. Sascha Raabe (SPD): hekommen.
– werden auch wir in Deutschland das tun können. Diesem Projekt, der Maut auf Bundesstraßen, liegt
Das sind wir den Menschen in Deutschland, vor allem die Überlegung zugrunde, dass insbesondere zu Auto-
aber in den Entwicklungsländern schuldig. Dafür sollten bahnen Bundesstraßen führen, die den Fahrkomfort ei-
wir gemeinsam kämpfen. ner Autobahn bieten. Das hat auch der Bundesrech-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11035
Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer
(A) nungshof schon lange aufgezeigt. Er hat die Möglichkeit Beim Stichwort Mautausweichverkehre möchte ich (C)
der Aufstufung zu Bundesautobahnen thematisiert, auf Folgendes hinweisen: Mautausweichverkehre stellen
durch die der Bund weitere Mauteinnahmen erzielen seit Einführung der Lkw-Maut auf Bundesautobahnen
könnte. kein Flächenproblem dar; laut den konstatierten Unter-
suchungen liegt der verlagerungsbedingte Anstieg des
Jedoch erfüllen viele dieser gut ausgebauten Bundes- Lkw-Verkehrs bei weniger als 4 Prozent. Auch zukünftig
straßen nicht sämtliche rechtlichen und technischen Vo- wird kein besonderer Anreiz zur Verlagerung erwartet.
raussetzungen, die eine Autobahn zu erfüllen hat. Zu Wir werden dies allerdings prüfen und die Untersuchung
nennen wären zum Beispiel Anbauverbotszonen, höhen- zur Verlagerungswirkung vorlegen.
freie Knotenpunkte und sonstige Ausbaustandards, zum
Beispiel Mindestkurvenradien. Wir haben also gut aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gebaute Bundesstraßen, die aber im Gegensatz zur Auto- Unter Berücksichtigung dieser zusätzlichen Kriterien
bahn nicht bemautet werden können, weil wir diese Stra- sollen rund 1 000 Kilometer Bundesstraße zukünftig
ßen nicht zu Autobahnen aufstufen können, da das bemautet werden.
geltende Recht bis auf geregelte Ausnahmen in der
Mautstreckenausdehnungsverordnung eine Bemautung (Uwe Beckmeyer [SPD]: Wie viel?)
nicht vorsieht. Diese Situation ist auch vor dem Hinter- Das sind rund 1 000 Kilometer weniger als ursprünglich
grund des erheblichen Finanzbedarfes für Erhalt und geschätzt. Mit dieser Reduzierung tragen wir gleichzei-
Ausbau der betroffenen Verkehrsinfrastruktur mehr als tig der Speicherkapazität der Fahrzeuggeräte Rechnung.
unbefriedigend.
Inzwischen liegen erste Einschätzungen der Gutach-
Der hier vorliegende Gesetzentwurf regelt die Aus- ter zu den erwarteten Fahrleistungen vor. Danach erwar-
dehnung der Lkw-Maut auf mindestens vierstreifige ten wir trotz alledem jährlich rund 100 Millionen Euro
Bundesstraßen, die sich in der Baulast des Bundes befin- Mehreinnahmen, die in der mittelfristigen Finanzpla-
den, mit Anbindung an eine Bundesautobahn, damit wir nung ausgewiesen sind.
räumlich einen Bezug zum mautpflichtigen Autobahn-
Abschließend noch ein paar Worte zum Thema „Fi-
netz herstellen können. nanzierung der Verkehrsinfrastruktur“. Der Bedarf an
Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu diesem Mitteln für den beabsichtigten Aus- und Neubau der Ver-
Gesetzentwurf weitere Kriterien für einen zu bemauten- kehrsinfrastruktur erfordert neue und ergänzende Finan-
den Bundesstraßenabschnitt vorgeschlagen: eine Min- zierungsinstrumente zur Sicherung und Stärkung der
destlänge von 5 Kilometern, eine bauliche Richtungs- Verkehrsinfrastruktur.
(B) trennung und Verzicht auf eine Bemautung im Wie hier alle wissen, wurde die Lkw-Maut vor mehr (D)
innerstädtischen Bereich. Die Bundesregierung hat die als sechs Jahren unter anderem zur Sicherung der Finan-
Anliegen geprüft und wird dem Deutschen Bundestag zierung der Verkehrsinfrastruktur eingeführt. In diesem
Änderungen am mautpflichtigen Streckennetz durch die Sinne muss es in der Konzeption des vorgelegten Ent-
Regelung zusätzlicher Kriterien, wie jetzt folgt, empfeh- wurfes weiterentwickelt werden.
len: Mindestlänge von 4 Kilometern, durchgehende bau-
liche Richtungstrennung, also ein durchgehender Mittel- Zur Reduzierung der Haushaltsabhängigkeit der Ver-
streifen, und keine Bemautung von Strecken innerorts. kehrsinfrastrukturfinanzierung und zur Schaffung mehr-
Zudem soll empfohlen werden, die im Gesetzentwurf jähriger Planungssicherheit wollen wir Nutzerfinanzie-
vorgesehene Bemautung von mittelbar an das Autobahn- rungskreisläufe stärken. Mit dem Bundeshaushalt 2011
netz angebundenen Strecken nicht mehr vorzusehen. haben wir einen ersten Schritt zur Herstellung eines Fi-
nanzierungskreislaufs Straße eingeleitet. Die Mautein-
Mit diesen vorgesehenen und empfohlenen Änderun- nahmen, die bisher für Investitionen in Schiene und
gen werden im Gesetz die zu bemautenden Strecken aus- Wasserstraße verteilt wurden, fließen nunmehr zu
schließlich abstrakt-generell geregelt. Eine Auflistung 100 Prozent in die Straße.
wie bei den ursprünglich mittelbaren Strecken soll es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nicht geben, auch nicht im Wege einer Rechtsverord-
nung. Es ist aber vorgesehen, die einzelnen mautpflichti- Dies führt zu mehr Transparenz bei der Verwendung der
gen Bundesstraßenabschnitte, die schon in den soge- Mauteinnahmen, und ich halte es für gerecht, dass die
nannten Mauttabellen veröffentlicht sind, zusätzlich Brummifahrer wissen, dass 100 Prozent ihrer Mautab-
rechtssicher im elektronischen Bundesanzeiger bekannt gabe in die Straßen, in die Erhaltung, in den Neubau und
zu machen. in die Baustellen, fließen. So ist die Transparenz ge-
währleistet.
Mit der Regelung des zusätzlichen Kriteriums eines
Die christlich-liberale Koalition und die Bundesregie-
durchgehenden Mittelstreifens kommt der zu bemau-
rung setzen das um, was die Verkehrspolitiker schon
tende Bundesstraßenabschnitt einem autobahnähnlichen
längst fordern. Ich möchte mich in diesem Zusammen-
Zustand noch näher. Durch die zusätzlichen Abgren-
hang noch einmal persönlich bei Gero Storjohann bedan-
zungsmerkmale wie Mindestlänge, Herausnahme von
ken, der meine Ausführungen zum Feuerwehrführer-
Ortsdurchfahrten und Herausnahme der mittelbaren
schein bei Tagesordnungspunkt 13 sehr gelobt hat.
Strecken wird auch den Befürchtungen der Länder hin-
sichtlich Mautausweichverkehren Rechnung getragen. (Heiterkeit)
11036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Andreas Scheuer


(A) Ich denke, wir werden auch im Ausschuss bei den The- Diese vierspurigen Bundesstraßen gibt es ja nicht (C)
men „Maut“ und „Bemautung der vierspurigen Bundes- überall, sondern nur an ganz bestimmten neuralgischen
straßen“ eine gute Diskussionsebene finden. Punkten. Sie haben vorhin von Strecken über vier Kilo-
metern gesprochen – nicht in den Städten. Also denke
Glück auf! Wir werden damit die Finanzbasis für die
ich einmal, dass wir es mit Versatzstücken zu tun haben,
Infrastruktur weiter stärken.
die irgendwo angeschlossen sind und Verkehr auf nach-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) geordneten Straßen der Länder hervorrufen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: das Gesetz im Bundesrat nicht zustimmungsbedürftig
Der Kollege Uwe Beckmeyer hat das Wort für die ist. Aus dem, was im Gesetzentwurf steht, habe ich ge-
SPD-Fraktion. schlossen, dass die Ausdehnung auf Bundesstraßen im
(Beifall bei der SPD) Bundesrat zustimmungsbedürftig ist. Ich denke, das ist
auch eine Frage, die geklärt gehört.
Uwe Beckmeyer (SPD): Drittens. Bisher sind in keinem Fall Untersuchungen
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und darüber durchgeführt worden, welche Auswirkungen die
Herren! Herr Scheuer – – Herr Dr. Scheuer – Entschuldi- Einführung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstra-
gung –, ßen für das nachgeordnete Netz wie Kreis- und Landes-
straßen usw. hat. Sollen auch vierspurige Bundesstraßen
(Heiterkeit – Dr. Anton Hofreiter [BÜND-
innerhalb von größeren Städten – das haben Sie jetzt
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Vorsicht! Er ist aus
ausgeschlossen – oder Ortsumgehungen – das ist meines
Bayern! – Zuruf von der SPD: Das weiß man
Erachtens noch unklar – bemautet werden? Auch das ist
bei der Regierung ja nicht so!)
meines Erachtens noch unklar.
1 000 Kilometer sind es geworden. 3 000 Kilometer wa-
Viertens. Wie groß werden die technischen Aufwen-
ren einmal geplant. Grundsätzlich ist ja nichts dagegen
dungen sein, die für eine Erhebung der Lkw-Maut auf
zu sagen, dass Sie sich nach neuen Einnahmequellen
vierspurigen Bundesstraßen notwendig sind? Dazu habe
umschauen. Ich habe vorhin schließlich gesagt, dass ich
ich hier heute auch nichts gehört.
Sie geradezu dazu auffordere, sinnvolle Sachen zu ma-
chen. Die Frage ist nur, wie es passiert? – Ich habe dazu (Patrick Döring [FDP]: Steht im Gesetzent-
ein paar Fragen. Vielleicht kann im Rahmen der heuti- wurf!)
gen Debatte der eine oder andere Koalitionsvertreter
Wird es Mautbrücken geben müssen? Wird es ledig-
(B) – Sie können dazu schließlich nicht mehr reden – noch lich Kontrollen durch das BAG geben, und wird damit (D)
etwas dazu sagen.
das Risiko der Kontrollen zu 100 Prozent auf den Staat
Erstens. Auf der Sparklausur der Bundesregierung übertragen? Das sind ebenfalls Fragen, die ich aus dem
2010 wurde diese vierspurige Bundesstraßenmaut schon Kreise des Bundeskabinetts bisher nicht beantwortet be-
für den 1. Januar 2011 angekündigt; daraus ist bekannt- kommen habe.
lich nichts geworden.
Fünftens. Bis heute ist nicht klar, in welcher Höhe bei
Nun planen Sie die Einführung zum 1. Juli 2011. Weil der Erhebung der Lkw-Maut auf vierspurigen Bundes-
das Problem ja häufig im Detail liegt, interessiert uns straßen Systemkosten anfallen. Bisher heißt es im Ge-
Sozialdemokraten, ob die vielen ungeklärten rechtlichen setzentwurf lediglich, dass 8,5 Millionen Euro an Voll-
und technischen Fragen inzwischen eigentlich so geklärt zugskosten beim BAG entstehen. Bei Einnahmen von
wurden, dass man davon ausgehen kann, dass diese rund 100 Millionen Euro sind das 8,5 Prozent. Darin
Maut tatsächlich zum 1. Juli 2011 eingeführt werden sind noch nicht die Kosten enthalten, die ein Unterneh-
kann. Dass dieser Termin verschoben worden ist, deutet men, das im Auftrag des Bundes die Lkw-Maut erhebt,
ja zumindest darauf hin, dass da noch einiges nicht klar in Rechnung stellen wird. Auch das ist nicht geklärt.
ist. Im Haushalt 2011 haben Sie hier Einnahmen in Höhe
von 50 Millionen Euro eingeplant. Wir hoffen, dass Sie Sechstens. Bis heute verweigert die Bundesregierung
das auch realisieren können. jegliche konkrete Aussage dazu, wie die rechtlichen
Rahmenbedingungen für eine Vergabe der Erhebung der
Zweitens. Mit dem Beschluss des Gesetzentwurfes Lkw-Maut auf vierspurigen Bundesstraßen aussehen.
durch das Kabinett ist nicht klar, auf welchen Bundes- Wird es eine Direktvergabe geben? Muss europaweit
straßen die Lkw-Maut eingeführt werden soll. Zu Recht ausgeschrieben werden? Das ist dem Parlament gegen-
fordern Ihr eigenes Bundesland Bayern und andere Bun- über bisher überhaupt noch nicht eindeutig geklärt. Auch
desländer, dass sie wenigstens an der Zusammenstellung hierzu erwarte ich von der Bundesregierung eine Aus-
der Liste beteiligt werden. Die Frage an Sie ist: Sind kunft.
diese Länder beteiligt worden?
(Gustav Herzog [SPD]: Vielleicht weiß die Bun-
(Gustav Herzog [SPD]: Der Staatssekretär hat desregierung das selbst noch nicht!)
den Kopf geschüttelt!)
– Vielleicht weiß sie es nicht.
Sie sind die vor Ort Betroffenen, die mit den Konse-
quenzen auf dem nachgeordneten Straßennetz leben Siebtens. Bisher ist nicht bekannt, welche Belastun-
müssen. Das muss man einfach berücksichtigen. gen auf die Unternehmen des Transport- und Logistikge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11037
Uwe Beckmeyer
(A) werbes zukommen werden. Laut dem Wegekostengut- Toll Collect übertragen werden kann. Das ist nach mei- (C)
achten der Bundesregierung ist die Mauthöhe auf ner Kenntnis inzwischen durch ein ausführliches Rechts-
Bundesstraßen allerdings generell doppelt so hoch wie gutachten geklärt. Wir können im Rahmen dessen, was
auf Bundesautobahnen, weil dort weniger Schwerlast- mit Toll Collect vereinbart worden ist, auch diese Aus-
verkehr stattfindet. Die Frage an die Bundesregierung weitung des Mautnetzes vornehmen, ohne Änderungen
ist: Wann werden Sie einen Entwurf für eine neue Maut- am Vertrag durchzuführen, was in der Tat gegebenen-
höheverordnung auf den Weg bringen, dem Deutschen falls Ausschreibungskonsequenzen gehabt hätte.
Bundestag, dessen Zustimmung nach der Gesetzeslage
zumindest aus unserer Sicht erforderlich ist, vorlegen Es war außerdem zu klären, welche der ungefähr
und die Länder entsprechend informieren? Ich habe den 3 000 Kilometer vierstreifigen Bundesstraßen wir tat-
Eindruck, dass es noch sehr viele Fragen gibt, die Sie sächlich bemauten wollen. Deshalb begrüße ich für die
immer noch nicht geklärt haben und dass bei Ihnen im FDP-Fraktion ausdrücklich, dass die Bundesregierung
Hause anscheinend eine große Unsicherheit unter den den Gesetzentwurf, dem eine Liste und eine weitere An-
Fachleuten existiert. Die Fragen, die ich stelle, stellen lage beigefügt sind – einige von Ihnen wissen, dass ich
ebenfalls die Kolleginnen und Kollegen aus den Verbän- das ohnehin nicht gerne habe –, zu einem Gesetzentwurf
den. Auch sie fragen sich, ob Sie möglicherweise dabei weiterentwickelt hat, der klar definiert, welche Straßen
sind, das Gewerbe in diesem Zusammenhang hinter die bemautet werden sollen. Die entscheidende Regelung
Fichte zu führen. Insofern bitte ich um Aufklärung zu lautet: Mittelbar an Bundesautobahnen anschließende
diesem Gesetzentwurf. vierstreifige Bundesstraßen, die jeweils zwei baulich ge-
trennte Fahrstreifen aufweisen, sind zu bemauten.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Ich möchte nicht, dass Sie den Eindruck gewinnen, Wenn das so ist, lieber Kollege Beckmeyer, dann er-
dass Sie im Deutschen Bundestag eine unseriöse Ver- gibt sich jedenfalls nach meiner Überzeugung keine ne-
kehrspolitik betreiben können, ohne dass es jemand gative Auswirkung auf Landes- und Kreisstraßen, weil
merkt. die in der Regel nicht für Substitutionsverkehre geeignet
sind, da sie gerade nicht unmittelbar an Bundesautobah-
Herzlichen Dank. nen anschließen.
(Beifall bei der SPD) Die Frage wäre berechtigt gewesen, wenn man eine
lange Liste erstellt hätte. Aber wenn man sich darauf be-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zieht, dass ausschließlich die vierstreifigen Bundesstra-
(B) Das Wort hat der Kollege Patrick Döring für die FDP- ßen in Verlängerung oder als Zubringer zu Autobahnen (D)
Fraktion. bemautet werden, dann ergibt sich die Substitution an
anderer Stelle aus meiner Sicht nicht.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Das ist nach unserer festen Überzeugung auch der
Ob er seinem Namen an diesem Tag gerecht wird und
entscheidende Punkt bei der Beteiligung der Länder. Mit
eine missionarische Rede hält, werden wir sehen.
dieser Definition und durch die reine Änderung des
Mautgesetzes ist das nicht mehr nötig. Bei einer Liste
Patrick Döring (FDP): wäre das – darin stimme ich mit Ihnen überein – aller
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will mich bemü- Voraussicht nach nötig gewesen. Wir wären auch gar
hen, die Debatte, die um diese Uhrzeit überwiegend im nicht darum herumgekommen. Denn wir alle haben
geschlossenen Kreis der Ausschussfreunde stattfindet Briefe von Landräten und Landesverkehrsministern be-
– über die vielen interessierten Gäste freut man sich kommen, in denen die Herausnahme einzelner Strecken-
selbstverständlich, die Bürgerinnen und Bürger ohnehin –, abschnitte gefordert wurde. Ich habe keinen einzigen
zu nutzen, um ein paar Fragen, die aufgeworfen worden Brief bekommen, in dem jemand vorschlägt, einen Stre-
sind, zu beantworten. ckenabschnitt zu bemauten. Das hätte am Ende ein hefti-
Zunächst bedanke ich mich bei der Bundesregierung ges Gerangel gegeben.
dafür, dass bereits erkannt worden ist, dass der Gesetz- Insofern streben wir eine klare gesetzliche Definition
entwurf vor der zweiten und dritten Beratung noch an ei- an. Wir werden im Ausschuss sicherlich die notwendi-
nigen Stellen verbessert werden kann, wozu wir als gen Änderungen vorschlagen und hoffen auf Ihre Unter-
FDP-Fraktion in jedem Fall bereit sind. Aus den Ände- stützung.
rungen, die der Herr Staatssekretär vorgetragen hat, las-
sen sich schon einige Fragen, die der geschätzte Kollege (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Beckmeyer gestellt hat, beantworten. der CDU/CSU)
Eingangs muss man festhalten – das ist erkennbar –, Nun zur Frage der Mauthöheverordnung. Es ist in der
dass die Umsetzung dieser in der Sparklausur beschlos- Tat richtig, dass der Hinweis auf die Bundesstraßen in
senen Änderung tatsächlich deutlich komplizierter ist, der Mauthöheverordnung aufgeführt ist. Ich bin aber
als dies seinerzeit erwartet wurde. Das hängt damit zu- auch der festen Überzeugung, dass das, was für die Bun-
sammen, dass zum Beispiel umfangreich gutachterlich desstraßen im Allgemeinen gelten mag, für die vierstrei-
geklärt werden musste, ob im Rahmen des bestehenden figen, durch baulich getrennte Fahrstreifen ausgezeich-
Konsortialvertrages mit Toll Collect die Erhebung an neten Bundesstraßen nicht gilt, sondern dass hier ganz
11038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Patrick Döring
(A) sicher analog die ermittelten Mauthöhesätze übernom- Herbert Behrens (DIE LINKE): (C)
men werden können. Übrigens ist das keine Benachteili- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gung der Nutzerinnen und Nutzer. Wenn wir jetzt will- gen! Die Bundesregierung legt uns heute einen Gesetz-
kürlich einen höheren Satz festlegen würden, wäre das entwurf vor – ein halbes Jahr zu spät und dann auch
sicherlich klageanfällig. Wenn wir aber unter den Emp- noch Murks.
fehlungen des Mauthöhegutachtens für Bundesstraßen
bleiben und nur die Mauthöhe für Bundesautobahnen (Patrick Döring [FDP]: Was?)
nehmen, ist das aus meiner Sicht keine Benachteiligung
Ihre Bundesstraßenmaut bringt weder ausreichende Ein-
des Gewerbes, sondern ein positiver Aspekt, der dazu
nahmen noch verhindert sie, dass die schweren Lkw
führt, dass die echten Wegekosten dieser Strecke wahr-
weiter durch Dörfer und Städte donnern.
scheinlich nicht abgebildet werden; dazu müsste der
Mautsatz wohl höher sein. Aber aus unserer Sicht ist es Sie haben Veränderungsbedarf angekündigt. Hier ei-
nicht sinnvoll, für diese 1 000 Kilometer jetzt neue nige Vorschläge:
Mauthöheermittlungsverfahren einzuleiten. Wir nehmen
den Satz, der bei der baulichen Analogie, nämlich einer Erstens. Der Bundesverkehrsminister begnügt sich
vierstreifigen Autobahn, gilt. Das ist gut für das Ge- zunächst mit 2 000 Kilometern Bundesstraßen. Das sind
werbe und aus unserer Sicht rechtssicher, liebe Kollegin- gerade einmal 5 Prozent aller Bundesstraßen. Statt kon-
nen und Kollegen. sequent Mautflucht zu verhindern und Lkw-Verkehr zur
Finanzierung der Verkehrskosten heranzuziehen, betrei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben Sie Flickschusterei.
Es zeigt sich, wie sinnvoll der Finanzierungskreislauf (Patrick Döring [FDP]: Wollen Sie die Bemau-
Straße ist, denn mit dieser Maßnahme organisieren wir tung aller Bundesstraßen? – Gegenruf von der
gemeinsam mit dem Gewerbe zusätzliche Mittel für den LINKEN: Ja!)
Ausbau der Straßeninfrastruktur. Das hilft den Lkw-Fah-
rerinnen und -Fahrern. Das hilft den betroffenen Kom- – Genau das wollen wir.
munen. Das will diese Koalition, nämlich zusätzliche
Mittel für Straße, Schiene und Wasserstraße organisie- (Patrick Döring [FDP]: Dann ist das ja ge-
ren: im Bundeshaushalt oder von den Nutzerinnen und klärt!)
Nutzern. In diesem Gesetz kommt überhaupt nicht vor, welche
Ich möchte abschließend einen Gedanken äußern. Wir Belastungen die Menschen zu ertragen haben, die mit
erleben immer wieder, dass planungsrechtlich die Aus- schweren Lkw vor der Haustür leben müssen, weil die
(B) weitung einer vorhandenen zweistreifigen Bundesstraße Spediteure ihre Fahrer über Land schicken. Um der (D)
auf die Dreistreifigkeit deutlich leichter als die Erweite- Maut auszuweichen, nutzen sie einspurige Bundesstra-
rung zur Vierstreifigkeit ist. Wir sollten uns alle gemein- ßen.
sam – nicht nur, aber auch wegen der Mauteinnahmen – Ich nenne als Beispiel die Bundesstraße 5. Das ist die
darüber Gedanken machen, ob es klug und vernünftig klassische Strecke für Mautpreller zwischen Hamburg
ist, dass man die Erweiterung einer vorhandenen zwei- und Berlin. Die B 5 fehlt – bis auf einen einzigen kurzen
streifigen Autobahn auf eine dreistreifige über die Unter- Abschnitt – in der Liste der Mautstrecken. Erklären Sie,
haltungsmittel in der Regel ohne Planfeststellungsver- Herr Minister oder Herr Staatssekretär, das einmal den
fahren machen kann, man aber in dem Moment, in dem Bewohnerinnen und Bewohnern in Lauenburg und in
man eine zweistreifige Bundesstraße zu einer vierstreifi- Ludwigslust!
gen Bundesstraße machen will, ein Planfeststellungsver-
fahren anschieben muss. Mautflüchtlinge benutzen aber auch Landesstraßen.
In meiner Heimatstadt Osterholz-Scharmbeck kämpfen
Im Rahmen dessen, was wir heute Morgen zum Anwohnerinnen und Anwohner der L 135 gegen 800
Thema Planungsbeschleunigung in ganz anderem Kon- schwere Lkw, die täglich auf der Strecke zwischen Bre-
text – das will ich zugeben – besprochen haben, wäre es men und Bremerhaven pendeln, obwohl sie auf der pa-
vielleicht des Schweißes der Edlen wert, darüber nach- rallel gelegenen A 27 hätten fahren sollen.
zudenken, die Hürden etwas niedriger zu legen, um mehr
vierstreifige Bundesstraßen zur Entlastung der betroffe- In einem Bericht des Ministeriums über Verlagerun-
nen Kommunen einerseits, aber auch zur Erhöhung der gen durch Mautausweichverkehr gibt es dazu eine ge-
Einnahmen für den Verkehrshaushalt andererseits zu er- naue Auflistung. Würden wir nur die am stärksten be-
möglichen. troffenen Strecken, also die mit mehr als 500 schweren
Lkw pro Tag, nehmen, dann müssten zum Beispiel in
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. Niedersachsen doppelt so viele Strecken zusätzlich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bemautet werden, wie jetzt von Ihnen vorgeschlagen.
Unsere Forderung zur Gesetzesvorlage: Die Liste der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Streckenabschnitte, also die Liste der 80, muss überar-
Herbert Behrens hat das Wort für die Fraktion Die beitet werden.
Linke.
(Patrick Döring [FDP]: Die wird es nicht mehr
(Beifall bei der LINKEN) geben, die Liste!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11039
Herbert Behrens
(A) Auch die Auswirkungen auf Ballungsgebiete müssen un- Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
tersucht und die Einbeziehung von Ortsdurchfahrten in NEN):
kommunaler Baulast muss überprüft werden. Das hat ja Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
auch der Bundesrat im vergangenen Monat gefordert. Kollegen! Vielen Dank für den Applaus.
Zweitens. Die Maut ist nicht hoch genug. Das sagt Nachdem der Herr Staatssekretär heute schon aus-
selbst eine Studie aus dem Bundesverkehrsministerium. führlich gelobt worden ist,
Bei der dort vorgenommenen Wegekostenberechnung (Patrick Döring [FDP]: Zu Recht!)
kommen 30 Cent pro Kilometer heraus. 30 Cent pro Ki-
lometer müssten Spediteure also eigentlich zahlen; heute auch ein Lob von unserer Seite; denn wir halten die Aus-
sind es im Schnitt gerade einmal 18 Cent auf Autobah- weitung der Maut auf Bundesstraßen durchaus für ein
nen. Wir fordern, die Mauthöhe auf Bundesstraßen auf richtiges Instrument. Das ist ein Schritt in die richtige
Grundlage der realen Wegekosten zu berechnen. In der Richtung. Wir loben euch sogar, wenn ihr einmal etwas
Schweiz gibt es übrigens eine flächendeckende Maut, richtig macht.
die drei- bis viermal höher ist als die aktuelle auf bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
desdeutschen Autobahnen. Die Einnahmen daraus flie- und bei der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick
ßen auch in das gesamte Verkehrssystem und nicht nur in Döring [FDP])
die Straße.
Das Problem ist nur, dass man auf der halben Strecke
Drittens. Wir halten die Lkw-Maut für ein absolut stehen bleibt. Wir haben weitaus mehr Bundesstraßen.
sinnvolles Instrument, aber es muss konsequent zu einer Letztendlich müsste man konsequent sein und die Maut
ökologischen Verkehrslenkung genutzt werden. auf die gesamten Bundesstraßen ausweiten.
(Beifall bei der LINKEN) (Patrick Döring [FDP]: Stellen Sie doch mal
den Antrag!)
Die Spreizung der Maut nach Schadstoffklassen war ein
erster Schritt. Wir fordern: Die Maut muss zu einem Das wäre von entscheidender Bedeutung für die Steue-
Steuerungsinstrument im Transportwesen weiterentwi- rung des Verkehrs.
ckelt werden. Mauteinnahmen sind nicht ausschließlich Die Situation auf der B 5 ist bereits erwähnt worden.
für den Straßenbau da; sie gehören in das Verkehrssys- Auch ich war einmal in Lauenburg und habe mir das an-
tem insgesamt: in die Schiene, in die Straße und in die geschaut. Man findet wenig Bundesstraßen, auf denen in
Wasserwege. solcher dichten Folge Lkw fahren. Es gibt also durchaus
(B) Bundesstraßen, die nicht vierstreifig sind, auf denen er- (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Gesetz zeigt, heblicher Lkw-Verkehr stattfindet und auf denen nach
dass die Bundesregierung im Klein-Klein verharrt. Das allen Aussagen und allen Zahlen auch Lkw-Ausweich-
ist auch auf europäischer Ebene der Fall. So schlägt bei- verkehr vorhanden ist. Den Anwohnern dieser Straßen
spielsweise die EU eine Eurovignette für alle Transpor- wird wieder nicht geholfen. Deshalb wäre zu fordern,
ter ab 3,5 Tonnen vor. Wie kommt das bei Herrn dass neben den vierstreifigen Bundesstraßen zumindest
Ramsauer an? Wir hören von ihm nur: Blockade. auch die Bundesstraßen, auf denen ein massiver Lkw-
(Patrick Döring [FDP]: Beantragen Sie das Ausweichverkehr vorhanden ist, in die Bemautung auf-
doch mal hier!) genommen werden. Das wäre jederzeit möglich.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die EU versucht, Staukosten und die Kosten für Lärm
sowie des Abg. Herbert Behrens [DIE
und Umweltschäden in die Eurovignette einzubeziehen.
LINKE])
Was kommt aus Deutschland? Wieder Blockade.
Wenn man sich die Stellenentwicklung beim Bundes-
(Patrick Döring [FDP]: Wo ist der Antrag der amt für Güterverkehr anschaut, ist des Weiteren zu fra-
Linken?) gen, ob insgesamt das Modell, wie es gewählt worden
ist, wirklich effizient ist. Wenn wir uns anschauen, wie
Der Bundesverkehrsminister hätte heute die Chance
viele Stellen da ausgeschrieben sind und wie viele Leute
gehabt, dazuzulernen. Es ist jetzt an ihm, ob er weiter
zusätzlich eingestellt werden müssen, dann stellt sich
herummurkst oder ein Gesetz auf den Weg bringt, das
durchaus die Frage, ob das Modell, das mit Toll Collect
den Verkehr beruhigt und vielen Menschen das Leben
gewählt worden ist, wirklich geeignet ist, um die Lkw-
einfacher macht.
Maut zu einem wirtschaftlich vertretbaren Maß auf die
Vielen Dank. Bundesstraßen auszuweiten.
In Kürze werden die Ausschreibungen stattfinden; zu-
(Beifall bei der LINKEN)
mindest wird der momentan gültige Mautvertrag verlän-
gert. Vielleicht muss man sich überlegen, ob das Modell
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: weiterzuentwickeln ist. Es ist dringend an der Zeit, dass
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für man sich im Verkehrsministerium Gedanken darüber
Bündnis 90/Die Grünen. macht. Es gibt große Fragezeichen. Man schaue sich ein-
mal an, welch hoher Prozentsatz der Mauteinnahmen an
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Betreiber fließt. Zu klären ist, ob das alles effizient
11040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Anton Hofreiter


(A) genug ist und ob damit eine effiziente Ausweitung, wie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
wir sie uns vorstellen, wirklich möglich ist. Der Kollege Thomas Jarzombek hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Was sind unsere Vorstellungen? Unsere Vorstellungen
sind einfach: Die Lkw-Maut ist auf alle Bundesstraßen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
auszuweiten. Die Lkw-Maut ist auf Fahrzeuge bis der FDP)
3,5 Tonnen auszuweiten. Wir stellen fest, dass im Mo-
ment eine starke Umschichtung hin zu Fahrzeugen Thomas Jarzombek (CDU/CSU):
knapp unter 12 Tonnen stattfindet; 11,5-Tonnen-Fahr- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte
zeuge sind plötzlich sehr beliebt. Dieser Entwicklung mit Blick auf die Kollegen der Grünen eigentlich einige
wäre damit ein Riegel vorgeschoben. Diese Ausweitung schöne Zitate vorbereitet, war aber auf so viel Lob von
der Maut wäre rechtlich und technisch möglich. Mit ei- Ihrer Stelle gar nicht gefasst. Das nehmen wir doch er-
nem etwas geschickteren Mauterhebungssystem wäre sie freut zur Kenntnis.
auch ökonomisch sinnvoll.
Herr Kollege Hofreiter, ich gehe gerne auf Ihr Argu-
Des Weiteren erwarten wir von der Bundesregierung, ment ein, was die Rücknahme der Mauterhöhung für die
dass sie die ökonomisch kontraproduktive Nichterhö- Euro-3-Lkws betrifft. Genau das war ja Wunsch der
hung der Maut für die Euro-3-Fahrzeuge zurücknimmt. Transportwirtschaft. Wir reden hier ja nicht über die
Man hat gedacht, man tue insbesondere dem Gewerbe Fahrzeuge, die ganz große Strecken fahren, sondern über
etwas Gutes. Man stellt nun aber fest, dass man dem ein- das Drittel der Fahrzeuge der deutschen Transporteure,
heimischen Gewerbe damit – es hat weitgehend umge- die nach der Euro-3-Norm ausgerichtet sind, deren Fahr-
stellt, und Euro-5- und Euro-6-Fahrzeuge sind schon in leistung aber nur 16 Prozent der Streckenkilometer aus-
der Überlegung – eigentlich nichts Gutes getan hat; macht. Sie müssen also auch an den kleinen Betrieb mit
wenigen Fahrzeugen, die eher im innerstädtischen Be-
(Gustav Herzog [SPD]: Sehr richtig! Ende mit reich auf kurzen Strecken fahren, denken.
dem Lob!)
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
man hat ihm mit der sinnlosen Rücknahme der Erhöhung GRÜNEN]: Im innerstädtischen Bereich wird
der Maut für Euro-3-Fahrzeuge einen Bärendienst erwie- überhaupt keine Maut erhoben! – Uwe
sen. Beckmeyer [SPD]: Maut wird innerstädtisch
überhaupt nicht erhoben!)
(Patrick Döring [FDP]: Sie müssen mal mit
(B) den Mittelständlern sprechen, nicht nur mit Sie erfahren an dieser Stelle eine deutliche Entlastung. (D)
den Großen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Wir sprechen mit den Mittelständlern. Die Mittelständ- Ich glaube, dass das, was wir hier tun, richtig ist. Ich
ler sind viel weiter als Sie; sie haben weitgehend mo- freue mich darauf, dass Sie beide, Kollege Hofreiter,
derne Fahrzeuge. Kollege Behrens – eine Koalition habe ich hier heute
ausgemacht –, demnächst einen Gesetzentwurf einbrin-
Was hat man mit dieser Nichterhöhung erreicht? Man gen, in dem geregelt wird, dass erstens alle Bundesstra-
hat insbesondere die Konkurrenz gestärkt, die mit alten, ßen und zweitens alle Lastwagen bis 3,5 Tonnen bemau-
mit schlechten, mit abgeschriebenen Fahrzeugen unter- tet werden. Darauf sind wir gespannt. Wenn das
wegs ist. Man hat diejenigen Unternehmen, die moderne geschieht, können wir hier eine ehrliche Diskussion da-
Fahrzeuge einsetzen, also Unternehmen, die investiert rüber führen, wer was will. Insofern lade ich Sie dazu
haben, geschwächt. Man hat noch etwas Weiteres be- ein, diesen Gesetzentwurf einzubringen. Dann haben wir
wirkt: Dem Bundeshaushalt wurde sinnlos Geld entzo- eine tolle Basis, hier miteinander zu diskutieren.
gen, Geld, das wir dringend für den Unterhalt des Stra-
ßennetzes benötigen. Warum wir das Ganze überhaupt machen, ist relativ
klar. Ein Unterschied ergibt sich allerdings zwischen
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Recht hast du! Ja- dem, was wir tun, und der damaligen Konstruktion noch
wohl! – Patrick Döring [FDP]: Geld, das der unter Bodewig. Bodewig hat es in der Bundestagsde-
Bundeshaushalt nie hatte, kann man nicht ent- batte im Jahre 2001 – die Autobahnmaut für Lkw war ja
ziehen!) Ihre Erfindung, meine Damen und Herren von Rot-
Grün –
Erweitern Sie Ihr Konzept: Bemautung aller Bundes-
straßen, Ausweitung der Maut auf 3,5-Tonner und stär- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja, Gott sei Dank!)
kere Spreizung der Mauthöhen. Das hätte nämlich eine gesagt:
stärkere ökologische Lenkungswirkung.
Das hat eine positive Wirkung; denn diese Bewer-
Danke. tung führt dazu, dass wir mehr investieren können,
und zwar richtig. Es geht um zusätzliche Einnah-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men, …
sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des
Abg. Uwe Beckmeyer [SPD]) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Ja!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11041
Thomas Jarzombek
(A) Diese zusätzlichen Einnahmen, die Sie mit der Lkw- Ich möchte natürlich die Zeit nutzen, die ich noch (C)
Maut generieren wollten, sind bei den Finanzpolitikern habe.
im Laufe der Zeit immer mehr verschwunden.
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE NEN]: Nein!)
GRÜNEN]: Das heißt, Sie sprechen sich ge-
– Ich habe noch zwei Minuten. Vorsicht.
gen eine Haushaltskonsolidierung hier aus!
Verstehe ich das richtig?) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Die müssen Sie aber nicht nutzen!)
Deshalb ist es so wichtig, dass wir für den Einstieg in ei-
nen geschlossenen Finanzierungskreislauf bei den Ver- Ich möchte insbesondere der Bundesregierung und
kehrsträgern gesorgt haben, damit die zusätzlichen Mit- Herrn Staatssekretär Dr. Scheuer für die wirklich exzel-
tel, die jetzt durch die Einbeziehung der Bundesstraßen lente Arbeit danken,
erhoben werden, tatsächlich auch beim Straßenbau an-
kommen und nicht bei den Sozialpolitikern oder ir- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
gendwo anders versickern. Gustav Herzog [SPD]: Zwei Minuten Lob! –
Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe NEN)
Beckmeyer [SPD]: Sie haben gar kein Instru-
und zwar, Herr Kollege Beckmeyer, weil genau diese Än-
ment dafür, Herr Jarzombek!)
derungen noch kommen. Wir sind nicht beratungs-
Das macht den allergrößten Unterschied zwischen Ihnen resistent und haben im Laufe des Gesetzgebungs-
und uns aus. verfahrens – –
Herr Kollege Beckmeyer, Sie haben das Verfahren der (Uwe Beckmeyer [SPD]: Also Murks aus dem
Ausschreibung kritisiert. Ich sage einmal, wie das da- Ministerium, und Sie bessern nach!)
mals unter Ihnen abgelaufen ist. Das Autobahnmautge- – Jetzt hören Sie doch einmal auf, ständig dazwischen-
setz ist im Jahre 2002 vom Deutschen Bundestag be- zurufen. Sie sind ja schlimmer als Waldorf und Statler.
schlossen worden. Funktionsfähig war das System Toll
Collect tatsächlich erst zum 1. Januar 2005. Dazwischen (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP –
lagen fast drei Jahre. Sie wollen uns doch wohl nicht Patrick Döring [FDP]: Er ist Waldorf und
ernsthaft den Ratschlag geben, wir sollten das jetzt wie- Statler in einer Person! Das muss man erst ein-
derholen und ein neues System europaweit ausschreiben – mal schaffen!)
(B) und das auch noch für 1 000 Kilometer! – Da hat der Kollege Döring absolut recht. Die späte (D)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Das lag doch nicht Stunde sollte uns zur Ernsthaftigkeit zurückbringen.
an der europaweiten Ausschreibung, sondern (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
an der Technologie, Herr Jarzombek!) DIE GRÜNEN)
Das ist doch total unsinnig. Das wird niemand machen. – Das war an Herrn Beckmeyer gerichtet.
Dafür wird niemand eine neue Struktur aufbauen. Des-
halb ist unser Vorgehen richtig. Es ist ein Zeichen für ein vernünftiges Vorgehen, dass
die Kriterien für die Straßen – Herr Kollege Döring hat
(Gustav Herzog [SPD]: Wir wollen einmal es dargestellt – jetzt noch einmal deutlich verändert wur-
schauen, wie euer Geschäft ausgeht!) den, dass wir jetzt ein praktikableres Verfahren haben
Es ist auch realistisch, dass nach einer konservativen und dass auch die Streckenlängen verändert wurden. Das
Schätzung in den Haushalt 50 Millionen Euro für dieses zeigt, dass wir als Fraktion mit der Bundesregierung ein
Jahr und 100 Millionen Euro für die Folgejahre einge- gutes Einvernehmen haben und nicht mit dem Kopf
stellt wurden. Ich glaube, dass sich die Bundesregierung durch die Wand wollen. Wo hat man das sonst schon?
an dieser Stelle realistische Ziele gestellt hat. Das Letzte, was noch anzusprechen ist, ist die stetige
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe Kritik an Toll Collect, die ich auch im Ausschuss gehört
Beckmeyer [SPD]: Schön, dass das alles im habe. Toll Collect ist ein System, das von der rot-grünen
Protokoll steht, Herr Jarzombek!) Koalition eingeführt wurde. Ich glaube, dass das System
ein gutes System ist und dass wir uns das nicht immer
– Das ist schön. Ich hätte mich auch gefreut, wenn Sie schlechtreden lassen sollten.
eine Zwischenfrage gestellt hätten, anstatt pausenlos wie
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wer hat das denn kri-
auch immer geartete Kommentare abzugeben. Das wäre
tisiert?)
mit Sicherheit ein eleganterer Weg gewesen, die Diskus-
sion zu führen. Ich glaube, dass es eine Menge Potenziale für die Zu-
kunft hat. Ich hoffe, dass wir über das Schiedsverfahren
(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bald zu einem Einvernehmen kommen.
NEN]: Gleich ist die Zeit um! – Gustav
Herzog [SPD]: Wir verlängern Ihre Redezeit (Gustav Herzog [SPD]: Hätten Sie damals un-
nicht! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: sere Arbeit gelobt, als wir es eingeführt haben!
Den Gefallen tun wir Ihnen nicht!) Da habt ihr nur gestänkert!)
11042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Thomas Jarzombek
(A) Ich wünsche mir, dass wir diese Technologie etwas mehr cherungsbericht 2010 festgestellt, dass „hervorzuheben (C)
schätzen und nicht leichtfertig glauben, dass man Sys- (ist), dass die Rentenversicherung die weltweite Wirt-
teme aus anderen Ländern, die zwar gut funktionieren, schafts- und Finanzkrise unbeschadet überstanden hat.
aber auf ganz anderen Netzen, einfach übertragen könne. Dies hat nicht nur in den Medien Anerkennung gefun-
den, die zum Teil der Rentenversicherung lange Zeit kri-
Ich freue mich auf den Gesetzentwurf, mit dem Sie
tisch gegenüberstanden. Die Rentenversicherung wurde
alle Bundesstraßen bemauten. Bis dahin sind wir auf
als ,Fels in der Brandung’ beschrieben. Auch die Bevöl-
dem richtigen Weg.
kerung weiß wieder den Wert der Rentenversicherung
Meine Damen und Herren, einen schönen Abend mehr zu schätzen. Nach der jüngsten Postbank-Studie
noch. Vielen Dank. ,Altersvorsorge in Deutschland 2010/2011’ bewerten
drei Viertel der Bevölkerung die Rentenversicherung als
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
eine ideale Form der Alterssicherung. Damit liegt die
Rentenversicherung weit vor allen anderen Systemen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Alterssicherung.“
Ich schließe die Aussprache.
Angesichts dieser Feststellungen ist es umso verwun-
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
derlicher, dass die Linken in ihrem Antrag einen grund-
wurfs auf Drucksache 17/4979 an die Ausschüsse vorge-
legenden Kurswechsel in der Rentenpolitik und einen
schlagen, die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit
Umbau der Deutschen Rentenversicherung fordern. Wir
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
wollen, dass die Rentensysteme und die Altersvorsorge
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: insgesamt armutsfest bleiben und Armut im Alter ver-
mieden werden kann. Altersarmut ist ein wichtiges und
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
komplexes Thema, und deshalb ist es richtig, dass CDU/
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag die Einset-
ten Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Heidrun zung einer Regierungskommission zur Vermeidung von
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Altersarmut beschlossen haben.
DIE LINKE Was aber nicht passieren darf, ist, dass man – wie es
Aufgaben und Zusammensetzung der Alters- die Linken tun – Altersarmut als Begründung dafür
armutskommission – Altersarmut umfassend nimmt, die deutsche Rentenversicherung zu einer Aus-
und mit den richtigen Mitteln bekämpfen zahlungsstelle für Pauschalrenten zu machen. Die ge-
setzliche Rente in Deutschland ist lohn- und beitragsbe-
(B) – Drucksachen 17/4422, 17/4926 – zogen. Darauf vertrauen auch die Arbeitnehmerinnen (D)
Berichterstattung: und Arbeitnehmer, die in die Rente einzahlen. Ebenso
Abgeordneter Anton Schaaf kurzsichtig ist es, eine Reform der gesetzlichen Renten-
versicherung zu fordern und die Stärkung der privaten
Die Reden werden zu Protokoll genommen. Es han- und der betrieblichen Altersvorsorge abzulehnen. Des-
delt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen halb haben wir im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und
Peter Weiß, Ulrich Lange, Anton Schaaf, Heinrich Kolb, FDP auch festgeschrieben: „Wir verschließen die Au-
Matthias Birkwald und Wolfgang Strengmann-Kuhn. gen nicht davor, dass durch die veränderten wirtschaftli-
chen und demografischen Strukturen in Zukunft die Ge-
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): fahr einer ansteigenden Altersarmut besteht. Deshalb
Zum 1. Juli 2011 werden die Renten in Deutschland wollen wir, dass sich die private und betriebliche Alters-
um rund 1 Prozent ansteigen, und auch in Zukunft ist vorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch die-
nach den Modellrechnungen im Rentenversicherungsbe- jenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vor-
richt 2010 von einem Rentenanstieg um 29 Prozent bis gesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der
2024 oder entsprechend einer durchschnittlichen Steige- Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und
rungsrate von knapp 1,9 Prozent pro Jahr auszugehen. steuerfinanziert ist.“
Das sind erfreuliche Nachrichten angesichts der Tat- Unser Rentensystem basiert auf drei Säulen. Eine al-
sache, dass im Rentenversicherungsbericht vor zwei leinige Sicherung des eigenen Lebensstandards im Alter
Jahren noch Nullrunden für die Rentnerinnen und Rent- durch die gesetzliche Rente kann allein schon aufgrund
ner prognostiziert wurden. Gleichzeitig steigt die Rück- der demografischen Entwicklung und des Generationen-
lage in der Rentenversicherung weiter an. Aus heutiger vertrages nicht funktionieren. Der Präsident der Deut-
Sicht kann davon ausgegangen werden, dass schon im schen Rentenversicherung Bund, Dr. Herbert Rische,
Laufe des Jahres 2012 die Rücklage den Stand von schreibt dazu: „Die Lebensstandardsicherung bei Ein-
1,5 Monatsausgaben übersteigt. Damit könnte zum tritt der Altersrente wie der Erwerbsminderung kann vor
1. Januar 2013 der Rentenversicherungsbeitrag abge-
dem Hintergrund der Entwicklung des Rentenniveaus
senkt werden.
künftig im Regelfall nicht mehr allein durch die Leistun-
Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen gen der gesetzlichen Rentenversicherung gewährleistet
die gesetzliche Rentenversicherung nahezu unbeschadet werden, auch wenn die gesetzliche Rentenversicherung
die Finanz- und Wirtschaftskrise überstanden hat. Auch die stärkste Säule der Sicherung bei Alter und Erwerbs-
der Sozialbeirat hat in seinem Bericht zum Rentenversi- minderung bleiben wird.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11043
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) Nach einer Prognose der Deutschen Rentenversiche- wir nichts ändern. Eine Verwischung oder Vermengung (C)
rung Bund wird sich die Bedeutung der einzelnen Teil- von Verantwortlichkeiten, wie das die Linke beantragt,
segmente im Drei-Säulen-System – gesetzliche Renten- lehnen wir ab.
versicherung, betriebliche Altersvorsorge und private
Altersvorsorge – in Zukunft immer mehr verlagern. Lag Was die Zusammensetzung der neuen Regierungs-
der Anteil der gesetzlichen Rentenversicherung am ge- kommission anbelangt, hat die Bundesregierung bereits
mehrfach geäußert, dass die derzeitigen Planungen
samten Alterssicherungssystem 2005 noch bei 85 Pro-
zent so wird er 2035 nur noch bei 65 Prozent, im Jahre auch vorsehen, im Rahmen der Beratungen auch Wis-
2050 sogar nur noch bei 56 Prozent liegen. Dementspre- senschaftlerinnen und Wissenschaftler anzuhören und/
oder gegebenenfalls schriftliche Gutachten einzuholen
chend werden sich die Anteile der betrieblichen Alters-
vorsorge von im Jahre 2005 von 10 Prozent auf 24 Pro- sowie betroffene Institutionen – zum Beispiel die Ren-
zent für 2035 und sogar auf 31 Prozent für 2050 erhö- tenversicherungsträger – und die Sozialpartner, Sozial-
verbände und Kirchen zu beteiligen. Es wäre auch nicht
hen. Bei der privaten Altersvorsorge liegen die Zahlen
bei 5 Prozent in 2005, 11 Prozent in 2035 und 13 Pro- sachgerecht, externen Sachverstand aus dem Bereich
zent in 2050. der zusätzlichen Altersvorsorge von vornherein auszu-
schließen. Dies würde auch die Bedeutung der zusätzli-
Diese Entwicklungen zeigen, dass alle Säulen der Al- chen betrieblichen und privaten Altersvorsorge für die
terssicherung zur Lebensstandardsicherung und zur Alterssicherung insgesamt verkennen. Mögliche Pro-
Vermeidung von Altersarmut beitragen müssen. Deshalb bleme und Risiken müssen nicht nur innerhalb, sondern
ist es auch richtig, dass die Bundesregierung private auch außerhalb des Systems der gesetzlichen Rentenver-
und betriebliche Zusatzversorgung mit erheblichen För- sicherung genau analysiert werden – nur so können
derungen stützt, wie beispielsweise die Förderung mit fi- tragfähige und passgenaue Lösungsansätze zur Vermei-
nanziellen Zuschüssen – Riester-Zulagen –, die Förde- dung von Altersarmut insgesamt entwickelt werden.
rung mit Extra-Steuerersparnissen – zusätzlicher Wir, die Koalitionsfraktionen, sind davon überzeugt,
Sonderausgabenabzug – oder die Basis-Rürup-Rente. dass die Regierungskommission wegweisende Empfeh-
Richtig ist auch, dass die gesetzliche Rente die wesentli- lungen zur Vermeidung von Altersarmut in der Zukunft
che Säule der Alterssicherung ist und bleibt. Deshalb erarbeiten wird. Wir sind fest entschlossen, dazu im Par-
gilt es, auch die gesetzliche Rentenversicherung zu stär- lament noch in dieser Legislaturperiode konkrete Geset-
ken. zesbeschlüsse zu fassen.
Ein besserer Schutz vor Altersarmut ist das zentrale
rentenpolitische Vorhaben dieser Koalition. Dazu brau- Ulrich Lange (CDU/CSU):
(B) chen wir aber keine Panikmache und keine unrealisti- Heute debattieren wir zum wiederholten Male zur Al- (D)
schen Forderungen, sondern ein echtes Gesamtkonzept. tersarmut in Deutschland, weil die Linken mal wieder
Ein solches zu erstellen und die Grundlage für weiteres einen Antrag eingereicht haben. Diese Fraktion wird
Handeln zu erarbeiten, ist Ziel der Regierungskommis- einfach nicht müde, ihre kommunistischen Forderungen
sion zur Vermeidung von Altersarmut, die in den kom- wieder und wieder vorzutragen. Aber dadurch werden
menden Wochen durch die Bundesregierung eingesetzt sie nicht besser. Und da Sie auch keine stichhaltigen Ar-
wird. gumente anführen, werden Sie auch niemanden von Ih-
ren leeren Worthülsen überzeugen.
Derzeit sind nur 2,3 Prozent der Rentnerinnen und
Rentner wegen zu geringer Alterseinkünfte auf zusätzli- Aber kommen wir zu Ihrem Antrag. Gut daran ist,
che staatliche Unterstützung angewiesen. 1957, vor der dass wir uns mit der Altersarmut beschäftigen. Dieses
Einführung der dynamischen Rente, waren über 70 Pro- Problem ist in unserer Gesellschaft vorhanden, und wir
zent der Seniorinnen und Senioren in Deutschland auf müssen ihr heute begegnen, damit die Altersarmut in
zusätzliche staatliche Hilfen angewiesen. Auch dies den kommenden Jahren nicht ansteigen, sondern redu-
zeigt noch einmal, wie erfolgreich die gesetzliche Ren- ziert wird. Aus diesem Grund wird die Bundesregierung
tenversicherung zur Vermeidung von Altersarmut beige- eine Regierungskommission bilden und nicht eine Parla-
tragen hat. Wir wollen, dass das auch in Zukunft so mentskommission. Hierzu werden dann Fachleute he-
bleibt. Wir wollen, dass die gesamte Problematik von Al- rangezogen, die diese Kommission beraten. Das Ziel der
tersarmut, Erwerbsminderung und Langzeitarbeitslo- Regierungskommission wird es sein, alle Rentensysteme
sigkeit fachkundig, umfassend und mit Blick auf eine zu- in der Bundesrepublik Deutschland in die Betrachtung
kunftsfähige und bedarfsgerechte Lösung angegangen einzubeziehen. Dies betrifft auch die Riester-, Betriebs-
wird. Denn nur so kann dieses ernsthafte und komplexe und Erwerbsminderungsrenten. Es wird einen Think
Thema bewältigt werden. Tank geben – eine Diskussion ohne Tabus mit dem Ziel,
wirksame Maßnahmen gegen die Altersarmut zu finden.
CDU/CSU und FDP unterstützen das Vorhaben, eine
Regierungskommission einzusetzen. Nach Vorlage des Ich möchte an dieser Stelle sehr deutlich darauf hin-
Berichts der Kommission werden wir als Parlament de- weisen, dass die beste Absicherung gegen die Altersar-
ren Vorschläge diskutieren und bewerten. Es liegt dann mut auch schon die Berufstätigkeit ist. Wir haben die Ar-
an uns als Parlamentariern, welche Vorschläge wir auf- beitslosigkeit auf ein Niveau gesenkt, wie es keiner
greifen und was wir als Gesetz beschließen. An dieser erwartet hatte, und dies trotz der Finanz- und Wirt-
klaren Aufgabenteilung zwischen einer Fachkommission schaftskrise. Wir werden auch weiter dahin wirken, dass
und der Verantwortung von uns Abgeordneten wollen die Arbeitsplätze in Deutschland gesichert und dass

Zu Protokoll gegebene Reden


11044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Ulrich Lange
(A) neue Stellen geschaffen werden. Die von Ihnen so oft in Anton Schaaf (SPD): (C)
die Waagschale geworfene Forderung nach einem Min- Mit dem vorliegenden Antrag erkundigt sich die
destlohn wirkt sich da nur negativ aus, würde Arbeits- Fraktion Die Linke nach Aufgabe und Zusammenset-
plätze vernichten und zu vermehrter Altersarmut führen. zung der von der Bundesregierung angekündigten Al-
Deshalb sprechen wir uns dagegen aus. tersarmutskommission.Die Linke kritisiert auch die feh-
lende Beteiligung des Parlaments an der geplanten
Ja, wir fordern von unseren Bürgerinnen und Bür- Einsetzung der regierungsinternen Kommission. Unse-
gern, auch für die Alterssicherung einen privaten Bei- res Erachtens aber ist weniger die Zusammensetzung
trag zu leisten. Dies ist notwendig. Dafür vermeiden wir der Kommission ein Problem als deren Aufgabenstel-
aber eine drastische Erhöhung der Rentenbeiträge, die lung. Angesichts der politischen Vorgaben im Koali-
sonst notwendig wäre. Mit der Einführung der Riester- tionsvertrag von CDU, CSU und FDP für deren Arbeit
Rente ist ein Instrument geschaffen worden, mit dessen ist für uns eine Beteiligung ohnehin nicht sinnvoll. Da-
Hilfe der Altersarmut begegnet werden kann. Dieses In- her können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen. Weil wir
strument zu verunglimpfen ist nicht gerechtfertigt. Die aber die zugrunde liegende Analyse für richtig halten,
Zahlungen aus der Riester-Rente ergänzen die Zahlun- enthalten wir uns der Stimme.
gen der gesetzlichen Rentenversicherung sehr sinnvoll
und verringern im Wesentlichen die Gefahr der Altersar- Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP wurde
mut. Um dies zu gewährleisten, haben wir das Schon- vereinbart, gegen Altersarmut vorzugehen; das ist er-
vermögen von 250 Euro auf 750 Euro pro Lebensjahr freulich. Aber außer dieser Absichtserklärung wurde
angehoben. Diese Verdreifachung führt dazu, dass ein bisher noch nichts geliefert.
60-Jähriger bis zu 45 000 Euro für das Alter ansparen Die Bundesregierung hat es offenbar nicht eilig. Im
darf. Das ist eine sinnvolle und effektive Vorsorge gegen April dieses Jahres soll die Kommission ihre Arbeit auf-
Altersarmut. nehmen, der Abschlussbericht wird erst im September
2012 vorliegen. Die Regierungskoalition stellt sich ihrer
Es muss nicht alles staatlich reguliert werden, wie
Verantwortung viel zu spät. Eine Umsetzung noch in die-
das die Linken fordern. Die meisten Arbeitnehmerinnen
ser Legislaturperiode ist daher kaum zu erwarten.
und Arbeitnehmer sind durchaus selbst in der Lage, pri-
vat die zu erwartende Rente zu ergänzen. Ob dies über Deutschland ist stabiler als andere Länder durch die
Lebensversicherungen oder die eigene Immobilie ist, Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen. Allerdings
sollen unsere Bürgerinnen und Bürger selbst entschei- kommt die aktuell gute wirtschaftliche Lage den Arbeit-
den. Denjenigen, denen es nicht gelingt, ordentlich nehmerinnen und Arbeitnehmern in zu geringem Maß
selbst vorzusorgen, müssen wir die helfende Hand rei- zugute. Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte ha-
(B) chen. Aber die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ben nach wie vor große Schwierigkeiten auf dem Ar- (D)
sorgt lieber auf dem Sektor für die Altersvorsorge vor, beitsmarkt. In atypischen Beschäftigungsverhältnissen
der ihm selbst am sichersten und profitabelsten er- liegen die Stundenverdienste um ein Drittel niedriger.
scheint. Lassen wir ihnen dieses Recht auf Selbstbestim- Über 20 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten sind im Nie-
mung. driglohnsektor beschäftigt.

