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Plenarprotokoll 17/24

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

24. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- b) Antrag der Abgeordneten Katja Kipping,
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2027 A Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE
Absetzung des Tagesordnungspunktes 10 c . . 2028 B
LINKE: Weg mit Hartz IV – Für gute
Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 2028 B Arbeit und eine sanktionsfreie, bedarfs-
deckende Mindestsicherung
(Drucksache 17/659) . . . . . . . . . . . . . . . . 2041 B
Tagesordnungspunkt 3:
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2041 C
Bericht über die Wohnungs- und Immobi-
lienwirtschaft in Deutschland Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2043 C
(Drucksache 16/13325) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2028 C
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2044 B
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister
BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2028 D Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2045 C

Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2030 C Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2046 D

Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2047 D


2032 A
Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2033 D Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 2049 A

Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/ Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2050 C


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2035 C Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2051 B
Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2037 C Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2052 B
Michael Groß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2038 D Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2053 A
Volkmar Vogel (Kleinsaara) Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . 2054 A
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2040 B
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2055 A
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 4: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2056 B
a) Antrag der Abgeordneten Markus Kurth,
Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang Strengmann- Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2057 B
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . 2058 B
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2059 A
und Erwachsene jetzt ermöglichen
(Drucksache 17/675) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2041 B Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2060 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 2061 C Seifert, weiterer Abgeordneter und der


Fraktion DIE LINKE: Gesetzliche Kran-
Johannes Vogel (Lüdenscheid) kenversicherung für Solo-Selbststän-
(FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2062 D dige bezahlbar gestalten
(Drucksache 17/777) . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 A
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2063 C
Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2065 A Zusatztagesordnungspunkt 7:
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) . . . . . . 2066 B
a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2066 C Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE: Nachhaltige Hilfe für Haiti:
Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 2066 D Entschuldung jetzt – Süd-Süd-Koope-
ration stärken
Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2068 B (Drucksache 17/774) . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 A

b) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,


Tagesordnungspunkt 23: Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
DIE GRÜNEN: Haiti entschulden und
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
langfristig beim Wiederaufbau unter-
zes zur Änderung des Abkommens vom
stützen
15. Dezember 1950 über die Gründung
(Drucksache 17/791) . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 A
eines Rates für die Zusammenarbeit auf
dem Gebiete des Zollwesens c) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth
(Drucksache 17/759) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2069 C (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bonde, weiterer Abgeordneter und der
rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
ten Gesetzes zur Änderung des Vorläu- Europäische Tierversuchsrichtlinie
figen Tabakgesetzes muss ethischem Tierschutz Rechnung
(Drucksache 17/719) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2069 C tragen – Stellungnahme des Deutschen
Bundestages gemäß Artikel 23 Absatz 3
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Grundgesetz
Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlin- (Drucksache 17/792) . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 B
burg), Nicole Maisch, weiteren Abgeord-
neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE d) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas
Gesetzes zur Regelung der Privatisie- Gambke, weiterer Abgeordneter und der
rung von bundeseigenen oberirdischen Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Gewässern Verfahren zur Auswahl von Bundes-
(Drucksache 17/653) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2069 C bankvorständen reformieren
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksache 17/798) . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 B
Birgitt Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth
Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tagesordnungspunkt 24:
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abschaffung der Benachteiligung a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
von privat versicherten Bezieherinnen des von der Bundesregierung eingebrach-
und Beziehern von Arbeitslosengeld II ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
(Drucksache 17/548) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2069 D Übereinkommen Nr. 187 der Internatio-
e) Antrag der Abgeordneten Harald nalen Arbeitsorganisation vom 15. Juni
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus 2006 über den Förderungsrahmen für
Ernst, weiterer Abgeordneter und der den Arbeitsschutz
Fraktion DIE LINKE: Private Kranken- (Drucksachen 17/428, 17/579) . . . . . . . . . 2070 C
und Pflegeversicherung – Existenzmini-
b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
mum zukünftig auch für Hilfebedürf-
schusses: Übersicht 2 über die dem
tige
(Drucksache 17/780) . . . . . . . . . . . . . . . . . Deutschen Bundestag zugeleiteten
2069 D
Streitsachen vor dem Bundesverfas-
f) Antrag der Abgeordneten Harald sungsgericht
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja (Drucksache 17/811) . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 III

c) Beschlussempfehlung und Bericht des 13653/09, 13654/09, 13658/09)


Rechtsausschusses: zu dem Streitverfah- KOM (2009) 501 endg.; Ratsdok.
ren vor dem Bundesverfassungsgericht – 13652/09
2 BvF 1/09
(Drucksache 17/812) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2070 D – zu der Unterrichtung der Bundesregie-
rung: Vorschlag für eine Verordnung
d) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, des Europäischen Parlaments und
FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE des Rates zur Einrichtung einer Eu-
GRÜNEN: Erneute Überweisung von ropäischen Aufsichtsbehörde für
Vorlagen aus früheren Wahlperioden das Versicherungswesen und die be-
(Drucksache 17/790) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2071 A triebliche Altersversorgung (inkl.
e)–m) 13648/09, 13645/09, 13652/09, 13654/
Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- 09, 13658/09)
schusses: Sammelübersichten 31, 32, 33, KOM (2009) 502 endg.; Ratsdok.
34, 35, 36, 37, 38 und 39 zu Petitionen 13653/09
(Drucksachen 17/665, 17/666, 17/667, – zu der Unterrichtung der Bundesregie-
17/668, 17/669, 17/670, 17/671, 17/672, rung: Vorschlag für eine Verordnung
17/673) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2071 A des Europäischen Parlaments und
des Rates zur Einrichtung einer Eu-
ropäischen Wertpapieraufsichtsbe-
Tagesordnungspunkt 5: hörde (inkl. 13648/09, 13645/09,
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- 13652/09, 13653/09 und 13658/09)
rung eingebrachten Entwurfs eines KOM (2009) 503 endg.; Ratsdok.
Ausführungsgesetzes zur Verordnung 13654/09
(EG) Nr. 1060/2009 des Europäischen – zu der Unterrichtung der Bundesregie-
Parlaments und des Rates vom 16. Sep- rung: Arbeitsdokument der Kom-
tember 2009 über Ratingagenturen missionsdienststellen – Zusammen-
(Ausführungsgesetz zur EU-Ratingver- fassung der Folgenabschätzung
ordnung) (inkl. 13648/09, 13645/09, 13652/09,
(Drucksache 17/716) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2072 A 13653/09, 13654/09)
b) Beschlussempfehlung und Bericht des SEK (2009) 1235 endg.; Ratsdok.
Finanzausschusses 13658/09
– zu der Unterrichtung der Bundesregie- – zu der Unterrichtung der Bundesregie-
rung: Vorschlag für eine Entschei- rung: Vorschlag für eine Richtlinie
dung des Rates zur Übertragung des Europäischen Parlaments und
besonderer Aufgaben im Zusam- des Rates zur Änderung der Richt-
menhang mit der Funktionsweise linien 1998/26/EG, 2002/87/EG,
des Europäischen Ausschusses für 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG,
Systemrisiken auf die Europäische 2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG,
Zentralbank (inkl. 13648/09, 13652/09, 2006/48/EG, 2006/49/EG und 2009/
13653/09, 13654/09 und 13658/09) 65/EG im Hinblick auf die Befug-
KOM (2009) 500 endg.; Ratsdok. nisse der Europäischen Bankauf-
13645/09 sichtsbehörde, der Europäischen
Aufsichtsbehörde für das Versiche-
– zu der Unterrichtung der Bundesregie- rungswesen und die betriebliche Al-
rung: Vorschlag für eine Verordnung tersversorgung und der Europäi-
des Europäischen Parlaments und schen Wertpapieraufsichtsbehörde
des Rates über die gemeinschaftliche (Text von Bedeutung für den EWR)
Finanzaufsicht auf Makroebene und KOM (2009) 576 endg.; Ratsdok.
zur Einsetzung eines Europäischen 15093/09
Ausschusses für Systemrisiken (inkl.
13645/09, 13652/09, 13653/09, (Drucksachen 17/136 Nr. A.35, 17/136
13654/09, 13658/09) Nr. A.36, 17/136 Nr. A.37, 17/136 Nr. A.38,
KOM (2009) 499 endg.; Ratsdok. 17/136 Nr. A.39, 17/136 Nr. A.40, 17/178
13648/09 Nr. A.10, 17/509) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2072 A
– zu der Unterrichtung der Bundesregie- Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär
rung: Vorschlag für eine Verordnung BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2072 D
des Europäischen Parlaments und
des Rates zur Einrichtung einer Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2074 A
Europäischen Bankaufsichtsbe-
hörde (inkl. 13648/09, 13645/09, Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2076 B
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2077 A Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2101 D
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2103 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2078 B
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2079 C Tagesordnungspunkt 8:
Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2081 A Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer
Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 2081 D
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Dem Vorbild Großbritanniens und Frank-
reichs folgen – Boni-Steuer für die Finanz-
Tagesordnungspunkt 6: branche einführen
(Drucksache 17/452) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2104 C
Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer,
Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: Erhalt in Verbindung mit
und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur si-
chern – Deutschland braucht eine moderne
Zukunftsstrategie zur Infrastrukturfinan-
zierung Zusatztagesordnungspunkt 2:
(Drucksache 17/782) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2083 C
Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2083 C Fritz Kuhn, Kerstin Andreae, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Reinhold Sendker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2085 C GRÜNEN: Gehaltsexzesse nicht länger auf
Kosten der Allgemeinheit
Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2087 A (Drucksache 17/794) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2104 C
Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2087 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2104 D
Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2089 A Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2105 B
Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/
Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2106 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2089 D
Patrick Schnieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2090 D Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2106 C

Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2091 D Leo Dautzenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2107 A


Lothar Binding (Heidelberg)
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2108 B
Tagesordnungspunkt 7:
Antrag der Abgeordneten Christoph Poland, Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2109 D
Rita Pawelski, Wolfgang Börnsen (Bönstrup),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Helga DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2111 C
Daub, Reiner Deutschmann, Patrick
Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2112 B
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP: Kulturtourismus in
Deutschland stärken
(Drucksache 17/676) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2093 A Tagesordnungspunkt 9:
Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2093 A Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Fünften Geset-
Ulla Schmidt (Aachen) zes zur Änderung des Kraftfahrzeugsteu-
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2094 C ergesetzes
Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2094 D (Drucksache 17/717) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2113 C

Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2096 D Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär


BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2113 C
Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2097 D
Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2114 B
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2099 A Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 2115 C

Dagmar Wöhrl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2100 B Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2116 C


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 V

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ Informationstechnologie in den Verwaltun-


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2117 B gen von Bund und Ländern – Vertrag zur
Ausführung von Artikel 91 c GG
Patricia Lips (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 2118 A (Drucksachen 17/427, 17/571) . . . . . . . . . . . . 2128 B

Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär


Tagesordnungspunkt 10: BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2128 C
a) Erste Beratung des von der Fraktion der Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2129 C
SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes zur Aufhebung des Gesetzes zur Be- Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2130 C
kämpfung der Kinderpornografie in
Kommunikationsnetzen Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 2131 D
(Drucksache 17/776) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2119 B
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2132 D
Jörn Wunderlich, Dr. Petra Sitte, Agnes
Alpers, weiteren Abgeordneten und der Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2133 C
Fraktion DIE LINKE eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Aufhebung von
Zugangsbeschränkungen in Kommuni- Tagesordnungspunkt 12:
kationsnetzen
(Drucksache 17/646) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2119 B Antrag der Abgeordneten Sören Bartol, Uwe
Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: Kommu-
in Verbindung mit
nen die Einrichtung von Carsharing-Stell-
plätzen ermöglichen
(Drucksache 17/781) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2134 D
Zusatztagesordnungspunkt 3:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2135 A
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck (Köln),
Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und Volkmar Vogel (Kleinsaara)
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2136 B
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2136 D
Aufhebung des Gesetzes zur Erschwerung
des Zugangs zu kinderpornografischen In- Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2137 D
halten in Kommunikationsnetzen und Än-
derung weiterer Gesetze Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2138 D
(Drucksache 17/772) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2119 C
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/
Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2119 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2139 C
Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2121 A Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2140 C
Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2122 A
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 13:
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2123 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak-
Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2124 C
torsicherheit zu der Verordnung der Bundes-
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2126 C regierung: Neununddreißigste Verordnung
zur Durchführung des Bundes-Immissions-
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ schutzgesetzes (Verordnung über Luftqua-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2127 C litätsstandards und Emissionshöchstmen-
gen – 39. BImSchV)
Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2128 A (Drucksachen 17/508, 17/591 Nr. 2, 17/768) . 2141 B

Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin


Tagesordnungspunkt 11: BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2141 C
Zweite und Dritte Beratung des von der Bun- Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2142 C
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zum Vertrag über die Errichtung Dr. Lutz Knopek (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2143 B
des IT-Planungsrats und über die Grundla-
gen der Zusammenarbeit beim Einsatz der Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2144 C
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2145 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2159 D

Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2146 A Hans-Georg von der Marwitz


(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2160 C

Tagesordnungspunkt 14: Tagesordnungspunkt 16:


Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia Erste Beratung des von den Abgeordneten
Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Kathrin Jerzy Montag, Beate Müller-Gemmeke,
Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter und Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion DIE LINKE: „Soforthilfepro- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gramm Kultur“ zum Erhalt der kulturel- eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
len Infrastruktur einrichten zur Änderung des Bürgerlichen Gesetz-
(Drucksache 17/552) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2147 B buchs (§ 622 Absatz 2 Satz 2 BGB) – Dis-
kriminierungsfreie Ausgestaltung der Kün-
digungsfristen bei Arbeitsverhältnissen
in Verbindung mit (Drucksache 17/657) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2162 B

in Verbindung mit
Zusatztagesordnungspunkt 4:
Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede,
Undine Kurth (Quedlinburg), Ekin Deligöz, Zusatztagesordnungspunkt 5:
weiterer Abgeordneter und der Fraktion Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kulturelle In- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
frastruktur sichern – Substanzerhaltungs- Umsetzung des EuGH-Urteils (C – 555/07) –
programm Kultur auflegen Erweiterung des Kündigungsschutzes bei
(Drucksache 17/789) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2147 B unter 25-Jährigen
(Drucksache 17/775) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2162 B
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 2147 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2148 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2162 C
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 2149 B Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2163 B
Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2150 D Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2164 C
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2152 A Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2165 B
Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU) . . . . . . . 2152 C Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2166 D
Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2153 B Peter Weiß (Emmendingen)
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2167 D
Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 2154 B
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2168 C
Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2169 D
Tagesordnungspunkt 15:
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2170 C
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
zes zur Änderung des Direktzahlungen- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2171 D
Verpflichtungengesetzes
(Drucksache 17/758) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2155 A Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2172 A

Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 2155 B


Tagesordnungspunkt 17:
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2156 B Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . 2157 B zes zur Änderung des Telemediengesetzes
(1. Telemedienänderungsgesetz)
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 2158 D (Drucksache 17/718) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2172 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 VII

Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU) . . . . . . . 2173 A Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2178 C


Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2173 D
Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2178 B/D
Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2174 C
Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2175 C
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . 2176 B
Anlage
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2177 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2179 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2027

(A) (C)

Redetext

24. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Gu- Krumwiede, Undine Kurth (Quedlinburg), Ekin
ten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bevor ich Tagesordnungspunkt 3 aufrufe, teile ich Ih-
nen mit, dass es die interfraktionelle Vereinbarung gibt, Kulturelle Infrastruktur sichern – Substanz-
die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatz- erhaltungsprogramm Kultur auflegen
punktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: – Drucksache 17/789 –
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Schweigen der Bundeskanzlerin zur Sozial- Haushaltsausschuss
politik der Bundesregierung ZP 5 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
(B) (siehe 23. Sitzung) (D)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um-
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten setzung des EuGH-Urteils (C – 555/07) – Er-
Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae, weiterung des Kündigungsschutzes bei unter
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 25-Jährigen
NIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/775 –
Gehaltsexzesse nicht länger auf Kosten der Überweisungsvorschlag:
Allgemeinheit Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
– Drucksache 17/794 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f) ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rüdiger Veit, Dr. Dieter Wiefelspütz, Olaf
ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten Scholz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck (Köln), der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der zur Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- – Drucksache 17/773 –
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
Überweisungsvorschlag:
bung des Gesetzes zur Erschwerung des Zu- Innenausschuss (f)
gangs zu kinderpornographischen Inhalten in Rechtsausschuss
Kommunikationsnetzen und Änderung weite-
rer Gesetze ZP 7 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren
– Drucksache 17/772 – (Ergänzung zu TOP 23)
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Innenausschuss Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend jetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien – Drucksache 17/774 –
2028 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Überweisungsvorschlag: Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss zung steuerlicher EU-Vorgaben sowie zur
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Änderung steuerlicher Vorschriften
Haushaltsausschuss
– Drucksache 17/506 –
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo überwiesen:
Hoppe, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Ab- Finanzausschuss (f)
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
GRÜNEN Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haiti entschulden und langfristig beim Wie- Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
deraufbau unterstützen
Darf ich dafür jeweils Ihr Einvernehmen feststellen? –
– Drucksache 17/791 – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlos-
Überweisungsvorschlag: sen.
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f) Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Unterrichtung durch die Bundesregierung
Haushaltsausschuss
Bericht über die Wohnungs- und Immobilien-
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine wirtschaft in Deutschland
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander – Drucksache 16/13325 –
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Überweisungsvorschlag:
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Finanzausschuss
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-
tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre
– Drucksache 17/792 – keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Überweisungsvorschlag: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
(B) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nächst dem Bundesminister Dr. Peter Ramsauer. (D)
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Gesundheit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Bau und Stadtentwicklung:
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich
Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und bin dem Parlament ausgesprochen dankbar dafür, dass
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Bericht über die Wohnungs- und Immobilienwirt-
schaft in Deutschland an so prominenter Stelle auf die
Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvor- Tagesordnung gesetzt worden ist, nämlich zu Beginn der
ständen reformieren Kernzeit unserer parlamentarischen Beratungen. Das ist
sozusagen beste Sendezeit des Parlaments.
– Drucksache 17/798 –
Überweisungsvorschlag:
Ich betone dies vor allen Dingen aus einem Grunde.
Finanzausschuss (f) (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Damit es im
Rechtsausschuss
Fernsehen kommt!)
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- – Das vielleicht auch. Endlich einmal ein vernünftiger
weit erforderlich, abgewichen werden. Zuruf von den Linken; auch das kommt einmal vor!
Der Tagesordnungspunkt 10 c soll abgesetzt werden. (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus- Nein, ich betone dies aus folgendem Grunde: Bei der öf-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- fentlichen Darstellung durch die Medien werden die In-
merksam: halte meines Ministeriums in der Regel, aus welchen
Gründen auch immer, auf das Thema Verkehr verkürzt,
Der in der 19. Sitzung des Deutschen Bundestages
was bisweilen dazu geführt hat, dass in Kommentierun-
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
gen der Medien ein- oder zweimal geschrieben worden
lich dem Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro-
ist, bei Ramsauer komme der Bau unter die Räder.
päischen Union (21. Ausschuss) zur Mitberatung über-
wiesen werden. (Sören Bartol [SPD]: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2029
Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
(A) Erst wird also nur über das Thema Verkehr geschrieben, Wohneigentum bedeutet für die Bürgerinnen und Bür- (C)
und dann wird von denselben Leuten beklagt, dass der ger nicht nur einfach Besitz; Eigentum hat vielmehr auch
Bau unter die Räder komme. eine hohe gesellschaftliche Relevanz. Ich habe hier an
dieser Stelle oft schon darüber gesprochen: Wohneigen-
Heute setzen wir ein Zeichen dafür, dass dies nicht tum gibt ein Stück individuelle Freiheit und erfordert
der Fall ist, dass vielmehr die Bau- und Immobilienwirt- natürlich ebenso Eigenverantwortung. In diesem Zusam-
schaft eine ganz herausragende, bedeutende Rolle in un- menhang von Eigentum, Freiheit und Eigenverantwor-
serer Volkswirtschaft spielt, und zwar etwa in der Grö- tung ist der Staat nicht gefragt. Dies gibt ein Stück Frei-
ßenordnung des gesamten Gesundheitswesens. Mit einer heit vom Staat und ist gelebte freiheitliche Gesellschaft
Bruttowertschöpfung von 250 Milliarden Euro und rund und freiheitliche Bürgerkultur.
3,8 Millionen Beschäftigten ist sie eine der tragenden
Säulen unserer Volkswirtschaft. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir sollten deshalb alles daran setzen, dass wir die
Etwas Besonderes wohnt dieser Immobilien- und
Wohneigentumsquote, die derzeit bei etwa 43 Prozent
Bauwirtschaft inne: Sie ist, wie wenige andere Wirt-
liegt, weiter erhöhen. Deshalb war es auch ein wichtiger
schaftszweige, ausgesprochen mittelständisch geprägt Schritt, dass noch in der letzten Legislaturperiode das
und erweist sich in ihrem moderaten und stetigen selbstgenutzte Wohneigentum besser in die private
Wachstum gerade vor dem Hintergrund der Wirtschafts- Altersvorsorge einbezogen worden ist. Bis Ende letzten
und Finanzkrise als sehr stabilisierendes Element. In Jahres sind etwa 200 000 Verträge nach dem Eigenheim-
Deutschland gibt es keine spekulationsgetriebene Immo- rentengesetz abgeschlossen worden. Ich meine, das ist
bilienblase, wie sie anderswo ganze Volkswirtschaften eine gute Zahl, aber wir sollten alles daran setzen, dass
ins Wanken bringt. Darauf sollten wir stolz sein. Dies ist sich dies noch weiter verbessert. In den Beratungen, in
nicht zuletzt das Ergebnis unserer Stabilitätskultur in die der Bericht jetzt geht, sollte im Hinblick darauf
Deutschland, die es auch künftig gegen vielfältige Vor- Kreativität entwickelt werden.
stöße und Anfeindungen zu sichern gilt.
Meine Damen und Herren, zum Thema Wohnen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bauen gehört untrennbar das Stichwort Klimaschutz und
Energieeinsparung. Wir wissen, dass etwa 40 Prozent
Das Wohneigentum wurde gerade in den letzten fünf, des gesamten Primärenergiebedarfs in Deutschland im
zehn Jahren von vermeintlich cleveren Finanzjongleuren Bereich der Gebäude zum Heizen von Luft und Wasser
über viele Jahre hinweg als renditeschwach und konser- verbraucht wird. Dementsprechend haben wir hier ein
vativ belächelt. Ich bin froh, nunmehr feststellen zu kön- hohes Einsparpotenzial. Mit dem CO2-Gebäudesanie-
(B) nen, dass sich gerade die Wohnimmobilie heute zu Recht rungsprogramm haben wir einen wirklich großartigen (D)
als Gewinner der Finanzkrise bezeichnen kann. Dafür Renner in unserem Land, und wir beraten derzeit – so
gibt es Gründe. Einer der Gründe ist der stabile Rechts- gestern wieder im Verkehrs- und Bauausschuss und am
rahmen, den wir mit den risikoarmen Festzinshypothe- Nachmittag zum gleichen Thema im Haushaltsausschuss –,
ken sowie den bewährten Bausparverträgen haben. Das wie wir dieses CO2-Gebäudesanierungsprogramm ver-
setzt auf Solidität anstatt auf Spekulation. Die Immobilie längern und verstetigen können.
mit ihrer nachhaltigen Wertbeständigkeit gilt mit Fug
und Recht als Inbegriff konservativen Wirtschaftens. Bisher sind insgesamt 1,5 Millionen Wohnungen ge-
Das hat sich bewährt. Das können wir auch vor dem fördert worden. Das entspricht einem Einsparvolumen
Hintergrund der Finanzkrise in aller Deutlichkeit und von etwa 4 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß. Nun kann
mit Stolz feststellen. man sagen, dass das in Anbetracht der Dimensionen et-
was wenig ist. Ich will Ihnen eine andere Zahl nennen:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei der Verteilung der CO2-Emissionszertifikate gingen
wir von einem Volumen von etwa 500 Millionen Tonnen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Thema CO2 aus. Im Vergleich dazu scheinen 4 Millionen Ton-
Wohnen geht es jedoch um sehr viel mehr als um Wirt- nen CO2 nicht viel zu sein. Aber wir müssen an allen
schaftskraft und Anlagevermögen. Wohnen ist ein indi- Ecken und Enden, wo es uns möglich ist, sinnvoll anset-
viduelles und soziales Grundbedürfnis aller Bürgerin- zen, gerade auch im Baubereich, um CO2-Einsparungen
nen und Bürger in unserem Land. Schließlich ist zu erzielen.
Wohnen auch ein wichtiger Teil dessen, was wir alle als
Heimat empfinden und als solche bezeichnen. Die viel (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zitierten eigenen vier Wände sind sozusagen der priva- Im Übrigen wissen wir alle aus den vielen Zuschriften
teste Raum jedes Bürgers und jeder Bürgerin. Das ei- zur Verstetigung dieses Programms, die wir gerade in
gene, vertraute Umfeld gerade auch im hohen Alter gilt diesen Tagen bekommen, in welcher Größenordnung wir
es unbedingt zu erhalten. Wir sollten daher vor dem Hin- im Bereich der Bauwirtschaft und des Handwerks Ar-
tergrund des demografischen Wandels unser Bestmögli- beitsplätze sichern. Die Rede ist von bis zu 300 000 Ar-
ches tun, durch altersgerechtes Bauen und Förderung des beitsplätzen.
altersgerechten Umbaus den älteren Menschen den Ver-
bleib in ihren eigenen vier Wänden zu ermöglichen, so- Wir wollen hier nicht nur weitermachen, sondern wir
lange dies irgend möglich ist. wollen die Effizienz dieses Programms weiter verbes-
sern. Wir müssen uns vor allen Dingen um den Woh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nungs- und Gebäudebestand kümmern. Natürlich bietet
2030 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Bundesminister Dr. Peter Ramsauer


(A) der Neubau tolle Perspektiven. Was sich im Bereich des Ich wünsche den beteiligten Ausschüssen gute Bera- (C)
Energie-Plus-Hauses an Möglichkeiten abzeichnet, ist tungen.
sensationell. Es ist nicht nur ein Haus, das unter dem
Strich keine Energie verbraucht, sondern auch ein Haus, Herzlichen Dank.
das sein eigenes Kraftwerk ist. Vor zwei Tagen habe ich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Uwe
mir Konzepte vorlegen lassen. Beckmeyer [SPD]: Das war der Kern Ihrer
(Iris Gleicke [SPD]: Schon vor zwei Tagen? Kernzeitrede, was?)
Meine Güte!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das hätte man sich vor zehn Jahren nicht träumen lassen:
Den von der CDU/CSU-Fraktion benannten Rednern
Ein Wohnhaus, das Energie produziert und damit seinen
will ich die fröhliche Zwischenbotschaft übermitteln,
gesamten Energiebedarf für Heizung und heißes Wasser
dass Redezeit übrig geblieben ist.
abdeckt. Darüber hinaus erzeugt es einen Überschuss,
mit dem man beispielsweise das eigene Elektroauto be- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
laden kann. Insgesamt kann ein Haushalt, was seine
Grundbedürfnisse inklusive Mobilität angeht, seinen ge- Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Sören Bartol
samten Energiebedarf decken. Das sind großartige Visio- für die SPD-Fraktion.
nen. Von denen müssen wir uns leiten lassen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sören Bartol (SPD):
Zu diesem Bericht gehört auch das Thema Mietrecht.
Auch das steht auf der Tagesordnung. Wir werden – das Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
steht im Koalitionsvertrag – das Mietrecht überprüfen. und Herren! Der Bericht über die Wohnungs- und Immo-
Die Federführung liegt beim Justizressort. Von mir als bilienwirtschaft in Deutschland, den die letzte Bundes-
Wohnungsbauminister wird aber zu Recht ein klares regierung in Auftrag gegeben hat, spricht eine klare
Wort erwartet. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass Sprache. Dank eines seit Jahrzehnten hohen Investitions-
das Mietrecht für uns eine enorme soziale Bedeutung niveaus in den Bereichen Neubau und Bestand ist die
hat. Wir werden aus tiefem Verantwortungsbewusstsein Wohnungsversorgung in Deutschland insgesamt gut.
heraus die soziale Balance nicht aus den Augen verlie- Klimaschutz und demografischer Wandel heißen die
ren. zentralen Herausforderungen, denen sich Wohnungs-
wirtschaft und Politik stellen müssen. Noch etwas betont
Ich möchte aber ein aktuelles Problem benennen der Bericht: Wohnen ist ein soziales Gut, Herr Minister.
(B) – wie wir es lösen werden, wird zu beraten sein –: Wir Die soziale Sicherung des Wohnens war, ist und muss (D)
dürfen nicht tatenlos zusehen, wenn Mieter den Vermie- auch in Zukunft ein zentrales Anliegen der Politik sein.
ter vorsätzlich und bewusst schädigen. Einen wichtigen Schritt haben wir mit der von uns in der
Großen Koalition durchgesetzten Wohngeldreform ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tan.
neten der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Gerade wenn es um die sogenannten Mietnomaden geht
– ein Phänomen, das ich mir in diesem Ausmaß noch vor Zurück zum Anfang. Warum ist die Wohnungsversor-
wenigen Jahren nicht hätte vorstellen können –, dürfen gung gut? Auch das erwähnt der Bericht: Ordnungsrecht-
rechtstreue Kleinvermieter und die Immobilienwirt- liche Rahmenbedingungen, gezielte förderpolitische Im-
schaft nicht alleingelassen werden. pulse und wirksame soziale Sicherungsinstrumente
bilden die Grundlage. Nicht zu vergessen sind – auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- das hebt der Bericht hervor – Miet- und Steuerrecht. Sie
ruf des Abg. Sören Bartol [SPD]) – ich zitiere – „gewährleisten gleichermaßen die Wirt-
schaftlichkeit der Wohnungsvermietung wie den Schutz
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Mieterinnen und Mieter.“ Um die Spannung gleich
Herr Minister. vorwegzunehmen: Entweder hat Herr Ramsauer den Be-
richt nicht oder nur marginal gelesen, oder er beschloss,
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr, ihn einfach zu ignorieren; denn die neue Bundesregie-
Bau und Stadtentwicklung: rung setzt vieles von dem, was der Bericht positiv fest-
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. hält oder unmissverständlich empfiehlt, aufs Spiel.

Ich höre aus den Reihen der Sozialdemokraten einen Punkt eins ist das Mietrecht, eine der wesentlichen
tiefen Seufzer. Diesen Seufzer möchte ich nicht unkom- Bedingungen für einen funktionsfähigen Wohnungs-
mentiert lassen. Es kann nicht sein, dass Mietnomaden markt. Hier hatte sich im Koalitionsvertrag bereits ange-
Wohnungen verwüsten und unvermietbar hinterlassen deutet – im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen –,
und der Vermieter auch noch monatelang auf Mietausfäl- wohin die Reise gehen soll. Mit der Forderung nach glei-
len sitzen bleibt. chen Kündigungsfristen für Mieter und Vermieter droht
Millionen Mieterinnen und Mietern eine Verschlechte-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sören rung. Die Ausgewogenheit zwischen Mieter- und Ver-
Bartol [SPD]: Das will ja auch keiner!) mieterinteressen wird aufgehoben. Die Mieter haben das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2031
Sören Bartol
(A) Nachsehen. Für die geplanten Änderungen gibt es über- Wir fordern außerdem Lösungsvorschläge zur Alt- (C)
haupt keinen Grund. Das Mietrecht hat sich bewährt. schuldenproblematik ostdeutscher Wohnungsunterneh-
men, Überlegungen dazu, wie man den auf deutschen
(Jörg van Essen [FDP]: Gerade nicht! Mein Wohnungsmärkten verstärkt agierenden internationalen
Gott, wie kann man so blind sein?) Investoren begegnen kann, und die Fortentwicklung der
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Koalition hier nationalen Stadtentwicklungspolitik. Hier tappt man,
agitiert, andere Bereiche mit dringendem Handlungsbe- was die Pläne der Bundesregierung angeht, nach wie vor
darf dagegen völlig außen vor lässt. im Dunkeln.

Stichwort Neubauaktivität: Hier ist, wie der Bericht Nach dem Koalitionsvertrag ist vor dem Koalitions-
vorsichtig formuliert, bundesweit die Untergrenze des vertrag. Das heißt nicht zuletzt, seiner sozialen Verant-
Bedarfs erreicht. Zwar stagnieren die Einwohnerzahlen wortung gerecht zu werden. Dort zu sparen, wo das Geld
oder gehen insgesamt zurück, aber dennoch steigt die am nötigsten gebraucht wird, heißt es nun gerade nicht.
Zahl der Haushalte aufgrund der zunehmenden „Ver- Genau das aber tut die Bundesregierung, wenn sie die
singelung“ unserer Gesellschaft weiter an. Auf Mittel für ein bewährtes und von Sozialverbänden, Städ-
400 000 Wohnungen wird der Bedarf beziffert. Gebaut teplanern und Wohnungswirtschaft gleichermaßen ge-
wurden im letzten Jahr gerade einmal 175 000. Insbe- schätztes Programm wie die „Soziale Stadt“ gegenüber
sondere in Ballungszentren ist der Bedarf groß. Darauf ihrem eigenen Haushaltsentwurf noch einmal um
müssen wir eine sinnvolle Antwort finden. 20 Millionen Euro kürzt.
Genauso ist es beim sozialen Wohnungsbau, der Gerade die Menschen in Problemquartieren brauchen
2006 im Zuge der Föderalismusreform wegen der regio- die Unterstützung, und zwar nicht nur bei baulichen Ver-
nalen Differenzierung der Wohnungsmärkte den Län- besserungen, sondern auch bei sozialen Projekten in
dern übertragen wurde. Zu konstatieren bleibt jedoch Schulen, bei der Gesundheitsversorgung und bei der In-
eine Leerstelle. Fakt ist, dass der soziale Wohnungsbau tegration von Zuwanderern. Seit über zehn Jahren leistet
in einigen Ländern zum Erliegen gekommen ist. Hier die „Soziale Stadt“ einen wichtigen Beitrag zur Stabili-
muss man sich schon einmal die Frage stellen, was die sierung sozialer Brennpunkte. Die Kürzungen der Mittel
Länder eigentlich mit unserem Geld machen. Es gibt für das Programm konterkarieren die Ziele nationaler
viele Fragen. Stadtentwicklungspolitik, und sie zeigen die soziale
Schieflage dieser Regierung.
Wir fordern von der Regierungskoalition, dass sie ei-
ner sozialen, ökologisch nachhaltigen und an demografi- (Beifall bei der SPD)
schen Veränderungen orientierten Wohn-, Bau- und
(B) Stadtentwicklungspolitik einen größeren Stellenwert Das sind schlechte Nachrichten für die durch die (D)
einräumt. Die energetische Anpassung des Gebäudebe- Steuergeschenke der Regierung an Hoteliers ohnehin ge-
stands und der altersgerechte Umbau von Wohnungen beutelten Kommunen, für Quartiersmanager, die in
und Stadtquartieren verlangen weitere Maßnahmen. Sich 520 Quartieren in fast 330 Städten und Gemeinden das
auf dem Erreichten der Vorgängerregierungen auszuru- Programm umsetzen, und vor allem für die Menschen,
hen, reicht nicht, lieber Herr Minister. die in sozialen Brennpunkten leben. Wohn-, Bau- und
Stadtentwicklungspolitik ist ein weites Feld, das es zu
(Beifall bei der SPD – Iris Gleicke [SPD]: Das bestellen gilt, in ländlichen – da haben Sie recht –, aber
ist wohl wahr!)
eben auch in städtischen Räumen. Es ist ein wichtiges
Wir wollen eine Weiterentwicklung und Evaluierung Feld, das Herr Minister Ramsauer nicht wirklich bestellt.
des von dem sozialdemokratisch geführten Bundes-
(Markus Grübel [CDU/CSU]: Was denn?)
ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ent-
wickelten CO2-Gebäudesanierungsprogramms. Schön Es bleiben die sich so vordringlich stellenden Fragen
ist immerhin, dass die Bundesregierung nun doch die hinsichtlich des Klimaschutzes im Gebäudebereich, der
Notwendigkeit der von uns geforderten Fortführung des Städteplanung vor dem Hintergrund einer alternden Ge-
Programms auf bisherigem Niveau erkannt hat. Die Er- sellschaft und auch hinsichtlich der gewiss nicht weniger
folgsgeschichte des Programms muss weitergehen. Über werdenden sozialen Spannungen in unseren Städten. Es
7 Millionen Tonnen CO2 konnten seit seiner Einführung sind Fragen, die Antworten verlangen. Diese Antworten
eingespart werden. Ich sage nur: lernendes Programm, konnte jedenfalls ich in der Rede des Ministers wieder
lernende Regierung. einmal nicht erkennen.
Inakzeptabel ist jedoch, dass die Bundesregierung
Vielen Dank.
dies durch die verlängerten Laufzeiten deutscher Kern-
kraftwerke finanzieren will. Unsere Meinung: Klima- (Beifall bei der SPD)
schutz ja, Risiko Atomkraft nein. Deshalb lehnen wir
den Finanzierungsvorschlag der Regierung ab. Wie es
auch ohne gehen kann, zeigt unser Antrag: in eine nach- Präsident Dr. Norbert Lammert:
haltige Verkehrs-, Bau- und Stadtentwicklungspolitik in- Für die FDP-Fraktion erhält jetzt die Kollegin Petra
vestieren und für die Zukunft Transparenz und Klarheit Müller das Wort.
in der Finanzierung schaffen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) der CDU/CSU)
2032 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