Was Sie, meine Damen und Herren von der Linken, Langzeitarbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäfti-
betreiben, ist doch ein Etikettenschwindel. Sie kennen gung hinterlassen deutliche Spuren in den Erwerbsbio-
doch die demografische Entwicklung und wissen genau, grafien der Beschäftigten. Kräftige finanzielle Einbußen
dass langfristig die Anzahl derer, die die Rente finanzie- bei der Altersversorgung sind die Folge.
ren, zurückgehen wird und die Anzahl der Rentner an- Altersarmut wird in Zukunft vor allem im Osten zum
steigen wird. Wenn wir bei Ihren Forderungen bleiben, Problem. Berechnungen des DIW haben ergeben, dass
würde der Rentenbeitrag ins Unermessliche steigen. in der Alterskohorte der Jahrgänge 1952 bis 1971 jeder
Deshalb haben wir den Nachhaltigkeits- sowie den dritte Mann – 31,4 Prozent – und fast jede zweite Frau
Riester-Faktor in den letzten Jahren bei der Berechnung – 46,6 Prozent – einen Rentenzahlbetrag aus der gesetz-
der Einkommen im Alter einbezogen. Wir wollen eine so- lichen Rentenversicherung von unter 600 Euro erhalten,
lide Sicherung der Einkommen im Alter und setzen auf also mit seinem Renteneinkommen unterhalb der Grund-
ein Splittung in gesetzliche Rentenversicherung und pri- sicherung bleiben wird.
vate Vorsorge.
Von herausragender Bedeutung für die Vermeidung
Ob und wo es noch sinnvolle und bezahlbare Mög- von Altersarmut sind:
lichkeiten zur Vermeidung der Altersarmut bei uns in
Erstens eine Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspoli-
Deutschland gibt, wird jetzt von der Regierungskommis-
tik, die dem Leitbild der „guten Arbeit“ verpflichtet ist.
sion erarbeitet. Lassen wir ihr für diese wichtige Tätig-
Dazu gehören die Einführung eines gesetzlichen Min-
keit die Zeit, um gründlich zu recherchieren und sich mit
destlohns und die Schaffung sozialversicherungspflichti-
den Fachleuten aus allen Bereichen ausführlich zu bera-
ger Beschäftigung. Dann können die Versicherten auch
ten. Versuchen Sie, Ihr Strickmuster zu durchbrechen,
wieder mit höheren Renten rechnen.
und vermeiden Sie eine polemische Debatte. Diskutieren
Sie mit uns die kommenden Vorschläge zum Nutzen un- Zweitens – auch wenn der eigentliche Schlüssel zur
serer Bürgerinnen und Bürger und zur Vermeidung der Bekämpfung von Altersarmut auf dem Arbeitsmarkt liegt
Altersarmut. – muss sozialpolitisch flankierend eingegriffen werden.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11045
Anton Schaaf
(A) Daher müssen wir bereits entstandene Absicherungslü- Bisher waren individuelle Lebensleistung und verant- (C)
cken in der Rente schließen. Wir schlagen vor, die Rente wortungsvolle Alterssicherungspolitik verantwortlich
nach Mindestentgeltpunkten bis zum 1. Januar 2011 dafür, dass ältere Menschen in Deutschland heute in der
fortzuführen sowie Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit Mehrzahl finanziell gut abgesichert sind. Wir wollen,
innerhalb der Gesamtleistungsbewertung besser zu be- dass dies so bleibt. Und wie wir seit dem 23. CDU-Par-
werten. Darüber hinaus stellt auch die Erwerbsminde- teitag wissen: Die Parteibasis der CDU sorgt sich eben-
rung ein Risiko für Altersarmut dar. Dem müssen wir mit falls um die Zukunft der Alterssicherung. Eine Fülle von
besseren Erwerbsminderungsrenten begegnen. konkreten Maßnahmen wurde hier vorgeschlagen, die
die Regierungskommission in ihre Überlegungen mit
Die Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag sind kaum aufnehmen soll, um zukünftige Altersarmut wirksam zu
dazu geeignet, Altersarmut zu bekämpfen. Die Leitmo- bekämpfen. Greifen Sie diese Vorschläge auf und gestal-
tive Ihrer Vereinbarungen zur Alterssicherung – privat ten den Auftrag der Kommission offener. Im Übrigen:
vor solidarisch und Almosen statt Leistungsgerechtig- Wenn Sie hinter den Vorschlägen des CDU-Parteitags
keit – degradieren die gesetzliche Rente zum Neben- stünden, hätten Sie unserem Antrag zur Bekämpfung der
schauplatz der Alterssicherung. Dies lässt kaum positive Altersarmut im vergangenen Herbst getrost zustimmen
Erwartungen aufkommen. können.
Die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP Jede Alterssicherungspolitik muss an Legitimations-
getroffenen Vorfestlegungen bestätigen, dass Sie – auf grenzen stoßen, wenn selbst jahrzehntelange Beitrags-
Kosten der Versicherten – Konflikten innerhalb der Bun- zahlung nicht mehr zu einer Altersversorgung oberhalb
desregierung aus dem Weg gehen. Daher fehlt ein klares der Armutsgrenze führt. Unser Anliegen ist es, Men-
Bekenntnis zur gesetzlichen Rente als erster und wich- schen zu ermöglichen, von ihrer Arbeit auch zu leben
tigster Säule der Alterssicherung. Der Koalitionsvertrag und zugleich für das Alter vorzusorgen. Die Schließung
von CDU, CSU und FDP wirft mehr Fragen auf, als er von Lücken in der Erwerbsbiografie und eine faire Ent-
beantwortet: lohnung sind Voraussetzungen für eine angemessene fi-
nanzielle Absicherung im Alter. Zusätzlich müssen wir
Die private und betriebliche Altersvorsorge soll sich dem Wandel der Arbeitswelt Rechnung tragen und die
auch für Geringverdiener lohnen. Entsprechende Frei- gesetzliche Rentenversicherung zur Erwerbstätigenver-
beträge müssten dann aber auch für Einkünfte aus der sicherung ausbauen; denn Altersarmut findet sich vor
gesetzlichen Rente gelten. allem dort, wo keine Anwartschaften aus der gesetzli-
chen Rente vorhanden sind.
Sie wollen die kapitalgedeckte Altersvorsorge stär-
(B) ken. Inwiefern sogenannte Soloselbstständige aber die (D)
finanziellen Mittel für die zusätzliche Altersvorsorge Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
aufbringen können, ist fraglich. Tatsächlich ist die staat- Die Vermeidung von Armut ist eine zentrale Aufgabe
lich geförderte Altersvorsorge nur sinnvoll, wenn sie zu- der Politik. Wir wissen, dass es für ältere Menschen spe-
sätzlich betrieben wird. zielle und in Zukunft steigende Risiken gibt. Deshalb
wird die Bundesregierung in den nächsten Wochen eine
Geprüft wird, ob und wie die Absicherung gegen das Regierungskommission einsetzen, die sich mit dieser
Erwerbsminderungsrisiko in der staatlich geförderten wichtigen Materie fundiert auseinandersetzen wird.
Vorsorge kostenneutral verbessert werden kann. Das be- Eine Ausweitung des Auftrages und der Zusammenset-
deutet wohl in der Konsequenz Leistungskürzungen. zung dieser Kommission im Sinne der Fraktion der Lin-
ken lehnen wir ab.
Sie wollen diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit ge-
arbeitet und vorgesorgt haben, mit einer neuen Fürsor- Der Ansatz der Linken ist kurativ nachsorgend. Unser
geleistung vor Altersarmut bewahren. Ein neben der Ansatz ist präventiv. Und genau das halte ich nicht nur
Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für den liberalen Ansatz, sondern auch für die einzige
zusätzliches steuerfinanziertes System soll dafür sorgen, realistische Lösung dieses wachsenden Problems: Je-
dass ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung dem Bürger die Chance zu geben, seine eigene Alters-
erreicht wird. Damit schaffen Sie eine Grundsicherung versorgung auf eine ausreichende und ihm als geeignet
erster und zweiter Klasse. erscheinende Basis zu stellen.
Einen wichtigen Schritt haben wir schon zu Beginn
Aus all diesen Vorgaben wird deutlich, in welch eng
dieser Wahlperiode gemacht, nämlich den Freibetrag
gestecktem Rahmen Sie nach Lösungen suchen. Sie
beim Schonvermögen im SGB II, der verbindlich der Al-
scheuen davor zurück, den Bürgerinnen und Bürgern zu
tersvorsorge dient, auf 750 Euro pro Lebensjahr verdrei-
erklären, was Sie mit Ihren Vorgaben bezwecken – ver-
facht. Eigenständige Altersvorsorge darf nicht bestraft
mutlich haben Sie Angst vor der öffentlichen Diskussion.
werden – schon gar nicht, wenn jemand auf das Arbeits-
Sie übertragen Ihre Arbeitsmarktpolitik konsequent auf
losengeld II angewiesen ist.
die Alterssicherung. Wer einen gesetzlichen Mindest-
lohn verweigert und einen immer weiter wachsenden Die aktuelle Situation ist undramatisch. Nur etwa
Niedriglohnsektor akzeptiert, dem fällt auch bei der Al- 2,5 Prozent der über 64-Jährigen sind auf Leistungen
terssicherung nur die Fürsorge ein: hier prekäre Be- der Grundsicherung angewiesen. Die Statistiken besa-
schäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit, dort Alters- gen auch, dass geringe Renten durchaus häufig mit an-
einkommen als Almosen. deren Einkommen oder Vermögen zusammentreffen. Da-

Zu Protokoll gegebene Reden


11046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) von lassen wir uns nicht täuschen. Die geringe Zahl der Banken- und Versicherungswirtschaft zu hören. Ich (C)
Betroffener mildert für den Einzelnen nicht die Tragik weise das zurück. Ihre Antragsbegründung ist unsach-
seiner Situation. Diejenigen, deren politisches Geschäft lich und böswillig.
in der Dramatisierung und Beschwörung sozialer Miss-
stände besteht, dürfen sich und die Öffentlichkeit aber Auch die Strapazierung des Begriffes „Solidarität“
eben auch nicht täuschen. Kleine Renten bedeuten kei- muss kommentiert werden. Ihre „Solidarität“ bedeutet
neswegs automatisch Armut. Die nötigen Korrekturen neben massiven Steuererhöhungen für Facharbeiter,
auf das staatliche Rentensystem zu beschränken geht an mittlere Beamte und kleine Selbstständige auch Beitrags-
der Lebenswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland erhöhungen, in diesem Fall der Rentenversicherung.
vorbei. Das erwähnen Sie im Antrag nicht. Aber es ist klar und
anderswo auch nachlesbar. Die Realisierung Ihrer Ideen
Ich behaupte nicht, dass eine geringe Rente unproble- erzwingt höhere Beiträge. Allein für die Rentenversiche-
matisch wäre, aber der reduzierte Blick auf Anwart- rung hat Ihr Vorsitzender Klaus Ernst im November mal
schaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung greift eben 0,5 Prozent höhere Beiträge für akzeptabel erklärt.
zu kurz. In einer Anhörung ist uns gesagt worden, dass Dieser Tage bezeichnete Herr Kollege Birkwald ein Pro-
die Bezieher geringer gesetzlicher Renten statistisch ein zent höhere Beiträge als unproblematisch. SPD und
deutlich höheres Haushaltseinkommen haben als die Be- Linke fordern in unterschiedlicher Ausprägung unbe-
zieher mittlerer Renten. fristete Aufwertungen der Rentenanwartschaften von
Geringverdienern. Damit durchbrechen Sie das Prinzip
Zur Feststellung von Altersarmut müssen neben dem der Äquivalenz. Das heißt, Sie schaffen echte Ungerech-
regelmäßigen Einkommen auch das Vermögen und an- tigkeiten, ohne wesentliche Beiträge zur Armutsvermei-
dere Einkommensarten berücksichtigt werden. Das be- dung bewirken zu können.
stätigen ausdrücklich die Gutachter. Auch der Alters-
sicherungsbericht 2008 wies aus, dass Rentner mit Ich komme zum Ausgangsgedanken zurück. Was ge-
weniger als 250 Euro gesetzlicher Rente im Schnitt ein gen Altersarmut hilft, sind stabile Erwerbsbiografien
Gesamteinkommen von fast 1 400 Euro im Monat hatten. und sichere Einkommen. Eine gute wirtschaftliche Ent-
wicklung, die sich entsprechend auf dem Arbeitsmarkt
Die Altersarmutskommission wird unter anderen zwei niederschlägt, bewirkt mehr als noch so gut gemeinte
Fragen zu beantworten haben: Wie können wir beför- nachträgliche Korrekturen.
dern, dass sich private und betriebliche Altersvorsorge
auch für Geringverdiener lohnt? Und wie sichern wir al-
len, die langjährig Vollzeit gearbeitet haben, ein Alter- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
seinkommen oberhalb der Grundsicherung, ohne an an- Altersarmut ist bereits heute ein Problem. Seit die
(B) deren Stellen Ungerechtigkeiten zu schaffen? „Grundsicherung im Alter“ in Kraft getreten ist, ist die (D)
Zahl der Rentnerinnen und Rentner, die auf sie angewie-
Ich habe mir noch einmal die vorliegenden Initiativen sen sind, um über 55 Prozent gestiegen. Im Jahr 2003
der Oppositionsparteien angeschaut. Das ist alles nicht gab es knapp 260 000 Betroffene, Ende 2009 waren es
kreativ. Nach einleitenden Sätzen mit den üblichen so- schon fast 400 000. Bereits heute sind 15 Prozent der
zial klingenden Floskeln folgt der altbekannte Apparat Menschen über 65 Jahre in Deutschland armutsgefähr-
linker Forderungen. Unter anderem behaupten sie auch, det – beinahe genauso viele wie im Durchschnitt der Ge-
die Einführung von Mindestlöhnen helfe bei der Vermei- samtbevölkerung. Armut im Alter ist aufgrund des fortge-
dung von Altersarmut. Das ist nicht durchdacht und schrittenen Lebensalters und begrenzter Möglichkeiten,
führt zum Gegenteil von Armutsbekämpfung, wenn in an dieser Situation noch etwas zu ändern, in der Regel
der Folge Arbeitsplätze verschwinden. verfestigte Armut. Das Problem ist seit langem bekannt.
Ein Diskussionspunkt, den die Opposition taktisch Ebenso bekannt ist, dass in Zukunft mit einer rasant stei-
sehr hoch aufhängt, ist die Zahlung der RV-Beiträge für genden Altersarmut – insbesondere in Ostdeutschland –
erwerbsfähige ALG-II-Bezieher. Ich verstehe den prinzi- zu rechnen ist.
piellen Ansatz, dass der Träger einer den Lebensunter- Deswegen ist der Plan der Bundesregierung, eine Al-
halt sichernden Sozialleistung in der Regel auch die Bei- tersarmutskommission einzusetzen, die Vorschläge zur
träge zu anderen Sozialversicherungen abdecken soll. Bekämpfung der Altersarmut entwickeln soll, nicht
Wäre das ein heiliger Grundsatz, hätte die Große Koali- falsch. Doch ihre Zielsetzung bleibt diffus, und die ge-
tion den ersten Sündenfall begangen. Ich teile aber nicht plante Beteiligung von Lobbyisten aus der Versiche-
die Theorie, dass ein RV-Beitrag von 2,09 Euro pro Jahr rungswirtschaft verheißt nichts Gutes. Zudem wird die
der Arbeitslosigkeit Altersarmut vermeiden kann. Kommission zu spät eingesetzt, und die Verzögerung des
Der heute zu behandelnde Antrag hat zum Inhalt, der Abschlussberichts bis September 2012 lässt befürchten,
Bundesregierung Vorgaben sowohl dazu zu machen, wie dass tatsächlich wirksame Maßnahmen letztlich doch
wieder unter den Kabinettstisch fallen werden.
sich die Regierungskommission zusammenzusetzen hat,
als auch dazu, welche Inhalte dort beraten werden sol- Altersarmut ist politisch gemacht. Langzeiterwerbs-
len. In Wirklichkeit geben Sie der Kommission die von losigkeit, die Ausbreitung von Niedriglohnbeschäftigung
Ihnen gewünschten Ergebnisse vor. Expertenmeinungen, und die von der rot-grünen Bundesregierung beschlos-
die nicht in das linke Weltbild passen, werden als böse sene und von späteren Regierungskoalitionen fortge-
Klientelinteressen bezeichnet. Allen Bundesregierungen setzte langfristige Absenkung des Rentenniveaus führen
der letzten Jahre wird nachgesagt, nur auf die Interessen dazu, dass viele Beschäftigte keine armutsfesten Renten

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11047
Matthias W. Birkwald
(A) aus der gesetzlichen Rentenversicherung mehr erhalten um endlich auch zu einer Diskussion über Maßnahmen (C)
und auf die unzureichende „Grundsicherung im Alter“ gegen Altersarmut zu kommen.
angewiesen sind. Die Versicherten im Osten stehen in ei-
ner besonderen Gefahr, künftig im Alter in Armut zu le- Ich begrüße, dass die Bundesregierung mit der Kom-
ben. Frauen sind, waren und werden auch in Zukunft mission das Problem der Altersarmut endlich anerkennt,
weiter stark von Altersarmut betroffen sein. Erwerbsge- auch wenn einige aus den Regierungsfraktionen das
minderte werden ebenfalls sehr häufig Renten unterhalb Problem offenbar immer noch kleinreden.
des Existenzminimums beziehen. Ich begrüße, dass die Bundesregierung eine Altersar-
Die bisher bekannte Zielsetzung geht in die falsche mutskommission einsetzt, auch wenn ich Zweifel habe,
Richtung. Denn statt zu prüfen, wie die gesetzliche Ren- wie ernst die Bundesregierung ihr Engagement auf die-
tenversicherung so reformiert werden kann, dass sie den sem Gebiet meint. Ich darf nur daran erinnern, dass die-
Lebensstandard im Alter wieder sichert und langjähri- selbe Bundesregierung gerade im letzten Jahr beschlos-
gen Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern ein Ren- sen hat, die Rentenbeiträge für Arbeitslosengeld-II-
tenniveau bietet, das deutlich über dem Niveau der Beziehende zu streichen. Das wird unweigerlich zu mehr
„Grundsicherung im Alter“ liegt, will sie die private Altersarmut führen.
und betriebliche Altersvorsorge weiter stärken. Wer hier Und ich muss auch daran erinnern, wie die Bundesre-
nicht mitziehen kann, wer keine Mittel für eine private
gierung derzeit agiert bezüglich der EU-2020-Strategie
Vorsorge aufzubringen vermag, wird mit einer stigmati-
zur Reduzierung der Armut. Die Bundesregierung ist of-
sierenden Fürsorgeleistung abgespeist. Stattdessen will
die Linke ein Leben in Würde für alle statt nur für einige. fenbar nicht bereit, ihren fairen Anteil an dem anvisier-
ten Ziel einer Reduzierung der Armut in Europa um 20
Die Linke stellt deshalb klare Anforderungen an eine Millionen zu leisten.
sinnvolle Kommissionsarbeit. Wir wollen das Verfahren
beschleunigen und das Thema Altersarmut aus den mi- Dies alles lässt mich zweifeln, wie ernst der Bundes-
nisteriellen Hinterzimmern herausholen. Deshalb muss regierung ihr Engagement gegen Altersarmut ist.
die Kommission demokratisch zusammengesetzt sein: Ich bekomme allerdings auch Zweifel, wenn ich den
Gewerkschaften, Arbeitgeber- und Sozialverbände, Se- Antrag der Fraktion Die Linke lese, den wir heute ver-
niorenorganisationen und Wissenschaft sowie alle Par- handeln. Was mich stutzen lässt, ist, dass die in dem An-
teien des Deutschen Bundestages müssen beteiligt wer- trag zuerst genannte Forderung die nach einem
den. Lobbyisten der Versicherungswirtschaft darf keine Vorschlag der Kommission für die Lebensstandardsiche-
weitere Einflussmöglichkeit gegeben werden. rung ist. Ich finde das bemerkenswert, wo es bei der
Wir wollen Klarheit in der Analyse: Die politischen Kommission doch explizit um die Bekämpfung der Al-
(B) Ursachen von Altersarmut müssen benannt werden – ins- tersarmut gehen soll. Eine Rentenpolitik, die sich dem (D)
besondere die verfehlte Rentenpolitik durch den Paradig- Ziel der Lebensstandardsicherung verschreibt, kann für
menwechsel seit 2001, mit dem das Ziel der Lebensstan- einen Teil der Rentner eine Antwort auf die drohende Al-
dardsicherung mit der gesetzlichen Rente aufgegeben tersarmut sein. Klar ist aber auch, dass bei einer sol-
worden ist und die Privatisierung der Alterssicherung chen Strategie viele herausfallen und im Alter arm sein
ebenso eingeführt wurde wie eine nach wie vor stigmati- werden. Ich möchte das nicht zu hoch bewerten – und
sierende und unzureichende „Grundsicherung im Al- die Linkspartei nennt in ihrem Antrag auch anderes –,
ter“. Ein besonderes Augenmerk muss auf die Situation aber stutzen lässt mich diese Rangfolge doch.
von Frauen und auf die Menschen in Ostdeutschland ge-
legt werden. Altersarmut ist ein Problem, und wir müssen endlich
auch handeln. Derzeit sind 2 Millionen ältere Menschen
Wir formulieren ein klares Ziel: Wir wollen Lebens- in Deutschland arm. Es ist zwar richtig, dass die Armut
standardsicherung und Altersarmutsvermeidung durch bei Kindern höher ist. Und es ist sicher auch richtig,
Reformen der gesetzlichen Rente und des Arbeitsmark- dass die empörende Kinderarmut uns als Gesellschaft
tes erreichen. Die Kommissionsarbeit muss dem Drei- vor eine noch dringlichere Aufgabe stellt. Aber ich
klang „gute Löhne, gute Arbeit, gute Rente“ folgen. warne davor, das Problem der Altersarmut kleinzureden
Dazu gehören unweigerlich die Einführung eines flä- oder die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen.
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohns sowie ein en-
ergischer Ausbau der Konzepte zur Vereinbarkeit von Armut im Alter ist anders als in anderen Lebenspha-
Familie und Beruf. Die Kommission muss darüber hin- sen. Altersarmut ist verfestigte Armut. Ältere, die arm
aus das Konzept einer solidarischen Erwerbstätigenver- sind, haben in der Regel keine Chance mehr, die Armut
sicherung ebenso prüfen wie innerhalb dieses Konzepts zu überwinden. Das unterscheidet sie grundlegend von
anzulegende Elemente der Mindestsicherung. Gerade allen anderen Altersgruppen. Altersarmut ist dauer-
für Ostdeutschland muss endlich ein Konzept entwickelt hafte, unbefristete, ja für die Betroffenen lebenslängli-
werden, mit dem die Renten in Ostdeutschland möglichst che Armut. Ich bin überzeugt davon, dass die älteren
schnell auf das Westniveau angehoben werden können. Menschen, die arm sind, in ihrem Leben auf die eine
oder andere Weise einen Beitrag zu unserer Gesellschaft
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ geleistet haben. Manche haben Kinder erzogen, andere
DIE GRÜNEN): haben Angehörige gepflegt, wieder andere haben sich
Ich begrüße, dass die Bundesregierung mit der Ein- politisch oder sozial engagiert. Manche haben lange
berufung der Altersarmutskommission das Problem der Jahre für wenig Geld gearbeitet. Manche haben jahre-
Altersarmut anerkennt. Das ist ein notwendiger Schritt, lang erfolglos versucht, wieder eine Arbeit zu finden.

Zu Protokoll gegebene Reden


11048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) Dadurch entstehen Lücken in den Rentenbiografien, und Überweisungsvorschlag: (C)
ich finde es empörend, dass die Leistungen dieser Men- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
schen nicht anerkannt werden und hingenommen wird,
dass sie im Alter in Armut leben müssen. Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re-
den zu Protokoll zu nehmen. Johann Wadephul, Josip
Bezüglich der nächsten Jahre erwartet uns nach allen Juratovic, Heinrich Kolb, Jutta Krellmann, Beate
Prognosen ein deutlicher, ein überproportionaler An- Müller-Gemmeke und Parlamentarischer Staatssekretär
stieg der Altersarmut. Brauksiepe sind die Rednerinnen und Redner.1)
Gerade heute ist die neue Studie der OECD „Renten Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
auf einen Blick“ erschienen. Darin ist nachzulesen, dass fes auf Drucksache 17/4808 vorgeschlagen. Gibt es an-
Deutschland bei der Absicherung der zukünftigen Rent- derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
ner mit niedrigem Einkommen im internationalen Ver- so beschlossen.
gleich äußerst schlecht dasteht. In der EU bildet
Deutschland das Schlusslicht. Unter den OECD-Län- Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
dern sichert nur Japan die derzeitigen Niedrigverdiener Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
schlechter ab. Damit schneidet Deutschland zum Bei- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
spiel auch schlechter ab als Mexiko und Polen. Altersar- dem Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs,
mut in Deutschland ist vorprogrammiert. Volker Beck (Köln), Josef Philip Winkler, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Und dabei ist bei der Projektion der OECD noch NIS 90/DIE GRÜNEN
nicht einmal berücksichtigt, dass die Versicherungsbio-
grafien in den letzten Dekaden immer lückenhafter ge- Weitere iranische Flüchtlinge aus der Türkei
worden sind: immer mehr unterbrochene Erwerbsbio- in Deutschland aufnehmen
grafien, immer mehr Langzeitarbeitslosigkeit, immer
– Drucksachen 17/2439, 17/4087 –
mehr Teilzeiterwerbstätige, immer mehr Soloselbststän-
dige, immer mehr in der Leiharbeit Beschäftigte, immer Berichterstattung:
mehr im Niedriglohnsektor Beschäftigte. Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe (Leipzig)
Diese Erwerbsbiografien lassen sich nicht mehr ret- Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
ten. Diese Erwerbsbiografien lassen sich auch nicht Ulla Jelpke
mehr retten durch eine wie auch immer geartete Wirt- Josef Philip Winkler
schafts- oder Arbeitsmarktpolitik. Die Rentenbiografien
(B) der letzten Dekaden sind nämlich schon geschrieben. Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben (D)
Und die Massenarbeitslosigkeit der letzten Jahrzehnte werden. Es handelt sich um die Reden von Helmut
hat sich in die Rentenbiografien eingeschrieben. Das ist Brandt, Daniela Kolbe, Hartfrid Wolff, Ulla Jelpke und
nicht mehr zu ändern. Zu ändern ist aber, ob dies zu Al- Tom Koenigs.2)
tersarmut führt. Und wenn die Kommission der Bundes- Wir kommen zur Abstimmung.
regierung dafür Konzepte vorlegt, begrüße ich das aus-
drücklich. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4087, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2439
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist angenommen bei Zustimmung durch die
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in Koalitionsfraktionen; die Oppositionsfraktionen haben
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/4926, dagegen gestimmt.
den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache
17/4422 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussemp- Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Beschlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Koordi-
durch die Koalitionsfraktionen; dagegen hat die Linke nierung der Systeme der sozialen Sicherheit in
gestimmt, und enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grü- Europa und zur Änderung anderer Gesetze
nen und die SPD-Fraktion.
– Drucksache 17/4978 –
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Innenausschuss
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Änderung des Europäische-Betriebsräte-Ge- Ausschuss für Gesundheit
setzes – Umsetzung der Richtlinie 2009/38/EG Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
über Europäische Betriebsräte (2. EBRG-
ÄndG)
1) Anlage 12
– Drucksache 17/4808 – 2) Anlage 13
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11049
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Wie in der Tagesordnung steht, sollen die Reden zu Strukturen der Sozialsysteme. Wir brauchen aber ange- (C)
Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die sichts gewachsener Mobilität immer wieder neue Min-
Reden der Kolleginnen und Kollegen Wadephul, Lehrieder, deststandards. Dies zeigt sich beispielsweise bei dem
Schaaf, Molitor, Birkwald und Müller-Gemmeke. Problem der Portabilität betrieblicher Renten und Pen-
sionen. Dies ist ein wichtiger Punkt, um Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern bestimmte Grundrechte über-
Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
haupt zu ermöglichen.
Die Europäische Union hat im Rahmen ihrer Zustän-
digkeiten bereits einen ganzen Sockel verbindlicher Der Koordinierung der sozialen Sicherung in den
Mindeststandards im Arbeits- und Gesundheitsschutz Mitgliedstaaten kommt dabei eine erhebliche Bedeutung
sowie im Arbeitsrecht verabschiedet. Diese Standards zu. Die soziale Sicherung in der Europäischen Union ist
gelten für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in in den Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und Nr. 987/
der EU gleichermaßen. Die Mitgliedstaaten können na- 2009 zur Koordinierung der sozialen Sicherheit gere-
türlich darüber hinausgehen. Aber 20 Tage Jahresur- gelt. Ziel dieser Verordnungen ist es, die sozialen Siche-
laub, Grundlagen für den Kündigungsschutz und ge- rungssysteme der Mitgliedstaaten zu koordinieren, da-
wisse Arbeitszeitregelungen sind immer schon Teil der mit niemand, der von seinem Recht auf Freizügigkeit in
Verträge. Die Europäische Union hat auch Regeln für der Europäischen Union Gebrauch macht, hierdurch
die Beteiligung der Arbeitnehmer und die Mitwirkung unangemessene sozialrechtliche Nachteile hat. Diese
der Sozialpartner geschaffen. Der Europäische Be- Verordnungen sind ein wichtiges Beispiel für ein Hand-
triebsrat gehört ebenso dazu wie der „soziale Dialog“. lungsfeld der europäischen Sozialpolitik. Denn nur
durch verbindliche Regelungen auf europäischer Ebene
Bereits mit der Lissabon-Strategie – also mit der Stra- kann sichergestellt werden, dass das Recht auf Freizü-
tegie, in der es darum geht, Europa zu einem wirt- gigkeit – eine der großen europäischen Grundfreiheiten –
schaftskräftigen und dynamischen Kontinent zu machen, im Hinblick auf die soziale Absicherung der Arbeitneh-
wobei der Anspruch sogar lautet, ihn zum dynamischs- merinnen und Arbeitnehmer und der Selbst-ständigen
ten Kontinent weltweit zu machen – haben sich die Mit- bei ihren erworbenen Anwartschaften angemessen flan-
gliedstaaten verpflichtet, die Beschäftigungs- und So- kiert wird.
zialpolitiken besser zu koordinieren. Um mehr und
bessere Arbeitsplätze in Europa zu schaffen, arbeiten die Zahlreiche Zuständigkeitsfragen wurden nicht mehr
Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft seit langem an ei- in den Anhängen der Durchführungsverordnung gere-
ner koordinierten Beschäftigungsstrategie und stimmen gelt, sondern sollen in eine öffentlich zugängliche Da-
ihre Beschäftigungspolitik aufeinander ab. Diese Koor- tenbank eingetragen werden. Aus Gründen der Rechtssi-
(B) dinierung hat über die Lissabon-Strategie ein ganz star- cherheit und der Rechtsklarheit sollen entsprechende (D)
kes Momentum bekommen. Kernstück dieses Prozesses Aufgabenzuweisungen durch innerstaatliche Regelun-
sind die beschäftigungspolitischen Leitlinien als wesent- gen vorgenommen werden. Auch bedingt die Ablösung
licher Bestandteil der EU-2020-Strategie, die die Lissa- der bisherigen Verordnungen entsprechende Änderun-
bon-Strategie abgelöst hat. Wir können also festhalten: gen im Sozialgesetzbuch und anderen Gesetzen sowie
Es gibt durchaus einen Sockel sozialer Standards, Re- der darin enthaltenen Verweisungen.
geln für die Beteiligung von Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern, Regeln für die Koordinierung der sozialen Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzent-
Sicherheit, finanzielle Hilfen zur Unterstützung der sozi- wurf zur Koordinierung der Systeme der sozialen Si-
alen Kohäsion und europäische Ziele im Bereich der Ko- cherheit in Europa regelt diese verwaltungsmäßige
ordinierung der Beschäftigungs- und Sozialpolitiken. Durchführung der neuen Verordnungen (EG) Nr. 883/
2004 und Nr. 987/2009 zur Koordinierung der Systeme
Wie weit aber soll ein soziales Europa auch aus sozi- der sozialen Sicherheit in Europa. Insbesondere werden
alen Regelungen auf der europäischen Ebene bestehen? damit künftig pflichtversicherte Rentner auch mit ihrer
Sozialer Zusammenhalt im Rahmen der Globalisierung ausländischen Rente zur Beitragszahlung herangezo-
und soziale Sicherheit in Europa sind elementare Her- gen. Im Fall von Entsendungen werden dabei die Be-
ausforderungen, auf die wir nach der globalen Finanz- schäftigungsländer durch den Spitzenverband Bund und
und Wirtschaftskrise in Europa kurz- und mittelfristig Krankenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle
Antworten finden müssen, um Europa für die nächsten Krankenversicherung benachrichtigt. Mit diesen Maß-
zehn Jahre zukunftsfähig aufzustellen. Wie erhalten und nahmen wird dem Grundsatz der Gleichstellung von
entwickeln wir unser europäisches Sozialstaatsmodell Leistungen, Einkünften, Sachverhalten und Ereignissen
unter den Bedingungen der Globalisierung? Wie weit im Bereich der Krankenversicherung von Rentnern ent-
soll ein soziales Europa auch aus sozialen Regelungen sprochen. Wesentlicher Zweck des Gesetzentwurfes ist
auf der europäischen Ebene bestehen? die Feststellung der zuständigen Behörden, Träger so-
wie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der Anwen-
Nach meiner Überzeugung geht es bei der Ausgestal- dung und Durchführung der EU-Verordnungen.
tung der sozialen Dimension nicht in allen Fragen um
eine Verlagerung der Kompetenz von der nationalen auf Verbindungsstelle für den europaweiten Datenaus-
die europäische Ebene, also auf die Ebene der Kommis- tausch berufsständischer Versorgungseinrichtungen soll
sion. Viele soziale Regelungen auf der nationalen Ebene die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer Versor-
sollten bestehen bleiben, auch wegen der in ihrem Auf- gungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwaltungs-
bau und in ihrem Gewachsensein sehr unterschiedlichen hilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschreiten-

Zu Protokoll gegebene Reden


11050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Johann Wadephul


(A) den Sachverhalten koordinieren. Des Weiteren sind eine In diesem Zusammenhang ist die EU-Verordnung zur (C)
Verbindungsstelle für Familienleistungen sowie eine Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit zu
Koordinierungsstelle für die Systeme der Beamtenver- sehen, die die Bundesregierung mit dem vorliegenden
sorgung vorgesehen. Insgesamt sollen fünf Zugangsstel- Gesetzentwurf umsetzen will.
len als Kontaktstellen für grenzüberschreitenden Daten-
Demnach sollen pflichtversicherte Rentner künftig
austausch geschaffen werden, die alle in der EU-
auch mit ihrer ausländischen Rente zur Beitragsfinan-
Verordnung Nr. 883/2004 geregelten Bereiche abdecken.
zierung ihrer Kranken- und Pflegeversicherung heran-
Im Gesetz sind auch Anpassungen des Dritten, Sechsten,
gezogen werden. Nach Art. 30 der EG-Verordnung Nr.
Siebten und Elften Buches Sozialgesetzbuch sowie des
987/2009 darf der Betrag an Beiträgen im Ergebnis
Gesetzes über die Altersversicherung der Landwirte ver-
keinesfalls den Betrag übersteigen, der bei einer Person
merkt, die sich aus der Umsetzung der EU-Verordnun-
erhoben wird, die denselben Betrag an Renten im
gen ergeben.
zuständigen Mitgliedstaat erhält. Ausländische Renten-
Finanziell wird es nach Aussagen der Regierung zu versicherungsträger können darüber hinaus nicht ver-
geringfügigen Mehreinnahmen der gesetzlichen Kran- pflichtet werden, wie die deutschen Rentenversicherungs-
kenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung träger die Hälfte der nach der Rente zu bemessenden
kommen. Durch den elektronischen Datenaustausch und Beiträge nach dem um 0,9 Beitragspunkte verminderten
die Betreuung der Zugangsstellen rechnet die Bundesre- allgemeinen Beitragssatz zu tragen. Deshalb wird die
gierung mit erhöhten Kosten der entsprechenden Leis- Beitragsregelung so ausgestaltet, dass Bezieher einer
tungsträger und Verbindungsstellen. Diese belaufen sich ausländischen Rente im Ergebnis nicht stärker belastet
für die Jahre 2011 und 2012 auf 2 bis 3 Millionen Euro, werden als Bezieher einer gleich hohen inländischen
in den Folgejahren auf ungefähr 1 Million Euro. Rente.

Erfreulich ist, dass für die Wirtschaft, besonders für Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte
kleinere und mittlere Unternehmen, durch die neu einge- Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein
führten Informationspflichten keine zusätzlichen Kosten mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne
erwartet werden. Für die Bürgerinnen und Bürger wer- von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenver-
den durch das Gesetz keine Informationspflichten neu sicherung der Rentner, nicht aber mit ausländischen
eingeführt, geändert oder aufgehoben. Renten, die den Renten der gesetzlichen Rentenver-
sicherung im Sinne von § 228 SGB V vergleichbar sind,
So wie sich Europa also nach außen neu ausrichtet, weil dort eine § 229 Abs. 1 Satz 2 SGB V entsprechende
so muss es das auch nach innen schaffen. Denn die Si- Regelung fehlt. Bei pflichtversicherten Rentenbeziehern,
die sowohl eine deutsche als auch eine ausländische
(B) cherung unseres Wohlstandes, Wachstum, Beschäftigung (D)
und soziale Sicherheit – kurz: die Erhaltung und Ent- Rente beziehen, wird deshalb lediglich die deutsche
wicklung unseres europäischen Sozialstaatsmodells, und Rente zur Berechnung der Beiträge zu ihrer Kranken-
zwar unter den Bedingungen der Globalisierung –, ist versicherung herangezogen.
das, was die Bürger von Europa und von ihren Regie- Nach der neuen Regelung werden Beschäftigungslän-
rungen erwarten. Mit der EU-2020-Strategie wollen wir der entweder durch den Spitzenverband Bund der Kran-
die Europäische Union zu einem Wirtschaftsraum ma- kenkassen oder die Deutsche Verbindungsstelle Kranken-
chen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum versicherung im Fall von Entsendungen benachrichtigt.
mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größe- Unter anderem Deutschland hat den Antrag gestellt, in
ren sozialen Zusammenhalt zu erzielen. jedem Einzelfall über Entsendungen in unser Land in-
formiert zu werden. Sobald der Datenaustausch zwi-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): schen den Mitgliedstaaten auf elektronischem Weg er-
Die Europäische Union garantiert ihren Mitgliedern folgt, sollen die entsprechenden Mitteilungen über den
seit vielen Jahrzehnten Stabilität und Wohlstand. Sie ist Spitzenverband Bund der Krankenkassen, Deutsche
kein Gut, auf dem wir uns ausruhen sollten. Das hat die Verbindungsstelle Krankenversicherung – Ausland, ge-
jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise mehr als deutlich- leitet werden. Soweit Entsendungen in einen anderen
gemacht. Mitgliedstaat stattfinden, sollen die Daten von dem
GKV-Spitzenverband, DVKA, zentral gespeichert wer-
Die wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen den, um sie gegebenenfalls den Trägern des Beschäfti-
Rahmenbedingungen Europas sind einem ständigen gungslandes auf Nachfrage unverzüglich zur Verfügung
Prozess der Veränderung, Verwerfung und Neuorientie- stellen zu können.
rung unterworfen. Daher sind wir gehalten, die Europä-
Mit diesen Maßnahmen wird dem Grundsatz der
ische Union ständig fortzuentwickeln. Die EU ist ein or-
Gleichstellung von Leistungen, Einkünften, Sachverhal-
ganisches Ganzes. Unsere Nationalstaaten sind nicht
ten und Ereignissen im Bereich der Krankenversiche-
allein auf sich zurückgeworfen. Die Entwicklungen in
rung von Rentnern entsprochen.
einem Staat können beeinflussen, was im Nachbarland
geschieht. So werden wir noch in diesem Jahr erleben, Eine weitere wichtige Änderung betrifft § 4 des
dass sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen EU- SGB VI, auch weiterhin allen Staatsangehörigen derje-
Mitglieder uneingeschränkt auf unserem Arbeitsmarkt nigen Staaten, in denen die Verordnungen zur Koordi-
bewerben können. Auch unsere Sozialsysteme stehen vor nierung der Systeme der sozialen Sicherheit anwendbar
besonderen Herausforderungen. sind, bei Beschäftigung für eine begrenzte Zeit im Aus-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11051
Paul Lehrieder
(A) land die Versicherungspflicht auf Antrag zu ermögli- Anton Schaaf (SPD): (C)
chen. Die neue Regelung gilt für Mitglieder einer amtli- Mit dem Gesetz zur Koordinierung der Systeme der
chen Vertretung des Bundes und der Länder sowie für sozialen Sicherheit in Europa und der damit verbunde-
die bei ihnen Beschäftigten, soweit sie nicht bereits auf- nen Änderung anderer Gesetze soll eine innerstaatliche
grund einer Entsendung nach § 4 SGB IV oder aufgrund gesicherte Rechtsgrundlage hergestellt werden, die den
zwischen- oder überstaatlichen Rechts der deutschen zuständigen Behörden Trägern und Verbindungsstellen
Sozialversicherung unterliegen. Sie ist deshalb insbe- zu mehr sozialer Sicherheit verhilft. Das dient dem be-
sondere für Ortskräfte in den Fällen von Bedeutung, in reits verankerten Grundsatz der Gleichstellung von
denen die Vorschriften über die soziale Sicherheit im Be- Leistungen, in diesem Fall den Beziehern einer auslän-
schäftigungsstaat keine ausreichende Absicherung ge- dischen Rente. Diese soll künftig zur Beitragsfinanzie-
währleisten oder in denen eine Rückkehr nach Deutsch- rung der Kranken- und Pflegeversicherung herangezo-
land von Beginn an beabsichtigt ist. Andererseits soll gen werden. Ferner soll die Benachrichtigung der
durch das flexible Instrument der Antragspflichtversi- Träger des Beschäftigungslandes im Fall von Entsen-
cherung auch vermieden werden können, dass es zu un- dungen geregelt werden.
nötigen Doppelversicherungen kommt.
Ab dem 1. Juli 2011 sollen in Deutschland damit auch
Zahlreiche Zuständigkeitsfragen werden zudem nicht für Renten aus dem Ausland Beiträge zur Kranken- und
mehr in den Anhängen der Durchführungsverordnung, Pflegeversicherung gezahlt werden. Das sehen zwei
sondern dadurch geregelt, dass sie in eine öffentlich zu- neue EU-Verordnungen, 883/2004/EG und 987/2009/
gängliche Datenbank eingetragen werden. Deshalb sind EG, über die soziale Sicherheit vor, die in allen EU-Staa-
Konkretisierungen im nationalen Recht erforderlich. ten gelten.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung verfolgt da- Nach bisherigem Recht unterlagen pflichtversicherte
her im Wesentlichen den Zweck, zuständige Behörden, Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung allein
Träger sowie Verbindungs- und Zugangsstellen bei der mit ihren ausländischen Versorgungsbezügen im Sinne
Anwendung und Durchführung der EU-Verordnungen von § 229 SGB V der Beitragspflicht zur Krankenversi-
festzustellen. Verbindungsstelle für den europaweiten cherung der Rentner, nicht aber mit ihren ausländischen
Datenaustausch berufsständischer Versorgungseinrich- Renten im Sinne von § 228 SGB V. Bei pflichtversicher-
tungen soll die Arbeitsgemeinschaft Berufsständischer ten Rentenbeziehern, die sowohl eine deutsche als auch
Versorgungseinrichtungen werden. Sie soll die Verwal- eine ausländische Rente beziehen, wurde deshalb bis-
tungshilfe und den Datenaustausch bei grenzüberschrei- lang lediglich die deutsche Rente zur Berechnung der
tenden Sachverhalten koordinieren. Beiträge zu ihrer Kranken- und Pflegeversicherung her-
(B) angezogen. (D)
Außerdem sind eine Verbindungsstelle für Familien-
Dieses eher technische Gesetz soll es erleichtern, die
leistungen sowie eine Koordinierungsstelle für die Sys-
Verfahren der Leistungen in grenzübergreifenden Sach-
teme der Beamtenversorgung vorgesehen. Insgesamt
verhalten besser zu koordinieren. Bisher kennen wir
sollen fünf Zugangsstellen als Kontaktstellen für grenzü-
hauptsächlich den Fall von Erleichterungen bei der Er-
berschreitenden Datenaustausch geschaffen werden, die
stattung von Leistungen aus der bisherigen Praxis. In
alle in der EU-Verordnung Nr. 883/2004 geregelten Be-
der heutigen Thematik geht es um die Anpassung deut-
reiche abdecken. scher Gesetze: des SGB III, SGB IV, SGB V, SGB VI,
Zwar wird davon ausgegangen, dass sich die Mehr- SGB VII, SGB XI sowie des Gesetzes über die Alters-
kosten insgesamt in den Jahren 2011 und 2012, also den und Krankenversicherung der Landwirte, des Altersteil-
Jahren der Entwicklung und Einführung der neuen tech- zeitgesetzes und der Umsetzung der EU-Verordnungen.
nischen Verfahren, auf rund 2 bis 3 Millionen Euro und Kostenlos ist dies nicht umzusetzen.
in den Folgejahren auf circa 1 Million Euro belaufen Den geringen Mehreinnahmen der gesetzlichen
werden. Durch die neuen Verfahren werden auf der an- Krankenversicherung und der Pflegeversicherung ste-
deren Seite aber auch Effizienzzuwächse erzielt, die sich hen für den elektronischen Datenaustausch und die Be-
aus der in der EG-Verordnung Nr. 987/2009 vorgese- treuung der Zugangsstellen erhöhte Kosten in den Jah-
henen engeren Zusammenarbeit zwischen den inländi- ren 2011 und 2012 von 2 bis 3 Millionen Euro in den
schen und ausländischen Trägern und Verbindungs- Folgejahren ungefähr 1 Million Euro gegenüber. Die
stellen bei der Koordinierung der jeweiligen Systeme sich hieraus ergebenen Mehrbelastungen für den Bun-
der sozialen Sicherheit ergeben. Außerdem wird sich deshaushalt müssen in den jeweiligen Einzelplänen im
durch das im Aufbau befindliche europäische Datenaus- Rahmen der bestehenden Ansätze aufgefangen werden;
tauschverfahren im Bereich der sozialen Sicherheit der ich bin gespannt, wie die Bundesregierung dies im Rin-
Verwaltungsaufwand für die Führung der Datei in den gen des Sparwettbewerbes umsetzen wird. Faktisch be-
kommenden Jahren sukzessiv in erheblichem Umfang deutet diese Regelung für Grenzgänger eine Kürzung ih-
vermindern. rer Rente.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Deutsch-
Schritt hin zur Angleichung der Sozialsysteme der Eu- land, die lange gearbeitet haben und demnach meist nur
ropäischen Union. Er verdient daher eine breite Mehr- einen kleinen Teil ihrer Rente aus Deutschland bekom-
heit. men, sind hiervon besonders betroffen.

Zu Protokoll gegebene Reden


11052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Anton Schaaf
(A) Was ich an der Regelung kritisiere, ist, dass Grenz- Wir glauben, dass es eine Reihe von Alternativen zur (C)
gänger und Entsandte durch die neue Regelung in die Privatisierung und zur Erhöhung des Renteneintrittsal-
deutsche Sozialversicherung automatisch „überführt“ ters gibt. Neben der Erhöhung der Verantwortung der
werden und sie keine Wahlmöglichkeit haben. Sie haben Arbeitgeber, Renten für ihre Mitarbeiter zu schaffen, be-
keine Entscheidungsmöglichkeit darüber, in dem Sys- darf es einer Förderung der Flexibilität des Rentenein-
tem, in dem sie oft jahrzehntelang Beiträge gezahlt ha- tritts, einer Erhöhung der Sicherheit von Pensionsfonds
ben, zu bleiben, weil das Wohnortprinzip über das Ar- und einer Garantie für eine Mindestrente. Es bedarf ge-
beitsprinzip gestellt wird. Daher muss der Grundsatz meinsamer Mindeststandards für die Renten. Um Alters-
gelten, dass Bezieher einer ausländischen Rente im Er- armut erfolgreicher zu bekämpfen, bedarf es der offenen
gebnis nicht stärker belastet werden als Bezieher einer Methode der Koordinierung im Bereich Renten und Ar-
gleich hohen inländischen Rente. mutsbekämpfung.
Natürlich ist der Gleichstellung der europäischen Wir sind für ein Europa mit sozialem Antlitz, wir weh-
Bürger und Bürgerinnen in Form der Koordinierung der ren uns gegen Sozialabbau. Wir brauchen ein Europa
Systeme der sozialen Sicherheit in Europa Rechnung zu mit hohen Standards der sozialen Sicherheit und guten,
tragen, wenn es um Neuregelungen geht, aber nicht mit sicheren Renten für alle Bürgerinnen und Bürger.
dem Ziel insgesamt in Europa eine schrittweise Durch-
setzung eines niedrigen Niveaus der sozialen Sicherheit Gabriele Molitor (FDP):
zu etablieren, was an vielen Stellen der europäischen
In der Europäischen Union gilt das Recht auf Freizü-
Handlungen leider allzu deutlich wird.
gigkeit. Jeder EU-Bürger kann frei entscheiden, in wel-
Wir wissen, dass die europäische Gesellschaft vor ei- chem anderen EU-Land er leben und arbeiten möchte.
nem beispiellosen demografischen Wandel steht, der Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
sich massiv auf die wirtschaftliche und soziale Situation der Mitgliedstaaten soll die Freizügigkeit der Bürger in-
der gesamten Europäischen Union auswirken wird. Dies nerhalb der Europäischen Union erleichtern. Es gilt das
ist für alle EU-Mitgliedstaaten relevant. Prinzip der Gleichbehandlung. Staatsangehörige eines
EU-Mitgliedstaats und Bürger, die in diesem Mitglied-
In allen Mitgliedstaaten wächst der Anteil der älteren staat wohnen, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit be-
Menschen, während die Zahl der Kinder deutlich ab- sitzen, haben die gleichen Rechte und Pflichten. Seit Mai
nimmt. Ab 2025 wird die Bevölkerung der EU nach heu- 2010 gelten für die Koordinierung der Systeme der sozi-
tigem Erkenntnisstand schrumpfen. In einem Drittel der alen Sicherheit in Europa zwei neue Verordnungen. Die-
EU-Regionen nimmt die Bevölkerung bereits seit Ende ser Schritt wurde notwendig, da die bereits seit 1971
der 90er-Jahre ab. geltende Verordnung des Rates vielfach geändert wurde
(B)
Die SPD-Fraktion begrüßt, dass die EU-Kommission und die gemeinschaftlichen Regeln der Koordinierung (D)
eine Gleichstellung der Europäer in den Blick nimmt. zu unüberschaubar wurden.
Da es in allen Mitgliedstaaten immer mehr ältere Men- Der hier vorliegende Gesetzentwurf ist aus zwei
schen gibt, stehen die aktuellen Systeme für die Alterssi- Gründen nötig: Um für Rechtssicherheit und -klarheit zu
cherung unter massivem Druck. Die Wirtschafts- und Fi- sorgen, muss die Aufgabenzuständigkeit festgelegt wer-
nanzkrise hat diesen Druck noch weiter verstärkt. den, da diese nicht mehr in der Durchführungsverord-
Unabhängig von der Koordination der sozialen Si- nung geregelt wird. Des Weiteren sind Änderungen von
cherheit in Europa ist es für die SPD grundsätzlich, dass Regelungen im Sozialgesetzbuch und anderen Gesetzen
die Finanzierung und Bereitstellung von Renten in der nötig. Auch die anderen Länder in der Europäischen
Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben muss. Wir Union werden so verfahren. Geregelt werden unter an-
werden es nicht zulassen, dass europaeinheitliche Stan- derem die Zuständigkeiten für Aufgaben wie beispiels-
dards zu einer Verschlechterung guter Systeme einiger weise den europaweiten Datenaustausch, Familienleis-
Mitgliedstaaten führen. tungen und Beamtenversorgung. Neu eingeführt wird
eine Beitragspflicht für Auslandsrenten. Angepasst wird
Der Schwerpunkt bei der Sicherung der Renten und auch das Gesetz über die Altersversicherung von Land-
Pensionen muss es sein, für den sozialen Fortschritt in wirten.
Europa einzutreten. Wir wollen soziale Ziele und Grund-
rechte im europäischen Binnenmarkt stärken. Es muss Sozialpolitik liegt in der nationalen Zuständigkeit.
sichergestellt sein, dass die wirtschaftlichen Grundfrei- Jeder Staat betreibt seine Sozialpolitik eigenständig. Die
heiten des europäischen Binnenmarktes keinen Vorrang Rolle der Europäischen Union in der Sozialpolitik be-
vor sozialen Grundrechten und Zielen haben. Die sozia- schränkt sich auf koordinierende Aufgaben und die Un-
len Grundrechte müssen im Konfliktfall vorgehen. Wir terstützung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten.
lehnen es ab, die Finanzierung der gesetzlichen Renten- Aufgabe der Europäischen Union ist es aber auch, dar-
versicherung ausschließlich auf die Bewältigung des de- auf zu dringen, dass die Mitgliedstaaten ihre Sozialsys-
mografischen Wandels zu verengen. Wir werden jede teme reformieren und damit den aktuellen Entwicklun-
Möglichkeit nutzen, die Diskussion um die Zukunft der gen, wie zum Beispiel in der Eurostabilisierung,
Altersvorsorge wieder um die Dimension der Arbeits- Rechnung tragen.
marktpolitik zu erweitern.
Laut des „Gemeinsamen Berichts über Sozialschutz
Auch den einsamen europäischen Ruf nach der Erhö- und soziale Eingliederung von 2010“ der Europäischen
hung des Renteneintrittsalters teilen wir nicht. Union haben die europäischen Sozialsysteme, aber auch

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11053
Gabriele Molitor
(A) kurzfristige Sozialmaßnahmen entscheidend dazu beige- werden und auch die Bundesregierung bestrebt ist, ihren (C)
tragen, die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen Arbeitsmarkt so zu gestalten, dass er soziale Sicherheit
der Wirtschaftskrise abzufedern. Die Krise hat aber bietet, sowohl für Bürgerinnen und Bürger Deutsch-
auch deutlich gezeigt, wo die Schwächen in einzelnen lands als auch aus anderen europäischen Ländern.
Sozialsystemen zu finden sind.
Doch hier ist die Bundesregierung in erschreckendem
Deutschland hat ein gut funktionierendes Sozialsys- Ausmaß seit vielen Jahren untätig. Zum 1. Mai 2011
tem. In den vergangenen Jahren waren immer wieder werden die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit und
zahlreiche Reformen der verschiedenen Zweige nötig. Dienstleistungsfreiheit hergestellt. Arbeitnehmerinnen
Diese Anpassungen sind sowohl gesellschaftlichen Ver- und Arbeitnehmer aus den im Jahre 2004 der Europäi-
änderungen wie beispielsweise dem demografischen schen Union beigetretenen Staaten Osteuropas können
Wandel geschuldet, aber auch aktuellen wirtschaftlichen dann ohne Beschränkungen eine Beschäftigung in
Einflüssen oder Entwicklungen. Deutschland steht mo- Deutschland aufnehmen. Eine Arbeitsgenehmigung
mentan vor der großen und dringenden Aufgabe, das durch deutsche Behörden ist nicht mehr nötig. Die Öff-
deutsche Sozialversicherungssystem zukunftsfest zu ma- nung der Grenzen für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
chen. Etwa ein Drittel seines jährlichen Bruttoinlands- beitnehmer ist zu begrüßen. Sie sollten frei über ihren
produktes gibt Deutschland für Sozialleistungen aus. Aufenthalts- und Arbeitsort entscheiden dürfen. Leider
Das beweist: Es ist viel Geld im sozialen Netz. hat es Deutschland aber bislang völlig versäumt, für
Liberale Sozialpolitik verfolgt einen umfassenden An- Schutzmechanismen zu sorgen, um einen Lohndumping-
satz. Das heißt, allgemeine Lebensrisiken wie Krank- wettbewerb auf dem Rücken der osteuropäischen Kolle-
heit, Pflege, Alter und Arbeitslosigkeit sind abgesichert. ginnen und Kollegen zu verhindern, der zudem das in
Eine gute Bildungspolitik und gute Rahmenbedingungen vielen Regionen und Branchen Deutschlands sinkende
für die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen sind Reallohnniveau weiter unter Druck setzen wird. Nur ein
die beste Sozialpolitik. Sie ermöglichen Aufstiegschan- flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn könnte dies
cen von jungen Menschen. Investitionen in Bildung be- verhindern. Fast alle anderen Staaten der EU sind dar-
deutet, in Zukunft weniger Geld für Sozialleistungen auf vorbereitet. Sie haben Regelungen zu flächendecken-
ausgeben zu müssen. den Mindestlöhnen. Ein weiteres großes Problem ist,
dass es nur wenige Beratungseinrichtungen für Arbeit-
Die Verzahnung von beschäftigungs- und wirtschafts- nehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen Ländern
politischen Maßnahmen mit Maßnahmen des sozialen gibt. Viele Beschäftigte haben nur sehr unzureichende
und gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ein wesentli- Kenntnisse über ihre Rechte und Ansprüche in Deutsch-
ches Element der Strategie „Europa 2020“. Damit die land, was von immer mehr Arbeitgebern schamlos aus-
(B) soziale Dimension dieser Strategie, also die Förderung genutzt wird. (D)
der sozialen Eingliederung umgesetzt werden kann,
muss die Umsetzung von langfristigen Strategien in den Die Bundesregierung muss nun schnell handeln, um
Mitgliedstaaten auch tatsächlich erfolgen. Letzten En- die Versäumnisse der Vergangenheit nachzuholen. Sie
des garantiert wirtschaftliche Prosperität soziale Si- muss sich auch in die Sozialpolitik der Europäischen
cherheit. Deshalb ist es so wichtig, dass die Europäische Union stärker einbringen und Akzente setzen. In das
Union sich den Herausforderungen stellt, um auf den Vertragswerk der Europäischen Union muss eine soziale
Weltmärkten bestehen zu können. Fortschrittsklausel aufgenommen werden, die sozialen
Grundrechten den Vorrang vor dem Kapital garantiert.
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Wir Linken fordern, die Entsenderichtlinie so zu ändern,
dass sie lediglich Mindestanforderungen formuliert,
Die Linke begrüßt grundsätzlich und nachdrücklich
aber nicht als Maximalrichtlinie zu verstehen ist. Das
die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen
in Europa. Im vorliegenden Gesetzentwurf legt die Bun-
Arbeitsort“ muss angewandt werden. Schnellstmöglich
desregierung dazu Detailregelungen zur Umsetzung der
muss Deutschland endlich einen flächendeckenden ge-
entsprechenden EU-Verordnungen fest. In den dort ge-
setzlichen Mindestlohn einführen. Gleichzeitig ist das
troffenen Regelungen zur Konkretisierung im nationalen
Arbeitnehmerentsendegesetz auf alle Branchen auszu-
Recht kann auch die Linke kein Problem erkennen.
weiten und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von
Wir sehen aber generell ein großes Problem darin, Tarifverträgen zu erleichtern. Für die Leiharbeit ist das
dass soziale Sicherheit in Deutschland im europäischen Gleichstellungsgebot umzusetzen. Der Tarifvorbehalt
Kontext völlig unzureichend ausgestaltet ist. Deutsch- muss aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gestri-
land hat bislang wenig zur Entwicklung eines Europäi- chen werden. Wo dies hingeführt hat, haben wir bei den
schen Sozialmodells beigetragen, welches soziale christlichen Pseudogewerkschaften gesehen, die Gefäl-
Rechte garantiert, vor allem aber die Bürgerinnen und ligkeitstarifverträge zulasten der Leiharbeitskräfte ab-
Bürger Europas vor Sozialdumping schützt. Der Ge- geschlossen haben und diese in vielen Fällen ohne deren
danke und die Umsetzung einer europäischen Sozialpo- Wissen von den Leiharbeitsunternehmen zwangsweise
litik darf sich nicht darin erschöpfen, nur Regelungen zu Mitgliedern der christlichen Leiharbeitsorganisation
zur Anwendbarkeit und gegenseitigen Anerkennung von gemacht wurden. Ganz bewusst vermeide ich den Begriff
Prinzipien der Sozialversicherungssysteme zu erlassen. „Gewerkschaft“, da ja der CGZP die Tariffähigkeit ab-
Das ist entschieden zu wenig. Die Bürgerinnen und Bür- gesprochen wurde und dies bekanntermaßen ein zentra-
ger können zu Recht erwarten, dass hier Inhalte gesetzt les Kriterium einer Gewerkschaft ist.

Zu Protokoll gegebene Reden


11054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Matthias W. Birkwald
(A) Für mobile Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer len sowie der Zugangsstellen eine innerstaatlich gesi- (C)
muss unverzüglich ein flächendeckendes Netz von Bera- cherte Rechtsgrundlage zu schaffen, wurde der vorlie-
tungsstellen aufgebaut werden. Bei Entsendung von Be- gende Gesetzentwurf eingebracht.
schäftigten über einen längeren Zeitraum ist unbedingt
zu prüfen, inwiefern durch eine Pflicht zur Entrichtung Zunächst ist festzuhalten: Als überzeugte Europäe-
der Sozialversicherungsbeiträge in die sozialen Siche- rinnen und Europäer begrüßen wir Grünen dies. Denn
rungssysteme am Arbeitsort verhindert werden kann, die damit getroffenen Regelungen sind wichtig, um das
dass Arbeitgeber Entsendungen durchführen, um Sozial- Zusammenleben und die Mobilität in der EU zu erleich-
versicherungsabgaben zu sparen, da die Höhe der zu tern, mehr noch: die Mobilität in ganz Europa. Denn die
entrichtenden Beiträge variiert. bisherigen Verordnungen im Verhältnis zu den Vertrags-
staaten des Europäischen Wirtschaftsraums – also
Im Bereich der sozialen Sicherheit in Europa gibt es Liechtenstein, Norwegen und Island – sowie der Schweiz
noch viel zu tun. Gehen Sie es endlich an. Stärken sie die bleiben weiterhin anwendbar. Auch das ist wichtig.
sozialen Rechte der Bürgerinnen und Bürger in Europa.
Der Gesetzentwurf löst die an ihn gestellte Aufgabe
insgesamt ordentlich. Er behebt einzelne bisher beste-
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hende Ungleichheiten. So sind Rentnerinnen und
NEN): Rentner bereits bisher in der Krankenversicherung für
Auch wenn die vollständige Arbeitnehmerfreizügig- Rentner pflichtversichert und müssen aus ihren Renten-
keit für Menschen aus den neuen Mitgliedsländern ab bezügen die Kranken- und Pflegeversicherung mitfinan-
dem 1. Mai 2011 noch einigen Handlungsbedarf auf- zieren. Der festgeschriebene Grundsatz der Gleichstel-
zeigt – im Grundsatz ist die Mobilität der Menschen in- lung von Leistungen und Einkünften erfordert, dass dies
nerhalb der Europäischen Union eine Erfolgsge- in Zukunft auch für Beziehende einer ausländischen
schichte. Es ist vor allem die Personenfreizügigkeit, die Rente gilt. Dagegen ist im Grundsatz nichts einzuwen-
den Reiz der Europäischen Union ausmacht. Die Frei- den.
heit der Menschen, sich in anderen europäischen Län-
dern als Arbeitnehmende oder als Selbstständige nieder- Zu begrüßen ist der Schritt, die Benachrichtigung der
zulassen, die Freiheit, Familienangehörige mit sich zu Träger des Beschäftigungslandes im Falle von Entsen-
nehmen, die Freiheit, Chancen zu ergreifen, auch wenn dungen zu regeln. Wenn das Instrument der grenzüber-
sie jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegen – schreitenden Arbeitnehmerentsendung zur Anwendung
diese Freiheit ist nach wie vor der größte Reiz einer auf kommt, ist es dringend erforderlich, dass alles unter-
Sicherheit und Recht fußenden Europäischen Union. nommen wird, um illegale Beschäftigung zu verhindern
(B) und die ordnungsgemäße Anwendung der jeweils gelten- (D)
Was bedeutet es, wenn sich Menschen in Europa frei den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates und
bewegen können? Wenn Menschen wandern, dann sind des Entsendestaates sicherzustellen. An dieser Stelle
auch viele zutiefst menschliche Belange berührt. Denn würden wir uns von der Bundesregierung über den vor-
Menschen sind nie nur Arbeitnehmende oder aus- liegenden Gesetzentwurf hinaus weitere Regelungen
schließlich selbstständig. Sie führen ihr Leben nicht nur wünschen, die für Transparenz und bessere Koordinie-
in beruflicher Tätigkeit und in Unternehmen. Menschen rung der sozialen Absicherung auch von entsandten Ar-
sind auch mal krank, verlieren ihren Arbeitsplätz, verän- beitnehmenden sorgen und die Missbrauchsrisiken ein-
dern ihre Familiensituation oder scheiden wegen hohen dämmen.
Alters aus dem Erwerbsleben aus. In all diesen Lebens-
situationen brauchen sie den Schutz der Systeme der so- Wir wollen die Mobilität der Arbeitnehmerinnen und
zialen Sicherheit. Insbesondere wenn durch eigene ma- Arbeitnehmer in Europa auch weiterhin erleichtern und
terielle oder nichtmaterielle Leistungen Ansprüche an dabei die sozial- und arbeitsrechtlichen Schutzstandards
soziale Sicherungssysteme erworben wurden, müssen halten und auch grenzübergreifend sicherstellen. Mobi-
diese Ansprüche auch im Ausland gewährleistet sein. lität ohne soziale Sicherheit, einen europaweiten Ar-
Dies muss funktionieren, wenn von einem „sozialen Eu- beitsmarkt ohne europaweite Koordination der Schutz-
ropa“ die Rede sein soll. rechte und Absicherungen kann und darf es in Europa
nicht geben. Vor diesem Hintergrund sollte sich die Bun-
In der Praxis bedeutet die Umsetzung dieses sozial- desregierung nicht weiter dagegen sperren, dass auch
und europapolitischen Ideals ernüchternderweise vor Ansprüche aus Betriebsrenten in ein anderes europäi-
allem technische und regulative Detailarbeit. Sie erfor- sches Land mitgenommen werden können. Auch für
dert ein Benennen von Zuständigkeiten, einen Austausch diese gilt, dass sie portabel ausgestaltet werden müssen,
von Sozialdaten und ein Festschreiben von Pflichten und um die Anspruchsberechtigten nicht in ihrer Freizügig-
Ansprüchen. Und sie erfordert regelmäßige Anpassung keit zu behindern. Denn – ich habe das eingangs er-
und Weiterentwicklung. Die Verordnung über die An- wähnt – der Freiheitsgedanke in Europa wird nur dann
wendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeit- eine menschengerechte Freiheit sein, wenn er mit sozia-
nehmer und Selbstständige sowie deren Familienange- ler Sicherheit verknüpft ist.
hörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und
abwandern, und die entsprechende Durchführungsver-
ordnung wurden zum 1. Mai 2010 durch neue Verord- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nungen abgelöst. Um den Festlegungen der zuständigen Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Druck-
Behörde, der zuständigen Träger, der Verbindungsstel- sache 17/4978 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11055
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Ausschüsse vorgeschlagen. – Anderweitige Vorschläge sich um eine Win-win-Situation; denn alle Beteiligten (C)
sehe ich nicht. Dann ist so beschlossen. können deutlich Zeit einsparen, und die Gerichte können
ihre Termine somit besser koordinieren. Die Verfahren
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
können deutlich beschleunigt werden.
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Auch gerade für die Anwaltschaft stellt die Videokon-
Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung des
ferenztechnik eine große Entlastung dar. Der aktive Ein-
Einsatzes von Videokonferenztechnik in ge-
satz der Videokonferenztechnik kann einerseits als Ent-
richtlichen und staatsanwaltschaftlichen Ver-
gelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen
fahren
in voller Höhe als Auslage geltend gemacht werden. So-
– Drucksache 17/1224 – mit wäre auch keine weitere Änderung des Rechtsan-
Überweisungsvorschlag: waltsvergütungsgesetzes notwendig. Andererseits ent-
Rechtsausschuss (f) fallen Fahrtkosten und Terminierungsprobleme. Der
Innenausschuss verstärkte Einsatz der Technik stellt insoweit ein verbes-
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben Patrick sertes Serviceangebot im Sinne einer kundenorientierten
Sensburg, Christine Lambrecht, Jens Petermann, Jerzy Justiz dar. Die konkreten Bereitstellungskosten betreffen
Montag und der Parl. Staatssekretär Max Stadler. die Einrichtung von Leitungen und Anschlüssen in den
jeweiligen Sitzungssälen bzw. Vorführräumen der Voll-
zugsanstalten, wo diese noch nicht vorhanden sind. Der
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU):
Einsatz von Web-Technik könnte diese Kosten erheblich
Fortschritt besteht wesentlich darin, fortschreiten zu senken und sollte im Laufe dieses Gesetzgebungsverfah-
wollen. Als Mitglieder dieses Hohen Hauses obliegt uns rens noch stärker überdacht werden.
nicht nur die Aufgabe, durch Gesetze Rahmen für zu-
künftige Entwicklungen zu schaffen, sondern auch, Ich möchte aber hier deutlich darauf hinweisen, dass
längst vollzogene Entwicklungen und technologische die Kosten für die Länder kalkulierbar sein müssen.
Entwicklungen klug in Gesetze zu gießen. Der techni- Letztlich bleibt die jeweilige Umsetzung eine Entschei-
sche Fortschritt ist rasant und verändert unsere Lebens- dung der Länder.
realität jeden Tag auf ein Neues. Wenn wir uns einmal in
unseren Abgeordnetenbüros umschauen, stellen wir fest, Kommen wir nun zu einzelnen Aspekten des Gesetzes:
wie sehr der technologische Fortschritt auch unsere Ar- Durch eine Änderung des Gerichtsverfahrensgesetzes
beit verändert und vor allem erleichtert hat. wird nach dem Gesetzentwurf ein Einsatz der Dolmet-
Als Abgeordnete sind wir in der Pflicht, die Chancen scher auch auf die anderen Übertragungsorte durch das
(B) von technologischen Veränderungen zu nutzen. Der vor- Gericht ermöglicht. Kritisch muss hier jedoch gesehen (D)
liegende Gesetzentwurf zum vermehrten Einsatz von Vi- werden, dass gerade die Leistung der Dolmetscher eine
deokonferenztechnik ist so ein Fall. hochanstrengende Tätigkeit ist. Es muss genauer geprüft
werden, ob es beispielsweise einem Dolmetscher alleine
Der Ausgangspunkt der Diskussion über den Einsatz möglich ist, über einen längeren Zeitraum im Rahmen
von Videokonferenztechnik findet sich im Zeugenschutz einer Videokonferenz zu dolmetschen. Ich habe hier
der Strafprozessordnung. 1998 trat mit dem Zeugen- meine Bedenken.
schutzgesetz § 247 a der StPO in Kraft, der in den fol-
genden Jahren um wichtige Gedanken zur Vermeidung Die Verfahrensbeschleunigung soll im Zivilprozess
des Beweismittelverlustes ausgedehnt wurde. vor allem dadurch erreicht werden, dass der Einsatz von
Videokonferenztechnik nicht mehr vom Einverständnis
Aber auch bei Vernehmungshindernissen in der ge- aller Parteien abhängig sein soll. Künftig soll das Ge-
richtlichen Hauptverhandlung oder bei großen nicht zu- richt diese Entscheidung bei einem Antrag einer der
mutbaren Entfernungen zum Gerichtsort wird die Video- Parteien treffen können.
konferenztechnik bereits angewandt.
Die Möglichkeit der Aufzeichnung beim Einsatz der
So stößt beispielhaft der verstärkte Einsatz von Video- Videokonferenztechnik bedarf zudem noch der Klärung,
konferenztechnik in verschiedenen Bundesländern – es da es dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann,
sei hier nur auf Nordrhein-Westfalen und Hessen hinge- durch den Einsatz anders behandelt zu werden als im
wiesen – auf positive Resonanz. Bislang zählt diese Ver- herkömmlichen Verfahren, bei dem lediglich protokol-
fahrenstechnik aber noch nicht zu den Standards, da bei liert wird. Ich bin der Meinung, dass es grundsätzlich zu
den Gerichten, Justizbehörden und Anwaltskanzleien keiner Aufzeichnung kommen darf.
noch nicht die erforderlichen Ausstattungen verfügbar
sind und das Einverständnis der Beteiligten zum Einsatz Die Zielsetzung der vorgeschlagenen Änderungen be-
der Videoverfahrenstechnik nach der derzeit geltenden steht in der Verbesserung der Rechtsklarheit und An-
Rechtslage vorliegen muss. wenderfreundlichkeit. Doch muss natürlich bei einem
anderen Aufenthaltsort des zu Vernehmenden außerhalb
Wir wissen, dass unsere Justiz nicht über mangelnde des Sitzungszimmers sichergestellt sein, dass am Ort des
Arbeit klagen kann. Wir wissen um das Problem, dass Vernehmens keine Fremdeinflüsse auftreten können.
Verfahren manchmal sehr lange Zeiträume einnehmen
und sich Aktenstapel an Aktenstapel in den Gerichten Für den Bereich des Strafrechts ist beispielsweise
reihen. Die Videokonferenztechnik kann einen guten Bei- denkbar, eine entsprechende Regelung in den Richtlinien
trag zur Entlastung unserer Gerichte leisten. Es handelt für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren,
11056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Patrick Sensburg


(A) RiStBV, einzufügen, die sicherstellt, dass der Ort der Das größte Problem sehe ich hier bei der Regelung in (C)
Vernehmung im Strafprozess ein Gerichtssaal sein muss. der Strafprozessordnung und im Strafvollzugsgesetz.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Hauptverhand-
Die Gesetzesänderung belässt es vollkommen zu lung muss als fundamentales Recht um jeden Preis er-
Recht dabei, bei Personen, bei denen es auf einen per- halten bleiben. Es reicht nicht, wenn das Gericht allein
sönlichen Eindruck des Gutachters ankommt, bei der die Anordnung trifft. Die Videokonferenz in der Verneh-
klassischen Vorladung zu verbleiben, dies aus dem mung sollte nur mit dem Einverständnis des Beschuldig-
Grund, da eine Videoübertragung den Eindruck durch ten und in Rücksprache mit seinem Verteidiger erfolgen.
nonverbale und allgemein persönliche Eindrücke nicht Dies ist in Bezug auf die Unmittelbarkeit und Mündlich-
zureichend vermittelt. keit der Beweisaufnahme unabdingbar. Man sollte nicht
Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Vernehmung unterschätzen, wie wichtig es für die Prognose des Rich-
von Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung durch die ters ist, dass der Beschuldigte sich persönlich und un-
Videokonferenztechnik verbessert und beschleunigt den mittelbar äußern kann. „Face to face“ werden Aspekte
Verfahrensablauf, da auch der Versand von Verfahrens- wie das Verhalten, Erscheinungsbild und die Körper-
akten und Vernehmungsversuchen an ferne Gerichte und sprache des Angehörten anders wahrgenommen, als
Polizeidienststellen entbehrlich wird. Dies führt zu einer wenn dieser in einer unnatürlichen Umgebung sitzt,
erheblichen Verkürzung des Verfahrens und äußert sich vielleicht noch sehr nervös vor der Kamera. Warum also
auch durch eine qualitative Verbesserung, da der einge- die Urteilsfindung des Richters erschweren, wenn es zu-
arbeitete Staatsanwalt oder Polizeibeamte die Anhörung dem noch in die Rechte des Beschuldigten eingreift? So
übernehmen kann. Auch hier zeigt sich wieder eine nut- sehr ich auch ein Befürworter der modernen Technik
zerfreundliche Ausgestaltung des Rechtssystems, da Zeit- bin, so sehr müssen wir doch darauf achten, dass wir mit
ersparungen unter Beibehaltung eines hohen Qualitäts- ihrem Einsatz keine rechtsstaatlichen Prinzipien torpe-
standards eine ideale Lösung für die betroffenen Bürger dieren.
darstellen.
Sehr gut ist es hingegen, den Einsatz der Technik ins
Das Verfahren wird darüber hinaus auch in den Fäl- freie Ermessen der Gerichte zu stellen. So ist von einem
len der Reststrafenaussetzung zur Bewährung für die verstärkten Einsatz der Technik auszugehen, ohne dass
Strafvollstreckungskammer vereinfacht. Zudem kommt sich Gerichte gezwungen sehen, nicht auf herkömmliche
es zu einer wichtigen sicherheits- und aufwandsrelevan- Art verfahren zu können, vor allem in den Fällen, in de-
ten Vereinfachung für die Vollzugsanstalten. Eine Ver- nen eine Videokonferenz nicht angemessen ist.
einfachung der Anhörung darf aber keineswegs zulasten
des Anzuhörenden gehen, da hier der unmittelbare Kon- Was die Aufzeichnung der Videokonferenzen betrifft,
(B) takt mit dem Verurteilten übersehen wird. so sehe ich jedoch nichts, was grundsätzlich dagegen (D)
spricht. Die obligatorische Aufzeichnung bedeutet nur
Durch dieses Gesetz muss sichergestellt werden, dass einen geringen Arbeits- und zusätzlichen Kostenauf-
es durch den Einsatz der Videokonferenztechnik nicht zu wand. Es wäre ein unglaublicher Fortschritt in gericht-
qualitativen Mängeln bei Aussagen oder Befragungen lichen Anhörungen, wenn man sich auf das unver-
kommt. Wird dies sichergestellt, haben wir ein kunden- fälschte Zeugnis einer dokumentierten Aussage berufen
orientiertes Instrument für die Justiz. könnte. Es wäre ein Fundament für Kontrolle und
Wir dürfen die Augen vor dem technologischen Fort- Selbstkontrolle, da nicht wie bisher durch langwierige
schritt nicht verschließen. Die Vorteile der Videokonfe- Recherche versucht werden müsste, Missverständnisse,
renztechnik liegen auf der Hand. Lassen Sie uns in der Suggestionen und Verzerrungen aufzudecken und zu be-
Frage der Videokonferenztechnik zusammen fortschrei- seitigen. Es wäre schnell, einfach und unmissverständ-
ten, um gemeinsam Fortschritt zu ermöglichen. lich. Es wäre ohne Fehler im Protokoll und großen In-
terpretationsspielraum nachzuvollziehen, wie eine
Aussage zustande gekommen ist. Es wäre ein neues Ka-
Christine Lambrecht (SPD): pitel der Glaubhaftigkeitsprüfung, welches ich sehr be-
Das Gesetz zum verstärkten Einsatz von Videokonfe- fürworten würde. Ich sehe darin einen wesentlichen Ge-
renzen in deutschen Gerichten ist sinnvoll und notwen- winn für die Richtigkeit des Urteils.
dig. Die Videokonferenztechnik ist ein zukunftsweisen-
der Fortschritt für Verhandlungen, der gerade dem Die Aufzeichnung würde sich auch bei staatsanwalt-
Bürger zugutekommt. Daher begrüße ich das Bestreben schaftlichen und polizeilichen Anhörungen anbieten.
des Bundesrates, durch das Gesetz Kosten einzusparen, Gegebenenfalls kann man sie danach wieder löschen
genauso wie die forcierte Zeitersparnis durch den Weg- oder nur beschränkt zugänglich machen, zum Beispiel,
fall der Anreise der Beteiligten und die daraus resultie- um eine Unterscheidung von öffentlichen und nicht öf-
rende Flexibilität. Wenn durch moderne Technik erreicht fentlichen Anhörungen vorzunehmen. Aber im Allgemei-
werden kann, dass ein Verfahren beschleunigt wird, nen denke ich, wenn die Aufzeichnung, und sei es nur die
sprechen wir hier von einer guten Serviceleistung sei- Tonaufzeichnung der Anhörung, Bestandteil von Ver-
tens der deutschen Gerichte, die dieser Zeit absolut an- handlungsakten wäre, so würde dem Prinzip der Wahr-
gemessen ist. heitsfindung ein großer Gefallen getan.
Dennoch gibt es bei dem Gesetzentwurf einen Casus Es wäre ein bedeutender Vorteil für die gerichtliche
knaxus. Man sollte den verstärkten Einsatz von Video- Praxis, den wir unbedingt unterstützen sollten. Der Ein-
konferenzen unbedingt nach Verfahrensarten abstufen. satz moderner Kommunikationsmittel in deutschen Ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11057
Christine Lambrecht
(A) richten ist ein technischer Fortschritt, den es zu fördern sollten die vorhandenen Gelder in die Sanierung, die (C)
gilt. Die Anschaffungskosten sind gering im Vergleich zu Sach- und Personalausstattung gesteckt werden.
der Ersparnis, die durch den Wegfall der Reisetätigkeit
der Beteiligten zu erwarten ist. Es ist eine Investition in Die Verfasser sehen für dieses Serviceangebot der
die Zukunft, die sich lohnt. Zeit und Geld zu sparen bei kundenorientierten Justiz eine Gebühr von pauschal
sämtlichen Gerichtsverfahren, das freut auch den Steu- 15 Euro je Verfahren und je angefangene halbe Stunde
erzahler. des Einsatzes vor. Damit sollen lediglich die anfallenden
Betriebs-, Verbindungs- und zusätzlichen Personalkos-
Ich halte die Nutzung von Videokonferenztechnik ten abgedeckt werden.
auch im Strafverfahren für sinnvoll, wenn es einem Op-
Die Linke sagt: Dieser Service darf nicht zulasten der
fer erspart, seinem Peiniger gegenübertreten zu müssen
ohnehin schon zusammengesparten Justiz und der Geld-
oder im Einzelfall der Sicherheitsaufwand für einen Ge-
börse der rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bür-
fangenentransport eingespart werden kann. Da handeln
ger gehen. Wenn man eine solche moderne Kommunika-
wir absolut im Interesse der Bürger. Diese Ersparnis,
tionsart in Gerichtsverfahren einführen will, müssen die
und so sollte es auch aus dem Gesetz hervorgehen, darf
dafür benötigten Mittel zusätzlich durch den Bund oder
nur nicht zum Leidwesen eines essenziellen Rechts-
die Länder bereitgestellt werden, und zwar ohne den so-
grundsatzes geschehen.
wieso schon knappen Justizetat zu belasten.

Jens Petermann (DIE LINKE): Abgesehen von der Finanzierung begegnen dem Ge-
setzentwurf auch inhaltliche Bedenken:
Der Gesetzentwurf des Bundesrates zum intensiven
Einsatz von Videokonferenztechnik ist leider unausge- Die Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes, wo-
goren und nicht bis zum Ende durchdacht. nach Dolmetscherleistungen per Video in den Sitzungs-
saal übertragen werden sollen, halte ich für wenig ziel-
Der Einsatz von Videokonferenztechnik ist bereits seit führend. So übersetzt der Dolmetscher regelmäßig nicht
1998 bzw. 2004 für bestimmte Verfahren vorgesehen, nur für das Gericht selbst, sondern auch die vertrauli-
soll aber nun aufgrund der sehr seltenen Nutzung ge- chen Gespräche der Prozessparteien mit deren Anwäl-
setzlich ausgebaut und gefördert werden. Neu ist die ten. Das Problem mit Dolmetschern liegt meist nicht da-
Ausweitung des Einsatzes von Videotechnik auf Verfah- rin, sie in den Verhandlungssaal zu laden, sondern
ren nach der Strafprozessordnung. Dieser Ausbau darf überhaupt einen Dolmetscher zu finden. Daran ändert
auf keinen Fall zulasten der Unmittelbarkeit der Verfah- auch der Einsatz von Videotechnik nichts.
ren gehen oder zur Beschneidung von Beschuldigten-
Die Änderung der Strafprozessordnung eröffnet der (D)
(B) rechten führen. Im vorliegenden Entwurf ist das aber der
Fall, da vorgesehen ist, die fakultative videogestützte Polizei, der Staatsanwaltschaft und den Gerichten die
Anhörung auch ohne Einverständnis des Betroffenen an- Möglichkeit, einen Zeugen außerhalb der Hauptver-
zuordnen. handlung durch Videoübertragung zu vernehmen. Bei
der Vernehmung eines Zeugen kommt aber besonders
Die Verfasser des Entwurfs preisen natürlich die Vor- der persönlich-wahrhaftige Eindruck für die Ermittlung
teile des vermehrten Einsatzes von Videokonferenztech- der Glaubwürdigkeit und des Beweiswertes zum Tragen.
nik an. Dazu zählen eine Verringerung der Reisetätigkeit Dies ist Ausdruck der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit
und damit die Einsparung von Reisekosten, aber auch der Beweisaufnahme im Strafrecht. Eine Bild-Ton-Über-
eine angebliche Verfahrensbeschleunigung. Damit pro- tragung steht einer persönlichen Vernehmung eines Zeu-
phezeit der Bundesrat, dass beim Einsatz von Videotech- gen an Erkenntnisgewinn also nach und durchbricht den
nik ein Prozess kostengünstiger gestaltet wird. Diese Unmittelbarkeitsgrundsatz. Sogar die Bundesregierung
Schlussfolgerung bezweifle ich sehr. bemängelt, dass in manchen Fällen ein höchstpersönli-
cher Eindruck von Zeugen oder Angeklagten erforder-
Wie sieht denn die Kehrseite der Medaille aus? Je Vi- lich ist, dieser jedoch durch Videoübertragung nicht er-
deokonferenzanlage werden die Kosten auf 5 000 bis setzt werden kann. Wenn man die Videovernehmung
12 000 Euro geschätzt, hinzu kommen noch die Kosten gleichberechtigt neben der persönlichen Vernehmung
für die Bereitstellung von Leitungen und Anschlüssen. ansiedelt, wird die Ausnahme zur Regel und bedeutet
Die Einrichtung soll aus dem Etat der Justizverwaltun- das Ende der Unmittelbarkeit der Beweiserhebung. Mit
gen gezahlt werden, ohne dass diesen dafür zusätzliche der Linken ist ein verstärkter Einsatz von Videokonfe-
Mittel im Haushaltsplan zur Verfügung gestellt werden. renztechnik nur zu machen, wenn die Rechte der Pro-
Diese Vorgehensweise halte ich vor dem Hintergrund zessbeteiligten nicht abgewertet werden und die Finan-
der leider immer noch nicht befriedigenden Sach- und zierung nicht auf Kosten des ohnehin schon zu niedrigen
Personalausstattung vieler Gerichte für verfehlt. Meine Justizetats realisiert wird. Der Entwurf muss dahin ge-
Thüringer Richterkolleginnen und Richterkollegen be- hend dringend nachgebessert werden.
richten mir nach wie vor über Personalmangel, erneue-
rungsbedürftige technische Ausstattung und Platzman-
gel in Justizgebäuden. Von daher ist es nicht Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nachvollziehbar, dass nun der Einsatz von teurer Video- Als die großen Prozessordnungen in Deutschland ent-
technik forciert werden soll –, dies zulasten der eben ge- wickelt wurden, gab es keine Möglichkeiten, mithilfe von
nannten Problemfelder. Bevor moderne Übertragungs- Ton- und Bildtechnik Prozesse sozusagen zur gleichen
technik in baufällige Gerichtssäle eingebaut wird, Zeit an verschiedenen Orten stattfinden zu lassen oder

Zu Protokoll gegebene Reden


11058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Jerzy Montag
(A) Prozessteile zeitlich gestaffelt aufzunehmen und später tung über Ton- und Bildtechniken in zahlreichen Fällen (C)
in die Prozesse einzuspielen. Seit Jahren schon halten vor: Dolmetscher sollen bei Verhandlungen, Anhörun-
die neuen Ton- und Bildtechniken Einzug in die deut- gen oder Vernehmungen zugeschaltet werden können
schen Gerichtssäle. Da, wo sie wirklich nur der Res- (§ 185 GVG); Parteien, ihre Bevollmächtigten und Bei-
sourcenersparnis und Bequemlichkeit dienen, ist ihr stände sollen sich an einem anderen Ort aufhalten und
Einsatz sinnvoll und zu begrüßen. Dies trifft ferner auch dort Verfahrenshandlungen vornehmen dürfen (§ 128 a
da zu, wo schon bisher die Anwesenheit von Verfahrens- ZPO); Zeugen sollen in Abwesenheit vernommen wer-
beteiligten nicht vorgeschrieben war und jetzt ihre Mit- den können (§ 58 b StPO); auch bei Abwesenheit des
wirkung zumindest über eine Zuschaltung in Ton und Beschuldigten soll mündlich verhandelt (§ 118 a Abs. 2
Bild ermöglicht wird. Satz 2 StPO) und dieser sogar vernommen werden kön-
nen (§ 163 a Abs. 1 Satz 1 StPO); auch bei Abwesenheit
Aber es ist offensichtlich, dass der Einsatz solcher des Angeklagten soll dieser über die Anklage vernom-
Techniken Gefahren in sich birgt und die Voraussetzun- men (§ 233 Abs. 2 StPO) und bei Abwesenheit des Sach-
gen und die Strukturen der Prozesse verändern kann. Zu verständigen (§ 247 a Abs. 2 StPO) soll dieser vernom-
einer rechtsstaatlichen Justiz gehören ein fairer Prozess men werden können; in Abwesenheit des Verurteilten
und eine objektive Wahrheitsfindung. Prozessordnungen kann über eine Bewährungsentlassung oder weitere Inhaf-
tarieren immer die gegensätzlichen Interessen von tierung entschieden werden (§ 115 StVollZG).
Grundrechtsträgern aus, dies macht im Kern einen fai-
ren Prozess aus, dessen Grundpfeiler verfassungsrecht- Ich will aus Zeitgründen heute nur zu den Vorschlä-
lich geschützt sind. gen in der ZPO und in der StPO Stellung nehmen. Schon
heute ist im Einverständnis der Beteiligten im Zivilpro-
Für gerichtliche Verhandlungen gelten die rechts-
zess der Einsatz von Videotechnik möglich. Eine Auswei-
staatlichen Verfahrensgrundsätze der Mündlichkeit, der
tung erscheint möglich, wenn Parteien dies für sich be-
Öffentlichkeit, der Unmittelbarkeit und nicht zuletzt des
antragen und damit auf ihre Anwesenheit bei Gericht
rechtlichen Gehörs. Alle diese Grundsätze können ten-
verzichten. Bei der Zeugenvernehmung sollten aber wie
denziell mit dem Einsatz von Ton- und Bildtechniken kol-
bisher alle Verfahrensbeteiligten ihr Einverständnis er-
lidieren, wenn sich nicht alle Verfahrensbeteiligten zur
klären müssen. Im Strafverfahren mitsamt der Strafvoll-
gleichen Zeit am gleichen Ort – nämlich im Gerichts-
streckung ist der Grundsatz der Unmittelbarkeit tra-
saal – befinden. Deshalb sind Bild- und Tontechniken
gend. Das Gericht kann sich bei physischer Anwesenheit
bisher immer nur als Ausnahme dann zum Einsatz ge-
von Beschuldigten und Zeugen ein Bild von den Perso-
kommen, wenn sie im Einzelfall vorrangige Rechte von
nen und ihrer Glaubwürdigkeit machen. Der Beschul-
Verfahrensbeteiligten schützen können. Hier sind vor al-
digte kann als physisch Anwesender eindeutig besser
lem Opferschutzrechte zu nennen.
(B) seine Argumente zu Gehör bringen. Das Recht auf recht- (D)
Deshalb bedarf der Einsatz solcher Techniken, hier liches Gehör ist ein Grund- und Menschenrecht.
der Videokonferenztechnik, einer sorgfältigen Prüfung
Von diesen Grundüberlegungen ausgehend können
auf mögliche Auswirkungen auf das Recht des rechtli-
wir alle Änderungen im Ermittlungs- wie im Vollstre-
chen Gehörs und die verfassungsfesten Maximen eines
ckungsverfahren begrüßen, die das Recht auf rechtliches
fairen Verfahrens. Besonders ist darauf zu achten, dass
Gehör ausweiten. Allerdings wird sorgfältig zu prüfen
im Strafprozess die Rechte des Beschuldigten und der
sein, inwieweit der Einsatz der Videotechnik von einer
Verteidigung nicht auf der Strecke bleiben.
Ausnahme zu einer Regel mutieren könnte. Der beste
Bisher sind Ton- und Bildzuschaltungen schon in Schutz davor ist die erforderliche Zustimmung des Be-
mindestens zwei Gesetzen eingeführt worden. Mit dem schuldigten zu einem solchen Verfahren. Dies gilt beson-
Zeugenschutzgesetz vom 30. April 1998 wurde die Mög- ders für die Bewährungsentscheidungen im Strafvollzug.
lichkeit eröffnet, in der Hauptverhandlung die Verneh- Die Anhörung durch das Gericht wird für eine richtige
mung eines Zeugen aus einem anderen Raum in den Ge- Entscheidung meist eine zwingende Voraussetzung sein.
richtssaal mithilfe von Videotechnik zu übertragen. Wo das Gericht eine mündliche Anhörung für notwendig
Damals hat der „im Interesse einer wirksamen Bekämp- hält, kann der Einsatz einer Ton- und Bildübertragung
fung moderner Kriminalitätsformen erforderliche Zeu- nur mit Zustimmung des Verurteilten erfolgen. Abzuleh-
genschutz“ Vorrang vor der Anwesenheit des in der nen ist der Einsatz der Videotechnik beim Einsatz von
Hauptverhandlung zu hörenden Zeugen erhalten. Seit Dolmetschern und der Anhörung von Sachverständigen
2002 sieht die Zivilprozessordnung, allerdings nur mit und Zeugen. Die Nachteile einer solchen Regelung über-
Zustimmung aller Beteiligten, die Möglichkeit vor, wiegen bei Weitem die möglichen Vorteile.
Videokonferenzen im Zivilprozess einzusetzen. Damit ist
Der hessische Justizminister Banzer von der CDU,
ein notwendiger Beitrag zur Modernisierung der Justiz
auf dessen Initiative der Entwurf 2007 ja zurückging,
geleistet worden, ohne in Rechte der Beteiligten einzu-
sah die Vorteile der Videokonferenztechnik vor allem „in
greifen.
der Zeitersparnis“ für die Beteiligten und das Gericht.
Der vorliegende Gesetzentwurf – übrigens eine Neu- Die Terminierung werde erleichtert, Verfahren könnten
auflage einer ursprünglich hessischen Initiative aus dem beschleunigt werden. Durch die eingesparten Reisekos-
Jahr 2007, die seinerzeit dem Bundestag zwar zugelei- ten und den reduzierten Zeitaufwand würden gerichtli-
tet, aber nicht zu Ende beraten wurde – sieht unter che Verfahren insgesamt „kostengünstiger“. Das ist die
Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes eine eigentliche Absicht des vorliegenden Gesetzentwurfs
Abwesenheit von Beteiligten bei gleichzeitiger Zuschal- und das kommt auch in seiner Begründung zum Aus-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11059
Jerzy Montag
(A) druck. Ich will nicht missverstanden werden: Gegen eine aufwendige und zeitintensive Anreisen erspart werden. (C)
Verfahrensbeschleunigung als solche haben wir gar Dies kommt nicht nur den Bürgern entgegen, sondern
nichts einzuwenden. Ganz im Gegenteil: Der Europäi- hilft auch, das Verfahren schneller und kostengünstiger
sche Gerichtshof für Menschenrechte hat ja bereits zu machen.
vielfach einen effektiven Rechtsschutz gegen überlange
Verfahren von Deutschland eingefordert. Aber Verfah- Die Bundesregierung begrüßt deshalb den Gesetzent-
rensbeschleunigung ist nun mal kein Selbstzweck und wurf des Bundesrates im Grundsatz. Der Entwurf baut
darf keinesfalls dazu führen, dass rechtsstaatliche Ga- einige rechtliche Hürden für den Einsatz der Videokon-
rantien geopfert werden. ferenztechnik ab: Künftig soll im Zivilprozess der Ein-
satz der Videokonferenztechnik in der mündlichen Ver-
Der Gesetzentwurf enthält schließlich, rechtstech- handlung und bei der Beweisaufnahme im Ermessen des
nisch völlig verunglückt, eine Ermächtigung für die Gerichts stehen und nicht mehr vom Einverständnis der
Bundesländer, Zeitpunkt und Ausmaß des Einsatzes der Parteien abhängen. Im Falle der Gefahr eines zukünfti-
Ton- und Bildübermittlung in allen Prozessordnungen gen Beweisverlustes soll das Gericht die Aufzeichnung
einzusetzen. Die Bundesregierung benennt diesen Vor- anordnen können. Im Bereich des Strafverfahrensrechts
schlag klar, deutlich und richtig als ein Verbot des Ein- soll nach dem Entwurf das Ziel der Verfahrensbeschleu-
satzes dieser Techniken mit einem Erlaubnisvorbehalt. nigung und der Steigerung der Verfahrensökonomie ins-
Ich füge hinzu: Dies ist ein Erlaubnisvorbehalt nach besondere dadurch erreicht werden, dass unter bestimm-
Kassenlage und eine Verschlechterung der bisherigen ten Voraussetzungen Vernehmungen oder Anhörungen
Rechtslage, die von den Bundesländern die Einführung von Verfahrensbeteiligten und Zeugen unter Verzicht auf
dieser Technik in bestimmten Fällen zwingend verlangt. deren persönliche Anwesenheit erfolgen können.
Verdeutlichen wir uns, dass der Einsatz der Ton- und Es soll unter anderem ein entsprechender Einsatz der
Bildübermittlung mit dem Gedanken des Opferschutzes Videokonferenztechnik für die Vernehmung eines Zeugen
begründet ist, dann wird deutlich, dass der Gesetzesvor- außerhalb der Hauptverhandlung nach § 58 b StPO-E
schlag des Bundesrates auch gegen den bisher schon er- zum Beispiel zur Verhinderung des zeitaufwendigen Ver-
reichten Opferschutz gerichtet ist. sandes von Verfahrensakten mit Vernehmungsersuchen
Ich darf zusammenfassen: Die rechtsstaatlichen an ferne Polizeidienststellen möglich sein. Auch im Zu-
Grundsätze der deutschen Prozessordnungen dürfen sammenhang mit der mündlichen Haftprüfung soll der
durch den Einsatz der Ton- und Bildübertragung nicht Einsatz von Videokonferenztechnik nach § 118 a Abs. 2
ausgehebelt werden. Es ist zu begrüßen, wenn der Ein- Satz 2 StPO-E ermöglichen, dass der Beschuldigte in
satz dieser Technik in Einzelfällen das Recht auf rechtli- den Fällen, in denen das Gericht wegen Krankheit oder
anderer nicht zu beseitigender Hindernisse nach bishe-
(B) ches Gehör stärkt und zu einem Erkenntniszugewinn (D)
beim Gericht führt. Es ist nicht angebracht, Sachver- riger Rechtslage auf dessen Vorführung verzichtet hat,
ständige und Zeugen über Ton- und Bildtechniken zu be- nunmehr an der Haftprüfung per Videokonferenz teil-
fragen und Dolmetscher über diese Technik zuzuschal- nehmen kann. Im Bereich der Strafvollstreckung soll
ten. Wir dürfen rechtsstaatliche Standards unserer durch den vermehrten Einsatz von Videokonferenztech-
Prozessordnungen nicht unter einen Finanzierungsvor- nik den Strafvollstreckungskammern eine erhebliche
behalt stellen und den erreichten Stand des Einsatzes Verfahrenserleichterung dadurch zuteilwerden, dass die
der Videotechnik zum Schutz von Opfern nicht aus finan- persönliche Anwesenheit des Verurteilten zum Beispiel
ziellen Gründen zurückfahren. Und schließlich: Wir bei der Anhörung im Rahmen der Entscheidung einer
sollten ernsthaft darüber nachdenken, die modernen Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung nicht mehr
Techniken in unseren Prozessordnungen umfassend zu stets erforderlich ist. Die Bundesregierung kann aber
Dokumentationszwecken einzusetzen. den Vorschlägen des Bundesrates nicht uneingeschränkt
zustimmen.
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Die Videokonferenztechnik wird bereits jetzt im Be-
desministerin der Justiz: reich des Strafverfahrensrechts eingesetzt. So dürfen die
Mit dem am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Ge- Staatsanwaltschaft und die Polizei Vernehmungen von
setz zur Reform des Zivilprozesses wurde die Videokon- Beschuldigten und Zeugen schon nach der bestehenden
ferenz in den Zivilprozess eingeführt. Sie baute die Gesetzeslage per Videokonferenztechnik vornehmen,
Möglichkeiten des Einsatzes moderner Kommunikati- ohne dass es hierzu einer ausdrücklichen Regelung be-
onsmittel weiter aus, indem bei Einvernehmen aller Be- dürfte. Denn der die gerichtlichen Verhandlungen be-
teiligten Verfahrensbeteiligte an der mündlichen Ver- herrschende Unmittelbarkeitsgrundsatz gilt hier nicht.
handlung im Wege einer Videokonferenz teilnehmen Die gesetzliche Verankerung des Einsatzes der Video-
können. Im Strafverfahrensrecht wurden die rechtlichen konferenztechnik für gerichtliche Vernehmungen und
Möglichkeiten zum Einsatz der Videokonferenztechnik in Anhörungen, unter anderem in § 58 b StPO-E, ist daher
den letzten Jahren fortlaufend ausgebaut. grundsätzlich zu begrüßen. Für den Bereich der polizei-
lichen Zeugenvernehmung bedeutet die beabsichtigte
Die Videokonferenztechnik ist heute – fast zehn Jahre Regelung des § 58 b StPO-E hingegen eine Einschrän-
später – in vielen Gerichten und Anwaltskanzleien tech- kung der bislang möglichen Anwendung der Videokonfe-
nisch verfügbar, führt aber oft nur ein Schattendasein. renztechnik. Denn die Vorschrift würde für die polizeili-
Sie sollte nach Auffassung der Bundesregierung häufi- che Zeugenvernehmung mangels Verweisung in der für
ger eingesetzt werden. Dadurch könnten den Beteiligten sie ausschlaggebenden Regelung des § 163 Abs. 3 StPO

Zu Protokoll gegebene Reden


11060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) nicht gelten und damit den Umkehrschluss nahelegen, geht. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingt, in den (C)
dass die Videokonferenztechnik bei der polizeilichen noch offenen Fragen des Entwurfs in den jetzt anstehen-
Zeugenvernehmung nicht zulässig ist. Das ist kontrapro- den Beratungen des Deutschen Bundestages zufrieden-
duktiv. Die bereits bestehenden Möglichkeiten, die Video- stellende Lösungen zu finden, damit die Videokonferenz
konferenztechnik im Bereich der staatsanwaltschaftli- in der gerichtlichen Praxis künftig eine größere Bedeu-
chen und polizeilichen Vernehmungen einzusetzen, tung erlangt.
sollten nicht beschränkt werden. Dies muss aus Sicht der
Bundesregierung durch sprachliche Änderungen im Ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
setzentwurf noch sichergestellt werden. Auch hier wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf
Aus strafprozessualer Sicht muss darüber hinaus wei- Drucksache 17/1224 an die in der Tagesordnung aufge-
terhin gewährleistet sein, dass das Gericht beim Einsatz führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind nicht da-
der Videokonferenztechnik die tragenden und bewährten gegen. Deswegen ist so beschlossen.
Grundsätze des Strafverfahrens, insbesondere den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, so-
wie die berechtigten Interessen aller Verfahrensbeteilig- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
ten miteinander abwägen und zu einem Ausgleich richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
bringen kann, ohne dass von vornherein ein Abwä- schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)
gungsvorrang festgelegt würde. Es muss vermieden wer-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Holger Ortel,
den, dass durch den Gesetzentwurf Widersprüche zu den
Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abge-
bereits vorhandenen Regelungen über den Einsatz von
ordneter und der Fraktion der SPD
Videokonferenztechnik, der vor allem zum Schutz des
Opfers bereits geltendes Recht ist, entstehen. Schließlich Die Reform der Gemeinsamen Fischereipoli-
muss insbesondere vermieden werden, dass durch eine tik zum Erfolg führen
Einschränkung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme dem erkennenden Gericht die Mög- – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia
lichkeit genommen wird, sich einen ganz persönlichen Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth
Eindruck von dem Zeugen oder dem Angeklagten zu ma- (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der
chen. Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Chancen der EU-Fischereireform 2013 nut-
Gerade und in besonderem Maße bei der Anhörung
zen und Gemeinsame Fischereipolitik
des Verurteilten im Strafvollstreckungsrecht spielt der
grundlegend reformieren
(B) persönliche Eindruck eine wesentliche Rolle. Wenn das (D)
Gericht den Verurteilten vor seiner Entscheidung, ob die – Drucksachen 17/3179, 17/3209, 17/3957 –
Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, an-
hört, gewährt es ihm damit nicht nur rechtliches Gehör. Berichterstattung:
Es verschafft sich, was mindestens ebenso wichtig ist, Abgeordnete Gitta Connemann
durch den unmittelbaren Kontakt mit dem Verurteilten Holger Ortel
einen höchstpersönlichen Eindruck von ihm. Es ist da- Dr. Christel Happach-Kasan
her von wesentlicher Bedeutung, dass dieser Zweck bei Dr. Kirsten Tackmann
den Vorschlägen zur Einführung der Videokonferenz- Cornelia Behm
technik in den Fällen der §§ 453, 454 StPO-E nicht aus Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolle-
dem Blick gerät. ginnen und Kollegen Connemann, Ortel, Happach-
Zum Schluss möchte ich auf einen weiteren problema- Kasan, Tackmann und Behm.1)
tischen Punkt im Entwurf hinweisen. Die Nutzung der Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
Videokonferenztechnik sollte nicht davon abhängen, empfehlung des Ausschusses auf Drucksache 17/3957.
dass die Länder sie durch eine Rechtsverordnung – wo-
möglich für jedes einzelne Gericht gesondert – zulassen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a die Ab-
Das in Art. 9 des Entwurfes stehende grundsätzliche lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
„Verbot mit Zulassungsvorbehalt“ wäre ein Rückschritt che 17/3179. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? –
gegenüber der heutigen Rechtslage, die den Einsatz von Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
Videotechnik generell zulässt. Die Regelung steht dem fehlung wurde angenommen bei Zustimmung durch die
Ziel des Entwurfes, den Einsatz der Videotechnik zu för- Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen; SPD
dern, entgegen. und Linke haben dagegen gestimmt.

Die Regelung ist auch nicht zum Schutz der Landes- Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
justizhaushalte vor unkalkulierbaren Kosten notwendig. lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Im Zivilprozess ist schon jetzt klar, dass die Beteiligten nen auf Drucksache 17/3209. Wer stimmt für diese Be-
den Einsatz von Videotechnik nicht beanspruchen kön- schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
nen. Im Strafprozess hat dagegen der Bundesgerichtshof Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
schon entschieden, dass die Justizverwaltungen ver- men. Dafür haben die Koalitionsfraktionen und die SPD
pflichtet sind, es zu ermöglichen, dass ein Zeuge per Vi-
deokonferenz vernommen wird, wenn es anders nicht 1) Anlage 14
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11061
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) gestimmt, Bündnis 90/Die Grünen hat dagegen ge- gewünscht. Doch von dieser kam, wie so häufig in der (C)
stimmt, die Linke hat sich enthalten. Vergangenheit, nur ein destruktives Skandalisieren, und
das alles zulasten der Verbraucher. Der Opposition
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: scheint nichts am aufgeklärten, mündigen Verbraucher
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- zu liegen. Nein, der Verbraucher muss Angst haben.
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Dann kann man eigene politische Ziele am besten um-
Änderung des Lebensmittel- und Futtermittel- setzen.
gesetzbuches sowie anderer Vorschriften
Dabei wurde dann natürlich geflissentlich übergan-
– Drucksache 17/4984 – gen, dass wir in den letzten Jahren auch verschiedene
Überweisungsvorschlag: Dioxinskandale bei Bioprodukten hatten. Dabei wurde
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und dann auch geflissentlich übergangen, dass das Bundes-
Verbraucherschutz (f) institut für Risikobewertung die wenigen geringen
Ausschuss für Gesundheit Höchstmengenüberschreitungen von Dioxin in Lebens-
Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kolle- mitteln als für den Verbraucher völlig ungefährlich ein-
ginnen und Kollegen Holzenkamp, Tack, Happach- gestuft hat. Und dabei wurde ebenso übergangen, dass
Kasan, Binder und Höfken. die Dioxinbelastung der Menschen in Deutschland – gut
zu messen zum Beispiel am Dioxingehalt in der Mutter-
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): milch – seit 1990 kontinuierlich zurückgegangen und
heute auf dem niedrigsten Stand seit Jahrzenten liegt.
Im vergangenen Jahr, genauer am 21. Dezember,
Die Opposition betreibt politischen Missbrauch auf dem
drangen erste Meldungen über erhöhte Dioxinbelastun-
Rücken der Verbraucher mit dem Ziel, ihre sogenannte
gen von Futtermitteln an die Öffentlichkeit. Am 14. Ja-
ökologische Agrarwende zu erreichen.
nuar – nur 24 Tage später – stellte Bundesagrarministe-
rin Ilse Aigner ihren Aktionsplan zur Sicherheit in der Die Wirklichkeit sieht aber gänzlich anders aus:
Futtermittelkette vor. Wiederum nur 19 Tage später, am Diese von Ihnen angestrebte Ökologisierung der Land-
2. Februar, billigte das Kabinett mit den Änderungen wirtschaft verteuert Lebensmittel erheblich. Eben in die-
zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch erste gesetz- ser Diskussion offenbaren Sie, wie unsozial Grüne, SPD
liche Umsetzungen einzelner Punkte des Aktionsplans. und Linke eigentlich sind. De facto ist es doch so: Die
Das sind nicht einmal anderthalb Monate nach den ers- moderne arbeitsteilige und intensive Landwirtschaft ist
ten Dioxinmeldungen. Ich wiederhole: anderthalb Mo- dafür verantwortlich, dass die Menschen heute nur
nate. Wer den zähen, langen Fluss der Gesetzgebung 11 Prozent ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben
kennt, der weiß was dieser Zeitraum bedeutet. müssen. Die moderne Landwirtschaft ist unter anderem (D)
(B)
Und was kam in dieser Zeit von der Opposition? Wie- dafür verantwortlich, dass die Lebensmittel heute quali-
der einmal nur die übliche Phrasendrescherei, Hysterie tativ so hochwertig sind wie nie zuvor.
und Angstmacherei. Sie haben Ministerin Aigner Untä- Die moderne Landwirtschaft produziert für die Ver-
tigkeit und Überforderung vorgeworfen. Welch ein braucher Lebensmittel gut und preiswert. Das nenne ich
Quatsch! Denn die Fakten sprechen eine völlig andere wirklich nachhaltig. Verschonen Sie uns also bitte mit
Sprache: CDU/CSU und FDP haben besonnen reagiert. Ihrem Gerede von der Agrarwende.
CDU/CSU und FDP haben schnell reagiert.
Niemand will die Situation schönreden. Es hat die
Nun mag der eine oder andere sagen, er höre hier mal Verunreinigung des Futtermittels mit Dioxin gegeben.
wieder das übliche Selbstlob der Regierung. Dem sei die Aber warum war das so? Wir haben es hier mit kriminel-
Aussage der EU-Kommission entgegengehalten. Diese len Machenschaften Einzelner zu tun. Es geht um indivi-
sagte Mitte Februar sinngemäß, Deutschland habe in duelles Versagen, mit erheblichen finanziellen Auswir-
der Dioxinkrise höchst effizient gehandelt. Also, ein di- kungen auf viele Tausend ehrlich wirtschaftende
ckeres Lob für das Krisenmanagement der Bundesregie- bäuerliche Familien.
rung kann ich mir kaum vorstellen.
Die negative Entwicklung der bäuerlichen Einkom-
Bevor ich zu der heute in erster Lesung beratenen No- men als Folge der Dioxinpanscherei lässt sich schon an
velle des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches komme, den Schlachtpreisnotierungen für Schweine in den ver-
lassen Sie mich noch ein paar Worte zu den Dioxinvor- gangenen Wochen ablesen. Gesperrte Höfe, gesperrte
fällen sagen. Ich denke, das ist – auch wenn wir darüber deutsche Exporte in Drittländer für Schweine- und Ge-
schon debattiert haben – bitter nötig. Die Rolle, die die flügelfleisch sprechen eine deutliche Sprache. Hier zeigt
Opposition und ein Teil der Medien hier gespielt haben, sich, was von der von der Opposition propagierten öko-
war höchst verantwortungslos. Anstatt zur sachlich- logischen Systemwende und den darin verborgenen An-
fachlichen Aufklärung beizutragen, überschlug man sich schuldigungen gegenüber dem modern wirtschaftenden
in immer hysterischeren Überschriften. Und während Bauernstand zu halten ist. Nichts! Die Landwirte und
der Agrarausschuss des Deutschen Bundestages die ihre Familien sind Opfer von Kriminellen, nicht Täter.
Vorfälle um das dioxinverschmutzte Futtermittel disku-
tierte, hatte die Opposition nichts Besseres zu tun, als Nein, wir brauchen keine Agrarrolle rückwärts. Die
den Sitzungssaal zu verlassen und der Presse angebliche Grundlage der Lebensmittelproduktion ist und bleibt die
neue Skandale in die Feder zu diktieren. Wir hätten uns intensiv und ertragreich wirtschaftende Landwirtschaft.
eine konstruktive Zusammenarbeit mit der Opposition Wir müssen vorwärts schauen und vorwärts handeln.
11062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Franz-Josef Holzenkamp
(A) Was wir, was die Bundesregierung und – das darf nicht gesorgt, dass nur sichere Bestandteile in die Futtermit- (C)
vergessen werden – was auch die EU plant, sind Maß- telkette gelangen.
nahmen, Schwachpunkte in der Futtermittelproduktion
so weit zu minimieren, dass in Zukunft die Schlupflöcher Wir erwarten, dass die vom Bundesministerium für
für Betrüger noch kleiner werden. Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz an-
gekündigte Rechtsverordnung für die nicht erwünschten
Der erste Umsetzungsblock der Maßnahmen des Ak- Stoffe umgehend vorgelegt wird, und werden deren In-
tionsplans der Bundesregierung und der Länder sind halt kritisch überprüfen.
Änderungen im Lebens- und Futtermittelgesetzbuch.
Diese betreffen insbesondere die Punkte der Melde- Die zuständigen Behörden der Länder sollen nach ei-
pflicht von privaten Laboren, wenn sie erhöhte Werte bei ner Rechtsverordnung die ihnen vorliegenden Untersu-
ihren Untersuchungen von Futtermittelproben feststel- chungsergebnisse über Gehalte an gesundheitlich nicht
len, sowie eine Meldepflicht von internen Untersuchun- erwünschten Stoffen an das Bundesamt für Verbraucher-
gen, bei denen erhöhte Werte festgestellt worden sind. schutz und Lebensmittelsicherheit melden. Das Bundes-
amt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit
Wir wollen bei der Umsetzung der Maßnahmen des erstellt aus dem gemeinsamen Datenpool vierteljährlich
Aktionsplanes eng mit allen beteiligten Fachkreisen zu- einen Bericht, sodass der Ausbau eines Frühwarnsys-
sammenarbeiten, um die Effizienz der Maßnahmen so tems zu begrüßen ist.
weit wie möglich zu steigern, gleichzeitig aber ineffi-
ziente Reibungsverluste zu vermeiden. Deswegen haben Allerdings muss auch das Verbraucherinformations-
die Fraktionen von CDU/CSU und FDP beschlossen, zu gesetz, VIG, unverzüglich novelliert und an die neuen
dem vorgelegten Gesetzentwurf eine öffentliche Anhö- Anforderungen angepasst werden. Wir wollen, dass
rung im Agrarausschuss durchzuführen. Danach werden sämtliche Untersuchungsergebnisse der betrieblichen
die Regierungsfraktionen CDU/CSU und FDP entschei- Eigenkontrollen sowie die staatlichen Untersuchungser-
den, ob und, wenn ja, welche Änderungen am LFGB- gebnisse in einer Datenbank veröffentlicht werden. Dies
Vorschlag der Bundesregierung vorgenommen werden. hat unabhängig davon zu geschehen, ob Grenzwerte ein-
gehalten oder unterschritten wurden.
Kerstin Tack (SPD): Verbraucherinnen und Verbraucher müssen in die
Neben den Anpassungen im Rahmen von bereits gel- Lage versetzt werden, dioxin- oder anderweitig belastete
tenden EU-Verordnungen enthält der Entwurf aus aktu- Lebensmittel auch unterhalb der erfassten und zulässi-
ellem Anlass des Dioxinskandals auch Regelungen, die gen Grenzwerte zu meiden. Nach dem derzeitigen Stand
im gemeinsamen Aktionsplan des Bundes und der Län- der wissenschaftlichen Erkenntnisse gelten mit Dioxin
(B) der „Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, belastete Lebensmittel unterhalb bestimmter Grenzwerte (D)
Transparenz für den Verbraucher“ festgelegt wurden. als ungefährlich. Die Gifte reichern sich jedoch in der
Dies ist zunächst grundsätzlich zu begrüßen. Nahrungskette an und lagern sich im Fettgewebe ein.
Dioxine können vom Körper kaum abgebaut oder ausge-
Die SPD-Bundestagsfraktion hatte umgehend Forde- schieden werden. Ziel muss es sein, die Belastung mit
rungen für Konsequenzen aus dem Dioxinskandal erho- Dioxin so weit wie möglich zu vermindern.
ben und darin unter anderem die jetzt vorgeschriebene
Meldepflicht für private Untersuchungslabore gefordert. Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht
Diese sollen jetzt laut Gesetzentwurf bedenkliche Men- auf diese Informationen, die Novellierung des VIG muss
gen von gesundheitlich nicht erwünschten Stoffen, die also schnellstens vorgelegt werden.
sie in untersuchten Lebens- und Futtermitteln festge- Die jetzt vorgesehenen Änderungen des Lebensmittel-
stellt haben, an die zuständigen Behörden melden. Wir und Futtermittelgesetzbuches, LFGB, sind deswegen
fordern, dass Untersuchungslabore und das Laborper- nur ein Anfang der erforderlichen Konsequenzen aus
sonal alle Ergebnisse von Lebensmittel- und Futter- dem Dioxinskandal. Auch wenn die Bundesregierung
mitteluntersuchungen unmittelbar an die zuständigen nicht für die Umsetzung aller Punkte des Aktionsplans
Überwachungsbehörden melden, das heißt, die Rege- zuständig ist, muss Frau Aigner für eine zügigere Abar-
lung im Gesetzentwurf der Bundesregierung greift hier beitung sorgen und Maßnahmen bei den Ländern oder
zu kurz. auf der EU-Ebene einfordern. Die Bundesländer dürfen
Die Verpflichtung von Lebens- und Futtermittelunter- sich nicht aus ihrer Verantwortung stehlen oder die im
nehmen, Ergebnisse über Eigenkontrollen hinsichtlich Aktionsplan vereinbarten Maßnahmen verzögern.
Dioxinen und Furanen sowie dioxinähnlichen und nicht- Die Einrichtung der zentralen Informationsplattform
dioxinähnlichen polychlorierten Biphenylen an die zu- www.lebensmittelwarnung.de ist längst überfällig, Ver-
ständigen Behörden zu melden, ist ebenfalls ein Fort- braucherinnen und Verbraucher müssen sich ausführ-
schritt. Allerdings muss hier noch eine strengere Kon- lich informieren können. Eine bundesweite und zeitnahe
trolle von Futterfetten vorgeschrieben werden, und die Aufstellung über Rückrufaktionen, Warnungen, bean-
Hersteller müssen verpflichtet werden, jede Charge be- standete Produkte sowie deren Kennnummern und darü-
proben zu lassen. Die Futtermittelfette sind als Haupt- ber, welche Behörde verantwortlich ist, muss öffentlich
eintragsquelle der fettlöslichen Dioxine besonders sen- gemacht werden.
sibel und deshalb schärfer zu überwachen Auch muss
eine offene und vollständige Deklaration aller Futter- Andere dringende und angekündigte Regelungen feh-
mittelinhaltsstoffe umgesetzt werden. Damit wird dafür len ebenfalls noch oder sind gar nicht vorgesehen. Die

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11063
Kerstin Tack
(A) Durchsetzung einer Positivliste für Futtermittelinhalts- müssen gestärkt und transparenter ausgestaltet werden, (C)
stoffe in Europa muss intensiviert werden; sollte es dort um frühzeitig mögliche Belastungen mit unerwünschten
Widerstände geben, muss es eine nationale Liste geben. Stoffen erkennen zu können. Nur so können potenzielle
Einheitliche Kontrollstandards auf europäischer Ebene Gefahren für den Verbraucher und die wirtschaftlichen
müssen eingefordert werden. Eine Senkung der Grenz- Folgen für Landwirte und Unternehmen so gering wie
werte für Futtermittelausgangsstoffe muss ebenfalls ein- möglich gehalten werden.
gefordert werden. Ein funktionierendes Rückverfol-
gungssystem, ein bundesweit einheitliches Niveau der Der LFGB-Entwurf des Ministeriums sieht in § 44
Lebensmittelüberwachung oder neue Haftungsregeln eine Meldepflicht für private Laboratorien vor. Bei ver-
und Strafverschärfungen sind bisher nur angekündigt. dächtigen Untersuchungsergebnissen von Lebens- oder
Ein Informantenschutz für Mitarbeiter und Beschäftigte, Futtermitteln sind die zuständigen Behörden unverzüg-
die die zuständigen Behörden über Missstände bei ihren lich zu informieren. Weiterhin sollen Unternehmen aus
Arbeitgebern informieren, ist von der Bundesregierung der Lebens- und Futtermittelbranche mittels des neuen
gar nicht vorgesehen; deshalb wird die SPD-Bundes- § 44 a dazu verpflichtet werden, Ergebnisse aus internen
tagsfraktion dazu zeitnah ein eigenes Gesetz einbringen. Eigenkontrollen über eine ganze Reihe von unerwünsch-
ten Stoffen an die zuständigen Behörden zu melden.
Nach Ansicht der betroffenen Wirtschaftsverbände und
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): der mit den Untersuchungen betrauten Laboratorien
Die Belastung von Lebens- und Futtermitteln durch stellt der Entwurf eine vollkommene Neuordnung der
Dioxine, wie sie durch das augenscheinlich kriminelle bisherigen Rechtspraxis dar. Es werden teilweise pro-
Handeln eines Fettmischbetriebes verursacht worden blematische Auswirkungen auf die Praxis erwartet. Ver-
sind, haben zu Beginn dieses Jahres für große Verunsi- bände äußerten die Besorgnis, dass das Vertrauensver-
cherung bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern hältnis zwischen Laboratorien und Herstellern durch
gesorgt. Viele landwirtschaftliche Betriebe sind existen- die Auskunftspflicht nachhaltig gestört wird.
ziell in Bedrängnis geraten. Sie sind die eigentlichen
Opfer. Zu keiner Zeit sind Menschen gefährdet worden. Wir nehmen diese Einwände sehr ernst. Wir sind al-
Das Bundesinstitut für Risikobewertung hat zu Recht lerdings der Auffassung, dass zumeist zwischen Produ-
darauf hingewiesen, dass die bestehenden Grenzwerte zenten und Laboratorien seit vielen Jahren enge ge-
keine toxikologische Bedeutung haben. Sie verfolgen schäftliche Verbindungen bestehen, die sich auch unter
das Ziel, den Gehalt unserer Lebens- und Futtermittel neuem Recht vertrauensvoll weiterführen lassen.
an Dioxinen, die in unserer Umwelt nahezu überall vor- Gleichzeitig handelt es sich bei den hier vorgeschlage-
handen sind, möglichst zu minimieren. Dies ist in den nen Gesetzesänderungen jedoch um eine nationale Son-
(B) letzten beiden Jahrzehnten gut gelungen, denn die Di- derregelung im Bereich des Lebens- und Futtermittel- (D)
oxinbelastung konnte durch technische Maßnahmen auf rechtes. Die Gefahr einer Benachteiligung nationaler
ein Drittel abgesenkt werden. Unternehmen und ein Ausweichen auf Laboratorien in
anderen EU-Staaten kann daher nicht ausgeschlossen
Um solche Vorkommnisse wie zu Beginn dieses werden.
Jahres zukünftig zu vermeiden, wurde am 18. Januar die
Gemeinsame Erklärung des Bundes und der Länder Die grundlegende Idee des neuen § 44 a, über die
„Unbedenkliche Futtermittel, sichere Lebensmittel, Mitteilungspflicht von Untersuchungsergebnissen zu ge-
Transparenz für den Verbraucher“ mit einem 14-Punkte- sundheitlich nicht erwünschten Stoffen eine bessere Da-
Maßnahmenkatalog verabschiedet. Um die ersten Maß- tengrundlage zu erhalten und mögliche Belastungsquel-
nahmen umzusetzen, hat das Ministerium jetzt in kurzer len besser abschätzen zu können, ist sinnvoll. Allerdings
Zeit einen Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung werden hier ungefiltert riesige Datenmengen, die kein
des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches, LFGB, statistisch abgesichertes Bild der Situation liefern kön-
erarbeitet. Enthalten sind hier Vorschläge, wie die Ei- nen, von nichtöffentlichen Stellen erhoben und beim
genkontrollen bei Futtermittel- und Lebensmittelunter- Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsi-
nehmen transparenter ausgestaltet werden können. cherheit, BVL, gesammelt. Diese Daten stammen aus
sehr verschiedenen Quellen, haben unterschiedliche
Für die FDP-Fraktion steht die Lebensmittelsicher- Qualitäten und führen nach Ansicht der Verbände zu ei-
heit an erster Stelle. Wir unterstützen die Ziele des Akti- nem erheblichen bürokratischen Mehraufwand bei den
onsplans, die Kontrollen von Futter- und Lebensmitteln Unternehmen. Gleichzeitig ist zu befürchten, dass ein
noch effizienter und wirksamer zu gestalten. Wir haben Bearbeiten der Daten, was Voraussetzung für deren
in Deutschland heute so sichere Lebensmittel wie nie zu- sinnvolle Nutzung ist, nur unter einem erheblichen per-
vor. Dennoch gilt es, auch hier zu prüfen, ob die Qualität sonellen Mehraufwand durch die Behörden zu bewerk-
und Dichte der Kontrollen im Hinblick auf die Risikopo- stelligen ist. Angesichts der Haushaltssituation und der
tenziale ausreichend sind. Die Produzenten haben die gegebenen hohen Lebensmittelsicherheit muss hinter-
Verantwortung für ihre Produkte. Die große Mehrheit fragt werden, ob dies zielführend ist.
der Produzenten nimmt diese Verantwortung sehr ernst.
Wir dürfen die Hersteller nicht durch staatlichen Aktio- Ein gut durchdachtes Vorbild stellt das Deutsche Le-
nismus aus der Eigenverantwortlichkeit für ihre bensmittel-Monitoring dar, das 1995 eingeführt wurde.
Produkte entlassen. Staatliche Kontrollen können Ei- In einem festgelegten Kontrollplan werden Daten zur
genverantwortung nicht ersetzen. Die Qualitätssiche- Belastung von Lebensmitteln, Kosmetika und Bedarfsge-
rungssysteme der Lebens- und Futtermittelhersteller genständen erhoben. Grundlage ist ein repräsentativer