(A) Petra Müller (Aachen) (FDP): Nur wenn wir die Steuern senken, schaffen wir finan- (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ziellen Spielraum und ermöglichen den Menschen, in ihr
Meine sehr verehrten Damen und Herren! 2009 wurde eigenes Heim und in ihre Altersvorsorge zu investieren.
erstmals der Bericht zur Lage und Entwicklung der Unsere Politik wird damit den wirtschaftlichen und den
Wohnungs- und Immobilienwirtschaft vorgelegt. Dieser sozialen Anforderungen der Wohnungs- und Immobi-
Bericht zeigt auf, wie wichtig die Herausforderungen lienwirtschaft gerecht.
sind, vor denen wir stehen. Schrumpfende Städte sind zu
Die Bauwirtschaft ist eine Schlüsselbranche des Mit-
stabilisieren, Stadtzentren sind zu stärken, Wohnen und
telstandes. Wie alle anderen Wirtschaftszweige leidet sie
Arbeiten in der Stadt müssen attraktiver gemacht wer-
unter der aktuellen Krise. Das im Koalitionsvertrag
den, um nur einige Punkte zu nennen.
niedergelegte Sofortprogramm setzt auf Wachstums-
Der Bericht macht aber auch deutlich, wie groß die impulse, um den Mittelstand zu entlasten. Auch im aktu-
Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft für ellen Neun-Punkte-Programm des Bundeswirtschafts-
unsere Volkswirtschaft ist. Da gebe ich Ihnen vollkom- ministeriums stehen mittelständische Unternehmen im
men recht, Herr Minister. Zentrum liberaler Politik.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Meine sehr geehrten Damen und Herren, wie ich am
der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Es ist Anfang bereits sagte, ist es unsere Herausforderung, die
Applaus in der Koalition wert, wenn sie einan- Städte und Gemeinden für die Zukunft fit zu machen. Es
der recht geben!) geht aber auch darum, die regionale und örtliche Wirt-
schaft mit unseren Stadtentwicklungsprogrammen zu
Mit rund einer halben Million Erwerbstätigen besitzt sie fördern und zu stärken. Auf einige Programme möchte
darüber hinaus eine enorme soziale Bedeutung. Deutsch- ich an dieser Stelle eingehen; der Minister hat es im Vor-
land ist ein Mieterland. Sechs von zehn Deutschen leben feld schon getan.
zur Miete. Eine so hohe Quote finden Sie in keinem an-
deren europäischen Land. Ziel muss es jedoch sein – das Wohnen im Alter ist eine zentrale Herausforderung.
war immer unser Anliegen, das Anliegen der FDP –, die Der demografische Wandel erfordert eine zügige Anpas-
Wohneigentumsquote zu erhöhen. sung des Wohnungsbestandes an das grundlegende Be-
dürfnis der Menschen, barrierefrei leben zu können. Das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten KfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“
der CDU/CSU) unterstützt die Wohnungswirtschaft, aber auch die Pri-
Der vorgelegte Bericht bestätigt, dass die Nachfrage vateigentümer dabei. Viele Menschen haben den
nach Wohneigentum im Bestand stagniert. In den letzten Wunsch, lange in ihrer vertrauten Umgebung zu woh-
(B) 15 Jahren hat sich die Nachfragequote um nur 3 Prozent nen. Das müssen wir unterstützen. Dies ist volkswirt- (D)
erhöht. Das ist ein Zustand, mit dem wir nicht zufrieden schaftlich wichtig. Vor allem ist es aber eines: Es ist hu-
sein können und der den Handlungsbedarf klar aufzeigt. man und sozial. Außerdem ist es – auch wenn uns einige
Wir Liberale wollen das ändern. unterstellen, es sei nicht so – zutiefst liberale Politik.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP)
Im Koalitionsvertrag haben wir die Bedeutung des Damit noch mehr ältere Menschen dieses Programm
Wohneigentums gemeinsam betont. Es stärkt die regio- nutzen können, sieht der Haushalt 2010 eine neue Zu-
nale Verbundenheit und ist Altersvorsorge zugleich. schusskomponente für selbst nutzende Eigentümer vor.
Dem Wegfall der Eigenheimzulage hat die FDP nur un- Dafür nehmen wir 20 Millionen Euro in die Hand. Ich
ter der Bedingung zugestimmt, dass die Altersvorsorge werde mich aber auch dafür einsetzen, dass durch die ge-
eingebunden wird. Das Ergebnis ist das Eigenheimren- plante Reform der EU-Gleichbehandlungsrichtlinie
tengesetz. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung; keine unbilligen Härten für private Hauseigentümer ent-
aber es ist viel zu bürokratisch, unflexibel und kompli- stehen, wenn es um den barrierefreien Umbau geht.
ziert. Deshalb werden wir es vereinfachen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der CDU/CSU)
Nun komme ich zum Programm „Soziale Stadt“. Wir
Die Bevölkerung räumt dem mietfreien Wohnen im haben große regionale Unterschiede: wachsende und
Alter einen sehr hohen Stellenwert ein. 70 Prozent der schrumpfende Regionen, sozial starke und sozial schwa-
Menschen unseres Landes streben nach Wohneigentum, che Stadtteile. Das sind Tatsachen. Das Städtebauförder-
können es sich aber nicht leisten, weil am Ende des Mo- programm „Soziale Stadt“ hat zum Ziel, diese Abwärts-
nats nicht genug Netto vom Brutto übrig bleibt. Die spirale in den benachteiligten Stadtteilen aufzuhalten
Steuerbelastung ist zu hoch. Wir Liberale stehen weiter- und die Lebensqualität dauerhaft zu steigern. Das Pro-
hin zu unserem Versprechen, die Bürgerinnen und Bür- gramm muss jedoch stärker ressortübergreifend umge-
ger durch Steuersenkungen zu entlasten und ihnen so setzt werden. Das Hauptaugenmerk der FDP liegt da-
mehr Freiheit zu geben, ihr Leben zu gestalten. rauf, dass die Mittel aus diesem Programm vorrangig für
investive Maßnahmen genutzt werden.
(Beifall bei der FDP – Sören Bartol [SPD]:
Was ist mit denen, die keine Steuern zahlen, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
weil sie zu wenig verdienen?) der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2033
Petra Müller (Aachen)
(A) Das neue Förderprogramm „Kleinere Städte und Ge- liegt mir besonders am Herzen, weil ich fest daran (C)
meinden“ folgt genau diesem Ansatz. Hier zeigt die glaube, dass man diese Pläne auch auf den Bund übertra-
christlich-liberale Koalition, wie es geht. 20 Millionen gen kann.
Euro werden zur öffentlichen Daseinsvorsorge in dünn
Die energetische Gebäudesanierung führt über die
besiedelten Räumen ausgegeben. Im Mittelpunkt steht
energetische Quartierssanierung in der Konsequenz zur
dabei der innovative Ansatz, über Gemeindegrenzen
dynamisch-energetischen Stadtentwicklung. Dazu ge-
hinweg zu kooperieren, und zwar überall dort, wo die
hört, auf die infolge des demografischen Wandels verän-
städtebauliche Infrastruktur – Ärztehäuser, soziale Ein-
derten Ansprüche an den Wohnungsstandard zu reagie-
richtungen, Sportanlagen – leidet, weil die Bevölkerung
ren. Dazu gehört der Erhalt historischer Bausubstanz
ausdünnt. Mit diesem Programm werden wir die Funk-
und der Stadtstrukturen. Dazu gehört auch die Wieder-
tionstüchtigkeit der Kommunen als wirtschaftliche, so-
und Umnutzung von Brachflächen. Dazu gehört aller-
ziale und kulturelle Zentren erhalten.
dings ganz besonders eine gut vernetzte und leistungsfä-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten hige Verkehrs- und Energieinfrastruktur. Dieses
der CDU/CSU) staatliche Maßnahmenpaket hängt erheblich von der
Umsetzung auf kommunaler Ebene ab. Es muss aber
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Pro-
noch weit darüber hinausgehen. Deshalb müssen wir im
gramme Stadtumbau Ost und West sind eine Erfolgs-
Bund Innovations- und Impulsgeber sein.
geschichte. Der Schrumpfungsprozess der Städte geht
meist mit hoher Arbeitslosigkeit sowie geringen Steuer- Meine sehr verehrten Damen und Herren, abschlie-
einnahmen und geringer Kaufkraft einher. Deshalb ste- ßend möchte ich sagen: Wohnen ist nicht nur ein Grund-
hen im Mittelpunkt dieser beiden Programme bedarfs- bedürfnis des Menschen. Wohnen prägt unsere Kultur,
gerechter Umbau, Aufwertung der Quartiere und bietet Schutz, gestaltet unsere Umwelt nachhaltig. Wir
Wohnungsrückbau. Allein der Rückbau schafft aber werden die Städtebauförderprogramme und die KfW-
keine Aufwertung der Innenstädte. Das Verhältnis der Förderprogramme weiterführen, spezifizieren und flexi-
Mittel für die Aufwertung gegenüber den Mitteln für den bilisieren,
Rückbau soll in Absprache mit den Ländern zugunsten
der Aufwertung verändert werden. Das fördert die Le- (Sören Bartol [SPD]: Das habe ich befürchtet!)
bensqualität. um diesem Grundbedürfnis einen umfassenden Rahmen
Das Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ zu geben.
unterstützt den Erhalt und die Erneuerung historischer Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen und
Innenstädte. Als Architektin aus Aachen weiß ich: In je- danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
(B) der Baugrube finden wir karolingische Wasserleitungen (D)
oder römische Fundamente. In Aachen besteht auch im- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mer noch die Vermutung, es gebe irgendwo Kaiser Karls
Badewanne. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin Müller, das war Ihre erste Rede im
(Sören Bartol [SPD]: Altrömische Dekadenz!)
Deutschen Bundestag, zu der ich Ihnen herzlich gratu-
Entscheidend ist aber etwas anderes: Sanierungsmaß- liere, verbunden mit allen guten Wünschen für die wei-
nahmen vor Ort stärken den örtlichen Mittelstand und tere parlamentarische Arbeit.
das Handwerk. Das ist der wichtige Punkt.
(Beifall)
Nun noch etwas zum CO2-Gebäudesanierungspro-
Das gilt auch für die nächsten Rednerinnen. Es wäre
gramm. Es ist in dreifacher Hinsicht ein Erfolg: Klima-
schutzziele werden erreicht, Wohnen ist bezahlbar, schön, wenn wir zwischen der Gratulationscour und der
Wachstum und Arbeit werden geschaffen. Es wird weiter nächsten Jungfernrede einen – –
ausgebaut. Aber Investitionshürden müssen beseitigt (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das wird
werden. doch nicht ihre letzte Rede gewesen sein,
Wir haben erreicht, dass in diesem Jahr 400 Millionen oder? – Gegenruf des Abg. Florian Pronold
Euro zusätzlich in dieses Programm fließen. Allerdings [SPD]: Besser wäre es!)
– das möchte ich wirklich betonen –: Die Haushaltskon- – Ich behalte jetzt für mich, was mir dazu spontan ein-
solidierung wurde nicht vernachlässigt. fällt.
(Florian Pronold [SPD]: Oh! Jetzt wird es (Heiterkeit bei der LINKEN)
spannend!)
Jedenfalls ist die nächste Rednerin die Kollegin
Es geht nicht um Mehrausgaben, meine sehr geehrten Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke.
Damen und Herren.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Ingrid Remmers (DIE LINKE):
Als Abgeordnete aus Aachen habe ich meine Vorstel- Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
lungen zur dynamisch-energetischen Stadtentwick- Vorab ein kurzes Wort zum Kollegen Ramsauer: Ich bin
lung in das Landeswahlprogramm NRW eingebracht. Es nicht der Meinung, dass Wohnen ein soziales Grundbe-
2034 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Ingrid Remmers
(A) dürfnis ist. Ich bin der Meinung, Wohnen ist ein soziales Das Ziel dieser Anlageform, egal ob riskant oder si- (C)
Grundrecht. cher, besteht also in erster Linie darin, hohe Renditen zu
erwirtschaften, und darin, dass der Investor Steuern
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
spart. Für die Mieter der Wohnungen hingegen bedeutet
neten der SPD und der Abg. Daniela Wagner
es, dass wegen der Gewinnorientierung dringend benö-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
tigte Instandhaltungsmaßnahmen nicht durchgeführt
Im Bericht der Bundesregierung wird zu Recht fest- werden. Die Modernisierungen erfolgen erst nach dem
gestellt, dass regional große Unterschiede in der Qualität Auslaufen der jeweiligen Sozialklausel, aber dann mit
der Wohnraumversorgung bestehen. In Boomregionen erheblichen Mietsteigerungen in der Folge. Dies schadet
wie München, Hamburg oder Stuttgart sind die Mieten nicht nur den Mietern, sondern auch den öffentlichen
für Normalverdiener kaum noch zu bezahlen. In anderen Haushalten.
Gegenden dagegen herrscht hoher Leerstand.
(Beifall bei der LINKEN)
In meinem Bundesland, Nordrhein-Westfalen, wur-
Bei der daraus entstehenden allgemeinen Mietsteigerung
den im Sommer 2008 gegen den öffentlichen Wider-
werden die Mieter oft abgehängt. Gleichzeitig steigen
stand die 93 000 ehemals landeseigenen Wohnungen
für die öffentlichen Kassen die Kosten der Unterkunft;
der LEG an eine Heuschrecke verkauft. Der Käufer, ein
das Wohngeld muss erhöht werden. Mit dem Verkauf
Immobilienfonds der international tätigen Bank Gold-
von öffentlichem Wohneigentum berauben sich Länder
man Sachs, kaufte allerdings nur 82,7 Prozent statt
und Kommunen jeglicher Gestaltungsmöglichkeiten bei
100 Prozent der Anteile. Mit diesem Trick ersparte sich
der Stadtentwicklung, und sie berauben sich ihrer Pla-
die Bank nicht nur die Grunderwerbsteuer, sondern sie
nungshoheit im Hinblick auf die Versorgung der Bürger
vermied auf diesem Weg auch noch eventuelle Strafzah-
mit Wohnraum.
lungen bei einer möglichen Verletzung der Sozialcharta
zum Schutz der Mieter. (Beifall bei der LINKEN)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Uner- In dem Bericht wird hierzu festgestellt:
hört!)
Die neuen Investoren sind nur selektiv an stadtent-
Damit wurde NRW auf einen Schlag nicht nur um den wicklungspolitischen und quartiersbezogenen Maß-
Großteil seines Wohnbestandes, sondern gleichzeitig nahmen interessiert.
auch um größere Steuereinnahmen erleichtert.
Ich füge kurz ein: Sie profitieren immens davon, dass
Dass Goldman Sachs die kreative Buchführung be- alle anderen kräftig dafür zahlen. Weiter heißt es:
herrscht, zeigt auch das aktuelle Beispiel Griechenlands.
(B) Somit wird infolge von Transaktionen oft die lang- (D)
Erst mithilfe dieser Bank konnte die verheerende Ver-
jährige Zusammenarbeit zwischen Kommunen und
schuldung des Landes jahrelang vor den EU-Behörden
örtlichen Wohnungsunternehmen unterbrochen. Hie-
verschleiert werden. Dass sich Goldman Sachs darüber
raus ergeben sich für die Kommunen Risiken in Be-
hinaus mit der Finanzierung von US-Immobilien kräftig
zug auf Stadtentwicklung und -umbau.
verspekuliert hat, ist ebenfalls hinlänglich bekannt. Das
hindert die deutschen Regierungsbehörden aber offen- Ich finde, dies ist deutlich.
sichtlich nicht daran, weiterhin öffentliches Wohneigen-
tum an solche Spekulanten zu verkaufen. Wenn unsere Städte verhindern wollen, dass mehr be-
nachteiligte Viertel entstehen, dass die Gettoisierung zu-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Pfui!) nimmt und Stadtentwicklungskonzepte nicht mehr um-
gesetzt werden können, dann müssen sie die Kontrolle
Zu Recht wird in dem Bericht der Bundesregierung
über ihren Immobilienbestand behalten.
dazu festgestellt – ich zitiere –:
(Beifall bei der LINKEN)
Die Immobilien- und Wohnungswirtschaft gerät zu-
nehmend unter den Einfluss der internationalen Ka- Nur so kann auf ausgewogene Mieterstrukturen und so-
pitalmärkte und wird zum Gegenstand globaler An- zial notwendige Umbaumaßnahmen Einfluss genommen
lagestrategien. werden. Nur so können die Kommunen weiterhin ihrer
Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge gerecht wer-
Dies ist eine bemerkenswerte Erkenntnis, vor allem
den.
wenn man bedenkt, dass erst im Jahr 2007 die Große
Koalition die gesetzliche Grundlage für die Gründung In dem Bericht wird allerdings auch festgestellt, dass
von börsennotierten Immobilienaktiengesellschaften der Verkauf von öffentlichem Wohnungsbestand an Ge-
gelegt hat. Diese sogenannten Real Estate Investment nossenschaften, direkt an die Mieter oder auch die Über-
Trusts bieten vor allem institutionellen Anlegern Rendi- tragung von Beständen vom Land an die Kommunen
temöglichkeiten. So heißt es in dem Bericht weiter: echte Alternativen zur Privatisierung sind. Mithilfe
dieser Alternativen, hier vor allem der des öffentlichen
Deutsche Mietwohnungsbestände sind für diese
Wohnungsbestandes, kann nicht nur sichergestellt wer-
Akteure sehr attraktiv, da sie eine eigene Asset-
den, dass bezahlbarer Wohnraum bereitgestellt wird,
Klasse
sondern auch, dass die lokale Wirtschaft mit angemesse-
– also eine Wertanlage – nen Gewerbemieten rechnen kann.
mit vergleichsweise geringen Risiken darstellen. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2035
Ingrid Remmers
(A) Zusätzlich bieten sie Gestaltungsspielräume für die An- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich sage es noch (C)
passung des Wohnungsangebots an die Erfordernisse be- einmal: Wohnen ist ein soziales Grundrecht. Für das Le-
hindertengerechten Wohnens und der alternden Bevölke- ben der Bürgerinnen und Bürger ist es elementar und
rung. Sie bieten damit auch mehr Sicherheit für die von existenziell, und ich bin nicht der Meinung, dass dieses
Altersarmut bedrohten Rentnerinnen und Rentner der soziale Grundrecht durch Markt und Wettbewerb ge-
Zukunft. währleistet werden kann. Es ist mit Rendite nicht verein-
bar.
Ausdrücklich begrüßt die Linke, dass im Rahmen des
Integrierten Energie- und Klimaprogramms notwen- Vielen Dank.
dige Sanierungen im Hinblick auf Energieeffizienz und
Instandhaltung gefördert werden. Dabei ist aber darauf (Beifall bei der LINKEN)
zu achten, dass dies nicht zur Verdrängung von finanz-
schwachen Mietern führt. Auch hier ist öffentliches Ei- Präsident Dr. Norbert Lammert:
gentum oder die Form der Genossenschaft das beste Mit- Auch Ihnen, Frau Kollegin Remmers, herzlichen
tel gegen zu hohe Mieten. Glückwunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag.
Alles Gute für die weitere parlamentarische Arbeit.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall)
In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass weite
Teile des Wohnungsmarktes entspannt sind. Verschwie- Das Wort erhält nun die Kollegin Daniela Wagner für
gen wird aber, dass es großen Bedarf an preisgünstigem die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Wohnraum gibt. Dies gilt vor allem für Universitäts-
städte und Boomregionen. Familien mit niedrigem Ein- Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
kommen, Bezieher von BAföG oder Hartz IV tun sich in Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
vielen Städten schwer damit, bezahlbare Wohnungen zu Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wohnen ist
finden. Diese Wohnungsknappheit ist eine direkte parlamentarisch betrachtet nicht unbedingt ein Aufre-
Folge davon, dass die Bautätigkeit in den letzten Jahren gerthema. Für viele Menschen ist es das privat allerdings
gesunken ist. Die deutsche Bauwirtschaft, der Deutsche jeden Tag.
Mieterbund und der nordrhein-westfälische Bauminis-
ter Lutz Lienenkämper schlagen daher eine Erhöhung Die Bundesregierung geht in ihrem Bericht davon
der Abschreibungssätze für Wohnungsneubauten aus, dass es insgesamt – jedenfalls rein quantitativ be-
vor. Auch das RWI stellt in seiner Studie für Nordrhein- trachtet – genug Wohnraum gibt, man mithin also von
Westfalen fest, dass sich aus dieser Maßnahme stabile einem ausgeglichenen Wohnungsmarkt sprechen kann.
(B) positive gesamtwirtschaftliche Effekte ergeben würden. Das ist als Feststellung bezogen auf die Bundesrepublik (D)
Die Investitionen in den Neubau wirken laut der Studie insgesamt auch durchaus richtig. Das Kernproblem liegt
positiv auf das Bruttoinlandsprodukt, auf die Einkom- darin, dass der Wohnraum zu einem Gutteil nicht dort
men und auf den Konsum und schaffen neue Arbeits- ist, wo er nachgefragt wird.
plätze.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wohnwagen!)
Mit dieser so entstandenen positiven Wirkungskette
Diese Markteigenheit wird im Bericht der Bundesregie-
werden laut RWI letztlich sogar die Steuermindereinnah-
rung leider weitgehend ausgeblendet.
men mehr als ausgeglichen. Das heißt, durch die Förde-
rung der Bauwirtschaft werden die Mieten gesenkt, wird (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Konjunktur gefördert und dem Staat zu Mehreinnah-
men verholfen. Die Linke wird diesen Vorschlag prüfen. Im Bericht der Bundesregierung wird von einem ent-
spannten und stabilen Wohnungsmarkt gesprochen. Ich
(Beifall bei der LINKEN) muss sagen: Ganz so euphorisch und positiv sehe ich das
nicht. Ich sehe sogar eher das Gegenteil. So befindet sich
Allerdings weisen wir darauf hin, dass auch die steu-
der Mietwohnungsneubau mit gerade einmal 24 000
erliche Förderung unternehmerischer Neubautätigkeit
Mietwohnungen im Jahre 2008 auf einem vorläufigen
die öffentliche Hand nicht von ihrer Aufgabe der öffent-
historischen Tiefstand, und man kann mittlerweile sogar
lichen Daseinsvorsorge entbindet. Die existenziellen
mit Fug und Recht von regionalem Wohnungsnotstand
Finanzlöcher der öffentlichen Haushalte – und hier ins-
reden.
besondere die Finanznöte der Kommunen – sind nicht
zuletzt eine Folge der geplatzten US-Immobilienblase. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Durch diese Finanznöte wird allerdings der Grundstein
für immer neue spekulative Attacken auf das öffentliche Im krassen Gegensatz dazu steht der Neubau von Ei-
Eigentum gelegt, und sie führen im Endeffekt zu immer genheimen, der nahezu 80 Prozent der in 2008 gebauten
neuen Krisen. Neubauten umfasst. Uns liegen beide am Herzen: die
Mietwohnungsbewohner und -bewohnerinnen, aber
Die Bundesregierung sollte endlich aus diesen Erfah- auch die Eigenheimerinnen und Eigenheimer. Aber das
rungen lernen, das heißt: keine weitere Privatisierung öf- nur am Rande. Wir als Grüne konzentrieren uns woh-
fentlichen Eigentums. Stattdessen fordert die Linke die nungspolitisch ohnehin eher auf den Bestand und dessen
Ausweitung öffentlicher Investitionen. Sanierung und Modernisierung.
(Beifall bei der LINKEN) (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sonnenblumen!)
2036 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Daniela Wagner
(A) Bei der aktuellen Sanierungsgeschwindigkeit – wobei rung des ökologischen Bauens und Sanierens sowie die (C)
mit dem Begriff „Geschwindigkeit“ in die Irre geführt Nutzung nachwachsender Baustoffe in die KfW-Förder-
wird – wird der Gesamtbestand an Wohnungen erst in programme zu integrieren.
180 Jahren energetisch und altersgerecht saniert sein. Ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
meine, Herr Minister: Das ist eindeutig zu lang. Das
werden wir alle und viele unserer Nachfahren nicht mehr Hinzu kommen im Wohnungsbestand unabänderliche
erleben. Schwächen zum Beispiel hinsichtlich der Lage, Archi-
tektur oder Erschließung eines Wohngebiets. Sie alle
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kennen sicherlich aus Ihrer eigenen Stadt die großen
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quartiere in monotoner Bauweise, häufig in den 60er-
Sie sagten vorhin ja selber, dass 40 Prozent des Primär- oder 70er-Jahren im ersten Förderweg errichtet. Sie wer-
energiebedarfs allein auf das Wohnen entfallen. Ich den selbst dann nicht mehr zu vermieten sein, wenn
glaube, hieran müssen wir dringend etwas ändern. Wohnungsämter vermitteln. Heute sind das übrigens oft
Standorte des Bund-Länder-Programms „Soziale Stadt“.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Gerade hier weist der Bericht der Bundesregierung Män-
Definitiv fest steht auch, dass der Wohnraum über gel und Lücken auf. Denn er enthält keinerlei umfas-
weite Teile nicht den heutigen Anforderungen und Be- sende Betrachtungen zum sozialen Wohnungsbau auch
dürfnissen entspricht. Das betrifft übrigens besonders die und gerade vor dem Hintergrund einer wachsenden An-
Baualtersklassen der Jahre 1949 bis 1979. Diese machen zahl von Haushalten, die an der Armutsgrenze leben.
etwa 10 Prozent des gesamten heutigen Wohnungsbe- Das ist nicht hinnehmbar.
standes aus. Davon sind wiederum 40 Prozent definitiv
An dieser Stelle sei gesagt: Es nützt nichts, wenn man
abgängig. Dieser Teil hat erhebliche Mängel und ent-
sich mit diesen Menschen nur dahin gehend befasst, dass
spricht nicht mehr den heutigen Standards bei Grundriss,
man sie zum Schneeschippen vor den Haustüren derjeni-
Energieeffizienz und Schalldämmung.
gen reichen Berliner Hausbesitzer schicken sollte, die
In diesem Zusammenhang wird in dem Bericht leider selber keine Lust dazu haben, das morgens zu tun.
Gottes auch das sogenannte Investor-Nutzer-Dilemma
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
im Bereich energetische Sanierung nicht berücksichtigt
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
und kein Lösungsansatz aufgezeigt. Dabei wären deut-
der SPD)
lich höhere KfW-Fördermittel ein Weg, der warmmie-
tenneutralen Sanierung näherzukommen. Eine andere Allein in Darmstadt zum Beispiel stehen beim kom-
Möglichkeit wäre zum Beispiel ein ökologischer Miet- munalen Wohnungsamt 2 000 Wohnungssuchende auf
(B) spiegel, der die wärmetechnische Beschaffenheit des Ge- der Warteliste, die sozialen Wohnraum nachfragen. (D)
bäudes zum Mietpreiskriterium macht. Dieses Problem wird verschärft – auch das ist bekannt –,
weil gegenwärtig wesentlich mehr Wohnungen aus der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Mietpreis- und Belegungsbindung fallen als durch Neu-
Zur energetischen Sanierung im Altbestand selbstnut- bau und Sanierung in die Belegungsbindung hineinkom-
zender Eigenheimbesitzer bekommen diese übrigens, men.
wie die Frau Kollegin zu Recht festgestellt hat, einen
Man muss von Glück reden, dass jetzt mit dem
Zuschuss von 2 000 Euro. Das sind 500 Euro weniger
EFRE-Programm gegengesteuert wird und sich die Eu-
als die Abwrackprämie, die Sie bekommen haben, wenn
ropäische Union an Sanierung und Neubau städtischer
Sie Ihr intaktes Fahrzeug in die Schrottpresse gefahren
Quartiere beteiligen will, um so gegen Ausgrenzung an-
haben. Ich kann das kaum fassen.
zugehen. Ich hoffe, dass die Länder und Kommunen in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Bundesrepublik kräftig Gebrauch von diesem neuen
Angebot aus Brüssel machen.
Angesichts der Energieeinsparpotenziale und der Lang-
lebigkeit von Gebäuden ist das ein krasses Missverhält- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nis und wirtschaftlich absoluter Nonsens. sowie bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn die Regierungskoalition 20 Millionen Euro für
die Förderung von Stadtteilen mit besonderem Ent-
Obwohl Sie das Energieeffizienzprogramm mit
wicklungsbedarf streichen will, dann verstärkt sie auch
KfW-Fördermitteln für den Wohnungsbau als unglaub-
hier die Politik der sozialen Kälte weiter und fördert
lich wichtig bezeichnen und es über den grünen Klee lo-
massiv die sozialräumliche Segregation und Spaltung in
ben, haben Sie tatsächlich in diesem Jahr nur
der Gesellschaft. Diese Bewohnerinnen und Bewohner
1,1 Milliarden Euro für dieses Programm etatisiert. Im
müssen mitgenommen werden. Einfach nur Prachtbau-
letzten Jahr haben Sie dafür noch 2,2 Milliarden Euro
ten hinzusetzen, reicht nicht. Deswegen ist auch die
ausgegeben. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich das
Überlegung, das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“
Sanierungstempo sogar noch verringern wird.
als reines Investitionsprogramm zu gestalten, falsch. Wir
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES brauchen dort auch weiterhin Stadtteilmanagement.
90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wir als Grüne fordern, die Mittel mindestens wieder auf und bei der SPD sowie des Abg. Peter Götz
den Stand des letzten Jahres zu bringen und die Förde- [CDU/CSU])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2037
Daniela Wagner
(A) Ein bisschen zu kurz kommt in dem Bericht die Rolle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
der Wohnungswirtschaft und ihre Möglichkeiten beim neten der FDP)
Einwirken auf Gentrification, soziale Segregation und
andere Prozesse in den Wohnquartieren. Ich finde, hier der mit einem solchen Bonus nicht mehr rechnen kann.
ist die Demokratisierung von Wohnen und Wohnungs-
wirtschaft ein guter Ansatz. Es gibt immer mehr Men- Peter Götz (CDU/CSU):
schen, die selber mitgestalten und mitbestimmen wollen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
was und wie gebaut wird. Es gibt immer mehr Genos- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Bericht,
senschaftsmodelle, Baumodelle für Alt und Jung und den wir heute debattieren, unterstreicht die große ökono-
Ähnliches mehr. Es gibt landauf, landab innovative mische Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirt-
Wohnprojekte. Diese müssen wir stützen; denn die Men- schaft für die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung in
schen in diesen Projekten übernehmen nachher im unserem Land. Wir haben in Deutschland, wenn auch
Wohnquartier Verantwortung und sind deswegen in ihrer sehr differenziert, insgesamt einen intakten Immobilien-
stabilisierenden Wirkung nicht zu unterschätzen. markt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern um uns he-
rum gehen von der Wohnungs- und Immobilienwirt-
Mit diesen Menschen müssen wir zusammenarbeiten. schaft gerade in der Finanzkrise stabilisierende Einflüsse
Sie bedeuten ein Mehr an demokratischer Teilhabe und aus. Der Grund liegt in den in der Regel sehr soliden Fi-
Verantwortung im Quartier. nanzierungen von Immobilieninvestitionen. Das ist al-
Nur durch massive städtebauliche Veränderungen wer- les keine Selbstverständlichkeit. Ein Blick nach Ame-
den wir Leerstandsproblematiken und anderes mehr in rika, wo es möglich war, den Kauf eines Hauses ohne
den Griff bekommen. Eigenkapital zu bis zu 120 Prozent fremdzufinanzieren,
zeigt sehr deutlich den Unterschied der verschiedenen
Systeme.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin, gucken Sie gelegentlich auf die Uhr? Der Anteil der Immobilienwirtschaft an der gesamt-
wirtschaftlichen Bruttowertschöpfung in Deutschland
beträgt mehr als das Doppelte von Maschinen- und Fahr-
Daniela Wagner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zeugbau zusammen. Insofern ist es richtig und war es
Ja, selbstverständlich. nur konsequent, dass auf Initiative der CDU/CSU in der
(Florian Pronold [SPD]: Bei der nächsten vergangenen Legislaturperiode der erste Bericht der
(B) Rede!) Bundesregierung über die Wohnungs- und Immobilien- (D)
wirtschaft auf den Weg gebracht wurde.
– Bei der nächsten Rede gucke ich besser auf die Uhr, da
haben Sie recht, Herr Kollege. Angesichts der Tatsache, dass Immobilien mit rund
86 Prozent den herausragenden Anteil am deutschen
Ich wünsche mir jedenfalls von der Bundesregierung, Anlagevermögen ausmachen, muss eine nachhaltig po-
dass sie in Zukunft drei Dinge ganz massiv in Augen- sitive Entwicklung der Branche unser gemeinsames Inte-
schein nimmt: das Erste sind innovative Wohnprojekte, resse sein; ein Interesse, das weit über die Ressortverant-
das Zweite ist die energetische und altersgerechte Sanie- wortung der Wohnungs- und Baupolitik hinausgeht.
rung, und das Dritte ist, die Quartiere mit besonderem Neben der Wirtschaftspolitik beeinflussen Aspekte aus
Entwicklungsbedarf weiter zu fördern und sie nicht ab- den Bereichen der Finanz-, der Rechts-, der Umwelt-,
kippen zu lassen. der Sozial- sowie der Kommunal- und Stadtentwick-
lungspolitik die Immobilienmärkte.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wanderungsbewegungen quer durch Deutschland und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die demografische Entwicklung sind zusätzliche Heraus-
und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Dagmar forderungen, denen regional differenziert Rechnung ge-
Enkelmann [DIE LINKE]) tragen werden muss. Deshalb brauchen wir kein Euro-
päisches Parlament, das uns von Brüssel aus sagt, wie
Präsident Dr. Norbert Lammert: wir den sozialen Wohnungsbau in Deutschland zu ge-
Frau Kollegin Wagner, das war natürlich nicht Ihre stalten haben.
erste parlamentarische Rede, aber Ihre erste Rede im (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Deutschen Bundestag, zu der ich deswegen ganz herz- Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lich gratuliere. NEN]: Dann müsst ihr es selber machen! Das
(Beifall) sieht man aber nicht!)

Sie haben natürlich den gleichen Sympathiebonus in Ge- Wachsende Regionen mit einer steigenden Zahl von
stalt von zusätzlicher Redezeit erhalten, den wir in ver- Neuvermietungen stehen schrumpfenden Regionen, die
gleichbaren Fällen, aber nicht für eine gesamte Legisla- sich mit Wohnungsleerständen und mit den daraus resul-
turperiode, gerne gewähren. tierenden einschneidenden Auswirkungen auf die kom-
munale Infrastruktur auseinanderzusetzen haben, gegen-
Nun hat das Wort der Kollege Peter Götz, über.
2038 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Peter Götz
(A) Noch etwas zum Thema „Soziale Stadt“. Das wurde Sanierung und der altersgerechten Anpassung des Woh- (C)
hier wiederholt kritisch angesprochen. Das Programm nungsbestandes zu erhöhen, müssen wir das Mietrecht
Soziale Stadt wird auf hohem Niveau fortgesetzt. Es unvoreingenommen prüfen. Das hilft dem Klima und der
wird nicht gekürzt. Die Länder haben allerdings – dem Wirtschaft, das schafft Arbeitsplätze, senkt die Heizkos-
stimme ich zu, weil wir diese Flexibilität von den Län- ten der Mieter, hebt den Wohnungsstandard und damit
dern erwartet haben – umgeschichtet. Aber eine Um- den Wert der Immobilie, und gleichzeitig kostet es den
schichtung ist nicht mit einer Kürzung gleichzusetzen. Staatshaushalt kein Geld. Das heißt, wir brauchen part-
Das ist ein großer Unterschied. nerschaftliche Lösungen im Interesse der Vermieter und
der Mieter.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen:
Wir haben Präferenzverschiebungen der Haushalte Immobilien prägen das Bild einer Gesellschaft. Wir ha-
durch qualitative Anforderungen an die Wohnungsbe-
ben in Deutschland auch dank einer aktiven Städte-
stände wie höhere Wohnflächen, aber auch veränderte bauförderungspolitik attraktive und lebenswerte Städte
Zuschnitte der Wohnungen, vor allem im Bereich der Bar- und Gemeinden mit einer ausgeprägten, guten Baukul-
rierefreiheit von Wohnungen, die eine zunehmend wich-
tur. Um dies zu erhalten und positiv weiterzuentwickeln,
tigere Rolle spielen wird. Durch eine regionale Nachfra- bedarf es einer integrierten Stadtentwicklungspolitik.
geverschiebung entsteht trotz rückläufiger Bevölkerungs- Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass die gute Le-
und stagnierender Haushaltszahlen vielerorts – das ist un-
bensqualität in Deutschland auch weiterhin durch einen
bestritten – eine zusätzliche Wohnungsnachfrage. Das gilt hohen Wohnungsstandard gekennzeichnet ist. Die Im-
vor allen Dingen für die Ballungsräume und die Studen- mobilienwirtschaft mit über 700 000 Unternehmen und
tenstädte. Die regionale Differenziertheit ist ein Gut in
mit ihren nahezu 4 Millionen Beschäftigten leistet dazu
Deutschland; deshalb haben wir im Rahmen der Födera- einen wichtigen Beitrag. Wir nehmen dies dankbar zur
lismusreform dazu beigetragen, dass der soziale Woh- Kenntnis.
nungsbau nicht mehr in einer zentralen Stelle des Bundes
angesiedelt ist, sondern in die Zuständigkeit der Länder Vielen Dank.
übertragen worden ist. Es wäre irrsinnig, nachdem wir in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutschland den sozialen Wohnungsbau auf die Länder
übertragen haben, jetzt die Forderung zu erheben, die Eu-
ropäische Kommission solle dies in Zukunft beeinflussen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das wäre der falsche Weg. Das Wort erhält nun der Kollege Michael Groß für die
SPD-Fraktion.
(Sören Bartol [SPD]: Die Länder müssen es
(B) tun!) (Beifall bei der SPD) (D)
– Die Länder müssen es tun. Es gibt Länder, die es tun,
Michael Groß (SPD):
es gibt aber auch andere, die es nicht tun. Das ist ent-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
sprechend dem Bedarf auch richtig. – Bei Eigentümer-
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Auf die be-
haushalten steigt die Wohnflächennachfrage seit Jahren
sondere Bedeutung der Wohnungs- und Immobilienwirt-
kontinuierlich. Hinzu kommen die klimapolitischen He-
schaft ist bereits eingegangen worden. Die Generierung
rausforderungen an die Wohnungswirtschaft. Die größ-
und Sicherung von Arbeitsplätzen und das CO2-Gebäu-
ten Energieeinsparpotenziale finden wir unbestritten
desanierungsprogramm sind hervorgehoben worden.
im Gebäudebestand. Sie gilt es intelligent durch Anreize
Deswegen möchte ich auf einige andere Aspekte einge-
zu aktivieren. Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie, Herr
hen.
Minister Ramsauer, es geschafft haben, die Akteure der
Immobilienwirtschaft an einen Tisch zu holen, und dass Laut Bericht steigen gerade in den Ballungsgebieten
Sie den immobilienwirtschaftlichen Dialog persönlich die Mieten und Eigentumspreise. Im Durchschnitt blei-
führen. ben die Ausgaben für das Wohnen der größte Einzel-
posten der Konsumausgaben. Zum Vergleich: 1991
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
betrugen die Ausgaben noch circa 19 Prozent des Fami-
Eine weitere wichtige Aufgabe ist und bleibt die Stär- lieneinkommens. 2007 waren es schon 25 Prozent. Die
kung des selbstgenutzten Wohneigentums. Deshalb Wohngeldreform mit zusätzlich 520 Millionen Euro auf
wollen wir die Eigenheimrente einfacher machen. Es war Initiative der SPD war deshalb die richtige Antwort.
ein Fehler der damals sozialdemokratisch geführten Bun-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
desregierung, das selbstgenutzte Wohneigentum nicht
von Anfang an gleichwertig in die geförderte Altersvor- Hiermit konnte die Lage der finanziell schwachen Haus-
sorge einzubeziehen. halte erheblich verbessert werden. 800 000 Haushalte
profitierten davon.
Lassen Sie mich noch einen anderen Punkt anspre-
chen, von dem auch vorhin gesprochen wurde. Mit dem Auf dem Immobilienmarkt finden jedoch große struk-
Wohngeld und dem Mietrecht haben wir zwei gut entwi- turelle Veränderungen statt, wie im Bericht festgestellt
ckelte Instrumente zur Verfügung. Das befreit aber nicht wird. Zunehmende Internationalisierung und eine stär-
davon, auch diese Instrumente bei neuen Entwicklungen kere Orientierung an den internationalen Kapitalmärkten
auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Um die Investitions- stellen die Branche vor neue Herausforderungen und for-
bereitschaft der Hauseigentümer bei der energetischen dern die Bundespolitik.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2039
Michael Groß
(A) So sind die Auswirkungen für Mieter bislang wenig Je vertrauter dem Mieter sein Wohnumfeld ist, um so (C)
betrachtet worden. Welche Auswirkung hat die Orientie- schutzwürdiger ist sein Interesse, in der Wohnung zu
rung am Markt für den einzelnen Mieter? Gibt es noch verbleiben oder genügend Zeit zu haben, sich in seinem
den Gesprächspartner vor Ort? Gibt es ein Callcenter, vertrauten Umfeld eine neue Wohnung zu suchen.
bei dem man ständig in Warteschleifen gerät? Wer regelt
Sie haben mit dieser Forderung, sehr geehrte Damen
die kleinen Probleme vor Ort – die Tür, die im Winter
und Herren von der Koalition, nicht einmal mehr – so
nicht schließt, die Treppenhausbeleuchtung, die ausfällt?
meine Information – die Ministerin an Ihrer Seite, die für
Bei einer Umfrage zu Erreichbarkeit und Problemlösung
den Verbraucherschutz zuständig ist.
waren 50 Prozent der Mieter mit ihrer Situation unzu-
frieden. Die Quartiere mit sozialer Schieflage, Brennpunkte
der Stadt, werden zum Beispiel mit dem Programm „So-
Aber auch im Größeren darf es nicht nur um reine Ge- ziale Stadt“ nicht nur baulich verbessert, sondern auch
winnmaximierung gehen. Die Stadtteilentwicklung und die Menschen werden mitgenommen, werden aktiv, egal
das Quartiersmanagement sind keine Sache von interna- ob über Projekte an Schulen, bei der Integration von Zu-
tionalen Investoren. Wie werden Sie das unter einen Hut wanderern oder der Gesundheitsvorsorge. Mit diesem
bringen? Die städtischen Wohnungsgesellschaften und Programm wird nicht nur die Wohnsituation verbessert,
Genossenschaften müssen unter anderem auch deshalb sondern es gibt den Menschen dort auch die Chance, ihr
als Korrektiv erhalten bleiben. Leben selbst positiv zu gestalten und aktiv mitzuwirken.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
In Regionen mit sinkenden Bevölkerungszahlen, wie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zum Beispiel im nördlichen Ruhrgebiet und in den neuen Fragt man Praktiker und Akteure vor Ort, so hört
Ländern, ist die öffentliche Wohnraumversorgung zu man, dass der Bund in den letzten Jahren gute Pro-
verstärken. Hier bestehen Leerstände und Wohnungs- gramme gestartet hat: „Stadtumbau West“ und die „So-
überangebote. Menschen mit einem geringen Einkom- ziale Stadt“. Allerdings ist die Situation zurzeit zynisch,
men müssen Wohnungen in Anspruch nehmen, die sich insbesondere in meinem Wahlkreis. Die gesamten Pro-
in einem schlechten Umfeld befinden und nicht mehr gramme müssen durch Eigenmittel der Kommunen mit-
zeitgemäß sind. Dies führt zur Bildung von benachteilig- finanziert werden. Immer mehr Städte sind aber in einer
ten Stadtteilen. An diesen Orten wird die kulturelle und schwierigen finanziellen Situation. Das Wachstumsbe-
soziale Teilhabe von Familien und insbesondere von schleunigungsgesetz bzw. das Städtebelastungsgesetz
Kindern eingeschränkt. der Bundesregierung sorgt dafür, dass den Städten regel-
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!) recht die Luft ausgeht.
(B) (D)
Insoweit erscheint es dringend notwendig, nicht mehr (Beifall bei der SPD)
zeitgemäße Gebäudekomplexe vom Markt zu nehmen Das ist nicht genug: Sie haben weitere Steuerentlas-
und durch den Wohnbedürfnissen gerecht werdende tungen für Unternehmen angekündigt, und zwar zulasten
Neubauten zu ersetzen. der Kommunen und der Bürger. In meinem Wahlkreis
werden seit Jahren Schwimmbäder geschlossen, Bera-
Insgesamt sollte man überdenken, ob die Förderung
tungen ausgedünnt, soziale Arbeit gekürzt, weitere wich-
von demografisch bedingtem Neubau und Bestandser-
tige präventive Angebote zurückgefahren. 2011 sind die
satz nicht doch eine sinnvolle Alternative zur Sanierung
ersten Kommunen überschuldet, andere Städte im Kreis
ist. Gerade für Häuser aus den 50er- und 70er-Jahren,
Recklinghausen sind es etwas später, obwohl seit über
deren Sanierungskosten zu hoch sind, gilt es, dies zu
20 Jahren an allen Ecken gespart wird, obwohl bereits
überdenken.
seit 1993 600 000 Millionen Euro konsolidiert worden
(Beifall bei der SPD) sind.
Bestandsersatz wird bislang nicht eigenständig geför- Doch die die Bundesregierung stellenden Parteien
dert, und es wäre eine Überlegung wert, dies eventuell in FDP und Union sind nicht die Einzigen, die die Städte
die KfW-Programme aufzunehmen. ausbluten lassen. Das beste Bundesprogramm hilft
nichts, wenn die schwarz-gelbe Landesregierung seit
Die Bundesregierung strebt an, die Kündigungsfrist 2005 3 Milliarden Euro zulasten der Kommunen kürzt,
auch für den Vermieter unabhängig von der bisherigen Förderprogramme abbaut und den Städten Bundesmittel
Mietzeit auf drei Monate zu verkürzen. Die FDP schwört vorenthält.
geradezu darauf, dass die Kündigungsfristen von Ver-
mietern und Mietern vereinheitlicht werden. (Beifall bei der SPD)