Zu Protokoll gegebene Reden


11064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) Warenkorb, der aufgrund einer Risikoabschätzung auf ter keine Informationen über die tatsächliche Belastung (C)
unterschiedliche unerwünschte Stoffe wie Mykotoxine, unserer Lebensmittel erhalten. Ich sage: Lebensmittel
Schwermetalle, Rückstände von Pflanzenschutzmitteln sind kein Betriebsgeheimnis. Wer hier etwas verheim-
und andere getestet wird. In der Allgemeinen Verwal- licht, will den Verbraucherinnen und Verbrauchern et-
tungsvorschrift Monitoring wird nach einem statistisch was vormachen. Die Linke wird sich deshalb nicht über
validen Verfahren jeweils für fünf Jahre festgelegt, wel- den Tisch ziehen lassen. Wir wollen echte Verbraucher-
che Stichproben zu welchem Zeitpunkt gezogen werden informationen.
müssen und auf welche Stoffe dabei untersucht werden
An diesem Gesetzentwurf wird deutlich, dass Frau
soll. Jährlich werden 9 000 Untersuchungen bei Lebens-
Aigner wieder nur Ankündigungsministerin ist. In ihrem
mitteln auf die festgelegten Stoffe durchgeführt. Das
Hause bestimmen offenbar andere die Richtung. Die
Beispiel des Lebensmittel-Monitorings zeigt: Nur wenn
Linke fordert, dass aus dem Dioxinskandal endlich die
solche Daten mit Sinn und Verstand erhoben werden,
richtigen Konsequenzen gezogen werden.
können aus unserer Sicht nachvollziehbare, belastbare
Schlüsse gezogen werden. Erstens. Die Lebensmittel- und Futtermittelkontrolle
muss systematisch zusammen mit den Bundesländern
Die Dioxinfunde am Anfang des Jahres, welche die weiterentwickelt werden. Dazu sind die Eigenkontrollen
Verbraucherinnen und Verbraucher verunsichert haben, der Futter- und Lebensmittelbetriebe zu verbessern. Be-
erforderten schnelles und entschlossenes Handeln. Die triebliche Zertifizierungssysteme sind entlang der ge-
Koalition wird dafür Sorge tragen, dass die Maßnahmen samten Erzeugungskette nach strengen gesetzlichen Vor-
des 14-Punkte-Plans rasch umgesetzt werden können. gaben zu regeln und zu überwachen. Sie müssen
Dennoch darf die Gründlichkeit nicht der Schnelligkeit Erzeugungsformen und betriebswirtschaftliche Risiken
geopfert werden. Deshalb werden wir einzelne De- erfassen und eine durchgängige Dokumentationspflicht
tailfragen in einer Anhörung mit Fachleuten erörtern. beinhalten. Dazu muss für jede Futtermittelcharge vor
Gemeinsam gilt es zu prüfen, wie eine Datenerhebung der Verarbeitung ein Test die Unbedenklichkeit belegen.
aus Eigenkontrollen und unter Berücksichtigung der Wichtig ist auch: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die
Grundsätze des Datenschutzes effizient und zielgerichtet Behörden auf Missstände in Betrieben hinweisen, sollen
vorgenommen werden kann. nach dem Vorbild von Großbritannien und den USA als
Hinweisgeber gesetzlichen Schutz erhalten.
Karin Binder (DIE LINKE):
Auch die staatlichen Kontrollen sind zu stärken: Die
Der Lobbyistenverband der Ernährungsindustrie, der behördliche Lebensmittelüberwachung muss die Wirk-
BLL, rühmt sich öffentlich damit, die Erstellung des hier samkeit betrieblicher Zertifizierungssysteme überwa-
(B) vorliegenden Gesetzentwurfes stark beeinflusst zu ha- chen sowie Risiken und Lücken in der Branche frühzei- (D)
ben. Bei näherem Hinsehen wird auch klar, warum. Nur tig erkennen und schließen können. Dazu sind sie
2 der 14 Punkte, die im Laufe des Dioxinskandals zwi- personell und finanziell abzusichern. Der Bund soll die
schen der Bundesregierung und den Ländern vereinbart Zusammenarbeit der Länder besser fördern. Der jeweils
wurden, sollen jetzt gesetzlich geregelt werden, und das beste Standard im Bereich der Lebensmittel- und Futter-
auch nur zu Teilen. Wesentliche Teile des „Aktionsplans mittelüberwachung in einem einzelnen Bundesland ist
Verbraucherschutz“ sollen nämlich am Parlament vor- deutschlandweit zum Maßstab zu machen. Die Koordi-
bei per Verordnung durch das Ministerium allein gere- nation auf Bundesebene ersetzt dabei nicht die Verant-
gelt werden. Lobbyisten, die im Hause Aigner ein und wortung in den Ländern. Die Behörden müssen im Ver-
aus gehen, haben damit mehr mitzureden als der Deut- dachtsfall ungehinderten Zugang zu allen Betriebsdaten
sche Bundestag. Das ist nicht hinnehmbar. erhalten, die die Erzeugungskette betreffen.
Gut an dem wenigen, das nun geregelt wird, ist: Pri- Zweitens. Mängel in der Lebensmittel- und Futtermit-
vate Labore, die im Auftrag von Unternehmen Schad- telerzeugung müssen systematisch behoben werden.
stoffuntersuchungen durchführen, müssen bedenkliche Dazu ist eine verpflichtende Positivliste bei Futtermit-
Mengen künftig direkt an die Behörden melden. Die teln für Roh- und Zuschlagsstoffe auf EU-Ebene einzu-
Linke findet es richtig, dass private Labore der Lebens- fordern. Betriebe sollen durchgängig nach Lebensmit-
mittelanalyse stärker in die Verantwortung genommen telerzeugung und technischer Produktion getrennt sein.
werden. Im Dioxinskandal waren einem solchen Labor Alle tierischen Fette zur industriellen Verarbeitung sind
die hohen Dioxinwerte der Verursacherfirma Harles und am Herstellungsort durch Einfärbung kenntlich zu ma-
Jentzsch bereits im März 2010 bekannt. Hätten die Be- chen. Regionale Erzeugerkreisläufe und betriebseigene
hörden davon gewusst, wäre der Dioxinskandal ein Erzeugung von Futtermitteln sollen durch ein Förder-
Dreivierteljahr später vermeidbar gewesen. Die Mel- programm des Bundes gezielt gefördert werden. Das
dung der Daten ist also eine wichtige Information für die verkürzt die Lebensmittelkette, mindert die Eintragsrisi-
Ämter, darf jedoch nicht die einzige sein. ken und erleichtert die Nachvollziehbarkeit der Erzeu-
gungskette.
Deshalb ist auch gut: Die Unternehmen werden ver-
pflichtet, alle durchgeführten Schadstoffmessungen Drittens. Die Verbraucherinformation muss erheblich
– auch mit unbedenklichem Ergebnis – an die Behörden verbessert werden. Die Herkunft der Zutaten in den Le-
zu übermitteln. Doch schon dieser Punkt geht der Le- bensmitteln sowie die Verarbeitungsbetriebe müssen
bensmittellobby zu weit. Bei der anstehenden Anhörung auch für die Verbraucherinnen und Verbraucher nach-
zum Änderungsgesetz soll erreicht werden, dass die Äm- vollziehbar sein. Daten der Behörden und Betriebe sind

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11065
Karin Binder
(A) kein Betriebsgeheimnis, sondern eine wichtige Verbrau- schub leisten soll. Meldepflichten für private Labore (C)
cherinformation. Dazu muss das Verbraucherinforma- können und dürfen aber die notwendigen Verbesserun-
tionsgesetz verbessert werden: Die zuständigen Behör- gen des Lebens- und Futtermittelkontrollsystems nicht
den sollen von sich aus über Produkte bzw. Erzeugnisse ersetzen. Wir haben zum Beispiel in Rheinland-Pfalz
und Hersteller informieren, wenn Anhaltspunkte für eine nach wie vor viel zu wenige Kontrolleure. Im Schnitt ge-
Gesundheitsgefährdung vorliegen. Verbraucherinnen rade einmal 2,27 Kontrolleure sollen dort 1 000 Unter-
und Verbraucher sollen auch gegenüber Unternehmen nehmen pro Jahr überwachen, was auch der Landes-
ein direktes Auskunftsrecht, beispielsweise zur gesamten rechnungshof bereits monierte. Der Anteil der
Herstellungs- und Lieferkette sowie über die Einhaltung Verdachtsproben an allen erhobenen Proben liegt mit
von Umwelt- und Sozialstandards, erhalten. nur 10,9 Prozent weit unter den vorgesehenen 20 Pro-
zent. Die von Frau Aigner vorgeschlagene Verbesserung
Viertens. Die Bundesregierung muss die Vorausset- der Kontrollqualität durch länderübergreifende Evalu-
zungen für eine systemübergreifende Forschung schaf- ierungen wird dieses Problem nicht lösen, hier muss der
fen, in der die vielfältigen Fachkenntnisse zusammen- Bund weiter auf die Länder einwirken und gleichzeitig
fließen, und ein Forschungsprogramm aufsetzen. durch intelligente Ressourcennutzung Unterstützung
Fünftens. Die Verfolgung und Ahndung von Lebens- leisten, zum Beispiel durch länderübergreifende Refe-
mittelkriminalität ist zu verbessern, indem ein Förder- renzlabore oder eine Bundesunterstützung bei der Aus-
programm für Fachleute zur Erkennung von Straftaten und Weiterbildung von Kontrolleuren.
in der Lebensmittelbranche aufgelegt wird und die Straf- Trotz Verbesserungen bei Melde- und Überwachungs-
normen im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch systemen sperrt sich die Bundesregierung weiter gegen
handhabbarer gestaltet werden. Außerdem sollte der das wirksamste Kontrollinstrument überhaupt: gut in-
Strafrahmen bei Verstößen gegen das Lebensmittel- und formierte Verbraucher, die durch ihre Kaufentscheidung
Futtermittelrecht angemessen erhöht werden. direkt die Marktentwicklung beeinflussen. Wir haben
Sechstens. Für die vom Dioxinskandal betroffenen dazu im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Landwirtschaftsbetriebe, die keine Möglichkeit hatten, Verbraucherschutz, aber auch in verschiedenen Anträ-
sich der Krise zu entziehen, sollen unverzüglich Ent- gen mehrfach die Erweiterung des Verbraucherinforma-
schädigungsleistungen zum Beispiel über die landwirt- tionsgesetzes um den direkten Informationsanspruch der
schaftliche Rentenbank ermöglicht werden. Per Gesetz Verbraucher gegenüber Unternehmen gefordert. Damit
sollte für zukünftige Schadensfälle ein Ausgleichsfonds wären die Konsumenten nicht länger vom oft wenig um-
geschaffen werden, der von der Futtermittelindustrie fassenden oder aktuellen Informationsstand der Behör-
über Abgaben aus dem Handel mit Futtermittelchargen den abhängig, und die Unternehmen hätten mehr direkte
(B) finanziert wird. So sieht ein Aktionsplan für den Schutz Kundenresonanz – ein wichtiger Erfolgsfaktor für eine (D)
der Verbraucherinnen und Verbraucher aus. auch ökonomisch nachhaltige Entwicklung.
Auch die laut einer Umfrage von 93 Prozent der Be-
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): völkerung gewünschte Veröffentlichung von Kontroll-
Die Aufnahme der Meldepflicht für Labore und die ergebnissen in Form eines „Smiley“ nach dänischem
vorgesehene Erweiterung des Dioxinmonitorings über Vorbild wird von der Bundesregierung nicht aktiv unter-
das LFGB ist eine richtige Konsequenz aus den Skanda- stützt. Die Verbraucherschutzminister der Länder muss-
len um Lebens- und Futtermittel und speziell dem jüngs- ten Aigner mit ihrem Beschluss auf der VSMK im Sep-
ten Dioxinskandal. Die Ministerin setzt damit einen Teil tember 2010 erst zu einer bundesweiten Umsetzung des
des von Bund und Ländern beschlossenen Aktionsplans Smiley-Konzeptes zwingen.
zur Bewältigung der Dioxinkrise um.
Die entscheidende Schwäche von Aigners und
Allerdings haben sich Bundesministerin Ilse Aigner Klöckners Reaktion auf die Dioxinkrise liegt jedoch in
und ihre bis vor kurzem für den Verbraucherschutz zu- der Weigerung der Bundesregierung, die fundamentalen
ständige Staatssekretärin Julia Klöckner mit der LFGB- Fehlentwicklungen in der Lebensmittelproduktion über-
Änderung nur die kleinsten und unwichtigsten Punkte haupt wahrzunehmen, geschweige denn, sie zu beenden.
aus dem von Nordrhein-Westfalens Minister Johannes Es handelt sich um die industrielle Futtermittelproduk-
Remmel entwickelten Aktionsplan ausgesucht. Die we- tion und die Massentierhaltung ohne Flächenbindung,
sentlich relevantere Rechtsverordnung zur Zulassungs- den Import von gentechnisch veränderten Futtermitteln
pflicht für Futtermittelhersteller, Trennung der Futter- mit verheerenden Auswirkungen für Mensch und Um-
mittelproduktion von der Produktion für die technische welt in den Anbauländern verbunden mit der fallenden
Industrie oder zu verschärften Vorgaben für die Eigen- einheimischen Erzeugung von Eiweißfuttermitteln, den
kontrollsysteme teilt weiterhin das Schicksal der meisten dramatischen Verlust an Biodiversität durch viel zu enge
Aigner-Initiativen: Sie bleibt eine Ankündigung. Fruchtfolgen, den weltweiten Einsatz von Pestiziden in
Acker- und Gartenbau und die Verwendung von 300 Le-
Zurück zum Gesetzentwurf. Angesichts der bekannten bensmittelzusatzstoffen in der industriellen Lebensmit-
Sympathien von Ministerin Aigner für die Eigenkontroll- telproduktion als billigen Ersatz für hochwertige, natür-
systeme der Wirtschaft ist zu befürchten, dass die Melde- liche Zutaten.
pflicht für private Labore einer erneuten Verlagerung
der Lebens- und Futtermittelüberwachung aus dem Wir fordern die Bundesregierung auf, jetzt endlich die
staatlichen in den privatwirtschaftlichen Bereich Vor- richtigen Rahmenbedingungen für eine nachhaltige,

Zu Protokoll gegebene Reden


11066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Ulrike Höfken
(A) ökologische und bäuerliche Landwirtschaft zu setzen, meinsam beraten und, wenn nötig, an der einen oder an- (C)
die uns auch langfristig mit gesunden und sicheren Le- deren Stelle ändern. Denn sowohl der Bundesregierung
bensmitteln versorgen kann. Frau Aigner darf nicht län- als auch der Koalition ist an einer vernünftigen und wis-
ger nur an den Symptomen herumdoktern und auf die In- senschaftsbasierten Kennzeichnung gelegen. Dass es in
tensivierung der Produktion setzen, zum Beispiel bei der diesem Punkt, was tatsächlich vernünftig ist, weit aus-
Förderung der Konzentration in der Milchwirtschaft einandergehende Ansichten gibt, ist ja hinlänglich be-
oder der Produktion von Schweine- und Geflügelfleisch kannt. Wobei ich anmerken möchte, dass ich bei den
für den Export. Sonst werden wir auch in Zukunft immer Farbenspielen der Opposition in Sachen Lebensmittel-
wieder mit Skandalen konfrontiert werden, deren Folgen kennzeichnung weniger an Vernunft denn an Verwirrung
in der Regel nicht die Verursacher, sondern die Land- denke, aber das nur am Rande.
wirte und Verbraucher tragen müssen. Die Überarbei-
tung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches werden Sie fordern in Ihrem Antrag, die EFSA im Hinblick
wir weiter kritisch begleiten und fordern zu diesem auf Unabhängigkeit und Transparenz zu reformieren.
Thema eine öffentliche Anhörung. Ich weiß gar nicht, warum das notwendig sein soll. Die
Unabhängigkeit der EFSA ist durch eine Reihe von Kon-
trollmechanismen gesichert. Ich denke da an den wis-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
senschaftlichen Ausschuss und die wissenschaftlichen
Es wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Druck- Gremien, die sich aus unabhängigen Experten zusam-
sache 17/4984 an die in der Tagesordnung aufgeführten mensetzen. Diese Experten müssen Interessen- und Un-
Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstan- abhängigkeitserklärungen abgeben, die veröffentlicht
den. Dann ist so beschlossen. werden. Dadurch ist Transparenz geboten. Oder wollen
Tagesordnungspunkt 23: Sie mir erzählen, dass ein Wissenschaftler oder Experte
bei einem Verstoß gegen diese Erklärungen nicht sofort
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- am digitalen Pranger stehen würde?
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu Auch die Unionsfraktion ist der Meinung, dass nicht
dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, nur bei Lebensmittelzusatzstoffen zu technologischen
Birgitt Bender, Cornelia Behm, weiterer Abge- Zwecken, sondern auch bei Stoffen, die zu anderen Zwe-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE cken Lebensmitteln zugesetzt werden, der Schutz von
GRÜNEN Verbraucherinnen und Verbrauchern vor gesundheitli-
chen Schäden und vor Irreführung sichergestellt werden
Umsetzung der EU-Health-Claims-Verord- muss. Solche Stoffe bedürfen nach lebensmittelrechtli-
(B) nung voranbringen chen Vorschriften – bis auf einige wenige Ausnahmen – (D)
– Drucksachen 17/4015, 17/4892 – einer grundsätzlichen Zulassung. Eine solche Zulassung
wird nur dann erteilt, wenn sich bei der gesundheitli-
Berichterstattung: chen Bewertung des Stoffes – beispielsweise durch das
Abgeordnete Carola Stauche Bundesinstitut für Risikobewertung – keine Bedenken
Kerstin Tack hinsichtlich der Sicherheit ergeben. Ich möchte noch
Dr. Christel Happach-Kasan darauf hinweisen, dass bei der Verwendung von arznei-
Karin Binder lichen Wirkstoffen zu überprüfen ist, ob das Erzeugnis
Ulrike Höfken nicht als Arzneimittel einzustufen ist und damit dem Arz-
neimittelrecht unterliegt. Ich möchte hier noch einmal
Ihre Reden zu Protokoll geben die Kolleginnen und
darauf hinweisen, dass Lebensmittelrecht und Arznei-
Kollegen Stauche, Tack, Geisen, Binder und Höfken.
mittelrecht strikt getrennt sind. Das ergibt sich aus den
arzneimittelrechtlichen und den lebensmittelrechtlichen
Carola Stauche (CDU/CSU): Bestimmungen und hat zur Folge, dass ein als Arznei-
Wir beraten heute einen Antrag von Bündnis 90/Die mittel eingestuftes Erzeugnis kein Lebensmittel sein
Grünen, der die Bundesregierung auffordert, sich für kann und umgekehrt.
eine zügige Umsetzung der Health-Claims-Verordnung
einzusetzen. Die Unionsfraktion lehnt diesen Antrag ab. Zum Thema Health Claims fällt mir noch ein Spruch
Die Gründe haben wir schon während der Ausschusssit- ein, den mir ein sehr geschätzter Kollege einmal auf-
zung erörtert ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, sagte: Gesundheit erwirbst du nicht im Handel, sondern
sie an dieser Stelle zu wiederholen. nur durch Lebenswandel!

Um die Health-Claims-Verordnung umzusetzen, be- Wir lehnen den Antrag der Opposition ab. Wir setzen
darf es eines Verordnungsentwurfes der EU-Kommis- uns aber, wie erwähnt, für eine übersichtliche, wissen-
sion, der dem Europäischen Parlament und den Mit- schaftsbasierte Lebensmittelkennzeichnung ein, ohne
gliedstaaten der Europäischen Union vorgelegt werden den Verbraucher zu bevormunden. Das hat sehr viel mit
muss. Einen solchen gibt es allerdings noch nicht. Das unserem Leitbild vom mündigen Bürger zu tun. In die-
bedeutet, dass die derzeitigen Einflussmöglichkeiten der sem Fall wäre es der mündige Konsument oder Verbrau-
Bundesregierung stark eingegrenzt sind. Wir müssen cher, der – gut informiert – selbst entscheidet, welches
also warten, bis ein konkreter Vorschlag vorliegt. Die- ordentlich gekennzeichnete Produkt er kauft oder zu sich
sen können oder, anders, diesen werden wir dann ge- nimmt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11067

(A) Kerstin Tack (SPD): erreicht werden. Dafür muss sich auch die Bundesregie- (C)
Gegen die Stimmen der Oppositionsparteien haben rung einsetzen.
die Koalitionsfraktionen den Antrag im Ausschuss abge-
lehnt. Die SPD-Fraktion hat den Antrag unterstützt; Die Prüfung der sogenannten Health Claims durch
denn auch wir sind der Meinung, dass sich die Bundes- die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit,
regierung für eine zügige Umsetzung der noch offenen EFSA, läuft noch immer, dabei werden aber auch nur die
Teile dieser EU-Verordnung von 2007 einsetzen soll. Mit Eigenangaben der Antragsteller kontrolliert und auf po-
der Verordnung soll sichergestellt werden, dass künftig sitive Wirkung geprüft. Da aber durchaus die Möglich-
Nahrungsergänzungsmittel und Lebensmittel nur dann keit besteht, dass bestimmte Nährstoffe je nach Verbrau-
mit gesundheitsbezogenen Angaben versehen und be- cher sowohl positive als auch negative Wirkungen haben
worben werden dürfen, wenn diese Angaben auch wis- können, wäre aus unserer Sicht auch eine Bewertung ei-
senschaftlich belegt sind. Die erforderliche Festlegung nes Nutzen-Risiko-Profils sinnvoll. Als Beispiel dafür
der Nährwertprofile für die einzelnen Lebensmittelgrup- möchte ich Kalzium anführen: Es kann die Knochenge-
pen durch die EU-Kommission steht aber noch aus. sundheit fördern, bei Risikogruppen aber durchaus auch
Diese Profile sollen absichern, dass Lebensmittel, die das Herzinfarktrisiko erhöhen.
mit positiven Gesundheitseffekten beworben werden, Von den mehr als 44 000 bei der EFSA eingereichten
nicht gleichzeitig Nährstoffe enthalten, deren übermäßi- Anträgen konnten bei circa 80 Prozent keine überzeu-
ger Verzehr mit chronischen Krankheiten in Verbindung genden Belege für gesundheitsfördernde Auswirkungen
gebracht werden kann. Der Schutz der Verbraucherin- gefunden werden; einige Hersteller haben Anträge aus
nen und Verbraucher vor irreführenden oder falschen Angst vor Imageverlust auch selbst zurückgezogen. Die
Angaben wird damit verbessert. zu bewertenden restlichen 4 600 Claims sind in der Prü-
Auch wir meinen, dass Werbung für Lebensmittel mit fung. Nach jetzigem Stand will die EFSA bis Ende Juni
gesundheitsbezogenen Aussagen wie zum Beispiel „gut 2011 die Bewertung aller gesundheitsbezogenen Anga-
für den Knochenbau“ oder „stärkt die Abwehrkräfte“ ben über allgemeine Funktionen – mit Ausnahme der
nur dann zulässig sein darf, wenn das beworbene Le- Angaben über pflanzliche Stoffe – abschließen. Die EU-
bensmittel kein ungünstiges Nährwertprofil hat und die Kommission wird dann eine Liste mit ihren Empfehlun-
Werbeaussagen wissenschaftlich belegbar sind. Ver- gen vorlegen. Die Mitgliedstaaten und das Europäische
braucherinnen und Verbrauchern soll nicht vorgegau- Parlament müssen danach entscheiden.
kelt werden können, Süßigkeiten oder „Dickmacher“ Wir fordern zusätzlich die Einrichtung eines Regis-
seien gesund, nur weil sie viel Kalzium oder Vitamine ters, in dem alle Studien über gesundheitsbezogene An-
enthalten. gaben transparent und für jedermann zugänglich aufge-
(B)
Handlungsbedarf besteht auch im Grenzbereich zwi- listet werden. Auch muss sichergestellt sein, dass eine (D)
schen Arzneimitteln und Lebensmitteln. Wir meinen, laufende Überprüfung der bereits genehmigten Claims
dass arzneilich wirkende Stoffe in Lebensmitteln nichts erfolgt. Durch ständige Forschung ist es durchaus mög-
zu suchen haben. Beimischung von Arzneimitteln in Le- lich, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse für be-
bensmittel, die einen positiven Nutzen versprechen, darf stimmte Nährstoffe gewonnen werden. Nachträgliche
nicht genehmigt werden. Denn durch eine Aufweichung Veränderungen der Bewertung durch die EFSA müssen
der Grenze zwischen Lebensmitteln und Arzneimitteln also möglich sein. Ein kontinuierliches Studienmonito-
besteht die Gefahr einer Überversorgung mit bestimm- ring sollte deshalb vorgeschrieben werden.
ten Inhaltsstoffen, die schädlich sein kann. In Deutsch- Ich hoffe sehr, dass die jetzt angekündigten Zeitanga-
land verschreibungspflichtige Stoffe dürfen nicht über ben der EFSA zu halten sind; denn Irreführung oder
die EU-Ebene in Lebensmitteln genehmigt werden. Eine Täuschung der Verbraucherinnen und Verbraucher
Berücksichtigung der unterschiedlichen Arzneimittel- durch nicht erwiesene gesundheitsbezogene Werbeaus-
verordnungen der Mitgliedstaaten muss also auch erfol- sagen muss bald beendet werden.
gen, und es müssen klarere Vorgaben von der Kommis-
sion gemacht werden. Auch die Bundesregierung sollte im Interesse der Ver-
braucherinnen und Verbraucher auf eine schnelle Lö-
Wir begrüßen im Grundsatz das Ziel der Health- sung dringen und sich für eine zügige Umsetzung der
Claims-Verordnung, und eine zügige Festlegung der Nährwertprofile einsetzen. Da wir bereits im Ausschuss
Nährwertprofile ist auch aus unserer Sicht erforderlich. dem Antrag der Grünen zugestimmt haben, können wir
Auch die vom Ausschuss durchgeführte Expertenanhö- die Beschlussempfehlung des Ausschusses nicht mittra-
rung am 6. Oktober 2010 hat dies gezeigt. In der Anhö- gen und lehnen sie somit ab.
rung wurde deutlich, dass strenge Nährwertprofile not-
wendig sind. Die Überlegungen der EU-Kommission
sind dafür aus unserer Sicht noch nicht ausreichend. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Denn danach könnten zum Beispiel nach Berechnungen Die im Jahr 2006 erlassene Health-Claims-Verord-
aus Großbritannien zwei Drittel der verzehrten Lebens- nung der EU, die gesundheitsbezogene Werbeaussagen
mittel als gesund beworben werden, wenn sie nur einen auf Lebensmittel reguliert, hat schon jetzt zu überbor-
besonderen Vitaminzusatz enthalten. Wir fordern die dender Bürokratie geführt. Die jetzt diskutierte Defini-
EU-Kommission auf, dem Druck der Lebensmittelindus- tion von Nährwertprofilen für unterschiedliche Lebens-
trie nicht nachzugeben, andernfalls können die ur- mittelgruppen ist hochumstritten. Es ist nahezu
sprünglichen Ziele der Health-Claims-Verordnung nicht unmöglich, wissenschaftlich festzulegen, wann ein Pro-

Zu Protokoll gegebene Reden


11068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dr. Edmund Peter Geisen


(A) dukt beispielsweise wegen seines Fett- oder Zuckerge- Hier gilt es wirklich zu prüfen, inwiefern die bisherigen (C)
halts als ungesund gilt, weil Kinder, Jugendliche, Regelungen zum Zusatz von arzneilichen Wirkstoffen zu
Erwachsene und Senioren sehr unterschiedliche Anfor- Lebensmitteln ausreichen, um die Verbraucherinnen und
derungen an den Nährwertgehalt von Lebensmitteln ha- Verbraucher vor Täuschung zu schützen. Es dürfen keine
ben. Dazu kommen auch noch die individuellen Bedarfe Anreize zur Entwicklung einer Pharma-Lebensmittel-
und Grenzwerte. Sparte gegeben werden. Insgesamt jedoch lehnen wir
den vorliegenden Antrag aus den oben von mir darge-
Zwar ist unbestritten, dass ein hoher Salzkonsum am legten Gründen ab.
Auftreten bestimmter Krankheiten beteiligt ist. In
Deutschland ist zum Beispiel der durchschnittliche Salz-
konsum pro Person mehr als doppelt so hoch, wie es aus Karin Binder (DIE LINKE):
gesundheitlicher Sicht von der Weltgesundheitsorgani- Der Werbeschwindel im Supermarkt ist besonders bei
sation, WHO, empfohlen wird. Dies hat bei salzempfind- Lebensmitteln groß. So verspricht etwa ein Schokoriegel
lichen Personen erhebliche negative Auswirkungen für eine „Extra-Portion-Milch“ mit viel gutem Kalzium.
die Gesundheit. Dass aber Maßnahmen auf Grundlage Die Wahrheit: Erst 13 Riegel würden den Tagesbedarf
der Health-Claims-Verordnung zu einer Minderung des eines Kindes an Kalzium decken. Das bedeutet aber
Salzkonsums führen, ist nach Einschätzung von Exper- gleichzeitig: 48 Würfelzucker und ein halbes Paket But-
ten nicht zu erwarten. Hier fühlen wir uns als FDP- ter. Ein Fruchtgetränk wurde als „gesunder Durstlö-
Fraktion bestätigt. scher“ für Kinder beworben. Tatsächlich enthielt das
Gemisch aus Wasser und Saftkonzentrat nicht nur um-
Nach Auffassung der FDP-Bundestagsfraktion ist strittene Süßstoffe, sondern auch jede Menge zahn-
nach der gegenwärtigen Rechtslage in Deutschland si- schädliche Citronensäure. Gerade Produkte für Kinder
chergestellt, dass Werbeaussagen nicht irreführend sein werden oft als gesund beworben, obwohl sie nicht auf
dürfen. Deshalb geht ein generelles Verbot gesundheits- die Ernährungsbedürfnisse von Kindern abgestimmt
bezogener Werbung im Rahmen der Health-Claims-Ver- sind. So werden Mini-Würstchen als „täglicher Beitrag
ordnung, wie es Bündnis 90/Die Grünen im vorliegen- für die gesunde Ernährung“ angepriesen. Angesichts ei-
den Antrag zum Beispiel für die Kategorie der Süßwaren nes völlig überhöhten Salzgehaltes kann davon aber
fordern, zu weit. Wir setzen uns stattdessen für eine wis- keine Rede sein.
senschaftsbasierte Kennzeichnung ein.
Lebensmittel wie Joghurt, Margarine oder Müsli un-
In diesem Zusammenhang ist auch die Behauptung
terstellen mittels Werbung Gesundheit, ohne dies zu be-
von Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen, bei der Euro-
legen. Sie können angeblich Knochen und Abwehrkräfte
päischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA,
(B) gebe es ein Defizit an Transparenz und Wissenschaft- stärken, das Wohlbefinden beleben oder die Darmflora (D)
ins Gleichgewicht bringen. Glaubt man den Herstellern,
lichkeit. Im Gegenteil: Gerade weil sich diese Behörde
dann können wir mithilfe solcher Produkte unsere Ge-
nicht den ideologisierten Forderungen anschließt, ar-
sundheit regeln. Häufig sind sie im Vergleich zu norma-
beitet sie wissenschaftlich und nicht ideologisch beein-
lem Essen aber doppelt so teuer. Der einzige Zusatznut-
flussbar.
zen liegt meist darin, dass sie die Kassen der
Ich halte es im Übrigen auch für heikel, über die Um- Lebensmittelhersteller füllen. Gesund sind hingegen
setzung der EU-Health-Claims-Verordnung zu diskutie- vorwiegend frisch zubereitete Lebensmittel und eine ab-
ren, wenn überhaupt noch kein Verordnungsentwurf sei- wechslungsreiche und ausgewogene Ernährung. Curry-
tens der EU vorliegt. Für meine Fraktion ist von daher wurst und Schokolade gehören gelegentlich genauso
die intensive Befassung mit dieser Verordnung verfrüht. dazu wie der frische Apfel. Produkte mit Gesundheits-
Wir können ihn erst dann beraten, wenn er tatsächlich versprechen hingegen fördern einseitiges Essen und
vorliegt. Alles andere ist zunächst einmal Spekulation. Fehlernährung.
Absehbar ist aber schon jetzt, dass mit dieser Verord- Den haltlosen Gesundheitsversprechen der Herstel-
nung ein Bürokratiemonster droht. Denn mit der Defini- ler soll mit der sogenannten Health-Claim-Verordnung
tion von Nährwertprofilen besteht die Gefahr, dass durch die EU Einhalt geboten werden. In Zukunft darf
kleine und mittlere Unternehmen durch kostspielige, bü- nur noch auf den Verpackungen stehen, was wissen-
rokratische Zulassungsverfahren von der Nutzung ge- schaftlich bewiesen ist. So sollen der Wildwuchs an Wer-
sundheitsbezogener Aussagen ausgeschlossen werden. beaussagen eingedämmt und die Verbraucherinnen und
Das wollen wir, das müssen wir verhindern. Die Priori- Verbraucher vor irreführender Werbung geschützt wer-
tät muss auf einer gesunden Ernährung liegen und nicht den.
auf der Mehrung der Bürokratie. Nicht zuletzt liegt eine
klare Kennzeichnung im Interesse der Unternehmen, die Die Linke bewertet die gesundheitsbezogene Wer-
sonst Gefahr laufen, das Vertrauen ihrer Kunden zu ver- bung von Lebensmitteln grundsätzlich kritisch. Lebens-
spielen. Deswegen wird die FDP gemeinsam mit Unter- mittel sind keine Arzneimittel. Der angebliche Zusatz-
nehmen nach den besten Lösungen für dieses Thema su- nutzen dient vor allem der Absatzförderung in einem
chen. übersättigten Lebensmittelmarkt. Die Lebensmittelkon-
zerne locken mit Nahrung fürs schlechte Gewissen – und
In einem Punkt allerdings erhält der Antrag unsere das, obwohl viele Verbraucherinnen und Verbraucher
volle Zustimmung, und zwar bei der Forderung nach ei- weder einen hohen Cholesterinspiegel haben noch zu-
ner klaren Trennung von Lebens- und Arzneimitteln. sätzliche Vitamine benötigen. Laut Schätzungen der

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11069
Karin Binder
(A) Branche erwartet man von den „funktionellen Lebens- nicht Nahrungsergänzungsmittel die Grundvorausset- (C)
mitteln“ einen Marktzuwachs auf 90 Milliarden Dollar zung für eine gute Gesundheit, sondern eine abwechs-
bis 2013. Diese Zahl steht für einen dreisten Versuch der lungsreiche und ausgewogene Ernährung. Unnötige und
organisierten Verbrauchertäuschung. gesundheitsbedenkliche Anteile sollten grundsätzlich in
allen Lebensmitteln gesenkt werden. Verbraucherinnen
Dennoch kann die Health-Claims-Verordnung in der und Verbraucher müssen sich bei ihrer Lebensmittelaus-
jetzigen Fassung die Wildwüchse gesundheitsbezogener wahl auf klare, zutreffende und verlässliche Informatio-
Werbung in vernünftige Bahnen lenken. Denn die bishe- nen stützen können.
rige Bilanz der Bewertung der von den Lebensmittelher-
stellern beantragten Claims ist verherrend. Bei rund Die Linke erwartet von der Bundesregierung, sich da-
80 Prozent der Werbebotschaften suchte die internatio- für einzusetzen, dass die Ausnahmen bei den Nährwert-
nale Expertengruppe der EFSA – das ist die europäische profilen auf unverarbeitete Lebensmittel begrenzt wer-
Behörde für Lebensmittelsicherheit – vergebens nach den und Süßwaren grundsätzlich nicht als gesund
Belegen für die heilsame Wirkung mancher Vitamine beworben werden dürfen, dass die Grenzwerte ungesun-
und Mineralien. In Zukunft sollen sich die Verbrauche- der Nährstoffanteile grundsätzlich gesenkt werden, Bal-
rinnen und Verbraucher darauf verlassen können, was laststoffe Mindestgrenzwerte enthalten und Transfett-
auf der Packung steht. Das ist der Wille der EFSA. Die säuren in die Nährwertprofile aufgenommen und dass
Linke unterstützt deshalb die Verordnung ausdrücklich. Verbraucherverbände in die Nährwertprofilbestimmung
Wichtig bei der Beurteilung von Lebensmitteln ist einbezogen werden. Lassen wir uns nicht von der Le-
aber nicht nur der wissenschaftliche Nachweis, ob ein bensmittelindustrie in die Suppe spucken.
behaupteter Zusatznutzen tatsächlich gesundheitsför-
dernd oder krankheitshemmend ist. Die Voraussetzung Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
für Lebensmittelwerbung muss auch an die Frage ge- Die Debatte um die Health-Claims-Verordnung ist ein
knüpft werden, ob das Produkt insgesamt gesund ist. Da- Beispiel für die Diskrepanz zwischen den großen Ver-
her werden sogenannte Nährwertprofile erstellt. Sie be- braucherschutzankündigungen von Ministerin Aigner
schreiben die gesamte Nährstoffzusammensetzung eines – und ihrer bisherigen Staatssekretärin Julia Klöckner –
Lebensmittels. So können die Grenzen festgelegt werden, und dem tatsächlichen Engagement für die Interessen
ab denen nährwert- oder gesundheitbezogene Angaben der Verbraucherinnen und Verbraucher.
nicht verwendet werden dürfen. Nährwertprofile verhin-
dern also, dass unausgewogenes Essen mit gesundheits- Fast vier Jahre sind seit dem Inkrafttreten der
bezogenen Aussagen beworben wird. Das stößt den Le- Health-Claims-Verordnung am 1. Juli 2007 vergangen.
bensmittelkonzernen sauer auf, weshalb sie die Profile Drei Jahre lang ist Frau Aigner für dieses Thema zu-
(B)
zum Schaden der Verbraucherinnen und Verbraucher ständig, aber getan hat sich seitdem nichts. Der letzte (D)
aufweichen wollen. Eintrag auf der Homepage des Bundesministeriums zum
Thema Health Claims stammt vom August 2007. Wir
Einige Kompromisse haben einen allzu merkwürdi- warten auch immer noch auf die Nährwertprofile, die
gen Beigeschmack: Zukünftig sollen Produkte, die viel von der EU-Kommission als Grundlage für die Bewer-
Salz, Zucker oder Fett enthalten, nur eingeschränkt mit tung von „gesunden“ Lebensmitteln festgelegt werden
positiven Gesundheitsversprechen beworben werden sollten. Das Bundesinstitut für Risikobewertung, BfR,
können. Beispiel: Ein Fruchtgummi, der mit „fettarm“ das Aigners Ministerium untersteht, hat sich nachdrück-
beworben werden soll, aber viel Zucker enthält, muss lich für eine konsequente Umsetzung der Nährwert-
nunmehr ausdrücklich auf den hohen Zuckergehalt hin- profile mit strengen Kriterien für Fett, Salz und Zucker
weisen. ausgesprochen – bislang leider ohne nennenswerte Re-
Diese Regelung trägt deutlich die Handschrift der Le- sonanz im Ministerium. Dabei zeigt das Beispiel Däne-
bensmittellobby. Die Linke fordert, dass Süßwaren mark mit strengen Vorgaben zum Beispiel für Trans-
grundsätzlich nicht als gesund beworben werden dürfen. fettsäuren, dass hohe Qualitätskriterien keineswegs
Sie dienen nicht der gesunden Ernährung – ob mit oder nachteilige Folgen für die Ernährungswirtschaft haben
ohne Vitamin-C-Anreicherung. Der Zusatznutzen von müssen, sondern sogar zum entscheidenden Innovations-
Süßwaren sollte das Naschen bleiben. motor für eine ganze Branche werden können.
Die Linke fordert eine schnelle Veröffentlichung der Solange Frau Aigner und ihre Staatssekretäre – ob sie
Nährwertprofile, wie sie die EU-Kommission vorsieht. nun Julia Klöckner oder Peter Bleser heißen – jede Ini-
Eigentlich hätte diese bis Anfang 2009 erfolgen müssen. tiative bei den Health Claims vermissen lassen, jubelt
Die EU-Kommission und die EFSA scheinen aber unter die Ernährungsindustrie weiter mit gesundheitsbezoge-
dem massiven Druck der Lebensmittellobby zu zögern. nen Aussagen den Verbrauchern für teures Geld zucker-,
Der Grund: Allein in Deutschland machen die Lebens- salz- oder fettreiche Produkte unter. Außerdem bereiten
mittelunternehmen jährlich einen Umsatz von 5 Milliar- die Konzerne in aller Ruhe bereits Ausweichstrategien
den Euro mit „funktionellen Lebensmitteln“. Die Le- für mögliche zukünftige Verschärfungen vor. Mit Soft
bensmittellobby hat es bereits geschafft, die Verordnung Claims, also indirekten Bezügen zu Gesundheitsaspek-
auszuhöhlen. Ausnahmen bei den Nährwertprofilen wer- ten, wird eine gesundheitsfördernde Wirkung der Pro-
den zugelassen und Grenzwerte erhöht. Der Süßwaren- dukte suggeriert, ohne dass der Regelungsbereich der
verband hofft auf eine vollständige Verhinderung. Um es Health-Claims-Verordnung betroffen ist: „So wichtig
noch einmal deutlich zu machen: Für die Linke sind wie das tägliche Glas Milch“ – Werbung für „Ehrmann

Zu Protokoll gegebene Reden


11070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Ulrike Höfken
(A) Monsterbacke“ mit umgerechnet 4 Stück Würfelzucker braucherschutz wirklich ernst meinen, müssen sie heute (C)
pro Packung. Damit werden gerade die Bevölkerungs- unserem Antrag zustimmen und ihre einseitige Klientel-
gruppen zu einem ungesunden Ernährungsverhalten politik für die Interessen der Lebensmittelindustrie end-
motiviert, die eine gesunde Ernährung dringend benöti- lich aufgeben.
gen, wie zum Beispiel Kinder oder ältere Menschen. Da-
bei steigt die Zahl der Menschen mit Fehlernährung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
dramatisch, wie die Antwort der Bundesregierung auf Wir kommen zur Abstimmung.
unsere Kleine Anfrage zur Bekämpfung von Überge-
wicht, Bundestagsdrucksache 17/3808, bestätigt. Diese Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Entwicklung hat katastrophale Folgen für die Gesund- Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
heit der Betroffenen, aber auch für die Kosten unseres lung auf Drucksache 17/4892, den Antrag auf Drucksa-
Gesundheitssystems: Die Folgekosten ernährungsbe- che 17/4015 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschluss-
dingter Krankheiten werden auf bis zu 90 Milliarden empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die
Euro geschätzt – jährlich. Koalitionsfraktionen waren dafür und die Oppositions-
fraktionen dagegen. Die Beschlussempfehlung ist damit
Sicher hängt die erfolgreiche Umsetzung der Health- angenommen.
Claims-Verordnung nicht nur von den Aktivitäten der
deutschen Bundesregierung ab. Leider ist diese Thema- Tagesordnungspunkt 24:
tik aber nicht das einzige Beispiel dafür, wie wenig sich Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Frau Aigner für die deutschen Verbraucher und wie Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel,
stark sie sich für die Ernährungsindustrie einsetzt. In Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
den Verhandlungen über die Lebensmittel-Info-Verord- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nung hätte sich Aigner dem klaren Votum von Verbrau-
cherschützern, Ärzteverbänden und Krankenkassen an- Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfah-
schließen können und für eine europaweite Einführung ren – Konsequenzen aus der Entscheidung des
der Ampelkennzeichnung kämpfen oder sich wenigstens Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
für eine verpflichtende Umsetzung dieser verbraucher- rechte ziehen
freundlichen Auslobung in Deutschland stark machen – Drucksache 17/4886 –
können. Stattdessen stellt sie sich schützend vor die In-
Überweisungsvorschlag:
dustrie und deren für die Praxis völlig untaugliches Innenausschuss (f)
GDA-Modell: empfohlene Tagesmengen von Zucker, Rechtsausschuss
Salz, Fett, gesättigte Fettsäuren und Kalorien pro Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
(B) 100 Gramm des jeweiligen Produkts und in Prozent der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (D)
empfohlenen Tagesmenge. Aigner geht sogar so weit Ihre Reden zu Protokoll geben die Kolleginnen und
und verdreht die Aussagen einer Studie ihres eigenen Kollegen Brandt, Veit, Wolff (Rems-Murr), Jelpke und
Ministeriums, die klar besagen, dass eine farbliche Winkler.
Kennzeichnung für die Verbraucher wesentlich sinnvol-
ler ist als das GDA-Konzept.
Helmut Brandt (CDU/CSU):
Diese Grundhaltung der Ministerin lässt auch für die In ihrem Antrag fordert die Fraktion Bündnis 90/Die
neue Internetplattform „Klarheit & Wahrheit“ nicht viel Grünen die Bundesregierung auf, den in § 18 Abs. 2,
Gutes erwarten, obwohl der Ansatz und die Umsetzung §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und § 75 AsylVfG vorgesehenen
durch den Verbraucherzentralen-Bundesverband sicher- Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes gegen Über-
lich richtig sind. Doch die widersprüchlichen Aussagen stellungen nach Griechenland im Rahmen der Dublin-
von Ilse Aigner und die vor allem von den Koalitions- II-Verordnung aufzuheben. Außerdem wird die Bundes-
fraktionen vorgebrachten massiven Angriffe gegen das regierung aufgefordert, sich im Rat im Rahmen der Ver-
Projekt der eigenen Ministerin bei der Diskussion im handlungen über die Neufassung der Dublin-II-Verord-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- nung dafür einzusetzen, dass Asylantragstellern der
cherschutz am 27. Oktober 2010 lassen befürchten, dass Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf in Einklang
auch bei diesem Thema nach großen Ankündigungen mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
nur ein windelweich gespültes Konzept übrig bleibt, das für Menschenrechte sowie den gemeinschafts- und völ-
der Industrie nicht weh tut und die Verbraucherinnen kerrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten ga-
und Verbraucher mit ihrem Wunsch nach transparenter, rantiert wird.
ehrlicher Information allein lässt.
Hintergrund des vorliegenden Antrags ist eine Ent-
Wir fordern die Bundesregierung daher auf, sich für scheidung des Europäischen Gerichtshofes für Men-
eine zügige Umsetzung strenger, wissenschaftlich be- schenrechte vom 21. Januar 2011. In dem Verfahren
gründeter Nährwertprofile einzusetzen. Außerdem muss M. S. S. gegen Belgien und Griechenland hat die Große
die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde, EFSA, Strafkammer des Europäischen Gerichtshofes für Men-
dringend reformiert werden. Immer wieder wurden enge schenrechte festgestellt, dass Belgien mit der Überstel-
Verflechtungen von EFSA-Mitarbeitern mit der Lebens- lung des Beschwerdeführers nach Griechenland auf-
mittel- und Gentechnikindustrie aufgedeckt, die eine se- grund der dortigen Haft- und Lebensbedingungen gegen
riöse Prüfung von Health Claims unmöglich machen. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention ver-
Wenn Union und FDP ihre Ankündigungen zum Ver- stoßen habe.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11071
Helmut Brandt
(A) Begründet wird der Antrag von Bündnis 90/Die Grü- Das heißt, die einstweiligen Anordnungen, auf die Sie (C)
nen mit den durch den Gerichtshof festgestellten men- in Ihren Anträgen abgestellt haben, enthielten keine ab-
schenrechtswidrigen Bedingungen in Griechenland, die schließenden Aussagen zur Zulässigkeit der Überstel-
die Möglichkeit einer rechtlichen Überprüfung mit auf- lungen nach Griechenland. Sie enthielten vor allem
schiebender Wirkung in Deutschland unerlässlich auch keine Beurteilung der Situation in Griechenland
machten. durch das Gericht.
Ihren Antrag lehnen wir ab, da Ihre Forderungen Zum anderen hat das Bundesamt für Migration und
durch eine Entscheidung des Bundesinnenministers vom Flüchtlinge der schwierigen Situation in Griechenland
19. Januar dieses Jahres obsolet geworden sind. bereits 2009 und 2010 Rechnung getragen, indem es bei
besonders schutzbedürftigen Personen, zum Beispiel für
Am 19. Januar 2011 hat das Bundesinnenministerium Minderjährige, für Flüchtlinge hohen Alters, oder bei
entschieden, dass mit sofortiger Wirkung für die Dauer denen Schwangerschaft, ernsthafte Erkrankungen, Pfle-
eines Jahres keine Überstellungen von Drittstaatsange- gebedürftigkeit oder eine besondere Hilfebedürftigkeit
hörigen nach der sogenannten Dublin-Verordnung nach vorlag, von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3
Griechenland durchgeführt werden sollen. Das Bundes- Abs. 2 Dublin-II-Verordnung sehr großzügig Gebrauch
amt für Migration und Flüchtlinge wurde gebeten, ent- gemacht und von einer Überstellung nach Griechenland
sprechend zu verfahren. Deutschland wird in diesen Fäl- abgesehen hat. So machte das Bundesamt 2009 in
len von seinem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 3 circa 700 Fällen von seinem Selbsteintrittsrecht Ge-
der Dublin-II-Verordnung Gebrauch machen und die brauch. Dem standen nur circa 200 Überstellungen ge-
Asylverfahren in Deutschland durchführen. genüber. Im Jahr 2008 war das Größenverhältnis noch
Hintergrund dieser Entscheidung ist eine Empfehlung umgekehrt. 222 Überstellungen standen 130 Selbstein-
des Bundesverfassungsgerichts. Denn die Problematik tritten gegenüber. Das Bundesamt hat also auch in den
von Überstellungen von Deutschland nach Griechen- beiden vergangenen Jahren einen sehr verantwortungs-
land nach dem sogenannten Dublin-Verfahren war, wie vollen Umgang mit der tatsächlichen Situation bewie-
Sie ja selbst wissen, auch Gegenstand von Verfahren vor sen.
dem Bundesverfassungsgericht. Außerdem haben Sie selbst in Ihrer Begründung fest-
gestellt, dass sich die Mehrheit der Verwaltungsgerichte
Zuletzt hatte das Bundesverfassungsgericht am
in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gegen Ab-
28. Oktober 2010 mündlich über die Verfassungsbe-
schiebungsanordnungen des Bundesamtes für Migration
schwerde eines irakischen Asylbewerbers verhandelt,
und Flüchtlinge über die Gesetzeslage rechtsfortbildend
2 BvR 2015/09, mit der dieser die Verfassungswidrigkeit
(B) des Ausschlusses von vorläufigem Rechtsschutz hin- hinweggesetzt haben. (D)
sichtlich seiner Überstellung von Deutschland nach Mit der Entscheidung des Bundesinnenministeriums,
Griechenland geltend machte. Kurz nach der mündli- für die Dauer eines Jahres keine Überstellungen von
chen Verhandlung gab es eine Sondierung des Gerichts Drittstaatsangehörigen nach der sogenannten Dublin-
bei den Verfahrensbeteiligten zu der Frage, ob sie sich II-Verordnung nach Griechenland durchzuführen und
angesichts des Verlaufs der mündlichen Verhandlung stattdessen von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts
vorstellen könnten, dass das Bundesinnenministerium Gebrauch zu machen, haben sich Ihre Forderungen
von der Möglichkeit des Selbsteintrittsrechts Gebrauch nach einer grundsätzlichen Aufhebung des in § 18
macht. Abs. 2, §§ 27 a, 34 a Abs. 2 und § 75 AsylVfG vorgese-
henen Ausschlusses des vorläufigen Rechtsschutzes ge-
Dieses und vor allem die tatsächliche Entwicklung in
gen Überstellungen nach Griechenland im Rahmen der
Griechenland haben das Bundesinnenministerium ver-
Dublin-II-Verordnung erübrigt.
anlasst, für ein Jahr von seinem Selbsteintrittsrecht ge-
mäß der Dublin-II-Verordnung Gebrauch zu machen. Eine grundsätzliche Einführung einer aufschieben-
Zusätzlich soll damit auch zum Prozess der Konsolidie- den Wirkung von Rechtsbehelfen gegen Rücküberstel-
rung des griechischen Asylsystems beigetragen werden. lungen brauchen wir nicht. Denn das in Art. 3 Abs. 3 der
Dublin-II-Verordnung vorgesehene Instrument des
Ich möchte jedoch an dieser Stelle darauf hinweisen, Selbsteintrittsrechts trägt der jetzigen Situation hinrei-
dass es entgegen der in Ihrem Antrag vom 19. Januar chend Rechnung.
2010 enthaltenen Forderung einer Aussetzung von
Rücküberstellungen richtig war, zunächst die endgültige Und wir wollen sie auch nicht. Wir sind nach wie vor
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwar- der Auffassung, dass auch Griechenland ein sicherer
ten. Drittstaat für Asylbewerber ist. Mit der auf ein Jahr be-
fristeten Entscheidung wird ein weiterer Beitrag zum
Zum einen werden durch Eilentscheidungen des Bun- Prozess der Konsolidierung und Entlastung des griechi-
desverfassungsgerichts eben gerade keine abschließen- schen Asylsystems geleistet. Damit schließt sich
den Bewertungen getroffen. Wie Sie wissen, basieren die Deutschland der Praxis anderer Dublin-Staaten wie
Beschlüsse ausschließlich auf einer Abwägung des Ge- Großbritannien, Schweden, Island und Norwegen an.
richtes zwischen den Folgen, die ohne den Erlass der
einstweiligen Anordnung eintreten, wenn die Hauptsa- Wir stellen mit dieser Entscheidung deshalb nicht das
che für den Antragsteller erfolgreich wäre, und den Fol- Dublin-System als solches infrage. Denn die auf dem
gen für den umgekehrten Fall. Verantwortungsgrundsatz basierenden Zuständigkeits-

Zu Protokoll gegebene Reden


11072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Helmut Brandt
(A) regelungen der Dublin-Verordnung und ihres Vorgänger- Hier hat der Bundesinnenminister die volle Unterstüt- (C)
abkommens haben sich in den über zehn Jahren ihrer zung der FDP-Bundestagsfraktion. Damit wird die
Anwendung bewährt. Das Dublin-System bietet die Ga- schwierige Situation berücksichtigt, die in Griechenland
rantie dafür, dass jeder auf dem Gebiet der teilnehmen- für Asylbewerber besteht. Bereits im Jahr 2010 war nur
den Staaten gestellte Asylantrag auch tatsächlich ge- ein kleiner Anteil von Personen überhaupt nach Grie-
prüft wird. Hierzu muss das System weiterhin zügige chenland überstellt worden; in den restlichen Fällen
Entscheidungen und Überstellungen in den zuständigen hatte die Bundesrepublik Deutschland bereits von ihrem
Staat ermöglichen. Wie die jetzige und vergleichbare Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht.
Entscheidungen anderer Staaten zeigen, bietet die Dub-
lin-Verordnung bereits in ihrer geltenden Fassung hin- Das Bundesverfassungsgericht hat als Reaktion auf
reichende Möglichkeiten, um auf außergewöhnliche Si- die Aussetzung die Verfahren, die dort zur Geltendma-
tuationen zu reagieren. chung einstweiligen Rechtsschutzes anhängig waren,
eingestellt. Es ist über die Notwendigkeit eines einstwei-
Die griechische Regierung hat zwischenzeitlich der ligen Rechtsschutzes also nicht entschieden worden. Die
Kommission einen anspruchsvollen nationalen Aktions- Bundesregierung geht sehr verantwortungsvoll mit dem
plan vorgelegt, der eine bessere Bewältigung des Zu- Mechanismus um: Für ein Jahr sind nun Rückführungen
stroms von Flüchtlingen und Migranten nach Griechen- ausgesetzt; bereits im vergangenen Jahr wurden nur
land sicherstellt und Defizite in der Behandlung von 50 Personen nach Griechenland zurückgeschoben, beim
Flüchtlingen und Migranten beseitigen soll. Die Mit- Rest wurde vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht.
gliedstaaten der Europäischen Union – darunter auch Gleichzeitig können Staaten wie Griechenland nicht be-
Deutschland –, die Kommission und der UNHCR haben vorzugt werden, wenn sie die Standards nicht einhalten:
Griechenland substanzielle Unterstützung bei der Um- Der Druck muss aufrecht erhalten bleiben. Dennoch hat
setzung der geplanten Maßnahmen zugesagt und werden die Bundesregierung konkrete Hilfe für die griechischen
– wie bisher – in koordinierter und vielfältiger Weise Behörden angeboten – hinsichtlich der menschenwürdi-
helfen. gen und schnelleren Gestaltung der Asylverfahren und
Die Entscheidung ist auf ein Jahr befristet, weil da- der Rahmenbedingungen hierzu ist dieses ebenso wie
von auszugehen ist, dass in dieser Zeit substanzielle Ver- zur stärkeren Grenzsicherheit vonnöten.
besserungen in Griechenland erreicht werden können.
Nicht zuletzt aufgrund der Verhältnisse in Griechen-
Dies werden wir ebenso wie das Bundesinnenministe- land, des Urteils des EGMR und der Verfassungsge-
rium genauestens beobachten und gegebenenfalls eine richtsbeschlüsse zu Dublin II muss man über das System
Anschlussregelung prüfen. nachdenken und das auch bei den anstehenden Verhand-
(B) lungen zum Ausdruck bringen. Eine Nachjustierung er- (D)
Rüdiger Veit (SPD): scheint erforderlich. In diesem Zusammenhang wie die
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist Antragsteller, plakativ von „menschen- und europa-
zuzustimmen. Das Urteil der Großen Kammer des Euro- rechtswidrigen Bestimmungen des deutschen Rechts“ zu
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Ja- sprechen, ist aber überzogen. Die FDP wird in der Koa-
nuar 2011 verlangt auch aus unserer Sicht eine Ände- lition mit der CDU/CSU die Asylpolitik weiterhin ver-
rung der Dublin-II-Verordnung sowie des Asylverfah- antwortungsbewusst und sensibel entwickeln und die
rensgesetzes. EU-Planungen konstruktiv begleiten.
Insbesondere die Regelung im Asylrecht, nach der die
aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels gegen eine Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Dublin-II-Rückführung ausgeschlossen ist, verstößt ge- Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
gen europäisches Menschenrecht. Dies hat auch das am 21. Januar dieses Jahres eine aufsehenerregende
Bundesverfassungsgericht in mehreren Eilentscheidun- Entscheidung getroffen. Er sprach einem irakischen
gen, in denen es eine aufschiebende Wirkung eingelegter Asylsuchenden Schadensersatz zu. Erstens, weil dieser
Rechtsmittel gegen Rückführungen nach Griechenland in Griechenland eine menschenunwürdige Behandlung
aufgrund einer „grundrechtskonformen Auslegung“ des zu erleiden hatte. Zweitens, weil er von Belgien im Rah-
§ 34 a Abs. 2 AsylVerfG bejaht hat, so gesehen. Ebenso men der Zuständigkeitsregelungen der EU für Asylver-
urteilten verschiedene Verwaltungsgerichte quer durch fahren nach Griechenland zurückgeschoben worden
die gesamte Republik. war, ohne dass er gegen diese Entscheidung wirksame
Die Forderung der Kolleginnen und Kollegen der Rechtsmittel einlegen konnte. Er konnte also nicht er-
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen ist mithin nicht folgreich gerichtlich dagegen angehen, in einen Staat
nur eine logische Konsequenz aus der Entscheidung des überstellt zu werden, in dem ihm schwere Menschen-
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, son- rechtsverletzungen drohen.
dern auch aus der deutschen Rechtsprechung. Diese Zuständigkeitsregelungen in der EU sind in der
sogenannten Dublin-II-Verordnung niedergelegt. Dem-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): nach ist immer der Staat für die Durchführung des Asyl-
Das Bundesministerium des Inneren hat im Januar verfahrens zuständig, über den ein Asylbewerber in die
für ein Jahr alle Überstellungen nach der Dublin-II-Ver- EU eingereist ist. In den letzten Jahren waren das vor al-
ordnung nach Griechenland für ein Jahr ausgesetzt. lem Italien und Griechenland.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11073
Ulla Jelpke
(A) Über die Zustände im griechischen Asylsystem ist Situationen wie in Griechenland, in denen eine Re- (C)
hier schon breit debattiert worden. Mittlerweile hat auch gierung nicht in der Lage oder nicht willens ist, die An-
die Bundesregierung eingestanden, dass die Zustände forderungen an ein faires Asylverfahren oder eine men-
dort für Asylbewerber unzumutbar sind und kein faires schenwürdige Aufnahme von Schutzsuchenden zu
Asylverfahren gewährleistet ist. Die Überstellung von erfüllen, können jederzeit auch in jedem anderen Land
Asylsuchenden wurde nun zumindest erst einmal für ein der EU auftreten. Das starre Verteilungssystem der Dub-
Jahr ausgesetzt. Aber die Bundesregierung hat verpasst, lin-II-Verordnung muss deshalb durch ein System ersetzt
eine andere wichtige Konsequenz aus dem Urteil des werden, das sowohl die Bedürfnisse der Betroffenen als
Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs zu ziehen. auch die ökonomische Leistungsfähigkeit der Mitglied-
Auch in Deutschland haben Asylsuchende, die über ei- staaten berücksichtigt. Sollten sich in den nächsten Wo-
nen anderen Mitgliedstaat des Dublin-Systems einge- chen tatsächlich Zehntausende Flüchtlinge aus Libyen
reist sind, keinen wirksamen Rechtsschutz. Sie erfahren in Richtung Italien auf den Weg machen, ist dort eine hu-
überhaupt erst am Tag ihrer Abschiebung, dass ihr Asyl- manitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes vorprogram-
antrag abgelehnt wurde. Somit bleibt ihnen keine Mög- miert. Diese kann nur mit einer sofortigen und umfas-
senden Reform des Dublin-Systems verhindert werden.
lichkeit mehr, dagegen zu klagen.
Der Antrag der Grünen fordert deshalb von der Bun- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
desregierung Änderungen an den entsprechenden Rege- NEN):
lungen im Asylverfahrensgesetz vorzuschlagen und sich Am 21. Januar 2011 hatte der Europäische Men-
bei der Neuverhandlung der Dublin-II-Verordnung für schenrechtsgerichtshof, EGMR, Griechenland und Bel-
entsprechende Verfahrensgarantien einzusetzen. Das gien wegen der Verletzung der Europäischen Menschen-
geht uns alles nicht weit genug. Nach Ansicht der Frak- rechtskonvention, EMRK, verurteilt (Beschwerde
tion Die Linke ist durch diese Entscheidung die gesamte Nr. 30696/09). Entschieden wurde der Fall eines afgha-
Drittstaatenregelung als Teil des Asylkompromisses von nischen Asylsuchenden, der 2009 über den Iran, die
1993 infrage gestellt. Denn dort wurde schon festgelegt, Türkei und Griechenland nach Belgien geflohen war, wo
dass nur noch eingeschränkten Rechtsschutz erhält, wer er Asyl beantragte. Er wurde aber wegen der Zuständig-
über einen vermeintlich sicheren Drittstaat nach keitsregeln aus der Dublin-II-Verordnung von Belgien
Deutschland einreist und hier einen Asylantrag stellt. Si- nach Griechenland zurücküberstellt.
chere Drittstaaten sind per definitionem alle EU-Mit- Der EGMR hat festgestellt, dass Griechenland auf-
glieder. Doch nicht nur das Beispiel Griechenland zeigt, grund der dortigen Haft- und Lebensbedingungen, denen
dass die Mitgliedschaft in der EU nicht gleich zum si- der schutzsuchende Beschwerdeführer dort ausgesetzt
(B) cheren Drittstaat qualifiziert. war, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, (D)
Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Be-
In den vergangenen Tagen hat die Flüchtlingsorgani-
handlung oder Strafe, verletzt hat. Wegen der zahlrei-
sation Pro Asyl einen schockierenden Bericht über die
chen Defizite in seinem Asylverfahren hat Griechenland
Lage im italienischen Asylsystem vorgelegt. Demnach zudem Art. 13 der Konvention, Anspruch auf rechtliches
ist die Lebenssituation dort nicht nur für Asylbewerber, Gehör, in Verbindung mit Art. 3 verletzt.
sondern auch für anerkannte Flüchtlinge verheerend.
Dieser Ansicht sind bereits mehrere Verwaltungsge- Der Gerichtshof hat weiterhin festgestellt, auch Bel-
richte und der Europäische Gerichtshof für Menschen- gien habe die Europäische Menschenrechtskonvention
rechte gefolgt und haben Dublin-Überstellungen nach verletzt, als es den Beschwerdeführer im Rahmen der
Griechenland verhindert. Die Zahl der Asylbewerber Dublin-II-Verordnung nach Griechenland überstellte:
überstieg in Italien die Zahl der Plätze in staatlich fi- Zum einen habe Belgien gegen Art. 3 EMRK verstoßen,
nanzierten Unterkünften zum Teil um das Zehnfache. indem es den Beschwerdeführer den Gefahren ausge-
Wer einen Platz in einer solchen Unterkunft erhält, muss setzt habe, die sich aus den Mängeln im Asylverfahren
sie nach sechs Monaten wieder verlassen, egal wie der und aus den Haft- und Lebensbedingungen in Griechen-
Stand des Asylverfahrens ist. Die Asylsuchenden werden land ergaben. Zum anderen sei Art. 13 EMRK, in Verbin-
systematisch in die Obdachlosigkeit getrieben. Sie er- dung mit Art. 3 EMRK, dadurch verletzt worden, dass es
halten auch sonst keine staatliche Unterstützung, die ih- keine Möglichkeit für den Beschwerdeführer gegeben
nen ein Existenzminimum garantieren würde. Viele le- hatte, in Belgien gegen die Entscheidung, ihn nach Grie-
ben in besetzten Häusern oder auf Brachflächen und chenland zu überstellen, wirksame Rechtsmittel einzule-
müssen sich ohne jede staatliche Unterstützung durch- gen.
schlagen. Wer aber über keinen festen Wohnsitz verfügt, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
erhält auch keine Krankenversicherungskarte. Davon in dieser Grundsatzentscheidung unmissverständlich
sind nach Angaben der Behörden in Italien 88 Prozent klargestellt, dass die Haft- und Lebensbedingungen für
der nach dem Dublin-Verfahren überstellten Asylsu- Flüchtlinge in Griechenland gegen die Menschenrechte
chenden betroffen. Besonders betroffen von dieser ganze verstoßen. Andere europäische Staaten dürfen Asylsu-
Situation sind, wie immer, besonders schutzbedürftige chende daher nicht nach Griechenland überstellen. Das
Menschen: unbegleitete Minderjährige, alleinreisende Gericht hat auch festgestellt, dass ein Schutzsuchender
Frauen und jene, die durch die erlittenen Menschen- in jedem Fall vor einer Rückführung in einen anderen
rechtsverletzungen in ihrem Herkunftsland traumatisiert EU-Mitgliedstaat die Möglichkeit einer effektiven recht-
sind. lichen Überprüfung mit aufschiebender Wirkung haben