Für Familien und Einzelpersonen hängen Kindergär- Das Land NRW hat sich von der Förderung der Be-
ten, Schulen, Nachbarn und Freundschaften an ihrem triebs- und Investitionskosten von Kindergärten – es
Wohnort, an ihrem Wohnumfeld. Sie haben sich an die- handelt sich um Kosten in Höhe von 87,5 Millionen
sem Ort Netzwerke zur Unterstützung geschaffen. Woh- Euro – zurückgezogen. Es hält Bundesmittel für Be-
nen ist eben mehr als nur ein Dach über dem Kopf. triebskosten der Kitas in Höhe von 17 Millionen Euro
zurück, und es verdoppelt den kommunalen Anteil an
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Krankenhausinvestitionen in Höhe von 440 Millionen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Euro. Ich könnte diese Liste weiterführen.
2040 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Michael Groß
(A) Entscheiden sich die Kommunen trotz dieser Um- Wohnungswirtschaft und Wohnungspolitik stehen vor (C)
stände für die beiden Programme des Bundes, können zwei großen Herausforderungen: Das ist zum einen die
andere sinnvolle Förderprogramme in der Jugendhilfe, Strukturanpassung, vor allen Dingen durch den demo-
in der Weiterbildung, in der Arbeitsmarktpolitik nicht grafischen Wandel. Das ist zum anderen die Energieein-
mehr in Anspruch genommen werden, ganz schlicht und sparung, damit Nebenkosten bezahlbar bleiben und Um-
ergreifend deshalb, weil man das nicht vorhandene Geld welt und Klima geschützt werden.
nur einmal ausgeben kann.
Statistisch gesehen haben wir in Deutschland einen
Wenn Banken systemrelevant sind, sind es die Kom- ausgeglichenen Wohnungsmarkt. Regional betrachtet
munen schon lange. Sie verschärfen mit Ihrer Politik die sieht das natürlich ganz anders aus. Deshalb wird das
soziale Schieflage bis zur Senkrechten. Programm Stadtumbau Ost nach den speziellen Erfor-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) dernissen der ostdeutschen Bundesländer bis 2016 fort-
geschrieben. Wir werden dieses Programm 2015 evalu-
Sie betreiben Klientelpolitik für diejenigen, die sich ei- ieren, das heißt, wir werden überprüfen, in welcher Art
nen Ministerpräsidenten mieten können. und Weise es fortzusetzen ist. Neben dem Abriss wird in
Danke schön. den nächsten Jahren vor allen Dingen die Aufwertung
der verbleibenden Innenstadtquartiere mehr an Bedeu-
(Beifall bei der SPD) tung gewinnen, als es in der Vergangenheit der Fall war.
Ich gehe auch davon aus, dass das Programm in Zukunft
Präsident Dr. Norbert Lammert: nicht mehr Stadtumbau Ost oder Stadtumbau West hei-
Auch Ihnen, Herr Kollege Groß, herzlichen Glück- ßen wird, sondern es wird nach und nach immer mehr zu
wunsch zur ersten Rede im Deutschen Bundestag. einem Strukturanpassungsprogramm umgestaltet wer-
den.
(Beifall)
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein ganzer Tagesord- Wie im Koalitionsvertrag vereinbart – auch das spielt
nungspunkt zur Hälfte von Erstrednern bestritten wird, dabei eine große Rolle –, werden wir noch in diesem
nimmt im Laufe der Legislaturperiode übrigens auf na- Jahr eine Regelung für die Altschulden finden. Es wird
türliche Weise immer mehr ab. dazu ein Gutachten geben. Wir werden überprüfen, in
welcher Art und Weise geholfen werden kann. Entschei-
(Heiterkeit) dend dabei ist natürlich, den Unternehmen zu helfen, die
Insofern sollten Sie die heutige Debatte in besonders in- ohne eigenes Verschulden in wirtschaftliche Schwierig-
(B) tensiver Erinnerung behalten. keiten geraten sind. (D)
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit zunehmender
Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion. Tendenz wird der Energieverbrauch eine wesentliche
Rolle bei der Kauf- oder Mietentscheidung spielen. Das
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
CO2-Gebäudesanierungsprogramm hat sich bewährt:
der FDP)
klimapolitisch für die Umwelt, konjunkturpolitisch für
Handwerk und Industrie und wohnungspolitisch für den
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Modernisierungsgrad des Bestandes. Deshalb werden
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der wir für Planungssicherheit im Ordnungsrecht sorgen.
Wohnungsmarkt hält international – ich denke, darin Die Realisierung der ehrgeizigen Anforderungen der
sind wir uns alle einig – jedem Vergleich stand. Alle Ak- EnEV 2009 auf breiter Basis mit vielen Beteiligten
teure, die daran beteiligt sind, verdienen dafür Dank. bringt aus meiner Sicht für den Klimaschutz mehr als
So etwas funktioniert natürlich nicht im Selbstlauf. noch höhere Standards, die niemand bezahlen kann.
Deshalb werden wir in dieser Legislaturperiode gemein-
sam mit der Bundesregierung dafür sorgen, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wohneigentum und vor allen Dingen Altersvorsorge in neten der FDP)
diesem Bereich gestärkt werden, dass altersgerechtes Augenmaß, Wirtschaftlichkeit und Technologieoffen-
und auch bezahlbares Wohnen gesichert werden, dass heit muss die Devise sein beim Fordern. Einfach und
Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Bauen gestärkt wer- verlässlich muss die Förderung sein. Dafür werden auch
den und dass auch die kleinen Städte und die Kommunen in diesem Jahr – das haben wir erreicht – zusätzlich
dabei nicht zu kurz kommen.
400 Millionen Euro im Haushalt zur Verfügung gestellt.
Die Eigentumsstrukturen auf dem deutschen Woh-
nungsmarkt haben sich bewährt. Kommunale Unterneh- Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Worte,
men, Genossenschaften und auch das weite Feld des pri- und zwar zu einem anderen Bereich, der hier eine wich-
vaten Wohneigentums werden von uns gleichberechtigt tige Rolle spielt, sagen.
gefördert. Wir sind nicht für Gleichmacherei, wohl aber
für Gleichbehandlung aller Akteure. Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das kann jetzt aber kein neuer Redeteil werden, son-
der FDP) dern zwei abschließende kurze Bemerkungen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2041

(A) Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): Weg mit Hartz IV – Für gute Arbeit und eine (C)
Nein, Herr Präsident, ein Satz. – Wir müssen mehr als sanktionsfreie, bedarfsdeckende Mindestsiche-
bisher auch die Frage der Nachhaltigkeit beim Bauen in rung
den Fokus rücken. Wir müssen stärker die Art der Her-
stellung, der Herkunft und die Wieder- und Weiterver- – Drucksache 17/659 –
wendungsmöglichkeiten von Baustoffen sowie die Bau- Überweisungsvorschlag:
technologien in unsere klimapolitischen Betrachtungen Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Innenausschuss
einbeziehen, um unsere Ziele zu erreichen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Herr Präsident, gestatten Sie mir zum Abschluss noch Ausschuss für Gesundheit
einen Satz zur Nachhaltigkeit.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch hierzu
Schauen wir uns einmal die Gründerzeithäuser in unse- höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
rer Heimat an, die zwei Kriege und Inflationen überstan- sen.
den haben, die 40 Jahre Kommunismus abgeschüttelt ha- Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kol-
ben und jetzt im neuen Glanz dastehen. lege Markus Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
(Iris Gleicke [SPD]: Das war der zweite Satz!) nen.
Vor diesem Hintergrund sage ich: Nachhaltigkeit heißt,
wenn auch in 100 Jahren über die Neubauten von heute Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
noch gut gesprochen wird. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Bun-
desverfassungsgericht hat am 9. Februar ein bemerkens-
Vielen Dank. wertes Urteil gesprochen. Es stellt in bemerkenswerter
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Klarheit die Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums in einen direkten Zusammenhang
mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes, der da lautet:
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich registriere immer wieder mit einer Mischung aus Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu
Bewunderung und Neid, zu welcher Großzügigkeit achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staat-
heute amtierende Präsidenten bei der Bemessung von lichen Gewalt.
Redezeiten in der Lage sind, während mir Ähnliches frü- Das Bundesverfassungsgericht stellt weiterhin klar, dass
(B) her mit einer geradezu brutalen Konsequenz verweigert das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwür- (D)
wurde.
digen Existenzminimums eine eigenständige Bedeutung
(Heiterkeit) hat und dem Grunde nach unverfügbar ist.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- Alle, die sich an der Debatte über die Regelsätze zum
nungspunkt. Arbeitslosengeld II beteiligen, sollten diese Leitsätze des
Bundesverfassungsgerichtes zum Ausgangspunkt ihrer
Ich schlage Ihnen vor, der interfraktionellen Empfeh- Überlegungen nehmen, wenn sie den Grundsatz der
lung zu folgen, die Vorlage auf Drucksache 16/13325 an Menschenwürde nicht verächtlich machen und das So-
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu zialstaatsprinzip nicht infrage stellen wollen.
überweisen. – Das ist offenkundig unstreitig. Dann ist
die Überweisung so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
und 4 b: Wer wie der FDP-Vizekanzler das menschenwürdige
Existenzminimum als leistungsloses Einkommen zu dis-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
kreditieren versucht, zeigt, dass er das Bundesverfas-
Kurth, Ekin Deligöz, Dr. Wolfgang Strengmann-
sungsgericht und sein Urteil weder ernst noch wirklich
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
zur Kenntnis nimmt.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bedarfsgerechte Regelsätze für Kinder und
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Erwachsene jetzt ermöglichen
– Drucksache 17/675 – Wer diejenigen, die sich seit Jahren hier im Parlament
sachlich und sehr sorgfältig mit der Bestimmung der Re-
Überweisungsvorschlag: gelsätze auseinandersetzen, der Einladung zu spätrömi-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend scher Dekadenz bezichtigt, der verunglimpft nicht nur
Haushaltsausschuss die Erwerbslosen, sondern offenbart auch ein gerüttelt
Maß an Unverständnis für demokratisch-parlamentari-
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja sche Prozesse.
Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
LINKE und bei der SPD)
2042 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Markus Kurth
(A) Wer sich wie der FDP-Generalsekretär Lindner nicht zu- nicht wahr sein, dass der Bedarf eines alleinstehenden, (C)
erst – von der Menschenwürde ausgehend – die Frage armen Rentners als Maßstab für das herhalten muss, was
stellt, ob 251 Euro monatlich einem zehnjährigen Kind arme Kinder in diesem Land als Existenzminimum ha-
zu einer menschenwürdigen Existenz verhelfen, sondern ben.
stattdessen pauschal unterstellt, arme Mütter könnten
Zweitens brauchen wir faire und gerechte Öffnungs-
vielleicht zum Zweck des Geldverdienens gebären, der
klauseln für besondere Lagen und atypische Bedarfe. Es
beweist sein völliges Desinteresse an den Lebensbedin-
gibt auch 15-Jährige, die 1,90 Meter groß sind. Ich selbst
gungen von armen Kindern in diesem Land.
habe mit Eltern gesprochen, die mir ihre Notlagen etwa
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei Übergrößen für Kleidung geschildert haben. Nun
bei der SPD und der LINKEN) machen Sie aber eine engherzige und kleinmütige Rege-
lung, mit der Sie erst einmal festlegen, was alles nicht
Mir ist es wichtig, das zu Beginn dieser Debatte zu
geht. Das kann nicht die Antwort sein. Vielmehr muss
betonen, weil ich der Auffassung bin, dass es sich um
eine gerechte Öffnungsklausel bei Beibehaltung des
mehr handelt als um einen Fehlgriff in der Wortwahl
grundsätzlichen Prinzips der Pauschalierung geschaffen
oder um eine falsche Tonlage. Hier offenbart sich ein
werden.
grundlegend gestörtes Verhältnis zu den Grundlagen
unseres Gemeinwesens und des Grundgesetzes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Drittens ist nach Auffassung von Bündnis 90/Die
bei der SPD und der LINKEN) Grünen sofortiges Handeln erforderlich. Der Paritätische
Wohlfahrtsverband hat schon vor Jahren sehr plausibel
Es tut also not, die durch die Verbalinjurien von Herrn
dargelegt, dass ein Regelsatz von 420 Euro unter Ver-
Westerwelle entglittene Debatte über das menschenwür-
zicht auf bestimmte Dinge angemessen wäre. In den
dige Existenzminimum wieder mit der Ernsthaftigkeit zu
letzten Jahren ist der ohnehin unzulängliche Regelsatz
führen, mit der auch das Bundesverfassungsgericht sein
zudem weit hinter der Preisentwicklung zurückgeblie-
Urteil gesprochen und begründet hat. Deshalb hat
ben. Aus diesem Grunde fordern wir die Anhebung des
Bündnis 90/Die Grünen die heutige Debatte beantragt
Erwachsenenregelsatzes auf zunächst 420 Euro und der
und einen Antrag vorgelegt, der den Grundsatz der Un-
Kinderregelsätze je nach Alter auf zwischen 280 und
antastbarkeit der Würde des Menschen den weiteren Er-
360 Euro im Monat.
wägungen voranstellt. Gerade weil das Grundrecht auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde (Christian Lindner [FDP]: Das kostet
nach nicht verfügbar ist, halten wir es für zwingend, dass 20 Milliarden Euro!)
der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum wohlüber-
(B) Wenn es jetzt um die Umsetzung der Anforderungen (D)
legt nutzt. An einer plausiblen Begründung und nach-
des Bundesverfassungsgerichtes geht, warne ich die
vollziehbaren Herleitung der aktuellen Regelsätze man-
Bundesregierung vor Tricksereien. Es gibt leider zahlrei-
gelt es. Ich gebe unumwunden zu, dass wir 2004 den
che Anzeichen, dass Union und FDP versuchen, die For-
Fehler gemacht haben, unsere bereits damals bestehen-
derungen des Bundesverfassungsgerichtes zu umgehen.
den Einwände nicht hartnäckig genug vertreten zu ha-
Sie sagen erstens, das Bundesverfassungsgericht habe
ben. Allerdings kann sich keine Fraktion, die in den ver-
gesagt, dass die Regelsätze nicht evident unzureichend
gangenen Jahren Regierungsverantwortung getragen hat,
seien. Es hat aber keineswegs festgestellt, dass sie zurei-
von einer Mitverantwortung freisprechen,
chend sind. Es hat Ihnen gerade einmal zehn Monate ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, geben, um die Regelsatzverordnung zu überarbeiten, und
bei der SPD und der LINKEN) es hat die Regelsätze für so unzureichend gehalten, dass
unabweisbare Bedarfe ab sofort, ab Urteilsverkündung,
da die Regelsatzverordnung nicht nur von der damali-
beantragt werden können und berücksichtigt werden
gen Bundesregierung, sondern auch vom Bundesrat ver-
müssen.
abschiedet wurde. Als damals Beteiligter kann ich mich
sehr gut erinnern, dass keine Landesregierung besondere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Anstrengungen an den Tag gelegt hat, um das Verfahren sowie bei Abgeordneten der SPD)
zu verändern.
Zweitens sagen Sie, man könne für die Kinder Sach-
Umso wichtiger sollte es nun nicht nur für meine leistungen statt Geldleistungen erbringen. Ich bin der
Fraktion sein, beim jetzt fälligen Blick nach vorn die Letzte, der infrage stellen würde – und das gilt auch für
Konsequenzen zu ziehen. Hierzu gehört erstens, die Be- meine Fraktion –, dass gute Bildungsinfrastruktur, ver-
darfsermittlung den Realitäten anzupassen. Wer glaubt, bunden mit vernünftigen Sachleistungen, eine wirkungs-
dass 15 Euro für ein Monatsticket ausreichen, der ist volle und wichtige Armutsprävention wäre. Aber man
schon lange nicht mehr mit dem öffentlichen Nahver- darf Sachleistungen nicht gegen Geldleistungen ausspie-
kehr gefahren. len. Musische Bildung ersetzt keinen Wintermantel.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
KEN) LINKEN)
Kinder dürfen bei der Bedarfsermittlung nicht mehr wie Ich fordere Sie in diesem Zusammenhang auf, bei der
kleine Erwachsene behandelt werden. Es kann doch Betonung von Sachleistungen endlich auf das Argument
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2043
Markus Kurth
(A) zu verzichten, dass die Eltern das Geld ihrer Kinder ver- und zum Ausgangspunkt nehmen. Im Grundgesetz steht (C)
saufen würden. Stellen Sie nicht die Eltern von nicht, der Niedriglohnsektor ist unantastbar; außerdem
1,8 Millionen Kindern in Hartz-IV-Bezug unter den Ge- ist der Mensch kein Nutztier. Ersparen Sie uns und vor
neralverdacht, ihre Kinder als Schnapslieferanten zu allem den Betroffenen eine Propaganda der Ungleichheit
missbrauchen! und nehmen Sie die Personen in ihrer Würde ernst!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Vielen Dank.
bei der SPD und der LINKEN – Stefan Müller
[Erlangen] [CDU/CSU]: Mit Verdächtigungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
von Eltern kennen Sie sich ja aus!) bei der SPD und der LINKEN)

Drittens zum berühmten Lohnabstand: Wer arbeitet, Präsident Dr. Norbert Lammert:
soll mehr haben als derjenige, der nicht arbeitet. Was für
Der Kollege Karl Schiewerling ist der nächste Redner
eine Banalität! Es gibt, glaube ich, niemanden in diesem
für die CDU/CSU-Fraktion.
Hause, der das nicht ebenso empfindet.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Mindestlohn!) Karl Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Bleiben Sie bei der Wahrheit! Wenn Sie öffentlich Lohn- Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsge-
abstandsrechnungen anstellen, dann unterschlagen Sie richt hat in zwei Urteilen dem Gesetzgeber Aufträge er-
regelmäßig die vorgelagerten Sozialleistungen. Sie un- teilt, die noch in diesem Jahr umzusetzen sind. Die Bot-
terschlagen das Kindergeld, das Wohngeld und den Kin- schaft in beiden Urteilen ist eindeutig: Hartz IV steht auf
derzuschlag, dem Boden der Verfassung, die Organisation muss auf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neue Füße gestellt werden, und die Bedarfssätze sind
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten stringent, transparent und nachvollziehbar zu gestalten,
der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Und menschenwürdig!)
kommen so zu niedrigen Berechnungen und hetzen und zwar so, dass das physische Existenzminimum und
Niedrigverdiener gegen die Bezieher von die Teilhabe am kulturellen Leben gesichert werden.
Arbeitslosengeld II, die nichts lieber als einen Job hät-
ten, auf. Die Urteile und die aufgewühlte Diskussion der letz-
(B) ten Tage geben Anlass, sich an die Wurzeln des in den (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Jahren 2004 und 2005 – hier gebe ich dem Kollegen
bei der SPD und der LINKEN) Kurth recht – entstandenen gemeinsamen Gesetzes von
Ich erinnere Sie gerne daran, dass das Bundesverfas- Bundestag und Bundesrat zu erinnern. Die Wurzeln wa-
sungsgericht den Vorrang des menschenwürdigen Exis- ren: Wir wollten sicherstellen, dass kein Mensch in Ar-
tenzminimums definiert hat. Es hat nicht gesagt, das mut fällt und dass wir eine Grundsicherung für diejeni-
Lohnabstandsgebot sei unantastbar; vielmehr kommt zu- gen bekommen, die langzeitarbeitslos sind, und ebenso
erst das Existenzminimum, und dann können wir uns na- für diejenigen, die von der Sozialhilfe leben. Deswegen
türlich Gedanken über Anreizsysteme für eine Arbeits- wurde beides zusammengeführt. Aber der Sicherheit,
aufnahme machen. dass niemand durch den Rost fällt, wird auf der anderen
Seite die Verantwortung gegenübergestellt, dass auch je-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: der das tut, was er kann, um seine Familie und sich wie-
Und wie hat Rot-Grün das definiert?) der mit selbsterworbenem Geld zu finanzieren und zu
tragen.
Wir halten einen Mindestlohn in Verbindung mit einer
Entlastung der Sozialversicherungsabgaben im unteren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Einkommensbereich für richtig, um bessere Anreize zu neten der FDP)
schaffen. Sie hingegen wollen die Regelleistung absen-
ken. Ich frage Sie, ob Sie nicht zur Kenntnis genommen Der Staat und wir alle haben die Verpflichtung und
haben, dass die Löhne im Niedriglohnbereich selbst die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Brücken gebaut
während der Aufschwungjahre gesunken sind. Das werden, dass dies nach und nach wieder möglich wird
Lohnabstandsgebot alter Prägung kann auch deswegen und dass Menschen wieder in Beschäftigung kommen.
nicht mehr greifen, weil die Löhne im unteren Einkom- Das ist der eigentliche Kern der gesamten Diskussion.
mensbereich sich wegen eines fehlenden Mindestlohnes Die Kernfrage lautet: Was ist zu tun, damit Menschen
von oben den Regelsätzen annähern. Wir drohen in eine wieder in Beschäftigung kommen?
Negativspirale zu geraten. Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Linken, ich kenne aus den letzten vier Jahren – so lange
bei der SPD und der LINKEN) begleite ich diese Diskussion auf parlamentarischer
Ebene – nicht einen einzigen Antrag von Ihnen, nicht
Wenn wir jetzt in die weiteren Beratungen eintreten, einen einzigen, in dem Sie deutlich machen, wie Sie
sollten wir tatsächlich die Menschenwürde zum Kern Menschen wieder in Beschäftigung bringen wollen.
2044 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Karl Schiewerling
(A) (Lachen bei der LINKEN – Beifall bei der (Zuruf von der FDP: In Berlin habt ihr (C)
CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar 200 000 abgeschafft!)
Enkelmann [DIE LINKE]: Der Witz war gut!)
Warum ignorieren Sie den hier vorliegenden Antrag?
Es gibt keinen einzigen Antrag von Ihnen, der be- (Beifall bei der LINKEN)
schreibt, wie Sie das organisieren wollen.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo Karl Schiewerling (CDU/CSU):
waren Sie denn die vier Jahre?) Frau Kollegin Kipping, ich ignoriere den Antrag
Meine Damen und Herren, es geht um dieses Urteil nicht. Ich habe auch die übrigen Anträge nicht ignoriert.
des Bundesverfassungsgerichts, um nichts mehr und um (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aha!
nichts weniger. Ich empfehle allen Beteiligten, dieses Also doch!)
Urteil tatsächlich auf dieser Grundlage zu lesen. Wenn
wir jetzt ohne Kenntnis der Einkommens- und Ver- Ich sprach davon, dass wir zu mehr sozialversicherungs-
braucherstichprobe 2008, deren Ergebnis erst im pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen auf dem ersten
Herbst 2010 vorliegen wird, anfangen, darüber zu fabu- Arbeitsmarkt kommen müssen. Da schwebt mir schlicht
lieren, ob Sätze anzuheben oder abzusenken sind, und einfach und an erster Stelle die deutsche Wirtschaft
vor und nicht der Ausbau des öffentlichen Sektors.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: 500 Euro!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dann missachten wir die Urteile des Bundesverfassungs- Auf die Frage, wie wir es erreichen können, dass
gerichts. Betriebe Beschäftigung schaffen, geben Sie keine Ant-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wort.
der FDP) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Durch Innova-
Unsere Aufgabe besteht darin, jetzt zu prüfen, wie die tionen und nicht durch Steuersenkungen! –
Zusammenhänge der Einkommens- und Verbraucher- Elke Ferner [SPD]: Existenzsichernd bezahlt!
stichprobe aussehen. Dazu sagen Sie nichts!)
Das ist mein Kritikpunkt, und bei dem bleibe ich.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Herr Kollege Schiewerling, lassen Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Kipping zu? Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
(B) auf die Dringlichkeit hingewiesen – das halte ich für ei- (D)
nen der wesentlichen Bestandteile dieses Urteils –, sich
Karl Schiewerling (CDU/CSU):
mit der Situation der Kinder und deren Bildungsbedarfe
Ja. zu beschäftigen. Das ist eine große Herausforderung für
uns alle, für den Deutschen Bundestag, für den Bundes-
Katja Kipping (DIE LINKE): rat und für das Gesetzgebungsverfahren, das jetzt auf
Herr Schiewerling, Sie haben soeben behauptet, dass den Weg gebracht wird.
Sie in den letzten Jahren keinen einzigen Antrag von uns Es ist eine große Chance; denn es gibt viele Kinder,
zur Kenntnis genommen haben, in dem wir Vorschläge deren Familien bereits in der zweiten oder dritten Gene-
unterbreitet hätten, wie man Menschen in Arbeit bringen ration von Sozialhilfe leben, deren Eltern, Großeltern
kann. und Urgroßeltern davon leben. Wenn wir ihnen nicht
(Zuruf von der CDU/CSU: Es war auch nie ei- konsequent helfen, werden sie denselben Weg gehen.
ner da!) Wir dürfen kein Kind verloren gehen lassen. Es ist un-
sere Verantwortung, ihnen Perspektiven zu schaffen,
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie, ob Sie bereit sind, weil in jedem Kind Hoffnung, Begabung und Fähigkei-
zur Kenntnis zu nehmen, dass wir sehr viele Anträge ten stecken.
eingebracht haben, zum Beispiel zum Thema öffentliche
Beschäftigung. (Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])

(Widerspruch bei der CDU/CSU) Das Bundesverfassungsgericht hat uns darauf aufmerk-
sam gemacht. Wir haben nun die Rahmenbedingungen
Aber wir wollen gar nicht in der Vergangenheit kramen zu setzen.
und an Ihr schlechtes Gedächtnis erinnern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sind Sie bereit, unseren Antrag, den wir jetzt in die-
Wir werden in der christlich-liberalen Koalition das Ur-
sem Tagesordnungspunkt behandeln und in dem wir
teil konsequent umsetzen. Wir haben mit dem ersten Teil
ganz konkrete Maßnahmen unterbreiten, wie Menschen
angefangen, dessen Umsetzung keinen Aufschub er-
in Beschäftigung kommen, wenigstens einmal durchzu-
laubt. Ich glaube, dass wir das Vorhaben gut miteinander
lesen? Wir sagen zum Beispiel, wir wollen, dass gute
gestalten werden.
Arbeit gefördert wird, und wir wollen ein öffentliches
Zukunftsprogramm, das 2 Millionen zusätzliche Arbeits- Es geht letztendlich darum, dass wir genau schauen
plätze schaffen könnte. müssen, in welchen Lebenssituationen sich die einzelnen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2045
Karl Schiewerling
(A) Menschen befinden. Wenn eine Botschaft aus diesem Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Urteil zentral ist, dann ist es die Botschaft, dass wir be- Das Wort erhält die Kollegin Anette Kramme für die
rücksichtigen müssen, in welcher Lebenssituation sich SPD-Fraktion.
die 6,5 Millionen Menschen, darunter 1,6 Millionen
Kinder, die von den Regelleistungen des SGB II leben, (Beifall bei der SPD)
befinden. So vielfältig unsere Gesellschaft ist, so vielfäl-
tig ist die Lebenssituation der Menschen, die sich in die- Anette Kramme (SPD):
sem System befinden. Deswegen müssen wir differen- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ziert antworten und differenziert helfen. Kollegen! Sie alle kennen die klassischen Vorstellungen
von der Hölle: brodelnde Kochtöpfe und einen den Drei-
Aber es bleibt dabei: Im Mittelpunkt steht die Auf- zack schwingenden Teufel. Seit Kafka wissen wir aller-
gabe, dass wir die Menschen wieder in Beschäftigung dings, dass die Hölle auch eine monströse und seelenlose
bringen müssen. Die Perspektiven dafür sind nicht Bürokratie sein kann.
schlecht. Wer die Arbeitslosenzahlen von heute mitbe-
kommen hat, weiß, dass der Einbruch auf dem Arbeits- Aktuell ist ein FDP-Außenminister oder – besser ge-
markt trotz des Winters zu unserer allergrößten Freude sagt – ein Sozial-außen-vor-Minister ein angsteinflößen-
nicht stattgefunden hat. des Sinnbild ewiger Folter.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD)


Die Folter, die er uns bereitet, besteht nicht nur im
Es ist fast ein Jobwunder in Deutschland, dass die Ar-
schrillen, hysterischen Ton, der Glas zersprengt und den
beitslosenzahl trotz des strengen Winters nur um 26 000
sozialen Zusammenhalt gleich mit.
gestiegen ist. Das ist die saisonbereinigte Zahl, und das
ist der Konjunktur geschuldet. Wir alle haben mit viel (Christian Lindner [FDP]: Geschmacklos!)
schlimmeren Zahlen gerechnet. Wir wollen miteinander
hoffen, dass dieser Trend anhält. Dafür wollen wir alles Die Folter, die er uns bereitet, besteht auch nicht nur im
tun. Duktus oder im Ton. Die Folter besteht im Inhalt des Ge-
sagten. Es geht um Daumenschrauben, die angezogen
Ich möchte einige wesentliche Stichworte aufgreifen, werden sollen. Es geht um das Öffentliche-an-den-Pran-
um darzustellen, um was es grundsätzlich geht. Wir ger-Stellen. Es geht um die Geißel, die geschwungen
brauchen eine verfassungskonforme Lösung für die Or- wird.
ganisation des SGB II. Hierbei geht es um die Frage der (Jörg van Essen [FDP]: Mein Gott!)
Verantwortung. Verantwortung – das ist das große
(B) Stichwort. Es geht in der gesamten Grundsicherungsde- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beiträge von (D)
batte um Verantwortung: um die Verantwortung des Herrn Westerwelle zeigen, dass wir uns nicht im Zustand
Staates, dass alle Menschen ein soziales und soziokultu- spätrömischer Dekadenz befinden, sondern eher im Zeit-
relles Existenzminimum haben, außerdem um die Ver- alter spätmittelalterlicher Hexenjagd. Da werden die Ar-
antwortung, dass wir den Menschen helfen und sie wie- men gegen die Armen in Stellung gebracht,
der in die Lage versetzen, mit ihrer eigenen Hände
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Um Gottes wil-
Arbeit und ihres eigenen Kopfes Arbeit ihren Lebensun-
len!)
terhalt für sich und ihre Familie zu verdienen, aber auch
um die Verantwortung jedes Einzelnen: Jeder muss das da werden Heerscharen von Schmarotzern und Betrü-
tun, was er kann und was seinen Fähigkeiten entspricht, gern herbeizitiert, die heuschreckenartig über den So-
um seinen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. zialstaat herfallen und ihn kahlfressen.
Weiterhin gilt das Prinzip des Forderns und Förderns. Meine Damen und Herren, Florida-Rolf ist die Aus-
Wir garantieren ein Existenzminimum. Wir erwarten, nahme, nicht die Regel.
dass jeder tut, was er kann, um immer weniger von staat-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
lichen Transferleistungen abhängig zu sein.
Auch die vom hessischen FDP-Justizminister jüngst für
Präsident Dr. Norbert Lammert:
seine Argumentation herangezogenen Leute, die in Talk-
shows sagen, dass sie nicht arbeiten wollen, sind die
Herr Kollege. Ausnahme. Es ist bezeichnend, wenn sich eine Partei
von RTL über die soziale Realität von Hartz-IV-Empfän-
Karl Schiewerling (CDU/CSU): gern informieren lässt. Gehen Sie doch einmal zu den
Die Organisation und die Neugestaltung des SGB II Tafeln!
haben sich an diesem Maßstab auszurichten. Das Verfas- (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Elke
sungsgerichtsurteil gibt uns die nötigen Rahmenbedin- Ferner [SPD]: Da haben die sich noch nie se-
gungen an die Hand. Es ist wichtig, dass wir im Jahr hen lassen!)
2010 die Grundsicherung für Arbeitsuchende wieder
vom Kopf auf die Füße stellen. Lassen Sie uns das ge- Gehen Sie doch einmal zu einer Schuldnerberatungs-
meinsam anpacken! stelle in Ihren Wahlkreisen! Verbringen Sie doch einmal
einen Tag in den Jobcentern! Reden Sie mit den Men-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schen statt über sie!
2046 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Anette Kramme
(A) Dann, meine Damen und Herren von der FDP, werden reicht an das Niveau in den USA heran. Wir brauchen (C)
Sie sehen, dass das Kernproblem nicht in der massenhaf- eine Bekämpfung des Missbrauchs bei der Leiharbeit.
ten Verweigerung der angebotenen Arbeitsplätze be- Leider konnte man sich in den letzten vier Jahren nicht
steht, wie es immer wieder suggeriert wird. Die Regel entscheiden, da etwas zu tun.
sind Menschen, die fast alles dafür tun würden, dem
Trott der Arbeitslosigkeit zu entkommen. Die ganz (Birgit Homburger [FDP]: Waren Sie da nicht
große Menge der Hilfeempfänger sucht nichts sehnlicher in der Regierung? Ein Fall von Amnesie!)
als gute Arbeit. Wir wollen auch, dass Menschen nicht mehr jede Tätig-
keit unabhängig von ihrer Bezahlung annehmen müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Eine Arbeit soll nach unserer Auffassung nur noch dann
der LINKEN)
zumutbar sein, wenn sie dem Tariflohn oder dem ortsüb-
Letztlich geht es doch um mehr als die reine Höhe lichen Lohn entspricht. Auf jeden Fall darf niemand ge-
von Hartz IV. Eine ernst gemeinte Debatte sollte sich da- zwungen werden, eine Tätigkeit unterhalb eines gesetzli-
rum drehen, wie man den Sozialfall vermeidet, statt da- chen Mindestlohns anzunehmen.
rum, wie man die Betroffenen möglichst intensiv malträ- (Beifall bei der SPD – Alexander Ulrich [DIE
tiert. Das IAB wird in den nächsten Wochen eine Studie LINKE]: Sie von der SPD haben immer abge-
veröffentlichen, die belegt, dass die individuelle Betreu-
lehnt! Sie sind unglaubwürdig!)
ung bei der Arbeitsvermittlung das Wichtigste ist, dass
sie dazu führt, dass Menschen wieder in Arbeit kommen. Das Parlament wird die Regelsätze neu berechnen
Arbeitslosigkeit ist für Menschen eine existenzielle Be- müssen. Wir brauchen aber auch und vor allen Dingen
drohung. Die Menschen können verlangen, dass sie gut eine Strategie, die die Ursachen der Armut und der Ar-
und umfassend beraten werden, aber auch, dass sie auf- beitslosigkeit bekämpft.
gefangen werden durch die Arbeitsverwaltung. Stattdes-
sen sperren Sie, meine Damen und Herren von Schwarz- (Beifall bei der SPD)
Gelb, Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Iris Gleicke [SPD]: Hört! Hört!) Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb
Ich sage auch: Das Einkommen der Kellnerin ist wie für die FDP-Fraktion.
das Einkommen Millionen anderer Erwerbstätiger in der (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bundesrepublik zu niedrig. Es ist zu niedrig, um eine an- der CDU/CSU)
gemessene Entlohnung für geleistete Arbeit darzustel-
(B) len, und es ist zu niedrig, um die Binnennachfrage in der (D)
Bundesrepublik zu stützen. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des kann den bisherigen Verlauf der Debatte – ich meine den
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beitrag des Kollegen Kurth, aber auch den Beitrag der
Kollegin Kramme – wirklich nur als unterirdisch be-
Ginge es dieser Kellnerin aber besser, wenn die Lohn-
zeichnen. Es ist unglaublich, was Sie hier heute Morgen
ersatzleistungen niedriger wären, wie Sie, Herr
abziehen.
Westerwelle, sich das offensichtlich vorstellen? Das Ge-
genteil ist doch der Fall: Jeder Arbeitsmarktökonom (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
weiß, dass sinkende Lohnersatzleistungen das gesamte der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Es ist un-
Tarifgefüge nach unten ziehen. Die Beschäftigten hätten glaublich, was Sie abgezogen haben!)
dann weniger Netto vom Brutto.
Mit Ihren Angriffen auf den Vizekanzler versuchen Sie,
Nun stellt man sich vielleicht die Frage, warum Herr davon abzulenken, dass Sie eine erhebliche Schuld an
Westerwelle solch einen Unsinn erzählt. Die Antwort ist dem Desaster in Karlsruhe tragen.
einfach: Indem er auf die einschlägt, die von Regelsät-
zen leben müssen, lenkt er von der banalen Tatsache ab, (Elke Ferner [SPD]: Unsinn!)
dass die Löhne und Gehälter viel zu niedrig sind. Kein Denn es ist Ihr Gesetz, das in Karlsruhe gescheitert ist.
Wunder: Wenn er sich dafür einsetzen würde, dass alle Das muss man hier sehr deutlich sagen.
Kellnerinnen einen Mindestlohn bekommen, dann gäbe
es vielleicht keine Spenden mehr von der Firma Möven- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
pick. der CDU/CSU)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Der Gedächtnisverlust – auch der Gesichtsverlust –
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE der heutigen Opposition, der in Ihren Beiträgen und auch
GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie in Ihrem Antrag, Herr Kollege Kurth, zum Ausdruck
sind ein originaler Auftritt!) kommt, ist erschreckend. Wenn Sie sagen, das geltende
Recht, das in Karlsruhe kritisiert wurde, sei engherzig
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn. Herr und kleinmütig, Herr Kurth, dann geht das doch an Ihre
Schiewerling, an diesem Punkt hören wir nichts von Ih- Adresse, und Sie können doch nicht nach dem Motto
nen. Der Umfang der Niedriglohnbeschäftigung liegt „Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken“ hier so
deutlich über dem der europäischen Nachbarländer und tun, als ob Sie frei von jeder Schuld wären.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2047
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C)
der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Markus Kurth Herr Kollege Schaaf, Ihre Frage gibt mir zuerst ein-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mal Gelegenheit, etwas klarzustellen, was Kollege Kurth
vorhin fälschlicherweise gesagt hat. Er hat den General-
Art. 1 und Art. 20 des Grundgesetzes waren auch
sekretär der FDP, Christian Lindner, mit dem Fraktions-
schon 2004 und 2005 in Kraft, Herr Kurth. Die Men-
kollegen Martin Lindner verwechselt.
schenwürde, über die Sie heute hier so ausgiebig refe-
riert haben, war damals die gleiche wie heute. (Elke Ferner [SPD]: Das ist in der Tat eine Be-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- leidigung für Martin Lindner!)
NEN]: Ja! Ja!) Ich will hier zunächst einmal ohne jeden Zweifel fest-
Nur, Sie haben damals andere Gestaltungsentscheidun- halten, Herr Kollege Schaaf: Die FDP tritt nicht für Kür-
gen getroffen. Die müssen Sie sich heute vorhalten las- zungen der Regelsätze ein.
sen. Wir lassen nicht zu, Frau Kollegin Ferner und Frau (Beifall bei der FDP)
Kollegin Kramme, dass Sie sich hier aus der Verantwor-
tung stehlen. Das steht nicht zur Debatte.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Anton Schaaf [SPD]: Ja! Ja!)
der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Das
Aber wir werben dafür, dass die Leistungen, die wir de-
tun wir auch nicht! – Markus Kurth [BÜND-
nen gewähren, die unverschuldet in Not geraten und be-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dem stellen wir uns!
dürftig sind, in dem Bewusstsein in Anspruch genom-
Keine Frage! Aber wir lernen im Gegensatz zu
men werden, dass man so schnell wie möglich wieder
Ihnen! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/
aus dem Transferbezug herauskommen muss. Das ist der
DIE GRÜNEN]: Was ist denn mit der FDP?
Kern der Debatte.
Wie sind denn Ihre Vorstellungen?)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Kollege Schaaf möchte eine Zwischenfrage stellen,
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Gutsher-
Herr Präsident.
renart ist das!)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich bin wirklich der Meinung – ich will Ihre Frage
Wenn das zu einer gewissen Beruhigung der Aufre- noch weiter beantworten, Herr Kollege Schaaf –, dass
gung führt, ist das besonders willkommen. Kollege wir dort auch sehr genau hinsehen müssen. Sie haben
mir vorgeworfen, bei der Kollegin Kramme nicht hinge-
(B) Schaaf hat jetzt Gelegenheit, eine Zwischenfrage zu stel- hört zu haben. Ich habe hingehört. Sie hat gesagt, wir (D)
len.
hätten in den letzten vier Jahren das Problem bei der
Zeitarbeit schleifen lassen und nichts getan. Wo sind wir
Anton Schaaf (SPD): eigentlich? Wer hat denn bis zum Oktober letzten Jahres
Herr Kollege Kolb, ich habe den Eindruck, Sie haben regiert? Wer hat denn bewusst die Entscheidung getrof-
die ersten beiden Reden in dieser Debatte in der Tat nicht fen, die Zeitarbeit nicht in das Arbeitnehmer-Entsende-
nachvollzogen. Hier hat sich niemand aus der Verant- gesetz aufzunehmen? Das waren doch Sie.
wortung gestohlen. Wir nehmen – im Gegensatz zu Ih-
nen – das Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehr (Beifall bei der FDP)
ernst. Wir versuchen nicht, eine Debatte aufzumachen,
Sie haben in dieser Zeit den federführenden Minister ge-
wie es Ihr Vorsitzender tut,
stellt. Olaf Scholz hatte die Verantwortung. Und Sie ha-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ben es nicht geschafft.
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Zurufe von der SPD)
der die Menschen spaltet, die in Armut leben. Das ist der
Es ist wirklich pervers, wenn Sie heute hier erklären, wir
entscheidende Unterschied.
von der FDP seien diejenigen, die daran schuld sind,
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: dass die Zeitarbeit ungeregelt geblieben ist. Es war Ihr
Frage!) Versagen. Das geht auch an anderer Stelle weiter.
Bei dem Vorschlag des Kollegen Kurth, die Sätze auf (Beifall bei der FDP)
420 Euro zu erhöhen – ich teile das nicht so uneinge-
schränkt –, hat eben Kollege Lindner dazwischenge- Wir nehmen das Urteil aus Karlsruhe sehr ernst. Der
brüllt: „Das kostet 20 Milliarden Euro!“ – Würden Sie Auftrag des Gerichtes lautet, den Bedarf eines Empfän-
mir recht geben, dass das in etwa deckungsgleich ist mit gers von Arbeitslosengeld II nicht pauschal durch pro-
den Steuersenkungsversprechungen in Höhe von 19 Mil- zentuale Berücksichtigung von verschiedenen Bedarfs-
liarden Euro für das nächste Jahr, die Sie gemacht ha- gruppen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zu
ben? ermitteln, wie Sie es getan haben, sondern Wertungsent-
scheidungen zu treffen. Das ist das Entscheidende. Wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten müssen als Gesetzgeber, nicht als Verordnungsgeber,
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Fall für Fall, Ausgabe für Ausgabe entscheiden: Das
GRÜNEN) dient der Deckung des sozialen Existenzminimums und
2048 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) der gesellschaftlichen Teilhabe und gehört daher dazu. dieren jetzt für 10 Euro – zu verdienen, Arbeitsangebote (C)
Darüber hinaus – – schaffen.
(Abg. Anton Schaaf [SPD] nimmt wieder (Anette Kramme [SPD]: Weshalb machen Sie
Platz) dann eine Jobperspektive kaputt?)