Zu Protokoll gegebene Reden


11074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Josef Philip Winkler


(A) muss. Eine solche Möglichkeit gibt es aber nach gelten- Sowohl die Dublin-II-Verordnung als auch die Asyl- (C)
dem deutschem Recht nicht. Diese Entscheidung des verfahrensrichtlinie befinden sich derzeit auf EU-Ebene
EGMR hat unmittelbare und weitreichende Folgen für in der Neuverhandlung. Die klare neue Rechtsprechung
den Rechtsschutz im Asylverfahren in Deutschland. des EGMR ist bei der Neuformulierung des EU-Rechts
Denn die deutsche Regelung, wonach die aufschiebende so umzusetzen, dass alle Mitgliedstaaten klare und ver-
Wirkung von Rechtsmitteln gegen eine Dublin-Überstel- bindliche Vorgaben für EMRK- und europarechtskonfor-
lung ausgeschlossen ist, ist mit der Europäischen Men- men effektiven Rechtsschutz erhalten. Nachdem die Bun-
schenrechtskonvention nicht vereinbar. Seit den mit dem desregierung diese Vorschläge bisher abgelehnt hat,
1. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten muss sie nun ihre Verhandlungsposition anpassen und
Änderungen wurde über § 34 a Abs. 2 AsylVfG der einst- ihre bisherige Blockadehaltung aufgeben.
weilige Rechtsschutz in Deutschland gegen Entschei-
dungen im Verfahren nach der Dublin-II-Verordnung ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nerell ausgeschlossen. Vom Ausland aus kann ein Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
effektiver Rechtsschutz vor deutschen Verwaltungsge- Drucksache 17/4886 an die in der Tagesordnung aufge-
richten nicht greifen. Ein Rechtsbehelf ist nur dann führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
wirksam, wenn irreparable Folgen, wie sie durch die so- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlos-
fortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme vor sen.
deren gerichtlicher Überprüfung eintreten können, so-
weit als möglich ausgeschlossen werden können. Tagesordnungspunkt 25:

Aus dem EGMR-Urteil müssen daher grundlegende Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Änderungen für das deutsche Asylverfahrensrecht fol- Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius,
gen. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Kleine Anfrage der Linksfraktion (Drucksache 17/4827) NIS 90/DIE GRÜNEN
vom 21. Februar 2011 mitgeteilt, dass sie derzeit prüft, Transparenter Stresstest für die Leistungsfä-
wie sich Passagen der EGMR-Entscheidung zur Rege- higkeit des Bahnprojektes Stuttgart 21
lung des § 34 a Abs. 2 AsylVfG verhalten.
– Drucksache 17/5041 –
Im vorliegenden Antrag fordern wir die Bundesregie- Überweisungsvorschlag:
rung auf, unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
mit dem der in § 18 Abs. 2, § 27 a, § 34 a Abs. 2 und § 75 Haushaltsausschuss
AsylVfG vorgesehene Ausschluss des vorläufigen Ihre Reden zu Protokoll geben die Kollegen Ulrich
(B) Rechtsschutzes gegen Überstellungen im Rahmen der (D)
Lange, Steffen Bilger, Ute Kumpf, Werner Simmling,
Dublin-II-Verordnung aufgehoben wird und gegen der- Sabine Leidig und Winfried Hermann.
artige Überstellungen im deutschen Recht ein effektiver
Rechtsschutz gemäß der Europäischen Menschenrechts-
konvention und europarechtlichen Vorgaben festge- Ulrich Lange (CDU/CSU):
schrieben wird. Der EGMR hat in seiner Entscheidung Die Grünen haben durch die von ihr selbst initiierten
vom 21. Januar 2011 das belgische Rechtsschutzsystem Demonstrationen gegen Stuttgart 21 in Baden-Württem-
für unvereinbar mit Art. 13 EMRK erklärt, obwohl es im berg viel Zustimmung erhalten. Sie waren in einen Hö-
Gegensatz zum deutschen Recht sogar noch einen henrausch der Umfragen geraten. Aber dann kam das
– wenn auch äußerst eingeschränkten – Eilrechtsschutz von ihnen geforderte Schlichtergespräch mit Heiner
vorsah. Für das deutsche Recht bedeutet dies, dass der Geißler. Das Ergebnis hat den Grünen nicht gefallen,
völlige Ausschluss durch § 34 a Abs. 2 AsylVfG erst die Grünen haben es nie akzeptiert. Und deshalb disku-
recht gegen die EMRK verstößt. tieren wir heute im Bundestag erneut das Thema.
Es waren die Grünen, die einen gemeinsamen Tisch
Es bietet sich an, diese gesetzgeberischen Maßnah- unter einem Schlichter Heiner Geißler gefordert haben.
men im Rahmen des geplanten 2. EU-Richtlinienumset- Die baden-württembergische Landesregierung hat dem
zungsgesetzes zum Beispiel in das Richtlinienumset- zugestimmt. Es wurde sehr hart und kontrovers, aber
zungsgesetz zu integrieren. Dieses will unter anderem meist sachlich gestritten. Heiner Geißler hat seinem Na-
die Rückführungsrichtlinie, Richtlinie 2008/115/EG, in men als unabhängiger Schlichter alle Ehre gemacht.
nationales Recht umsetzen, die in ihrem Art. 13 ebenfalls Für diese Leistung möchte ich ihm meinen Dank erneut
die Gewährung effektiven Rechtsschutzes fordert. aussprechen. Das war ein Glanzstück an Diplomatie in
Weiterhin fordern wir die Bundesregierung im vorlie- einer ausweglos erscheinenden Situation.
genden Antrag auf, sich in den Verhandlungen über die Dieses Stuttgarter Modell hat sich in dieser schwieri-
Neufassung der Dublin-II-Verordnung sowie der Asyl- gen Situation nicht nur bewährt, sondern gezeigt, wie in
verfahrens-Richtlinie (2005/85/EG) im Europäischen Zukunft zu Beginn eines Großprojektes verfahren wer-
Rat nachdrücklich dafür einzusetzen, dass Asylantrag- den muss. Wir müssen die Menschen bei allen Großpro-
stellern der Zugang zu einem wirksamen Rechtsbehelf in jekten frühzeitig informieren und aufzeigen, wo der
Einklang mit der EGMR-Rechtsprechung und mit den Sinn, der Nutzen, die Notwendigkeit liegt. Dies war am
gemeinschafts- und völkerrechtlichen Verpflichtungen Anfang bei Stuttgart 21 nicht erfolgt. Unter der erfolg-
der Mitgliedstaaten garantiert wird. reichen Schlichtung von Heiner Geißler wurde dies

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11075
Ulrich Lange
(A) nachgeholt. Was Sie, meine lieben Grünen, aber lernen Steffen Bilger (CDU/CSU): (C)
müssen, ist, das Ergebnis einer solchen Schlichtung Bei dem Antrag der Grünen geht es um eine Ver-
dann auch zu akzeptieren, wenn es anders ausfällt, als pflichtung der Deutschen Bahn AG. Diese hat sich in der
Sie es wünschen oder erwartet haben. Kommen Sie zu Schlichtung unter Heiner Geißler bereit erklärt, einen
der Sachlichkeit zurück, die die Schlichtungsgespräche Stresstest für die Leistungsfähigkeit des unterirdischen
geprägt hat. Durchgangsbahnhofs Stuttgart 21 durchzuführen. Da-
Wir sind von der Leistungsfähigkeit des unterirdi- mit soll der Beweis angetreten werden, dass ein Fahr-
schen Bahnhofs überzeugt. Der von Ihnen angespro- plan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzen-
chene Stresstest wird dies belegen. Wir sind fest davon stunde – zwischen 7 und 8 Uhr am Morgen, also dann,
überzeugt, dass der Bahnknoten Stuttgart 21 einen Leis- wenn der Bahnhof am stärksten gefordert wird – mit gu-
tungszuwachs von 30 Prozent nicht nur über den gesam- ter Betriebsqualität möglich ist. Dabei sind – gemäß
ten Tag verteilt erreichen wird, sondern sogar zu den Schlichterspruch – anerkannte Standards des Bahnver-
Spitzenzeiten. kehrs für Zugfolgen, Haltezeiten und Fahrzeiten zur An-
wendung zu kommen.
Die Bahn ist dabei, den Schlichterspruch zu erfüllen
und den Stresstest entsprechend der Vereinbarung des Den Spezialisten für Fahrpläne der DB Netz AG ste-
Schlichterspruches durchzuführen. Die Bahn wird den hen für diese Modellrechnungen aufwendige Computer-
Stresstest nicht „hinter verschlossenen Türen“ durch- programme zur Verfügung. Als Basis für die notwendi-
führen, wie von den Grünen polemisch unterstellt wird, gen Simulationen und Tests werden alle für Stuttgart 21
sondern sich gemeinsam mit dem Land Baden-Württem- geplanten Bahnanlagen – wie Gleise, Weichen, Signale
berg an das in der Schlichtung vereinbarte Verfahren und Bahnsteige inklusive der Eisenbahnstrecken – rund
halten. Die Firma SMA wird die Durchführung des um Stuttgart übertragen. Die Ergebnisse aus 100 simu-
Stresstestes begleiten und begutachten. Die seitens der lierten Betriebstagen bilden dann die Grundlage, um die
Grünen erhobenen Forderungen nach Einrichtungen ei- Leistungskapazität beurteilen zu können. Das alles wird
nes Steuerungskreises, Beistellung eines Co-Gutachters Zeit in Anspruch nehmen. Mit einem Ergebnis ist des-
vonseiten des Aktionsbündnisses und Federführung halb erst im Sommer 2011 zu rechnen.
durch einen unabhängigen externen Gutachter wurden Oft wurde verwundert gefragt, warum die Leistungs-
im Schlichterspruch in keiner Weise aufgeführt. Sie sind fähigkeit nicht schon lange feststeht. Dabei wird verges-
Ausdruck der Grünen, wieder Unruhe und Streit in die- sen, dass es absolut unüblich ist, bereits zum jetzigen
ses Verfahren zu bringen; die Grünen wollen Sand in das Zeitpunkt einen Fahrplan vorliegen zu haben. Als Stutt-
Getriebe der Schlichtung streuen. gart 21 geplant wurde, lag die Inbetriebnahme bis zu
(B) Die Vorgehensweise der Bahn entspricht den Verein- 20 Jahre in der Zukunft. So weit im Voraus kann kein (D)
barungen: Zum einen ist das Verfahren, welches die DB Fahrplan realistisch aufgestellt werden.
AG dem Stresstest zugrunde legt, das allgemeingültige Bevor ich auf den Antrag eingehe, möchte ich auch
Verfahren für Betriebssimulationen in Deutschland. So- an dieser Stelle noch einmal Heiner Geißler, einem mei-
gar das Eisenbahnbundesamt akzeptiert dies. Außerdem ner Vorgänger als Landesvorsitzender der Jungen
wird die DB AG die Firma SMA, die, wie ich betonen Union Baden-Württemberg, danken. Heiner Geißler hat
möchte, von allen Schlichtungsteilnehmern als Begut- nicht nur dafür gesorgt, wie er immer zu sagen pflegt,
achter des Stresstestes gewünscht wurde, zu Beginn in dass die Beteiligten an, sondern auch die Fakten auf den
alle Aktivitäten des Stresstestes involvieren. Sobald die Tisch kommen. Das ist ihm vorbildlich gelungen. Das
DB AG die ersten Schritte – Eingabe der Infrastruktur- Verfahren hat sehr zur Versachlichung der Debatte bei-
daten in das System, Konstruktion eines Fahrplans für getragen und ist definitiv ein Erfolg. Solche Runden
die Spitzenstunde – abgeschlossen hat, werden die Er- wird es sicherlich in Zukunft auch bei anderen Projekten
gebnisse der Öffentlichkeit vorgestellt und die weitere geben.
Arbeit im Dialogforum zur Diskussion stellen.
Lassen Sie mich noch etwas zum Umgang der Grünen
Das Ergebnis des Stresstestes wird zeigen, welche mit der Schlichtung sagen: Sie haben sie gefordert, jetzt
Leistungsfähigkeit Stuttgart 21 haben wird, und es wird sind sie gegen die Ergebnisse. Sie haben Heiner Geißler
ein weiteres Stück Vertrauen zurückgewinnen, das im vorgeschlagen, jetzt kritisieren sie ihn. Sie haben wie
Vorfeld verloren gegangen war. Wir wollen uns diesem alle anderen Beteiligten den Schlichterspruch akzep-
Stresstest unterziehen, weil es richtig ist, öffentlich dar- tiert, jetzt wollen sie Änderungen. Sie wollen aus wahl-
zulegen, welche Leistungsfähigkeit das Projekt wirklich taktischen Gründen Termine diktieren – etwa bei der
hat. Forderung, den Stresstest vor der Wahl durchzuführen,
Ich fordere Sie auf: Seien Sie doch zumindest jetzt so das ist faktisch nicht möglich – und so weiter. So geht es
viel Demokrat, dass Sie die Ergebnisse des Testes ab- nicht.
warten und sich erst dann ein Urteil bilden. Vorabverur- Wir Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP lehnen
teilungen nutzen niemandem: Baden-Württemberg den Antrag der Grünen unter anderem aus folgenden
nicht, Stuttgart nicht und langfristig auch Ihrer Partei Gründen ab:
nicht, weil Sie sich damit unglaubwürdig machen. Stei-
gen Sie in konstruktive Gespräche ein und suchen Sie Erstens. Die Deutsche Bahn AG wird den Stresstest
gemeinsam mit uns nach Lösungen, die frei von Partei- nicht, wie behauptet, mit selbst definierten Parametern
ideologie und der Stuttgarter Bevölkerung nützlich sind. durchführen. Der Test wird allgemein gültigen Stan-

Zu Protokoll gegebene Reden


11076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Steffen Bilger
(A) dards folgen, die vom Eisenbahn-Bundesamt anerkannt sie zur Versachlichung beigetragen. Durch den intensi- (C)
sind. Außerdem wird die renommierte Schweizer Firma ven Meinungsaustausch von Befürwortern, Bürger-
SMA die Durchführung begleiten und abschließend be- initiativen, Vertretern der Deutschen Bahn AG und
gutachten. Gegnern wurden Ergebnisse geschaffen, die jetzt ausge-
wertet und umgesetzt werden müssen.
Zweitens. Der geforderten Transparenz wird bereits
Rechnung getragen: Das Ergebnis des Stresstests wird In der Schlichtung konnte deutlich gemacht werden,
öffentlich gemacht. Außerdem werden alle Grundlagen dass Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–
der Öffentlichkeit präsentiert. Dann können sie disku- Ulm von herausragender verkehrspolitischer Bedeutung
tiert werden. Schon am 11. März 2011 wurden durch die für ganz Baden-Württemberg sind. Die Projekte sind
DB AG Verfahren, Umfang, Annahmen und Beurtei- verkehrs- wie standortpolitisch ohne ernstzunehmende
lungskriterien sowie die Form der Qualitätssicherung Alternative. Mit einem Durchgangsbahnhof in der Lan-
durch SMA beim ersten Sondierungstreffen für das Be- deshauptstadt Stuttgart, der Anbindung des Landesflug-
gleitforum Stuttgart 21 vorgestellt. Die weiteren Schritte hafens und der neuen Landesmesse sowie der Realisie-
sollen auch in Zukunft regelmäßig in Begleitforen prä- rung der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm wird die
sentiert und diskutiert werden. Mehr Transparenz ist erforderliche Verkehrsinfrastruktur geschaffen, um Ba-
kaum möglich. den-Württemberg in das europäische Hochgeschwindig-
keitsnetz einzubinden. Das Projekt trägt nachhaltig dazu
Drittens. Ja, die Grünen haben recht darin, dass der bei, den Standort Baden-Württemberg auch in Zukunft
Stresstest eine Folge der Schlichtung ist. Und genau da- wettbewerbsfähig zu gestalten. Gleichzeitig wird durch
ran hält sich die Bahn: Sie folgt den während der die neue Infrastruktur eine deutliche Verbesserung des
Schlichtung getroffen Vereinbarungen. Das Aktions- Regionalverkehrs innerhalb Baden-Württembergs er-
bündnis gegen Stuttgart 21 hat übrigens genau diesem reicht; das Projekt nutzt der städtebaulichen Entwick-
Vorgehen der DB AG bereits zugestimmt. Planungssi- lung und erweitert die Kapazität für den Güterverkehr.
cherheit bei von allen akzeptierten Abmachungen geht
auch hier vor nachträglichen „Ich-wünsch-mir-was“- Auch die Gegner des Projekts konnten mit ihren kriti-
Aktionen. schen Einwürfen auf problematische Punkte in dem
Großprojekt Stuttgart 21 hinweisen, die verbesserungs-
Viertens. Im Sinne von Effizienz und ohne unnötige würdig sind und optimiert werden müssen. Heiner
Kostensteigerungen sollten wir die Bahn den Stresstest Geissler hat in seinem Schlichterspruch vom 30. Novem-
durchführen lassen. Wir brauchen hier Handwerker, ber 2010 für eine Berücksichtigung einer Reihe von
keine Mundwerker! Die Grünen sind doch immer die Kritikpunkten der Gegner bei der weiteren Planung und
Ersten, die vor zusätzlichen finanziellen Mehraufwand Durchführung des Projekts Stuttgart 21 plädiert. (D)
(B) warnen und fragen, wer das bezahlen soll.
Schwachstellen wurden identifiziert, die beseitigt werden
Fünftens. Die Grünen haben zwar Schlichter und sollen. Das Projekt Stuttgart 21 soll baulich attraktiver,
Schlichtung gewollt und akzeptiert, wehren sich aber umweltfreundlicher, behindertenfreundlicher und sicherer
jetzt gegen den Grundtenor des Schlichterspruchs. Das gemacht werden. Im Klartext heißt das, aus Stuttgart 21
ist durchaus legitim. Sie verweisen darauf, dass ein sol- wird „Stuttgart 21 plus“.
cher gar nicht im Schlichtungsverfahren angelegt gewe-
Dazu gehört der Stresstest als zentrales Ergebnis der
sen sei. Umso schwerer verständlich ist für mich, dass
Stuttgart-21-Schlichtung. Die SPD unterstützt den
sie sich dann einen Punkt herausgreifen und neue
Stresstest. Mit dieser Computersimulation muss die
Rechte für sich daraus ableiten. Die Kollegen von den
Deutsche Bahn die Leistungsfähigkeit des neuen Bahn-
Grünen picken sich die Rosinen raus. Das ist für uns
hofs nachweisen. Sie muss zeigen, dass der im Bau be-
nicht hinnehmbar. Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer
findliche Tiefbahnhof von Stuttgart 21 in der Spitzen-
also aus Teilen des Schlichterspruchs bestimmtes Ver-
stunde am Morgen bis zu 49 Züge abfertigen kann.
halten abliest, muss auch die ganze Schlichtung anneh-
Andernfalls muss die Infrastruktur nachgebessert oder
men. In letzter Konsequenz bedeutet das: Stuttgart 21
erweitert werden. Sollte der Stresstest die Notwendigkeit
akzeptieren und nicht mehr bei jeder passenden und un-
weiterer Investitionen aufzeigen, muss die Deutsche
passenden Gelegenheit unsachlich dagegen stänkern.
Bahn diese realisieren. Die Bahn muss dabei vor allem
Die zentrale Forderung des Antrags nach Transpa- jedoch die Durchführung, die Auswertung und die Inter-
renz wird erfüllt, alle anderen Forderungen sind unnö- pretation der einzelnen Zwischen- und Endergebnisse
tig. Die akzeptierten Vereinbarungen werden dazu ein- des Stresstests öffentlich und transparent gestalten. Ist
gehalten bzw. noch übertroffen. Somit ist der Antrag er nicht in vollem Umfang transparent, ist das Ergebnis
überflüssig und in Teilen sogar kontraproduktiv. Seine nicht viel wert. Die Bahn darf beim Leistungstest nicht
Ablehnung ist deshalb die richtige Konsequenz. den Eindruck erwecken, hinter verschlossenen Türen zu
agieren. Der Stresstest wird sonst nicht akzeptiert. Die
Schlichtung darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.
Ute Kumpf (SPD):
Die Schlichtung zu Stuttgart 21 und zur Neubaustre- Die SPD hat nach der Schlichtung gefordert, dass der
cke Wendlingen–Ulm war in zweifacher Hinsicht ein Er- Stresstest noch vor den Landtagswahlen am 27. März
folg. Nach dem indiskutablen und überzogenen Einsatz vorliegt. Leider wurde dies von der Deutschen Bahn AG
der Polizei am „Schwarzen Donnerstag“ im September als nicht machbar dargestellt. Umso notwendiger ist es,
2010 – mit Rückendeckung der Landesregierung – hat dass die Deutsche Bahn AG den Stresstest so transpa-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11077
Ute Kumpf
(A) rent wie möglich gestaltet und den Dialog mit den Kriti- Runde – immer so weiter. Mein Eindruck ist, Sie wollen (C)
kern aufnimmt. Gelingt dies nicht, wird erneut Vertrauen gar nicht ernsthaft ein Ergebnis, Sie wollten es nie. Sie
in die Bahn und die Zustimmung zu Stuttgart aufs Spiel wollen blockieren und verhindern, aber konstruktiv mit-
gesetzt. Es muss alles getan werden, um die Akzeptanz arbeiten an der Sache, dass wollen Sie nicht.
von Stuttgart 21 durch Transparenz, Kommunikation
und Diskussion weiter zu stärken. Dies muss bereits mit Ich möchte aber gern auf Ihren Antrag und Ihre For-
der Überprüfung der Vorschläge aus dem Schlichter- derungen zurückkommen. Sie stellen es in ihrem Antrag
spruch auf ihre Umsetzbarkeit hin beginnen. Die Vor- so dar, als würde die Deutsche Bahn AG jenseits der
schläge aus dem Schlichterspruch müssen zügig, trans- Vereinbarungen im Schlichterspruch den Stresstest
parent und unter Beteiligung der Bürger auf ihre durchführen, intransparent, still und heimlich, ohne of-
Umsetzbarkeit hin überprüft werden. fenen Dialog mit der Bevölkerung. Diese Behauptungen
sind schlichtweg falsch. Unter Ziffer 11 und 12 des
Die Forderung der SPD nach einem Verzicht auf ei- Schlichterspruches steht ganz klar, dass die Deutsche
nen Weiterbau von Stuttgart 21 bis zu einer Volksabstim- Bahn AG den Stresstest durchführt und welche Grundla-
mung war und ist richtig. Große Infrastrukturprojekte gen sie dafür annehmen muss. Daher ein Zitat aus dem
brauchen die Unterstützung der Bevölkerung. Nach dem Schlichterspruch vom 30. November 2010. Darin steht
27. März wird sich zeigen, wie der Volksentscheid auf unter Ziffer 11 und 12 – das ist auf den Seiten 12 bis14 –:
den Weg gebracht werden kann.
„11. Für die Fortführung des Baues von S 21 halte
ich aus den genannten Gründen folgende Verbesserun-
Werner Simmling (FDP): gen für unabdingbar:
Dr. Heiner Geißler wurde von der Fraktion Bünd- 1. Die durch den Gleisabbau frei werdenden Grund-
nis90/die Grünen im baden-württembergischen Landtag stücke werden der Grundstücksspekulation entzogen und
für das Bahnprojekt Stuttgart 21 als Schlichter vorge- daher in eine Stiftung überführt, in deren Stiftungszweck
schlagen. Alle Fraktionen haben sich diesem Vorschlag folgende Ziele festgeschrieben werden müssen: Erhal-
angeschlossen. Wir haben dann mit der Fachschlichtung tung einer Frischluftschneise für die Stuttgarter Innen-
ein in Deutschland einmaliges Konzept praktiziert. Es stadt. – Die übrigen Flächen müssen ökologisch, fami-
saßen nicht nur alle an einem Tisch – Gegner und Befür- lien- und kinderfreundlich, mehrgenerationengerecht,
worter –, sondern es kamen auch alle Fakten auf den barrierefrei und zu erschwinglichen Preisen bebaut wer-
Tisch. Transparent und offen wurden das Projekt Stutt- den. – Für notwendig halte ich eine offene Parkanlage
gart 21, aber auch K 21 diskutiert. Das Ergebnis war ein mit großen Schotterflächen.
Schlichterspruch, der betont, dass Stuttgart 21 ein wich-
(B) tiges verkehrspolitisches Projekt und für die Region von 2. Die Bäume im Schlossgarten bleiben erhalten. Es (D)
herausragender Bedeutung ist. Alle Teilnehmer der dürfen nur diejenigen Bäume gefällt werden, die ohne-
Schlichtung haben dieses Ergebnis anerkannt und be- hin wegen Krankheiten, Altersschwäche in der nächsten
grüßt. Auch bei der Mehrheit der Bevölkerung hat der Zeit absterben würden. Wenn Bäume durch den Neubau
Schlichterspruch eine große Akzeptanz gefunden. existentiell gefährdet sind, werden sie in eine geeignete
Zone verpflanzt. Die Stadt sollte für diese Entscheidun-
Schaue ich mir nun aber Ihren Antrag an, dann habe gen ein Mediationsverfahren mit Bürgerbeteiligung vor-
ich das Gefühl, dass Sie mit der Schlichtung nicht einver- sehen.
standen sind. Lassen Sie mich noch kurz die Genese der
Entwicklungen bis hin zum Schlichtungsspruch wieder- 3. Die Gäubahn bleibt aus landschaftlichen, ökologi-
geben: Auf parlamentarischer Ebene gab es Einwände, schen und verkehrlichen Gesichtspunkten erhalten und
die aber nie zu einer Mehrheit gegen Stuttgart 21 geführt wird leistungsfähig, zum Beispiel über den Bahnhof
haben. Es wurden alle Rechtswege beschritten; auch Feuerbach, an den Tiefbahnhof angebunden.
hier kam es immer zu dem gleichen Urteil: Stuttgart 21
4. Im Bahnhof selber wird die Verkehrssicherheit ent-
ist rechtsmäßig. Schlussendlich wurden die demokrati-
scheidend verbessert. Im Interesse von Behinderten, Fami-
schen Beschlüsse der parlamentarischen Gremien und
lien mit Kindern, älteren und kranken Menschen müssen
die Rechtmäßigkeit der Urteile infrage gestellt. Der Ruf
die Durchgänge gemessen an der bisherigen Planfest-
nach Mediation und Schlichtung wurde immer lauter.
stellung verbreitert werden, die Fluchtwege sind barrie-
Die Landesregierung und auch die politischen Parteien
refrei zu machen.
haben diese Schlichtung gemeinsam beschlossen. Der
Erfolg und das Ergebnis dieses Schlichtungsverfahrens 5. Die bisher vorgesehenen Maßnahmen im Bahnhof
sind unbestritten. Sie wollen aber partout dieses Ergeb- und in den Tunnels zum Brandschutz und zur Entrau-
nis nicht anerkennen und fordern nun über den Schlich- chung müssen verbessert werden. Die Vorschläge der
terspruch hinaus eine Schlichtung Teil zwei. Stuttgarter Feuerwehr werden berücksichtigt.
Liebe Kollegen von Bündnis90/Die Grünen, es ist 6. Für das Streckennetz sind folgende Verbesserungen
schon bemerkenswert, wie Sie mit parlamentarischen vorzusehen: Erweiterung des Tiefbahnhofs um ein
Entscheidungen umgehen; nun aber wollen Sie das Er- 9. und 10. Gleis; Zweigleisige westliche Anbindung des
gebnis der von Ihnen geforderten Schlichtung nicht ak- Flughafen-Fernbahnhofs an die Neubaustrecke; Zwei-
zeptieren. Sie fordern eine „nachgelagerte Fortführung gleisige und kreuzungsfrei angebundene Wendlinger
des Schlichtungsverfahrens“. Wenn Ihnen dann auch Kurve; Anbindung der bestehenden Ferngleise von Zu-
dessen Ergebnis nicht passt, dann kommt noch eine ffenhausen an den neuen Tunnel von Bad Canstatt zum

Zu Protokoll gegebene Reden


11078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Werner Simmling
(A) Hauptbahnhof; Ausrüstung aller Strecken von S 21 bis scheidung der Stuttgarter Bevölkerung aussprechen (C)
Wendlingen zusätzlich mit konventioneller Leit- und Si- würde.
cherungstechnik.
Geißler hat diese Chance zu einer Abwägung der
12. Die Deutsche Bahn AG verpflichtet sich, einen Sachargumente und zu einem beispielhaften demokrati-
Stresstest für den geplanten Bahnknoten Stuttgart 21 an- schen Prozess nicht ergriffen. Er entschied sich im Sinne
hand einer Simulation durchzuführen. Sie muss dabei der Bahn und der CDU, für ein „Weiterbauen plus“; für
den Nachweis führen, dass ein Fahrplan mit 30 Prozent Stuttgart 21 mit einigen Nachbesserungen. Die Bevölke-
Leistungszuwachs in der Spitzenstunde mit guter Be- rung fühlt sich mit dem sogenannten Schlichterspruch
triebsqualität möglich ist. Dabei müssen anerkannte ein weiteres Mal von der Politik getäuscht.
Standards des Bahnverkehrs für Zugfolgen, Haltezeiten Ein Element bei den Nachbesserungen ist der soge-
und Fahrzeiten zur Anwendung kommen. nannte Stresstest. Wie immer dieser Test gemeint gewe-
Auch für den Fall einer Sperrung des S-Bahn-Tunnels sen sein soll und was immer einige S21-Gegnerinnen
oder des Fildertunnels muß ein funktionierendes Not- und -Gegner sich dabei gedacht oder damit erhofft ha-
fallkonzept vorgelegt werden. Die Projektträger ver- ben, zunächst muss man sich auf den Text als solchen be-
pflichten sich, alle Ergänzungen der Infrastruktur, die ziehen. Im Schlichterspruch heißt es dazu nur: „Die
sich aus den Ergebnissen der Simulation als notwendig Bahn muss dabei den Nachweis führen, dass ein Fahr-
erweisen, bis zur Inbetriebnahme von S 21 herzustellen. plan mit 30 Prozent Leistungszuwachs in der Spitzen-
Welche der von mir vorgeschlagenen Baumaßnahmen stunde mit guter Betriebsqualität möglich ist.“ Das Bun-
zur Verbesserung der Strecken bis zur Inbetriebnahme desverkehrministerium wies bereits im November in
von S 21 realisiert werden, hängt von den Ergebnissen einer ersten Stellungnahme darauf hin, dass in dieser
der Simulation ab. Festlegung sogar der mathematische Bezugspunkt fehlt:
30 Prozent mehr als was? Inzwischen scheint man sich
Diese von mir vorgetragenen Vorschläge in den Zif- darauf geeinigt zu haben, dass die Leistung 30 Prozent
fern 11 und 12 werden von beiden Seiten für notwendig größer als die des gegenwärtigen Kopfbahnhofs sein
gehalten.“ müsse.

Auch in der Pressekonferenz nach der Schlichtung Das scheint mir bereits eine erste Falle zu sein. Wie in
wurde von der Deutschen Bahn AG betont, dass die der Schlichtung durch den langjährigen Stuttgarter
Firma SMA den Stresstest begleiten und begutachten Bahnhofschef Egon Hopfenzitz nachgewiesen wurde,
wird. Mitglieder des Aktionsbündnisses haben dies be- hatte der Stuttgarter Kopfbahnhof im Jahr 1969 – und
grüßt. Auch in einer Debatte im baden-württembergi- weitgehend ähnlich von 1970 bis 1974 – eine tägliche
(B) schen Landtag haben Sie als grüne Fraktion einem An- Leistung von 809 Zugbewegungen. Heute sind es 650. (D)
trag von CDU, FDP/DVP und SPD zugestimmt, der den Damit lag diese Leistung bereits einmal um knapp
Schlichterspruch und auch den Stresstest unter Durch- 30 Prozent über der gegenwärtigen. Das trifft auch zu
führung der Deutschen Bahn AG begrüßt. Nun fällt ih- auf die Spitzenstunde, wo besonders viele Vorortzüge
nen aber ein, dass Sie noch einen Steuerungskreis ein- abgefertigt werden mussten. Diese Tagesleistung konnte
richten oder weitere externe Gutachter bestellen deutlich herabgefahren werden, weil 1975 der S-Bahn-
möchten. Dies alles ist nicht in dem Schlichterspruch Tunnel eröffnet wurde. Damit entfielen so gut wie alle
enthalten. Ich habe langsam den Eindruck, dass Sie sogenannten Vorortbahnen, die heute als S-Bahnen im
nach der Pippi-Langstrumpf-Methode verfahren: „Ich „Bauch“ des Kopfbahnhofs verkehren.
mach mir die Welt, wie Sie mir gefällt“. Das kann man Die Polemik gegen den Kopfbahnhof und die vielen
machen, aber wir leben in einem Rechtsstaat und nicht flammenden Plädoyers für einen Durchgangsbahnhof
in Taka-Tuka-Land. Zusagen und Beschlüsse müssen gehen im Grunde ins Leere. In Stuttgart gibt es seit
verbindlich sein, Sie halten sich nicht daran. Für mich 36 Jahren einen Durchgangsbahnhof – mit der S-Bahn
sind Bündnis 90/Die Grünen in der politischen und par- und damit dort, wo dies sinnvoll ist: bei den durchzubin-
lamentarischen Arbeit unglaubwürdig und kein zuver- denden Nah- und teilweise auch regionalen Verkehren.
lässiger Partner. Wir lehnen daher den Antrag der Frak- Und es gibt in der Landeshauptstadt seit mehr als
tion Bündnis 90/Die Grünen ab. 85 Jahren den bekannten Kopfbahnhof, ebenfalls dort,
wo das Sinn macht: für den weitergeführten Regional-
Sabine Leidig (DIE LINKE): und für den Schienenpersonenfernverkehr.
Die Mehrheit der Bevölkerung in Stuttgart lehnt das Rechnet man den damals erforderlichen Lokwechsel
Großprojekt Stuttgart 21 ab. Die Menschen vor Ort tun hinzu, dann lag die reale Leistung 1969 bis 1975 bei
dies unter der Losung „Oben bleiben“. Mit dieser Kurz- rund 40 Prozent über der heutigen. Es gab also längst
formel bringen sie zum Ausdruck, dass das Denkmal einen Stresstest mit dem Ergebnis einer zusätzlichen
Bonatzbau in Gänze erhalten, das Gleisfeld als oberirdi- Leistung von weit mehr als 30 Prozent. Und diese Leis-
sches bestehen bleiben und Stuttgart seinen traditionel- tung wurde nicht in einem Computerprogramm
len Kopfbahnhof behalten soll. Sie erwarteten von simuliert – sie fand in diesem Bahnhof Werktag für
Heiner Geißler, dass dieser als Ergebnis des Fakten- Werktag statt. Demnach hat der jetzige Kopfbahnhof
Checks entweder sich von den Sachargumenten überzeu- Leistungsreserven von mindestens 40 Prozent. Das ist in
gen lassen und sich für das „Oben bleiben“ entscheiden dem geplanten Kellerbahnhof nie und nimmer darstell-
würde oder dass er sich für eine demokratische Ent- bar.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11079
Sabine Leidig
(A) Es gibt noch einen weiteren Denkfehler bei der For- entwaffnend und irritierend und es ist kontraproduktiv. (C)
derung nach einem solchen Stresstest für die Leistung Was würde es denn besagen, wenn der Stresstest „auf
„in der Spitzenstunde“. Es ist nicht von besonderem In- Augenhöhe“ und mit einem „Steuerungsgremium“, mit
teresse, wie viel Züge insgesamt pro Stunde oder gar an Präsenz der S21-Gegner in diesem stattfände und zum
einem Tag in einem Bahnhof abgefertigt werden können. Ergebnis kommen würde: S21 ist möglich als „S21 plus“
Bei der „Philosophie“ eines „Integralen Taktfahr- mit diesen und jenen Verbesserungen? Es würde sich
plans“, der in der Schweiz seit mehr als zwei Jahrzehn- rein gar nichts daran ändern, dass mit S21 der Kopf-
ten mit großem Erfolg praktiziert wird und der ja auch bahnhof weitgehend zerstört, in Stuttgart ein Jahrzehnt
vom Aktionsbündnis gegen S21 gefordert wird, geht es lang eine Großbaustelle im Zentrum existiert, die Tun-
um etwas ganz anderes. Der Fahrplanspezialist Profes- nelbauten mit immensen Gefahren für die Mineralwas-
sor Wolfgang Hesse, der auch als Sachverständiger an serquellen und die Standfestigkeit der Gebäude verbun-
der Schlichtung teilnahm, schrieb dazu jüngst in der den sein würde und daran, dass das Projekt als solches
renommierten „Eisenbahn-Revue International“, 3/2011: ein Schienenverkehr-Vermeidungs-Projekt ist.
„Die Grundidee des Integralen Taktfahrplans, ITF, be-
Oben bleiben heißt oben bleiben. Wenn es um Verbes-
steht darin, zu einem bestimmten Zeitpunkt, vorzugs-
serungen und Nachbesserungen geht, dann auch oben.
weise zu den leicht merkbaren Minuten 00 und 30, Fern-
„Stresstest – könnt ihr haben. Widerstand 2.0“ – so
und Regionalzüge aus möglichst vielen Richtungen zu-
stand es auf einem schönen Plakat, das im November,
sammenlaufen zu lassen, um ein wechselseitiges Umstei-
nach Geißlers Spruch, im Schlossgarten hing.
gen in möglichst viele Richtungen zu ermöglichen. Dazu
bedarf es möglichst vieler (…) Bahnsteigkanten, die für
den Rest der Stunde nicht oder nur wenig genutzt wer- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den.“ Es ist einleuchtend, dass ein Kopfbahnhof mit sei- Sie erinnern sich sicher alle noch gut an die heftigen
nen 17 Gleisen dieser Anforderung weit besser gerecht Auseinandersetzungen im Herbst letzten Jahres um das
werden kann als ein Tiefbahnhof mit acht Gleisen. Das Großprojekt Stuttgart 21 und die dazu öffentlich durch-
Argument der Bahn, man könne im Kellerbahnhof geführte Faktenschlichtung in Stuttgart. Stuttgart 21 ist
„durchbinden“, beantwortet Professor Hesse wie folgt: nach Auffassung der Bundesregierung ein Projekt der
„Aus der Not der fehlenden Bahnsteigkanten soll mit Deutschen Bahn AG. Daher verlässt sie sich bis heute
dem Angebot der durchgebundenen Regionalzüge eine blindlings auf die Zahlenwerke der Bahn sowie auf die
Tugend gemacht werden. Diese bieten zwar dem Fahr- von ihr behauptete Wirtschaftlichkeit und den verkehrli-
gast, der zufällig in die angebotene Fahrrichtung wei- chen Nutzen des Projekts, trotz hoher finanzieller Betei-
terfahren will, einen Zeitvorteil, für den Wechsel zu an- ligung und Risiken für den Bund.
deren Fahrtzielen ergeben sich aber in der Regel
(B) Wir sehen dies ebenso wie der Bundesrechnungshof (D)
weitaus höhere Umsteige- und Wartezeiten.“ Auch ein
kritisch. Der Bund beteiligt sich mit 1,2 Milliarden Euro
optimal verlaufender Stresstest für einen Tiefbahnhof,
am Ausbau des Eisenbahnknotens Stuttgart und ist Ei-
wenn er denn als sinnvoll erachtet wird, sagt also rein
gentümer der Deutschen Bahn AG. Er muss also ein ur-
gar nichts über dieses entscheidende Erfordernis für ei-
eigenes Interesse daran haben, dass die Kosten des Pro-
nen ITF aus.
jekts Stuttgart 21 nicht explodieren – unabhängig davon,
Nun gibt es im Antrag der Grünen eine Reihe von gut ob sich dies nun negativ im Bundeshaushalt nieder-
gemeinten Forderungen, wonach der Stresstest mit schlägt oder in der Bilanz der bundeseigenen DB AG. Zu-
„Transparenz und als Dialog auf Augenhöhe“ zu führen dem muss der Bund ein ureigenstes Interesse daran ha-
sei, wonach es ein „Steuergremium für den Stresstest“ ben, dass der Ausbau des bundeseigenen Schienennetzes
geben solle und die „Federführung bei“ einem „unab- den verkehrlichen und volkswirtschaftlichen Nutzen hebt
hängigen externen Gutachter“ liegen solle. Tatsache und die DB AG keine Projekte errichtet, die gigantisch
ist: Von all dem ist im Geißler-Spruch nichts zu lesen. viel kosten, ohne Nutzen für den Schienenverkehr zu
Ein Vierteljahr nach Verkündung der anmaßenden Geiß- schaffen. Insofern ist es schon sehr aufschlussreich, dass
ler´schen Entscheidung können solche Forderungen keine Vertreter des Bundesverkehrsministeriums am
leicht vom Tisch gefegt und als „Nachkarten“ denun- Schlichtungsverfahren teilnahmen und die Bundesregie-
ziert werden. Selbst wenn die DB AG auf solche Forde- rung damit ausdrücklich ihr Desinteresse an den wirkli-
rungen eingehen würde – es dürfte extrem schwer sein, chen Fakten signalisierte. Das deckt sich mit unseren
einen solchen „unabhängigen externen Gutachter“, auf jahrelangen Erfahrungen.
den sich beide Seiten einigen, zu finden. Die mehrfach Es bedurfte erst der Schlichtung, eines nichtparla-
ins Spiel gebracht Züricher Firma SMA ist bereits von mentarischen Gremiums auf der Basis des guten Willens
der Auftragslage her erheblich von der DB AG abhän- aller Beteiligten, damit mehr Informationen über dieses
gig. Es gibt sogar Gerüchte, dass die DB AG bei SMA Projekt vorgelegt wurden – mehr Informationen übri-
bereits eingestiegen sei. gens, als den Mitgliedern des Deutschen Bundestages im
gesamten Planungsprozess für Stuttgart 21 zugestanden
Es geht jedoch auch um Grundsätzliches. Wenn man wurde, selbst wenn sie nur in den Geheimschutzstellen
sich einmal auf die Ebene der Nachbesserungen einge- Einblick in die Unterlagen nehmen wollten, was zur Ver-
lassen hat, hat man sich auf eine schiefe Ebene eingelas- schwiegenheit verpflichtet.
sen. In der Öffentlichkeit entsteht dann der Eindruck,
dass die grundsätzliche Position des „Obenbleibens“ Damit sind wir beim Kern unseres Antrags. Die Bahn
aufgegeben oder zumindest aufgeweicht wird. Das wirkt begründet den milliardenschweren Umbau des Stuttgar-

Zu Protokoll gegebene Reden


11080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Winfried Hermann
(A) ter Hauptbahnhofs von einem gut funktionierenden Nach den zahlreichen Fehl- und Halbinformationen (C)
Kopfbahnhof in einen unterirdischen Tunnelbahnhof bezogen auf Kosten, Risiken und Nutzen von Stuttgart 21
insbesondere damit, dass dieser hohe Kapazitätszu- über Jahre hinweg ist das Vertrauen in die Deutsche
wächse bewältigen könne. Es war jedoch eine der wich- Bahn erheblich gestört. Der Stresstest und die daraus
tigsten Erkenntnisse der Faktenschlichtung, dass die ei- abgeleiteten Konsequenzen sind nur dann tragfähig,
senbahntechnische Leistungsfähigkeit des von der DB wenn es ein gemeinsames, transparentes Verfahren gibt,
AG geplanten neuen Bahnknotens Stuttgart 21 ernsthaft an dem die Projektkritiker des Aktionsbündnisses und
infrage gestellt werden muss. Daher verpflichtete sich damit die Öffentlichkeit von Anfang an beteiligt sind.
die DB AG zu einem sogenannten Stresstest, einer Belas-
tungssimulation, bei der nachgewiesen werden soll, dass Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Stuttgart 21 in Spitzenbelastungszeiten 30 Prozent mehr Sind Sie damit einverstanden, den Antrag auf Druck-
Züge bewältigen kann als der bestehende Kopfbahnhof. sache 17/5041 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ansonsten sind Nachbesserungen nötig, und diese ma- Ausschüsse zu überweisen? – Das ist der Fall. Dann ist
chen das Projekt erheblich teurer, als es ohnehin schon es so beschlossen.
nach dem jetzigen Stand ist.
Tagesordnungspunkt 26:
Mehr als pikant ist allerdings, dass die Deutsche
Bahn nach den heftigen Auseinandersetzungen, die in Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
das Schlichtungsverfahren mündeten, eine Beteiligung Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Manuel
unabhängiger Experten und die Einbeziehung von Ver- Sarrazin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
tretern des Aktionsbündnisses von Anfang an ablehnt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und den Stresstest selbst durchführen will. Erst die Er-
EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
gebnisse der bahninternen Prüfung sollen zur Kontrolle
wiederbeleben
an das Schweizer Verkehrsberatungsunternehmen SMA
übergeben werden, dass zu 75 Prozent von Aufträgen – Drucksache 17/5042 –
der DB AG lebt. Von einem transparenten Verfahren ist Überweisungsvorschlag:
keine Rede mehr. Dies kritisierte auch Schlichter Heiner Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)
Geißler, der laut Äußerungen in den Medien das Anlie- Auswärtiger Ausschuss
gen des Aktionsbündnisses, von Anfang an an der Leis- Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
tungsüberprüfung beteiligt zu sein, voll unterstützt. Aber Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
was passiert, wenn die DB AG sich quasi selbst kontrol-
(B) liert und die Nachkontrolle einem Unternehmen über- Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben bereits die (D)
lässt, das regelmäßig Aufträge von der DB AG erhält? Kolleginnen und Kollegen Bareiß, Karl, Nietan, Vogel
Es liegt auf der Hand: Man kommt zu dem gleichen Er- (Lüdenscheid), Hunko und Roth (Augsburg).
gebnis wie bereits vor der Schlichtung – Stuttgart 21 ist
wunderbar, funktioniert und benötigt keinerlei Nachbes- Thomas Bareiß (CDU/CSU):
serungen, und selbstverständlich bleibt auch alles im
Gegenstand der heutigen Debatte ist die Wiederbele-
vertraglichen Kostenrahmen. Für diese Erkenntnis hätte
bung der Verhandlungen mit der Türkei zum Beitritt in
es allerdings weder das Schlichtungsverfahren noch den
die Europäische Union. Im Oktober 2005 wurden unter
aufwendigen Stresstest benötigt. Das wird auch die Bür-
der damaligen rot-grünen Bundesregierung Beitrittsver-
gerinnen und Bürgern nicht überzeugen, die monatelang
handlungen aufgenommen. Die CDU/CSU hat sich von
in Baden-Württemberg und ganz Deutschland zu Zigtau- Anfang an skeptisch gegenüber einer Vollmitgliedschaft
senden energisch gegen das Projekt protestiert haben. der Türkei geäußert und mit der privilegierten Partner-
Der Stresstest ist ein Zwischenergebnis der Schlich- schaft ein Gegenkonzept vorgestellt, das der großen Be-
tung und die zeitlich nachgelagerte Fortführung des deutung einer engen Beziehung angemessen ist und für
Schlichtungsverfahrens, da zentrale Problempunkte im beide Seiten große Vorteile bietet. Wir haben uns aber
Rahmen der Schlichtung nicht abschließend geklärt auch dazu bekannt, dass beschlossene Verträge gelten
werden konnten. Er muss daher den gleichen Kriterien und die Beitrittsverhandlungen weitergehen. Ich sage
ganz klar: Ob die Beitrittsverhandlungen wiederbelebt
wie das Schlichtungsverfahren, nämlich Transparenz
werden, liegt ganz allein in der Hand der Türkei, die ent-
und Dialog auf Augenhöhe, folgen. Deshalb fordern wir
scheiden muss, ob sie Reformen will oder nicht. Ich
die Bundesregierung mit unserem Antrag auf, in ihrer
glaube, sie will sie nicht. Auch nach dem Beginn der
Verantwortung als Eigentümerin der DB AG dafür Sorge
Beitrittsverhandlungen sind die Grundsätze des Kon-
zu tragen, dass der Stresstest von Anfang an, also bereits
zepts der privilegierten Partnerschaft angesichts des of-
bei Eingabe der Daten und der Datenverarbeitung, öf- fen gestalteten Verhandlungsprozesses, der ausdrücklich
fentlich und transparent erfolgt. Das heißt, er muss un- keine EU-Mitgliedschaft am Ende garantiert, aktuell.
ter Beteiligung des Aktionsbündnisses und unabhängi-
ger Experten durchgeführt werden. Nur dann kann eine Ich möchte an dieser Stelle klarstellen, dass die Tür-
breite Akzeptanz für das Ergebnis erreicht werden. Die kei ein enorm wichtiger Partner für die Europäische
Federführung des Stresstests darf nicht beim Projektträ- Union ist und unser Land ein besonderes Interesse an ei-
ger der DB AG liegen, denn dessen Planungen sollen ja ner Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen zur Tür-
schließlich überprüft werden. kei hat. Lassen Sie mich dazu zunächst einige Ausfüh-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11081
Thomas Bareiß
(A) rungen machen, ehe ich anschließend auf die inner- formentwicklungen machen mir große Sorge. Jüngste (C)
türkischen Probleme eingehe. Verhaftungen von Journalisten wegen angeblicher Mit-
gliedschaft in terroristischen Netzwerken, eine Welle
Zunächst einmal ist die Türkei ein wichtiger Handels- von Klagen und Ermittlungen gegen Karikaturisten,
partner und Investitionsstandort, gehört sie doch mit ei- Reporter und Kolumnisten wegen Verleumdung und an-
nem Bruttoinlandsprodukt von 729 Milliarden US-Dol- tistaatlicher Propaganda, exorbitante Steuerstrafen
lar im Jahr 2010 zu den 20 größten Volkswirtschaften gegen regierungskritische Medienunternehmen sowie
der Welt. Die Türkei ist mit ihren 71 Millionen Einwoh- medienkritische Äußerungen von Politikern geben An-
nern ein wichtiger Handelspartner für Europa und vor lass dazu. Bis die Türkei diese Grundwerte westlicher
allem auch für Deutschland. So war die Bundesrepublik Demokratien nicht nur auf dem Papier verabschiedet
mit einem Anteil von rund 10 Prozent an den gesamten hat, sondern die Gerichte und die Menschen diese Prin-
türkischen Wareneinfuhren im Jahr 2009 zweitgrößter zipien auch verinnerlicht haben, wird wohl noch eine
Lieferant der Türkei. Eine enge wirtschaftliche Koope- lange Zeit vergehen.
ration bietet für beide Seiten große Vorteile. Die Türkei
mit ihrer sehr jungen Bevölkerung besitzt somit ein ho- Dass zurzeit keine weiteren Kapitel in den Beitritts-
hes wirtschaftliches Potenzial. verhandlungen eröffnet werden, liegt an der unnachgie-
Darüber hinaus ist die Türkei durch ihre geografi- bigen Haltung der türkischen Regierung in der Zypern-
sche Lage gleichsam eine Energiedrehscheibe – ein Frage. Die Türkei verstößt in der Zypern-Frage gegen
wichtiges Bindeglied zwischen den Märkten Europas Völkerrecht, indem es den Norden besetzt hält und sich
und den Erdöl und Erdgas exportierenden Ländern des einer Einigung Zyperns nach wie vor entgegenstellt. Die
Nahen und Mittleren Ostens sowie der Region um das Türkei ist gemäß Ankara-Protokoll verpflichtet, die
Kaspische Meer. Für die Energieversorgung Europas Zollunion mit der EU auf alle Mitgliedstaaten anzuwen-
spielt die Türkei damit eine immer wichtigere Rolle. Ein den, und das heißt, türkische Häfen und Flughäfen für
Beispiel ist die Nabucco-Gasleitung, die Westeuropa un- zypriotische Waren zu öffnen. Unsere Bundeskanzlerin
abhängiger von Russland machen soll. hat in vielen Gespräche mit der Türkei und mit Zypern
dieses Problem klar angesprochen und betont, dass sich
Vor allem aber – und das betrifft die Außen- und Si- beide Seiten bewegen müssen und dass die Bundesregie-
cherheitspolitik – ist die Türkei ein wichtiges Nato-Mit- rung bereit ist, bei der Überwindung der Probleme Hil-
glied, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass sie die festellung zu geben. Daher verstehe ich den Vorwurf der
zweitgrößte Armee des Bündnisses besitzt. Durch die Untätigkeit der Grünen gegenüber der Bundesregierung
Nähe zum arabischen Raum stellt sich die Türkei als ein nicht. Ebenfalls hat die Bundesregierung immer betont,
wichtiger Partner in geostrategischer Hinsicht dar: Die dass die Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden.
(B) Türkei grenzt an Georgien, Armenien, Aserbaidschan, (D)
Iran, Irak und Syrien. Damit ist die Türkei für uns ein Wenn Ministerpräsident Erdogan die Türkei als
wichtiger vermittelnder Brückenstaat zu diesen Län- Schutzmacht für die in Deutschland und Libyen leben-
dern, gerade was die dortigen Krisenherde betrifft und den Türken bezeichnet, dann ist das schlichtweg ein
gerade angesichts der aktuellen politischen Umwälzun- nicht hinnehmbarer Vergleich. Solche Vergleiche und
gen in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Türkei mit solche Reden von Ministerpräsident Erdogan sind si-
ihrer Staatsform und ihrer außenpolitischen Ausrich- cher nicht förderlich, um zu zeigen, dass sich die Türkei
tung ist als starke Mittelmacht in der Region somit eine der Europäischen Union annähert. Und seine Aussage
wichtige Brücke zum Nahen Osten und zur islamischen in Düsseldorf, dass die in Deutschland lebenden Kinder
Welt. mit türkischen Eltern zuerst türkisch lernen sollen, zeigt,
dass die Türkei noch weit weg vom gemeinsamen euro-
Auf dem Europäischen Rat im Juni 1993 in Kopenha- päischen Verständnis ist.
gen wurden die Bedingungen für einen Beitritt beschlos-
sen, nämlich Kriterien, die potenzielle Beitrittsländer Zu begrüßen sind die Fortschritte, die durch das Ver-
zur Europäischen Union erfüllen müssen. Der Acquis fassungsreferendum in der Türkei im September letzten
umfasst die wirtschaftlichen Voraussetzungen, die politi- Jahres erreicht werden konnten. Die Reform des Justiz-
schen Beitrittsvoraussetzungen, institutionelle Stabili- wesens ist ein Schritt in die richtige Richtung. Zu begrü-
tät, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wahrung der Men- ßen ist auch, dass sich die Türkei mit Armenien darauf
schenrechte und den Schutz von Minderheiten. geeinigt hat, diplomatische Beziehungen aufzunehmen.
Dies war sicher kein einfacher Schritt nach fast hundert
Nun zum Stand der Reformen. Bei allen oben genann- Jahren Lügen und Leugnen des Massenmordes an den
ten Kriterien ist die Türkei in den letzten Jahren nicht Armeniern.
viel vorangekommen. Sie hat sich vielmehr, gemessen an
den oben genannten Werten, bei einigen Punkten von Nun zur Lage der Christen in der Türkei. Nicht hin-
Europa entfernt. Leider hat der Fortschrittsbericht der nehmbar ist für mich, dass in der Türkei das Recht auf
EU-Kommission vom Oktober 2010 gezeigt, dass die freie Religionsausübung als einer der Grundpfeiler un-
Türkei in den letzten Jahren bedauerlicherweise sehr serer Werteordnung nicht gewährleistet ist. Das christli-
wenig Reformfortschritte gemacht hat. In der Türkei che Leben wird dort weiterhin stark eingeschränkt. Es
herrschen nach wie vor enorme Defizite bei zentralen ist den christlichen Minderheiten in der Türkei nicht ge-
Demokratie-Beitrittskriterien. Dazu gehören unter an- stattet, ihren Nachwuchs an Geistlichen auszubilden
derem der Schutz von Minderheiten, Frauenrechte, Mei- oder Unterricht in den Sprachen der Minderheiten zu er-
nungsfreiheit und Pressefreiheit. Die stagnierenden Re- teilen; sie dürfen keine Kirchen errichten und ihren