– Herr Schaaf, ich versuche, Ihre Frage zu beantworten. Ich halte es auch für richtig, dass jeder das beiträgt,
was er leisten kann, und der Staat dann auf ein Min-
desteinkommen aufstockt, das den Bedarf vollständig
Präsident Dr. Norbert Lammert: abdeckt.
Nein, Herr Kollege Kolb. Ich bin auch nicht zum ers-
(Elke Ferner [SPD]: Das ist staatlich sanktio-
ten Mal hier. In einem gewissen Verhältnis sollte die
nierte Lohndrückerei!)
Dauer der Antwort nicht nur zur Dauer der Frage, son-
dern auch zur übrigen Redezeit stehen. Das habe ich Mindestlöhne sind in dieser Situation absolut ungeeig-
jetzt durch Einfädelung in die normale Redezeit sicher- net. Die Alleinerziehende, die 15 Stunden in der Woche
gestellt. arbeiten kann, kann sich mit einem Stundenlohn von
7 oder 8 Euro nicht aus dem Transferbezug lösen.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei
Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): In gleicher Weise gilt das für den Verheirateten mit zwei
Dann will ich meine normale Redezeit gerne darauf oder drei Kindern. Er wird sich auch mit einem Stunden-
verwenden, Ihnen das noch einmal zu erklären. Wir lohn von 10 Euro nicht aus dem Transferbezug lösen
können. Dann muss die Gesellschaft zu Recht ergänzend
müssen diese Wertungsentscheidungen treffen. Was ge-
dazutreten und die Lücke auffüllen. Dies ist die Syste-
hört zum physischen Existenzminimum? Das muss so-
matik. Das hielten Sie damals für richtig. Wir halten es
wieso gewährt werden. Und was gehört darüber hinaus
heute weiterhin für richtig. So wird ein Schuh daraus.
zum gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Exis-
tenzminimum, also zur Teilhabe am gesellschaftlichen (Ulrich Kelber [SPD]: Machen Sie doch ein-
Leben? mal einen konkreten Vorschlag!)
(Elke Ferner [SPD]: Dann sagen Sie doch mal Sie dürfen sich nicht wundern, dass die Löhne auch
was dazu! Was gehört nach Ihrer Auffassung tatsächlich gesunken sind, wenn Sie an eine Volkswirt-
dazu?) schaft einen Niedriglohnsektor anflanschen. In Ihren
(B) Beiträgen wird immer der Eindruck erweckt, die Unter- (D)
Da haben Sie damals, wahrscheinlich aus Angst vor der nehmerschaft in Deutschland hätte flächendeckend
Realität, gekniffen. Sie haben es mit prozentualen Ab- nichts anderes zu tun, als die Löhne ihrer Beschäftigten
schlägen gemacht. Jetzt müssen wir das Fall für Fall ent- zu drücken. Das entspricht wirklich nicht der Realität.
scheiden. Das werden wir tun. Wir nehmen diese He- Damit wird man auch nicht den Unternehmen und Un-
rausforderung an. Es ist keine bequeme Situation, wenn ternehmern gerecht, die in der schwierigsten Wirt-
man sagen muss, dass eine bestimmte Leistung dann schaftskrise unseres Landes große Anstrengungen unter-
eben nicht mehr dazugehört. Das werden wir aber leis- nehmen, um die Beschäftigung in ihren Betrieben zu
ten. erhalten.

(Elke Ferner [SPD]: Da sind wir sehr (Beifall bei der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann
gespannt!) [DIE LINKE]: Schlecker lässt grüßen! Schle-
cker ist überall!)
Ich will zum Schluss meiner Redezeit noch auf den
Nachdem ich doch einen Teil meiner Redezeit für die
auch hier immer wieder erhobenen Einwand zu sprechen Beantwortung der Frage des Kollegen Schaaf einsetzen
kommen, Hartz IV, Niedriglöhne und Mindestlöhne ge- musste, Herr Präsident – der Präsident hat gewechselt –,
hörten zusammen; das müsse man in einem Zusammen- bin ich nun auch am Ende meiner Ausführungen ange-
hang diskutieren. Die Entscheidung, einen Niedriglohn- kommen.
sektor in Deutschland einzuführen, hat die rot-grüne
Bundesregierung seinerzeit bewusst getroffen. (Elke Ferner [SPD]: Jetzt gibt es aber nichts
mehr! – Iris Gleicke [SPD]: Jetzt kann er nicht
(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Die noch mal von vorn!)
Ihnen nicht weit genug gegangen ist! Das ist
die Wahrheit!) Ich glaube, dass uns diese Debatte noch weiter be-
schäftigen wird, und zwar aus guten Gründen; denn die
Heute wollen Sie mit dieser Entscheidung nichts vom Vizekanzler und Vorsitzenden der FDP in die Mitte
mehr zu tun haben, Frau Ferner. Trotzdem bleibt das Ihre der Gesellschaft gerückte Frage der Balance zwischen
Verantwortung. Sie wollten es damals so. Zwar war den Leistungen, die wir gewähren, und den Belastungen
Gerhard Schröder in Ihren Reihen nie sehr gelitten, am derjenigen, die diese Leistungen finanzieren, wird in die-
Ende sind Sie ihm aber gefolgt. Gerhard Schröder hat sem Hause sicherlich noch öfter zur Sprache kommen.
angesichts von 5 Millionen Arbeitslosen gesagt: Wir
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
müssen auch für diejenigen, die nicht in der Lage sind,
einen Stundenlohn von 8 oder 9 Euro – die Linken plä- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2049

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Nein!) (C)
Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst von der Frak-
der Kern des Gesetzes ist die Antwort auf die Frage: Wie
tion Die Linke.
viel Geld wird gezahlt? Wenn das Bundesverfassungsge-
(Beifall bei der LINKEN) richt feststellt, dass die Sätze falsch berechnet sind, dann
haben wir den Punkt erreicht, dass das soziokulturelle
Klaus Ernst (DIE LINKE):
Existenzminimum nicht gewährt wird.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
Herren! Das Grundproblem der Hartz-Gesetze liegt da- steht doch gar nicht im Gesetz!)
rin, dass sie von Annahmen ausgehen, die nicht haltbar
sind. Wenn Sie das Urteil genau lesen, stellen Sie fest, dass
Sie einige Dinge sofort zu ändern haben. Sie regieren
(Elke Ferner [SPD]: Ja!) nämlich gerade.
Die erste Annahme der Hartz-Gesetze war und ist, dass (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß
die Menschen nicht arbeiten wollen. Dem entspricht [Emmendingen] [CDU/CSU]: Haben Sie mal
auch die eine oder andere Einlassung des Außenminis- das Sozialgesetzbuch II gelesen? – Karl
ters, von dem man nicht mehr weiß, ob er Arbeits- und Schiewerling [CDU/CSU]: Das Gesetz ist nicht
Sozialminister werden will. Ich sage Ihnen: Alle Praxis verfassungswidrig, sondern nur ein Teil! –
zeigt, dass sich die Menschen bemühen, oft über das er- Volker Kauder [CDU/CSU]: Gut, dass Sie we-
trägliche Maß hinaus, einen Job zu finden. Sie jetzt zu nigstens das wissen!)
verunglimpfen, indem man sagt, sie wollten gar nicht ar-
beiten und man müsse sie zur Arbeit zwingen, das ist ein Sie haben jetzt die Möglichkeit, tatsächlich Korrektu-
Skandal. ren vorzunehmen; dazu haben wir einen Antrag vorge-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- legt. Stattdessen höre ich aber etwas ganz anderes. Ich
neten der SPD) höre, dass der Außenminister dieses Landes dieses Urteil
offensichtlich ignorieren will. Statt die Hausaufgaben zu
Die zweite Grundannahme der Hartz-Gesetze ist, dass machen, wird auf Arbeitslose und Niedriglöhner mehr
die Löhne zu hoch sind. Ein Ziel der Hartz-Gesetze be- oder weniger eingeprügelt, und sie werden gegeneinan-
steht deshalb darin, die Löhne zu senken; das war und ist der aufgehetzt. Herr Westerwelle, vielleicht habe ich an
der Sinn von Hartz. Das ist Ihnen leider auch gelungen; dieser Stelle in der Schule nicht gut aufgepasst,
schauen Sie sich die Lohnquote in diesem Land an. Herr
Kolb, ob die Unternehmerschaft dies bewusst oder unbe- (Jörg van Essen [FDP]: Ja! Das denke ich
(B) wusst macht, möchte ich außen vor lassen. Fakt ist, dass auch! – Pascal Kober [FDP]: Sehr gut mög- (D)
die Löhne in diesem Land, insbesondere die Nied- lich!)
riglöhne, gesunken sind, auch im Aufschwung. Das ist
aber ich sage Ihnen: Im alten Rom waren es nicht die
ein Skandal.
Sklaven, nicht die Unfreien und auch nicht die unteren
(Beifall bei der LINKEN) Schichten der Gesellschaft, die in Dekadenz gelebt ha-
ben, sondern es war die politische und wirtschaftliche
Meine Damen und Herren, alle Hartz-Parteien – da Führung.
möchte ich keine ausnehmen – haben vom Bundesver-
fassungsgericht in Karlsruhe eine Ohrfeige gekriegt, die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
man bis nach Berlin gehört hat. neten der SPD)
(Beifall bei der LINKEN) Ich habe den Eindruck, heute ist es wieder so.
Hinterher – ich habe ja gedacht, mich tritt ein Pferd – Herr Westerwelle, Leistungsverweigerer leben in
stellten sich Vertreter aller Parteien hin und sagten: Das Deutschland nicht von Hartz IV. Die Kontrolle des Kon-
Urteil ist klasse, wir begrüßen es. – Ich frage mich: Ist tostands und die Entscheidung, wie viel Geld ins Aus-
das eine Form von kollektivem Masochismus? land transferiert wird, ist keine besondere Leistung.
(Heiterkeit bei der LINKEN) (Elke Ferner [SPD]: Richtig!)
In diesem Urteil wurde Ihnen bescheinigt, dass Sie Deshalb sage ich Ihnen: Die Leistungsverweigerer in
ein verfassungswidriges Gesetz verabschiedet haben, diesem Land sind die Steuerhinterzieher und die Speku-
und dabei geht es nicht um Randnotizen. Der eine oder
lanten
andere, der sich jetzt aus der Verantwortung stehlen will,
war übrigens im Vermittlungsausschuss dabei. Fakt ist, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
dass der Kern dieses Gesetzes, nämlich die Antwort auf neten der SPD)
die Frage: „Wie viel Geld gibt es?“, verfassungswidrig
ist, nicht eine Randnotiz. Das müssen wir ändern. und nicht Leute, die im Hartz-Bezug sind.
(Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling (Elke Ferner [SPD]: Wo er recht hat, hat er
[CDU/CSU]: Das ist nicht der Kern des Geset- recht!)
zes!)
Weil ich gehört habe, dass überlegt wird, ob man in
– Doch, Zukunft Gutscheine an Hartz-IV-Bezieher ausgibt, rate
2050 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Klaus Ernst
(A) ich Ihnen, Herr Westerwelle, künftig die Boni von Ban- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
kern in Gutscheinen auszugeben. Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN CDU/CSU-Fraktion.
und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Dann würde das Geld wenigstens wieder in den Wirt- neten der FDP – Stefan Müller [Erlangen]
schaftskreislauf fließen und würde nicht verspekuliert [CDU/CSU]: Jetzt kehrt Niveau in die Debatte
werden. zurück!)

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-


neten der SPD) Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Meine Damen und Herren, statt Hartz wollen wir eine Liebe Kollegen! Ich bin gerade von meinen Fraktions-
wirklich repressionsfreie und bedarfsorientierte Grund- kollegen gebeten worden, nicht so laut zu schreien wie
sicherung. mein Vorredner. Das werde ich auch nicht tun.
Da momentan auch darüber diskutiert wird, ob Ich bin betrübt über den Gang dieser Diskussion. Die
„Hartz“ der richtige Name für diese Gesetze ist, sage ich Probleme der Betroffenen rechtfertigen, dass wir ge-
Ihnen: Ja, selbstverständlich ist „Hartz“ der richtige meinsam versuchen, uns zusammenzuraufen und das Ur-
Name. Hartz hat sich nicht an die Gesetze gehalten, und teil des Bundesverfassungsgerichts konstruktiv zu be-
die Hartz-Gesetze sind grundgesetzwidrig. Das ist doch werten.
eine schöne Parallele, oder nicht?
Was höre ich von der Opposition? Nur Polemik. Lie-
(Beifall bei der LINKEN – Karl Schiewerling
ber Kollege Ernst, Sie haben das Urteil des Bundesver-
[CDU/CSU]: Sie sind nicht grundgesetzwid-
fassungsgerichts nicht gelesen, oder Sie haben es gele-
rig!)
sen, es aber nicht verstanden. Sie proklamieren hier ein
Meine Damen und Herren, die Menschen haben ein bedingungsloses Grundeinkommen bzw. einen Mindest-
Problem, nämlich dass sie keinen Job finden. Dieses satz von 500 Euro. „500 Euro“ steht nirgendwo im Ge-
Problem nimmt angesichts der Krise noch zu. Leider setz. Sie würden mit dem, was Sie in Ihrem Antrag for-
höre ich von Ihnen keine Vorschläge, wie man das ändern dern, genau denselben Fehler machen, den das
kann. Wir wollen – das ist der erste wichtige Punkt –, dass Bundesverfassungsgericht moniert hat: dass die Sätze
ein Zukunftsprogramm für Arbeitsplätze aufgelegt wird. pauschal, ohne detaillierte Berechnung festgelegt wur-
Zweitens wollen wir, dass endlich ein Mindestlohn ein- den.
(B) geführt wird. (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
In der Welt vom 12. Februar 2010 liest man von Herrn der FDP)
Westerwelle die Aussage, zunehmend seien die, die Ar-
beit haben, die „Deppen der Nation“, weil es sich auch Lieber Kollege Ernst, es ist nicht schlimm, wenn man
ohne Arbeit gut leben lasse. Herr Westerwelle, Sie ma- Fehler macht; aber wenn man Fehler, die man als solche
chen die Arbeitnehmer zu Deppen der Nation. Ihre Par- erkannt hat, wiederholt, dann ist das bedenklich. Herr
tei ist es nämlich, die den Arbeitnehmern den Mindest- Ernst, Sie kommen aus Schweinfurt; das ist nicht weit
lohn verweigert. Das ist der eigentliche Skandal in dieser weg von Würzburg. Wir können uns gerne einmal unter-
Gesellschaft. halten; vielleicht kann ich Ihr Wissen in dieser Richtung
dann etwas mehren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Meine Damen und Herren, auch Ihre Behauptung,
dass Hartz IV von der falschen Voraussetzung ausgehe,
Wir wollen, dass das Arbeitslosengeld I länger ge-
zahlt wird. Wir wollen eine Mindestsicherung, das heißt dass die Menschen grundsätzlich nicht arbeiten wollten,
500 Euro Regelleistung plus Kosten der Unterkunft. stimmt nicht. In dem Urteil des Bundesverfassungsge-
Dann sind wir auch im Hinblick auf das Urteil des Bun- richts wurde dargestellt – ich darf mit geneigter Erlaub-
desverfassungsgerichts auf der sicheren Seite. Und wir nis des Präsidenten zitieren –:
wollen, dass das Ganze sanktionsfrei abläuft. Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuchs Zwei-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich über tes Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1
alle, die sich von dem, was sie gemacht haben, distanzie- GG auf Eigenverantwortung durch Einsatz der Er-
ren; ich freue mich, wenn sich die Einsicht weiter ver- werbsfähigkeit orientiert mit dem Ziel, dem Hilfe-
breitet. Sie haben heute die Möglichkeit, diesen Fehler bedürftigen schnell zur Sicherung seiner eigenen
ein Stück weit zu korrigieren. Wir brauchen eine Min- Existenz zu verhelfen. Ein Pauschbetrag fördere
destsicherung, die verfassungskonform ist und die den die Eigenverantwortung bei der Verwendung der
Menschen die Angst vor der Arbeitslosigkeit nimmt. Ein Sozialleistung.
Ziel der geltenden Gesetzgebung ist es nämlich, den
Das heißt, in seinem Urteil hat das Bundesverfassungs-
Menschen so viel Angst vor Arbeitslosigkeit zu machen,
gericht etwas von Hilfe zur Selbsthilfe geschrieben,
dass sie Arbeit annehmen, egal wie diese bezahlt wird.
nicht aber davon, zu alimentieren und ein bedingungs-
Das müssen wir verhindern, alle miteinander.
loses Grundeinkommen zu gewähren, ohne Eigenverant-
(Anhaltender Beifall bei der LINKEN) wortung zu fordern. Es ist doch völlig richtig: Hartz IV
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2051
Paul Lehrieder
(A) zeichnet sich aus durch Fordern und Fördern. Genau dies (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja, (C)
steht in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. nicht nur darüber!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass bisher ein Konsens über eine sanktionsfreie Min-
Frau Kollegin Kramme, Sie sind heute erst nach etli- destsicherung erzielt worden ist, dass sich der Kollege
chen Minuten zu Ihrem Lieblingsthema Mindestlohn ge- Ernst zu meinem großen Bedauern – das muss ich hinzu-
langt. Dazu hat der Kollege Kolb schon Richtungswei- fügen – aber strikt gegen die Idee eines bedingungslosen
sendes gesagt; ich möchte es nicht noch einmal Grundeinkommens ausgesprochen hat.
wiederholen. Auch bei einem Mindestlohn – egal ob (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
7,50 Euro, 8,50 Euro oder, das ist die aktuelle Höhe, die Wollt ihr ihn zum Vorsitzenden machen? –
die Linkspartei fordert, 10 Euro – wird eine teilzeitbe- Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ich
schäftigte Frau von ihrem Erwerbseinkommen nicht le- würde ihn nicht zum Vorsitzenden machen! –
ben können; das gilt auch für eine Familie mit mehreren Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr macht wieder
Kindern. Man muss eins und eins zusammenzählen; die Wahlkampf in den Reden!)
Grundrechenarten sind mit den Sozialleistungen durch-
aus vereinbar.
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
Kollege Kurth, ich kenne Sie als seriösen, ernsthaften Liebe Kollegin Kipping, das ehrt den Kollegen Ernst
Sozialpolitiker der Grünen. Umso enttäuschter war ich, sogar einmal.
dass Sie sich nach dem Motto verhalten haben: Haltet
den Dieb! Hier ist Hartz IV; wir können nichts dafür! – In Ihrem Antrag auf Drucksache 17/659 – –
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] nimmt
NEN]: Hat er doch gar nicht!) Platz)
Sie sind doch gemeinsam mit der SPD die Väter des – Bleiben Sie stehen.
Hartz-IV-Gesetzes.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Katja Kipping [DIE LINKE]: Ach, Sie ant-
Das wurde doch deutlich gesagt!) worten noch?)

Wir haben als Pate mitgewirkt. Es bedarf aber keines Va- – Ich bin noch bei der Antwort. So kurz ist meine
terschaftstestes, um zu wissen, wer die Autoren des Antwort selten, Frau Kollegin Kipping. – In Ihrem An-
Hartz-IV-Gesetzes sind. trag auf Drucksache 17/659 – im Übrigen datiert auf den
(B) 10. Februar 2010; ich habe gedacht, Sie haben ihn schon (D)
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vor dem Urteil geschrieben – schreiben Sie:
NEN]: Peinlich! Fragen Sie mal Seehofer!)
Die Regelleistung für Erwachsene im Mindestsi-
Darum wäre es gut, wenn man nicht nur sagen würde: cherungsbezug ist auf 500 Euro pro Monat festzule-
Dass für Kinder 60 Prozent des Hartz-IV-Satzes eines gen. Die Regelleistung ist jährlich zumindest in
Alleinstehenden bzw. Singles vorgesehen sind, ist ein dem Maße anzuheben, wie die Lebenshaltungskos-
Skandal. – Lassen Sie uns konstruktiv daran arbeiten, ten steigen.
dass wir richtige und gerechte Kinderbedarfssätze errei-
chen! Das habe ich gegenüber dem bedingungslosen Grund-
einkommen eben ein Stück weit nicht sauber genug ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: trennt; das gebe ich zu. Es spricht für den Kollegen
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine Zwischen- Ernst, wenn er gegen das bedingungslose Grundeinkom-
frage der Kollegin Kipping? men ist.
Wir diskutieren auch darüber – ich denke an den frü-
Paul Lehrieder (CDU/CSU): heren thüringischen Ministerpräsidenten, Herrn
Natürlich, liebe Kollegin, liebe Frau Ausschussvorsit- Althaus –, ob das der richtige Weg ist, ob wir das ma-
zende. chen können oder ob das die Entwicklung von Motiva-
tion und Antrieb von erwerbsfähigen Personen verhin-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dert. Darüber müssen wir nachdenken. Wir sind für eine
Bitte, Frau Kipping. Diskussion hier und im Ausschuss durchaus aufge-
schlossen.
Katja Kipping (DIE LINKE): Wir werden Hartz IV fortentwickeln. Hartz IV ist ein
Lieber Herr Lehrieder, Sie haben meinem Kollegen lernendes System. – Ich bin mit meiner Antwort auf Ihre
Klaus Ernst vorgeworfen, dass er sich für das bedin- Frage fertig. Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich setzen. –
gungslose Grundeinkommen ausgesprochen hat. Ich Das Bundesverfassungsgericht hat im selben Urteil aus-
als bekennende und glühende Verfechterin der wunder- geführt:
baren Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens
möchte Sie fragen, ob Sie zur Kenntnis genommen ha- Schließlich treffe den Gesetzgeber entsprechend
ben, dass in unserer Partei sehr heftig über diese Idee ge- dem Gedanken eines „lernenden Systems“ eine Be-
stritten wurde, obachtungs- und Nachbesserungspflicht.
2052 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Paul Lehrieder
(A) Genau dieser Pflicht lassen Sie uns bitte schön gemein- Sie sind stellvertretender Vorsitzender Ihrer örtlichen (C)
sam nachkommen. CSA, der Arbeitnehmerbewegung innerhalb der Union.
Das ist auch gut so.
Wir haben in dieser Woche bereits damit begonnen.
Wir werden versuchen, das Sozialversicherungsstabili- Heute Morgen habe ich eine Tickermeldung über die
sierungsgesetz möglichst zeitnah auf den Weg zu brin- KAB, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, auf den
gen. Außergewöhnliche Sonderbedarfe werden ab so- Tisch bekommen, die sich mit der Debatte um Hartz IV
fort berücksichtigt. Sehr viele von der Grundsicherung beschäftigt. Ich will Sie um Ihre Meinung dazu fragen.
betroffene Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen schon In der Tickermeldung wird die KAB zitiert, noch immer
zuhauf Anträge, weil sie der Auffassung sind, dass sie sei die FDP eine Lobbyistenpartei für Besserverdie-
einen Anspruch darauf haben. Wir müssen regeln, was nende. Herr Westerwelle habe „Stammtischgeplappere“
unter Sonderbedarfe zu verstehen ist und was nicht; eine betrieben. Wörtlich heißt es weiter:
Positivliste ist in Vorbereitung. Dies soll im Gesetzge-
bungsverfahren für das Sozialversicherungsstabilisie- Die KAB sprach von zum Teil unerträglichen Ver-
rungsgesetz in den nächsten Wochen auf den Weg unglimpfungen in der Diskussion um Bezieher von
gebracht werden, um die Forderung des Bundesverfas- Hartz IV. Sie appellierte an die Politik, diese De-
sungsgerichts möglichst zeitnah umzusetzen. batte zu beenden …

Für die anderen Themen, insbesondere für die Be- Stimmen Sie der KAB zu?
rechnung der Kinderbedarfssätze, biete ich ausdrücklich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
konstruktive Gespräche sowohl im Ausschuss als auch des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
in den Arbeitsgruppen an. Lieber Herr Kurth, das Thema
ist einfach zu ernst, als dass wir uns darüber klamaukar-
Paul Lehrieder (CDU/CSU):
tig auf die Köpfe hauen sollten. Wir sollten stattdessen
konstruktiv arbeiten, schauen, wie es weitergeht und was Lieber Kollege Schaaf, genau wie bei der SPD ist
wir an Hartz IV verbessern können. Wir sollten nicht nur auch bei der Union die Meinungsfreiheit ein hohes Gut,
so handeln wie die Linkspartei, die schreibt: Hartz IV ist das daher völlig zu Recht im Grundgesetz verankert ist.
nichts, es ist abzuschaffen. Ich kenne meine KAB in Würzburg sehr gut und bin re-
gelmäßig mit ihr im Gespräch.
Meine Damen und Herren, Hartz IV ist fortzuentwi-
ckeln; denn es ist durchaus geeignet – das wurde in den (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ja oder
letzten Jahren bewiesen –, Mitbürgerinnen und Mitbür- nein?)
ger, die früher nicht vermittelt werden konnten, wieder Ich werde der KAB weder eine Meinung vorschreiben
(B) in Arbeit zu vermitteln. noch eine Meinung der KAB hier öffentlich kritisieren. (D)
Wir wissen nicht, wie lang die Krise noch dauert. (Anette Kramme [SPD]: Das ist ja auch nicht
gefordert! Ja oder nein?)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich sage meinen Leuten, dass ich es anders sehe; das ist
Herr Kollege Lehrieder, erlauben Sie eine weitere
okay.
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Schaaf?
Lassen Sie uns die Diskussion kollegial führen, wie
Paul Lehrieder (CDU/CSU): wir es auch sonst tun. Wenn Verbände den Vizekanzler
Ja, bitte. öffentlich kritisieren, dann ist das ihr gutes Recht.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das finde
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ich auch!)
Bitte.
Auch das gehört zur Demokratie. Das hält die Demokra-
tie aus. Das hält auch Guido Westerwelle aus. Da brau-
Anton Schaaf (SPD): chen Sie keine Angst zu haben. Ich brauche ihn nicht in
Herr Kollege Lehrieder, Sie haben jetzt zum zweiten Schutz zu nehmen. Ich werde eine scharfe Rede des
Mal in Ihrer Rede gesagt, dass wir die Schärfe aus der Bundesaußenministers nicht mit der Heftigkeit abwür-
Debatte nehmen sollten. Ich gebe Ihnen ausdrücklich gen, wie Sie es versuchen. Lassen Sie ihn das sagen, was
recht, dass man das tun sollte. Man sollte das aber von er für richtig hält.
Anfang an machen. Der Bundesaußenminister und nicht
die Opposition in diesem Hause hat die Schärfe in die Lassen Sie uns auf der Ebene, auf der wir miteinander
Debatte hineingebracht. Das wollte ich einmal in aller reden, lieber Kollege Schaaf, die Schärfe herausnehmen.
Deutlichkeit sagen. (Zurufe von der SPD: Ja oder nein?)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dann haben wir für die Betroffenen etwas Gutes getan.
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
In diese Richtung soll es weitergehen.
LINKEN)
Das Wesentliche dazu ist gesagt. Es folgen noch ei-
Ich habe aber eine Frage. Ich kenne und schätze Sie
nige Redner aus unserer Fraktion, die zu dem Thema er-
als engagierten Sozialpolitiker.
gänzend sprechen werden. Lassen Sie uns die nächsten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wochen und Monate nutzen, liebe Kollegen von der Op-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2053
Paul Lehrieder
(A) position, etwas Gescheites daraus zu machen, um das et- mit den Agenturen ganz schnell eine Liste mit genehmi- (C)
was aus dem Ruder gelaufene „Kind“ SGB II bzw. gungsfähigen Sonderbedarfen für die Argen.
Hartz IV wieder auf die richtige Bahn zu bringen und für
die Betroffenen richtungsweisende, korrekte und gute (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
Entscheidungen für die nächsten Jahre zu treffen. hat sie doch gut gemacht!)
Leider ist diese Liste mit gerade mal vier Punkten ziem-
Herzlichen Dank.
lich kurz geraten. Sie wird weder den Bedürfnissen der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- betroffenen Menschen noch dem Urteil des Bundesver-
neten der FDP) fassungsgerichtes gerecht. Ein sinnvolles parlamentari-
sches Verfahren dazu gibt es nicht. Minister Rösler will
die verschreibungsfreien Arzneimittel jetzt wieder von
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
der Härtefallliste streichen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm
von der SPD-Fraktion. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
FDP, es ist ein Skandal, dass Sie eine Selbstbefassung
(Beifall bei der SPD) mit diesem so wichtigen Thema gestern im Ausschuss
für Arbeit und Soziales abgelehnt haben.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schön, der LINKEN)
dass die Regierungsbank heute nicht wieder gähnend
leer ist wie in der letzten Sitzungswoche bei diesem so Es kann doch nicht sein, dass ausschließlich vom Minis-
wichtigen Thema. Herr Minister Westerwelle hat die terium definiert und festgelegt wird, was ein Härtefall ist
Debatte um die Grundsicherung der Menschen in und was nicht. Warum, Frau Ministerin von der Leyen,
Deutschland lieber außerhalb des Plenums geführt. ziehen Sie nicht wenigstens den Sachverstand von Ex-
perten aus Wissenschaft sowie Sozial- und Wohlfahrts-
Deutschland hat keinen Vizekanzler verdient, der ar- verbänden heran? Diese können Ihnen genau sagen, was
beitslosen Menschen spätrömische Dekadenz unterstellt. alles auf die Härtefallliste gehört.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Externen Sachverstand sollten Sie sich auch bei der
der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das hat er Überarbeitung der Regelsätze einholen. Die Kollegin-
doch gar nicht!) nen und Kollegen der Fraktion von Bündnis 90/Die Grü-
Viele der langzeitarbeitslosen Menschen finden trotz nen fordern hierfür die Einsetzung einer Kommission.
(B) großer Anstrengungen keine Arbeit. Es sind vor allem Wir unterstützen das und haben diese Forderung auch in (D)
die 650 000 alleinerziehenden Frauen, die schlechte Per- unseren Antrag aufgenommen, den wir in der nächsten
spektiven auf dem Arbeitsmarkt haben. Betreuungsange- Sitzungswoche vorlegen werden.
bote für Kinder fehlen, und oft sind die Jobs nicht so (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!)
ausgerichtet, dass Beruf und Kinder miteinander verein-
bar sind. Leider werden viele wichtige Aspekte der Grund-
sicherung im Antrag der Grünen gänzlich ausgeblendet.
Die FDP will sich jetzt für eine Balance des So- Wenn man über Regelsätze spricht, muss man immer
zialstaates einsetzen, wie Fraktionschefin Birgit auch Strategien zur Vermeidung von Armut diskutieren.
Homburger erklärt hat. Diese Balance ist bei der FDP Dazu gehören gute Arbeit, faire Arbeitsbedingungen,
mächtig ins Rutschen geraten. Warum müsste FDP-Chef Mindestlohn, Bildung. Leider lesen wir dazu in Ihrem
Westerwelle sonst so lautstark Hartz-IV-Empfänger zur Antrag nichts.
Schnee- und Eisbeseitigung anfordern?
Die Kolleginnen und Kollegen der Linken sind da
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Die SPD- gründlicher. Sie haben in ihrem Antrag fast nichts ausge-
Fraktion hätte gereicht!) lassen, was sie für Bezieherinnen und Bezieher von
Grundsicherung alles verbessern wollen. Genau wie die
So viele Hartz-IV-Empfänger gibt es in Deutschland gar
Grünen wollen auch sie die Regelsätze unabhängig von
nicht, um die soziale Schieflage der FDP geradezuschip-
einer grundlegenden Neuberechnung erst einmal kräftig
pen.
erhöhen. Ob das aber in Einklang mit dem Urteil des
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Paul Bundesverfassungsgerichtes zu bringen ist, wage ich zu
Lehrieder [CDU/CSU]: Die SPD-Fraktion bezweifeln; denn gerade das Ins-Blaue-Hinein, das Pi-
hätte zum Schneeschippen ausgereicht!) mal-Daumen-Prinzip ist es doch, was von den obersten
Richtern bemängelt wurde.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Bundesregie-
rung verdonnert, sehr schnell, nämlich bis zum 31. De- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Völlig richtig!)
zember dieses Jahres, verfassungsfeste Regelsätze für Natürlich müssen die Regelsätze angehoben werden, be-
die Grundsicherung auf die Beine zu stellen. Darum geht sonders die für Kinder, aber auf verfassungsfester
es heute, Herr Kolb. Außergewöhnliche Sonderbe- Grundlage.
darfe sollen langzeitarbeitslose Menschen und deren
Kinder sofort erhalten, urteilte das Bundesverfassungs- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
gericht. Was macht die Bundesregierung? Sie verfasst Richtig!)
2054 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Gabriele Hiller-Ohm
(A) Auch die Grundsicherung für Asylbewerberinnen len möchte, erst einmal erwirtschaften muss. Dabei (C)
und Asylbewerber muss reformiert werden, und zwar bleibe ich auch.
dringend. Diese Menschen erhalten weniger als zwei
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Drittel des Sozialhilfeniveaus. Seit 1993, also seit
17 Jahren, wurden die Leistungen nicht angehoben. Ich bleibe auch dabei: Wenn man nach einem solchen
Selbst eine geringe Anhebung, die die rot-grüne Bundes- Urteil nur noch über die Verteilungsgerechtigkeit spricht
regierung 2001 umsetzen wollte, ist am Widerstand der und nicht mehr über die Leistungsgerechtigkeit, dann
schwarz-gelb regierten Bundesländer gescheitert. Im macht man einen Fehler in der Debatte.
Zuge der Reform der Regelsatzbemessung muss auch
das Asylbewerberleistungsgesetz angepackt werden. Ich (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mindestlohn
hoffe, mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im einführen!)
Rücken kommen wir auch hier endlich ein Stück voran. Leistung muss sich lohnen, und wer arbeitet, muss mehr
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten als derjenige haben, der nicht arbeitet. Das werde ich
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heute sagen und auch morgen noch.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zweitens. Auf die Frage, was praktisch in der Politik
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Guido folgt, antworte ich:
Westerwelle.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dann müssen
(Beifall bei der FDP) Sie den Mindestlohn einführen! Spalter!)

Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wir haben in der Koalition längst etwas vereinbart, was
in der alten Koalition aufgrund des anhaltenden Wider-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
stands der Sozialdemokratie nicht möglich gewesen ist,
ren! Kolleginnen und Kollegen!
nämlich dass beispielsweise die Hinzuverdienstmög-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lichkeiten ausgebaut werden, damit es Brücken zurück
NEN]: Ist die Koalition denn schon zu Ende, in die Arbeitswelt geben kann.
dass Sie als Abgeordneter reden? – Christian
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Kombilohn-
Lange [Backnang] [SPD]: Sind Sie schon als
modell!)
Vizekanzler zurückgetreten? – Renate Künast
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rücktritt! Wir haben im Sinne der Leistungsgerechtigkeit in dieser
(B) Neuwahlen!) Koalition auch vereinbart und auf den Weg gebracht, (D)
dass das Schonvermögen für Hartz-IV-Empfänger, das
Ich möchte mit ein paar kurzen Bemerkungen etwas zur
von Ihnen auf 250 Euro pro Lebensjahr festgesetzt wor-
Debatte beitragen, da ich mehrfach angesprochen wor-
den ist, verdreifacht wird,
den bin.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Erstens. Als das Bundesverfassungsgericht entschie-
den hat, habe ich mitnichten das Bundesverfassungsge- weil wir der Überzeugung sind, dass zur Leistungsge-
richt und seine Entscheidung und vor allen Dingen auch rechtigkeit auch zählt, dass derjenige, der ein Leben lang
nicht diejenigen kritisiert, die ein schweres Schicksal ha- vorgesorgt hat und dann einen Schicksalsschlag erleidet,
ben. nicht alles abgeben muss.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Als was reden Sie eigentlich?) NEN]: Was gilt denn jetzt?)
Was ich kritisiert habe, sind die Debattenbeiträge, die am So viel soziale Sensibilität haben Sie in den gesamten elf
Tag nach der Entscheidung des Bundesverfassungsge- Jahren nicht gezeigt wie wir in den ersten Monaten unse-
richts erfolgt sind. rer neuen Regierung.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang]
Die Tinte unter der Urteilsverkündung war noch nicht
[SPD]: Da lacht ja ganz Deutschland!)
getrocknet, da haben Sie aus den Oppositionsfraktionen
erklärt, Drittens. Die Arbeitsministerin Frau von der Leyen
hat die volle Unterstützung der Koalition;
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Da haben
Sie zur Spaltung aufgerufen!) (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie
auch?)
jetzt habe sich das Thema der Entlastung der Bezieher
kleinerer und mittlerer Einkommen erledigt. denn genau das, was ich hier gesagt habe, steht auch im
Koalitionsvertrag. Wir fordern Sie auf, der Erhöhung des
(Elke Ferner [SPD]: Ach so! Es geht um die
Schonvermögens zuzustimmen; denn eines wollen wir,
Steuerreform!)
um der geschichtlichen Wahrheit die Ehre zu geben, un-
Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass das aus unse- terstreichen: Diese Gesetze wurden von der SPD und
rer Sicht ein Fehler ist, weil man alles, was man vertei- den Grünen verabschiedet. Sie haben verfassungswid-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2055
Dr. Guido Westerwelle
(A) rige Gesetze beschlossen. Wir haben heute mit den Pro- ern! 4,50 Euro sind steuerfrei! Die zahlen (C)
blemen fertigzuwerden, die Sie uns hinterlassen haben. keine Steuern, Herr Westerwelle!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) – Herr Kollege, Sie haben mir eine Frage gestellt. Bevor
Sie eine Attacke bekommen und umfallen,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ne,
Herr Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine Zwi- der ist robust!)
schenfrage des Kollegen Ernst?
hören Sie doch einen Augenblick zu! – Wir in der Koali-
tion haben deshalb vereinbart, dass die Familien gleich
Dr. Guido Westerwelle (FDP): am Anfang entlastet werden. Wir haben die Kinderfrei-
Bitte sehr, Herr Kollege. beträge erhöht, und wir haben das Kindergeld erhöht.
Das ist ein wichtiger Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: von dieser Koalition beschlossen.
Bitte schön, Herr Ernst. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke
Ferner [SPD]: Davon profitieren doch die obe-
Klaus Ernst (DIE LINKE): ren Einkommen! – Renate Künast [BÜND-
Herr Abgeordneter Westerwelle, – NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mövenpick-Partei!)
Zweitens. Was die Frage der Mindestlöhne angeht:
Dr. Guido Westerwelle (FDP): Herr Kollege, die Koalition hat bereits im Dezember
Herr Kollege Ernst. vereinbart, dass branchenspezifische Mindestlöhne,
wenn sie einvernehmlich im Tarifausschuss beantragt
Klaus Ernst (DIE LINKE): werden,
– Ihren Gedanken, dass sich Leistung lohnen muss, (Zuruf von der LINKEN: Hungerlöhne!)
teilen wir vollkommen. Sind Sie der Auffassung, dass selbstverständlich genehmigt und eingeführt werden
sich die Leistung einer Floristin in Sachsen-Anhalt, die können. Wogegen wir uns wehren, ist, dass wir für die
für eine Vollzeitbeschäftigung 4,50 Euro in der Stunde gesamte Republik einen einheitlichen Mindestlohn fest-
bekommt und von diesem Lohn leben soll, lohnt? Sind setzen, unter Verkennung der völlig unterschiedlichen
Sie der Auffassung, dass sich die Leistung der Men- Lebensverhältnisse. Es geht nicht um die Frage, ob es in
schen, die zum Beispiel im Kraftfahrzeughandwerk in bestimmten Branchen einen Mindestlohn geben kann;
(B) Schleswig-Holstein arbeiten, wo in der untersten Lohn- das haben wir längst in der Koalition vereinbart. Es geht (D)
gruppe um die 7 Euro verdient werden, lohnt? Sind Sie um Folgendes: Es ist ein Fehler, die Arbeitslosigkeit, ge-
mit mir der Auffassung, dass wir, wenn sich die Leistung rade die Jugendarbeitslosigkeit, hochzutreiben,
der Menschen lohnen soll, durch einen gesetzlichen
Mindestlohn Vorsorge dafür treffen müssen, dass sich (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die Leistung nicht mehr nur für die Couponschneider NEN]: Dann treiben Sie doch mal die Jobs
lohnt, sondern auch für diejenigen, die richtige Arbeit hoch, anstatt sich als MdB zu verstecken! Sie
leisten? sind doch Vizekanzler! Tun Sie doch mal was
für die Jobs!)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L.
Kolb [FDP]: Wie ist das mit der Tarifautono- indem man für ganz Deutschland einen flächendecken-
mie, Herr Ernst?) den Mindestlohn festsetzt. Eine Steuer- und Abga-
bensenkung ist aus unserer Sicht der richtige Weg.
Dr. Guido Westerwelle (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wenn Sie, Herr Kollege Ernst, das, was ich zu diesem der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Die
Thema gesagt und geschrieben habe, in vollem Umfange Frage ist nicht beantwortet!)
wahrgenommen hätten, und nicht nur das gehört hätten,
was Sie hören wollten, um daraus einen parteipolitischen Schließlich geht es natürlich um die Frage, was da-
Vorteil zu ziehen, dann hätten Sie drei Punkte meinen raus für die Steuerpolitik folgt.
Veröffentlichungen entnehmen können. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Bei der CDU kriegen schon alle Kopf-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schmerzen!)
NEN]: Was machen Sie denn da? Als Außen-
minister eine Abgeordnetenrede zu halten, ist Es geht um den Mittelstandsbauch. Aus unserer Sicht ist
doch peinlich! Kurz vor dem Ende!) es absolut notwendig, dass wir die Aufnahme von Arbeit
erleichtern, indem vor allen Dingen die Bezieher kleiner
Erstens. Die OECD hat uns gerade vor wenigen Ta-
und mittlerer Einkommen bei Steuern und Abgaben ent-
gen bescheinigt, dass sich in Deutschland die Aufnahme
lastet werden.
von Arbeit oft genug deshalb nicht lohnt, weil der
Steuer- und Abgabenstaat zu früh und zu kräftig zulangt. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP – Klaus Ernst [DIE Wer das vergisst, der sorgt dafür, dass in Deutschland die
LINKE]: Bei 4,50 Euro zahlen die keine Steu- Leistungsungerechtigkeit wächst. Wenn sich Leistungs-
2056 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Guido Westerwelle


(A) ungerechtigkeit in Deutschland breitmacht, dann werden senkung diese Leute gar nicht erreichen kann? Wer ziel- (C)
wir das Fundament unseres Sozialstaates verlieren. Wer genau helfen will, müsste doch ein Progressivmodell in
Leistungsgerechtigkeit vergisst, wird als Erstes die so- der Form einführen, dass die Sozialabgaben im unteren
ziale Gerechtigkeit verlieren. Einkommensbereich niedriger sind und erst ab einer be-
stimmten Größenordnung, vielleicht bei einem Einkom-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men von 2 000 Euro, die 40 Prozent erreichen, die wir
Frau Kollegin Kramme und andere, Sie haben hier be- heute haben.
merkenswerte Beispiele erwähnt. Von Folter und Hexen-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
jagd war die Rede. Ich lese, das sei ein Ausflug in eine
sowie bei Abgeordneten der SPD)
rechte Politik. Ich möchte Ihnen als ein Liberaler
(Lachen bei der SPD – Christian Lange [Back- Dr. Guido Westerwelle (FDP):
nang] [SPD]: Da haben Sie schon verloren!
Ich glaube, Herr Kollege, dass Sie einen wichtigen
Das ist vorbei!)
Punkt ansprechen. Deswegen habe ich hier übrigens im-
in aller Offenheit und mit aller Klarheit zurückgeben: mer von der Senkung der Steuern und der Abgaben ge-
Wenn man in Deutschland Leistungsgerechtigkeit als sprochen.
rechtsradikal ansieht, dann zeigt das nur, welch linkes
(Beifall bei der FDP)
Gedankengut man mittlerweile im Kopf hat.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Beides ist Teil unserer Koalitionsvereinbarung. Beides
der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Sie wollen wir als christlich-liberale Koalition durchsetzen.
nehmen sich zu wichtig!) Aber leider ist es nicht so, dass das Thema Steuern nicht
mehr zu besprechen wäre. Wir haben beispielsweise bei
den Kinderfreibeträgen etwas geschafft, was aus unserer
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sicht gerade für diejenigen wichtig ist, die Familien ge-
Herr Kollege Westerwelle, erlauben Sie eine weitere gründet haben und dies oft genug als Armutsrisiko erle-
Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Fritz Kuhn? ben mussten.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Guido Westerwelle (FDP):
NEN]: Das hilft doch nur den Gutverdienern! –
Bitte sehr. Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie haben ein-
fach keine Ahnung! – Weitere Zurufe von der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: SPD)
(B) Herr Kuhn, bitte schön. (D)
– Warten Sie doch bitte einen Augenblick! – Es ist aus
unserer Sicht nicht akzeptabel, dass nach unserem deut-
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schen Steuerrecht für Kinder ein niedrigerer Freibetrag
Herr Westerwelle, ich möchte auf den Punkt „Arbeit als für Erwachsene gilt. Wir wollen, dass Kinder endlich
soll sich lohnen“ und darauf, ob Arbeitslose Arbeit auf- gleich und fair behandelt werden, dass sie wie Erwach-
nehmen wollen oder nicht, zurückkommen. In Ihrer sene behandelt werden. Das ist ein wichtiger Punkt.
Rede haben Sie zweimal, auch im Zusammenhang mit
dem sogenannten Mittelstandsbauch, gesagt: Steuern (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
und Abgaben müssen gesenkt werden, damit dies leich- der CDU/CSU)
ter fällt.
Sie haben recht bezüglich der Abgaben. Eine Ände-
Meine Frage an Sie ist: Ist Ihnen eigentlich klar, dass rung ist Teil der Koalitionsvereinbarung und selbstver-
im Niedriglohnbereich, in dem Millionen von Leuten ständlich auch unseres Regierungsprogramms. In diesem
bereits arbeiten oder Arbeit aufnehmen könnten, die Punkt stimmen wir sogar ausdrücklich überein. Was die
Senkung der Steuern überhaupt keine Rolle spielt? Analyse dessen, was zu tun ist, angeht, werden wir noch
reden müssen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN) Herr Kollege Kuhn, Sie haben in dieser Debatte als
ein wichtiger Vertreter der Grünen gesprochen. Erlauben
Ein Ehepaar, das 1 800 Euro brutto verdient, zahlt keine Sie mir daher folgende Bemerkung: Was mir nicht ge-
Steuern, sondern Sozialabgaben. fällt – auch Sie haben diese Debatte beantragt –,
(Christian Lindner [FDP]: Er hat doch von
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Steuern und Abgaben gesprochen! Was wollen
NEN]: Das war gestern!)
Sie denn? – Weitere Zurufe von der FDP)
– So etwas kann man doch ruhig klären. Die FDP sollte ist, wie schnell Sie vergessen haben, was Sie damals in
vielleicht einmal etwas für ihre Gemütsverfassung tun. einer Sozialstaatsdebatte selbst gesagt haben. Ich zitiere
einmal, was Frau Künast am 21. August 2004 gesagt hat,
Meine Frage lautet, Herr Westerwelle: Wäre es nicht als die Gesetze beschlossen worden sind, die jetzt in
klüger – wenn es Ihnen ein ernstes Ansinnen ist –, uns Karlsruhe kassiert wurden: Mit 1- oder 2-Euro-Jobs
daranzumachen, im Niedriglohnbereich die Lohnzusatz- könnten Arbeitslose Grünflächen pflegen oder ältere
kosten, also die Abgaben, zu senken, weil eine Steuer- Menschen betreuen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2057
Dr. Guido Westerwelle
(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bände, nicht, indem das finanzielle Volumen gleich (C)
NEN]: Das ist doch nicht das Gleiche!) bleibt. Das Ganze wird teurer werden, es sei denn, man
rechnet sich die Welt wieder schön.
Das sagte Renate Künast. Was nehmen Sie sich heraus,
dass Sie mir meine Kritik vorwerfen, liebe Frau Kolle- Ihre größte Sorge, Herr Westerwelle, ist, dass das
gin? Geld, das für Ihre Steuerreform ohnehin nicht zur Verfü-
gung steht – über 20 Milliarden Euro –, dann erst recht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht mehr da ist. Allein das zeigt schon, wes Geistes
der CDU/CSU) Kind Sie sind. Sie machen eben doch Politik für die
Zum Schluss möchte ich auf folgenden Punkt einge- Oberen, für die Gut- und für die Bestverdienenden, und
hen: Ich hoffe, dass wir diese Debatte erweitern, und nicht für die Menschen, die in der Existenzsicherung
zwar um den wichtigsten Punkt der Sozialpolitik über- hängen, die gerne arbeiten würden, aber aus verschiede-
haupt, um die Bildungspolitik. Die damit verbundene nen Gründen nicht arbeiten können, unter anderem des-
Entwicklung muss als soziale Herausforderung ernst ge- halb, weil die Wirtschaft nicht genug Arbeitsplätze zur
nommen werden. Hier in Berlin – da regieren SPD und Verfügung stellt.
Linkspartei – ist man wieder so weit, dass Gymnasiums- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
plätze nicht mehr nach Begabung vergeben, sondern im der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Mangelfalle sogar verlost werden – „Lotterieglück für GRÜNEN)
Aufstiegschancen“. Wir haben uns da etwas anderes vor-
gestellt. Sie haben eben den Kinderfreibetrag hervorgeho-
ben. Der Kinderfreibetrag wirkt erst ab einem Einkom-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men von über 60 000 Euro. So hoch ist aber noch nicht
Deswegen muss diese Debatte geführt werden. einmal das Durchschnittseinkommen in dieser Republik.
Endlich ist das erreicht worden, was erreicht werden (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
sollte. In den Mittelpunkt unserer Politik gehören nicht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einige Millionäre. Alle, die weniger verdienen, bekommen für ihre Kinder
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie ma- weniger Geld vom Staat. Es ist nicht die Frage, ob ich
chen Politik für Millionäre, für sonst nieman- für Kinder den gleichen Freibetrag habe wie für Erwach-
den! – Weitere Zurufe von der SPD, der LIN- sene, sondern es ist die Frage, ob dem Staat jedes Kind
KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gleich viel wert ist, und zwar unabhängig davon, wel-
ches Einkommen seine Eltern haben.
(B) In den Mittelpunkt unserer Politik gehören vor allen (D)
Dingen der Mittelstand und die Mittelschicht. Sie tragen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
das Land; sie ziehen den Karren. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP) Sie haben zum Schluss Ihrer Rede gesagt, wir müss-
ten mehr in Bildung investieren. Ja, das ist richtig; das
Das ist es, worauf die Bürger einen Anspruch haben: ist völlig richtig. Aber wenn Sie mehr in Bildung inves-
dass Leistung sich lohnt. Diese Bürger erwirtschaften tieren wollen, dann dürfen Sie den Ländern und den
nämlich, was Sie verteilen wollen, und deren Last darf Kommunen nicht die finanziellen Mittel dafür mit einer
nicht immer schwerer gemacht werden. Steuerreform, mit Geschenken an Hotelketten und ande-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ren Dingen entziehen. So ist mehr Bildung nicht finan-
der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] zierbar.
[SPD]: Für Millionäre! Sie machen nichts an- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
deres! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Volksverhetzer!)
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen:
Leistung muss sich lohnen. Wer wollte dem widerspre-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen? Aber das, was Sie als FDP, und das, was Sie als
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der schwarz-gelbe Koalition vorhaben, nämlich die Auswei-
Kollegin Elke Ferner von der SPD-Fraktion. tung des Kombilohns ohne gleichzeitige Einführung ei-
nes Mindestlohns, ist staatlich subventionierte Lohndrü-
Elke Ferner (SPD): ckerei.
Herr Kollege Westerwelle, Sie haben Ihren Redebei-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
trag damit begonnen, darauf hinzuweisen, dass es Sie ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
stört hat, dass diejenigen, die in der letzten Sitzungswo-
che hier gesprochen haben – sie waren teilweise bei der Sie bringen die Betriebe in Wettbewerbsschwierigkeiten,
Urteilsverkündung in Karlsruhe dabei –, sich auch die in denen die Tarifpartner gute, auskömmliche Einkom-
Frage gestellt haben, wie dieses Urteil umgesetzt wird, men für die Beschäftigten ausgehandelt haben, also in
wenn sich die in Art. 1 Grundgesetz verankerte Maxime denen die Beschäftigten gute Arbeit leisten und dafür gut
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in den Re- bezahlt werden. Je mehr Sie die Löhne staatlich subven-
gelsätzen, in einer Grundsicherung widerspiegeln soll. tionieren, umso stärker wird sich die Lohnspirale nach
Das geht nach Einschätzung aller, auch der Sozialver- unten drehen. Das hat nichts mit Leistungsgerechtigkeit
2058 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Elke Ferner
(A) zu tun; das hat etwas damit zu tun, dass Sie Dum- geldes, 400 Millionen Euro für die Erhöhung der Freibe- (C)
pinglöhnen das Wort reden und nicht wollen, dass die träge. Sie sehen, wie sozial ausgewogen das ist, was
Leistung der Menschen auch adäquat bezahlt wird. diese Koalition beschlossen hat.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE
Frau Kollegin Ferner, bitte. LINKE]: Bei Hartz IV haben Sie nichts ge-
macht!)
Elke Ferner (SPD):
Schließlich sagten Sie, wir machten eine Steuerpolitik
Wir brauchen ein Lohnanstandsgebot, das sich an ei-
für einige wenige. Ich glaube, es gibt Bereiche, über die
nem menschenwürdigen Existenzminimum bemisst.
wir ruhig streiten sollten.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt ist aber gut
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
hier! Das ist ja eine Rede!)
Beispielsweise Hotels!)
Auf diese Weise haben diejenigen – das ist nur recht und
– Darüber können wir gerne streiten. – Aber über eine
billig –, die arbeiten, mehr Geld durch ihre Arbeit als
Frage bitte ich Sie doch wirklich einmal einen Augen-
diejenigen, die von Grundsicherung leben.
blick nachzudenken: Kennen Sie wirklich irgendeinen
Reichen in Deutschland, der der Erhöhung des Kinder-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: geldes entgegengefiebert hätte? Wir haben hier eine
Frau Kollegin Ferner, Ihre Redezeit ist weit überzo- Politik für die Bezieher von kleinen und mittleren Ein-
gen. kommen gemacht. Diese müssen in Deutschland ge-
stärkt und unterstützt werden. Das ist der entscheidende
Elke Ferner (SPD): Unterschied.
Darum geht es, und nicht um Sozialabbau, wie Sie ihn
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wollen.
der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜND-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn!)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Nun zur Frage der Bildungspolitik und des Los-
glücks: Frau Ferner, ich selbst habe erst eine Realschule
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: besucht. Ich habe sehr von den Bemühungen der sozial-
Kollege Westerwelle zur Erwiderung. liberalen Koalition, Bildung als Bürgerrecht zu veran-
kern, profitiert; denn die Durchlässigkeit des Bildungs- (D)
(B)
Dr. Guido Westerwelle (FDP) (spricht von seinem systems ist in den 70er-Jahren hart errungen worden.
Platz aus):
(Alexander Ulrich (DIE LINKE):
Frau Kollegin Ferner,
Spätrömisch!)
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie sitzen
Als jemand, der erst auf einer Realschule war, der
wieder da, wo Sie hingehören!)
dann auf das Gymnasium wechseln durfte, kann ich Ih-
Sie haben ja in Ihrem Beitrag durchaus wichtige Punkte nen nur ganz persönlich sagen: Niemand soll sich he-
angesprochen. Ich habe vorab erst einmal eine Sache rausreden, wenn er wie Ihre Partei in Berlin Gymnasial-
hinzuzufügen: Sie kritisieren Zustände – Spitzensteuer- plätze per Losentscheid vergeben will.
satz, Kombilohn –, die Sie selber in Ihrer Regierungszeit
(Elke Ferner [SPD]: Im Saarland werden die
herbeigeführt haben.
Gesamtschulplätze verlost!)
(Beifall bei der FDP)
Die Zukunftschancen von jungen Menschen von Lotte-
Ich verstehe das nicht. Ist das nun eine Abrechnung mit rieglück abhängig zu machen, das gibt es nirgendwo in
der Politik Ihrer Partei, oder was haben Sie hier gerade Deutschland,
veranstaltet?
(Elke Ferner [SPD]: Doch, im Saarland!)
Auf einen weiteren Punkt muss aufmerksam gemacht
werden: Kindergeld und Freibeträge. Ich habe übri- nur im rot-rot regierten Berlin. Das ist unerträglich,
gens, als ich gesprochen habe, beides auch genannt. Sie meine sehr geehrten Damen und Herren.
haben völlig recht: Der Kinderfreibetrag greift erst ab ei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nem bestimmten Einkommensniveau. Da sind wir uns
völlig einig. Deswegen hat diese Koalition zweierlei ge- Niemand soll sich herausreden. Diese Katastrophe, die-
tan: Wir haben die Kinderfreibeträge erhöht, und wir ha- sen Skandal verantworten Sie von Rot-Rot.
ben gleichzeitig das Kindergeld erhöht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Elke Ferner [SPD]: Wer kriegt denn mehr? –
Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie haben gar Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nichts erhöht!) Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping von der
Fraktion Die Linke.
Damit Sie einmal wissen, wie viel wofür ausgegeben
wird: 4,2 Milliarden Euro für die Erhöhung des Kinder- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2059

(A) Katja Kipping (DIE LINKE): also gegenüber Langzeiterwerbslosen und Obdachlosen, (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der steigt extrem. Herr Heitmeyer sagt, das habe inzwischen
Wortwahl „spätrömische Dekadenz“ war Herr einen Grad an Menschenfeindlichkeit angenommen. Ich
Westerwelle möglicherweise selbstkritischer, als ihm meine sogar: Was sich hier entwickelt, ist ein neuer Ras-
selber bewusst ist. sismus, ein Nützlichkeitsrassismus. Das Gefährliche
daran ist: Wenn ein solcher Rassismus erst einmal eine
(Beifall bei der LINKEN)
gewisse Intensität erreicht hat, dann sinkt die Hemm-
Denn im späten Rom ging die Dekadenz von den Herr- schwelle für gewaltsame Übergriffe. Wir beobachten,
schenden aus. Welche Dekadenz erleben wir heute? Mi- dass die Zahl der gewaltsamen Übergriffe brauner Schlä-
nister wie Westerwelle bekommen für Vorträge bei Ban- gertrupps gegenüber Obdachlosen deutlich zugenommen
ken 7 000 Euro. hat. Vor diesem Hintergrund müssten sich alle, die nur
einen Funken Verantwortung im Leib haben, diesen Res-
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Min-
sentiments entgegenstellen. Wir alle müssen uns als Po-
destens!)
litiker und Politikerinnen dem Nützlichkeitsrassismus
Ministerpräsidenten wie Rüttgers bekommen von Fir- entgegenstellen. Doch was passiert? Sie schüren munter
men für ein Kurzgespräch, quasi für einen Gesprächs- weiter und spielen mit dem Feuer. Das ist hochgefähr-
quickie, mehrere Tausend Euro. Kurzum: Führende Poli- lich.
tiker in diesem Land werden zu Herren für gewisse
Minuten, (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Nun gibt es immer wieder Einwände gegen die Forde-
rungen der Linken. Ein Einwand lautet, dass der von uns
wobei ihr Minutensatz deutlich über dem Stundensatz
geforderte Regelsatz in Höhe von 500 Euro nicht durch
von Edelprostituierten liegt.
ein Bundesverfassungsgerichtsurteil gedeckt sei. Ich
(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder weise in diesem Zusammenhang darauf hin: Das Bun-
[CDU/CSU]: Gysi hat doch kassiert, desverfassungsgericht hat deutlich gesagt, der Gesetzge-
Lafontaine hat doch kassiert! Jetzt hören Sie ber muss nachweisen, dass das menschenwürdige Exis-
auf da vorne!) tenzminimum nicht unterschritten ist. Es hat nicht das
Überschreiten verboten. Das Bundesverfassungsgericht
Das ist die Dekadenz, über die wir reden müssen. Wenn
sagt ganz klar: Der Gesetzgeber hat einen politischen
Sie hier über Leistungsgerechtigkeit reden, dann den-
Gestaltungsspielraum. – Dieser endet aber dort, wo das
ken Sie daran: 7 000 Euro für einen Kurzvortrag!
Existenzminimum unterschritten wird. Wir berufen uns
(B) Vor kurzem kam ein Mann in mein Wahlkreisbüro, auf Berechnungen, die von vollwertiger Ernährung und (D)
der halbtags für eine Hilfsorganisation arbeitet. Er ist politischer Teilhabe ausgehen.
viel ehrenamtlich tätig und engagiert sich für die Kata-
strophenhilfe für Haiti. Dieser Mann geht mit 1 000 Euro (Beifall bei der LINKEN)
im Monat nach Hause. Für 7 000 Euro muss er sieben
Ein weiterer Einwand lautet, Sanktionen müssten un-
Monate arbeiten. Glaubt hier jemand ernsthaft, dass das
bedingt bestehen und seien für die Arbeitsvermittlung
etwas mit Leistung zu tun hätte? Glauben Sie denn ernst-
notwendig. Ich habe mich vor kurzem mit Mittelstands-
haft, dass ein Vortrag von Westerwelle dieselbe Leistung
vertretern unterhalten und dabei den Eindruck gewon-
ist wie sieben Monate Arbeit für eine Katastrophenhilfe?
nen, dass es gerade aus Sicht kleiner Unternehmen total
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- kontraproduktiv ist, wenn man bei der Arbeitsvermitt-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE lung vor allen Dingen versucht, Erwerbslosen nachzu-
GRÜNEN) weisen, dass sie gar nicht arbeitswillig sind, und sie ver-
donnert, sich überall zu bewerben, unabhängig davon,
Wer davon überzeugt ist, der möge jetzt bitte vortreten
ob die Stelle zu dem betreffenden Bewerber passt. Für
und das der geneigten Öffentlichkeit kundtun und vertre-
eine nachhaltige Vermittlung ist notwendig, dass die An-
ten.
forderungen der Stelle sowie die Fähigkeiten und die
(Beifall bei der LINKEN) Vorstellung des Arbeitsuchenden gut zusammenpassen.
Wenn nun aber die Bundesagentur für Arbeit Erwerbs-
Ich glaube, es geht hier nicht um Leistungsgerechtigkeit,
lose unter der Androhung von Sanktionen verdonnert,
sondern um ein ganz altes Prinzip der Ungerechtigkeit:
sich immer wieder zu bewerben, dann bedeutet das ge-
Wer hat, dem wird gegeben, wer wenig hat, dem wird
rade für kleine Unternehmen jede Menge Arbeit bei den
auch noch das wenige genommen.
Bewerbungen. Das stellt eine zusätzliche Belastung für
(Beifall bei der LINKEN) sie dar. Deswegen sagen wir: Im Sinne einer nachhalti-
gen Arbeitsvermittlung gehören die Sanktionen abge-
Wie ungeheuerlich die Hetze ist, die Sie vonseiten der schafft.
FDP losgetreten haben, wird vor folgendem Hintergrund
deutlich: Es gibt die Studie „Deutsche Zustände“ von (Beifall bei der LINKEN)
Professor Heitmeyer, der die Einstellung zu bestimmten
Menschengruppen untersucht. Er kommt zu einem er- Die tatsächliche Dekadenz, damals wie heute, ist die
schreckenden Ergebnis: Die Ablehnung gegenüber Men- Dekadenz der Herrschenden. Doch anstatt diese Pro-
schen, die als vermeintlich nutzlos eingestuft werden, bleme zu benennen, schüren Sie Sozialneid zwischen
2060 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Katja Kipping
(A) den Armen und den ganz Armen. Das ist ein übles Ab- der Pandora nicht öffnen; denn diese Reform Ihren eige- (C)
lenkungsmanöver. nen Leuten zu verkaufen, war schwierig genug. Jede
kleine Änderung hätte sofort an die Grundbefindlichkeit
Die Linke sagt: Wir wollen etwas komplett anderes.
der SPD gerührt. Dann – das war Ihre Haltung – lassen
Auch wir wollen, dass mehr Geld in die Bildung ge-
wir uns lieber von Karlsruhe sagen, was zu tun ist. Das,
steckt wird. Aber was ich sehr eigenartig finde, wenn Sie
meine Damen und Herren, spricht nicht für den Willen
hier das Hohelied der Bildung singen, Herr Westerwelle:
zu politischer Gestaltung, sondern eher für die Suche
In dem Haushalt, den Sie mit zu verantworten haben,
nach einem Notausgang für Helden. Das Gericht soll die
werden gerade einmal 350 Millionen Euro für Bildung
Hausaufgaben machen, die Sie haben liegenlassen. Ein
eingestellt. Die Steuerentlastung aber, die Sie vorange-
wenig Autoritätsgläubigkeit spielt da auch mit. Karls-
trieben haben, kostet uns ab 2011 jedes Jahr 24 Milliar-
ruhe locuta, causa finita.
den Euro. Das sind die wahren Schwerpunktsetzungen,
die Sie vornehmen. (Elke Ferner [SPD]: Wir sprechen hier
Deutsch!)
(Beifall bei der LINKEN)
Zu den Grünen fällt mir wenig ein. Sie standen mit an
Wir als Linke hingegen wollen, dass die Schere zwi-
der Wiege von Hartz IV und tun heute so, als ob Sie das
schen Arm und Reich nicht weiter auseinandergeht. Wir
damals gar nicht so gemeint hätten. Dann werden Ne-
wollen, dass keiner unter das Existenzminimum fällt.
benkriegsschauplätze eröffnet: Kritik an der Kanzlerin,
Wir wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung, einen
am FDP-Vorsitzenden, alles seltsam unsubstanziiert,
Mindestlohn von 10 Euro, gute Arbeit und eine Vertei-
aber mit bemerkenswerter Verve vorgetragen. Lieber
lung der vorhandenen Erwerbsarbeit durch Arbeitszeit-
Herr Kurth, Sie haben mit ebensolcher Verve die Würde
verkürzung. Kurzum: Wir wollen ein Bündnis für sozia-
des Menschen ins Feld geführt. Ich frage mich: Haben
len Fortschritt.
Sie 2004 vergessen, das anzumerken,
Besten Dank.
(Elke Ferner [SPD]: Sie ja offenkundig auch!
(Beifall bei der LINKEN) Vermittlungsausschuss, Bundesrat! – Christian
Lange [Backnang] [SPD]: Was erzählen Sie da
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eigentlich für einen Unsinn?)
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Matthias Zimmer oder haben Sie es lediglich aus Angst vor dem Basta-
von der CDU/CSU-Fraktion. Kanzler unterlassen?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
(B) der FDP) (D)
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU):
Nun zu den Linken. Gestern im Ausschuss haben Sie
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
erklärt, Sie lehnen Sanktionsregime für nicht Arbeits-
seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in
willige ab. Für mich ist das nichts anderes als die perma-
Deutschland eine Debatte, die manchmal seltsame Züge
nente Kapitulation vor dem inneren Schweinehund ande-
annimmt. Gestern haben wir im Bundestag bereits über
rer, eine Extremposition, wie sie für die Linken ja nicht
einen Aspekt dieser Debatte eine Aktuelle Stunde ge-
untypisch ist. Ich will nur an eine andere Extremposition
habt, heute setzen wir die Debatte fort. Manchmal habe
erinnern, die Ihre Vorgänger als Gesetz gefasst haben,
ich den Eindruck, die Schärfe der Debatte kommt eher
nämlich den alten § 249 des Strafgesetzbuches der DDR.
daher, dass sich einige in diesem Haus ein anderes Urteil
Dort ging es um asoziales Verhalten. Danach wurde der-
erhofft hätten.
jenige, der „das gesellschaftliche Zusammenleben der
(Elke Ferner [SPD]: Meinen Sie jetzt Herrn Bürger oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung ge-
Westerwelle?) fährdet, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten
Arbeit entzieht“, mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei
Darauf hat der FDP-Vorsitzende ja auch richtigerweise Jahren belegt,
hingewiesen.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Deshalb gilt es als Erstes festzuhalten: Hartz IV ist Oh!)
nicht verfassungswidrig.
im Wiederholungsfall drohten bis zu fünf Jahre.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So kann
man sich das Urteil auch hinbiegen!) (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das kritisieren
wir auch!)
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Die
Höhe der Sätze ist nicht evident unzureichend. Aber die Dies ist ebenso eine Extremposition und ebenso falsch.
Regelsätze für Kinder müssen neu berechnet werden, Wir haben funktionierende Sanktionsregimes; sie müs-
und das werden wir tun. sen nur angewendet werden. Aber wir wollen die Men-
schen nicht kriminalisieren.
Das Urteil ist in erster Linie eine Niederlage für die
SPD. Weder der damalige Arbeitsminister Müntefering Den Kolleginnen und Kollegen von der Linken will
noch Olaf Scholz haben auf Bedenken bezüglich der ich ein anderes Wort ins Stammbuch schreiben, dass
Ausgestaltung der Regelsätze reagiert. Psychologisch nämlich nur das verbraucht werden kann, was auch erar-
gesehen kann ich das verstehen. Sie wollten die Büchse beitet wird. So weit war jedenfalls die SED bereits in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2061
Dr. Matthias Zimmer
(A) den 70er-Jahren, als man die Einheit von Wirtschafts- rechnung der Sätze jene Transparenz herstellen, die das (C)
und Sozialpolitik propagiert hat. Diese Einheit hat sich Verfassungsgericht angemahnt hat. Das ist unsere Auf-
allerdings nur in einem verwirklicht, nämlich darin, dass gabe als Parlament, und wir von der Union werden uns
Ihre Ahnen sowohl die Wirtschafts- als auch die Sozial- dieser Aufgabe stellen.
politik gegen die Wand gefahren haben. Die 40-jährige
Wanderschaft in der Wüste des Sozialismus hat Folge- Vielen Dank.
kosten hinterlassen, die wir noch heute bezahlen. Damit (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
scheiden Sie von den Linken aus meiner Sicht als Ratge-
ber für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen aus.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Herr Kollege Zimmer, ich gratuliere Ihnen im Namen
Für mich ist eines klar: Wenn sich die Einheit von Wirt- des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
schafts- und Sozialpolitik jemals verwirklicht hat, dann Bundestag.
in unserer Idee der sozialen Marktwirtschaft. (Beifall)
Nun will die Linke den Regelsatz auf 500 Euro erhö- Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
hen. Begründung: Fehlanzeige. Zudem wollen Sie Ihren von der SPD-Fraktion.
ausgabenintensiven Amoklauf auch an anderer Stelle
fortsetzen, mit 2 Millionen Arbeitsplätzen im öffentli- (Beifall bei der SPD)
chen Dienst mit 50 Milliarden Euro im Jahr zusätzlich,
und mit jeweils 25 Milliarden Euro in den nächsten vier Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Jahren soll das produzierende Gewerbe auf innovative
Verfahren und Produkte umgestellt werden. Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Der bisherige Verlauf unserer Debatte hat
Ihre Idee, Produktionsverfahren und Produkte umzu- doch deutlich gezeigt, dass einige von uns über dieses
stellen, kann ich in diesem Zusammenhang nur als Dro- Urteil heftig überrascht sind, einige sogar so sehr, dass
hung auffassen. Die Bundesrepublik ist bereits in vielen sie völlig orientierungslos geworden sind, hier mit irr-
Feldern Technologieführer. Mir fällt dazu der alte Slo- witzigen Forderungen antreten, seit zwei Wochen durch
gan der SED ein: „Überholen ohne einzuholen“. Einge- die Lande ziehen und heute durch den Bundesaußenmi-
holt hat Sie 1989 Ihre Unfähigkeit, Ausgaben auf ver- nister auch wieder einen Ausschnitt aus diesem Schau-
fügbare Mittel zu beziehen, und überholt sind Ihre Art spiel aufführen. Andere haben gleich Lösungen parat,
des planwirtschaftlichen Denkens und Ihre Annahme, wieder andere tischen alte Kamellen auf.
(B) das Geld wachse auf Bäumen und müsse nur ausgegeben Dabei sollten wir es uns nicht so einfachen machen. (D)
werden. Damals wie heute fehlen Ihnen Maß und Mitte.
Das Urteil hat uns ein Paket von Aufträgen auferlegt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auftrag Nummer eins lautet, Rechtsklarheit und Trans-
neten der FDP) parenz bei der Berechnung der Regelsätze herzustellen.
Auftrag Nummer zwei besteht darin, einen eigenständi-
Die Debatte, die wir um Hartz IV führen, ist aus mei-
gen, bedarfsgerechten Regelsatz für Kinder zu schaffen.
ner Sicht in großen Teilen eine Debatte mit verdeckten
Beim Auftrag Nummer drei geht es darum, eine Härte-
Kontexten. Der SPD geht es darum, befreit von der Re-
fallregelung für laufende, unabweisbare atypische Be-
gierungsverantwortung wieder Zutritt in das folgenfreie
darfe zu schaffen, und das ab sofort.
Paradies der reinen Lehre zu erlangen, wo die sozialde-
mokratische Welt noch in Ordnung ist. Hier ist der Ein- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Da sind wir
fluss des Wünschens auf das Denken besonders stark. praktisch schon dabei!)
Den Grünen geht es darum, sich aus der Mitverant- Auch wenn keine Vorgaben zur Höhe der Regelsätze ge-
wortung für das einstmals Beschlossene zu stehlen. Hier macht worden sind, so bin ich mir sicher, dass es für
nimmt die Bewältigung der Vergangenheit das Denken viele Familien Verbesserungen geben wird, sowohl
in Beschlag. durch den Regelsatz für Kinder als auch durch die Um-
Bei der Linken geht es um Systemkritik, um eine setzung der Sonderbedarfe. Ich warne davor – besonders
grundsätzliche Ablehnung von Hartz IV, die man mit angesichts dieser Debatte –, Regelungen nach Kassen-
völlig überzogenen Vorschlägen ad absurdum führen lage zu treffen.
will. Eine Alternative ist nicht in Sicht. Darin sind Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
übrigens Ihrem Stammvater Marx gleich, der auch nur
kritisieren konnte, aber niemals auch nur einen einzigen In der gestrigen Ausschusssitzung hat uns das ziem-
konstruktiven Vorschlag gemacht hat. lich restriktive Vorgehen bei der Härtefallregelung
überrascht. Da kann das letzte Wort noch nicht gespro-
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr!) chen sein.
Meine Damen und Herren, die Debatte um Hartz IV (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kriegen wir
eignet sich meines Erachtens nicht, solche mitschwin- aber Angst!)
genden Befindlichkeiten therapeutisch auszuleben. Da-
für ist das Thema dann doch zu ernst. Wir wollen den Ich habe den Verdacht, dass dem Bundesverfassungsge-
Menschen in der Not helfen, und wir werden bei der Be- richt das Wort im Munde umgedreht werden soll.
2062 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Angelika Krüger-Leißner
(A) Sehr geehrte Frau Ministerin, sorgen Sie dafür, dass chen in unserer Gesellschaft profilieren, wie es der am- (C)
wir eine offene, transparente Diskussion über die Neure- tierende Bundesaußenminister heute wieder getan hat.
gelungen führen, dass wir nachvollziehbare Entscheidun- Der Ruf nach strengeren Regeln und schärferen Strafen
gen bekommen und dass die Jobcenter bundeseinheitli- stigmatisiert die Hilfeempfänger als Arbeitsverweigerer
che und möglichst unbürokratische Sachentscheidungen und Sozialschmarotzer. Ich sage Ihnen: Hören Sie auf,
treffen können. Die Situation in den Jobcentern ist durch Menschen in unserer Gesellschaft so gegeneinander aus-
das Vorgehen Ihrer Regierung ohnehin schon sehr ange- zuspielen! Die Mehrheit der Hilfeempfänger möchte ar-
spannt. beiten, und zwar zu anständigen Löhnen und zu guten
Arbeitsbedingungen. Darauf sollten wir den Fokus rich-
Dieses Urteil hat uns aber nicht nur den Auftrag zur ten.
Veränderung der Regelsätze gegeben. Es steht noch viel
mehr dahinter: Uns sollte klar sein, dass uns damit der (Beifall bei der SPD)
Auftrag für die Einführung eines gesetzlichen Mindest-
lohns erteilt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat uns die Möglich-
keit gegeben, unser System der sozialen Grundsicherung
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist aber sehr zu überprüfen und zu verbessern. Ausgangspunkt kann
exklusiv ausgelegt!) dabei nur der Hilfebedürftige und sein Anspruch auf
Sicherung des Existenzminimums, auf ein menschen-
Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb,
würdiges Leben und auf gesellschaftliche Teilhabe sein.
das steht hinter dieser Regelung,
Dazu gehören alle Angebote und jegliche Unterstützung
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Man sieht nur zur Überwindung und Vermeidung von Hilfebedürftig-
das, was man sehen will!) keit.
denn das ist Realität. Nur ein Narr kann jetzt noch einen Das gilt umso mehr für die Kinder. Ein eigenständiger
niedrigeren Regelsatz fordern und auch noch ernsthaft Regelsatz ist ein guter Lösungsansatz, aber es gehört
daran glauben. Es ist wohl eher zu erwarten, dass die noch viel mehr dazu: eine moderne Familien- und Bil-
Regelleistungen steigen werden. Damit fällt das Lohn- dungspolitik, um allen Kindern gute Bildungschancen zu
abstandsgebot. Um das wiederherzustellen und ein ver- geben. Kinderarmut ist vermeidbar. Packen wir es an.
nünftiges „Lohnanstandsgebot“, so wie es meine Vorred-
Vielen Dank.
nerin gesagt hat, zu schaffen, brauchen wir den
gesetzlichen Mindestlohn und keine niedrigeren Be- (Beifall bei der SPD)
darfssätze.
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (D)
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wenn das so rich- Das Wort hat der Kollege Johannes Vogel von der
tig wäre, hätten Sie es doch damals machen FDP-Fraktion.
müssen!)
(Beifall bei der FDP)
– Herr Kolb, das ist meine Antwort auf Ihre Neuinterpre-
tation des Satzes: Arbeit muss sich wieder lohnen. Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts sehe ich vor Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
allen Dingen den Auftrag und die Chance, Schwach- Frau Krüger-Leißner, Sie haben eine angebliche Verwir-
punkte im SGB II zu verbessern. Uns liegen heute zwei rung in der Debatte, die der Vizekanzler angestoßen hat,
Anträge vor, über die wir in den nächsten Wochen reden angesprochen. Ich glaube, die Verwirrung lag eher bei
werden, die ich sehr unterschiedlich bewerte. Ihnen.
Der Antrag der Grünen greift zweifellos den Auftrag Ich will allen den Ausgangspunkt der Debatte noch
des Bundesverfassungsgerichts auf. Er enthält gute An- einmal zu Gemüte führen: Vorletzte Woche, am
sätze. Ich glaube, dass wir auf dieser Grundlage um Ver- 9. Februar 2010 um 10.06 Uhr, ergriff Herr Papier in
besserungen ringen können. Die Kolleginnen und Kolle- Karlsruhe das Wort und begann mit der Verkündung des
gen der Linksfraktion nutzen das Urteil, um ihre Urteils. Um 10.49 Uhr, gerade einmal eine gute halbe
populistische Forderung „Weg mit Hartz IV“ zu erneu- Stunde später, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kolle-
ern. Sie präsentieren einen Strauß von Maßnahmen. Um gen von der SPD, in Person von Herrn Oppermann
bei dem Bild „Strauß“ zu bleiben: Es sind ohne Frage ein schon erklärt, erstens sei es völlig klar, es müsse jetzt
paar schöne Blumen dabei, es sind aber auch ein paar mehr Geld geben, und zweitens sei die Steuerentlastung
Kunstblumen dabei. Der Antrag liest sich wie ein für kleine und mittlere Einkommen obsolet. Ich glaube,
Wunschzettel, der den Betroffenen eine heile Welt vor- es ist zynisch, wenn Sie erst ein Willkürregime bei den
spielt. Finanzpolitisch steht er auf sehr wackligen Bei- Hartz-IV-Regelsätzen, gerade für Kinder, einführen, Ih-
nen, aber das ist nicht neu. So kommen wir nicht weiter. nen das vom Gericht in der Luft zerrissen wird und Sie
das dann auch noch als Legitimation für Ihr eigenes Par-
Meine Fraktion wird in Auswertung des Urteils des teiprogramm nutzen.
Bundesverfassungsgerichts einen eigenen umfassenden
Antrag einbringen. Ich bin mir sicher, dass es uns dann (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
gelingt, eine Versachlichung der Debatte herbeizuführen. [FDP]: Da wird ein großes Süppchen ge-
Es geht nicht an, dass sich einige auf Kosten der Schwa- kocht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2063
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) Diese Reflexe hat der Vizekanzler kritisiert, und das ist die Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt kom- (C)
völlig richtig. Etwas für die Schwächsten zu tun, ihnen men wollen, werden den Menschen heute Steine in den
aus der Hilfsbedürftigkeit herauszuhelfen und gleichzei- Weg gelegt, anstatt ihnen die Hand zu reichen. Wir müs-
tig kleine und mittlere Einkommen in unserem Land zu sen die positiven Anreize durch bessere Zuverdienstme-
entlasten, das ist kein Widerspruch, sondern das sind chanismen verbessern. Genau das haben wir vor, weil
zwei Seiten derselben Medaille. wir einen Sozialstaat im Blick haben, der die Menschen
aktiviert und sie nicht narkotisiert und ruhigstellt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Insofern kann ich das, was Sie hier machen, nur als
Geschrei empfinden. Ich hoffe, dass Sie sich konstruktiv
Werfen wir jetzt doch einmal einen ganz kurzen Blick
an unseren Vorschlägen zu einem faireren Sozialstaat be-
darauf, was wir als neue Regierung im Bereich des
teiligen werden.
Sozialstaates genau vorhaben. Wir wollen ihn an drei
Punkten fairer machen: Vielen Dank.
Erstens brauchen wir Regelsätze, die nicht willkürlich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
berechnet sind, sondern anhand des realen Bedarfs. Ich
kann nur erkennen, dass das Urteil anscheinend noch Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nicht vollständig verstanden wurde, da jetzt wieder poli- Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Dr. Ursula
tisch gesetzte Zahlen in die Debatte eingebracht werden von der Leyen.
– 420 Euro, 500 Euro –, anstatt die Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe abzuwarten, dann in Ruhe Wert- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
entscheidungen zu treffen und abzuleiten, wie viel Geld
wir für die Regelsätze brauchen. Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Arbeit und Soziales:
Zweitens wollen wir die Betreuung vor Ort verbes-
sern. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte für die Bundesregierung zunächst einmal drei
(Elke Ferner [SPD]: Durch getrennte Aufga- Dinge klarstellen, die vielleicht eine Selbstverständlich-
benwahrnehmung!) keit sind. Mir liegt aber daran, sie noch einmal zu beto-
nen.
Wenn man ehrlich ist und in die Details geht, dann stellt
man fest, dass das das Problem ist. Sie wissen so gut wie Die Bundesregierung steht erstens selbstverständlich
ich, dass es vor Ort Licht und Schatten gibt, sowohl bei für den verlässlichen Sozialstaat, und zwar für einen le-
der Förderung als auch bei der Verhängung von manch- bendigen Sozialstaat. Es ist ein Gütesiegel der sozialen (D)
(B)
mal nötigen Sanktionen. Marktwirtschaft, dass wir Menschen nicht aufgeben,
sondern gerade denjenigen, die in eine Notlage gekom-
Drittens wollen wir vor allem die Anreize verbessern
men sind, wieder Aufstiegsperspektiven geben. Wir wol-
– die OECD ist schon angesprochen worden –, dass man
len ihnen die Hilfe geben, die notwendig ist, damit sie
aus der Hilfsbedürftigkeit wieder in Beschäftigung
ihr Leben eigenständig in die Hand nehmen können. Wir
kommt. Das ist doch das Problem.
wollen sie nicht alle über einen Kamm scheren. Das se-
(Beifall bei der FDP) hen wir ohne jeden Zweifel als unsere Aufgabe. Arbeits-
losigkeit hat auch ihre Ursachen: oft kein Arbeitsange-
Wir können nicht immer nur darüber reden, was mit de-
bot, oft kein Berufsabschluss, keine Kinderbetreuung,
nen ist, die Hilfe brauchen. Da müssen wir solidarisch
manchmal auch keine Lust. Das heißt, dass wir in der
sein. Aber wir müssen uns auch Gedanken darüber ma-
konkreten Arbeitsvermittlung konsequenter und zügiger
chen, wie sie da wieder herauskommen. Da hat die
werden müssen. Das ist die Debatte, die wir in diesem
OECD der Bundesrepublik Deutschland in der Tat ein
Hohen Hause führen sollten.
Armutszeugnis ausgestellt, weil es zu wenig positive
Anreize gibt, sich wieder hervorzuarbeiten. Deshalb ist (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
es richtig, dass wir durch eine Senkung der Steuer- und
Zweitens. Genauso wie es Steuerhinterziehung gibt,
Abgabenlast die Lohnnebenkosten in den Blick neh-
gibt es Missbrauch bei Hartz IV. Aber deshalb sind noch
men wollen. Ein kurzer Gruß an die Kolleginnen und
lange nicht alle Steuerzahler unter Generalverdacht, und
Kollegen von den Grünen: Wenn Sie die Abgabenlast
deshalb sind selbstverständlich noch lange nicht alle
kritisieren, wäre es schön, wenn Sie sich auch an der De-
Langzeitarbeitslosen unter Generalverdacht.
batte beteiligen würden, wie wir die Beiträge zu den So-
zialversicherungen niedrig halten können. Zur Gesund- (Elke Ferner [SPD]: Sagen Sie das Herrn
heitsreform zum Beispiel, die wir vorhaben, höre ich Westerwelle! Weiß der Vizekanzler das
keine sachdienlichen Beiträge. auch?)
(Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND- Es gibt diesen harten Kern; aber ich werde nicht zulas-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben ein Mo- sen, dass er unsere Debatte bestimmt. Das wird der gro-
dell vorgelegt! Das geht aber nicht mit Steuer- ßen Zahl der Langzeitarbeitslosen, die aus der Arbeitslo-
senkungen!) sigkeit heraus wollen, nicht gerecht.
Außerdem ist es richtig, die Hinzuverdienstmechanis- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
men zu verbessern. Gerade in diesem Bereich, durch den bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
2064 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – sequenzen aus dem Urteil ziehen. Hier müssen wir die (C)
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das soll- Akzente setzen. Hier müssen wir nach vorne denken.
ten Sie mal im Kabinett absprechen!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Drittens möchte ich etwas klarstellen. Natürlich müs- neten der FDP)
sen wir bei dieser Debatte immer diejenigen im Blick be-
halten, die arbeiten. Das Arbeitslosengeld II ist eine Ge- Ja, ich weiß, dass die Länder für die Schulen zustän-
meinschaftsleistung. Das ist eine Selbstverständlichkeit; dig sind – das Gericht hat sehr stark auf die schulpflich-
aber es muss offensichtlich noch einmal erwähnt wer- tigen Kinder Bezug genommen –, aber es geht darum,
den. Wir müssen deshalb das richtige Maß für diejenigen dass bedürftige Kinder, Kinder, die von Sozialgeld le-
finden, die mit Arbeitslosengeld II menschenwürdig le- ben, überhaupt mithalten können beim Zugang zu Bil-
ben müssen, und für diejenigen, die es erarbeiten und dung in der Schule. Dafür ist der Bund zuständig. Das
verdienen müssen. ist ein großes Wort gelassen ausgesprochen, aber wir alle
hier im Parlament sind dafür zuständig. Das ist unsere
(Elke Ferner [SPD]: Aha!) gemeinsame Chance. Das Bundesverfassungsgericht hat
Das sind zwei Seiten einer Medaille. Wir sollten sie dem Parlament hier – das ist neu – eine maßgebliche
nicht gegeneinander ausspielen, sondern immer im Kon- Rolle bei der Festlegung und der laufenden Anpassung
sens miteinander darüber diskutieren. der Regelsätze zugeschrieben. Es geht eben nicht nur um
die Geldleistung. Aber wenn der Bund gerade in dieser
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie angespannten Haushaltssituation Mittel in die Hand
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE nimmt, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass die ein-
GRÜNEN – Christian Lange [Backnang] gesetzten Mittel tatsächlich bei der Förderung der be-
[SPD]: Sprechen Sie mal in Richtung des Vi- dürftigen Kinder wirksam werden. Hier geht es um die
zekanzlers!) Sachleistung und die Dienstleistung – von Mensch zu
Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich auf das Ur- Mensch. Das ist der Auftrag der Zukunft.
teil des Bundesverfassungsgerichts – es ist Anlass die- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ser Debatte – eingehen. Es ist meines Erachtens ein wei- neten der FDP)
ses Urteil.
Wenn ein Kind in der 8. Klasse in Mathematik nicht
(Elke Ferner [SPD]: Aha!)
mehr mitkommt, kann seine Versetzung nicht davon ab-
Es hat Grundsätze markiert. Es hat auch den politischen hängen, ob seine Eltern das Geld haben, Nachhilfe ein-
Gestaltungsspielraum vollständig klargestellt. Die Pau- zukaufen.
(B) schalierung ist bestätigt worden. Das heißt, die Gängelei (D)
der Einzelleistungen ist nicht wieder heraufbeschworen (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
worden. Es ist richtig, die Regelsätze an den Ausgaben Richtig!)
der unteren 20 Prozent der Einkommen zu bemessen. Diesem Kind muss unabhängig von der Einkommenssi-
Denn das ist die Lebenswirklichkeit der Menschen mit tuation seiner Eltern geholfen werden. Das ist unsere
den kleinen Einkommen. Gestaltungschance. Wenn es von Sozialgeld lebt, hat der
Entscheidend ist der Gestaltungsspielraum, den uns Bund die Verpflichtung, für diese Chance zu sorgen und
das Bundesverfassungsgericht noch einmal deutlich ins konkret vor Ort die Dienstleistung von Mensch zu
Stammbuch geschrieben hat. Mensch sicherzustellen.
(Zuruf von der LINKEN: Erstmals!) Mehr noch: Wenn wir Kinderleben ernst nehmen, ge-
hört auch das Mitmachen in Sport, Musik und sozialen
Es hat dargelegt, dass die Regelsätze menschenwürdige Beziehungen dazu. Wenn Kinder diese Chance nicht ha-
Lebensverhältnisse garantieren müssen, aber dass die ben, verkümmern sie.
Leistungen nicht nur Geldleistungen in Euro und Cent
sein müssen. Es geht um die Möglichkeit der Teilhabe, Es gibt Fälle, in denen sich die Freizeit eines Kindes
der sozialen Perspektive und vor allem der sozialen Be- in der Bahnhofsvorhalle abspielt statt im Schwimmver-
ziehungen. Da können und da wollen wir neue Wege ge- ein oder im Fußballverein. Das darf nicht von einer Ge-
hen. bühr abhängen, die die Eltern nicht aufbringen.
Das beziehe ich insbesondere auf das Thema der be- (Elke Ferner [SPD]: Und dabei werden
dürftigen Kinder, der Kinder, die von Sozialgeld leben. Schwimmbäder geschlossen!)
Da haben wir jetzt eine große Chance, tatsächlich neue
Wege zu gehen. „Kinder sind keine kleinen Erwachse- Auch das Schulessen darf in dieser Diskussion kein Tabu
nen.“ Das ist ein Zitat des Gerichtes. Das sollten wir sein.
hochhalten. Grundvoraussetzung in der Kindheit sind (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
– das sind Selbstverständlichkeiten, aber man muss sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
noch einmal thematisieren – Zuwendung, frühe Förde-
rung und Perspektiven. Ohne diese Grundlagen haben
Kinder, anders als Erwachsene, keine Chance, ihre Ta- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
lente, ihre Fähigkeiten und ihre Persönlichkeit so zu ent- Frau von der Leyen, gestatten Sie eine Zwischen-
wickeln, wie es ihr Recht ist. Hier müssen wir die Kon- frage?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2065

(A) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für dieses Geld auch zielgerichtet in der Förderung der Kin- (C)
Arbeit und Soziales: der ankommt. Wir würden doch niemals den Eltern in
Ich möchte zuerst diesen Gedanken zu Ende führen; Deutschland Geld in die Hand geben und ihnen sagen,
danach gerne. – Ich weiß, dass das im Moment vielleicht sie sollten sich einmal Lehrer suchen, die dann ihre Kin-
noch unerhört klingt. Es ist in diesem Land aber längst der unterrichten. Aus gutem Grund ist Schule organi-
überfällig. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam diese siert. Damit stellen wir sicher, dass die Bildung bei den
Chance ergreifen, meine Damen und Herren. Kindern richtig ankommt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine Damen und Herren, deshalb ist es auch wich-
der FDP) tig, noch einmal die große Linie der Chance darzustel-
len, die dieses Land jetzt hat. – Frau Golze, Sie können
sich setzen, weil ich jetzt in meiner Rede weitermache.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau von der Leyen, erlauben Sie jetzt eine Zwischen- (Zuruf von der LINKEN: Antworten!)
frage der Kollegin Golze von den Linken? Ich sage deutlich: Wenn wir diese neuen Wege gehen
und der Bund sich seiner Verantwortung für die bedürfti-
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für gen Kinder stellt, wie ich es eben skizziert habe, müssen
Arbeit und Soziales: wir allen anderen verantwortlichen Akteuren in diesem
Ja. Land aber auch die Frage stellen, was mit den übrigen
Kindern ist. Das ist nämlich die Mitte, meine Damen
und Herren. Die Kinder der Geringverdiener dürfen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir bei diesen Berechnungen nicht aus dem Blick lassen.
Bitte schön, Frau Golze.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Diana Golze (DIE LINKE): Hier ist nicht nur der Bund gefordert. An dieser Stelle
Vielen Dank, Frau Ministerin, dass Sie meine Zwi- sind alle anderen Akteure mit gefordert. Nur wenn wir in
schenfrage zulassen, auch wenn Sie mich wahrschein- diesem Punkt zusammenarbeiten und alle an einem
lich gar nicht sehen können, weil Sie von der Sonne ge- Strang ziehen, kann der große Wurf gelingen.
blendet werden. – Mir geht es ganz konkret um das Ich weiß, dass das Geld kostet. Wir müssen uns aber
Gegeneinanderausspielen von Transferleistungen, näm- auch fragen, wo wir Prioritäten setzen. Diese Rechnung
lich Barleistungen auf der einen Seite sowie Investitio- ist nämlich die beste Rechnung, die dieses Land aufma-
nen in Dienstleistungen und Sachleistungen auf der an- chen kann.
(B) deren Seite. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede zu Recht (D)
darauf hingewiesen, dass wir keine Pauschalverurteilung (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
bestimmter Gruppen von Menschen vornehmen wollen. SES 90/DIE GRÜNEN)
Dieser Aussage schließe ich mich voll an. Warum aber Es stimmt, dass alles, was verteilt wird, erst erarbeitet
kann der Regelsatz für Kinder nicht so umfassend aus- werden muss. Weil das richtig ist, muss die nächste Ge-
gelegt werden, dass aus diesem Regelsatz auch Kosten neration aber ebenfalls eine Chance dazu bekommen.
für den Zugang zu Bildung, für den Zugang zu Sportver-
einen und für den Zugang zur Musikschule bestritten (Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])
werden können? Warum wird dort in der auch von Ihnen Das sind doch diejenigen, die uns alle in diesem Land in
angeschobenen Gutscheindebatte schon wieder in die 30 Jahren tragen müssen.
Richtung argumentiert, dass die Eltern oder die Kinder
mit diesem Geld nicht umgehen könnten und dass es (Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU])
falsch verwendet werden würde? Warum wird hier wie- Deshalb, meine Damen und Herren, sollten wir die Si-
der mit einem solchen Pauschalurteil gearbeitet, statt den tuation nutzen, den Kindern heute eine reelle Chance zu
Regelsatz wirklich am Bedarf der Kinder auszurichten, geben.
sodass er dann auch die von Ihnen genannten Leistungen
umfasst? (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
(Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN)

Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Arbeit und Soziales: Frau Kollegin von der Leyen, möchten Sie noch eine
Wir spielen nicht die Sach- und Dienstleistung gegen Zwischenfrage zulassen, diesmal von Frau Enkelmann?
die Geldleistung aus. Wir möchten aber, dass dann, wenn
wir mehr Geld einsetzen – es wird mehr Geld kosten; Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
das sage ich an dieser Stelle auch ganz deutlich –, Arbeit und Soziales:
(Elke Ferner [SPD]: Aha! Haben Sie gehört, Nein, jetzt möchte ich weiterreden.
Herr Westerwelle? – Christian Lange [Back-
nang] [SPD]: Ist das eine Meinung der Bun- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
desregierung oder nur Ihre Auffassung?) Sie wollen keine mehr zulassen? – Gut.
2066 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

(A) Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
Arbeit und Soziales: Frau Ministerin, zur Erwiderung. – Bitte schön.
Ich möchte eines deutlich machen – diese Rechnung
ist sehr einfach; man muss sie aber auch umsetzen, und Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
das ist die Chance dieser Legislatur –: Ein Kind, das das Arbeit und Soziales:
Schuljahr schafft und sich nicht schämen muss, weil es Vielen Dank. – Das, was Sie gerade angesprochen ha-
schon wieder das Frühstücksbrot schnorren musste, das, ben, ist die Härtefallregelung. „Härtefall“ heißt: wieder-
wenn es ein junger Erwachsener ist, den Abschluss, die kehrend außergewöhnlicher Bedarf. In diesem Fall, bei
Lehre oder den Beruf schafft, ist später ein Erwachsener der Nachhilfe, gilt diese Regelung dann, wenn ein El-
weniger, der Jahre oder Jahrzehnte von Sozialleistungen ternteil verstorben ist oder wenn es schwere Krankheiten
lebt. in der Familie gibt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Die Härtefallregelung, die kurzfristig ausgerichtet ist,
der FDP) werden wir an das Sozialversicherungsstabilisierungsge-
setz anhängen. Das wird schnell und sauber erfolgen,
Das ist ein Erwachsener mehr, der Verantwortung für das weil dies im Rahmen der Sozialhilfe bereits geregelt ist
Ganze übernehmen kann. Für die Kinder ist das eine und es dazu eine umfangreiche Rechtsprechung gibt. Die
Frage der Lebenschancen. Aber für unser Land entschei- Härtefallregelung ist, wie gesagt, kurzfristig ausgerich-
det sich hier der gesellschaftliche Zusammenhalt. Des- tet.
halb bitte ich auch dieses Hohe Haus, in dieser Legisla-
tur die Kraft aufzubringen, die Prioritäten richtig zu Worüber ich gesprochen habe, ist ein größerer Schritt.
setzen, damit wir diesen großen Schritt nach vorne tat- In diesem Jahr müssen wir nämlich eine noch größere
sächlich tun und uns nicht durch Streitigkeiten verstol- Frage beantworten: Wie kann allen Kindern ermöglicht
pern. werden, in der Schule mitzukommen? Die Antwort auf
diese Frage fließt in die Regelsatzberechnung ein. Hier
Vielen Dank. kann man unterschiedlich vorgehen: Wenn Bildung als
spezifischer Bestandteil in den Kinderregelsatz aufge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie nommen wird, was bisher nicht der Fall ist, kann man
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE entweder eine höhere Geldleistung vorsehen – ich halte
GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der das für nicht richtig; ich habe eben geschildert, warum –,
SPD und der LINKEN) oder man sagt: Lasst uns dieses Mehr in kluge Netze der
Hilfe, in Dienstleistungen von Mensch zu Mensch für
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die Kinder vor Ort, ganz konkret für die, die Nachhilfe (D)
brauchen, investieren. Ich weiß, das ist neu. Ich weiß, da
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der ist ein großes Rad zu drehen. Aber ich glaube, wir wer-
Kollegin Dagmar Enkelmann von der Fraktion Die den die Kraft haben, das umzusetzen.
Linke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE):
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Ministerin, ich hätte gerne eine Nachfrage ge- Während der Rede des Kollegen Westerwelle hat sich
stellt, weil bei uns eine Irritation entstanden ist. Sie ha- der Kollege Alexander Ulrich zu einem Zwischenruf
ben in Ihrer Rede gerade gesagt, dass es notwendig ist, hinreißen lassen, der unserem Sprachgebrauch und unse-
Kindern gleiche Chancen zu geben, insbesondere dort, rem Umgang untereinander nicht angemessen ist.
wo ihnen etwas schwerer fällt, zum Beispiel im Unter-
richt, und auch Nachhilfe zu finanzieren. Die Förderung (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
von Nachhilfe ist im Katalog der Bundesagentur enthal- Was hat er denn gesagt?)
ten, aber nur unter ganz besonderen Bedingungen, näm-
Er hat ihn „Volksverhetzer“ genannt. Ich rüge diesen
lich bei langfristiger Erkrankung oder einem Todesfall in
Zwischenruf.
der Familie. In der gestrigen Fragestunde habe ich dazu
eine Frage gestellt, und Staatssekretär Fuchtel hat mir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bestätigt: Das ist nur in besonderen Situationen möglich.
Als nächster Redner hat der Kollege Ernst Rossmann
Ich frage Sie: Was wollen wir denn? Wollen wir tat- von der SPD-Fraktion das Wort.
sächlich Chancengleichheit für Kinder? Das würde näm- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
lich bedeuten, dass Nachhilfe in jedem Fall finanziert
werden muss, gerade für Kinder aus Familien, die be-
nachteiligt sind, die zum Beispiel im Hartz-IV-Bezug Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
sind. Ich fordere Sie auf, hier für eine Klarstellung zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
sorgen. Für uns heißt das, dass Sie ganz deutlich sagen Bundesverfassungsgericht hat ein wirklich bedeutsames
sollten: Ja, Nachhilfe muss finanziert werden. Sie gehört Urteil gesprochen. Wir sind heute hier im Parlament in
zum Sonderbedarf. der besonderen Situation, dass vonseiten der Regierung
zwei Minister sprechen, und man sich fragt: Für welche
(Beifall bei der LINKEN) Regierung? Sprechen sie zusammen?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2067
Dr. Ernst Dieter Rossmann
(A) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Frau von der Leyen, Sie haben zu Recht darauf hinge- (C)
Abgeordneten der LINKEN und des BÜND- wiesen, dass es um die Kinder geht. Das Bundesverfas-
NISSES 90/DIE GRÜNEN) sungsgericht hat in seinem Urteil in der Tat herausge-
stellt, dass es um Würde, Chancengerechtigkeit und
Ihnen, Frau von der Leyen, zolle ich durchaus Anerken- Gleichheit geht. Es geht aber nicht nur um die persönli-
nung. Wir hoffen, dass Sie für die ganze Regierung ge-
che Verantwortung der Eltern, sondern auch um gemein-
sprochen haben.
schaftliche Verantwortung, um die Verantwortung der
Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Be- Gesellschaft, des Staates, all diesen Kindern eine Per-
darf, mit der Menschenwürde und mit der Anerkennung spektive zu eröffnen. Dazu braucht es Kooperation.
von Menschen in Armut, insbesondere aber von Kindern
in Armut auseinandergesetzt. Eine Rückmeldung an Wir gehen davon aus, dass der Bedarf der Kinder si-
Herrn Westerwelle: Der Unterschied zwischen Frau von cherlich höher anzusetzen ist. Gerade wenn es um Bil-
der Leyen und Ihnen ist – das merken nicht nur die Men- dungschancen geht, ist ein Gutschein nicht die erste
schen, das merken auch wir im Parlament –: Wenn Sie Wahl. Die erste Wahl muss sein – das ist in dem Urteil
hier sprechen, tauchen diese 6 Millionen Menschen bzw. des Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck gekom-
diese 1,6 Millionen Kinder überhaupt nicht auf. men –, dass alle die Chance bekommen, kostenlos einen
guten Kindergarten zu besuchen, kostenlos eine gute
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Ganztagsschule zu besuchen,
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie können sich nicht hineinfühlen in das, was diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Menschen, gestützt durch das Urteil des Bundesverfas- kostenlos teilzuhaben: zu lesen, zum Beispiel in Biblio-
sungsgerichts, von uns, aber auch von der Regierung er- theken, Sport zu treiben, Musik zu machen.
warten können. Sie sprechen immer über andere, und das
belastet die Debatte. Frau von der Leyen hat daher vor- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Kostenlos gibt es
weg gesagt: Man führt diese Debatte besser mit Engage- nicht, Herr Kollege! Nur gebührenfrei!)
ment, aber nicht mit Schaum vor dem Mund. Sie haben
am Ende immer Schaum vor dem Mund. Dies bietet vielleicht eine Brücke für eine leidige De-
batte, die immer wieder aufkommt und leider auch in
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
dieser Runde mitschwingt: Was ist eigentlich, wenn die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
einen durch Gutscheine unterstützt werden, andere aber
Es ist gut, dass Sie, Frau von der Leyen, einen ande- keine Gutscheine bekommen? Wenn wir starke Schulen,
ren Duktus, einen Duktus der Einfühlung, des Sichausei- starke Kindertagesstätten, starke Bildungseinrichtungen
(B) nandersetzens mit den Lebenslagen dieser Menschen, ei- für alle haben, dann beantwortet sich diese Frage jenseits (D)
nen Duktus der Kooperation in die Debatte gebracht jeder Diskriminierung. Wenn alle eine gute Schule besu-
haben. chen, wenn alle eine gute Kindertagesstätte besuchen,
stellt sich diese Frage nämlich nicht mehr. Wir werben
Für die SPD-Fraktion darf ich Ihnen sagen: Dann
dafür, dass Sie sich dem Kooperationsgedanken ver-
muss man, wo es um eine konkrete Kooperationsauf-
gabe geht, die in einem Zusammenhang steht mit der Si- pflichtet fühlen und gute Bildungsinfrastruktur – im
tuation von Menschen in Armut, die Arbeit brauchen, Geist des Bundesverfassungsgerichts: gebunden an die
zeigen, dass man wirklich kooperationsfähig ist. Wir ha- Würde des Menschen, gebunden an die Würde des Kin-
ben das Angebot gemacht, das Urteil des Bundesverfas- des und im Sinne seiner Entwicklungsmöglichkeiten –
sungsgerichts zum Besten der Arbeitsuchenden, der El- langfristig mit aufbauen.
tern und der Kinder in Richtung einer gemeinsamen Es besteht gewaltiger Zeitdruck. Ein wichtiges Datum
Aufgabenverantwortung umzusetzen. Dann müssen Sie ist der nächste Bildungsgipfel. Dieser Bildungsgipfel
aber auch kommen und das mit uns zusammen umsetzen
darf kein Finanztransfergipfel werden, er muss ein Bil-
dürfen.
dungsgipfel werden, bei dem der Bund die Länder, aber
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch die Kommunen einbezieht und alle gemeinsam
Standards verabreden, die von Pasewalk bis Berchtesga-
Herr Kauder ist jetzt gegangen, Herr Röttgen war gar den garantiert werden. Die Kinderrechte sind schließlich
nicht hier. Sie haben da etwas wiedergutzumachen. unteilbar, sie müssen in ganz Deutschland geachtet wer-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) den. Wir müssen garantieren, dass nicht nur die Bil-
dungsstandards in Deutschland gleich sind, sondern
Sie haben hier die Möglichkeit, darüber zu sprechen, auch ihre Umsetzung. Wir müssen schrittweise zu einem
dass die Menschen schnell in Arbeit vermittelt werden kostenlosen guten Angebot kommen. Das Bundesverfas-
müssen und dass wir Arbeitsfördermaßnahmen im Bil- sungsgericht würde das anerkennen. Es würde sagen:
dungsbereich brauchen. Das müssen Sie aber auch ga- Wenn die Standards umgesetzt sind, dann sieht die Frage
rantieren. Können Sie da für die ganze Regierung spre- der Bedarfssätze ganz anders aus; denn der Bildungsbe-
chen? Dies ist Ihre Bewährungsprobe: Sie müssen im
darf wäre bei allen abgedeckt. Wir wollen Ihnen dies
Zusammenhang mit dem Urteil des Bundesverfassungs-
gerne als Kooperationsangebot unterbreiten. Wir wissen,
gerichts Ernsthaftigkeit zeigen. Sie dürfen nicht nur re-
dass Sie dafür die Kooperation von Bund, Ländern und
den, sondern müssen zu Ergebnissen kommen.
Kommunen brauchen. Nutzen Sie die Chance des Bil-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) dungsgipfels.
2068 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) Noch einmal: Nutzen Sie auch die Chance, dass es Auch für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro (C)
sich diese Regierung nicht selber schwerer macht, als es kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt
ja offensichtlich ist. Man muss nur in das Rund gucken werden.
und weiß nicht, wie Herr Westerwelle in dieser Debatte
eigentlich mit sich umgeht. Aber auch die CDU/CSU ist Was ist nun festgestellt worden? Der entscheidende
keineswegs begeistert gewesen. Es ist auch anzumerken, Auftrag des Bundesverfassungsgerichts ist es auf der ei-
welcher Rollenwechsel dabei stattfand. Ich will nicht po- nen Seite, für eine bessere und einfacher nachvollzieh-
lemisch fragen, ob Sie Herrn Westerwelle eigentlich am bare Begründung der Regelsätze zu sorgen. Auf der an-
liebsten nicht auf der Regierungsbank sehen würden. deren Seite geht es darum, eine transparente und
Dies kann nicht das sein, was mit diesem ernsthaften nachvollziehbare Berechnungsgrundlage vorzulegen und
Verfassungsgerichtsurteil von uns allen im Interesse der umzusetzen.
Kinder erwartet wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Herr Westerwelle, denken Sie an die Kinder und die Dieser Aufgabe wird sich die Koalition annehmen, und
betroffenen Menschen. wir werden dies ganz besonders nachvollziehen – und
(Joachim Poß [SPD]: Dieser Schaumschläger das in aller Konsequenz.
doch nicht!) Doch für die Wahrnehmung dieser Verantwortung – dies
Wenn Sie diese Stärke ausdrücken könnten, dann wäre hat lebensbestimmende Bedeutung für die Betroffenen;
das ein guter Beitrag dafür, die Solidarität und den Zu- wir haben heute schon mehrfach die Zahlen gehört, wie
sammenhalt in Deutschland zu sichern. Leider schaffen viele Menschen in unserem Land das sind – ist es wenig
Sie es bisher nur, zu spalten. Das ist zu wenig. hilfreich, hier vollkommen unrealistische Dinge vorzu-
tragen und Erwartungen zu schüren. Das sind in meinen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Augen ganz eindeutig rot-grüner Klamauk und rot-grüne
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stimmungsmache an der falschen Stelle.
Joachim Poß [SPD]: Daran hat er in der
Schweiz nicht gedacht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Gott sei Dank haben die Bundesministerin für Ar-
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat beit und einige der Redner, die heute am Ende der De-
der Kollege Peter Wichtel von der CDU/CSU-Fraktion batte gesprochen haben, tatsächlich zu dem Thema und
das Wort. zu den Kindern, die das ja hauptsächlich betrifft, gespro-
(B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen. Ich darf deswegen nochmals dazu aufrufen, dass (D)
wir gemeinsam bei der weiteren Bearbeitung, wie von
der Bundesministerin vorgetragen und von der christ-
Peter Wichtel (CDU/CSU): lich-liberalen Koalition beabsichtigt, den Blick auf das
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Thema Kinder richten und dieses Thema anpacken.
ren! Vor 16 Tagen hat das Bundesverfassungsgericht in Wichtig ist, dazu beizutragen, dass bereits bestehende
Karlsruhe das Urteil zum SGB II gesprochen. Wenn ich Möglichkeiten, die zum Beispiel der vorliegende Krite-
mir die Debatte von gestern und seit dem damaligen Tag rienkatalog schon jetzt für die Härtefälle vorsieht, ge-
in Erinnerung rufe, dann kann ich mir nicht vorstellen, nutzt werden können, und bei Transferempfängern und
dass sie bei der Bedeutung, die diese Thematik für die besonders bei den Kindern, die unser Lebensmittelpunkt
Betroffenen hat, für sie in einer angemessenen sachli- und unsere Zukunft sind, darauf zu achten, dass das, was
chen Art und Weise geführt worden ist. zusätzlich benötigt wird, als Sonderbedarf geltend ge-
Nicht zuletzt durch die beiden vorliegenden Anträge macht werden kann und vorgehalten wird.
wird stattdessen verdeutlicht, dass bis heute unnötige
Als Hintergrund ist aus meiner Sicht für die Zukunft
und unrealistische Versprechungen und ein verzerrtes
Folgendes notwendig: Erstens müssen die Belange der
Bild der Sachlage übermittelt werden.
Kinder entsprechend berücksichtigt werden. Zweitens
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) muss der Regelsatz überprüft werden. Er muss nachvoll-
ziehbar sein und darf keiner Pauschalierung unterliegen.
Dabei ist das Urteil zu den SGB-II-Regelsätzen ein- Drittens müssen wir unbedingt die Bildungsmöglichkei-
deutig ausgefallen, und es lässt nur wenig Spielraum für ten verbessern, und wir müssen darauf hinwirken, dass
Interpretationen zu. Lassen Sie mich daher die entschei- die Kinder, die von uns zu Recht Unterstützung bekom-
denden Aussagen des Urteils an dieser Stelle noch ein- men, nicht später ebenfalls Hartz-IV-Empfänger bzw.
mal hervorheben und unterstreichen. SGB-II-Empfänger – der Begriff „Hartz IV“ gefällt mir
Sowohl die Höhe der Regelsätze als auch deren Be- nicht besonders – werden. Ich denke, wir müssen darauf
rechnungsmethode sind im Grundsatz bestätigt worden. achten, dass da geholfen wird, wo die Lebenslage es er-
Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Papier, fordert.
hat verdeutlicht, dass die Beträge zur Sicherstellung des
Dies bedeutet aus meiner Sicht unter anderem auch,
Existenzminimums nicht als evident unzureichend er-
dass darüber nachgedacht wird, wie wir helfen können.
kannt werden können.
Dabei darf das Thema Sach- und Dienstleistungen nicht
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!) ausgespart werden. Das heißt für mich, dass wir auch die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2069
Peter Wichtel
(A) Teilhabe an außerschulischem Sport und musischen Fä- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind (C)
chern sowie Nachhilfe ermöglichen müssen. Das Zur- die Überweisungen so beschlossen.
Verfügung-Stellen von Schulmaterial, Theaterbesuche
und andere Dinge gehören auch zur Teilhabe am Alltags- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 f sowie
leben. Zusatzpunkte 7 a bis 7 d auf:

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben 23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
bei der Realisierung der Nachhaltigkeit Bildungsmög- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
lichkeiten für Kinder in Familien zu schaffen. Das ist ein rung des Abkommens vom 15. Dezember 1950
Beleg dafür, dass die christlich-liberale Koalition ihrer über die Gründung eines Rates für die Zusam-
Verantwortung gerecht werden wird. menarbeit auf dem Gebiete des Zollwesens

Lassen Sie mich zu der Thematik, die der eine oder – Drucksache 17/759 –
andere gerade von denjenigen angesprochen hat, die als Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Gesetzgeber und Mehrheitsfraktion Hartz IV eingeführt
haben, ganz deutlich sagen: Den, der heute von der Men- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
schenwürde redet – ich fasse mich bewusst kurz, weil gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
mir sonst die Zeit wegläuft –, frage ich, wo er sein Ge- Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes
wissen hatte, als er das Gesetz beschlossen hat.
– Drucksache 17/719 –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Das sind dieselben Redner, die heute so getan haben, als Verbraucherschutz (f)
hätten sie mit dem Gesetz nichts zu tun Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Sie haben meine Rede! Lesen Sie es c) Erste Beratung des von den Abgeordneten
mal nach! Dann wissen Sie, was ich gesagt Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg),
habe!) Nicole Maisch, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
– das ist Rot-Grün –, und nach dem Motto „Haltet den brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung
Dieb! Da ist der Verbrecher!“ auf die jetzige Regierung der Privatisierung von bundeseigenen oberir-
zeigen. dischen Gewässern
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Drucksache 17/653 –
(B) (D)
NEN]: Das ist sehr originell!)
Überweisungsvorschlag:
Sie hatten genügend Zeit, das zu ändern. Das haben Sie Haushaltsausschuss (f)
an keiner Stelle getan. Innenausschuss
Rechtsausschuss
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
der FDP) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Lassen Sie mich zusammenfassend zum Schluss Ausschuss für Tourismus
kommen. Wir, die christlich-liberale Koalition, werden d) Erste Beratung des von den Abgeordneten Birgitt
uns mit den Themen, die uns das Bundesverfassungsge- Bender, Brigitte Pothmer, Elisabeth
richt auferlegt hat, befassen. Wir werden uns die Kinder- Scharfenberg, weiteren Abgeordneten und der
regelsätze ansehen. Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind uns brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaf-
unserer Aufgabe bewusst. Wir werden zuverlässig und fung der Benachteiligung von privat versicher-
richtig handeln. Dazu laden wir auch Sie ein. ten Bezieherinnen und Beziehern von
Arbeitslosengeld II
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
– Drucksache 17/548 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ausschuss für Arbeit und Soziales
Herr Kollege Wichtel, auch Ihnen gratuliere ich im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Klaus Ernst, wei-
(Beifall) terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ich schließe die Aussprache. Private Kranken- und Pflegeversicherung –
Existenzminimum zukünftig auch für Hilfebe-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf dürftige
den Drucksachen 17/675 und 17/659 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind – Drucksache 17/780 –
2070 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Überweisungsvorschlag: Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvor- (C)
Ausschuss für Gesundheit (f) ständen reformieren
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 17/798 –
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald Überweisungsvorschlag:
Weinberg, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, Finanzausschuss (f)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Rechtsausschuss
LINKE Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
Gesetzliche Krankenversicherung für Solo- ten Verfahren ohne Debatte.
Selbstständige bezahlbar gestalten Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
– Drucksache 17/777 – die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f) Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 24 a bis
24 m. Es handelt sich dabei um die Beschlussfassung zu
ZP 7 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Hänsel, Sevim Dağdelen, Jan van Aken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Tagesordnungspunkt 24 a:

Nachhaltige Hilfe für Haiti: Entschuldung Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
jetzt – Süd-Süd-Kooperation stärken von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
– Drucksache 17/774 – Nr. 187 der Internationalen Arbeitsorganisa-
Überweisungsvorschlag: tion vom 15. Juni 2006 über den Förderungs-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und rahmen für den Arbeitsschutz
Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss – Drucksache 17/428 –
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Ute Koczy, Uwe Kekeritz, weiterer Ab- – Drucksache 17/579 –
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN Berichterstattung:
(B) Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) (D)
Haiti entschulden und langfristig beim Wie-
deraufbau unterstützen Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/579,
– Drucksache 17/791 – den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck-
Überweisungsvorschlag: sache 17/428 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Entwicklung (f) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe entwurf einstimmig angenommen.
Haushaltsausschuss
Tagesordnungspunkt 24 b:
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Alexander
ausschusses (6. Ausschuss)
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Übersicht 2
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
Europäische Tierversuchsrichtlinie muss ethi-
ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
schem Tierschutz Rechnung tragen – Stellung-
gericht
nahme des Deutschen Bundestages gemäß Ar-
tikel 23 Absatz 3 Grundgesetz – Drucksache 17/811 –
– Drucksache 17/792 – Wer für diese Beschlussempfehlung stimmt, den bitte
Überweisungsvorschlag: ich um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
Verbraucherschutz (f) nommen.
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Tagesordnungspunkt 24 c:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-
Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, fassungsgericht – 2 BvF 1/09
Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 17/812 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2071
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 24 h: (C)
Abgeordneter Siegfried Kauder (Villingen- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Schwenningen) ausschusses (2. Ausschuss)
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Sammelübersicht 34 zu Petitionen
empfehlung, in dem Verfahren eine Stellungnahme abzu-
geben und den Präsidenten zu bitten, Herrn Professor – Drucksache 17/668 –
Dr. Pünder als Bevollmächtigten zu bestellen. Wer dafür Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer stimmt gen? – Sammelübersicht 34 ist gegen die Stimmen der
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak-
ist einstimmig angenommen. tionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 d: Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
ausschusses (2. Ausschuss)
SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN Sammelübersicht 35 zu Petitionen
Erneute Überweisung von Vorlagen aus frühe- – Drucksache 17/669 –
ren Wahlperioden Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 35 ist gegen die Stimmen der
– Drucksache 17/790 – SPD-Fraktion mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen
Wer stimmt für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – angenommen.
Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig angenom- Tagesordnungspunkt 24 j:
men.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- ausschusses (2. Ausschuss)
titionsausschusses. Sammelübersicht 36 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 24 e: – Drucksache 17/670 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
ausschusses (2. Ausschuss) gen? – Sammelübersicht 36 ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen
(B) Sammelübersicht 31 zu Petitionen von der Fraktion Die Linke und dem Bündnis 90/Die (D)
Grünen angenommen.
– Drucksache 17/665 –
Tagesordnungspunkt 24 k:
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 31 ist einstimmig angenom- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
men. ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 37 zu Petitionen
Tagesordnungspunkt 24 f:
– Drucksache 17/671 –
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 37 ist mit den Stimmen der Ko-
Sammelübersicht 32 zu Petitionen alitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Ge-
genstimmen von SPD und den Grünen angenommen.
– Drucksache 17/666 –
Tagesordnungspunkt 24 l:
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
gen? – Sammelübersicht 32 ist mit den Stimmen der Ko- ausschusses (2. Ausschuss)
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Sammelübersicht 38 zu Petitionen
Grünen angenommen. – Drucksache 17/672 –
Tagesordnungspunkt 24 g: Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 38 ist mit den Stimmen der Ko-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- alitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
ausschusses (2. Ausschuss) men der Linken und der Grünen angenommen.
Sammelübersicht 33 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 24 m:
– Drucksache 17/667 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 33 ist wiederum einstimmig an- Sammelübersicht 39 zu Petitionen
genommen. – Drucksache 17/673 –
2072 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- – zu der Unterrichtung der Bundesregierung (C)
gen? – Sammelübersicht 39 ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositions- Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
fraktionen angenommen. schen Parlaments und des Rates zur Ein-
richtung einer Europäischen Wertpapier-
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 5 a aufsichtsbehörde (inkl. 13648/09, 13645/09,
und 5 b: 13652/09, 13653/09 und 13658/09)
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- KOM (2009) 503 endg.; Ratsdok. 13654/09
gebrachten Entwurfs eines Ausführungsgesetzes – zu der Unterrichtung der Bundesregierung
zur Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom Arbeitsdokument der Kommissionsdienst-
16. September 2009 über Ratingagenturen stellen – Zusammenfassung der Folgenab-
(Ausführungsgesetz zur EU-Ratingverordnung) schätzung (inkl. 13648/09, 13645/09, 13652/
09, 13653/09, 13654/09)
– Drucksache 17/716 –
Überweisungsvorschlag:
SEK (2009) 1235 endg.; Ratsdok. 13658/09
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss
– zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Ände-
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- rung der Richtlinien 1998/26/EG, 2002/87/
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) EG, 2003/6/EG, 2003/41/EG, 2003/71/EG,
2004/39/EG, 2004/109/EG, 2005/60/EG, 2006/
– zu der Unterrichtung der Bundesregierung 48/EG, 2006/49/EG und 2009/65/EG im Hin-
Vorschlag für eine Entscheidung des Rates blick auf die Befugnisse der Europäischen
zur Übertragung besonderer Aufgaben im Bankaufsichtsbehörde, der Europäischen
Zusammenhang mit der Funktionsweise des Aufsichtsbehörde für das Versicherungswe-
Europäischen Ausschusses für Systemrisi- sen und die betriebliche Altersversorgung
ken auf die Europäische Zentralbank (inkl. und der Europäischen Wertpapieraufsichts-
13648/09, 13652/09, 13653/09, 13654/09 und behörde (Text von Bedeutung für den EWR)
13658/09) KOM (2009) 576 endg.; Ratsdok. 15093/09
(B) KOM (2009) 500 endg.; Ratsdok. 13645/09 (D)
– Drucksachen 17/136 Nr. A.35, 17/136 Nr. A.36,
17/136 Nr. A.37, 17/136 Nr. A.38, 17/136
– zu der Unterrichtung der Bundesregierung
Nr. A.39, 17/136 Nr. A.40, 17/178 Nr. A.10,
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- 17/5091) –
schen Parlaments und des Rates über die Berichterstattung:
gemeinschaftliche Finanzaufsicht auf Ma- Abgeordnete Ralph Brinkhaus
kroebene und zur Einsetzung eines Europäi- Manfred Zöllmer
schen Ausschusses für Systemrisiken (inkl.
Frank Schäffler
13645/09, 13652/09, 13653/09, 13654/09,
Dr. Gerhard Schick
13658/09)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
KOM (2009) 499 endg.; Ratsdok. 13648/09 Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
– zu der Unterrichtung der Bundesregierung spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates zur Ein- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
richtung einer Europäischen Bankaufsichts- ner dem Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Koschyk
behörde (inkl. 13648/09, 13645/09, 13653/09, für die Bundesregierung das Wort.
13654/09, 13658/09) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
KOM (2009) 501 endg.; Ratsdok. 13652/09
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
– zu der Unterrichtung der Bundesregierung desminister der Finanzen:
Vorschlag für eine Verordnung des Europäi- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
schen Parlaments und des Rates zur Ein- gen! Ratingagenturen spielen eine wichtige Rolle für das
richtung einer Europäischen Aufsichtsbe- Funktionieren von Finanzmärkten. Wir mussten feststel-
hörde für das Versicherungswesen und die len, dass die Ratingagenturen im Zusammenhang mit der
betriebliche Altersversorgung (inkl. 13648/
09, 13645/09, 13652/09, 13654/09, 13658/09) 1) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung wurde von der Druckle-
gung der Ratsdokumente (Anlagen zu Drucksache 17/509) abgese-
KOM (2009) 502 endg.; Ratsdok. 13653/09 hen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2073
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
(A) Finanzmarktkrise, deren Auswirkungen auf die Real- machen müssen. Sie müssen angewandte Methoden und (C)
wirtschaft wir überwinden müssen, ihrer Verantwortung Modelle, historische Ausfallquoten von Ratingkatego-
nicht gerecht geworden sind. Im Gegenteil: Ratingagen- rien oder eine Liste ihrer größten Kunden in Zukunft re-
turen müssen als Mitverursacher und -auslöser der Krise gelmäßig veröffentlichen.
angesehen werden. Die Agenturen haben die verschlech-
terte Marktlage ihrer Ratings nicht früh genug zum Aus- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja,
druck gebracht. Es ist aber auch nicht gelungen, Ratings Transparenz!)
rechtzeitig anzupassen, als sich die Krisensituation zuge-
Die Verordnung enthält detaillierte Regelungen für den
spitzt hatte. Dies gilt insbesondere für die Bewertung der
zukünftigen Umgang der Agenturen mit Interessenkon-
Agenturen im Bereich der sogenannten strukturierten
flikten. Beratungsleistungen für bewertete Unternehmen
Produkte.
dürfen beispielsweise nicht mehr erbracht werden.
Als ein Grund für die Fehlbewertung der Ratingagen-
turen müssen zweifellos die zum Zeitpunkt der Krise be- Nun handelt es sich bei der EU-Ratingverordnung
stehenden Marktstrukturen angesehen werden. Agentu- zwar grundsätzlich um eine unmittelbar anwendbare eu-
ren berieten Emittenten zur Strukturierung von Produkten ropäische Verordnung. Jedoch gibt diese Verordnung
und berechneten dafür Gebühren; im Anschluss bewerte- den Mitgliedstaaten auf, selbst gewisse Vorkehrungen zu
ten dieselben Agenturen die Produkte, die sie selber mit treffen, um die Voraussetzungen für die operative Auf-
konzipiert hatten. Das Bestehen eines Interessenkonflik- sicht über die Agenturen herzustellen. Die Zeitvorgaben
tes bei Agenturen in einer solchen Konstellation ist offen- der Verordnung sind dabei anspruchsvoll. Schon ab
sichtlich. 7. Juni 2010 sollen die Agenturen ihre Registrierungsan-
träge stellen können.
Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, die Rating-
agenturen einer effizienten Regulierung und Beaufsichti- Mit dem heute vorgelegten Entwurf eines Ausfüh-
gung zu unterstellen. Sowohl auf nationaler als auch auf rungsgesetzes hat die Bundesregierung schnell auf diese
europäischer und internationaler Ebene wurden Defizite europäischen Vorgaben reagiert. Die Bundesanstalt für
erkannt und entsprechende Konsequenzen gezogen. Die Finanzdienstleistungsaufsicht wird als zuständige Be-
G 20 haben sich bereits im April des vergangenen Jahres hörde für die Beaufsichtigung der Ratingagenturen be-
auf eine effektive Beaufsichtigung der Ratingagenturen nannt.
verständigt. Zudem wurde der Baseler Ausschuss aufge- Daneben wird ein Katalog von Bußgeldtatbeständen
fordert, die Rolle der externen Ratings für regulatorische in das Wertpapierhandelsgesetz eingefügt. Dies ist erfor-
Zwecke auf mögliche Fehlanreize hin zu überprüfen. derlich, um Verstöße gegen die EU-Ratingverordnung
(B) Der Baseler Ausschuss hat dann in seinem Konsulta- auch ahnden zu können. Bei besonders gravierenden (D)
tionspapier vom Dezember des vergangenen Jahres Verstößen, etwa wenn eine Agentur bei demselben Un-
Überlegungen vorgestellt. Insbesondere soll die Trans- ternehmen berät und bewertet, sollen Bußgelder bis zu
parenz der externen Ratings erhöht werden, und die Kre- 1 Million Euro verhängt werden können. Solch poten-
ditinstitute sollen angehalten werden, ihre Kreditrisiken ziell hohe Bußgelder sind aus Sicht der Bundesregierung
unabhängig von externen Ratings selbstständig zu analy- angesichts der Bedeutung der Agenturen für das Ver-
sieren. Zudem wird der Financial Stability Board im trauen in die Finanzmärkte voll gerechtfertigt und ver-
März ein Diskussionspapier zu möglichen Risiken für hältnismäßig.
Finanzstabilität durch Verwendung externer Ratings für
regulatorische Zwecke vorlegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
In der Europäischen Union hat der Europäische Rat
bereits im März 2008, also sehr frühzeitig, Schlussfolge- Schließlich wird eine Erstattung der Kosten, die der
rungen formuliert, um den größten Schwächen des Fi- Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht bei Prü-
nanzsystems entgegenzuwirken. Zur Regulierung der fungen von Ratingagenturen entstehen, durch die betrof-
Ratingagenturen wurde die EU-Ratingverordnung ver- fenen Ratingagenturen vorgesehen. Dies entspricht den
handelt, die letztlich dann am 7. Dezember 2009 in Kraft Finanzierungsregelungen der Bundesanstalt.
trat und Grund für das Ihnen heute vorliegende Ausfüh-
rungsgesetz ist. Die wesentlichen Inhalte der Regulie- Wir bitten um eine schnelle, konstruktive Beratung
rung und operativen Aufsicht über die Agenturen sind dieses Gesetzentwurfes. Wie Sie sicher wissen, sind auf
Gegenstand dieser Verordnung. Wir sind froh, dass mit europäischer Ebene – auch darüber berichten wir vonsei-
der Verordnung auf europäischer Ebene auch im interna- ten der Bundesregierung – Planungen in vollem Gang,
tionalen Vergleich Maßstäbe gesetzt wurden, was Anfor- die Ratingagenturen auch auf europäischer Ebene beauf-
derungen an Agenturen angeht; denn Ratingagenturen, sichtigen zu lassen. Wenn die entsprechenden europäi-
die künftig in der EU tätig werden sollen, müssen sich schen Regelungen in Kraft sind, werden wir zu dem
registrieren lassen und strenge Vorgaben einhalten. heute zu diskutierenden und zu beratenden Ausführungs-
gesetz schnell die erforderlichen Anpassungen vorneh-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und men müssen.
der FDP)
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Zu diesen Vorgaben gehört es, dass die Agenturen
ihre Tätigkeit auch für die Öffentlichkeit transparenter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2074 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Damit sind wir an einem wichtigen Punkt angelangt: (C)
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der Wer verdient woran? Herr Staatssekretär hat es angedeu-
SPD-Fraktion. tet: Die Neuemissionen wurden von verschiedenen Ra-
tingagenturen geprüft. Geld bekam aber nur diejenige
(Beifall bei der SPD) Agentur, die auch den Auftrag bekam. Das heißt im
Klartext: Es gab einen massiven finanziellen Anreiz für
Manfred Zöllmer (SPD): die Agenturen, eine möglichst gute Bewertung zu verge-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die ben, um den Auftrag des Emittenten zu erhalten. Rating-
entscheidende Frage, die wir im Zusammenhang mit der agenturen sind nicht die Caritas; sie sind gewinnorien-
globalen Finanz- und Wirtschaftskrise beantworten müs- tierte Unternehmen. Sie waren teilweise in beratender
sen, lautet: Was waren die Ursachen dieser Finanzkrise, Funktion für Finanzinstitute zuständig, deren Produkte
und was müssen wir ändern, um sicherzustellen, dass von ihnen anschließend bewertet wurden, Produkte, die
sich dieses Desaster nicht wiederholt? Es gibt unbestreit- sie teilweise sogar selbst mitentwickelt haben. Das ist
bar ein Ursachenbündel. Ein wichtiger Aspekt war die ungefähr so, als wenn ein Profischiedsrichter bei einem
Tätigkeit der Ratingagenturen. Fußballspiel nur dann Geld bekommt, wenn eine be-
stimmte Mannschaft gewinnt.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat es
Die Frage lautet: Welche Rolle spielten die Ratingagen- auch schon gegeben, Herr Kollege!)
turen bei der Entstehung der Finanzkrise?
– Ja, wir haben darüber in der Vergangenheit schon eini-
Schauen wir uns das einmal an: In Deutschland sind ges gehört.
mit Standard & Poor’s, Moody’s, Fitch und Dominion
Wir haben es hier mit einem System zu tun, in das In-
Bond Rating Service insgesamt vier große Ratingagentu-
teressenkonflikte inhärent eingebaut sind. Es ist ein Sys-
ren von der Bundesbank und der Bundesanstalt für Fi-
tem, das marktwirtschaftlichen Grundsätzen hohn-
nanzdienstleistungsaufsicht aufsichtsrechtlich anerkannt.
spricht. Es gibt keine Haftung für Schlechtleistung,
Der Markt für Ratingagenturen ist hoch konzentriert. Ba-
keine Sanktionen für wirtschaftliches Versagen. Das
sis ihrer Arbeit war bisher ein Verhaltenskodex der Wert-
konnte nicht gut gehen. Mir ist es ein Rätsel, warum man
papieraufsehervereinigung IOSCO. Er sollte die Qualität
dies nicht früher kritisiert und verändert hat.
und Seriosität des Ratingprozesses sicherstellen und Inte-
ressenkonflikte vermeiden. (Beifall bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]:
Sie stellten doch elf Jahre den Finanzminis-
Die Finanzkrise hat in aller Schärfe deutlich gemacht: ter!)
(B) Diese Art der Selbstverpflichtung und Regulierung hat (D)
vollständig versagt. Der Präsident der BaFin, Jochen Sa- – Das ist im Übrigen Ihre einzige Erklärung. Das ist ein
nio, hat es in der von ihm gewohnt klaren Art so be- bisschen wenig.
schrieben
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber eine
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: In der Sprache nachvollziehbare Erklärung!)
war er immer stark!) Nun kann man Ratingagenturen aber nicht einfach ab-
– ja, genau –: Viele Käufer dieser verbrieften, also in schaffen. Ratingagenturen sind dringend notwendig.
Wertpapiere umgewandelten Kredite haben diese nicht Selbst die BaFin ist darauf angewiesen. Mit rund
nur „erworben, ohne die geringste Ahnung von den Risi- 1 700 Mitarbeitern beaufsichtigt die BaFin 2 100 Ban-
ken zu haben“. Sie haben dabei auch „blind den guten ken und über 600 Versicherungen. Sie muss die Risiko-
Ratings der Ratingagenturen vertraut“. situation dieser Institute analysieren und ist dabei auf die
Arbeit der Ratingagenturen angewiesen. Sie kann die
Es waren relativ neue Formen von Wertpapieren, die Arbeit dieser Agenturen nicht auch noch selbst überneh-
diese Ratingagenturen geratet haben. Die Ratingagentu- men.
ren wurden als vertrauenswürdige Experten angesehen.
Etliche Investoren und viele Steuerzahlerinnen und Steu- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist
erzahler zahlen nun horrendes Lehrgeld für diese Fehl- richtig!)
einschätzung. Die Schlussfolgerung daraus: Wir sind auf ein gut
Ein gravierendes Beispiel dafür waren die US-Immo- funktionierendes Ratingwesen angewiesen und müssen
bilienkredite, sogenannte Subprime-Hypotheken, besi- daher die richtigen regulatorischen Konsequenzen zie-
cherte, sehr komplexe Anleihen. Sie stehen im Zentrum hen. Die EU-Kommission hat im April 2009 einen euro-
der Kreditkrise. Sie waren hochgeratet und wurden dann päischen Regulierungsrahmen für Ratingagenturen vor-
binnen weniger Tage von den gleichen Ratingagenturen gelegt. Ziel dieses Rahmens ist es, einen gemeinsamen
zu Schrottpapieren deklariert; aber dann war es bereits Ansatz einzuführen, um die Integrität, die Transparenz
zu spät. Da kann man besser gleich zu den Damen ge- sowie die Verlässlichkeit von Ratingtätigkeiten zu
hen, die auf dem Jahrmarkt vor einer Kristallkugel sitzen fördern und die Qualität der Arbeit insgesamt zu verbes-
und eine schwarze Katze auf der Schulter haben. Ich sern. Die Verordnung enthält unter anderem Bedingun-
glaube, deren Rating ist auch noch erheblich preiswerter. gen zur Abgabe von Ratings sowie weitere Organisa-
tions- und Verhaltensregeln für Ratingagenturen. Sie
(Beifall bei der SPD) sollen deren Unabhängigkeit fördern und Interessenkon-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2075
Manfred Zöllmer
(A) flikte vermeiden. Die Umsetzung in deutsches Recht er- Konkret soll ein europäischer Ausschuss für System- (C)
folgt nun mit der Vorlage des Gesetzentwurfs der Bun- risiken eingerichtet werden. Er soll die makroökonomi-
desregierung im Wertpapierhandelsgesetz, und das sche, systemische Aufsichtskomponente abdecken. Auf
macht Sinn. der Ebene darunter soll es eine europäische Bankenauf-
sichtsbehörde, eine europäische Aufsichtsbehörde für
In Deutschland wird nach diesem Gesetzentwurf die das Versicherungswesen und die betriebliche Altersver-
BaFin als nationale Aufsichtsbehörde tätig werden. Dies sorgung sowie eine europäische Wertpapieraufsichtsbe-
wird sicherlich dazu beitragen, die Transparenz des Ra- hörde geben. Die neuen EU-Behörden sollen schwer-
tings zu erhöhen. Aber sie wird natürlich nicht den kom- punktmäßig die Harmonisierung des Aufsichtsrechts
pletten Prozess beaufsichtigen können. Wir dürfen des- sowie verbindliche Leitlinien, zum Beispiel für die Zu-
halb die Banken nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. lassung und Überwachung von Finanzinstituten, erlas-
Es darf nicht sein, dass überforderte Vorstände alles ak- sen. Ebenso sollen sie die Entwicklung verbindlicher
zeptieren, was Ratingagenturen vorgelegt haben, da sie technischer Standards, zum Beispiel von Risikobewer-
die zugrunde liegenden Sachverhalte häufig nicht nach- tungsmodellen, übernehmen. Die tatsächliche Aufsicht
vollziehen konnten. Es muss die Aufgabe der Banken vor Ort soll den nationalen Aufsichtsbehörden überlas-
sein und bleiben, auch beim Vorliegen externer Ratings sen werden. So weit eine kurze Beschreibung der neuen
eine eigenständige Beurteilung des Kreditrisikos durch- Strukturen.
zuführen.
Die Neuordnung und -gestaltung der EU-Finanzauf-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Richtig! Das sicht ist sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Wir
war bisher auch schon Pflicht!) müssen uns aber fragen, ob dieses Modell einer sehr
stark national geprägten Finanzmarktaufsicht in der EU
– Nur haben sie es nicht getan, wie die Krise gezeigt angesichts der engen internationalen Verflechtungen den
hat. – Der Basler Ausschuss hat in seinen Vorschlägen vorhandenen Risiken im globalen Finanzmarkt wirklich
zu Recht gefordert, dass Banken in Zukunft keine Boni- gerecht wird. Ich habe da Zweifel. Wenn man sich ein-
tätseinschätzungen externer Ratingagenturen mehr unge- mal anschaut, welche Rolle die Bundesregierung in die-
prüft übernehmen dürfen. ser Frage gespielt hat, dann komme ich zu dem Schluss:
keine so gute. Unisono hieß es in der Wirtschaftspresse:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorgelegte Ge- Großbritannien und Deutschland waren die Bremser bei
setzentwurf der Bundesregierung ist ein erster Schritt in dem Prozess, in dem es darum ging, eine wirklich
die richtige Richtung, er reicht aus unserer Sicht aber schlagkräftige und handlungsfähige Aufsichtsstruktur zu
nicht aus; denn es werden die notwendigen Konsequen- implementieren.
zen aus dem Versagen der Ratingagenturen nicht in der
(B) (D)
Form gezogen, dass Wiederholungen der Fehler ausge- Das Ziel, zu verhindern, dass global agierende Player
schlossen sind. sich durch eine weiterhin national zersplitterte Zuständig-
keit einer wirksamen Aufsicht entziehen können, ist nicht
Dringend notwendig ist eine enge Zusammenarbeit erreicht worden. EZB-Präsident Jean-Claude Trichet for-
mit den USA. Die relevantesten Agenturen sind US-Un- mulierte es so: Das ist sicherlich nicht die allerbeste Lö-
ternehmen. Sie dominieren den Markt. Wir brauchen sung. Dieser Mann weiß, wie man diplomatisch Ohrfei-
aber auch eine Stärkung des Wettbewerbs auf dem Ra- gen verteilt.
tingmarkt. Er ist zu stark konzentriert. Wir brauchen so
schnell wie möglich eine europäische Ratingagentur. Es ist eine neue, sehr komplexe Struktur entwickelt
Wir brauchen darüber hinaus Mechanismen, die das Ge- worden. Aber jeder kennt das von seinem Computer da-
schäftsmodell des Beratens und Bewertens so verändern, heim: Im laufenden Betrieb fragmentiert die Festplatte.
dass Interessenkonflikte tatsächlich vermieden werden. Wenn alles fragmentiert ist, läuft der Computer langsa-
Schließlich müssen Investoren zu mehr Eigenverantwor- mer oder stürzt irgendwann ab. Eine fragmentierte Auf-
tung bei der Bewertung von Risiken gezwungen werden. sicht so vieler Nationalstaaten ist unserer Meinung nach
Deshalb ist aus unserer Sicht die Bundesregierung gefor- nicht mehr die passende Antwort auf global agierende
dert, weitere Vorschläge zu machen, damit diese Ziele Finanzinstitute. Es muss mehr zusammengefasst und ge-
auch erreicht werden. bündelt werden. Die Aufsicht braucht Zähne. Sie muss
auch zubeißen können. Die neuen EU-Aufsichtsbehör-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen heute den haben selbst im Krisenfall keine Weisungsbefug-
aber auch über die Vorschläge für eine neue Struktur der nisse gegenüber einzelnen Finanzinstituten. Solche Be-
europäischen Finanzaufsicht. Die Finanzkrise hat auch fugnisse waren im ursprünglichen Entwurf der
hier unbarmherzig deutlich gemacht, wo die Schwach- Kommission noch vorgesehen. Die Finanzminister ha-
stellen liegen. In Zukunft soll es zum einen Institutionen ben es dann wieder hinausgekegelt.
geben, die sich auf makroökonomischer Ebene mit Sys-
Genau dann, wenn es ernst wird, sollen weiterhin
temrisiken beschäftigen, so eine Art systemischer
die nationalen Aufsichtsbehörden entscheiden. Das
Watchdog; zum anderen sollen sich verschiedene Institu-
ist genau das Gegenteil von dem, was notwendig
tionen auf der Mikroebene mit Banken, Börsen und Ver-
ist, wenn wir Instabilitäten künftig vermeiden wol-
sicherungen beschäftigen. Das europäische Finanzauf-
len.
sichtssystem soll eine Art Verbund nationaler und
europäischer Aufsichtsbehörden mit geteilten und sich Das ist ein wörtliches Zitat von Markus Ferber, seines
gegenseitig verschränkenden Zuständigkeiten sein. Zeichens Vorsitzender der CSU-Gruppe im Europaparla-
2076 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Manfred Zöllmer
(A) ment. Im Europaparlament wird es dagegen harten Wi- Die Regelungen, die auf EU-Ebene ausgehandelt (C)
derstand geben; das hat er angekündigt. Das Europapar- wurden, sind geeignet, Vertrauen zu schaffen. Das be-
lament hat bereits fraktionsübergreifend deutlich trifft die Stärkung der Unabhängigkeit und das Vermei-
gemacht, dass es der geplanten EU-Finanzaufsicht deut- den von Interessenkonflikten. Es ist schade, dass man so
lich mehr Kompetenzen geben will als bisher vorgese- etwas gesetzlich regeln muss. Eigentlich wäre das eine
hen. Ich halte das für richtig. Wir müssen deswegen das Selbstverständlichkeit. Man fasst sich an den Kopf,
Vorgeschlagene noch einmal ganz genau überprüfen. wenn man sieht, dass ausdrücklich geregelt werden
muss, dass nicht gleichzeitig beraten und bewertet wer-
Das Beispiel Finanzkrise und auch das neue Beispiel den darf. Was ist denn da passiert? Das ist so, als ob eine
Griechenland zeigen doch eines ganz deutlich: Wir müs- Autowerkstatt zugleich die TÜV-Abnahme vornähme.
sen uns von dem Gedanken lösen, dass wir die Probleme Dabei kann im Prinzip nicht viel Richtiges herauskom-
des 21. Jahrhunderts in einer globalisierten Welt und auf men.
einem europäischen Binnenmarkt mit einheitlicher Wäh-
rung mit dem nationalstaatlichen Denken des 19. Jahr- (Beifall bei Abgeordneten der FDP –
hunderts lösen können. Wir brauchen eine europäische Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Antwort auf die Krise. Wir brauchen mehr Kompetenzen NEN]: Was ist denn Ihr Verständnis von Ord-
in und für Europa in Wirtschaftsfragen. Wir brauchen nungspolitik? Natürlich muss man so etwas re-
auch hier ein neues Denken. Ich biete Ihnen dabei unsere geln!)
Unterstützung an. Ein bloßes „Weiter-so“ darf es nicht – Es ist auch gut, dass das geregelt wird. Es muss gere-
geben. gelt werden; denn es besteht Bedarf. Dementsprechend
Herzlichen Dank. begrüßen wir, dass wir hier so zügig vorankommen.

(Beifall bei der SPD) Das Gleiche betrifft die veränderten Methoden. Hier
sind vielfach noch Methoden im Einsatz gewesen, die
nun wirklich in die Mottenkiste gehören. Nach diesen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Methoden kann nicht mehr geratet werden; das muss an-
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger von der FDP- gepasst werden.
Fraktion.
Besonders interessant ist, dass offensichtlich trotz
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fehlender Daten ein Rating durchgeführt wurde. Auch
der CDU/CSU) hier wird nachgesteuert. Das ist wichtig.
Die vorgesehenen Bußgelder sind, so denke ich, in
(B) Björn Sänger (FDP): der Lage, abschreckende Wirkung zu entfalten. Eigent- (D)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- lich sind das, wie gesagt, Selbstverständlichkeiten. Das
ren! Die sehr zügige Vorlage dieses Gesetzentwurfs hätte der Markt regulieren müssen. Aber wir haben es
zeigt, dass die Bundesregierung in einer der elementars- – das ist schon angesprochen worden – in diesem Markt
ten Fragen der aktuellen Politik, nämlich der Finanz- nicht mit Wettbewerb zu tun. Im Prinzip gibt es nur drei
und Wirtschaftskrise, nicht nur handlungsfähig, sondern Anbieter – das ist ein sehr enges Oligopol –, die noch
auch handlungswillig ist. Ich denke, das muss man an nicht einmal untereinander im Wettbewerb stehen; denn
dieser Stelle deutlich sagen. häufig wird vorgeschrieben, dass zwei Ratings gemacht
werden sollen. Auch die Anbieter werden entsprechend
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten benannt. Deshalb können sich diese zurücklehnen und
der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Das ist brauchen sich nicht anzustrengen.
ja wohl eine Selbstverständlichkeit!)
Deswegen ist es wichtig, dass wir in diesem Markt
– Richtig, handlungswillig und handlungsfähig. Inner- mehr Wettbewerb schaffen.
halb kürzester Zeit wurde dieser Gesetzentwurf vorge-
legt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Es handelt sich um eine Vorlage, die auf EU-Ebene
erarbeitet wurde. Das ist vollkommen richtig, weil man Dazu gehört nicht nur der Versuch, eine europäische Ra-
die Probleme der Ratingagenturen, die global sind, nicht tingagentur aufzubauen. Vielmehr brauchen wir auch ei-
nur national betrachten kann. Finanzmärkte sind global. nen nationalen Markt. Es müssen mehr kleinere Unter-
Die Produkte sind international. Also muss auch die Re- nehmen in den Markt hineinkommen können, die dann
gelung auf dieser Ebene ansetzen. wachsen und eine schlagfähige Konkurrenz darstellen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Man muss sich den vorliegenden Entwurf noch ein-
der CDU/CSU) mal genau daraufhin anschauen, ob er in diesem Sinne
Wirkung entfaltet. Bei einigen darin enthaltenen Rege-
Richtig ist auch, ein neues Instrumentarium zu schaf- lungen werden wir im Zeitablauf sehen müssen, ob da-
fen, um die Anbieter auf europäischer Ebene zu beauf- durch Mindeststandards gesetzt werden können, was ja
sichtigen. Das findet unsere Zustimmung, ebenso wie grundsätzlich gut ist. Aber beispielsweise die geforder-
der Vorschlag, die BaFin so lange, bis die neuen Instru- ten zwei externen unabhängigen Aufsichtsräte mit Fach-
mente auf EU-Ebene ihre Wirkung entfalten, damit zu kenntnissen sind nicht so einfach zu finden, und sie sind
betrauen. auch nicht ganz preiswert. Das ist für die eine oder
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2077
Björn Sänger
(A) andere kleinere Agentur, die in den Markt eintreten will, dass meine Töchter untereinander mauscheln und es am (C)
möglicherweise eine Hürde. Ende genauso weitergeht wie heute?
Umso wichtiger ist es, dass die BaFin dafür sorgt, (Beifall bei der LINKEN)
dass die Regeln sachgerecht so ausgelegt werden, dass
auf der einen Seite ein Schutz besteht, sachgerecht gera- Das Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, mit techni-
tet wird und Vertrauen entstehen kann, dass sich aber auf schen Verfahrensregeln die Funktionsweise des gesam-
der anderen Seite Wettbewerb entwickeln kann, damit ten Ratingsystems zu verändern. Die EU-Ratingverord-
das enge Oligopol aufgebrochen werden kann. nung zielt darauf, die Urteile des Orakels technisch zu
verbessern. Ziel muss es aber sein, dieses Orakel zu ent-
Wir werden diese Entwicklung beobachten müssen. machten und die von ihm ausgehende Massenhysterie
Da ist auch die Bundesregierung aufgefordert, auf euro- auf den Finanzmärkten zu beenden. Insofern geht die
päischer Ebene gegebenenfalls nachzusteuern. Wir ste- EU-Ratingverordnung am Kern des Problems vorbei.
hen hinter diesem Gesetzentwurf. Er ist ein erster Bau- Das Beispiel Griechenland zeigt mehr als deutlich, zu
stein zur Sicherung unserer Finanzmärkte. Der welch einem Machtfaktor Ratingagenturen geworden
Koalitionsvertrag ist hier eindeutig. Der erste Schritt ist sind.
gemacht, und wir werden die weiteren Punkte abarbei-
ten. Kommen wir nun zur Umsetzung, zum Ausführungs-
gesetz selbst. Hier zeigt sich: Die EU-Ratingverordnung,
Herzlichen Dank. die viel zu kurz gesprungen ist, wird zu allem Überfluss
auch noch sehr fragwürdig umgesetzt. Jeder vernünftige
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Mensch würde erwarten, dass für die neu geplante Be-
der CDU/CSU)
aufsichtigung der Ratingagenturen durch die Finanzauf-
sichtsbehörden nun neue Abteilungen in den Aufsichts-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: behörden mit ausreichend und kompetentem Fach-
Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Axel Troost personal gebildet würden. Aber Fehlanzeige! In Ihrem
für die Fraktion Die Linke. Gesetzentwurf wird festgeschrieben, dass die jährlichen
(Beifall bei der LINKEN) Prüfungen von privaten Wirtschaftsprüfungsgesellschaf-
ten übernommen werden sollen. Das sind dann dieselben
KPMGs und PricewaterhouseCoopers, die seit Jahren at-
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): testieren, dass die Banken ihre Wertpapiere solide bilan-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ziert und ihre Risiken angemessen offengelegt haben,
Zunächst zu dem Ausführungsgesetz zur EU-Ratingver- dieselben Wirtschaftsprüfer, die bei der HRE und der
(B) ordnung. Hier stellen sich aus unserer Sicht zwei Fragen: Commerzbank, bei der BayernLB und der IKB jahrelang (D)
Erstens. Taugt die europäische Verordnung angesichts geschlafen oder sich sogar aktiv an der Verschleierung
des deutlich gewordenen Problems bei den Ratingagen- der Bilanzrisiken beteiligt haben. Ist es das, was die
turen? Zweitens. Setzt das Ausführungsgesetz diese Ver- Bundeskanzlerin mit ihrer Aussage gemeint hat, in Zu-
ordnung, sei sie nun mehr oder weniger geeignet, best- kunft würden kein Akteur und kein Produkt auf den Fi-
möglich in deutsches Recht um? nanzmärkten mehr unkontrolliert bleiben?
Die Ratingagenturen hatten und haben bei vielen Wenn wir eine wirkungsvolle Finanzaufsicht haben
Marktteilnehmern den Status des Orakels von Delphi, al- wollen – egal, ob bei Ratingagenturen, bei Banken oder
lerdings mit dem entscheidenden und wichtigen Unter- bei Versicherungen –, und das wollen wir Linken, dann
schied, dass man dieses moderne Orakel kaufen kann brauchen wir auch kompetentes und ausschließlich dem
und kaufen muss. Man kann es kaufen, weil man sich öffentlichen Auftrag verpflichtetes Personal in den Auf-
bisher von Ratingagenturen so lange für viel Geld bera- sichtsbehörden.
ten lässt, bis man das Rating bekommt, das man gerne
haben möchte. Man muss es kaufen, weil Basel II und (Beifall bei der LINKEN)
viele andere gesetzliche Regelungen es zur Auflage ge- Zum zweiten Punkt, zum Aspekt der Europäisierung
macht haben, dass jeder eine Weissagung des Orakels in der Finanzaufsicht. Wie eine Beaufsichtigung der Rating-
Form eines Ratings braucht, um auf dem Finanzmarkt agenturen ist selbstverständlich auch eine bessere euro-
überhaupt mitspielen zu dürfen. päische Vernetzung und Zusammenarbeit der Aufsichts-
Laut Verordnung sollen Ratingagenturen ihre Kunden behörden zu begrüßen. Aber das Problem steckt auch
nun in Zukunft nicht mehr beraten dürfen, wie sie ein hier im Detail.
besseres Rating bekommen. Aber was bedeutet das prak- Eine europäische Finanzaufsicht kann letztlich nie
tisch? Wenn ich eine Ratingagentur wäre, würde ich kur- besser sein als die vor Ort zusammengetragenen Er-
zerhand mein Beratungs- und Bewertungsgeschäft in kenntnisse. Der Fall HRE hat aufs Traurigste gezeigt,
zwei eigenständige Töchter aufteilen und anschließend dass die Zusammenarbeit schon auf nationaler Ebene
unter eine Holding hängen. Da das Gesetz gleichzeitig nicht funktioniert, dass relevante Erkenntnisse viel zu
fordert, dass die Ratingagenturen ihre Bewertungsme- spät zwischen Bundesbank, BaFin und Finanzministe-
thoden offenlegen, weiß meine Beratungstochter dann rium ausgetauscht wurden und damit ungenutzt blieben.
höchstoffiziell sehr genau, wie sie einen Kunden beraten
muss, damit dieser von meiner anderen Tochter ein opti- (Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Deshalb ändern
males Rating bekommt. Wie wollen Sie das verhindern, wir es ja jetzt!)
2078 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Axel Troost