Zu Protokoll gegebene Reden


11082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Thomas Bareiß
(A) Glauben nicht frei praktizieren. Ein weiterer großer nun endlich „ihre Hausaufgaben macht“, nun endlich (C)
Rückschlag ist auch das Urteil in Bezug auf das Kloster ihre Verpflichtungen gegenüber der Türkei einhält, um
Mor Gabriel. Mor Gabriel ist eines der ältesten Klöster der Türkei den Weg in die Europäische Union zu ebnen.
der Christenheit und soll nun nach Meinung des obers-
Bei Licht betrachtet sehen die Dinge jedoch ganz an-
ten Gerichtshofes in Ankara zugunsten des Schatzamtes
ders aus. Nicht die Europäische Union hat eine Bring-
Midyat enteignet werden. Die Kläger wurden von der re-
schuld gegenüber der Türkei, vielmehr ist es gerade umge-
gierenden AKP-Partei massiv unterstützt.
kehrt. Um in eine bestehende Gemeinschaft aufgenommen
Es muss ein deutliches Signal aus Deutschland, aber zu werden, sind die Grundsätze der Gemeinschaft zu ak-
auch aus Europa, in die Türkei gesandt werden, dass das zeptieren, sind deren Grundlagen zu akzeptieren. Es
Menschenrecht der Religionsfreiheit auch in der Türkei wäre ja geradezu schizophren, wenn jemand, der sich ei-
uneingeschränkte Geltung bekommen muss. Ich bin un- ner Gemeinschaft anschließen möchte, darauf pochen
serem Bundespräsidenten Christian Wulff sehr dankbar, und bauen könnte, dass die festgefügte Organisation
dass er in seiner vielbeachteten Rede vor dem türkischen sich deshalb verändert, weil das neue Mitglied, das um
Parlament besonders unterstrichen hat, dass die Religi- Aufnahme ersucht, in wesentlichen Teilen zu der beste-
onsfreiheit für unsere europäische und deutsche Werte- henden Gemeinschaft nicht passt. Das wäre ja genau so,
gemeinschaft unabdingbar ist. Zu Recht wies er mit sei- als wenn jemand in einen Verein aufgenommen werden
ner Mahnung, Religionsfreiheit auch für Christen möchte, aber als Nicht-Mitglied vom Verein verlangt,
möglich zu machen, auf die herrschenden Missstände in dass dieser schon einmal – quasi vorab – seinen Vereins-
Bezug auf die Religionsfreiheit hin. So wie die Muslime zweck ändert, um den Verein passend für ihn zu machen.
in Deutschland ihre Religion ohne jegliche Einschrän- Wer solch einem Gedankengang nachhängt, liegt
kungen praktizieren und leben können, muss Gleiches doch völlig verkehrt, gerade andersherum wird ein
auch für die in der Türkei lebenden Christen gelten. Wie Schuh aus der Sache. Derjenige, der einer Gemeinschaft
Volker Kauder bin ich der Auffassung, die Einhaltung beitreten will, muss von sich aus zu der Gemeinschaft
der Religionsfreiheit zur Voraussetzung für die Öffnung passen; hierbei sehe ich gerade nicht zu überwindende
neuer Kapitel zu machen. Schwierigkeiten. Die Aufnahmewünsche der Türkei in
Am 12. Juni 2011 finden in der Türkei die Wahlen zum die EU sollten aus verschiedener Sichtweise, auch aus
türkischen Parlament statt. Die neue türkische Regie- historischer Sicht, beleuchtet werden. Wir müssen min-
rung wird vor einer Reihe wichtiger Aufgaben und Her- destens bis in das Jahr 1957 zurückblicken, als die
ausforderungen stehen. Ein vorrangiges Ziel auf der po- Staatsmänner Europas in Rom die Verträge, die „Römi-
litischen Agenda wird die Erarbeitung und schen Verträge“, geschlossen haben, um eine Europäi-
sche Wirtschaftsgemeinschaft zu begründen. Schon
(B) Verabschiedung einer neuen Verfassung sein. Im weite- (D)
ren Entwicklungsprozess hat die Türkei die Möglichkeit, Jahre vorher, durch eine gemeinsam ausgerichtete Poli-
ihre rechtsstaatlichen Probleme und Demokratiedefizite tik bei Kohle und Stahl, zusammengekommen, wurde
zu lösen sowie die Rolle der Religion in Politik und Ge- 1957 in Rom manifestiert und fortgeschrieben, dass man
sellschaft neu zu definieren. sich künftig in Europa auf eine gemeinschaftliche Wirt-
schaftspolitik einigen wollte.
Wir unterstützen aus Überzeugung den Reformpro-
zess, bei dem sich die Türkei an europäischen Werte-, Aus früheren Feinden wurden über wirtschaftliche In-
Wirtschafts- und Rechtsstandards orientiert. Die Türkei teressen politische Freunde. Die nunmehr von Zäunen
ist ein wichtiger Partner Deutschlands und der Europä- und Schlagbäumen befreiten westeuropäischen Länder,
ischen Union in der Region. Die CDU/CSU setzt auf die sechs Kernländer Europas, konnten sich ohne au-
eine starke Türkei an der Seite Europas. Aber als voll- ßenwirtschaftliche Schranken hervorragend entwickeln
wertiges EU-Mitglied sehen wir die Türkei nicht und und haben eine noch nie dagewesene wirtschaftliche
setzen weiterhin auf das Konzept der privilegierten Prosperität in den letzten fünf Jahrzehnten gesehen. Die
Partnerschaft. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hat sich zur Euro-
päischen Gemeinschaft und dann zur Europäischen
Union entwickelt. 27 Länder Europas sind es mittler-
Alois Karl (CDU/CSU): weile, die weit über die wirtschaftlichen Interessen hin-
Wenn wir uns heute mit dem Antrag der Grünen be- aus eine gemeinschaftliche europäische Politik auf vie-
fassen, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei len Feldern wollen.
wiederzubeleben, so mutet dies wie eine Pflichtübung Nach den Erweiterungen der EU ist das „politische
an. In periodischen Abständen wird aus dem Lager der Europa“ groß geworden, es hat frühere trennende regio-
Opposition der Vorschlag geradezu gebetsmühlenartig nale Grenzen aufgehoben. Durch die deutliche Erweite-
wiederholt, das Tempo der Türkei in Richtung Europa zu rung Europas nach Süden, nach Norden und nach Osten
forcieren. Bedauerlicherweise geht das Petitum bei die- ist Europa allerdings auch auf regionale Grenzen gesto-
sem Antrag – wie bei manch anderen gleichgerichteten ßen. Heute gilt es, das groß gewordene Europa zu konso-
Überlegungen – immer in die Richtung der Europäi- lidieren.
schen Union, der europäischen Einrichtungen. Immer
wird subtil unterstellt, dass „Europa“, dass die „euro- Grenzen sind aber nicht nur regional zu definieren.
päischen Einrichtungen und Institutionen“ eine gewisse Die Gemeinschaft darf nicht an der Oberfläche düm-
Bringschuld an Aktivitäten nunmehr zu leisten hätten, peln. Europa muss gerade an Tiefgang gewinnen, um die
dass es an der Zeit wäre, dass die Europäische Union über Jahrzehnte hin gewachsenen Grundlagen des poli-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11083
Alois Karl
(A) tischen Europas überall zu implementieren und nicht zu Die Türkei kommt auch bei der Zypern-Politik, was (C)
verwässern. Neben den regionalen Grenzen gibt es auch die Fortschrittsberichte der EU anbelangt, außerordent-
noch ganz andere Grenzen, geistige Grenzen zum Bei- lich schlecht weg. Auch dadurch gibt die Türkei zu er-
spiel, die die Identität Europas bedeuten. Es gibt die kul- kennen, dass sie sich an internationales Recht und an in-
turelle Identität, es gibt die weltanschauliche Identität ternational übliche Vorgehensweisen nicht halten
und es gibt die historische Identität Europas. möchte.
Durch die jetzigen 27 Mitgliedstaaten Europas kön- Diese Dinge mögen überwindbar sein. Anstelle der
nen im Wesentlichen diese kulturellen, weltanschauli- geknebelten Presse könnte nach einem langen Prozess
chen und historischen Identitäten subsumiert werden – durchaus auch Pressefreiheit treten, Christen und an-
auch wenn der Beitritt Rumäniens und Bulgariens mit dere Religionsgemeinschaften könnten längst mit ähnli-
gewissen Schwierigkeiten versehen war. Es bleibt jedoch chen Rechten ausgestattet sein wie die vorherrschende
festzustellen, dass sich die frühere Wirtschaftsgemein- Religion im Lande, der Islam. All dies erwarten wir seit
schaft hervorragend entwickelt hat zu einer Gemein- langem schon gerade auch deswegen, weil uns die Tür-
schaft, die nach außen hin mit einer gleichmäßig ausge- kei als Nachbar nahesteht. All dies würde aber nicht das
richteten Außen- und Sicherheitspolitik aufwartet und Grundsätzliche entkräften, nämlich, dass die Türkei kein
die ihre gemeinschaftliche Zukunft in einer gleichge- europäisches Land ist. Ein Land, das zu mehr als
richteten Wirtschafts- und Währungspolitik sucht. 90 Prozent in Asien liegt, kann durch keinerlei rhetori-
sche Volte zu einem europäischen gemacht werden.
Die Einführung des Euro war ein außerordentlich
wichtiger und markanter Punkt in der gemeinschaftli- Um einen ehrlichen Umgang mit der Türkei zu pfle-
chen Politik in Europa. Das gemeinsame Geld hat die gen, ist es an der Zeit, der Türkei zu sagen, dass das tür-
gemeinsamen Wurzeln Europas, hergeleitet aus ihrer kische Interesse an einer besser koordinierten Wirt-
Tradition und aus ihrer Kultur, ganz deutlich manifes- schaftspolitik durchaus respektiert und protegiert werden
tiert. An diesen Entwicklungen in Europa bis zurück ins kann, dass wir aber nicht in eine europäische Wirt-
Mittelalter hat die Türkei keinen Anteil gehabt. Die kul- schaftsgemeinschaft zurückfallen wollen.
turellen, die geistigen und die historischen Wurzeln Eu- Die Lösung, die die Bundeskanzlerin Angela Merkel
ropas sind nicht die gleichen wie die der Türkei. Wenn auch in der Türkei sehr offen vertreten hat, ist daher
die Türkei also Aufnahme in die Europäische Gemein- richtig. Die Türkei kann mit einer privilegierten Part-
schaft sucht, dann kann man sich nicht auf eine aus ge- nerschaft all die wirtschaftlichen Überlegungen treffen,
meinschaftlichen Wurzeln herrührende Tradition beru- die sie sich in Bezug auf die EU vorstellt. Eine privile-
fen. gierte Partnerschaft ist nichts Ehrenrühriges, ein Bei-
(B)
Die Interessen der Türkei liegen heute auf wirtschaft- tritt in die EU ist das allerdings auch nicht. Die Ehrlich- (D)
lichem Gebiet. Die gewünschten Beitrittsverhandlungen keit gebietet es auch, den Türken zu sagen, was möglich
mit der Türkei sind Verhandlungen, um der Türkei wirt- ist und was nicht – und ein Beitritt ist nicht möglich.
schaftliche Vorteile zu bringen. Dies ist nichts Schlechtes, Wenn ein Beitritt also nicht möglich ist, sind auch Bei-
und Verhandlungen werden seit Jahrzehnten betrieben. trittsverhandlungen nur Hinhaltetaktiken. Dies ist nicht
Von den wirtschaftlichen Interessen zu unterscheiden sind seriös. Beitrittsverhandlungen, wie von den Grünen jetzt
aber eben die tiefer gehenden Überlegungen; die Frage gefordert, wiederzubeleben, bedeutet nichts anderes, als
lässt sich darauf reduzieren: Ist die Türkei ein europäi- diese Hinhaltetaktiken fortzusetzen. Damit ist der Türkei
sches Land, das in die EU aufgenommen werden kann, jedoch nicht gedient; dafür stehen wir auch nicht zur
oder nicht? Die augenblicklichen Diskussionen sind da- Verfügung.
her manchmal etwas peripher.
Dietmar Nietan (SPD):
Gewiss hat die Türkei augenblicklich nicht die Reife,
Vor zwei Tagen fand ich eine Postkarte der rechts-
die man sich von einem rechtsstaatlichen, demokratisch
populistischen Partei „Pro Deutschland“ im Briefkas-
verfassten Land vorstellt. Verstöße gegen die Meinungs-
ten meiner Berliner Wohnung. „Wir wollen die Türkei
freiheit sind evident. Erst vor wenigen Wochen wurden
nicht in der EU!“ lautet die Überschrift dieser Hetz-
Journalisten in der Türkei festgenommen wegen angeb-
schrift, in der die Bürger gebeten werden, sich an einer
licher Mitgliedschaft in einer Organisation Ergenekon,
Petition an den Bundestag zu beteiligen, in der wir Ab-
die sich gegen Ministerpräsident Erdoğan wendet.
geordnete aufgefordert werden, „in allen zuständigen
Die Religionsfreiheit ist in der Türkei in großen Tei- Gremien gegen den geplanten Beitritt der Türkei zur EU
len nicht gegeben. Noch immer können Kirchen und zu stimmen.“
christliche Glaubensgemeinschaften kein Eigentum er- Es scheint, als sei die Frage eines möglichen Beitritts
werben, noch immer ist die Ausbildung für Priester und der Türkei zur EU wie keine andere geeignet, die Ängste
Ordensleute in der Türkei nicht möglich. Die Enteignun- der Menschen in unserem Land zu mobilisieren. Doch
gen beim 1 600 Jahre alten Kloster Mor Gabriel sind ein geht es hier nicht etwa um die Ängste vor einem Kollaps
unglaubliches Zeugnis dafür, dass die Religionsfreiheit, der EU durch Überdehnung. Es dreht sich immer wieder
insbesondere die Religionsfreiheit der Christen, in der um die eine große Angst: die Angst vor dem Islam.
Türkei geradezu mit Füßen getreten wird. Auf dem
Christenverfolgungsindex 2011 rangiert die Türkei auf Auch ich als Befürworter eines Beitritts der Türkei
Platz 30, noch vor Weißrussland und dem Sudan. zur EU muss einräumen, dass es nicht nur gute Argu-

Zu Protokoll gegebene Reden


11084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Dietmar Nietan
(A) mente für einen Beitritt, sondern auch ernstzunehmende Status eines Beitrittskandidaten gab, die Türkei im Zuge (C)
Argumente gegen einen Beitritt gibt. Dass die Türkei ein des Beitrittsprozesses auf den Gebieten von Rechtsstaat-
muslimisch geprägtes Land ist, ist allerdings in keiner lichkeit bis Demokratisierung größere Fortschritte ge-
Weise ein ernsthaftes Argument gegen einen EU-Beitritt. macht hat als in all den Jahrzehnten davor.
Die Europäische Union versteht sich ausdrücklich als Die Türkei gilt als eine der dynamischsten Volkswirt-
eine Gemeinschaft, die sich den säkularen Werten von schaften mit hervorragenden Entwicklungsprognosen.
Demokratie, Menschenrechten, Pluralität und sozialer Sie ist eine junge Gesellschaft mit vielen gut ausgebilde-
Marktwirtschaft verpflichtet fühlt. Wir sind kein christli- ten Menschen. Aus wirtschaftlichen Gründen wandern
cher Klub. Und ich als gläubiger Christ sage ausdrück- mittlerweile mehr Menschen von Deutschland in die
lich: Das ist auch gut so. Türkei ein als umgekehrt. Das sollte uns zu denken ge-
ben. Aus all dem wird schnell klar: Die Türkei wäre eher
Wer sich allerdings anschaut, mit welcher Inbrunst eine große Chance als eine Belastung für den EU-Bin-
manche Vertreter von CDU und CSU sich gegen eine nenmarkt. Dies käme unserem Land als „Exportwelt-
mögliche EU-Mitgliedschaft der Türkei wenden, der meister“ sicherlich besonders zugute. Schon jetzt liegen
muss feststellen, dass diese Kräfte ebenfalls mehr von ei- wir bei Importen und Exporten auf Platz eins als der
ner dumpfen Islamophobie getrieben sind als von einer wichtigste Handelspartner der Türkei. Und trotzdem
sachlichen Abwägung der Vor- und Nachteile eines gleicht der Versuch, ein Visum für Deutschland zu erhal-
möglichen Beitritts der Türkei zur EU. Das mag viel- ten, für türkische Geschäftsleute eher einem Himmel-
leicht allzu menschlich sein, aber es zeugt nicht von po- fahrtskommando.
litischer Reife.
Für die politischen und wirtschaftlichen Eliten der
Es ist wirklich erschreckend, dass die massive Ableh- Türkei war seit der Staatsgründung der modernen,
nung der Türkei von weiten Teilen der Konservativen in
„postosmanischen“ Türkei Europa immer das große
unserem Land auf einer zutiefst vorurteilsbeladenen und Ziel. Die neue Türkei sollte eine moderne Republik sein,
oft ganz und gar falschen Sicht auf die Türkei fußt, die den Werten der Aufklärung und Moderne verpflichtet
mit den heutigen Realitäten oft nichts mehr zu tun hat.
und den Blick auf Europa gerichtet.
Wer sich auf eine rationale, nicht von Ängsten gesteu-
Vor fast einem halben Jahrhundert haben wir Euro-
erte Abwägung der Argumente für einen Beitritt der Tür-
päer der Türkei mit dem 1963 geschlossenen Assoziie-
kei einlässt, wird ihm durchaus einiges abgewinnen kön-
rungsabkommen bereits ein klares Signal gegeben, wel-
nen.
ches lautete: Wenn ihr Türken es ernst meint mit dem
Zuerst einmal sollte man sich in Erinnerung rufen, Weg nach Europa und euer Land entsprechend refor-
(B) dass die Türkei ja erst der EU beitreten kann, wenn sie miert, dann steht euch die Tür nach Europa weit offen. (D)
den gesamten Rechtsrahmen der EU in ihrer Gesell-
Allerdings muss die Türkei sich auch darauf verlas-
schaft umgesetzt hat. Die Türkei müsste in den Fragen
sen können, dass man es mit diesem Versprechen auch
von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bürgerrechten, Re-
heute noch ernst meint. Doch aus innenpolitischen
ligionsfreiheit, Achtung von Eigentumsrechten, Minder-
Gründen sind es insbesondere Präsident Sarkozy und
heitenschutz, Justiz, Wirtschaftsverfassung und vielem
Bundeskanzlerin Merkel, die alle Beschlüsse und Ver-
mehr so sein wie die anderen EU-Mitgliedstaaten, und
sprechen der EU hinsichtlich einer fairen Chance auf ei-
dies nicht nur auf dem Papier, sondern in der gesamtge-
nen Beitritt gegenüber der Türkei unterlaufen. Während
sellschaftlichen Realität. Dass die Türkei heute diese
der französische Präsident aus seiner Ablehnung des
Standards noch nicht erfüllt, wird selbst von den enthu-
Beitritts keinen Hehl macht, laviert – wie so oft – die
siastischsten Beitrittsbefürwortern nicht bestritten.
Bundeskanzlerin in dieser Frage herum. Angesichts der
Und natürlich ist es in keiner Weise hinnehmbar, dass derzeitigen Schwierigkeiten im Beitrittsprozess reicht
unter dem Vorwand der sogenannten Ergenekon-Ermitt- die demonstrative Passivität von Frau Merkel schon
lungen in den letzten Jahren immer mehr Journalisten in aus, um klar zu machen, dass die derzeitige Bundesre-
der Türkei ohne Beweise inhaftiert worden sind. Die gierung nicht mehr an der Seite der Türkei steht.
jüngsten Verhaftungen der beiden verdienten Journalis-
Die Folgen sind verheerend: Gerade die Menschen,
ten Ahmet Sik und Nedim Sener lassen vermuten, dass
die in der Türkei mutig für mehr Demokratie und Rechts-
der Fall Ergenekon von den jetzt in der Türkei Regieren-
staatlichkeit eintreten, fühlen sich von der jetzigen Bun-
den dazu genutzt wird, kritische Journalisten mundtot zu
desregierung im Stich gelassen. Für diese Menschen
machen. Dieser Angriff auf die Pressefreiheit stellt ganz
war die Beitrittsperspektive immer die entscheidende
eindeutig einen Rückschritt auf dem Weg der Türkei in
Unterstützung in ihrem Kampf für die Menschenrechte.
die EU dar.
Doch jeder, der zu Recht die Verletzung von Minder- Doch auch immer mehr Teile der politischen und
heitenrechten, Pressefreiheit und anderen Bürgerrech- wirtschaftlichen Eliten der Türkei wenden sich frustriert
ten in der Türkei kritisiert, müsste doch eigentlich ein von Europa ab. Jetzt, wo endlich die Reformen in Gang
großes Interesse an Fortschritten der Türkei im EU-Bei- kommen, die die Europäer als Bedingung für den Eintritt
trittsprozess haben. gefordert haben, schlägt man ihnen die Türe vor der
Nase zu. Wer aber den politischen Eliten in der Türkei
Und in der Tat kann man feststellen, dass seit 1999, die europäische Perspektive verweigert, zwingt diese ge-
als der Europäische Rat von Helsinki der Türkei den radezu dazu, sich neue Perspektiven zu suchen. Hier

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11085
Dietmar Nietan
(A) bieten sich dann leider insbesondere der Nationalismus an einer Anbindung des Landes an die Europäische (C)
und der Islamismus an. Das kann nicht in unserem Inte- Union. Die 2005 mit dem Ziel des Beitritts aufgenomme-
resse sein. Besonders scheinheilig ist es dann auch noch, nen Verhandlungen sind ein Prozess mit offenem Ende,
wenn sich die Konservativen in Europa, die der Türkei der keinen Automatismus begründet und dessen Aus-
seit Jahren die kalte Schulter zeigen, jetzt lauthals darü- gang sich nicht im Vorhinein garantieren lässt.“
ber beschweren, dass die Türkei sich vom Westen ab-
Die Kollegen und Kolleginnen von Bündnis 90/Die
wende.
Grünen sehen also, die Koalition hat das Thema auf der
Die Türkei spielt eine herausragende Rolle in der Re- Agenda. Und es ist eine Selbstverständlichkeit, beste-
gion. Ihre geostrategische Lage ist von größter Bedeu- hende Verträge und Vereinbarungen einzuhalten. Da
tung. Nahost-Konflikt, Schwarzmeer-Kooperation, Er- machen wir im Fall der Türkei keine Ausnahmen. Wa-
schließung der Energiereserven im Kaspischen Raum, rum sollten wir auch?
Irak, Iran, Versöhnung des Orient mit dem Okzident Die FDP-Bundestagsfraktion ist der Auffassung, dass
oder auch die Energiesicherheit – es gibt an der europä- der EU-Beitritt der Türkei grundsätzlich absolut unter-
ischen Peripherie kaum eine Frage von Belang, bei der stützenswert ist. Wenn die Türkei beitrittsfähig und die
die Türkei nicht eine entscheidende Rolle spielt. Europäische Union aufnahmefähig ist, dann wäre eine
Wie sehr würde es gerade uns Deutschen, aber auch Vollmitgliedschaft die beste Form unserer Zusammenar-
der EU insgesamt zum Vorteil gereichen, wenn wir in all beit. Die Verhandlungen sind ergebnisoffen, und es gibt
diesen Fragen die Türkei als Freund und Partner an un- keine Garantien; aber man muss auch klar sagen, was
serer Seite hätten. Vielleicht muss man es einmal so man will. Ich tue das und wir tun das: Wir wollen, dass
deutlich sagen: Es scheint so, als haben all die konser- diese früher oder später erfolgreich abgeschlossen wer-
vativen Kräfte in Europa in ihrer teilweise schon obses- den.
siven Anti-Türkei-Agitation völlig aus den Augen verlo- Eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei als
ren, dass wir die Türkei am Ende möglicherweise mehr Mitglied der Europäischen Union brächte eine Reihe
brauchen als diese uns. von wichtigen Vorteilen: So wies die Türkei in den letz-
Niemand will der Türkei einen Rabatt im Beitrittspro- ten Jahren ein wirklich beeindruckendes Wirtschafts-
zess einräumen. Niemand geht von einem Beitrittsauto- wachstum auf. Das muss man sich nur einmal im G-20-
matismus aus. Niemand bestreitet die immer noch Verleich anschauen. Sie ist weiterhin mit einem Durch-
vorhandenen Defizite in puncto Rechtsstaatlichkeit, schnittsalter von 27,7 Jahren ein sehr junges Land. Für
Pressefreiheit und Minderheitenrechte in der Türkei. eine alternde Europäische Union – denken Sie nur an
Niemand behauptet, dass die Türkei schon morgen Mit- unsere mit durchschnittlich 44 Jahren fast doppelt so
(B) glied der EU werden könnte. Niemand glaubt, dass ein alte Republik – wäre das ein Gewinn. Und die Türkei (D)
Beitritt der Türkei in die EU ein Kinderspiel sei. Nie- kann eine Brücke in die islamische Welt sein, die zur
mand bestreitet, dass die EU selbst dringend weiterer friedlichen Völkerverständigung beiträgt.
Reformen bedarf, um ihre eigene Aufnahmefähigkeit zu Zudem wäre ein Beitritt der Türkei eine echte Feuer-
stärken. taufe für die Europäische Union als Wertegemeinschaft.
Doch gerade angesichts der dramatischen Ereignisse Der Islam ist seit dem Mittelalter ein Teil Europas, wie
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft rund um das etwa der Blick auf Südspanien, den Balkan oder die isla-
Mittelmeer brauchen wir jetzt eine EU, die sich nicht ab- mischen Einflüsse am apulischen Hof des in der deut-
kapselt und sich in Ängsten ergeht, sondern mit Mut und schen Nationalgeschichte ja nun nicht gerade unbedeu-
Zuversicht ihrer Rolle als ein gutes Beispiel für politi- tenden Kaisers Friedrich II. zeigt. Dies lässt sich nicht
sche Weitsicht und beherztes Eintreten für die Werte von wegdiskutieren. Vielmehr sollten wir diese Tatsache an-
Demokratie und Menschenrechten gerecht wird. erkennen und die Chance darin erkennen, gerade vor
dem Hintergrund der aktuellen politischen Gescheh-
Dem Beitrittsprozess mit der Türkei jetzt neue Im- nisse in Nordafrika und insbesondere Libyen. Diese zei-
pulse zu geben und somit zu dem Versprechen zu stehen, gen doch: Europa braucht eine demokratische Türkei.
das wir der Türkei 1963 gegeben haben, das wäre eine
Die Türkei kann eine Schlüsselrolle und Vorbildfunk-
wirklich weitsichtige Politik. Aber noch wichtiger wäre
tion für andere islamische Staaten einnehmen. Die türki-
dabei das Signal, welches wir den Menschen innerhalb
sche Verfassungsreform des letzten Jahres bietet dafür
und außerhalb der EU geben würden: dass wir selbst
die besten Voraussetzungen und zeigt Schritte in die
nämlich immer noch an die Kraft unserer eigenen euro-
richtige Richtung, die wir selbstverständlich weiterhin
päischen Ideen glauben.
unterstützen werden. Die Türkei kann sich darauf ver-
lassen, dass wir sie auf ihrem Weg zu mehr Demokratie
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): und Rechtsstaatlichkeit begleiten. Ich hoffe, es freut die
Heute überraschen uns die Grünen ausnahmsweise Kollegen und Kolleginnen von Bündnis 90/Die Grünen,
einmal mit Regierungskritik im Gewand der EU-Bei- dass wir das auch ohne ihren Antrag tun. Immerhin be-
trittsverhandlungen mit der Türkei. Dazu möchte ich Ih- haupten Sie in Ihrem Antrag, die Bundesregierung habe
nen noch einmal die Koalitionsvereinbarung zwischen die Blockade der EU-Beitrittsverhandlungen mit der
Union und FDP in Erinnerung rufen. Dort heißt es: Türkei mit zu verantworten. Später in Ihrem Antrag
„Deutschland hat ein besonderes Interesse an einer Ver- schreiben Sie dann bereits, wir selbst hätten eine Blo-
tiefung der gegenseitigen Beziehungen zur Türkei und ckadehaltung. Ganz so sicher sind Sie sich dabei offen-

Zu Protokoll gegebene Reden


11086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) sichtlich nicht. Aber ich kann ihre Verwirrung auflösen, Leider greifen auch konservative Parteien wie CDU (C)
weil es nämlich so oder so schlicht nicht stimmt. Sie wol- und CSU diese Stimmungen auf. Ein Ausdruck davon ist,
len hier etwas herbeireden, was nicht da ist. Und das dass im Koalitionsvertrag der Bundesregierung die Bei-
wissen Sie im Grunde genommen auch selbst. trittsverhandlungen mit der Türkei nur noch als „ergeb-
nisoffen“ bezeichnet wurden – ein Zugeständnis an den
Mit Blick auf den EU-Beitritt der Türkei muss man je- rechten Flügel der CDU und insbesondere der CSU.
doch feststellen, dass zurzeit weder die Türkei beitritts- Und es mehren sich die Stimmen in der Bundesregie-
fähig noch die Europäische Union aufnahmefähig ist. rung, die die Beitrittsverhandlungen insgesamt ableh-
Dabei hilft es der Türkei und auch uns überhaupt nicht, nen und nur noch von einer „privilegierten Partner-
ihren Reformbedarf, so wie Sie es tun, herunterzuspie- schaft“ sprechen. So etwas wird in der Türkei sehr
len. Die Türkei hat zuletzt nicht die „atemberaubende genau wahrgenommen und wirkt sich dort negativ auf
Entwicklung“ durchgemacht, wie Sie sie beschreiben. die demokratischen Reformprozesse aus. Dies konnte
Der Fortschrittsbericht der Europäischen Union spricht ich bei der Delegationsreise des EU-Ausschusses in die
diesbezüglich eine deutliche Sprache: Es gibt noch viel Türkei sehr deutlich feststellen. Mit solchen Signalen
zu tun, vor allem bei den Grund- und Minderheitenrech- wird nicht nur dem Beitrittsprozess zur EU ein Bären-
ten, insbesondere von ethnischen und religiösen Minder- dienst erwiesen, sondern auch denjenigen in der Türkei,
heiten wie beispielsweise den Griechen, den Armeniern, die an einer demokratischen Weiterentwicklung interes-
den Aramäern und den Aleviten, und dem Aufbruch der siert sind.
Blockade in der Zypern-Frage.
Zweitens gibt es parallel zu dieser Entwicklung in der
Auch die aktuellen Geschehnisse im Zuge des Ergenekon- EU auch besorgniserregende Entwicklungen in der Tür-
Verfahrens sorgen zu Recht für erhebliches Aufsehen. kei selbst. Es ist überhaupt nicht hilfreich, die Lage der
Hier sind kritische Fragen berechtigt, und wir alle müs- Menschenrechte und der Demokratie in der Türkei
sen diese stellen – gerade als Freunde und Partner. schönzureden und auf die „atemberaubende“ ökonomi-
Gleichzeitig bietet genau dieser Prozess für die Türkei sche Entwicklung zu verweisen, wie das der grüne An-
aber auch die Chance, die Unabhängigkeit der Justiz trag leider tut. Ich möchte hier einige Beispiele auffüh-
und die rechtsstaatlichen Standards der Türkei unter Be- ren, die ich höchst besorgniserregend finde.
weis zu stellen. Wir müssen hier kritisch hinschauen –
und dann werden wir sehen. Der grüne Antrag begrüßt eine angeblich offene De-
batte in der Kurdenfrage. Leider bleibt es bei dieser De-
Die Türkei wäre eine große Bereicherung für die Eu- batte. Die Verweigerung elementarer Rechte und die po-
ropäische Union. Dazu muss sie weitere Fortschritte litische Repression gegenüber dem kurdischen
machen. Eine solche Entwicklung braucht seine Zeit. Bevölkerungsteil bleiben bestehen. So sitzen zahllose (D)
(B) Drängeln hilft da nicht weiter. Sie müssen sich aber je-
Funktionäre und gewählte Vertreter der legalen kurdi-
denfalls keine Sorgen machen: Die Beitrittsverhandlun- schen Partei für Frieden und Gerechtigkeit, BDP, dar-
gen mit der Türkei sind bei der Koalition in guten Hän- unter auch viele Bürgermeister, seit nunmehr zwei Jah-
den. ren in Untersuchungshaft. Ihnen wird eine Verteidigung
Aus den dargelegten Gründen werden wir den Antrag in ihrer Muttersprache verweigert. Der Menschen-
der Grünen ablehnen. Denn da wo Ihr Antrag richtig ist, rechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning,
brauchen wir ihn nicht. Und dort, wo er falsch ist, brau- spricht hier von einer „Verletzung fundamentaler
chen wir ihn erst recht nicht. Rechte“. Darüber hinaus gibt es leider immer wieder
Übergriffe der türkischen Sicherheitskräfte in den kurdi-
schen Gebieten, wie es auch im EU-Fortschrittsbericht
Andrej Hunko (DIE LINKE): zur Türkei konstatiert wird. Das alles sollte sehr deut-
Wir diskutieren heute den Antrag der Grünen „EU- lich benannt und kritisiert werden.
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben“.
In der Tat ist es so, dass die Beitrittsverhandlungen mit Im Falle der Meinungsfreiheit gibt es leider eine zu-
der Türkei nach dem hoffnungsvollen Beginn 2004 er- nehmende Zahl an Inhaftierungen von Journalistinnen
lahmt sind und gegenwärtig stagnieren. Diese Erlah- und Journalisten sowie Schriftstellerinnen und Schrift-
mung hat im Wesentlichen zwei Gründe, auf die der An- stellern. Die Fälle Dogan Akhanli und Pinar Selek sind
trag der Grünen nicht oder nur unzureichend eingeht. ja in den deutschen Medien breit kommuniziert worden.
In einem anderen Fall, Nevim Berktas, hat der EuGHM
Erstens wachsen innerhalb der EU rassistische und die Türkei vor kurzem verurteilt. Aber es gibt sehr viel
rechtspopulistische Stimmungen, die die Türkei als frem- mehr Journalistinnen und Journalisten sowie Schrift-
den Kulturraum betrachten, der mit Europa nichts zu stellerinnen und Schriftsteller, die inhaftiert sind. Die
tun habe. So hat die österreichische FPÖ angekündigt, türkische Journalistengewerkschaft sprach zuletzt von
eine europäische Bürgerinitiative gegen die EU-Bei- 55. Der Präsident der Europäischen Journalisten-Föde-
trittsverhandlungen mit der Türkei zu starten. Die ration sprach im Januar vor der Parlamentarischen Ver-
Grundlage solcher Stimmungen sind nicht konkrete De- sammlung von 120 weiteren, deren Verhaftung er be-
mokratiedefizite oder Menschenrechtsverletzungen, die fürchtet. All das ist sehr besorgniserregend und muss
es im Zuge der Beitrittsverhandlungen zu überwinden benannt werden.
gilt, sondern Ablehnungen gegenüber den Menschen aus
der Türkei an sich. Dagegen gilt es deutlich und ent- Nach wie vor wird die größte religiöse Minderheit,
schieden Flagge zu zeigen. die alevitische Gemeinde, unterdrückt. Auch hier kon-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11087
Andrej Hunko
(A) statiert der EU-Fortschrittsbericht zur Türkei keine Dynamik und die Intensivierung der vor zehn Jahren be- (C)
Fortschritte. gonnenen Reformen in der Türkei sind. Die türkische
Justiz braucht eine Generalsanierung in Sachen Rechts-
Die Gewerkschaftsrechte in der Türkei entsprechen staatlichkeit, um endlich Schluss zu machen, dass jeder
ebenfalls nicht demokratischen Standards. Laut EU- Verdächtige unmittelbar und quasi prophylaktisch in
Fortschrittsbericht erfüllen sie nicht die Standards der Haft genommen werden kann und manchmal sogar Jahre
ILO und der EU. im Gefängnis verbringen muss, bevor seine Schuld recht-
Zentraler Streitpunkt und gegenwärtiger Hauptgrund lich bewiesen ist. Bei solchen Fragen sind wir parteiisch –
für die Blockade der Beitrittsverhandlungen ist aber die parteiisch für Menschen- und Bürgerrechte und für um-
Zypern-Frage. Hier weigert sich die Türkei, das An- fassende und vorbehaltlose Pressefreiheit. Die EU muss
kara-Protokoll zu ratifizieren. Dieses Protokoll, das den die Beitrittsverhandlungen ebenfalls im Namen dieser
Warenverkehr mit der Republik Zypern regelt, war ur- fundamentalen Rechte der Menschen in der Türkei füh-
sprünglich eine Voraussetzung für die Beitrittsverhand- ren. Neben Fortschritten und der Entwicklung auf vielen
lungen. Deswegen blockiert Zypern auch zu Recht die wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen
Eröffnung weiterer Kapitel. Dies hat auch der Deutsche Feldern muss sie auch dazu beitragen, mit einer glaub-
Bundestag immer wieder deutlichgemacht, so etwa am würdigen Beitrittsperspektive die türkische Innen- und
9. Mai 2007 im gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, Rechtspolitik demokratisch und rechtsstaatlich zu ge-
SPD, FDP und Grünen, in dem von der Türkei erwartet stalten und zu stabilisieren.
wird, dass das Ankara-Protokoll „vollständig imple- Einige Regierungen der EU-Staaten, die aus innenpo-
mentiert wird“. litischen Gründen gegen den EU-Beitritt der Türkei wa-
Nun fordern die Grünen in ihrem Antrag die Bundes- ren und sind, haben es nun erreicht, dass die Beitritts-
regierung auf, gleichzeitig die Forderungen aus dem al- verhandlungen stagnieren. Vom bisherigen Rhythmus
ten Antrag umzusetzen und sich gegenüber den anderen einer Kapiteleröffnung pro Präsidentschaft wurde be-
Mitgliedstaaten und der Türkei dafür einzusetzen „die reits abgewichen. Faktisch besteht die Gefahr, dass die
Blockaden aufgrund mangelnder Umsetzung des An- Verhandlungen ganz zum Stillstand kommen. Das wäre
kara-Protokolls zu lösen“. Das widerspricht sich nicht ein Pyrrhussieg für Sarkozy und die Bundesregierung
nur, sondern stellt eine Kehrtwende um 180 Grad dar. von Frau Merkel. Bei Sarkozy weiß man ja, dass seine
Konkret bedeutet das, jetzt Zypern unter Druck zu set- Politik kaum europapolitische Ambitionen hegt. Sein
zen, obwohl der Spielball hier eindeutig bei der Türkei Tun und Lassen steht nur im Dienste einer auf seine Wie-
liegt. Ich finde das völlig kontraproduktiv. derwahl zugeschnittenen Innenpolitik. Sich kritiklos ei-
ner solchen Politik anzuschließen, ist ein Armutszeug-
(B) Zusammenfassend möchte ich festhalten: Die Linke nis. Mit der aktuellen Türkei-Politik bricht die schwarz- (D)
ist für die Fortsetzung und Wiederbelebung der Beitritts- gelbe Regierungskoalition mit der Politik der Bundesre-
verhandlungen mit der Türkei. Diese müssen entlang gierungen in den letzten Jahrzehnten bis 2009.
klarer demokratischer und menschenrechtlicher Krite-
rien geführt werden, wie sie auch in den Kopenhagener Die Koalition setzt zentrale strategische wirtschafts-,
Kriterien festgelegt sind. Sowohl in der EU als auch in außen- und sicherheitspolitische Interessen Deutsch-
der Türkei gibt es Kräfte, die die Beitrittsverhandlungen lands und der EU für innenpolitische Taktik aufs Spiel.
beenden wollen. Es ist notwendig, diejenigen in der EU Die Wahrheit aber ist: Zentrale Pfeiler der bestehenden
und in der Türkei zu stärken, die sich für die Fortsetzung wirtschaftlichen Integration gründen auf der Beitritts-
der Beitrittsverhandlungen einsetzen, auch um demo- perspektive und drohen bei deren Verlust zu zerfallen.
kratische und rechtsstaatliche Reformen zu befördern. Eine „privilegierte Partnerschaft“, die vor allem von
Die wünschenswerte Wiederbelebung des Beitrittspro- Unionspolitikern immer wieder gerne – ausweichend
zesses darf aber nicht auf dem Rücken der Republik Zy- oder ablehnend – in den Mund genommen wird, wäre ein
pern erfolgen. Rückschritt gegenüber dem Status quo.
Selbstverständlich muss die Türkei die politischen
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und wirtschaftlichen Kopenhagen-Kriterien erfüllen und
NEN): die daraus abzuleitenden Konsequenzen in Reform-
Im Antrag haben wir ausführlich und eindringlich schritten umsetzen. Diese sind nicht verhandelbar. Von
dargelegt, warum wir angesichts der eingetretenen Sta- einem Beitrittsautomatismus kann daher keine Rede
gnation in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der sein. Die türkische Regierung macht ja selbst deutlich,
Türkei und auch angesichts der dramatischen Entwick- dass vor einem Beitritt weitere grundlegende Staats- und
lungen in den Nachbarregionen der Europäischen Rechtsreformen durchgeführt werden müssen.
Union neue außen- und europapolitische Initiativen
brauchen. Die Demokratiebewegungen in den arabischen Län-
dern führen uns vor Augen, welchen Stellenwert eine de-
Manche Entwicklungen in der türkischen Innenpolitik mokratische Türkei für die Menschen in der Region hat
und den verlangsamten Reformprozess in der Türkei und welche stabilisierende Wirkung in der angrenzenden
nehmen wir mit Sorge zur Kenntnis. Vor allem die aktu- krisengeschüttelten, im Umbruch befindlichen Region
ellen Festnahmen von renommierten Journalisten oder von ihr ausgehen kann. Die weitere Vertiefung der de-
Schikanen und juristische Verfolgung von Medienvertre- mokratischen und rechtsstaatlichen Reformen in der
tern machen deutlich, wie dringend notwendig eine neue Türkei kann ein Beispiel dafür sein, wie unsere Vorstel-

Zu Protokoll gegebene Reden


11088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

Claudia Roth (Augsburg)


(A) lungen von Rechtsstaat und Menschenrechten mit isla- Glaubwürdigkeit der EU zu bewahren, den Reformkräf- (C)
misch geprägten Gesellschaften kompatibel sind. ten in der Türkei den Rücken zu stärken und so für mehr
Wohlstand, Stabilität und eine konsequente Einhaltung
Die humanitäre Katastrophe in Japan und die verhee- der Menschenrechte zu sorgen.
renden Folgen von Erdbeben und Tsunami haben uns
alle erschüttert. Die anschließende atomare Katastro-
phe sollte auch für uns in der EU und in der Türkei eine Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Lehre sein, angesichts der energiepolitischen Pläne der Auch hier wird Überweisung der Vorlage auf Druck-
türkischen Regierung, mehrere AKW zu bauen, und an- sache 17/5042 an die in der Tagesordnung aufgeführten
gesichts der Tatsache, dass das gesamte Territorium des Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
Landes hochgradig erdbebengefährdet ist. Einem atom- den? – Das ist der Fall. Dann ist es so beschlossen.
politischen Irrweg der Türkei kann am besten durch eine Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung.
strategische und energiepolitische Einbindung der Tür-
kei durch die EU begegnet werden – einer Türkei, die Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
sich wie übrigens fast alle EU-Länder hinter einem nati- destages auf morgen, Freitag, den 18. März 2011, 9 Uhr,
onalen energiepolitischen Konzept versteckt. ein.
Unbestritten würde eine Türkei in der EU enorm po- Genießen Sie den restlichen Abend und die gewonne-
sitive Wirkungen bei den Integrationsbemühungen von nen Einsichten.
Türkeistämmigen in der EU entfalten. Deshalb bitte ich Die Sitzung ist geschlossen.
Sie um Unterstützung des Antrags, um die aktuellen Blo-
ckaden bei den Beitrittsverhandlungen aufzuheben, die (Schluss: 21.52 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11089

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 17.03.2011 Pieper, Cornelia FDP 17.03.2011

Bellmann, Veronika CDU/CSU 17.03.2011 Dr. Schwanholz, Martin SPD 17.03.2011

Börnsen (Bönstrup), CDU/CSU 17.03.2011 Strothmann, Lena CDU/CSU 17.03.2011


Wolfgang
Vogel (Kleinsaara), CDU/CSU 17.03.2011
Brinkmann SPD 17.03.2011 Volkmar
(Hildesheim),
Bernhard Wellmann, Karl-Georg CDU/CSU 17.03.2011

Bülow, Marco SPD 17.03.2011 Werner, Katrin DIE LINKE 17.03.2011

Burchardt, Ulla SPD 17.03.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 17.03.2011

Dağdelen, Sevim DIE LINKE 17.03.2011


* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
Dr. Danckert, Peter SPD 17.03.2011 lung des Europarates

Dyckmans, Mechthild FDP 17.03.2011


Anlage 2
Ernst, Klaus DIE LINKE 17.03.2011
(B) Erklärungen nach § 31 GO (D)
Fischbach, Ingrid CDU/CSU 17.03.2011 zur namentlichen Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
Fischer (Karlsruhe- CDU/CSU 17.03.2011* und der Fraktion der FDP zu der Abgabe einer
Land), Axel E. Regierungserklärung durch die Bundeskanzle-
rin zur aktuellen Lage in Japan (Tagesord-
Friedhoff, Paul K. FDP 17.03.2011 nungspunkt 5)
Hänsel, Heike DIE LINKE 17.03.2011
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU): Ausgelöst durch die
Hempelmann, Rolf SPD 17.03.2011 schrecklichen Ereignisse in Japan hat in der CDU/CSU-
Fraktion ein Prozess der Neubewertung eingesetzt. Die
Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 17.03.2011 im Herbst 2010 beschlossene – von mir nicht mitgetra-
DIE GRÜNEN gene – „Laufzeitverlängerung“ für Kernkraftwerke wird
infrage gestellt. Ich werde mich dafür einsetzen, dass am
Holmeier, Karl CDU/CSU 17.03.2011 Ende dieses Prozesses ein wesentlich schnellerer Aus-
stieg aus der Kernenergie steht – und ich glaube, das
Kipping, Katja DIE LINKE 17.03.2011 wird auch gelingen. Deswegen unterstütze ich den Ent-
schließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion, der – und ich
Koch, Harald DIE LINKE 17.03.2011 betrachte das als ersten Schritt – unter anderem eine
grundlegende Überprüfung der Sicherheit der deutschen
Kossendey, Thomas CDU/CSU 17.03.2011 Kernkraftwerke fordert.
Kramme, Anette SPD 17.03.2011 Ich teile im Übrigen durchaus einige Forderungen aus
den Entschließungsanträgen von SPD und Grünen. Ich
Kunert, Katrin DIE LINKE 17.03.2011 werde diesen Entschließungsanträgen allerdings nicht
zustimmen. Ich habe nicht den Eindruck, dass es der
Dr. Middelberg, Mathias CDU/CSU 17.03.2011 SPD und den Grünen mit ihren Anträgen primär darum
geht, die Sicherheit der Kernkraftwerke zu erhöhen und
Nietan, Dietmar SPD 17.03.2011 den Ausstieg aus der Kerntechnologie zu beschleunigen.
Die Diskussion und die Art der Argumentation zeigen,
Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 17.03.2011 dass es im Gegenteil wohl eher darum geht, Regierung
11090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) und Regierungsfraktionen zu beschädigen, obwohl diese diesem Prozess sollte Deutschland eine Vorreiterrolle (C)
dabei sind, ihre Entscheidungen aus dem Jahr 2010 zu einnehmen.
hinterfragen, auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und neu
zu bewerten. Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/
CSU): Erstens. Ich werde zum Entschließungsantrag auf
Ute Granold (CDU/CSU): Meine Zustimmung vom Drucksache 17/5048 mit Enthaltung stimmen.
November 2010 zur Verlängerung der Restlaufzeiten der
Zweitens. Auch bin ich der Meinung, dass die Bun-
deutschen Kernkraftwerke als Teil eines umfassenden
desregierung und der Deutsche Bundestag nach der Na-
Energiekonzeptes für Deutschland beruhte auf der An-
turkatastrophe in Japan nicht zur Tagesordnung überge-
nahme, dass dieses Konzept einen alternativlosen Weg in
hen dürfen. Das Leid, das die Menschen in Japan heim-
das regenerative Zeitalter aufweist, ohne den die Ener-
gesucht hat, hat auch mich tief bewegt und betroffen ge-
gieversorgungssicherheit nicht zu gewährleisten sein
macht.
würde. Dabei war für mich klar, dass der Laufzeitverlän-
gerung eine Brückenfunktion zukommt. Ein erheblicher Drittens. Maßnahmen, die die Bundesregierung in Ver-
Teil der zusätzlichen Einnahmen sollte zur Finanzierung antwortung für die Sicherheit der deutschen Bevölkerung
der Umstellungskosten auf erneuerbare Energien abge- einleitet, sind aber unter dem Licht des Art. 20 Abs. 3 GG
schöpft und verwendet werden. daraufhin zu überprüfen, ob es sich um rein administra-
tive Maßnahmen handelt oder ob sie einer gesetzgeberi-
Zudem war meine Zustimmung an das Junktim ge- schen Begleitung bedürfen. Die Bundesregierung hat
bunden, dass die Laufzeitverlängerung an eine deutliche – was der Antrag begrüßt – in einem Moratorium die
Erhöhung der Sicherheitsstandards gekoppelt ist, die die Aussetzung der Verlängerung der Laufzeiten der Kern-
maximale, nach menschlichem Ermessen mögliche Si- kraftwerke in Deutschland verfügt. Ein Moratorium ist
cherheit der deutschen Kernkraftwerke sicherstellt. Die eine Entscheidung, eine Handlung aufzuschieben oder
schrecklichen und unfassbaren Ereignisse in Japan die- zeitlich zu unterlassen oder aber ein „Abkommen“ vo-
ser Tage zeigen jedoch, dass es diese Sicherheit im Um- rübergehend außer Kraft zu setzen. Im Zusammenhang
gang mit Kernkraft nicht gibt. Das bis vor wenigen Ta- mit der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken kann
gen Undenkbare ist nunmehr Realität geworden. Das es nur eine Außerkraftsetzung eines Gesetzes bedeuten.
nicht beherrschbare Restrisiko manifestiert sich in den Dem steht aber Art. 20 Abs. 3 GG entgegen. Gesetze
dramatischen und unfassbaren Ereignissen und Bildern, können nur durch ein Aufhebungsgesetz des Deutschen
deren Zeugen wir nunmehr sind. Bundestages außer Kraft gesetzt werden.
Angesichts der neuen Erkenntnisse wurde jetzt ent- Viertens. Im Übrigen bedarf es der Aussetzung eines
(B) schieden, die gesetzliche Verlängerung der Laufzeiten atomrechtlichen Gesetzes dann nicht, wenn man – wie (D)
für drei Monate auszusetzen und alle vor 1980 in Betrieb die Bundesregierung – davon ausgeht, die zur Sicher-
genommenen Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen. heitsüberprüfung der Atomkraftwerke notwendigen
Diesen Schritt begrüße ich vor dem Hintergrund der real Maßnahmen können auf der Rechtsgrundlage des
gewordenen Bedrohungslage ausdrücklich. § 19 Abs. 3 Ziffer 3 AtG verfügt werden. Ob über
Dem heutigen Antrag stimme ich zu, weil ich fest § 19 Abs. 2 Ziffer 3 AtG der von der Bundesregierung
davon ausgehe, dass der jetzt begonnene Prozess der kri- verfolgte Zweck erreichbar ist, scheint allerdings frag-
tischen Überprüfung der bestehenden Sicherheitsstan- lich. Es ist nämlich strikt zwischen Genehmigungs- und
dards im Speziellen und der grundsätzlichen Überprü- Aufsichtsverfahren zu differenzieren. Nach Genehmi-
fung der Kernenergie im Allgemeinen nur zu dem gungserteilung ist es Aufgabe der Aufsichtsbehörde, dem
Ergebnis führen kann, dass die älteren, vor 1980 in Be- Genehmigungsinhaber etwaige Defizite gegenüber dem
trieb genommenen Kernkraftwerke nicht wieder ans Gesetz oder den Anforderungen des Genehmigungsbe-
Netz gehen und jetzt endgültig abgeschaltet werden. Die scheides nachzuweisen. Ob § 19 Abs. 3 Ziffer 3 AtG
von der Bundesregierung veranlasste umfassende Prü- herangezogen werden kann, um ein vorübergehendes Ab-
fung aller deutschen Kernkraftwerke darf keine Tabus schalten von Kernkraftwerken zu verfügen, wenn Grund-
kennen und muss Sicherheitsfragen allerhöchste Priorität lage einer Sicherheitsüberprüfung lediglich eine verän-
einräumen. derte sicherheitspolitische Betrachtung ist, scheint im
Übrigen fraglich.
Ich erwarte, dass der Antrag, dem ich heute zu-
stimme, einen Weg einleitet, an dessen Ende ein
Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU): Erstens. Ich
schnellstmöglicher und vollständiger Ausstieg aus der
werde dem Entschließungsantrag auf Drucksache 17/5048
Kernkraft in Deutschland steht. Ich appelliere an die
trotz erheblicher Bedenken zustimmen.
Bundesregierung, alle denkbaren Anstrengungen einzu-
leiten, um auch die dann noch verbliebenen Kernkraft- Zweitens. Mit großer Sorge verfolgen wir die kriti-
werke möglichst schnell vom Netz zu nehmen. Dies be- sche Lage der betroffenen japanischen Kernkraftwerke.
inhaltet eine deutlich verstärkte Förderung regenerativer Auch wenn in Deutschland so starke Erdbeben wie in Ja-
Energien, den notwendigen Ausbau der Energienetze so- pan und Tsunamis unbekannt sind, können wir nicht ein-
wie wirksame Energiesparkonzepte. Dieser Weg muss in fach zur Tagesordnung übergehen. Besonders, weil es
enger Abstimmung mit den europäischen Nachbarstaa- sich bei Japan auch um ein Hochtechnologieland mit
ten erfolgen, die ebenfalls von einem umgehenden Aus- enormen Sicherheitsstandards handelt, müssen wir prü-
stieg aus der Atomenergie überzeugt werden müssen. In fen, was wir lernen können. Als Konsequenz aus den
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11091

(A) Katastrophen in Japan ist es aus meiner Sicht richtig, die Entschließungsantrag der Fraktion BÜND- (C)
Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke erneut zu über- NIS 90/DIE GRÜNEN zu der Abgabe einer Re-
prüfen. Die Aussetzung der Laufzeitverlängerung für gierungserklärung durch die Bundeskanzle-
drei Monate durch die Bundesregierung halte ich aber rin zur aktuellen Lage in Japan (Drucksache
nicht für rechtlich bindend, da es an der Zuständigkeit 17/5052) (Tagesordnungspunkt 5)
fehlt. Nicht die Bundesregierung hat nach meiner Mei-
Mein Votum lautet: Nein.
nung hierüber zu entscheiden, sondern das Parlament
oder im Rahmen der Auftragsverwaltung die Bundeslän-
der, wenn die Sicherheit nicht mehr gegeben ist. Ich
Anlage 5
kann daher dem Entschließungsantrag von CDU/CSU
und FDP zwar zustimmen, halte die entsprechenden Pas- Erklärung
sagen aber für unbestimmt bzw. ungenau.
des Abgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU/
Wir müssen uns nach meiner Meinung vielmehr vor CSU) zur namentlichen Abstimmung über den
dem Hintergrund der Katastrophe in Japan fragen, ob die Entschließungsantrag der Fraktion BÜND-
Akzeptanz der Kernenergie in der Bevölkerung derart NIS 90/DIE GRÜNEN zu der Abgabe einer Re-
geschwunden ist und die Angst der Menschen derart ge- gierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zur
wachsen ist, dass die Kernkraftwerke schneller vom aktuellen Lage in Japan (Drucksache 17/5052)
Netz genommen werden müssen, als dies derzeit gesetz- (Tagesordnungspunkt 5)
lich geregelt ist. Ein Parlament muss die Ängste der
Mein Name erscheint nicht in der Abstimmungsliste.
Menschen ernst nehmen. Dies ist aber eine politische
Mein Votum lautet: Nein.
Entscheidung, die nur vom Parlament getroffen werden
kann – nicht von Teilen der Bundesregierung und eini-
gen Ministerpräsidenten.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
Anlage 3
der Abgeordneten Petra Hinz (Essen) (SPD) zur
Erklärung nach § 31 GO namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung: Gegen Armut und soziale Aus-
der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann grenzung – Soziale Fortschrittsklausel in das
(DIE LINKE) zur namentlichen Abstimmung EU-Vertragswerk aufnehmen (Tagesordnungs-
über die Nummer 3 des Entschließungsantrags punkt 33 e)
(B) der Fraktion der SPD zu der Abgabe einer Re- (D)
gierungserklärung durch die Bundeskanzlerin Ich stimme für die Beschlussempfehlung und damit
zur aktuellen Lage in Japan (Tagesordnungs- gegen den Antrag der Linken.
punkt 5) Die Verankerung einer sozialen Fortschrittsklausel in
Ich werde mich bei Nummer 3 der Stimme enthalten. den Europäischen Verträgen ist unsere sozialdemokrati-
sche Idee und wird schon lange von der SPD unterstützt.
Der Atomkompromiss der rot-grünen Bundesregie- Das Präsidium der SPD hat am 14. März 2011 beschlos-
rung war die gesetzliche Garantie für die Energiekon- sen:
zerne, Atomkraftwerke Jahrzehnte weiter betreiben zu
können. Die Laufzeitverlängerung der Bundesregierung Darüber hinaus bedarf die Stabilitätsstrategie in Eu-
hat gezeigt, dass auch diese mit der Atomwirtschaft ver- ropa zwingend einer starken sozialen Dimension …
einbarte Regelung zurückgenommen und somit das Aus- Damit verbinden wir folgende konkrete Forderun-
stiegsszenario umkehrbar gemacht werden konnte. Ein gen: … eine soziale Fortschrittsklausel, die mög-
konsequenter Ausstieg aus der Atomkraft war das nicht. lichst im europäischen Primärrecht verankert ist
und festschreibt, dass die ökonomischen Grundfrei-
Dieser ist alternativlos. Der Ausstiegszeitraum bis heiten des europäischen Binnenmarktes keinen Vor-
zum Ende des Jahrzehnts ist viel zu lang. So ist unter an- rang vor sozialen Grundrechten haben.
derem nach Angaben des Präsidenten des Umweltbun-
desamtes, Jochen Flasbarth, ein kompletter Ausstieg aus Wir Sozialdemokraten haben 2009 gemeinsam mit
der Atomenergie bereits deutlich früher umsetzbar. Es ist dem DGB eine Stellungnahme „SPD und Gewerkschaf-
möglich, den Atomausstieg schneller als bis zum Ende ten – Gemeinsam für sozialen Fortschritt in Europa“ ver-
dieses Jahrzehnts zu vollziehen, ohne dass es zu einem abschiedet. Damit sind wir Urheber dieser Forderung
vermehrten Einsatz fossiler Energien und einem unso- und haben auf dem Weg dahin schon einiges erreicht.
zialen Anstieg der Strompreise kommt. So haben wir mit dem Vertrag von Lissabon bereits
soziale Grundrechte verankern können. Außerdem gibt
es eine soziale Querschnittsklausel (Art. 9 AEUV), dem-
Anlage 4 zufolge die Europäische Union „bei der Festlegung und
Erklärung Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen … den
Erfordernissen in Zusammenhang mit der Förderung ei-
des Abgeordneten Dr. Johann Wadephul (CDU/ nes hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleis-
CSU) zur namentlichen Abstimmung über den tung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Be-
11092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) kämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der (C)
hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesund-
und des Gesundheitsschutzes Rechnung“ trägt. Damit ist heitsschutzes Rechnung“ trägt. Damit ist festgelegt, dass
festgelegt, dass die EU sich an Ziele des sozialen Fort- die EU sich an Ziele des sozialen Fortschritts bindet und
schritts bindet und sozialen Fortschritt als Ziel formuliert sozialen Fortschritt als Ziel formuliert hat.
hat.
Darüber hinaus fordert die SPD jetzt, dass eine so-
Darüber hinaus fordern wir, die Sozialdemokraten, ziale Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag einge-
jetzt, dass eine soziale Fortschrittsklausel in den Lissa- fügt wird, da Art. 136 des Vertrages wegen des Europäi-
bon-Vertrag eingefügt wird, da Art. 136 des Vertrages schen Stabilitätsmechanismus ohnehin verändert werden
wegen des Europäischen Stabilitätsmechanismus ohne- muss. Die SPD beteiligt sich – in enger Abstimmung mit
hin verändert werden muss. Die SPD beteiligt sich – in den Gewerkschaften – auch weiter konstruktiv an der
enger Abstimmung mit den Gewerkschaften – auch wei- Debatte um ein soziales Europa.
ter konstruktiv an der Debatte um ein soziales Europa.
Den Antrag der Linken lehnen wir ab, weil er die For-
Den Antrag der Linken lehne ich ab, insbesondere derung enthält, zukünftige Beitritte von der Aufnahme
wegen der überzogenen Kritik an der Rechtsprechung der sozialen Fortschrittsklausel in die EU-Verträge ab-
des Europäischen Gerichtshofes und der ideologischen hängig zu machen. Diese Forderung können wir nicht
Kritik am Lissabon-Vertrag. Ebenso lehne ich die Forde- teilen.
rung der Linken ab, zukünftige Beitritte von der Auf-
nahme der sozialen Fortschrittsklausel in die EU-Ver-
träge abhängig zu machen. Anlage 8
Deshalb stimme ich in der namentlichen Abstimmung Erklärung nach § 31 GO
für die Beschlussempfehlung des EU-Ausschusses.
der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Beate
Müller-Gemmeke und Hans-Christian Ströbele
Anlage 7 (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur nament-
lichen Abstimmung über die Beschlussempfeh-
Erklärung nach § 31 GO lung: Gegen Armut und soziale Ausgrenzung –
der Abgeordneten Daniela Kolbe (Leipzig) und Soziale Fortschrittsklausel in das EU-Vertrags-
Rüdiger Veit (beide SPD) zur namentlichen Ab- werk aufnehmen (Tagesordnungspunkt 33 e)
stimmung über die Beschlussempfehlung: Ge- Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
(B) gen Armut und soziale Ausgrenzung – Soziale in den Jahren 2007 und 2008, insbesondere in den Sa- (D)
Fortschrittsklausel in das EU-Vertragswerk chen Viking Line, Laval, Rüffert und Luxemburg, hat
aufnehmen (Tagesordnungspunkt 33 e) den sozialen Grundrechten geschadet und zu einem Un-
Wir unterstützen grundsätzlich die Verankerung einer gleichgewicht gegenüber den Grundfreiheiten des Mark-
sozialen Fortschrittsklausel in den Europäischen Verträ- tes geführt. Daher ist es notwendig, die Balance wieder-
gen. Sie ist eine sozialdemokratische Idee und wird herzustellen und sozialen Grundrechten mehr Gewicht
schon lange von der SPD unterstützt. Zuletzt hat das Prä- zu geben. Wir unterstützen daher die Forderung, eine so-
sidium der SPD am 14. März 2011 beschlossen: ziale Fortschrittsklausel in die Verträge der Europäi-
schen Union aufzunehmen.
Darüber hinaus bedarf die Stabilitätsstrategie in Eu-
ropa zwingend einer starken sozialen Dimension … Die konkrete Formulierung des Europäischen Ge-
Damit verbinden wir folgende konkrete Forderun- werkschaftsbundes, auf die sich der Antrag bezieht, ist
gen: … eine soziale Fortschrittsklausel, die mög- ein begrüßenswerter Denkanstoß, kann von uns in dieser
lichst im europäischen Primärrecht verankert ist Form aber nicht mitgetragen werden. Der Vorschlag sta-
und festschreibt, dass die ökonomischen Grundfrei- tuiert einen generellen Vorrang der sozialen Grundrechte
heiten des europäischen Binnenmarktes keinen Vor- innerhalb der Europäischen Verträge. Dies bedeutet, dass
rang vor sozialen Grundrechten haben. soziale Grundrechte Vorrang gegenüber allen anderen in
den Verträgen enthaltenen Normen, sogar denen in der
Die SPD hat 2009 gemeinsam mit dem DGB eine Grundrechtecharta der Europäischen Union, bekommen
Stellungnahme „SPD und Gewerkschaften – Gemeinsam sollen. Für uns sind soziale Grundrechte und die Grund-
für sozialen Fortschritt in Europa“ verabschiedet. Sie ist und Menschenrechte wichtig.
Urheberin dieser Forderung und hat auf dem Weg dahin
schon einiges erreicht. Zudem statuiert der Vorschlag eine Anweisung an Ge-
richte, auch in einer Abwägung verschiedener Grund-
Schon mit dem Vertrag von Lissabon wurden bereits rechtsnormen immer zugunsten der sozialen Grund-
soziale Grundrechte verankert. Außerdem gibt es eine so- rechte zu entscheiden. Das widerspricht unserem
ziale Querschnittsklausel (Art. 9 AEUV), derzufolge die Grundrechtsverständnis, weil aus unserer Sicht eine
Europäische Union „bei der Festlegung und Durchfüh- durch die Gerichte im Einzelfall unabhängige Abwä-
rung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen … den Erforder- gung von Grundrechten geboten ist.
nissen in Zusammenhang mit der Förderung eines hohen
Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines an- Wir befürworten eine soziale Fortschrittsklausel, die
gemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der die sozialen Grundrechte gegenüber den Grundfreiheiten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11093

(A) des Marktes stärkt. Eine soziale Fortschrittsklausel, die rung der Linken ab, zukünftige Beitritte von der Auf- (C)
allerdings generell Vorrang genießt, bewegt sich nicht nahme der sozialen Fortschrittsklausel in die EU-Ver-
im Grünen-Rechtsverständnis. Dem Antrag in dieser träge abhängig zu machen.
Form können wir nicht zustimmen. Weil auch wir eine
soziale Fortschrittsklausel unterstützen, werden wir uns
enthalten. Anlage 10
Erklärung nach § 31 GO
Anlage 9 der Abgeordneten Sibylle Laurischk (FDP) zur
Abstimmung über den Entwurfs eines Gesetzes
Erklärungen nach § 31 GO
zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum
der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Heinz besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat
Paula, Petra Crone und Kerstin Tack (alle SPD) sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- und
zur namentlichen Abstimmung über die Be- asylrechtlicher Vorschriften (Tagesordnungs-
schlussempfehlung: Gegen Armut und soziale punkt 9 a)
Ausgrenzung – Soziale Fortschrittsklausel in
das EU-Vertragswerk aufnehmen (Tagesord- Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämp-
nungspunkt 33 e) fung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Op-
fer von Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer auf-
Die Verankerung einer sozialen Fortschrittsklausel in enthaltsrechtlicher und asylrechtlicher Vorschriften ist
den Europäischen Verträgen ist eine sozialdemokratische vorgesehen, die Mindestbestandszeit einer Ehe zur Be-
Idee und wird schon lange von der SPD unterstützt. Zu- gründung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts, von
letzt hat das Präsidium der SPD am 14. März 2011 be- zwei auf drei Jahre zu erhöhen. In der Begründung des
schlossen: Gesetzentwurfs wird dazu ausgeführt, dass Wahrneh-
mungen aus der ausländerrechtlichen Praxis darauf hin-
Darüber hinaus bedarf die Stabilitätsstrategie in Eu- deuten, dass durch die im Jahr 2000 vorgenommene Ver-
ropa zwingend einer starken sozialen Dimension ... kürzung der Ehebestandszeit von vier auf zwei Jahren
Damit verbinden wir folgende konkrete Forderun- der Anreiz für ausschließlich zum Zwecke der Erlan-
gen: ... eine soziale Fortschrittsklausel, die mög- gung eines Aufenthaltstitels beabsichtigte Eheschließun-
lichst im europäischen Primärrecht verankert ist gen gesteigert worden sei. Durch die Erhöhung der Ehe-
und festschreibt, dass die ökonomischen Grundfrei- bestandszeit auf drei Jahre würde der Anreiz für die
(B) heiten des europäischen Binnenmarktes keinen Vor- Eingehung einer Scheinehe verringert und durch die Ver- (D)
rang vor sozialen Grundrechten haben. längerung des Zeitraums gleichzeitig die Wahrschein-
Wir haben 2009 gemeinsam mit dem DGB eine Stel- lichkeit der Aufdeckung einer Scheinehe vor Entstehung
lungnahme „SPD und Gewerkschaften – Gemeinsam für eines eigenständigen Aufenthaltsrechts erhöht.
sozialen Fortschritt in Europa“ verabschiedet. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung hat die Ziel-
So hat die SPD mit dem Vertrag von Lissabon bereits setzung, Opfer von Zwangsheirat besser zu schützen.
soziale Grundrechte verankern können. Außerdem gibt es Die Erhöhung der Ehebestandszeit steht meines Erach-
eine soziale Querschnittsklausel (Art. 9 AEUV), der zu- tens dazu im Widerspruch. Die Gefahr, die Abhängigkeit
folge die Europäische Union „bei der Festlegung und der Opfer von Zwangsheirat von ihren Ehepartnern zu
Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen … den erhöhen, überwiegt gegenüber den Vorteilen, die mit der
Erfordernissen in Zusammenhang mit der Förderung eines Regelung zur Verhinderung von Scheinehen angestrebt
hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung ei- wird. Je länger die aufenthaltsrechtliche Abhängigkeit
nes angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der zwangsverheirateten Frauen vom Bestand der Ehe
der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau andauert, umso länger sind diese Frauen gezwungen, in
der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Ge- einer von Gewalt geprägten Lebenssituation gegen ihren
sundheitsschutzes Rechnung“ trägt. Damit ist festgelegt, Willen auszuharren.
dass die EU sich an Ziele des sozialen Fortschritts bindet Die bereits bestehende Härtefallregelung des § 31
und sozialen Fortschritt als Ziel formuliert hat. Abs. 2 AufenthG, wonach von der zwei- bzw. nun vorge-
Darüber hinaus fordert die SPD jetzt, dass eine so- sehenen dreijährigen Frist abgewichen werden kann,
ziale Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag einge- greift in der Praxis aufgrund von Beweisschwierigkeiten
fügt wird, da Art. 36 des Vertrages wegen des Europäi- in vielen Fällen nicht. Die Zwangsehe stellt zwar einen
schen Stabilitätsmechanismus ohnehin verändert werden Umstand dar, der eine besondere Härte im Sinne dieser
muss. Die SPD beteiligt sich – in enger Abstimmung mit Vorschrift begründen kann. Die hohen Anforderungen an
den Gewerkschaften – auch weiter konstruktiv an der den Nachweis der Zwangslage lässt hingegen viele
Debatte um ein soziales Europa. Frauen davor zurückschrecken, eine Trennung vor Ab-
lauf der Mindestehebestandszeit vorzunehmen. Auch
Den Antrag der Linken lehnen wir ab, insbesondere durch den Änderungsantrag der Fraktionen CDU/CSU
wegen der überzogenen Kritik an der Rechtsprechung und FDP (Ausschussdrucksache 17 (4) 205) hat sich in
des Europäischen Gerichtshofes und der ideologischen Bezug auf die Beweislast keine Verbesserung der Situa-
Kritik am Lissabon-Vertrag. Wir lehnen auch die Forde- tion der betroffenen Frauen ergeben. Zwar wird durch
11094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) die Ergänzung von § 31 Absatz 2 Satz 2 AufenthG um Ausreise gestellt wird und eine positive Integrationspro- (C)
einen weiteren Halbsatz nunmehr ausdrücklich erwähnt, gnose abgegeben werden kann.
dass die Unzumutbarkeit des Festhaltens an der eheli-
chen Lebensgemeinschaft insbesondere dann anzuneh- Als problematisch erachte ich, dass den Opfern von
men ist, wenn der Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt Zwangsheirat, die die oben genannten Voraussetzungen
durch den stammberechtigten Ausländer ist. Dies bringt eines achtjährigen Deutschland-Aufenthalts sowie eines
jedoch in der Praxis keine Beweiserleichterung für die sechsjährigen Schulbesuches in Deutschland nicht erfül-
zwangsverheirateten Frauen mit sich. len, kein Rechtsanspruch auf Rückkehr zusteht. Der Ge-
setzentwurf eröffnet den Behörden einen Ermessens-
Die Verlängerung der für das eigenständige Aufent- spielraum. Die Opfer können somit nicht sicher davon
haltsrecht erforderlichen Frist von zwei auf drei Jahre ausgehen, dass ihnen bei Erfüllung der im Gesetz nor-
würde daher die Situation der Betroffenen insgesamt mierten Voraussetzungen auch tatsächlich ein Rückkehr-
verschlechtern, den Druck auf sie erhöhen und ihre Lei- recht zugestanden wird. Dies führt bei den Betroffenen
denszeit verlängern. In diesem Zusammenhang möchte zu weiteren Unsicherheiten. Daher lehne ich auch die
ich auch darauf verweisen, dass der UN-Frauenrechts- geplante Einfügung des § 37 Abs. 2 a AufenthG im Er-
ausschuss CEDAW im Jahr 2004 ausdrücklich die gebnis ab, da die Regelung meines Erachtens nicht weit
Herabsetzung der Ehebestandsdauer auf zwei Jahre lo- genug geht und sie in der Praxis kaum tatsächliche Rele-
bend hervorgehoben hat. Eine erneute Anhebung der vanz aufweist.
Ehebestandsdauer bedeutet im Umkehrschluss einen
Rückschritt in der Verwirklichung des Menschenrechts
von Frauen auf ein Leben frei von Gewalt. Anlage 11
Im Koalitionsvertrag ist im Kapitel „Integration und Erklärung nach § 31 GO
Zuwanderung“ ein Prüfauftrag bezüglich aller Maßnah-
men zur Verhinderung von Scheinehen, wie zum Bei- der Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und
spiel die Verlängerung der Ehebestandszeit von zwei auf Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) zur Abstim-
drei Jahre, formuliert. Eine Prüfung der im Gesetzent- mung über die Beschlussempfehlung zu dem
wurf nunmehr vorgesehenen Erhöhung der Ehebestands- Antrag:
zeit ist meines Erachtens nicht erfolgt. Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Im Rahmen der heutigen Abstimmung zum Gesetz- Bundesregierung zur Ergänzung von Artikel 136
entwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der des Vertrages über die Arbeitsweise der Euro-
Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von päischen Union (AEUV) hinsichtlich der Ein-
(B) Zwangsheirat sowie zur Änderung weiterer aufenthalts- richtung eines Europäischen Stabilitätsmecha- (D)
rechtlicher und asylrechtlicher Vorschriften werde ich nismus (ESM)
daher mit „Nein“ stimmen. hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
Auch die geplante Änderung des § 37 AufenthG sehe ges nach Artikel 23 Absatz 3 Grundge-
ich kritisch. Grundsätzlich begrüße ich zwar die Anpas- setz i. V. m. § 10 des Gesetzes über die
sung von § 37 Abs. 2 AufenthG, da die Regelung eine Zusammenarbeit von Bundesregierung
Besserstellung der Opfer von Zwangsheiraten im Aus- und Deutschem Bundestag in Angele-
land vorsieht. Allerdings wird von der beabsichtigten genheiten der Europäische Union (Ta-
Neuregelung lediglich ein kleiner Personenkreis begüns- gesordnungspunkt 11)
tigt. Der von der Bundesregierung am 11. März 2011 in
Mit Einfügung des § 37 Abs. 2 a AufenthG wird sol- Brüssel eingeschlagene Weg zur „Änderung des Vertra-
chen Personen ein Rechtsanspruch auf Rückkehr nach ges über die Arbeitsweise der Europäischen Union hin-
Deutschland eingeräumt, die rechtswidrig mit Gewalt sichtlich eines Stabilitätsmechanismus für die Mitglied-
oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zur Einge- staaten, deren Währung der Euro ist – Ratsdok. 17620/10
hung der Ehe genötigt und von der Rückkehr nach (EUCO 30/10, Anlage I) –“ ist der Weg zur Ausweitung
Deutschland abgehalten werden, wenn sie sich vor ihrem des bestehenden Euro-Rettungsschirms, die der Deut-
Auslandsaufenthalt als Minderjährige mindestens acht sche Bundestag nie wollte, ist der Weg zur unbefristeten
Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben so- Verlängerung des Euro-Rettungsschirms, die der Deut-
wie sechs Jahre eine Schule besucht haben und den An- sche Bundestag nie wollte, ist der Weg zur qualitativen
trag auf Rückkehr innerhalb von drei Monaten nach Veränderung der Europäischen Wirtschaftsverfassung,
Wegfall der Zwangslage, spätestens jedoch vor Ablauf die der Deutsche Bundestag nie wollte.
von zehn Jahren seit der Ausreise, gestellt haben. Unab- Alle drei Wege sind und bleiben falsche Wege. Denn
hängig von der Dauer des Aufenthalts in Deutschland es ist nach wie vor richtig, was unsere Frau Bundeskanz-
kann solchen Personen die Rückkehr nach Deutschland lerin in ihrer Regierungserklärung am 27. Oktober 2010
gewährt werden, die rechtswidrig mit Gewalt oder Dro- bezüglich des derzeitigen Rettungsschirms klargestellt
hung mit einem empfindlichen Übel zur Eingehung der hatte:
Ehe genötigt und von der Rückkehr nach Deutschland
abgehalten werden, wenn der Antrag auf Rückkehr in- Er läuft 2013 aus. Das haben wir auch genau so ge-
nerhalb von drei Monaten nach Wegfall der Zwangslage, wollt und beschlossen. Eine einfache Verlängerung
spätestens jedoch vor Ablauf von fünf Jahren seit der kann und wird es mit Deutschland nicht geben, weil
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11095

(A) der Rettungsschirm nicht als langfristiges Instru- weites Schneeballsystem aus ungedeckten zukünftigen (C)
ment taugt, weil er Märkten und Mitgliedstaaten Zahlungsverpflichtungen hätte entstehen können, dürfen
falsche Signale sendet und weil er eine gefährliche wir natürlich auch nicht sagen. Es könnte ja erkannt wer-
Erwartungshaltung fördert. Er fördert die Erwar- den, dass dieses Schneeballsystem nur möglich ist, weil
tungshaltung, dass Deutschland und andere Mit- der Staat aus Gründen der leichteren Finanzierung von
gliedstaaten und damit auch die Steuerzahler dieser Staatsausgaben den Banken Privilegien verliehen hat, die
Länder im Krisenfall schon irgendwie einspringen gegen die Grundprinzipien jeder marktwirtschaftlichen
und das Risiko der Anleger übernehmen können. Ordnung verstoßen.
Diese Worte sind nach wie vor richtig. Die Lage hat Und es ist natürlich eine Beleidigung des heutigen Es-
sich nicht geändert. Offensichtlich wird jedoch, dass im tablishments, wenn man deutlich macht, dass dieses
Mai 2010 der politisch falscheste Satz des noch jungen Geldsystem fast zwangsläufig zur Überschuldung von
21. Jahrhunderts im Deutschen Bundestag gesprochen Staaten und Banken führt, die sich in diesem Prozess ge-
worden ist: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ genseitig decken, stützen und erpressen. Die Erpressung
Flankiert vom Wort des Jahres 2010 „alternativlos“ lautet: Werden die Zahlungen für uns eingestellt, fällt
darf seitdem niemand mehr öffentlich über Alternativen das gesamte Finanzsystem zusammen.
zum 750-Milliarden-Rettungsschirm nachdenken. Und Ein Europa des Rechts, des Wettbewerbs und der
wird der Rettungsschirm beim EU-Gipfel der Staats- und Marktwirtschaft muss die Antwort auf diese Vertrauens-
Regierungschefs am 24. und 25. März nicht verewigt, krise sein. Regeln, die gemeinsam vereinbart wurden,
dann „Scheitert der Euro und scheitert Europa!“ müssen eingehalten und von der EU-Kommission als
Welches Europa da gerade scheitert, wird indes nicht Hüterin des Rechts durchgesetzt werden. Nicht planwirt-
hinterfragt, denn es könnte auffallen, dass es das Europa schaftliche Gleichmacherei durch Bürokraten einer
der Planwirtschaftler und Bürokraten ist. Wirtschaftsregierung oder einen „Pakt für Wettbewerbs-
fähigkeit“, sondern mehr Wettbewerb als Entdeckungs-
Die Alternativlosigkeit verbietet, über die Ziele einer verfahren, als Entmachtungsinstrument und faktische
liberalen Europapolitik nachzudenken, über Rechtsstaat- Schuldenbremse müssen zugelassen werden. Und
lichkeit in Europa, über den Schutz der individuellen schließlich ist eine marktwirtschaftliche Geldordnung
Freiheit, über eine freiheitliche Wirtschaftsverfassung, vonnöten, die der EZB nicht weiter erlaubt, den Zins und
denn: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa!“ damit den Preis für Güter und Dienstleistungen beliebig
Wir dürfen natürlich auch nicht darauf hinweisen, zu manipulieren und damit die marktwirtschaftliche
dass wir am 21. Mai 2010 im Deutschen Bundestag zwei Ordnung zu zerstören.
(B) Drittel des Steueraufkommens des Bundes für die Staats- (D)
Dieser Dreiklang ist die Alternative zur Alternativlo-
schulden anderer Länder verpfändet haben und dass dies sigkeit. Denn sonst behalten die recht, die behaupten:
ohne einen Parlamentsvorbehalt und ohne eine rechtli- „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa.“
che Grundlage in den europäischen Verträgen vom Deut-
schen Bundestag durchgewunken wurde.
Noch im Jahr 2009 hat das Bundesverfassungsgericht Anlage 12
in seinem Lissabon-Urteil das Budgetrecht des Parla-
ments zum Kernbereich demokratischen Lebens gezählt. Zu Protokoll gegebenen Reden
Sowohl das Demokratieprinzip als auch das Wahlrecht
seien verletzt, wenn die Festlegung über die Art und zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
Höhe der den Bürger betreffenden Abgaben in wesentli- setzes zur Änderung des Europäische-Betriebs-
chem Umfang supranationalisiert würde. räte-Gesetzes – Umsetzung der Richtlinie 2009/
38/EG über Europäische Betriebsräte (2. EBRG-
Wir dürfen nicht aussprechen, dass der Deutsche ÄndG) (Tagesordnungspunkt 17)
Bundestag bei der nunmehr geplanten „Verstetigung“
des Euro-Rettungsschirms sein Königsrecht der freien
Haushaltsplanung und -verabschiedung verliert. Wir Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Mit dem Euro-
dürfen nicht beklagen, dass wir als Bundestagsabgeord- päischen Binnenmarkt und der Währungsunion haben
nete unserer eigenen Entmachtung zustimmen sollen. viele Unternehmen ihre Strategien grenzüberschreitend
Nein! Nein! Nein! Gute Europäer müssen wir sein! ausgerichtet, Planungen und Standortentscheidungen be-
trachten Europa als einen einheitlichen Wirtschaftsraum.
Wir dürfen nicht laut darüber nachdenken, dass das Dagegen enden die Möglichkeiten der deutschen Be-
heutige Europa auf dem Weg in die monetäre Planwirt- triebsverfassung nach wie vor an der Landesgrenze. Um
schaft und den politischen Zentralismus ist und dass Plan- diese Lücke zu schließen, wurde 1994 die EU-Richtlinie
wirtschaft und das Brechen der Europäischen Verträge über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates
nicht alternativlos sind. Wir dürfen die Hauptursachen verabschiedet. Seit 1996 gibt es auch ein entsprechendes
der Überschuldungskrise unserer Staaten und Banken na- deutsches EBR-Gesetz. Das Europäische Parlament hat
türlich nicht benennen: die Geld- und Kreditschöpfung im Dezember 2008 einen Richtlinienentwurf zur Neufas-
aus dem Nichts und die Möglichkeit, staatliches unge- sung der Europäischen-Betriebsräte-Richtlinie 94/95/EG
decktes Zwangspapiergeld unbegrenzt vermehren zu gebilligt, mit dem die Kommission das Verfahren zur
können. Dass ohne diese Alchemie des Geldes kein welt- Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen
11096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) und Arbeitnehmer über Europäische Betriebsräte verbes- Betriebsräte. Es stimmt auch positiv, dass sich die Kom- (C)
sern will. mission bei der Europäischen-Betriebsräte-Richtlinie in
Selbstbeschränkung geübt und das Subsidiaritätsprinzip
Ich begrüße es ausdrücklich, dass sich die Sozialpart- gewahrt hat.
ner auf europäischer Ebene nach jahrelangen Auseinan-
dersetzungen im Sommer 2008 dann auf einen gemeinsa-
men Richtlinienentwurf geeinigt haben. Das war eine Josip Juratovic (SPD): Als früherer Betriebsrat bei
schwierige Geburt. Denn nach einer ersten Konsultation Audi war auch ich mit dem Problem konfrontiert, dass
der Sozialpartner im April 2004 und einer zweiten im Jahr unser Unternehmen europaweit agierte. Für mich stellte
2007 scheiterte im Frühjahr 2008 die angestrebte Eini- sich die Frage: Wie können wir Mitarbeiter mithalten,
gung zunächst. Erst auf Drängen des Europäischen Parla- wenn ein Unternehmen über die Grenzen hinweg organi-
ments entschloss sich die Kommission, einen eigenen siert ist? Wie organisieren wir dann die Mitbestimmung?
Entwurf zur Revision der Europäischen-Betriebsräte- Zum Glück gibt es seit 1994 die EU-Richtlinie über Eu-
Richtlinie vorzulegen. Der dann erzielte Durchbruch ist ropäische Betriebsräte. Es ist wichtig, dass Arbeitneh-
deshalb besonders erfreulich und ein wichtiges Signal, mer europaweit organisiert sind, wenn die Unternehmen
weil sich die bestehenden Europäischen Betriebsräte – staatenübergreifend aufgestellt sind. Wir brauchen Mit-
ungeachtet gewisser Probleme im Detail – bewährt haben. bestimmung auf Augenhöhe. Das geht nur, wenn Ge-
werkschaften und Unternehmen beide transnational or-
Als Gremium zur Unterrichtung und Anhörung der ganisiert sind. In einer globalisierten Welt ist es nicht
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in grenzüber- möglich, nur nationale Mitbestimmung zu haben, ohne
schreitend tätigen Unternehmen spielt er auch vor dem die Mitbestimmung auf EU-Ebene zu stärken. Es reicht
Hintergrund der sozialen Dimension in Europa eine nicht, wenn wir die deutsche Mitbestimmung in Sonn-
wichtige Rolle. Er ist kein Betriebsrat im Sinne der deut- tagsreden loben, wie die Kanzlerin es tut, und auf EU-
schen Betriebsverfassung, insbesondere verfügt er über Ebene untätig bleiben.
keine Mitbestimmungsrechte. Seine Aufgabe ist eher mit
einem Wirtschaftsausschuss vergleichbar. Er soll die Un- Es gibt keine Alternative zu einer europaweiten Aus-
terrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und weitung der Mitbestimmung. In einigen Unternehmen,
Arbeitnehmer auch dann sicherstellen, wenn sie von wie beispielsweise bei EADS, funktionieren die Europäi-
Entscheidungen betroffen werden, die außerhalb ihres schen Betriebsräte sehr gut. EADS ist erfolgreich, und
Mitgliedstaates gefasst werden, in dem sie beschäftigt die Mitbestimmung ist ein Grund dafür. Denn unser
sind. Gebildet werden kann er in Unternehmen, die in Wohlstand baut auf zwei Säulen auf: Zum einen sind
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder des dies erfolgreiche und innovative Unternehmer, zum an-
deren sind dies die unzähligen Arbeitnehmer, die für den
(B) Europäischen Wirtschaftsraumes mindestens 1 000 Ar- (D)
beitnehmer beschäftigen, davon mindestens jeweils Erfolg ihres Unternehmens arbeiten. Wenn diese Arbeit-
150 Arbeitnehmer in zwei verschiedenen Mitgliedstaa- nehmer an den Entscheidungen beteiligt werden und
ten. Deutschland gehört in Europa noch vor Großbritan- wenn es funktionierende Betriebsräte gibt, sind die Un-
nien, Frankreich, Schweden und den Niederlanden zu ternehmen erfolgreicher. Das zeigen zahlreiche Studien.
den Mitgliedstaaten, in denen am häufigsten ein Euro- Denn in Betrieben mit Mitbestimmung setzen sich die
päischer Betriebsrat gegründet wird. Arbeitnehmer stärker für den Erfolg ihres Unternehmens
ein, mit dem sie sich verbunden fühlen. Deswegen ist es
Mit der nun von der Bundesregierung vorgelegten No- für unseren Wohlstand so wichtig, dass Europäische Be-
velle des Europäischen-Betriebsräte-Gesetzes soll die triebsräte gut funktionieren.
neue EU-Richtlinie über Europäische Betriebsräte eins zu
eins in nationales Recht umgesetzt werden. Dies ist auch Aber die Werksverlagerung von Nokia in Bochum hat
im Sinne der Rechtssicherheit zu begrüßen. Damit wird gezeigt: Es ist zu einfach, die Mitbestimmung zu umge-
das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeit- hen. Wir haben zahlreiche Beispiele aus der Praxis, dass
nehmer in gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen und Europäische Betriebsräte an wichtigen Entscheidungen
Unternehmensgruppen weiter gestärkt. Zu den wesentli- nicht beteiligt wurden. Die Richtlinie von 1994 war
chen Änderungen gehören die erweiterte Definition der nicht mehr zeitgemäß. Die Europäischen Betriebsräte
Begriffe Unterrichtung und Anhörung, die Anerkennung standen vor einem Scherbenhaufen. Auf europäischer
der Rolle der Gewerkschaften als Sachverständige zur Ebene haben wir lange für eine verbesserte Richtlinie
„Unterstützung der Verhandlungen des besonderen Ver- gekämpft. Die deutsche Wirtschaft und besonders der
handlungsgremiums“ sowie die Regelungen für erforder- Arbeitgeberverband haben dabei keine rühmliche Rolle
liche Schulungen von Mitgliedern dieses Gremiums und gespielt. Vielmehr versuchten die Arbeitgeber, weiter
des Europäischen Betriebsrates. Die wichtigste Neuerung gehende Mitbestimmung auf europäischer Ebene zu ver-
stellt die Neuverhandlungspflicht bestehender Vereinba- hindern. Es war eine harte Arbeit der europäischen Ge-
rungen bei strukturellen Änderungen des Unternehmens werkschaften und des europäischen Arbeitgeberverban-
oder der Unternehmensgruppe dar. des, bis es zu einer Einigung kam und der destruktive
Widerstand der deutschen Arbeitgeber gebrochen war.
Die europäischen Sozialpartner sind ihrer Verantwor- Unterstützt wurden Gewerkschaften und europäische
tung zum sozialen Dialog in vorbildhafter Weise gerecht Arbeitgeber von vielen Erfahrungen aus der Praxis. In
geworden. Das zeigen die beeindruckenden Kompro- den Betrieben wurde viel zwischen Betriebsräten und
misse über die gemeinsamen Flexicurity-Grundsätze und Betriebsleitungen diskutiert, es fanden viele Aktionen
über die Überarbeitung der Richtlinie über Europäische vor Ort statt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11097

(A) Die neue Richtlinie beinhaltet viele Verbesserungen. Die SPD-Fraktion wird dazu in den kommenden Ta- (C)
Die Grundrechte der Mitbestimmung, nämlich das Infor- gen einen Antrag mit den konkreten Forderungen vorle-
mationsrecht und das Konsultationsrecht, werden durch gen. Denn das Gesetz über europäische Mitbestimmung
die neue Richtlinie gewährleistet. Den Europäischen Be- hat auch eine tiefere Bedeutung für unser gemeinsames
triebsräten werden diese Grundrechte in Zukunft nicht Europa: Mit diesem Gesetz zeigen wir, was das soziale
mehr verweigert, wie es bisher in einigen Unternehmen Europa für jeden Einzelnen von uns bedeutet. Wir zeigen
der Fall war. Es wurde klargestellt, in welchen Fällen den Menschen: Die EU rettet nicht nur den Euro und die
Europäische Betriebsräte zuständig sind. Dazu gehören Banken, sondern in der EU sorgen wir dafür, dass die
auch Unternehmensverlagerungen. Die Europäischen Menschen bessere Arbeitsbedingungen bekommen. Die
Betriebsräte müssen in Zukunft früher informiert werden Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten ist ein
von den Unternehmensleitungen. EBR-Mitglieder haben Kernstück des sozialen Europas. Damit schaffen wir es,
in Zukunft das Recht auf Schulungs- und Bildungsveran- dass die Menschen nicht europamüde werden. Diese
staltungen. In der Richtlinie werden viele wichtige Chance müssen wir nutzen.
Dinge geregelt, die die Arbeit von Europäischen Be-
triebsräten vereinfachen. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das Europäische-Be-
triebsräte-Gesetz stellt sicher, dass auch in gemein-
Die Richtlinie kann sich also sehen lassen. Aber die
schaftsweit tätigen Unternehmen und Konzernen eine
deutsche Umsetzung der Richtlinie, die wir heute debat-
grenzüberschreitende Unterrichtung und Anhörung der
tieren, muss verbessert werden. Ich fordere drei Ände-
Arbeitnehmer über eine von ihnen gebildete Interessen-
rungen an dem Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt.
vertretung erfolgt. Ein Europäischer Betriebsrat kann ge-
Erstens. In der Richtlinie steht, dass die Mitgliedstaa- bildet werden in Unternehmen, die in den Mitgliedstaa-
ten verpflichtet sind, wirksame, angemessene und ab- ten der Europäischen Union und in den anderen
schreckende Sanktionen für Verstöße gegen die Richtli- Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen
nie einzuführen. Die Höhe der Sanktionen muss national Wirtschaftsraum insgesamt mindestens 1 000 Arbeitneh-
festgelegt werden. Denn natürlich ist beispielsweise eine mer und davon mindestens jeweils 150 Arbeitnehmer in
Sanktion von 15 000 Euro für ein mittelständisches Un- zwei verschiedenen Mitgliedstaaten beschäftigen.
ternehmen in Rumänien abschreckend. In Deutschland Nach Zahlen der Europäischen Kommission bestehen
ist das aber viel zu niedrig. Der Gesetzentwurf von in Europa derzeit etwa 900 Europäische Betriebsräte, die
Union und FDP sieht vor, dass bei Verstößen eine Sank- gut 15 Millionen Arbeitnehmer repräsentieren. In
tion von 15 000 Euro fällig ist. Glauben Sie ernsthaft, Deutschland gibt es rund 140 Unternehmen mit einem
dass große deutsche Unternehmen bei 15 000 Euro zu- Europäischen Betriebsrat.
(B) sammenzucken? 15 000 Euro hätte Nokia aus der Porto- (D)
kasse bezahlt, um Mitbestimmung zu verhindern. Kein Am 15. Dezember 2010 hat das Bundeskabinett den
Unternehmen, das die Mitbestimmung aushebeln will, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Euro-
fürchtet solch niedrige Sanktionen. Um die Europäi- päische-Betriebsräte-Gesetzes beschlossen. Damit soll
schen Betriebsräte zu stärken, müssen wir also dringend die Richtlinie 2009/38/EG über Europäische Betriebsräte
höhere Sanktionen ins Gesetz schreiben. in nationales Recht umgesetzt werden. Die neugefasste
Richtline stärkt das Recht des Europäischen Betriebsrates
Zweitens müssen wir einen Unterlassungsanspruch auf Unterrichtung und Anhörung und gestaltet Beteili-
festschreiben. Wenn ein Unternehmen gesetzwidrig han- gungsverfahren praxistauglicher. Die neuen Regelungen
delt, also den Europäischen Betriebsrat nicht rechtzeitig sollen im Sommer 2011 in Kraft treten.
anhört oder unterrichtet, dürfen die Entscheidungen, an
denen der Betriebsrat nicht beteiligt wurde, auch nicht Ein wesentlicher Bestandteil des vorliegenden Ge-
vollzogen werden. Wenn ein Unternehmer also eine setzentwurfs ist die rechtzeitige Information und Anhö-
Werksschließung vornehmen will, aber den Europäischen rung des Europäischen Betriebsrates über geplante Maß-
Betriebsrat nicht anhört, kann der Betriebsrat dagegen nahmen des Unternehmens, die die Arbeitnehmer
klagen und sein Recht vor Gericht durchsetzen. Das fehlt betreffen, wie zum Beispiel Umstrukturierungen. Damit
bisher im Gesetz. Kolleginnen und Kollegen von Union wird sichergestellt, dass auch in europaweit tätigen Un-
und FDP, lassen Sie uns gemeinsam in den kommenden ternehmen die Interessen der Arbeitnehmer berücksich-
Beratungen einen solchen Unterlassungsanspruch in das tigt werden und in die Entscheidungsfindung im Unter-
Gesetz schreiben. nehmen einfließen.
Die Anpassungen erfolgen, um der Praxis besser ge-
Drittens fordere ich, dass ein Zutrittsrecht für die Mit- recht zu werden. Dabei stehen die betrieblichen Sozial-
glieder der Europäischen Betriebsräte festgeschrieben partner im Mittelpunkt, indem sie die Verantwortung für
wird. Wenn die Europäischen Betriebsräte hier nach die Einrichtung, das Format, die Aufgabenstellung und
Deutschland kommen, um die hiesigen Betriebsräte zu die Tätigkeit des Europäischen Betriebsrates oder eines
unterrichten, muss sichergestellt sein, dass die EBR-Mit- anderen Verfahrens zur grenzüberschreitenden Unter-
glieder nicht am Betreten des Unternehmens gehindert richtung und Anhörung der Arbeitnehmer erhalten haben.
werden. Ein Unternehmen darf nicht verhindern, dass
Europäische Betriebsräte in die deutschen Niederlassun- Der in der Richtlinie enthaltene Verhandlungsansatz
gen kommen. Auch dieses Zutrittsrecht müssen wir in ist die Grundlage für den großen Erfolg der Europäi-
das Gesetz integrieren. schen Betriebsräte in der unternehmerischen Praxis. Die-
11098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) ser Ansatz ermöglicht eine Vielfalt von Modellen der muss sich eine Richtlinie für Europäische Betriebsräte (C)
Information und Konsultation und trägt den unterneh- messen lassen.
mensindividuellen Gegebenheiten Rechnung. Durch das
Gesetz werden keine neuen bürokratischen Hürden auf- Ganze zwölf Jahre hat es gedauert, bis die verbesserte
gebaut, sondern es lässt Spielraum für maßgeschneiderte Richtlinie nun auf dem Tisch liegt. Herausgekommen
betriebliche Lösungen. Wir sind der festen Überzeu- sind die Beseitigung vieler kleiner Hürden, die die Arbeit
gung, dass es richtig ist, den einzelnen Unternehmen die der Europäischen Betriebsräte bisher erschwert haben.
Möglichkeit zu geben, mit ihren Arbeitnehmern und Ar- Die Informationsrechte des EBR wurden verbessert: Der
beitnehmervertretern die besten Lösungen zu finden. Anspruch auf Informationen ist nun klarer definiert und
leicht ausgeweitet. Es gibt nun endlich einen Schulungs-
In der Entstehung der Richtlinie, die nach unserer anspruch für Mitglieder eines Europäischen Betriebsrates,
Vorstellung eins zu eins mit diesem Gesetz umgesetzt inklusive Kostenübernahme und Lohnkostenausgleich.
werden sollte, wurden viele Verbesserungsvorschläge Die Zusammenarbeit mit den Nationalen Mitbestim-
der betroffenen Parteien angenommen, die die Arbeitge- mungsgremien wurde verbessert. Sanktionen, die die Un-
ber zusammen mit dem Europäischen Gewerkschafts- ternehmen zur Einhaltung der Rechte der Europäischen
bund in einer gemeinsamen Stellungnahme erarbeitet Betriebsräte verpflichten, wurden in der Richtlinie festge-
haben. Hier wurden gute Lösungen im Sinne der Arbeit- schrieben.
nehmer und Arbeitgeber gefunden. Dies ist insbesondere Wenn man das hört, fragt man sich ernsthaft, wie zu-
deshalb erfreulich, weil so zügig Ergebnisse gefunden vor eine wirkungsvolle Arbeit möglich war. An einigen
werden konnten, die von einer breiten Mehrheit getragen zentralen Punkten wurde aber nichts verändert. Der Eu-
werden. ropäische Betriebsrat kann sich auch weiterhin nur ein-
An einzelnen Stellen sehen wir als Liberale noch Ge- mal im Jahr treffen. Für ein arbeitsfähiges Gremium ist
sprächsbedarf, so zum Beispiel bei den Anzeigepflich- dies zu wenig. Mit mehreren Treffen im Jahr wäre es ge-
ten. Unser Ziel ist es, Wettbewerbsgleichheit in der Eu- lungen, den Europäischen Betriebsrat von einem reinen
ropäischen Union sicherzustellen. In der Anhörung Informationsgremium zu einem Arbeitsgremium zu ma-
werden wir die Möglichkeit haben, auf einzelne Fragen- chen. Diese Chance ist verpasst worden. Zudem wurde
stellungen noch näher einzugehen. die Ausweitung von EBRs auf kleinere europäische Un-
ternehmen blockiert. Auch in Unternehmen mit 500 Be-
Dieser vorliegende Gesetzentwurf ist ein weiterer schäftigten und mindestens 100 Beschäftigten in zwei
Schritt, um die Zusammenarbeit zwischen Arbeitgebern Ländern müssen EBRs möglich sein. Bei den Sanktio-
und Arbeitnehmern auf europäischer Ebene einfacher nen schließlich setzt die Bundesregierung die Richtlinien
(B) und praxisgerechter zu gestalten. Daher würde ich mich nur mangelhaft um: Geldstrafen von maximal 15 000 (D)
freuen, wenn auch in diesem Hohen Hause über die Par- Euro sind nicht wirksam, wie die Richtlinie vorschreibt –
teigrenzen hinweg diese Regelungen Zustimmung fin- das ist Klimpergeld für einen europäischen Konzern.
den würden.
Was brauchen Europäische Betriebsräte um arbeiten
zu können? Aufgrund der reichhaltigen europäischen Er-
Jutta Krellmann (DIE LINKE): Wir brauchen starke fahrungen mit betrieblicher Mitbestimmung ist es ein-
Europäische Betriebsräte, um die Beschäftigten vor rei- fach zu sagen, was Europäische Betriebsräte brauchen
nem Profitstreben ihrer Konzerne zu schützen. Mitbe- um gute Arbeit zu machen. Erstens. Europäische Be-
stimmung ist notwendig, wenn Konzerne, wie zum triebsräte brauchen das Recht auf regelmäßige Treffen.
Beispiel Nokia, ihre Standorte verlagern, nur um Lohn- Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem internationalen
kosten zu sparen. Nokia hatte für das Werk in Bochum Unternehmen beschäftigt, Sie sind Teil einer internatio-
Subventionen bekommen, um dauerhafte Arbeitsplätze nalen Arbeitsgruppe und treffen sich mit Ihren Kollegen
zu schaffen. Wie dauerhaft das war, hat man 2008 gese- aus anderen Ländern nur einmal im Jahr zur Abstim-
hen: Das Werk wurde einfach verlagert. Am neuen mung. Glauben Sie im Ernst, Sie sind so arbeitsfähig?
Standort in Rumänien gab es Ansiedlungsprämien, und
Zweitens. Sie brauchen das Recht auf umfassende und
billige Löhne lockten. Also verlagerte Nokia seine Han-
frühzeitige Information, um ein gemeinsames europäi-
dyproduktion dorthin. Weder der deutsche noch der Eu-
sches Vorgehen der Beschäftigten abzustimmen. Deshalb
ropäische Betriebsrat waren ausreichend informiert wor-
fordert die europäische Linke, dass Europäische Betriebs-
den. Die Belegschaft wurde chancenlos vor vollendete
räte gegen Pläne der Unternehmensführung für Umstruk-
Tatsachen gestellt. Rumänische Gewerkschafter wurden
turierungen, Unternehmenszusammenschlüsse, Übernah-
aktiv bei ihrer Arbeit im neuen Werk gehindert. Immer
men oder Entlassungen Einspruch erheben können. Alle
wieder werden so Belegschaften verschiedener Werke in
endgültigen Entscheidungen müssten so lange aufge-
Europa gegeneinander ausgespielt.
schoben werden, bis der Europäische Betriebsrat alterna-
Europäische Betriebsräte ermöglichen es den Be- tive Lösungen anbieten kann und diese mit der Unterneh-
schäftigten, sich über nationale Grenzen auszutauschen mensführung ausführlich erörtert wurden.
und gemeinsame Positionen zu entwickeln. Die rasant Drittens. Die Teilnahme der Gewerkschaftsvertreter
gestiegene Zahl der Europäischen Betriebsräte belegt, an den Treffen muss ermöglicht werden.
wie wichtig sie für die Beschäftigten in transnationalen
Unternehmen sind. Standortverlagerungen, wie bei No- Zustimmen wird die Linke dieser Verbesserung, aber
kia, sollten in Europa nicht mehr möglich sein. Daran einen Grund zum Feiern sehen wir darin nicht. Mit der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11099

(A) neuen Richtlinie bleiben die Mitspracherechte der Be- Mitbestimmungsrechte wie im deutschen Betriebsver- (C)
schäftigten bei Umstrukturierungen und Verlagerungen fassungsgesetz vorgesehen. Und es gab keine wirksa-
ungenügend – ein neues Nokia wird nicht verhindert. men Sanktionen, die die Unternehmen zur Gründung
Den europäischen Beschäftigten wird mit dem neuen Europäischer Betriebsräte antreiben.
Gesetz statt einem Fahrrad nun ein Mofa zur Verfügung
gestellt. Wirklich notwendig für grenzübergreifende Die Verbesserungen in der Neufassung der Richtlinie
Mitbestimmung wäre jedoch mindestens eine europäi- von 2009 waren hart erkämpft. Insbesondere das Euro-
sche Bahncard 100. Die dicken Bretter der Mitbestim- päische Parlament hat den Kommissionsvorschlag ent-
mung werden in Europa nur langsam gebohrt. Während scheidend verbessert, auch auf Betreiben der Grünen.
der freie Binnenmarkt längst gelebte Praxis ist, bleiben Ein wesentlicher Punkt war die Neudefinition der
die Rechte von europäischen Betriebsräten weiterhin „Transnationalität“. Sie erinnern sich, die Nokia-Werks-
von bescheidenem Format. schließung in Bochum und die Verlegung des Werkes
nach Rumänien geschah über die Köpfe der Europäi-
Die Reform der Europäischen-Betriebsräte-Richtline schen Betriebsräte hinweg. Nun ist klargestellt: Ein Eu-
wurde lange verzögert. Sie war für 1999 vorgesehen. In ropäischer Betriebsrat muss auch dann unterrichtet und
Kraft tritt die Reform nun 2011, das heißt, ganze zwölf angehört werden, wenn unternehmerische Entscheidun-
Jahre später. Erst im Jahre 2016 wird eine erneute Über- gen in einem Mitgliedstaat getroffen werden, die die Be-
arbeitung der Richtlinie möglich sein. Wenn diese in schäftigten in einem anderen Mitgliedstaat betreffen.
demselben Tempo verhandelt wird, wie bei dieser Über- Auch das Fehlen von abschreckenden Sanktionen gegen
arbeitung, ist der Prozess 2028 abgeschlossen. Das ist zu Unternehmen, die sich nicht an die Richtlinie halten,
spät für mehr betriebliche Mitbestimmung in Europa. wurde erkannt. Die Mitgliedstaaten werden nun aufgeru-
Das ist für ein demokratisches und soziales Europa be- fen „geeignete Maßnahmen“ zu treffen. Jetzt ist die Bun-
schämend. desregierung also am Zug. Insgesamt muss allen Betei-
ligten klar sein: Die Neufassung der Europäischen-
Die europäischen Gewerkschaften haben dafür ge- Betriebsräte-Richtlinie erfüllt einen Minimalanspruch an
sorgt, dass die Europäischen Betriebsräte, trotz der bis- die innerbetriebliche Demokratie – mehr nicht. Sie ist
her bescheidenen Möglichkeiten, mit Leben gefüllt wur- eine Minimalanpassung an die veränderte Unterneh-
den. Es bleibt den Gewerkschaften Europas und der Welt menssituation in Europa.
auch mit der neuen Richtlinie nichts anderes übrig, als
wirklich wirksame internationale Konzernmitbestim- Ganz folgerichtig kann auch die nationale Umsetzung
mung selbst durchzusetzen. hier nicht bejubelt, sondern lediglich als dringend not-
wendige Verbesserung begrüßt werden. Wir Abgeord-
(B) nete müssen vor allem bewerten, ob die Bundesregie- (D)
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung den Spielraum auch nutzt, der ihr bei der
NEN): Die Bundesregierung ist bereits spät dran mit Umsetzung in nationales Recht zur Verfügung steht. Be-
dem Gesetzentwurf zur Änderung des Europäischen-Be- deutet die Gesetzesänderung eine Stärkung der Arbeit-
triebsräte-Gesetzes. Seit dem 5. Juni 2009 ist die überar- nehmerrechte, oder nicht? Daran muss sich dieser Ge-
beitete EU-Richtlinie zu den Europäischen Betriebsräten setzentwurf messen lassen.
in Kraft, und bis zum 5. Juni dieses Jahres muss sie in
nationales Recht umgesetzt werden. Viel Zeit bleibt also Der Gesetzentwurf sieht wesentliche Änderungen vor,
nicht mehr. Das Thema ist mir sehr wichtig, und ich die ich bereits jetzt als grundsätzlich positiv bewerten
meine, es muss intensiv und sorgfältig beraten werden. kann. Das Recht der Arbeitnehmervertretung auf Unter-
Denn die Umsetzung muss auch eine entsprechende richtung und Anhörung wird schon allein dadurch ge-
Qualität haben. Die Beratungen im federführenden Aus- stärkt, dass die Begriffe „Unterrichtung“ und „Anhö-
schuss für Arbeit und Soziales und insbesondere die An- rung“ nun erstmals ausdrücklich definiert sind. Ebenfalls
hörung müssen zu einem umfassenden Austausch ge- im Grundsatz positiv ist die neu geschaffene Möglich-
nutzt werden. Den Ergebnissen der anstehenden keit für Gewerkschaften, als Sachverständige zur Unter-
Beratungen und der Vertiefung in die Details des Gesetz- stützung der Verhandlungen des besonderen Verhand-
entwurfes kann ich hier nicht vorgreifen. Aber einige lungsgremiums an dessen Sitzungen beratend
grundlegende Aussagen zum vorliegenden Gesetzesvor- teilzunehmen. Ferner wird den Mitgliedern des Europäi-
haben und zu seinem Hintergrund sind mir wichtig. schen Betriebsrates nun die Möglichkeit gewährt, an
Schulungs- und Bildungsveranstaltungen teilzunehmen.
Die Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Arbeit- Insofern zeichnen sich in der Tat Verbesserungen im
nehmervertretung wurde 1994 in der Richtlinie für die Vergleich zum Status quo ab. Eine ausführliche Bewer-
Gründung Europäischer Betriebsräte geschaffen. Das tung der Regelungen wird jedoch noch vorzunehmen
war ein großer Schritt nach vorne und ein Kernstück des sein. Nach meinen bisherigen Erfahrungen in diesem
Europäischen Sozialmodells, denn Unternehmen sind Hohen Hause bin ich sehr zurückhaltend damit, der Bun-
heutzutage grenzüberschreitend, oft global aufgestellt. desregierung eine ausgeprägte Arbeitnehmerfreundlich-
Auch die Arbeitnehmervertretung muss daher die Mög- keit zu unterstellen.
lichkeit haben, sich grenzüberschreitend und europaweit
zu organisieren. Andernfalls könnte von einer echten So- Hinzu kommen offensichtliche Auslassungen und
zialpartnerschaft auf Augenhöhe nicht mehr die Rede Mängel im vorliegenden Gesetzentwurf. Substanzielle
sein. Dennoch war die Richtlinie von 1994 höchst man- Nachbesserungen der Bestimmungen zur Sanktion von
gelhaft und eine Revision überfällig. Es waren keine Pflichtverstößen fehlen bisher weitgehend. Wir wissen
11100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) aber aus anderen Bereichen des Arbeitsrechtes, dass Ziel der Neufassung war es, die Richtlinie dort zu ver- (C)
Sanktionen wirksam, abschreckend und im Verhältnis bessern, wo uns die Erfahrungen aus der Praxis Schwä-
zur Schwere der Zuwiderhandlung angemessen sein chen aufgezeigt haben. Damit wird eine effektive Arbeit
müssen. Das wären „geeignete Maßnahmen“, wie sie die der Europäischen Betriebsräte sowohl zugunsten der Un-
EU-Richtlinie nennt. Bisher ist davon aber nichts zu er- ternehmen als auch der Arbeitnehmer sichergestellt.
kennen. Unklar bleibt außerdem, wie genau wir uns die
Unterrichtung der örtlichen Arbeitnehmervertretung Die neugefasste Richtlinie beruht entscheidend auf ei-
durch den Europäischen Betriebsrat vorstellen müssen. nem im Rat gefundenen Kompromiss der europäischen
Erhält dieser beispielsweise ein Zugangs- und Zutritts- Sozialpartner.
recht zum Betrieb bzw. zum Unternehmen? Diese Fra- Der nun von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz-
gen sind noch offen. entwurf dient der Umsetzung der neugefassten Richtli-
Ich komme damit zu einem vorläufigen Fazit: Es ist nie. Er enthält entsprechend der Richtlinie folgende
zumindest zweifelhaft, ob der gegebene Spielraum bei Kernpunkte:
der Umsetzung in die nationale Arbeitsrechtsordnung Die Erfahrungen aus der Vergangenheit haben ge-
bei den benannten Punkten wirklich ausreichend genutzt zeigt, dass eine rechtzeitige Unterrichtung und Anhö-
wurde. Das werden wir im Folgenden noch gemeinsam rung des Europäischen Betriebsrats nicht immer gewähr-
diskutieren. Und ich werde dabei selbstverständlich ak- leistet war. Europäische Betriebsräte wurden teilweise
tiv etwas einbringen. Ich freue mich auf spannende und erst informiert und angehört, wenn Entscheidungen der
angeregte Debatten, die uns sicherlich den einen oder Unternehmensleitung schon gefallen waren. Das galt in
anderen Erkenntnisgewinn bescheren werden. besonderem Maße bei Umstrukturierungen. Der Fall No-
kia – um nur ein Beispiel mangelhafter Beteiligung zu
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der nennen – ist uns allen sicherlich noch gut in Erinnerung.
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Die Unter- Hier setzt die neue Richtlinie nunmehr klare Akzente.
richtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Ar- Sie stellt klar, dass Europäische Betriebsräte frühzeitig
beitnehmer ist ein wesentlicher Bestandteil des Europäi- an geplanten Entscheidungen der Unternehmensleitung
schen Sozialmodells. Die Verabschiedung der Richtlinie zu beteiligen sind. Dazu gehört insbesondere, dass der
über Europäische Betriebsräte im Jahr 1994 unter deut- Europäische Betriebsrat die Gelegenheit erhalten muss,
scher Ratspräsidentschaft war ein Meilenstein auf dem zu der geplanten Maßnahme eine Stellungnahme abzu-
Weg zu einem sozialen Europa. geben. Zeitlich muss die Stellungnahme vom Unterneh-
Europäische Betriebsräte in grenzüberschreitend täti- men bei der Entscheidungsfindung noch berücksichtigt
(B) gen Unternehmen sind als Bindeglied zwischen der Un- werden können. (D)
ternehmensleitung und den Beschäftigten gedacht. Sie
Ein weiterer wesentlicher Fortschritt ist die Veranke-
sollen den Austausch von Informationen und Interessen
rung des Schulungsanspruchs für den Europäischen Be-
der Beschäftigten an den verschiedenen Standorten in
triebsrat. Denn nur qualifizierte Europäische Betriebs-
unterschiedlichen Ländern fördern.
räte können ihre Aufgaben sachgerecht und effektiv
Europäische Betriebsräte können so verhindern, dass wahrnehmen.
die Belegschaften verschiedener Standorte gegeneinan-
Ebenso wichtig ist, dass die Europäischen Betriebs-
der ausgespielt werden.
ratsmitglieder während der Schulungsteilnahme keine
Nach Zahlen erfreut sich der EBR einer stetig wach- Lohneinbußen erleiden.
senden Beliebtheit: 2009 gab es nach Angaben der Euro-
Zur Gewährleistung einer zügigen und kontinuierli-
päischen Kommission in über 900 Unternehmen und
chen Arbeit des Europäischen Betriebsrats soll in der
Unternehmensgruppen Europäische Betriebsräte, die
EBR-Vereinbarung die Einrichtung eines engeren Aus-
circa zwei Drittel der Arbeitnehmer der Unternehmen im
schusses vereinbart werden, der die laufenden Geschäfte
Anwendungsbereich der Richtlinie vertreten.
des Europäischen Betriebsrats führt.
Maßgeblich hierfür ist vor allem, dass die Richtlinie
Weitere Kernpunkte der neugefassten Richtlinie und
den Sozialpartnern einen weiten Gestaltungsspielraum
des Entwurfs sind die Klarstellung der Informations-
für die Errichtung Europäischer Betriebsräte einräumt.
pflichten des Unternehmens bzw. der Unternehmens-
Sie ermöglicht, an die Situation des Unternehmens bzw.
gruppe über die eigene Struktur und Belegschaft bei der
der Unternehmensgruppe angepasste maßgeschneiderte
Gründung von Europäischen Betriebsräten, die Aner-
Vereinbarungen über die Errichtung Europäischer Be-
kennung der Rolle der Gewerkschaften als Sachverstän-
triebsräte zu treffen. Erst wenn keine Vereinbarung zu-
dige zur Unterstützung der Verhandlungen über einen
stande ommt, ist ein Europäischer Betriebsrat kraft Ge-
Europäischen Betriebsrat, die Neuverhandlungspflicht
setz zu bilden.
im Fall wesentlicher Strukturänderungen des Unterneh-
2008/2009 ist die Richtlinie über Europäische Be- mens oder der Unternehmensgruppe, soweit die EBR-
triebsräte neu gefasst worden. Nach längerer Vorlaufzeit Vereinbarung dazu noch keine Regelung enthält oder
konnten die eigentlichen Verhandlungen auf europäi- diese Regelung mit anderen EBR-Vereinbarungen nicht
scher Ebene in nur einem halben Jahr abgeschlossen kompatibel ist, ein Übergangsmandat für den Europäi-
werden. Dies ist entscheidend der konstruktiven Beteili- schen Betriebsrat für die Zeit der Neuverhandlungs-
gung der Sozialpartner zu verdanken. pflicht und das sogenannte Zwei-Jahres-Fenster, wonach
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11101

(A) bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist, dem 5. Juni 2011, in der Türkei ergeben, da die Registrierung als Flücht- (C)
bestehende EBR-Vereinbarungen noch nach den Rege- ling beim UNHCR Voraussetzung für die Legalisierung
lungen der bisherigen Richtlinie 94/45/EG angepasst des vorübergehenden Aufenthalts in der Türkei und die
oder neu abgeschlossen werden können. Aufnahme in Deutschland ist.
Der Gesetzentwurf schafft für die Akteure in der Pra- Darüber hinaus hatte sich Herr Minister de Maizière
xis mehr Klarheit und Rechtssicherheit. Dies gilt insbe- vorbehalten, auf der Grundlage von § 22 Satz 2 Aufent-
sondere für die frühzeitige Einbindung des Europäischen haltsgesetz auch über die bereits erfolgten 50 Zusagen
Betriebsrats bei Entscheidungen des Unternehmens, die hinaus in besonderen Einzelfällen weitere Aufnahmezu-
die Arbeitnehmer unmittelbar betreffen. Er stärkt die sagen zu ermöglichen. Schon deshalb besteht für die in
Rolle des Europäischen Betriebsrats als Informations- Ihrem Antrag enthaltene Aufforderung an die Bundesre-
bindeglied zwischen den nationalen Beteiligungsgre- gierung, weitere iranische Flüchtlinge aus der Türkei
mien und sorgt für eine angemessene Arbeitsgrundlage aufzunehmen, kein Bedarf.
der Europäischen Betriebsräte. Es ist richtig, dass auch wir diesen Menschen gegen-
über eine Verantwortung haben und dass diese Men-
schen unsere Hilfe und Unterstützung brauchen. Asyl
Anlage 13 und Flüchtlingsschutz haben in Deutschland einen hohen
Zu Protokoll gegebene Reden Stellenwert. Politisch Verfolgte können darauf vertrauen,
in Deutschland eine sichere Aufnahme zu finden, wenn
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des sie als Asylberechtigte oder Flüchtlinge im Sinne der
Berichts: Weitere iranische Flüchtlinge aus der Genfer Konvention anerkannt werden.
Türkei in Deutschland aufnehmen (Tagesord-
Aus diesem Grund hat die Bundesrepublik allein im
nungspunkt 18)
Jahre 2010 über 1 400 iranische Staatsangehörige in
Deutschland aufgenommen. Davon wurden 254 Perso-
Helmut Brandt (CDU/CSU): Zunächst einmal freue nen als Asylberechtigte anerkannt, 1 140 Personen wurde
ich mich, dass Sie und ich in unserer Bewertung hin- Flüchtlingsschutz gemäß § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz
sichtlich der menschenrechtsunwürdigen Zustände im gewährt und weiteren 78 Personen gegenüber besteht ge-
Iran offensichtlich einer Meinung sind. Ich unterstütze mäß § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 ein Abschiebeverbot.
daher gerne jede Maßnahme, die der Verbesserung der
Situation der Menschen im Iran und ihrer Angehörigen Ich bin überrascht, dass diese Tatsache in Ihrem An-
hier in Deutschland dient. trag keinerlei Erwähnung findet. Vor diesem Hinter-
grund – ich nehme an, Sie hatten nur vergessen, diese
(B) (D)
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat am 7. Juli Zahlen zu erwähnen – ist Ihre Aufforderung an die Bun-
2010 beantragt, der Bundestag möge die Bundesregie- desregierung, sich hinsichtlich der Aufnahme weiterer
rung auffordern „so schnell wie möglich und unbürokra- Flüchtlinge an anderen westlichen Staaten zu orientieren
tisch in Absprache mit den Bundesländern weitere irani- und ihr indirekt vorzuwerfen, sie käme ihrer Verantwor-
sche Flüchtlinge aus der Türkei in Deutschland tung nur in ungenügendem Maße nach, nicht nachvoll-
aufzunehmen“. Außerdem solle sich die Bundesregie- ziehbar. Immerhin hat sich innerhalb der Europäischen
rung dafür einsetzen, dass die Türkei ihren Territorial- Union außer Deutschland lediglich Schweden in ver-
vorbehalt gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention, gleichbar großem Umfang engagiert.
durch den die Türkei die Schutzgewährung auf europäi-
sche Flüchtlinge beschränkt, aufhebt und den humanitä- Im Übrigen möchte ich an dieser Stelle auch einmal
ren Standard im Umgang mit schutzsuchenden Flücht- auf die Gesamtsituation aufmerksam machen, der wir
lingen verbessert. gegenüberstehen. Im Jahr 2010 wurden beim Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge insgesamt 41 332 Asyl-
Hintergrund des Antrags ist die anhaltend schlechte erstanträge gestellt, 13 683 mehr als im Jahr 2009. Das
Menschenrechtslage im Iran. Circa 4 000 Iraner, insbe- bedeutet nahezu eine Verdopplung der Antragszahl. Da-
sondere Menschen, die sich für Demokratie und Bürger- von entfallen auf den Iran 2 475 Asylerstanträge gegen-
rechte einsetzen, sind in die Türkei geflohen, um den über 1 170 Anträgen aus dem Jahr 2009. Die Steigerung
drohenden Repressalien durch ihre Regierung zu entge- beträgt hier also aufgrund der politischen Entwicklung
hen. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sogar 111,5 Prozent.
sind sich der prekären Situation iranischer Flüchtlinge
Angesichts dieser Zahlen sind übrigens auch andere
durchaus bewusst. Aus diesem Grund hat der damalige
europäische Länder stärker gefragt, Asylbewerber auf-
Bundesminister des Innern, Thomas de Maizière, ge-
zunehmen. Neben der Aufnahme von Flüchtlingen be-
meinsam mit der Innenministerkonferenz entschieden,
müht sich die Bundesregierung aber auch auf anderen
circa 50 iranische Dissidenten, die in Zusammenhang
Wegen um eine Verbesserung der Situation der Flücht-
mit der Niederschlagung der Proteste gegen die manipu-
linge in der Türkei.
lativen Umstände der Wiederwahl des amtierenden Prä-
sidenten Ahmadinedschad ins Ausland geflohen sind, in Aus der EU-Beitrittspartnerschaft der Türkei ergeben
Deutschland aufzunehmen. Davon sind bis zum jetzigen sich für die Türkei konkrete Verpflichtungen auch in
Zeitpunkt 41 Personen in die Bundesrepublik eingereist. Hinblick auf die Einhaltung bestimmter humanitärer
Die Verzögerungen bei der Einreise haben sich im We- Standards. Unter die von der Türkei umzusetzenden Pri-
sentlichen durch die Verfahrensabwicklung des UNHCR oritäten fallen beispielsweise auch die fortgesetzte An-
11102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) passung an den EU-Besitzstand im Asylbereich, insbe- und Minderheitenrechte zu achten. Wegen der drohen- (C)
sondere durch die Aufhebung der geografischen den Todesurteile im Verfahren gegen die Bahá’ì-Füh-
Einschränkung der Geltung der Genfer Konventionen rung wurde der iranische Botschafter regelmäßig einbe-
und die Stärkung des Schutzes, der sozialen Unterstüt- stellt. Auch auf EU-Ebene und internationaler Ebene
zung und der Integrationsmaßnahmen zugunsten von sind die in Iran stattfindenden Menschenrechtsverletzun-
Flüchtlingen. gen regelmäßig Gegenstand zahlreicher Erklärungen und
Resolutionen durch die UN-Generalversammlung.
Der Regionalvorbehalt der Türkei bei der Geltung der
Genfer Flüchtlingskonvention widerspricht fundamental Es besteht daher auch kein Bedarf an Ihrer Forderung
deren Zweck. Seine Aufhebung ist von der EU deshalb an die Bundesregierung, sich dafür einzusetzen, dass die
explizit in den in der Beitrittspartnerschaft enthaltenen Türkei ihrem Territorialvorbehalt gegenüber der Genfer
Forderungskatalog an die Türkei aufgenommen worden. Flüchtlingskonvention, durch den die Türkei die Schutz-
Dessen Einforderung ist fester Bestandteil des politi- gewährung auf europäische Flüchtlinge beschränkt, auf-
schen Dialogs der Bundesregierung mit der Türkei – bi- hebt und den humanitären Standard im Umgang mit
lateral und auf Ebene der EU. schutzsuchenden Flüchtlingen verbessert. Das tut die
Bundesregierung mit unserer Unterstützung ohnehin.
Die türkische Regierung erarbeitet zurzeit ein Asylge-
setz. Über den Zeitpunkt der Einführung liegen nach Ich sage es nochmals: Die Bundesregierung verfolgt
Auskunft der Bundesregierung gegenwärtig keine ab- die Situation der Menschen im Iran und der iranischen
schließenden Informationen vor. Flüchtlinge in der Türkei mit großer Aufmerksamkeit
Was die Verbesserung des humanitären Standards von und tut alles in ihrer Macht Stehende, um die Situation
Flüchtlingen in der Türkei angeht, so richtet die türki- dieser Menschen zu verbessern. Und ich erinnere noch-
sche Regierung neue Aufnahme- und Rückführungszen- mals daran, dass die Bundesregierung die Aufnahme
tren ein, die durch EU-finanzierte Twinning-Projekte un- weiterer Flüchtlinge nicht ausgeschlossen hat. Wir leh-
terstützt werden. Das Twinning-Programm umfasst nen Ihren Antrag ab.
Partnerschaften zwischen Behörden aus den Mitglied-
staaten der EU und öffentlichen Verwaltungen aktueller Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD): In diesen Tagen fällt
und potenzieller EU-Beitrittskandidaten sowie Ländern es schwer, über etwas anderes zu sprechen als über die
der europäischen Nachbarschaft. Die EU fördert Twin- tragischen und traurigen Geschehnisse in Japan. Sonst
ning und nutzt dieses Instrument, um öffentliche Struk- unglaublich relevante Themen treten im Moment in den
turen in den Partnerländern zu stärken, zu reformieren Hintergrund vor dem, was dort passiert. Uns allen sind
und weiterzuentwickeln. die Bilder aus Japan allgegenwärtig, sie haben sich in
(B) unsere Netzhaut gebrannt. (D)
EU-Beitrittskandidaten müssen das gesamte Rechts-
system der EU übernehmen. Das Personal in den zustän- Sie zeigen aber auch, dass es immer wieder zu Situa-
digen Verwaltungen muss lernen, EU-Recht anzuwen- tionen kommen kann, in denen es um Menschenleben
den und zu interpretieren. Twinning-Projekte setzen geht, in denen andere Nationen dringend Hilfe benöti-
genau an diesem Punkt an, in dem die zuständigen und gen, selbst in hochentwickelten Staaten wie Japan.
einzurichtenden Behörden Twinning-Partner zur Seite
gestellt bekommen, die in vergleichbaren Fachgebieten Doch es sind nicht nur die Bilder aus Japan, die uns
und auf vergleichbarer Ebene tätig sind, das heißt auf derzeit tief bewegen und berühren; auch aus Nordafrika
zentralstaatlicher, Länder-/Provinz- oder auch kommu- kommen beängstigende und beeindruckende Bilder von
naler Ebene. Seit über zehn Jahren engagieren sich hier Menschen, die für die Freiheit ihr eigenes Leben in Ge-
auch deutsche Bundes- und Landesministerien oder fahr bringen.
Kommunen, die im Durchschnitt ein Viertel der ausge- Wir sprechen heute über die Frage der iranischen
schriebenen Projekte einwerben. So wurde zum Beispiel Flüchtlinge, Flüchtlinge, die vor dem Regime von
das von der EU für den Zeitraum 2008 bis 2010 ausge- Ahmadinedschad in die Türkei geflohen sind. Doch auch
schriebene Twinning-Projekt „Country of Origin und hier sind sie nicht in ausreichendem Maße geschützt
Asylum Case Management System“ vom Bundesamt für oder versorgt. Dies ist eine klassische Situation für ein
Migration und Flüchtlinge gewonnen und durchgeführt. Resettlement-Programm, also die dauerhafte Übernahme
Dabei wurde die Türkei dabei unterstützt, den EU-Be- von Menschen aus einer für sie kritischen Situation in ei-
sitzstand im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik nen dritten Staat. Oft handelt es sich dabei um ganze Fa-
umzusetzen. milien. Damit will man eine Flüchtlingsproblematik, die
Daneben bemüht sich die Bundesregierung aber auch nicht kurzfristig gelöst werden kann, dauerhaft angehen.
seit Jahren um eine Verbesserung der Menschenrechts- Dass Deutschland sich an Resettlement-Programmen
lage im Iran. Die gesamte Menschenrechtslage sowie beteiligt, ist nicht neu; auch in den vergangenen Jahr-
Einzelfälle im Menschenrechtsbereich sind Bestandteil zehnten ist das passiert. Neuere Beispiele sind die Auf-
aller bilateralen Gespräche der Bundesregierung mit der nahme von 2 501 Flüchtlingen aus dem Irak, die sich in
iranischen Regierung. Bundesaußenminister Westerwelle Syrien und Jordanien aufhielten, sowie weiteren
hat in seinem Gespräch am 5. Februar 2010 mit dem da- 102 afrikanischen Flüchtlingen aus Malta.
maligen iranischen Außenminister Mottaki auf der
Münchner Sicherheitskonferenz den Iran unmissver- Deutschland hat bereits zugesagt, 50 iranische Flücht-
ständlich und eindringlich aufgefordert, die Menschen- linge aufzunehmen. Die Frage ist aber für mich und die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11103

(A) SPD-Fraktion, ob das ausreicht. Wir sagen deutlich: in den Hintergrund. Verfolgung und Unterdrückung An- (C)
Nein, es reicht nicht. Wir wollen, dass mehr als 50 irani- dersdenkender sind an der Tagesordnung; das Regime ist
sche Flüchtlinge aus der Türkei nach Deutschland kom- unter dem Deckmantel des Religiösen eine Diktatur. Ich
men können. Wir haben die Kapazitäten und Möglich- habe die Hoffnung, dass das iranische Volk die Kraft hat,
keiten hier in Deutschland dafür. Auch aus diesem sich davon zu befreien. Die Bundesrepublik wird nach
Grund stimmen wir dem Antrag der Grünen zu. wie vor ihren Teil tun, das Leid der Flüchtlinge zu mil-
dern. Dazu gehört auch die Aufnahme einer angemesse-
Denn Resettlement ist nicht nur ein Instrument des nen Anzahl von Flüchtlingen.
Flüchtlingsschutzes, es ist auch ein Instrument der Las-
tenteilung. Es ist ein Signal an die Erstaufnahmestaaten Die Grünen haben in ihrer Antragsbegründung gefor-
– in diesem Fall die Türkei –, dass die jeweiligen Staaten dert, dass Deutschland sich an den anderen westlichen
nicht alleingelassen werden. Ein solcher Schritt kann die Staaten bei der Aufnahme von iranischen Flüchtlingen,
Haltung gegenüber weiteren neu hinzukommenden die sich in der Türkei befänden, orientieren möge. Ich
Flüchtlingen verbessern, nicht nur, weil Aufnahmekapa- teile diese Auffassung. Die Grünen beziffern die von
zitäten frei werden, sondern eben auch, weil das Erstauf- westlichen Staaten aufgenommenen Flüchtlingszahlen
nahmeland spürt, dass es nicht alleingelassen wird. Es ist wie folgt: Großbritannien – fünf, Niederlande – vier,
ein Signal an andere Staaten, wenn Deutschland Flücht- Frankreich – drei. Warum die Grünen in diesem Zusam-
linge aufnimmt, ein Signal, selbst zu prüfen, ob man menhang die zugesagte Aufnahme von 50 Flüchtlingen
nicht unterstützend humanitär tätig sein kann. durch Deutschland als zu gering erachten, erschließt sich
Dass eine Lastenteilung hier auch in Zukunft notwen- mir nicht. Die Bundesrepublik geht mit ihrer Aufnahme-
dig werden wird, vielleicht sogar stärker als bisher ge- quote sogar nach Zahlen der Grünen offenkundig weit
dacht, ist in Anbetracht der Lage in Nordafrika mehr als über die ihrer westlichen Nachbarn hinaus. Das ist
wahrscheinlich. Wir leben in einer Zeit, in der deutlich durchaus eine respektable Zahl und der Vorwurf der
wird, dass Nationalstaaten und Bevölkerungsgruppen Grünen geht ins Leere.
sehr schnell in Situationen kommen können, in denen sie
auf die Solidarität und Humanität anderer angewiesen Ulla Jelpke (DIE LINKE): Der vorliegende Antrag
sind. der Grünen-Fraktion fordert die Bundesregierung auf,
Resettlement wird deshalb auch in Zukunft ein wich- sich bei den Bundesländern für die Aufnahme von ira-
tiges Instrument für Deutschland sein, um konkret nischen Oppositionellen einzusetzen, die in die Türkei
Flüchtlingen zu helfen und um Erstaufnahmestaaten zu geflüchtet sind. Diese Oppositionellen sind dort vom
entlasten. Im Endeffekt ist Resettlement aber auch in un- UNHCR als Flüchtlinge registriert worden, bekommen
(B) serem eigenen Interesse; denn es stärkt unseren Kontakt aber in der Türkei kein Aufenthaltsrecht. Denn die Tür- (D)
zu Erstaufnahmestaaten und kann dazu beitragen, dass kei hat die Genfer Flüchtlingskonvention nur unter Vor-
sich dort die Situation für Flüchtlinge verbessert und ein behalt ratifiziert. Sie behält sich vor, nur Flüchtlinge auf-
Asylsystem entwickelt, das diesen Namen verdient. Das zunehmen, die aus Europa kommen. Fast alle politisch
ist langfristig auf jeden Fall besser, als sich gegen Verfolgten aus den Nachbarländern der Türkei, von Ar-
Flüchtlinge abzuschotten, wie es derzeit passiert. menien bis Syrien, benutzen die Türkei deshalb lediglich
als Transitland, um in die EU zu gelangen. Die Grünen
Die jetzige Regierung hat zumindest verbal schon er- fordern außerdem von der Bundesregierung, sich gegen-
kannt, dass Resettlement ein sinnvolles Instrument ist. über der Türkei für die Wahrung humanitärer Grund-
Leider stimmen verbale Äußerungen und das tatsächli- sätze im Umgang mit den iranischen Flüchtlingen einzu-
che Handeln nicht überein; das zeigt sich auch jetzt wie- setzen. Warum nur mit den iranischen, möchte ich an
der in Ihrer Ablehnung des Grünenantrages. Die Politik dieser Stelle fragen. Da greift der Antrag der Grünen
der schwarz-gelben Bundesregierung ist kurzsichtig. doch arg zu kurz.
Die SPD setzt sich dafür ein, sich stärker an Resettle- Die Frage ist auch, inwiefern hier mit einem Appell
ment-Programmen zu beteiligen. Wir halten es auch für an die Bundesregierung der Bock zum Gärtner gemacht
sinnvoll, über konkrete Resettlement-Quoten zu spre- wird. Denn es ist diese Bundesregierung, die dem Ab-
chen, wie das in anderen europäischen Staaten wie schluss eines Rückübernahmeabkommens zwischen der
Schweden, das jährlich etwa 1 700 Flüchtlinge auf- EU und der Türkei im EU-Rat der Innenminister ihre
nimmt, üblich ist. Diese Debatte sollten wir hier in die- Zustimmung erteilt hat. Danach soll die Abschiebung
sem Hohen Hause führen. von Menschen, die über die Türkei illegal in die EU ein-
Bis dahin gilt es aber immer wieder, konkrete Ent- gereist sind, erleichtert werden. Wir wissen alle, welche
scheidungen zu fällen. Eine steht heute auf der Agenda. Menschen das betreffen wird: Schutzsuchende aus dem
Ermöglichen Sie es mehr iranischen Flüchtlingen, die Iran, Irak, Syrien, aus Afghanistan und Pakistan, aus So-
sich in der Türkei aufhalten, nach Deutschland zu kom- malia und Eritrea. Für sie gibt es keinen legalen Weg in
men und sich hier dauerhaft in Sicherheit niederzulas- die Europäische Union, er führt über das Mittelmeer
sen. Das wäre ein starkes Signal in die gesamte Region. oder die türkisch-griechische Landgrenze. Die wird be-
kanntlich gerade mithilfe der EU-Abschottungsagentur
FRONTEX dichtgemacht.
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Menschen-
rechtslage im Iran ist und bleibt besorgniserregend. An- Die Türkei wird also ihre Bestrebungen erhöhen, die-
dere Ereignisse drängen diesen Sachverhalt leider zu oft sen Menschen den Transit in die EU über ihr Territorium
11104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) zu erschweren. Dafür bekommt sie auch die Hilfe der haben die Hoffnung auf einen positiven Wandel im Iran (C)
EU und der Bundesrepublik. Wie aus einer Antwort der aufgegeben.
Bundesregierung auf eine entsprechende Anfrage von
mir hervorgeht, soll die Türkei unter anderem beim Auf- Dabei ist es während der historischen Umwälzungen
bau von sieben neuen Auffanglagern unterstützt werden. in der muslimischen Welt gerade jetzt entscheidend, ein
Die Bundespolizei hilft den türkischen Grenztruppen, deutliches Zeichen der Solidarität an die Menschen-
die dort zur Armee gehören, ihre Grenzüberwachung zu rechtsverteidiger zu senden. Die gezielte Unterstützung
perfektionieren. demokratischer Kräfte im Iran erfolgt eben auch durch
die Aufnahme derjenigen Personen, die sich in besonde-
Leider fehlt dieser größere Kontext im Antrag der rem Maße für Menschenrechte eingesetzt haben und
Grünen-Fraktion ebenso wie die Forderung, dass die dem Tod, der Festnahme und Folter mit knapper Not ent-
Bundesrepublik sich endlich dauerhaft an den Aufnah- kommen sind.
meprogrammen für registrierte Flüchtlinge des UNHCR
beteiligt. Immer neue Ad-hoc-Maßnahmen wie die Auf- Die Aufnahme von 50 iranischen Flüchtlingen ist
nahme der irakischen Flüchtlinge aus Syrien oder nun kein deutliches Signal, wie die Bundesregierung gerne
der iranischen Flüchtlinge aus der Türkei sind nicht aus- behauptet, sondern ein schwaches. Anstatt sich an die
reichend. Stattdessen fordert die Linke die Einrichtung Seite dieser mutigen Menschenrechtsverteidiger zu stel-
eines ständigen Aufnahmemechanismus. Dem Antrag len, lässt Deutschland die Protestbewegung hängen.
der Grünen stimmen wir dennoch zu. Menschen, die sich unter Einsatz ihres Lebens für Men-
schenrechte und Demokratie einsetzen, müssen sicher
sein, im Notfall Schutz in einem anderen Land zu finden.
Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
humanitäre Situation der iranischen Flüchtlinge in der Was spricht gegen die Aufnahme der iranischen
Türkei ist untragbar. Ihre Lage bleibt trotz der Flucht aus Flüchtlinge? Besteht die Befürchtung, die iranischen
dem Iran prekär. Erstens sind sie in der Türkei nicht vor Flüchtlinge seien eine Bedrohung für die kulturelle Iden-
den Häschern des iranischen Regimes sicher. Die Türkei tität Deutschlands? Die Sorge ist unberechtigt. Diese
grenzt an den Iran, und iranische Bürger können visums- Menschen sind dem islamischen Gottesstaat Iran entflo-
frei in die Türkei einreisen. Zweitens werden sie in der hen, gerade weil sie nach der Anerkennung der Men-
Türkei nicht als Flüchtlinge anerkannt und erhalten nur schenrechte, nach Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat-
einen zeitlich begrenzten Asylbewerberstatus. Schließ- lichkeit streben. Hat man wie Thilo Sarrazin die
lich sind sie in der Türkei gezwungen, ohne Einkommen Befürchtung, die Aufnahme iranischer Flüchtlinge
und ohne ausreichende ärztliche Betreuung um das tägli- würde zu einer Verdummung der deutschen Gesellschaft
che Überleben zu kämpfen. führen? Selbst diese Sorge ist unbegründet. Zuwanderer
(B) aus dem Iran haben eine überdurchschnittlich hohe Bil- (D)
Diese Flüchtlinge müssen also aus zwingenden huma- dung. Jeder dritte hat Abitur. 15,2 Prozent haben einen
nitären Gründen irgendwo aufgenommen werden, und Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. Bei der
ich kann einfach nicht verstehen, wieso dieses „ir- deutschen Gesamtbevölkerung sind es nur 11,3 Prozent.
gendwo“ nicht Deutschland sein kann. Die deutsche
Bundesregierung hat sich während der Protestbewegung In Deutschland warten Arbeitnehmerverbände und
mit Worten solidarisch an die Seite der iranischen Men- die Industrie auf Fachkräfte. Unternehmen, Ärztekam-
schenrechtsverteidiger gestellt. Menschenrechtspolitik mern und Lehrerverbände klagen über personelle Eng-
erfordert aber konkrete Handlungen und keine leeren pässe. Anfang 2011 warnte der Industrie- und Handels-
Versprechen. Die Aufnahme von nur 50 von insgesamt kammertag, dass 70 Prozent der Unternehmen Probleme
4 292 schutzbedürftigen iranischen Flüchtlingen ist hier hätten, offene Stellen zu besetzen. In der Türkei warten
eindeutig zu wenig. Deutschland kann mehr tun und iranische Ärzte, Psychotherapeuten, Anwälte, IT-Spezia-
muss mehr tun. listen, Journalisten, Blogger, Menschenrechtsaktivisten,
Menschenrechtsverteidiger, Akademiker und Studenten
Die deutsche Bundesregierung steht vor dem Hinter- darauf, in die EU einreisen zu dürfen.
grund der aktuellen Ereignisse in Nordafrika vor der
Frage, wie glaubwürdig sie ihre Außenpolitik in Zukunft Diese iranischen Flüchtlinge sind gebildete, gut aus-
gestalten möchte, wie viel ihr Demokratie, Menschen- gebildete und sogenannte westlich orientierte Personen
rechte und Rechtsstaatlichkeit wert sind. Auch im Iran aus der säkularisierten Ober- und Mittelschicht. Sie ha-
steht die Glaubwürdigkeit deutscher Außen- und Men- ben das Potenzial, sich erfolgreich in Deutschland zu in-
schenrechtspolitik auf dem Spiel. tegrieren und einen positiven Beitrag für die Gesell-
schaft zu leisten – wenn man ihnen die Chance gibt.
Immer wieder sagen Bundeskanzlerin und Bundes-
außenminister, die Menschenrechte sind im ureigenen Nehmen wir Hesam Misaghi als Beispiel, einen jun-
Interesse Deutschlands. Die Aufnahme von nur 50 irani- gen Mann von 22 Jahren. Er musste aus dem Iran flie-
schen Flüchtlingen wird solchen schönen Worten nicht hen, weil er für das Committee of Human Rights Repor-
gerecht. Hier geht es nicht um schwierige Flugverbots- ters aktiv war, eine Organisation, die über Verfolgungen
zonen, sondern um die einfache Aufnahme von Flücht- und Festnahmen von Menschenrechtsaktivisten öffent-
lingen. Die Blockadehaltung der Bundesregierung scha- lich berichtet. Er kam im Juli 2010 nach Deutschland. Er
det unweigerlich der iranischen Protestbewegung. Nach ist weiterhin politisch aktiv, saugt die deutsche Kultur
Angaben des UNHCR schwindet der Optimismus der auf und erlernt sehr schnell die deutsche Sprache. Oder
iranischen Menschenrechtsaktivisten. Viele junge Iraner Saeed Habibi, IT-Spezialist, 38 Jahre alt. Er hat auf der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11105

(A) Sharif University of Technology studiert, einer Eliteuni- der Forderungen insbesondere der SPD in ihrem Antrag (C)
versität in Teheran. Auch er ist seit Juli 2010 in Deutsch- mit den Forderungen in der Stellungnahme der Bundes-
land, lernt Deutsch und nimmt an einem Integrationskurs regierung aus Dezember 2009 ist verblüffend. Die deut-
teil. Er könnte sofort anfangen, zu arbeiten. schen Kernpunkte finden sich nahezu identisch in dem
ein Jahr später von der SPD aufgelegten Antrag.
Seit 2008 hat die Bundesregierung fast 2 500 iraki-
sche Flüchtlinge unbürokratisch aufgenommen und posi- Ich freue mich über so viel Einigkeit. Denn es werden
tive Erfahrungen gemacht. Alles spricht dafür, ein ähnli- auch die Erfolge anerkannt, die die Gemeinsame Fische-
ches Iran-Kontingent in Zusammenarbeit mit den reipolitik trotz zahlreicher Mängel aufzuweisen hat. Ge-
Bundesländern zu beschließen. Der Wille vonseiten der rade in den letzten Jahren hat sich – dank der mehrjähri-
Städte und Kommunen ist vorhanden. Insgesamt haben gen Bewirtschaftungspläne – die Zahl der überfischten
sich bereits 36 Städte in Ratsbeschlüssen für eine Auf- Bestände deutlich verringert.
nahme von UNHCR-Flüchtlingen im Rahmen der Save-
me-Kampagne ausgesprochen. Dennoch gibt es zu viele Fischbestände in den EU-
Gewässern, die erschöpft sind. 65 Prozent der Bestände
In Nordafrika und im Iran muss die Bundesregierung sind überfischt. Das bisherige Krisenmanagement reicht
endlich ihren Worten Taten folgen lassen. Die Aufnahme offensichtlich nicht. Auch die Bilder von Rückwürfen
von weiteren iranischen Flüchtlingen wäre der richtige großer Mengen verzehr- und vermarktungsfähiger Fi-
Schritt in Richtung einer glaubwürdigen, an den Men- sche verunsichern die Verbraucherinnen und Verbrau-
schenrechten orientierten Außenpolitik. cher zutiefst. Zu Recht! Denn nur wenige Fischarten
überleben den Rückwurf. Gerade Beifänge von gefähr-
deten Arten und Jungfischen sind als besonderes Pro-
Anlage 14 blem anzusehen. Rückwürfe stellen gleichermaßen eine
Zu Protokoll gegebene Reden Missachtung der Schöpfung und Verschwendung wert-
voller Meeresressourcen dar.
zur Beratung der Anträge:
Das zentrale Ziel bei der anstehenden Reform muss
– Die Reform der Gemeinsamen Fischereipoli- deshalb aus unserer Sicht die nachhaltige Bewirtschaf-
tik zum Erfolg führen tung der Fischereibestände in ganz Europa sein. Es han-
– Chancen der EU-Fischereireform 2013 nut- delt sich dabei um lebende Meeresschätze. Sie stellen
zen und Gemeinsame Fischereipolitik auch die Grundlage für eine hochwertige und gesunde
grundlegend reformieren Versorgung mit dem Lebensmittel Fisch dar. Deshalb
muss auf europäischer Ebene ein Rückwurfverbot veran-
(B) (Tagesordnungspunkt 21) kert werden. Alle Fänge, auch Beifänge, müssen an (D)
Land gebracht und auf die Fangquoten angerechnet wer-
Gitta Connemann (CDU/CSU): Ein deutsches den. Für die angelandeten Fische ist in der Regel eine
Sprichwort sagt: „Lehre mich die Karpfen nicht kennen, bestimmte Mindestgröße vorzuschreiben.
mein Vater war ein Fischer.“ Mit anderen Worten: Er- Fisch ist aber nicht nur Nahrungsgrundlage, sondern
zähle mir nichts, was ich schon kenne und tue. So könnte auch die Existenz von vielen kleinen und mittelständi-
die Kurzantwort auf die Anträge der Opposition zur Ge- schen Fischereibetrieben, den vor- und nachgelagerten
meinsamen Fischereipolitik lauten. Denn was darin ge- Bereichen. Dort werden mehr als 45 000 Menschen be-
fordert wird, wird auf Bundesebene längst gelebt. schäftigt. Sie versorgen nicht nur die Verbraucherinnen
Gemeinsamer Tenor der Anträge der SPD und von und Verbraucher in Deutschland mit Fischereierzeugnis-
Bündnis 90/Die Grünen ist die Forderung an die Bundes- sen von höchster Qualität. Vielmehr tragen sie zur At-
regierung, sich für eine grundlegende und ehrgeizige Re- traktion von Regionen für den Tourismus bei. Ich erlebe
form der Fischereipolitik auf europäischer Ebene einzu- dies in meiner ostfriesischen Heimat. Was wären Ditzum
setzen. und Greetsiel ohne Krabbenkutter?
Die Diskussion über diese Reform war im April 2009 Ebenso wie jeder andere Wirtschaftszweig brauchen
von der EU-Kommission eröffnet worden. Das seinerzeit diese Fischereibetriebe und ihre Beschäftigten verlässli-
von der Kommission vorgelegte Grünbuch zielt auf eine che wirtschaftliche Rahmenbedingungen und eine Per-
grundlegende Neuausrichtung der Gemeinsamen Fische- spektive. Deshalb dürfen wir die Säulen der Gemeinsa-
reipolitik. Es enthält keine konkreten Vorschläge. Aller- men Fischereipolitik nicht infrage stellen. Dies sind
dings wird das derzeitige System der Quotenverwaltung unter anderem die Verteilung der Gesamtfangmengen
einschließlich der relativen Stabilität hinterfragt. Im Üb- nach dem Prinzip der relativen Stabilität. Aber auch das
rigen finden sich darin Überlegungen, individuell trans- System nationaler nicht handelbarer Quoten zählt dazu.
ferierbare Fangrechte einzuführen. Und die Kommission Schließlich müssen unsere Betriebe besser vor illegaler
erwägt, gemischte Fischereien ausschließlich auf der Ba- Fischerei geschützt werden.
sis von Fangaufwandssystemen zu verwalten.
Diesem Spagat hat die Bundesregierung im Dezem-
Zu diesem Grünbuch konnten die Mitgliedstaaten und ber 2009 mit ihrer Stellungnahme gegenüber der Kom-
Interessengruppen bis Ende 2009 Stellung nehmen. Die mission Rechnung getragen. Die Kernpunkte der deut-
Bundesregierung hat von dieser Möglichkeit Gebrauch schen Position lauten: Eine Reform der Gemeinsamen
gemacht, offensichtlich sehr gut. Denn die Ähnlichkeit Fischereipolitik muss zielen auf eine nachhaltigere Fi-
11106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) schereipolitik, die Ausweitung der mehrjährigen Bewirt- Mit dieser Erklärung werden nicht nur die Grundpfei- (C)
schaftungs- und Wiederaufbaupläne auf weitere Be- ler der bisherigen Gemeinsamen Fischereipolitik gestärkt,
stände, die Stärkung der regionalen Beratungsgremien, sondern die Beendigung der Praxis der Rückwürfe und
die Verbesserung der Kontrollen und Eindämmung ille- die Einführung echter Fangquoten anstelle von Anlande-
galer (IUU-)Fischerei auf europäischer und internationa- quoten gefordert. Zu Recht! Die Rückwürfe in die Nord-
ler Ebene, die Ablehnung handelbarer Quoten, die Ver- see betragen allein beim Kabeljau 800 000 Tonnen, ange-
teidigung der relativen Stabilität, die Reduzierung der landet werden lediglich 730 000 Tonnen.
Rückwürfe durch Einführung eines Rückwurfverbots
Die gravierenden Mängel des derzeitigen Fischerei-
bzw. eines Anlandegebots, die Verbraucherstärkung
managements in den Gemeinschaftsgewässern sind vor
durch Verbesserung von Markttransparenz und Produkt-
allem auf zwei Grundprobleme zurückzuführen: auf die
informationen sowie nachhaltige und entwicklungspoli-
unzureichende Kontrolle und Durchsetzung der beste-
tisch sinnvolle Ausgestaltung von Fischerei-Partner-
henden Regeln sowie auf die Tatsache, dass Rückwürfe
schaftsabkommen.
von vermarktungsfähigem Fisch nicht nur zugelassen
Die Anträge von der Opposition stimmen weitgehend sind, sondern – je nach Ausgestaltung des Quotenma-
mit diesen Kernpunkten überein. Das musste Ihnen beim nagements in den Mitgliedstaaten – sogar bewusst in gro-
Schreiben Ihrer Anträge auch bewusst gewesen sein. ßem Umfang in Kauf genommen werden.
Denn als Sie Ihre Anträge im Oktober 2010 auf den In Bezug auf die Kontrolle und Durchsetzung gibt es
Markt brachten, hatten wir, die Bundesregierung, uns mit den Regelungen zur Bekämpfung der illegalen Fi-
schon lange positioniert. scherei, IUU, sowie mit der Kontrollverordnung eine
Und mehr als das: Im Juni 2010 hatte die Bundesre- ausreichende Eingriffsgrundlage. Leider hapert es mit
gierung in einem gemeinsamen Memorandum mit der Durchsetzung, nicht bei uns in Deutschland. Hier
Frankreich und Polen zentrale Elemente dieser Position wird kontrolliert – überall und jederzeit. Aber so ist es
unterstrichen, insbesondere die Ablehnung handelbarer nicht in allen Mitgliedstaaten. Hier muss mehr getan
Quoten bzw. eines reinen Fangaufwandssystems. werden. Kommission und Mitgliedstaaten müssen sich
stärker als bisher dafür einsetzen, dass die Fischereikon-
Unsere Bundesministerin Ilse Aigner hatte darüber trollen und die Ahndung von Verstößen in allen Gemein-
hinaus im September 2010 in einem Schreiben an die schaftsgewässern mit der notwendigen Konsequenz er-
EU-Kommissarin Maria Damanaki unsere Forderung folgt. Es darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden.
nach Einführung von Rückwurfverboten erneuert und Für die Rückwürfe sind bisher noch keine ausreichen-
konkretisiert. Das von ihr geforderte System echter den Maßnahmen ergriffen worden. Hier stellt die Reform
(B) Fangquoten – im Gegensatz zu den heutigen Anlande- der Gemeinsamen Fischereipolitik eine Chance und He- (D)
quoten – eröffnet darüber hinaus mittelfristig die Mög- rausforderung zugleich dar. Die grundlegenden Fehler
lichkeit, die gemeinsame Fischereipolitik deutlich zu des derzeitigen Bewirtschaftungssystems verursachen
vereinfachen. systematische Rückwürfe. Deshalb fordert Deutschland
Inzwischen hat die Kommission am 1. März dieses mit Nachdruck für demersale Fischereien in der Nordsee,
Jahres diese deutschen Forderungen aufgegriffen. Im insbesondere für die Fischerei auf Kabeljau und verge-
Rahmen eines Fischereiministertreffens hatte die Kom- sellschaftete Arten, die Einführung eines Rückwurfver-
missarin Maria Damanaki zunächst ein informelles Pa- bots bzw. eines Anlandegebots. Damit verbunden ist ein
pier eingeführt. Dieses Papier enthielt in Fortschreibung Wechsel von Anlandequoten zu richtigen Fangquoten.
des Grünbuchs Vorschläge, die gravierende Auswirkun- Für diesen Systemwechsel sollte eine Übergangsphase
gen auf die deutsche Fischerei gehabt hätten. Die darin vorgesehen werden, in der die Beteiligung der Fischer zu-
geplante Regelung der gemischten Fischerei durch ein nächst auf freiwilliger Basis erfolgt, um Erfahrungen für
Aufwandssystem hätte Quoten entbehrlich gemacht, die die konkrete Ausgestaltung neuer Regelungen zu sam-
für uns als nationaler Besitzstand zu den Grundpfeilern meln.
der Gemeinsamen Fischereipolitik gehören. Dem ange- Die Umstellung von einer Anlandequote zu einer ech-
dachten Transfer von Quoten in Aufwandseinheiten ten Fangquote kann für Fischer zunächst mit finanziellen
sollte die aktuelle und nicht die bisherige relative Stabili- Einbußen verbunden sein. Denn die Fangzusammenset-
tät zugrunde gelegt werden. Dies war aus deutscher zung kann nicht mehr durch Rückwurf weniger wertvol-
Sicht völlig unakzeptabel. Weitere Folge wäre ein erheb- ler Arten oder untermaßiger Exemplare optimiert wer-
liches Mehr an Verwaltungsaufwand und Bürokratie ge- den. Diese Härten für unsere Fischereibetriebe sind
wesen. abzumildern. Dafür werden wir uns einsetzen.
Die Bundesregierung fand Unterstützung für ihre Eine Verpflichtung zur Anlandung der Fänge bringt
Positionen. Das Papier der Kommissarin ist inzwischen mit sich, dass die Kontrolle sich nicht mehr vorrangig
Geschichte. Am Ende des Tages kündigte sie an, kon- auf die Anlandung konzentrieren darf. Wenn aus den bis-
krete Vorschläge dafür vorzulegen. Und es wurde auf herigen Anlandequoten echte Fangquoten werden sollen,
Initiative Deutschlands eine „Gemeinsame Erklärung müssen Fangmenge und -Zusammensetzung in stärke-
über Rückwürfe im Rahmen der Reform der Gemeinsa- rem Umfang auf See kontrolliert werden. In diesem Zu-
men Fischereipolitik“ mit Vertretern Dänemarks, Frank- sammenhang werden folgende Modelle diskutiert: der
reichs und des Vereinigten Königreichs geschlossen. Einsatz wissenschaftlicher Beobachter oder staatlich zu-
Diese vier Nationen bilden eine Sperrminorität. gelassener Kontrollstellen bei größeren Fischereifahrzeu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11107

(A) gen, alternativ der Einsatz fest installierter technischer den sollen. Das ist eigentlich eine Aufgabe, die niemand (C)
Hilfsmittel bei größeren und mittleren Fischereifahrzeu- lösen kann.
gen zum Beispiel durch Kameraüberwachung, CCTV,
Die beiden hier vorliegenden Anträge von SPD und
sowie die Plausibilitätsüberprüfung der Fangmeldungen
von den Grünen sind ziemlich unterschiedlich. Ich
von kleineren Fischereifahrzeugen durch Vergleich mit
möchte Ihnen zunächst den SPD-Antrag erläutern. Im
wissenschaftlichen Probefängen.
bestehenden System der Gemeinsamen Fischereipolitik
Allerdings sind wir uns einig, dass es hier nicht zu ei- existieren aus unserer Sicht einige Fehler. Einer der gra-
nem deutschen Sonderweg kommen darf, der unsere Fi- vierendsten ist, dass die festgesetzte Gesamtfangmenge
schereibetriebe über Gebühr belastet und ihre Wettbe- nur für die angelandete Menge an Fisch gilt. Sie schränkt
werbssituation verzerrt. Deshalb gibt es freiwillige die Rückwürfe auf See aber nicht ein. Gleichzeitig gibt
Pilotprojekte – in Dänemark, dem Vereinten Königreich es Mindestanlandegrößen, die Fischer zwingen, be-
aber auch in Cuxhaven. Die Erfahrungen dort zeigen: stimmte Fische zurückzuwerfen. Dadurch gibt es eine
Verbraucherinnen und Verbraucher goutieren nachhal- Menge „Discard“. Beim Kabeljau in der Nordsee gibt es
tige Fischerei mit der Bereitschaft, höhere Preise zu zah- geschätzt so viele Rückwürfe wie Anlandungen. Davon
len. müssen wir wegkommen. Das schaffen wir in erster Li-
nie durch die Entwicklung besserer fangtechnischer Me-
Gerade die Verbraucherinnen und Verbraucher wer- thoden. Es muss gelten: Der beste „Discard“ ist der, der
den also mit ihrer Kaufentscheidung dazu beitragen, ob erst gar nicht entsteht.
die nachhaltige Nutzung der Fischbestände gesichert Ein weiterer Fehler ist ein auf Aufwand basierendes
werden kann. Dafür braucht es mehr Information und System wie das der kw-Tage in der Nordsee. Mit der
Transparenz. Einrichtung dieses Systems ist ein großes Durcheinander
Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik ist entstanden. Deshalb müssen die kw-Tage wieder abge-
eine Chance. Denn damit kann die Grundlage für eine schafft werden. Die Kommission hantiert offensichtlich
nachhaltige Nutzung unserer lebenden Meeresschätze sehr gern mit Aufwandssystemen herum. Das mag in an-
gelegt werden. Die Bundesregierung hat dies erkannt deren Regionen Europas auch Sinn machen – nämlich
und ist tätig geworden. Die vorliegenden Anträge laufen da, wo es noch gar keine Quoten gibt und jedes Jahr
ins Leere. Wir werden diese deshalb ablehnen. munter drauflosgefischt wird. Aber in Nord- und Ostsee
sollten wir es beim bewährten Quotensystem belassen.

Holger Ortel (SPD): Ambitioniert ist die Fischerei- Zu den Aufgaben bei der Reform zählt aber auch, das
kommissarin Damanaki an die Reform der Gemeinsa- zu bewahren, was in der Vergangenheit gut funktioniert
(B) men Fischereipolitik herangegangen. Dies sollte, und hat. Damit meine ich vor allem die relative Stabilität. (D)
soll noch immer, eine tiefgreifende Reform werden, Die hat sich seit 1983 bewährt und bietet allen Beteilig-
nach der die europäische Fischereipolitik wesentlich ten in diesem Wirrwarr einen verlässlichen Rahmen.
besser dasteht. Kleinere Flotten, die Bestände auf we- Deshalb müssen wir sie auch weiterhin behalten, sonst
sentlich besserem Niveau – das war die Vorstellung von geht nämlich die ganze Fischereipolitik den Bach runter.
Frau Damanaki und auch schon ihres Vorgängers Joe Und wenn ich behalten sage, dann meine ich auch, dass
Borg. hier weder der Umverteilungsschlüssel geändert noch
eine Bereinigung um die getauschten Quoten stattfinden
Frau Damanaki sieht sich dabei aber in einigen wich- darf. Das sind alles Versuche, die relative Stabilität aus-
tigen Punkten der Reform recht unterschiedlichen Stand- zuhebeln. Das darf es nicht geben. Jeder weiß, dass die
punkten der Mitgliedstaaten gegenüber. Nur in einem Fischerei nicht jedes Jahr gleich ist. Und wenn der eine
Punkt scheinen sich alle einig zu sein – die Kommission vielleicht mal etwas weniger Kabeljau im Netz hat, dann
ist an allem schuld. Die Kommission wolle die Quoten kann er seine Restquote gegen eine andere Quote tau-
zugunsten der südlichen Staaten umverteilen, heißt es. schen. Die relative Stabilität bietet dem Fischer die Fle-
Die Kommission habe die kw- und die Seetage einge- xibilität, die er braucht, um sich am Markt behaupten zu
führt. Die Kommission nenne nicht Ross und Reiter bei können.
den zu großen Flotten der Mitgliedstaaten. Einige dieser Mit dem Tausch komme ich auch gleich zur zweiten
Anschuldigungen sind aus unserer Sicht zutreffend, an- Baustelle. Auch das System des Tausches zwischen den
dere nicht. Mitgliedstaaten hat sich seit 1983 bewährt. Was die Mit-
gliedstaaten auf nationaler Ebene machen, hat damit ja
Aber man muss sich mal in die Situation der Kom-
nichts zu tun. Aber zwischen den Staaten darf es aus un-
mission hineinversetzen. Die Interessen der Mitglied-
serer Sicht auch zukünftig keinen Handel von Quoten
staaten sind keineswegs deckungsgleich. Wir zum Bei-
geben. Wenn wir das machen, können wir unsere Küs-
spiel wollen keine handelbaren Quoten auf europäischer
tenfischerei zumachen, denn unsere Küstenfischer sind
Ebene einführen, andere Mitgliedstaaten aber sehr wohl.
allesamt kleine Betriebe, die nicht eben mal 100 000 Euro
Einen Mittelweg gibt es da nicht. Einige Mitgliedstaaten
für eine Quote lockermachen können.
halten auch die relative Stabilität für überholt, wir nicht.
Wir sprechen uns dafür aus, die nationalen Flotten an die Ich möchte an dieser Stelle einmal Frau Bundesminis-
Quoten anzupassen und nicht die Quoten an die Flotte. terin Aigner loben, die sich hier für deutsche Interessen
Nun steht Frau Damanaki vor der schwierigen Aufgabe, eingesetzt hat. Mit der Erklärung des Weimarer Dreiecks
Vorschläge zu unterbreiten, die dem allem gerecht wer- und der kürzlich gemeinsam mit Dänemark, Frankreich
11108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) und Großbritannien abgegebenen Erklärung haben sie ist es zu spät. Deutschland muss sein ganzes Gewicht (C)
Pflöcke eingeschlagen, an denen Frau Damanaki so jetzt in die Waagschale werfen.
schnell nicht vorbeikommt.
Immer wieder ertönt der Ruf nach der 1:1-Umsetzung Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Die SPD-
von ICES-Vorgaben. Der ICES legt die Vorschläge nach Fraktion hat einen sehr respektablen Antrag zur Fische-
rein biologischen Gesichtspunkten fest. Das mag ja aus reipolitik vorgelegt, in dem sich das große Erfahrungs-
Sicht der Grünen richtig sein, aber aus unserer Sicht wissen ihres fischereipolitischen Sprechers Holger Ortel
müssen auch andere Punkte berücksichtigt werden. Au- widerspiegelt. Schade, dass der Antrag nicht als gemein-
ßerdem liegt die Wissenschaft nicht selten daneben. In samer Antrag angelegt war, so müssen wir ihn leider we-
der Vergangenheit gab es einige Beispiele, wo der ICES gen einiger Formulierungen trotz verschiedener sehr gu-
im Nachhinein seine Zahlen korrigieren musste. Das ter Ansätze ablehnen.
Hauptproblem dabei ist die mangelhafte Datenlage. Wir
brauchen dringend mehr Informationen über die Be- Die Kommission hat mit ihrem Grünbuch zur Reform
stände. der Gemeinsamen Fischereipolitik im Jahr 2009 eine
wichtige Diskussion angestoßen. Unsere maritimen
Wir als SPD haben in unserem Antrag den Anliegen Ökosysteme stehen durch den Klimawandel und die in
der Umwelt und der Fischer gleichermaßen Rechnung verschiedenen Regionen zu starke Nutzung der aquati-
getragen. Wir sind uns im Klaren darüber, dass es in Zu- schen Ressourcen unter erheblichem Stress. Es gibt
kunft nur Fischerei geben kann, wenn auch genügend Fi- Fischbestände in europäischen und außereuropäischen
sche da sind. Wir haben aber gleichzeitig ein klares Be- Fanggebieten, die in den letzten Jahrzehnten durch ver-
kenntnis für die Fischer abgegeben und dargestellt, dass änderte Umweltbedingungen und auch die zunehmende
die europäischen Bestandsprobleme im Regelwerk der fischereiwirtschaftliche Nutzung erheblich dezimiert
Fischerei liegen. Wir haben einige Regelungen darge- wurden. Die Bestandsaufnahme der Kommission hat er-
stellt, die einer nachhaltigen Fischerei zuwiderlaufen, geben, dass die seit 2003 geltende Gemeinsame Fische-
und aufgezeigt, wie wir diese verändern möchten. reipolitik die heute herrschenden Probleme nicht lösen
konnte. Insbesondere bestehen in zahlreichen Ländern
Und nun zum Antrag der Grünen. Dazu möchte ich zu große Flottenkapazitäten. Es wurden erhebliche Fi-
im Wesentlichen sagen, dass Sie beinahe nahtlos an die
nanzmittel aufgewendet, um die Flotten an den tatsächli-
Aussagen der früheren Landwirtschaftsministerin Künast
chen, für eine nachhaltige Fischerei angemessenen Be-
anknüpfen. Sie wollen zwar nicht Fischerboote zu Haus-
darf anzupassen. Das ist bisher nur unzureichend
booten machen, aber einige Ihrer Forderungen kommen
gelungen. Deutschland hat in diesem Bereich seine
(B) dem sehr nahe. Wenn man alle Ihre Forderungen umset- Hausaufgaben gemacht. Hohe Flottenkapazitäten bieten (D)
zen würde, gäbe es wahrscheinlich keine Fischerei mehr.
Anreize für eine Überfischung. Wir sind uns in diesem
Wenn ich mir nur Ihre Forderung nach Mindestfanggrö-
ßen ansehe oder die Fischereiabgabe! Wenn Sie keine Haus einig, dass eine Reform der Gemeinsamen Fische-
Fischerei mehr wollen, müssen Sie das nur sagen. Im- reipolitik, wie sie die Kommission angestoßen hat, not-
merhin fordern Sie hier nicht die 1:1-Umsetzung der wendig ist.
ICES-Advise. Das allerdings überrascht mich ein wenig. Gleichzeitig gilt es festzuhalten, dass die Anzahl
Nur zur relativen Stabilität äußern Sie sich nicht. Das ha- nachhaltig bewirtschafteter Bestände inzwischen steigt.
ben aber Ihre Kollegen im Europäischen Parlament für Der Wiederaufbau einiger Fischbestände verläuft viel-
Sie getan. Die fordern nämlich den Ausstieg aus der re- versprechend, zum Beispiel des Dorsches in der Ostsee
lativen Stabilität. und der Scholle in der Nordsee. Das ist ein kleiner Licht-
Was ich aber an der Debatte hier im Deutschen Bun- blick. Eine Reform der gemeinsamen Fischereipolitik
destag am erstaunlichsten finde, ist, dass Union und FDP könnte weitere Schritte in Richtung einer MSY-Bewirt-
es nicht geschafft haben, sich zur Reform der Gemeinsa- schaftung – MSY: maximum sustainable yield – bringen.
men Fischereipolitik zu positionieren. Sie verstecken Leider haben verschiedene Einkaufsführer dies noch
sich schamlos hinter der Bundesregierung, und obwohl nicht berücksichtigt, sodass teilweise wertvolle Speisefi-
Ihnen der Antrag der SPD inhaltlich zusagt – im Aus- sche nicht verkauft werden konnten, sondern in die In-
schuss wurde er noch von CDU und FDP gelobt – leh- tervention gegeben wurden. Wir brauchen deshalb eine
nen Sie ihn ab. Das ist ein Armutszeugnis. Ich will Ihnen bessere Verbraucherinformation.
sagen, dass hier zwischen uns und der Bundesregierung
Einigkeit besteht. Das heißt, Sie lehnen heute nicht nur Die Fischereiwirtschaft ist entscheidend abhängig
den Antrag der SPD, sondern auch die Position der Bun- vom Zustand der maritimen Ressourcen. Gleichzeitig
desregierung ab. Was sagen Sie den Fischern an Nord- beeinflussen der Klimawandel, die wirtschaftliche Ent-
und Ostsee, wie diese ihre Familienbetriebe und ihre Ar- wicklung, der gesellschaftliche Wandel und regionale
beitsplätze in Zukunft sichern wollen? Sie lassen sie im Entwicklungen die Zukunft der Fischer in Deutschland
Stich. und Europa. Nur eine nachhaltige Ausrichtung der Ge-
meinsamen Fischereipolitik kann gewährleisten, dass die
Die Debatte zur Reform der Gemeinsamen Fischerei- Bevölkerung ausreichend mit Fischen und Meeresfrüch-
politik ist jetzt im Gange. Wir können uns als Deutscher ten versorgt wird, die wirtschaftliche Zukunft der
Bundestag nicht erst äußern, wenn die Kommission im Fischer gesichert wird und die natürlichen Bestände er-
Mai dieses Jahres ihre Vorstellungen präsentiert. Dann halten bleiben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11109

(A) Deutschland importiert etwa 80 Prozent des hier ver- Ein wirksamer Schutz der Meeresressourcen kann nur (C)
zehrten Fisches. Dennoch hat auch in unseren Küstenre- durch eine verbesserte Forschung, effiziente Kontrollen
gionen die Fischerei eine wichtige Bedeutung. Sie liefert und Einbindung unserer Fischer erzielt werden. Speziell
Fisch insbesondere für die regionale Küche, außerdem dieser Punkt kommt im eigentlich guten und sachlich
ist sie eine wichtige touristische Attraktion. Die Betrach- fundierten Antrag der SPD zu kurz. Deshalb und weil
tung der Nachhaltigkeit darf nicht nur auf den ökologi- die Bundesregierung mit ihrer Haltung bereits auf einem
schen Sektor begrenzt werden, auch wenn er von ent- guten Weg ist, lehnen wir diesen Antrag ab. Den Antrag
scheidender Bedeutung ist. Ökonomische und soziale von Bündnis 90/Die Grünen lehnen wir ab, da er völlig
Fragen müssen ebenfalls bedacht werden. realitätsfremd und ideologisch ist.
Die Europäische Kommission hat im Grünbuch fünf
wesentliche Problemfelder definiert, die bei einer Re- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Bei der Ge-
form angegangen werden müssen. Sie schlägt vor, das meinsamen Fischereipolitik, GFP, sind wir uns zwischen
Problem der Flottenüberkapazität zu lösen, die politi- den Fraktionen im Bundestag in vielen grundsätzlichen
schen Ziele zu präzisieren, die Beschlussfassung auf we- Fragen einig. Wir wollen zum Beispiel gemeinsam, dass
sentliche Grundsätze zu beschränken, die Fischereiwirt- nicht mehr Fisch gefangen werden darf, als im selben
schaft bei der Durchführung besser einzubinden und für Zeitraum „nachwächst“. Das ist ja auch logisch und
eine verbesserte Durchsetzung und Anwendung der fi- quasi die alte Försterregel zur nachhaltigen Bewirtschaf-
schereilichen Regelungen zu sorgen. Die Bundesregie- tung des Waldes – übertragen auf das Meer.
rung hat sich zu den Überlegungen der Kommission po- Die Linke will eine sachliche Diskussion auf belast-
sitioniert und bereits Verhandlungen auf europäischer barer wissenschaftlicher Grundlage.
Ebene begonnen. Die FDP unterstützt die Bundesregie-
rung in ihrer Haltung, auf dem Grundsatz einer nachhal- Dazu gehört, dass wir bei allen Analysen und Ent-
tigen Entwicklung im Rahmen eines ökosystembasierten scheidungen berücksichtigen, dass die wissenschaftli-
Fischereimanagements die Fischereipolitik fortzuentwi- chen Schätzungen der vorhandenen Fischbestände nicht
ckeln. Es ist von besonderer Bedeutung, die mehrjähri- genau genug, also nicht wirklich belastbar sind. Das
gen Bewirtschaftungs- und Wiederaufbaupläne unter der Rostocker von Thünen-Institut für Ostseefischerei, vTI,
Prämisse des MSY, also des höchstmöglichen Dauerer- spricht von 10 bis 20 Prozent Fehlerquote. Diese Unge-
trages, auf solider wissenschaftlicher Basis auszuweiten. nauigkeit kann aber dramatische Auswirkungen bei der
jährlichen Fangquotenfestsetzung haben. Die Fischerei-
forschung muss gestärkt werden, damit wir besser be-
Es ist für Deutschland von entscheidender Bedeutung, lastbare Grundlagen für die politischen Entscheidungen
dass die relative Stabilität und das System der nationalen bekommen. (D)
(B)
Fangquoten beibehalten und anhand wissenschaftlicher
Untersuchungen fortwährend evaluiert werden. In die- Das kann auch zur Versachlichung der Debatte beitra-
sem Punkt stimmen wir dem SPD-Antrag ausdrücklich gen. Und das ist dringend notwendig. Es geht dabei nicht
zu. Wir begrüßen die Initiative der Bundesregierung und um Verharmlosung einer Situation, die im Grünbuch der
weiterer Mitgliedstaaten, das Problem der Rückwürfe EU erstaunlich deutlich und ehrlich beschrieben wurde.
entschlossen anzugehen. Nur wenn Rückwürfe konse- Aber die Situation vieler Fischbestände ist beunruhigend
quent auf die Fangquoten angerechnet werden, kann das genug und muss nicht auch noch zusätzlich mit Horror-
Ziel des MSY erfolgreich umgesetzt werden. Hierzu meldungen dramatisiert werden. Die Schreckenszahl
müssen im Rahmen der Gemeinsamen Fischereipolitik 88 Prozent geistert immer wieder durch politische De-
die illegale Fischerei konsequent bekämpft und geltende batten und Mailing-Aktionen. Aber 88 Prozent über-
Rechtsbestimmungen so effizient wie möglich auf ihre fischte Bestände heißt eben nicht 88 Prozent fast ausge-
Umsetzung kontrolliert werden. Die Fischereiwirtschaft rottete Bestände, sondern: 88 Prozent der Fischbestände,
sollte dabei in die Entwicklung geeigneter Kontroll- und über die wissenschaftliche Erhebungen vorliegen, wer-
Überwachungsmethoden eingebunden werden, um prak- den zu stark befischt, also mehr, als nach dem höchst-
tikable und wirksame Lösungen zu finden. Hierbei ist möglichen, nachhaltigen Dauerertrag, MSY, entnommen
der Schwerpunkt aus unserer Sicht insbesondere auf die werden dürften. Das ist problematisch genug. Aber nur
Fischfangnationen zu legen, die immer noch viel zu bei circa einem Viertel liegen solche Daten überhaupt
hohe Flottenumfänge haben und bei denen daher der An- vor. Solche überzogenen Dramatisierungen lenken leider
reiz für Rechtsverstöße besonders groß ist. von wirklichen Problemen ab. Das drohende Aussterben
des europäischen Aals wird zum Beispiel kaum wahr-
Die FDP ist im Wesentlichen mit der Verhandlungs- genommen, wie Dr. Christoph Zimmermann vom von
position der Bundesregierung auf europäischer Ebene Thünen-Institut in der Ausgabe 1/2010 der Fachzeit-
zufrieden. Aus unserer Sicht besteht jedoch noch ein er- schrift Kutter beklagt hat.
heblicher Optimierungsbedarf bei der wissenschaftli-
chen Datengrundlage. Um wirklich nachhaltige Bewirt- Bei allen unbestrittenen Problemen in der Fischerei
schaftungspläne für die bedrohten Meeresarten erstellen sieht die Linke aber nicht nur ihre ökologischen Rah-
zu können, ist eine fundierte Kenntnis der spezifischen menbedingungen, sondern konsequent auch ihre soziale
ökologischen Zusammenhänge und der tatsächlichen und wirtschaftliche Funktion. Deshalb dürfen die not-
Verteilung und Verbreitung einzelner Arten unabdingbar. wendigen Fangreduzierungen nicht auf Kosten der in der
Die gut aufgestellte deutsche Fischerei- und Meeresfor- Fischerei Beschäftigten gehen. Quotenkürzungen kön-
schung muss weiter unterstützt und ausgebaut werden. nen zu Arbeitsplatzverlusten führen und haben damit er-
11110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011

(A) hebliche Auswirkungen auf das Leben und Arbeiten an gelegt, die nachdenklich machen müssen. Die höchsten (C)
der Küste. In den Küstenregionen lebt fast die Hälfte Rückwurfraten gibt es bei der Baumkurrenfischerei auf
der europäischen Bevölkerung, wie EU-Kommissarin Scholle und Seezunge. In den Jahren 2008 bis 2010 wur-
Maria Damanaki heute bei einer Veranstaltung in Ber- den zwischen 60 und 75 Prozent des Fangs als Abfall
lin betont hat. Auch in der Fischerei heißt nachhaltig wieder über Bord gekippt. Das muss aufhören. Wir müs-
nicht nur ökologisch, sondern auch sozial und ökono- sen schrittweise, aber konsequent von den Rückwürfen
misch denken. Das wissen auch die Fischerinnen und wegkommen. Die Rückwurfraten in der pelagischen Fi-
Fischer. Denn ihre Altersvorsorge sind die Fischbe- scherei, zum Beispiel Heringsfischerei, sind bereits unter
stände. Deshalb treten sie dafür ein, dass Umwelt- und 1 Prozent, auch die deutsche Fischerei auf Kabeljau und
Fischereipolitik nicht gegeneinander ausgespielt werden. Seelachs ist sehr vorbildlich, wie mir die Bundesregie-
Deshalb müssen Fischereibetriebe und die Beschäftigten rung bestätigt hat. Von einem zukünftigen Rückwurfver-
in alle Entscheidungen einbezogen werden. Und in den bot sollten als Ausnahme nur Arten mit einer sehr hohen
Küstenregionen müssen alternative Einkommensmög- Überlebenswahrscheinlichkeit wieder ins Meer gewor-
lichkeiten gezielt gefördert werden, um den Struktur- fen werden dürfen. Bleiben sie im Ozean zurück, können
wandel sozial abzufedern. sie weiter wachsen und sich fortpflanzen und damit zu
stabilen Beständen beitragen.
Ich möchte noch kurz auf einige Aspekte der aktuel-
len EU-weiten Debatte eingehen: Wir kritisieren die oftmals fragwürdigen internationa-
len Fischereiabkommen mit Nicht-EU-Staaten und for-
Sicher muss die EU-Fischerei-Flotte abgebaut wer- dern ein globales Netzwerk von Meeresschutzgebieten.
den. Aber die deutsche Fischerei hat hier ihre Hausauf- Bei der Ausweisung der Meeresschutzgebiete tragen die
gaben bereits erledigt. Deshalb erwartet sie aber auch zu Mitgliedstaaten eine hohe Verantwortung, die Koordina-
Recht, dass zum Beispiel gegen die illegale Fischerei tion in Europa erwarte ich jedoch von der EU bzw. welt-
noch konsequenter vorgegangen wird. Hier wurde schon weit von der UNO.
einiges erreicht, aber es liegt noch vieles im Argen.
Für die Linke ist der SPD-Antrag nicht grün genug
Die Linke will weg von dem alljährlichen politischen und der grüne Antrag nicht rot genug. Im Grünenantrag
Kuhhandel um Fischereitage, Fangquoten und dem werden die Konsequenzen aus ihrer „grundlegenden Re-
Streit über die Entwicklung der Fischbestände. Wir wol- form“ einfach ausgeblendet. Aber insbesondere in der
len stattdessen eine mehrjährige Planung der Bewirt- Küstenfischerei geht es um viele Menschen, die ihre Er-
schaftung der Fischbestände. In diesem Fall würden sich werbsarbeit verlieren. Mehr Kontrollen, zusätzliche Ge-
auch mögliche Schätzfehler der tatsächlichen Fischbe- bühren und Abgaben, das mag zwar eine grundlegende
stände nicht so schwerwiegend auswirken. Reform sein, aber ob damit die Fischerei auf einen zu- (D)
(B)
Mehrjahrespläne wären auch im Interesse der jungen kunftsfähigen Weg gebracht werden kann, wage ich zu
Menschen. Denn wir haben auch in der Fischerei Nach- bezweifeln. Richtig ist, dass das Grünbuch gezeigt hat,
wuchsprobleme. Zu den Gründen gehört neben der Un- dass sich wirklich etwas tun muss. Diese Forderung un-
berechenbarkeit der Fischereipolitik auch die skandali- terstützen wir ausdrücklich. Aber es muss mit ökologi-
sierte Berichterstattung über ausgeräumte Meere. Wer scher und sozialer Verantwortung gehandelt werden. Der
soll da eine berufliche Perspektive für sich sehen? SPD-Antrag geht vage Schritte in die richtige Richtung,
darum stimmen wir zu. Der grüne Antrag ist aus unserer
Dabei ist sich die Forschung nahezu einig: Durch die Sicht zu radikal, aber mit grundsätzlich diskussionswür-
Fischerei wird kein Bestand und keine Fischart ausster- digen Vorschlägen; daher enthalten wir uns.
ben, durch eine verfehlte Wirtschafts-, Energie- und Um-
weltpolitik schon eher.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Die jetzt anstehende Reform der Gemeinsamen Fi- Grünbuch zur Reform der EU-Fischereipolitik eröffnet
schereipolitik muss deshalb einen Neuansatz finden. Wir die Chance für eine grundlegend bessere Fischereipoli-
unterstützen EU-Kommissarin Maria Damanaki, die tik. Diese Chance muss die EU im Interesse der Meere,
mehr Langfristigkeit, weniger Bürokratie und effektivere aber auch der Fischeiwirtschaft nutzen. Nur wer Fisch-
Kontrollen will. bestände heute schützt, kann morgen noch Fische fan-
gen. Deshalb appelliere ich an alle Beteiligten: Treten
Über manche Details muss sicher noch diskutiert wer- Sie für eine anspruchsvolle Reform der EU-Fischerei-
den. Kontrollkameras an Bord zum Beispiel sind eine politik ein!
recht drastische Maßnahme. Hier habe ich ein etwas
mulmiges Orwell’sches Gefühl. Aber Videobelege sind Die Gefahr, dass die Reform kleingekocht wird, ist
andererseits eine verlässliche Dokumentation mit ver- groß. Denn genau die Fischereiminister, die bisher für
gleichsweise geringem bürokratischem Aufwand. die Überfischung gesorgt haben, entscheiden über diese
Reform. Hoffnung gibt, dass das Europaparlament nach
Ganz klar will die Linke ein Verbot von Rückwürfen dem Vertrag von Lissabon mitentscheiden darf und dass
des Beifangs mit Anrechnung auf die Fangquote. Nor- es die Fischereikommissarin Damanaki offenbar ernst
wegen macht uns das vor. Wir sehen das wie die EU- meint mit der Durchsetzung wirksamer Maßnahmen.
Kommissarin: Rückwürfe sind unethisch, Ressourcen-
verschwendung und Vergeudung von menschlicher Bündnis 90/Die Grünen fordern einen Paradigmen-
Arbeit. In der Fragestunde am Mittwoch hat mir die wechsel in der EU-Fischereipolitik. Ein zentraler Punkt
Bundesregierung Rückwurfzahlen aus Deutschland vor- ist die Einführung von Rückwurfverboten und Anlande-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 96. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. März 2011 11111

(A) geboten für Arten mit zu niedrigen Rückwurfüberlebens- zulässigen Gesamtfangmengen nach ökologisch, sozial (C)
raten, damit endlich Schluss ist mit der ökologisch und und ökonomisch nachhaltigen Kriterien festzusetzen.
ökonomisch fatalen Verschwendung von Fischressour- Das heißt doch im Klartext: Zur Stabilisierung der Be-
cen. Diese Rückwurfverbote brauchen wir so schnell wie stände notwendige Fangmengenreduzierungen sollen
möglich. Eine schrittweise Einführung wie in der Ge- – wie bisher – aus Rücksicht auf die kurzfristigen Er-
meinsamen Erklärung Deutschlands mit Dänemark, tragsausfälle der Fischereibetriebe unterbleiben. Das ist
Frankreich und Großbritannien reicht nicht. Für ein er- genau die Logik der Überfischung, der seit Jahrzehnten
neutes Zögern gibt es keinen Grund. Hier hat sich die gefolgt wird. Das ist genau die Logik, die dazu führt,
Bundesregierung erneut auf eine viel zu zaghafte Position dass die Fischereibetriebe auf Dauer weniger fischen
festgelegt. können, als sie bei einer vernünftigen Bewirtschaftung
fischen könnten! Wegen dieser Forderung müssen wir
Wir Bündnisgrüne fordern auch die strikte Orientie-
den SPD-Antrag ablehnen.
rung der Gesamtfangmengen an den Empfehlungen der
Fischereiwissenschaft. Denn die wurden in den letzten Zum erschreckenden Auftritt des fischereipolitischen
Jahren von den Fischereiministern regelmäßig um circa Sprechers der SPD im Ausschuss ist zu sagen: Es hat uns
50 Prozent überschritten. Damit muss Schluss sein! In schon sehr irritiert, dass er die Fischereipolitik der Bun-
den Natura-2000-Meeresschutzgebieten, die in den EU- desregierung über den grünen Klee gelobt hat. Denn die-
Meeren eingerichtet werden müssen, sollte die Fischerei ses Lob hat das widersprüchliche Agieren der Bundesre-
beschränkt werden können, zumindest soweit sie als gierung nun wirklich nicht verdient. So ist
Kinderstube für Fischbestände fungieren. Auffallend ist, beispielsweise der Gemeinsamen Erklärung Deutsch-
dass Fischereipolitik in den Koalitionsfraktionen gar lands, Frankreichs und Polens zur Fischereireform zu
nicht stattfindet. Diese überlassen sie zu 100 Prozent der entnehmen, dass sich die Bundesregierung den Überfi-
Bundesregierung. Folgerichtig haben Union und FDP schungsinteressen von Frankreich und Polen untergeord-
auch keinen Antrag zur Reform der EU-Fischereipolitik net hat und eine Linie unterstützt, die fast alles beim Al-
vorgelegt. Dass aber die Vertreter der Union im Aus- ten belässt.
schuss, wie in der Beschlussempfehlung nachzulesen,
Die SPD sollte sich wirklich überlegen, ob sie sich
nicht einmal etwas Inhaltliches zur Fischereireform zu
nicht besser einen fischereipolitischen Sprecher wählt,
sagen hatten, das hat meine Erwartungen aber doch noch
der frei ist von Lobbyinteressen, der nicht gleichzeitig
einmal deutlich untertroffen.
Präsident des Deutschen Fischereiverbandes ist. Die
Dem SPD-Antrag könnten wir in weiten Teilen zu- Trennung dieser Funktionen wäre ein notwendiger Akt
stimmen. Problematisch ist allerdings die Forderung, die der politischen Hygiene.
(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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