(A) Neben den Schwächen auf nationaler Ebene ist auch große Debatte über eine Sache, zu deren Klärung Sie de (C)
sehr fraglich, ob die zu EU-Institutionen weiterentwi- facto nichts Entscheidendes beigetragen haben. Viel-
ckelten Ausschüsse für Banken-, Versicherungs- und mehr haben wir es mit einer EU-Verordnung zu tun, die
Wertpapieraufsicht überhaupt wirksam kontrollieren so umgesetzt werden muss, wie es auf europäischer
können. In den Verhandlungen über die europäische Fi- Ebene entschieden worden ist.
nanzaufsicht haben die alte, von der Großen Koalition
getragene Regierung und insbesondere der damalige (Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das hat
SPD-Finanzminister Steinbrück immer wieder für eine mit der EU gar nichts zu tun!)
Verwässerung der Eingriffsrechte dieser neuen Behörde Es handelt sich hierbei um einen Zwischenschritt, mit
gesorgt. Die neue Bundesregierung hat diese Position dem die Zeit überbrückt werden soll, bis eine europäi-
bislang nicht zurückgenommen. Noch laufen die Ver- sche Aufsicht die eigentliche Aufgabe wahrnehmen
handlungen; jetzt wäre der Moment für die neue Bundes- kann. Darüber gibt es jetzt eine große Debatte.
regierung, einen anderen Ton anzuschlagen.
Man muss feststellen: Sie lenken davon ab, dass bei
Abschließend noch eine Bemerkung zum neuen Aus- vielen Fragen überhaupt nicht klar ist, wohin die Reise
schuss für Systemrisiken bei der Europäischen Zentral- gehen soll. Mit diesem Gesetzentwurf wird vollzogen,
bank: So wichtig eine Stärkung der Aufsicht über die was der europäische Gesetzgeber vorgegeben hat. Für
Stabilität des Gesamtsystems ist, so groß ist meine Be- unsere Debatte wäre es wichtig, zu klären, welches die
fürchtung, dass dieser Ausschuss letztlich mit denselben nächsten Schritte sind. Darauf werde ich gleich noch
Expertinnen und Experten besetzt wird, die uns die letz- eingehen.
ten 15 Jahre die Segnungen deregulierter Finanzmärkte
gepredigt und uns genau dahin gebracht haben, wo wir (Frank Schäffler [FDP]: Ein nationaler Allein-
jetzt sind. gang bringt auch nichts!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht nicht nur – Hören Sie erst einmal zu.
um Strukturen, sondern es geht auch um Inhalte. Ein der- Die europäische Verordnung sieht wichtige Schritte
artiger Ausschuss braucht klare politische Leitlinien, die vor. Interessenkonflikte sollen in Zukunft vermieden
bisher nicht vorgesehen sind. Das vielleicht wichtigste werden, zum einen durch den Ansatz der Transparenz
Leitbild dafür müsste aus unserer Sicht sein: Lieber ein – das heißt, sie sollen offengelegt werden –, zum ande-
paar Regulierungen zu viel und dafür ein paar Prozente ren dadurch, dass man Beratung und Rating voneinander
weniger bei den Bankrenditen als umgekehrt. Die neue trennt. Das sind wichtige Lehren, die man aus der derzei-
Losung muss deshalb heißen: In dubio contra Casino. tigen Krise – und auch schon aus früheren Krisen – ge-
(B) Danke schön. zogen hat. (D)
(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der Die Frage ist aber: Wie gehen wir an die drei Haupt-
FDP: Oh!) probleme dieses Marktes heran? Diese Frage stellt sich
auch in der Zukunft; denn die Umsetzung der vorliegen-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den Verordnung reicht zur Beantwortung nicht aus. In
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für dieser Debatte habe ich bisher von den Vertretern der
Bündnis 90/Die Grünen. Koalition über die weiteren Schritte noch nichts gehört.
Darüber müssen wir aber diskutieren.
Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
NEN):
Lassen Sie mich auf einige Punkte eingehen. Der
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
erste Punkt ist die Ankündigung der Bundeskanzlerin
Man könnte an den Vorschlag anknüpfen und tatsächlich
aus einer Berichterstattung vom Juni 2008: „Merkel for-
eine kritische Anhörung mit den Ratingagenturen durch-
dert eigene Ratingagentur für Europa“. Herr Staatssekre-
führen und sie wie Angeklagte behandeln. Aber derzeit
tär, es würde mich interessieren – auch wenn Sie gerade
sitzt jemand anderes auf der Bank. Es geht nämlich um
mit Kollegen der FDP diskutieren müssen; ich weiß ja,
das Gesetz, das Sie vorlegen.
es gibt noch einige Dinge zu diskutieren, vielleicht hören
Zuerst hatte ich ein anderes Bild vor Augen. Wenn Sie trotzdem zu –: Wie weit ist man eigentlich gekom-
man Unternehmen besucht, dann stellt sich bezüglich men? Die Bundesregierung hat es schon damals unter
des Endprodukts die Frage: Was haben sie für eine Ferti- der Leitung von Kanzlerin Merkel in den G-8-Gipfel
gungstiefe? Es gibt Unternehmen, die weitgehend vorge- eingebracht. Zumindest ist es damals angekündigt wor-
fertigte Produkte einkaufen. Sie bringen dann noch zwei den. Haben wir entscheidende Entwicklungen zu ver-
Schrauben an, aber das Produkt sieht so aus, als hätten zeichnen? Wird das von der Bundesregierung vorange-
sie sehr viel selbst gemacht. Andere Unternehmen haben trieben? Wir haben davon nichts gehört. Vielleicht
eine höhere Fertigungstiefe. Handelsunternehmen ha- können Sie nachher etwas dazu sagen, Herr Flosbach.
ben eine Fertigungstiefe von null, weil sie im Wesentli-
Das zentrale Problem dieser Marktmacht ist, dass es
chen Produkte ein- und verkaufen und lediglich ein biss-
drei Akteure gibt, die zudem nicht im europäischen
chen Werbung machen.
Raum angesiedelt sind. Wir müssen überlegen, ob wir
Der vorliegende Gesetzentwurf hat eine sehr geringe dem etwas entgegensetzen können, etwa eine öffentlich-
Fertigungstiefe, sie liegt quasi bei null. Sie führen eine rechtliche Agentur – wie die Grünen das vorschlagen –,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2079
Dr. Gerhard Schick
(A) die einen anderen Modus hat. Der damalige Vorschlag man hätte das schon lange machen müssen, obwohl die (C)
war gut. Ich möchte von dieser Bundesregierung aber SPD noch vor wenigen Monaten den Finanzminister ge-
nicht nur Ankündigungen hören, sondern auch Ergeb- stellt hat und etwas hätte tun können.
nisse sehen. Darüber haben Sie nichts gesagt. Da muss
es weitergehen. (Beifall des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich möchte, dass wir eine seriöse Debatte über die Fi-
nanzmarktregulierung führen und hier konkrete Vor-
Das zweite zentrale Problem ist, dass wir in diesem schläge auf den Tisch kommen. Ich möchte, dass die De-
Markt keine Möglichkeit haben, eine Haftung für falsche battenzeit künftig für die Fragen, die entscheidend sind,
Ratings durchzusetzen, sonst wären die Ratingagenturen verwendet wird und nicht für etwas, bei dem wir als na-
für den großen Schaden herangezogen worden, den sie tionaler Gesetzgeber wenig Spielraum haben.
angerichtet haben. Das funktioniert aber nicht. Das
heißt, wir haben an dieser Stelle grundlegende Fragen zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
klären, die sich mit der jetzigen Verordnung nicht beant- Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Kollege
worten lassen. Eine Frage ist sehr wichtig – auch Herr schwebt über allem, hat aber keine Vor-
Koschyk hat diesen Punkt angesprochen –: Wie können schläge!)
wir die Marktmacht der Ratingagenturen reduzieren? Ich
möchte auch wissen: Wie wollen Sie das erreichen? Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Dann le- Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort für die CDU/
sen Sie den Antrag doch einmal!) CSU-Fraktion.
– Entschuldigung, zu dem, was da stattfindet, haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
bisher nichts vorgelegt. neten der FDP)
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Doch! Den Antrag!)
Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU):
Das ist aber das Entscheidende. Sie müssen jetzt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
schauen, wie wir zu Veränderungen kommen können. Jeder von uns weiß, dass es nicht das Allheilmittel gibt,
Was halten Sie davon, dass die Europäische Zentral- was die Finanzkrise betrifft.
bank immer noch die Ratings dieser Agenturen als Krite- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!)
rium heranzieht,
Wir wissen, dass ein Bündel von Maßnahmen ergriffen
(B) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Genau!) werden muss, nicht nur, um die jetzige Krise erst einmal (D)
wenn es darum geht, welche Wertpapiere von der Euro- in den Griff zu bekommen, sondern vor allen Dingen,
päischen Zentralbank akzeptiert werden und welche um dafür zu sorgen – das ist unser politischer Auftrag –,
nicht? Genau das stärkt doch die Marktmacht, die Sie dass eine solche Krise nicht noch einmal passiert.
beklagt haben. Also muss da an ein paar Stellen herange-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gangen werden. Wie machen wir das mit der Banken-
regulierung? Wie können wir die Bedeutung der Rating- Es geht nicht nur um die Frage von mehr Kontrolle,
agenturen herunterfahren und ihre Marktmacht reduzie- sondern vor allem um die Frage einer besseren Kon-
ren? Das sind die entscheidenden Fragen. Über genau trolle.
diese Aufgaben müssen wir als Parlament jetzt diskutie-
ren und unsere Debattenzeit nicht im Wesentlichen dafür (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
verwenden, über eine Verordnung zu reden, die wir um- der FDP)
setzen müssen und bei der der Spielraum des deutschen Dazu gehört auch die vorliegende EU-Ratingverord-
Gesetzgebers relativ begrenzt ist. nung, die der Parlamentarische Staatssekretär, Herr
(Frank Schäffler [FDP]: Wir reden ja über Koschyk, gerade vorgestellt hat.
mehrere Sachen! Nicht nur darüber!)
Wir alle wissen: Die Krise ist in den USA entstanden.
– In den entscheidenden Debattenbeiträgen ging es ge- Es gab billiges Geld. Im Grunde konnte jeder ein Haus
nau darum. Herr Schäffler, Sie können Ihre Sicht nach- bauen. Diese Kredite sind mit anderen Produkten zusam-
her darlegen. Ich bin sehr gespannt darauf. mengepackt, verbrieft und weltweit gehandelt worden.
Das haben nicht nur private Banken, sondern vor allen
Zum Schluss möchte ich noch eine Sache ansprechen, Dingen auch öffentlich-rechtliche Banken getan. Die
die jetzt gerade aktuell ist. Wir stehen vor den nächsten Folgen erleben wir bei den Landesbanken.
Fragen der Regulierung. Jetzt gibt es eine interessante
Diskussion darüber, was wir mit den Credit Default Die Frage, wer diese Papiere bewertet, ist schon ange-
Swaps machen. Ich möchte das hier noch einmal anspre- sprochen worden. Natürlich gibt es die Vorgabe, dass
chen. Auf der einen Seite befinden sich wolkige Ankün- Ratingagenturen sie bewerten müssen. Aber warum ha-
digungen des Bundesfinanzministers in der Diskussion ben die deutschen Banken auf eine eigene Bewertung
– im Finanzausschuss konnten Sie mir nicht sagen, was verzichtet? Der Vorwurf an die deutschen Banken ist,
damit konkret gemeint ist –, auf der anderen Seite sagt dass man Risiken eingegangen ist, die man selbst nicht
Herr Poß für die SPD-Fraktion, es sei höchste Zeit dafür, bewertet hat.
2080 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Klaus-Peter Flosbach
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- flechtungen untereinander, die zu großen Problemen ge- (C)
wie des Abg. Frank Schäffler [FDP]) führt haben. Auch die Deutsche Industriebank, die IKB,
ist ja keiner der großen Spieler, es ist eher ein mittleres
Die Frage ist, ob man sich allein auf Ratingagenturen Finanzinstitut, das durch seine starke Verflechtung sys-
verlassen kann und verlassen darf. Die Ratingagenturen temrelevant wurde. Unser Schutzschirm wurde gebildet,
– das haben einige Kollegen schon deutlich gemacht – weil wir eben nicht die Banken in erster Linie absichern
haben diese risikoreichen Kreditpakete und damit letzt- wollten, sondern die Bürger und auch die Gläubiger.
endlich die Finanzkrise um die ganze Welt getragen. Sie Aufgrund dieser Notwendigkeit haben wir den Schutz-
haben diese Pakete viel zu lange zu gut bewertet, selbst schirm gebildet.
dann noch, als die Krise sich bereits zugespitzt hatte.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Deswegen wollen wir mit diesem Ausführungsgesetz der FDP)
zur EU-Ratingverordnung jetzt Regeln fixieren. Wir
wollen Mindeststandards für die Risikobewertung. Wir Die Aufgabe jetzt lautet, dass wir und auch die Auf-
wollen Mindeststandards für die Vergabe von Bonitäts- sicht die gegenseitigen Abhängigkeiten erkennen. Es
urteilen, und – auch das ist wichtig und bereits gesagt kann nicht sein, dass die Finanzinstitute international
worden – wir wollen Sanktionsmöglichkeiten, wenn operieren, aber die Aufsichtsbehörden nur national
diese nicht eingehalten werden. Aber wir wollen nicht, orientiert sind. Deshalb unterstützen wir seitens der
dass Ratingagenturen zugleich Finanzprodukte ent- Union die Einrichtung eines Europäischen Finanzauf-
wickeln, Finanzprodukte vertreiben und Finanzprodukte sichtssystems. Es geht einerseits um Aufsichten unmit-
bewerten. Wir müssen diese Interessenkonflikte beseiti- telbar für Banken und für Versicherungen mit Blick auf
gen. Meines Erachtens ist es unsere Aufgabe, dafür zu die betriebliche Altersvorsorge oder Wertpapiere. Es
sorgen, dass diese Interessenkonflikte erst gar nicht ent- geht andererseits – das ist meines Erachtens das wichti-
stehen. gere Thema – um den Europäischen Rat für Systemrisi-
ken bei der Europäischen Zentralbank. Es besteht die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aufgabe, die Stabilität des Finanzsystems laufend zu
Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich gemacht: analysieren.
Wir wollen keinen Finanzmarkt, wir wollen keine Fi- Ich selbst kritisiere die Zusammensetzung dieses Gre-
nanzmarktprodukte und wir wollen keine Finanz- miums. Es ist meines Erachtens zu stark bankenorien-
marktakteure wie die Ratingagenturen, der bzw. die tiert. Jeweils die Gouverneure der Zentralbanken und
nicht reguliert und nicht beaufsichtigt werden. einige weitere Banker sind darin. Die Versicherungs-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – branche ist in diesem Gremium unterrepräsentiert, ob-
(B) Zuruf von der SPD: Das wird den Agenturen wohl ihre Bedeutung mit derjenigen der ganz großen (D)
nicht gefallen!) Finanzinstitute zu vergleichen ist. Auch die Verbindung
der Banken zu den Versicherungen ist sehr intensiv: über
Es ist auch angesprochen worden, dass wir ein Oligo- das Eigenkapital, über Hybridkapital oder Tier-1, wie
pol bestehend aus drei großen Ratingagenturen haben. wir es nennen, über das haftende Kapital bei den Ban-
Der Auftrag, hier für mehr Markt und mehr Wettbewerb ken. Deswegen sollten hier noch einige Änderungen er-
zu sorgen, richtet sich nicht nur an die Politik. Die so- folgen.
ziale Marktwirtschaft funktioniert eben nur, wenn es
viele Ratingagenturen gibt, die im Wettbewerb miteinan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
der stehen. Wir können nicht zulassen, dass im Grunde Wichtig ist in diesem Bereich, dass kooperiert wird.
drei angloamerikanische Ratingagenturen den Markt be- Herr Zöllmer, Sie haben es angesprochen, Sie haben ei-
herrschen. nen stärkeren Durchgriff der europäischen Behörde un-
Es geht aber nicht nur um die Ratingagenturen, son- mittelbar auf deutsche Finanzinstitute gefordert. Ich
dern es geht auch um viele andere Einzelfragen, die mit halte das für sehr problematisch. Auch der Bundesrat hat
der Finanzkrise verbunden sind und die wir beantworten deutlich gemacht, dass er hier keine Rechtsgrundlage
müssen. Es geht um die Frage des Eigenkapitals bei sieht. Vor allen Dingen sehen wir Probleme, wenn ein
Banken. Es geht um Transparenz. Es geht um Vergü- europäisches Institut ohne die nationale Aufsicht unmit-
tungssysteme. Es geht um Verantwortlichkeiten von Vor- telbar in die Institute hinein regiert. Davon können deut-
stand und Aufsichtsrat. Es geht auch um die Frage der sche Interessen unmittelbar betroffen sein. Vor allen
Beteiligung der Finanzinstitute an den Kosten der Krise. Dingen können auch Haushaltsrisiken entstehen, die wir
als nationales Parlament so nicht akzeptieren können.
Für uns heute geht es bei den Vorschlägen aus Europa
aber auch um die Frage: Wie gestalten wir die Aufsicht? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Es ist ein Phänomen in Deutschland: Je kleiner die der FDP)
Finanzinstitute sind, desto besser werden sie beaufsich- Deswegen werden wir selbstverständlich noch über die-
tigt. Unsere Gespräche gerade mit Volksbanken und ses Thema diskutieren. Aber hier gibt es meines Erach-
Sparkassen zeigen immer wieder, dass die kleinen Ban- tens eine große Einigkeit mit den Bundesländern.
ken besonders intensiv beaufsichtigt werden. Die Krise
ist aber nicht bei den kleinen Banken entstanden, son- Liebe Kolleginnen und Kollegen, für ein funktionie-
dern eher bei den größeren und bei denjenigen, die sehr rendes Gemeinwesen ist die Stabilität des Finanzsystems
stark miteinander verflochten sind. Es sind also die Ver- lebensnotwendig. Der Europäische Rat für Systemrisi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2081
Klaus-Peter Flosbach
(A) ken ist ein weiterer Schritt. Wir brauchen aber noch zu- Bundestag am Ende haushaltstechnisch verarbeiten müs- (C)
sätzliche Schritte, insbesondere in Richtung der G 20. sen. Das entspricht nicht meiner Vorstellung unseres
Eigentlich sind international gleiche Regeln notwendig. Umgangs mit diesem Problem.
Ich fasse zusammen: Wir brauchen einen global ori- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
entierten Aufsichts- und Regulierungsrahmen, der nicht der CDU/CSU)
nur den Bedürfnissen der Wirtschaft, sondern vor allen
Lassen Sie mich das Ganze deswegen auch noch ein-
Dingen den Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger
mal in Zahlen kleiden. Im Rahmen des SoFFin haben
dieses Landes dient.
wir inzwischen, wie ich den Zeitungen entnommen habe,
Ich danke Ihnen. Hilfen in Höhe von 28 Milliarden Euro direkt ausge-
kehrt. Hier geht es also nicht um kleine Zahlen, sondern
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
um ganz entscheidende Größenordnungen. Auf europäi-
scher Ebene sind mittlerweile 212 Milliarden Euro an
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Hilfen ausgezahlt worden. Es kommt schon sehr darauf
Jetzt hat der Kollege Frank Schäffler für die FDP- an, welches Mitgliedsland das am Ende bezahlen wird.
Fraktion das Wort. Deshalb ist es ein ganz entscheidender Punkt – da kann
(Beifall bei der FDP) ich die Bundesregierung nur unterstützen –, dass wir da-
bei mitreden wollen und dass hier keine Entscheidung in
irgendeinem Hinterzimmer getroffen wird.
Frank Schäffler (FDP):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Herren! Lieber Kollege Schick, Sie machen es sich hier der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE
in der Diskussion natürlich sehr einfach. Sie greifen sich LINKE]: Das ist ein Ausschuss und kein Hin-
bei einem Tagesordnungspunkt, unter dem wir acht ein- terzimmer!)
zelne Punkte diskutieren, einen Punkt heraus und sagen, Meines Erachtens ist das neben der Frage, wie wir die
wir würden nichts machen oder sprächen hier nur über Bankenaufsicht oder die Finanzaufsicht in Deutschland
eine ganz kleine Nummer. organisieren, die zweite Seite derselben Medaille. Wir
(Thomas Oppermann [SPD]: Eine große Nummer müssen die Bankenaufsicht in Deutschland neu sortieren
haben Sie noch nicht zustande gebracht!) und neu organisieren, weil sie in der Krise bewiesen hat,
dass sie nicht funktioniert hat. Keine einzige Schieflage
Mit ein bisschen Ehrlichkeit müssten Sie in der Diskus- in Deutschland wurde durch die deutsche Bankenauf-
sion auch einräumen, dass wir unter diesem Tages- sicht festgestellt.
(B) ordnungspunkt sehr grundsätzliche Dinge diskutieren, (D)
nämlich über die Frage, wie wir ein europäisches Auf- Deshalb müssen wir erstens zu einer einteiligen Ban-
sichtsregime organisieren wollen. kenaufsicht zurückkommen. Was Rot-Grün mit der
Zweiteilung der Bankenaufsicht in Deutschland geschaf-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fen hat, hat in der Krise eklatant versagt. Jetzt müssen
der CDU/CSU) endlich die Konsequenzen gezogen und die Weichen
Eine der zentralen Lehren aus der Finanzkrise ist, entsprechend gestellt werden.
dass wir es in der Vergangenheit nicht geschafft haben, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
grenzüberschreitend tätige Institute einigermaßen ver-
nünftig zu regulieren. Zweitens müssen wir klare Regeln aufstellen; denn
derjenige, der hier im Bundestag über Finanzhilfen zu
(Nicolette Kressl [SPD]: Und haben wir es entscheiden hat, muss am Ende auch die Kostenverant-
jetzt geschafft?) wortung gegenüber dem Wähler übernehmen und seine
Dieser Ansatz steckt dahinter. Die Frage der Ratingagen- Entscheidung begründen. Deshalb finde ich es richtig,
turen ist nur eine von vielen Fragen. der Bundesregierung mit auf den Weg zu geben, dass sie
auch die Interessen des deutschen Steuerzahlers in Brüs-
Dass in einem oligopolistischen Markt noch stärker sel vertreten soll.
reguliert werden muss, halte ich für absolut richtig. Über
die zentrale Frage, um die es hier geht, ist heute leider Vielen Dank.
noch nicht gesprochen worden. Diese Frage lautet näm- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
lich: Wer bezahlt die Musik? Was passiert, wenn ein
grenzüberschreitend tätiges Institut in Schieflage gerät?
Wer trägt am Ende die in diesem Zusammenhang entste- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
henden Kosten? Jetzt hat der Kollege Peter Aumer für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Nach den Vorstellungen der EU-Kommission sollen
im Europäischen Ausschuss für Systemrisiken Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
heitsentscheidungen getroffen werden. Dazu stelle ich neten der FDP)
fest: Wer die Aufgabenverantwortung und die Kosten-
verantwortung trennt, wird der ganzen Sache nicht ge- Peter Aumer (CDU/CSU):
recht. Ich möchte nicht, dass eine Mehrheit in diesem Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Gremium darüber entscheidet, was wir im Deutschen Liebe Kollegen!
2082 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Peter Aumer
(A) Eine bessere Beaufsichtigung der grenzübergreifen- vorgeschlagenen Finanzaufsichtssystems beruht auf den (C)
den Finanzmärkte ist aus ethischen wie ökonomi- Erfahrungen aus der aktuellen Situation.
schen Gründen unverzichtbar.
In Bezug auf die Aufsicht auf Mikroebene hat die EU
So hat es José Manuel Barroso bei der Vorlage des Ent- die Grenzen dessen erreicht, was sie mit den derzeit die
wurfs zur europäischen Finanzaufsicht im September EU beratenden Ausschüssen der Aufsichtsbehörden er-
des vergangenen Jahres gesagt. Ich glaube, er hat recht. zielen kann. Der europäische Binnenmarkt braucht einen
Das ist eine wichtige Aufgabe unserer Zeit. Herr Mechanismus, der gewährleistet, dass die nationalen
Dr. Schick, es ist, wie ich glaube, wichtig, dass wir uns Aufsichtsbehörden die bestmöglichen Entscheidungen
auch im Deutschen Bundestag mit dem Thema der euro- für grenzübergreifend tätige Finanzgruppen treffen kön-
päischen Finanzaufsicht befassen, weil dies eines der he- nen.
rausragenden Themen ist. Sie haben gerade allerdings
gesagt, mit Themen, bei denen man nicht viel mitreden Wie im Rahmen der G 20 und in den USA muss auch
kann, sollte man sich im Bundestag nicht befassen. Ich in der EU eine Aufsicht auf Makroebene geschaffen
denke, dass das nicht richtig ist. werden, welche für die Erkennung von Risiken für die
Finanzstabilität in Europa verantwortlich ist und die ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gebenenfalls auch eingreifend tätig werden kann. Der
neten der FDP) zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten im
Ecofin gefundene Kompromiss stellt einen guten Weg
Die Vorschläge der Kommission beruhen auf dem für eine ausgewogene und differenzierte europäische Fi-
Larosière-Bericht und sollen dazu beitragen, in der Eu- nanzaufsicht dar.
ropäischen Union Vertrauen wiederherzustellen, künfti-
gen Krisen vorzubeugen und Wachstum und Beschäfti- Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, kurz die
gung zu sichern. Barroso stellte fest: Punkte zu nennen, die von den Ecofin-Ministern inhalt-
lich geändert wurden und die aus meiner Sicht zu begrü-
Das … System wird der EU und ihren Mitgliedstaa- ßen sind: Die direkten Weisungsbefugnisse der EU-Auf-
ten dabei helfen, sowohl Problemen bei grenzüber- sichtsbehörden gegenüber nationalen Finanzinstituten,
greifend tätigen Unternehmen als auch der Akku- die sogenannten Durchgriffsrechte, wurden entschärft,
mulierung von Risiken im Finanzsystem insgesamt ebenso die Weisungsbefugnisse der EU-Behörden gegen-
entgegenzuwirken. über den nationalen Aufsichtsbehörden, insbesondere das
Die jetzige Organisation der Finanzaufsicht in der EU Weisungsrecht in Krisenfällen. Außerdem wurde die
zeigt ein Missverhältnis zwischen dem Niveau der Inte- Ausgestaltung der sogenannten Schutzklausel zur Siche-
rung der Haushaltsautonomie der Mitgliedstaaten – ein
(B) gration der europäischen Finanzmärkte und der nationa- ganz wesentlicher Punkt – modifiziert. (D)
len Organisation der Aufsichtspflichten auf. Die aktuelle
Diskussion über Griechenland und die möglichen Aus- Es ist hervorzuheben, dass alle Mitgliedstaaten – die
wirkungen auf die gesamte Eurozone sind ein Beispiel ja insbesondere in einer Krisensituation ihre Situation
für die starken Vernetzungen und Verflechtungen gerade am besten einschätzen können – die Möglichkeit zum
im Finanzbereich unserer globalen Welt. Widerspruch erhalten. In einer vernetzten Europäischen
Im Grunde haben wir zwei Möglichkeiten, wie Union werden solche Krisen, denke ich, sicherlich an-
Jacques de Larosière aufzeigt: entweder jeder für sich im ders bewältigt werden, als es bisher der Fall war.
Alleingang auf Kosten der anderen oder eine verstärkte, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
pragmatische und vernünftige Zusammenarbeit in Eu- neten der FDP)
ropa zugunsten aller, um eine offene Weltwirtschaft zu
erhalten. Gerade einem Element unserer sozialen Marktwirt-
schaft, dem Subsidiaritätsprinzip – dass derjenige die
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Dinge regelt, der sie am effektivsten regeln kann –, wird
der FDP) durch den Kompromiss, der zwischen den europäischen
Er hat recht. Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten. Man Staaten und der Europäischen Kommission ausgehandelt
kann sich über die Intensität der Durchgriffsrechte, die wurde, Rechnung getragen.
Festlegung der technischen Standards oder die Betrof- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
fenheit der nationalen Haushalte bei Entscheidungen
streiten. Aber es muss klar sein, dass wir schnell eine eu- Gerade Deutschland ist interessiert an einer starken
ropäische Finanzaufsichtsstruktur brauchen, um das zu europäischen Finanzaufsicht. Deswegen steht im Koali-
verhindern, was uns in den letzten beiden Jahren in eine tionsvertrag der christlich-liberalen Koalition ein klares
tiefe Krise gestürzt hat. Bekenntnis zu einer europäischen Finanzaufsicht:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir sind uns bewusst, dass es einer grundlegenden
neten der FDP) Neuordnung des Finanzsystems bedarf, die insbe-
sondere die Schaffung einer einheitlichen EU-wei-
Die Kommission plädierte von Beginn an für ein Auf- ten Bankenaufsicht umfasst.
sichtssystem, bei dem die Kontrolle auf EU-Ebene ver-
stärkt wird, die nationalen Aufsichtsbehörden aber ihre Bei der heutigen Diskussion muss uns klar sein, dass wir
Schlüsselstellung behalten sollten. Die Zweiteilung des auch die nationale Bankenaufsicht modifizieren müssen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2083
Peter Aumer
(A) Die Europaparlamentarier sprechen bei dem uns vor- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: (C)
liegenden Kompromiss von einer Verwässerung des ur-
sprünglichen Vorschlages der Kommission. Herr Troost, Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
ich glaube, Sie haben das vorhin auch so gesagt. Wir dis- Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weite-
kutieren heute über das in Europa Realisierbare; das ist rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
doch das Wichtige. Wir brauchen eine europäische Fi- Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur
nanzaufsicht, und zwar schnell. sichern – Deutschland braucht eine moderne
Sie haben recht in Ihrer Kritik hinsichtlich der Set- Zukunftsstrategie zur Infrastrukturfinanzie-
zung technischer Standards; die Parlamente müssen hier rung
ein Mitspracherecht haben. Sie haben aber nicht recht, – Drucksache 17/782 –
wenn es um die Entscheidungsstrukturen zwischen der
Überweisungsvorschlag:
Europäischen Union und den Mitgliedstaaten geht. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Finanzausschuss
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
der FDP) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Bundesfinanzminister Schäuble sieht in der vorlie-
genden Ausgestaltung eine Struktur für eine leistungsfä- Es ist verabredet, hierzu eine Dreiviertelstunde zu de-
hige EU-Finanzaufsicht. Er hat recht. battieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.
Zum Schluss möchte ich Jacques de Larosière zitie-
ren: Nicht die Vision, sondern Europas Realität muss die Ich eröffne die Aussprache und gebe als Erstem dem
Reform leiten – um sich auf diesem Weg der Vision an- Kollegen Uwe Beckmeyer für die SPD-Fraktion das
zupassen. Larosière hat recht: Wir müssen schnell eine Wort.
europäische Finanzaufsicht errichten. Wir brauchen eine
europäische Struktur des Finanzmarktes; denn es darf (Beifall bei der SPD)
nicht noch einmal zu einer Krise kommen wie der, die
wir erlebt haben. Deswegen bitte ich Sie um Ihre Unter- Uwe Beckmeyer (SPD):
stützung. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Herren! Wir haben heute einen Antrag der sozialdemo-
kratischen Fraktion zum Erhalt und zum Ausbau der
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verkehrsinfrastruktur zu debattieren, die wir, so ist je-
(B) neten der FDP) denfalls unsere Haltung, durch eine auskömmliche Fi- (D)
nanzierung durch den Haushalt der Bundesrepublik
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deutschland dringend sichern müssen.
Damit schließe ich die Aussprache. Wir fordern die Bundesregierung mit diesem Antrag
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- heute auf, im Jahre 2010 eine Zukunftsstrategie zur Si-
fes auf Drucksache 17/716 an die in der Tagesordnung cherung dieser Infrastrukturfinanzierung vorzulegen,
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind wobei der Fokus unserer Meinung nach insbesondere auf
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. die finanzielle Absicherung umweltfreundlicher Ver-
kehrsträger – dazu zählen wir auch die Schiene – zu le-
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- gen ist. Wir wollen den ansteigenden finanziellen Bedarf
ausschusses auf Drucksache 17/509 zu sieben Unterrich- beim Erhalt und bei der Instandhaltung der vorhandenen
tungen durch die Bundesregierung über die Schaffung Verkehrswege angemessen berücksichtigt wissen, und
eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken und wir fordern auch, dass Parameter entwickelt werden, mit
zur Schaffung eines europäischen Aufsichtsnetzes zur denen der Zustand der Straße klar und transparent wie-
Errichtung von drei EU-Aufsichtsbehörden für den Ban- dergegeben und damit letztendlich auch der Investi-
ken-, Versicherungs- und Wertpapierbereich. tionsbedarf bemessen wird.
Der Finanzausschuss empfiehlt unter den Buchsta- Wir legen Wert darauf, dass Prioritäten beim Ausbau
ben a bis g seiner Beschlussempfehlung, die Unterrich- von Verkehrsknotenpunkten, bei den Hafenhinterlandan-
tung zur Kenntnis zu nehmen und die Bundesregierung bindungen und bei den Hauptverkehrsachsen gelegt wer-
zu bitten, mit der Berichterstattung fortzufahren. Ich den, wir legen Wert darauf, dass beachtet wird, dass die
gehe davon aus, dass wir über die Buchstaben a bis g der Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger sozialverträg-
Beschlussempfehlung gemeinsam abstimmen können. – lich und bezahlbar bleiben muss, und wir legen großen
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so zu verfahren. Wert darauf, dass die Bürger vor den negativen Auswir-
Wer stimmt der Beschlussempfehlung des Ausschus- kungen des Verkehrs – insbesondere vor dem Lärm – ge-
ses zu? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit schützt werden.
ist die Beschlussempfehlung angenommen bei Zustim- (Beifall bei der SPD)
mung durch die CDU/CSU, die FDP, die SPD und die
Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bünd- Wir werden die Debatte über diese Themen ungeach-
nis 90/Die Grünen. Gegenstimmen gab es offensichtlich tet der verschiedenen Diskussionen in diesem Hause
nicht. wiederholt führen, weil bei uns das Gefühl entstanden
2084 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Uwe Beckmeyer
(A) ist, dass aus diesem Ministerium in den letzten 110 Ta- Das ist wunderbar. Der springende Punkt ist nur, dass (C)
gen nur wenig dazu gekommen ist. man so etwas nicht zu Beginn einer Amtsperiode aus-
plaudern darf.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das ist aber sehr einseitig gesehen! Ein gut ar- Das zweite Lieblingsthema ist das Denkverbot bei der
beitendes Ministerium!) Pkw-Maut. In den letzten Wochen und Monaten haben
wir einiges zu diesem Thema lesen müssen, weil es auch
Das Ministerium lebt eigentlich von der Substanz der
dabei um Investitionen und um die Frage geht, wie wir
letzten Legislaturperiode und von einem auskömmlichen
die Infrastrukturmaßnahmen in den nächsten Jahren fi-
Haushalt für 2010, es macht aber kaum erkennbare An-
nanzieren wollen. In der Passauer Neuen Presse war im
strengungen, auch die Finanzierung für das Haushalts-
November zu lesen:
jahr 2011 auf ähnlichem Niveau zu halten.
Unsere Befürchtung ist, dass hier – man kann das Die Diskussion ist noch am Anfang … Wir wollen,
heute auch lesen – letztendlich suboptimal finanziert dass alle Handlungsoptionen auf den Tisch kom-
wird. Der Minister hat heute einer Pressenotiz zufolge men und geprüft werden. Dafür werden wir in
ausgeführt, dass er lediglich 10 Milliarden Euro fordern Kürze eine Expertenkommission einsetzen.
will, obwohl im Grunde mindestens 11 Milliarden Euro Er, der Minister, wisse, dass es in Bayern eine überwälti-
notwendig sind. Durch die Konjunkturprogramme liegen gende Mehrheit für die Einführung einer Pkw-Maut gibt.
wir zurzeit noch bei fast 12 Milliarden Euro.
Dann beginnt das Zurückrudern von Ramsauer. Jetzt
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in gibt es ein neues Interview im Bonner Generalanzeiger
den letzten Wochen und Monaten sowohl vom Minister vom 10. Februar, das ebenfalls auf der genannten Inter-
als auch von den Staatssekretären wiederholt Äußerun- netseite des Ministeriums zu finden ist. Darin heißt es:
gen und Ankündigungen dazu gehört, was sie alles tun Es gibt keinen aktiven Umsetzungsauftrag für eine Pkw-
wollen. Ich habe gestern im Verkehrsausschuss bei der Maut. Was heißt denn das? Gibt es einen passiven Um-
Debatte über die Verkehrspolitik teilweise mit Staunen setzungsauftrag? Auch das, was wir dort lesen, ist irritie-
zur Kenntnis genommen, mit welcher Fröhlichkeit der rend.
Minister über all diese Projekte redet und sagt: Das, was
da war, war nicht so gemeint, das haben irgendwelche Dann sagt der Minister weiter, in seinem Ministerium
Journalisten hervorgezaubert; die haben herumfabuliert. gebe es keine Denkverbote. Nachdenken ist geradezu er-
– Das hat mich geärgert. wünscht. Was heißt denn das? Was signalisiert das?
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
(B) Fröhlichkeit ist doch etwas Schönes!) (D)
Ein sehr kreatives Ministerium!)
Darum habe ich mich heute Morgen einmal hinge- Ein paar Zeilen weiter heißt es in demselben Artikel,
setzt, und überlegt, was die Ursache dafür ist, dass wir dass die Damen und Herren der Grundsatzabteilung
immer wieder diese Ankündigungen und irritierenden mehr oder weniger aufgefordert werden, nach neuen
öffentlichen Äußerungen zu hören bekommen. Einnahmequellen zu suchen. Sie werden auch nach den
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: neuen Finanzierungsquellen gefragt, Herr Minister. Die
Von seinen Vorgängern! Nicht er selbst!) Antwort darauf lautet – ich zitiere –:

Unser erstes Lieblingsthema ist das sogenannte Auf- Ich habe meine Fachleute beauftragt, neue Finan-
bauprogramm West. Der Minister sagt: Das ist eine un- zierungsoptionen zu entwickeln.
ausrottbare Mär. Das habe er so nicht gesagt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!)
(Daniela Raab [CDU/CSU]: Das hat er auch
nicht!) Ein Beispiel: Mit unseren ersten öffentlich-privaten
Partnerschaften haben wir gute Erfahrungen ge-
Das stimmt: „Aufbauprogramm West“ hat er nicht ge- macht. Es wird schneller gebaut, und die Straßen
sagt. Aber er hat von einem Aufholprogramm West ge- werden wirtschaftlich betrieben und unterhalten.
sprochen, wodurch klar wird, dass damit genau dasselbe Wir gehen deshalb jetzt eine zweite Tranche mit
wie mit dem Aufbauprogramm West gemeint ist. acht Projekten an. Unser Ziel ist es, noch mehr pri-
vates Kapital zu mobilisieren.
Das alles können Sie nachlesen – das empfehle ich Ih-
nen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ Das ist die Finanzierungsoption. Die Verkehrspoliti-
CSU-Fraktion –, und zwar unter www.bmvbs.de; Presse/ ker wissen, dass das keine Finanzierungsoption ist. Denn
Reden & Interviews. alles, was bei privaten Unternehmen bestellt wird, muss
Seine Parlamentarischen Staatssekretäre bemühen anschließend mit öffentlichen Mitteln bezahlt werden.
sich schon seit Wochen, das wieder einzufangen, indem Das sind entweder Mauteinnahmen, die wir für die
sie sagen, dass sie keine Investitionspolitik nach Him- nächsten 30 Jahre abtreten – dann fehlen sie direkt in un-
melrichtungen machen, sondern nach Bedarf. serer Kasse –, oder Haushaltsmittel, die zugeführt wer-
den. Auch das ist keine Hilfe für das, was Sie glauben,
(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut! – Patrick damit bewirken zu können. Auch hierauf haben Sie bis
Döring [FDP]: Recht haben sie!) zum heutigen Tage keine vernünftige Antwort gefunden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2085
Uwe Beckmeyer
(A) Das dritte Lieblingsthema ist das Schienenausbaupro- bei den Haushaltsdebatten einen kleinen kurzen Antrag (C)
gramm. Gestern haben Sie gesagt, ein solches Schienen- mitbeschlossen, der danach ziemlich schnell wieder in
ausbauprogramm hätten irgendwelche Journalisten fabu- der Versenkung verschwand. Ich hoffe, dass Sie sich da-
liert. Ich habe mir ein Interview des Ministers in der ran erinnern werden. Ich habe ihn bei mir. Sie werden
Süddeutschen Zeitung vom 24. Dezember 2009 aus der- dazu noch Stellung nehmen können. Auch da zeigt sich
selben Quelle unter www.bmbvs.de herausgesucht. Da- im Grunde bei der Koalition die Enttäuschung in ihren
rin heißt es: eigenen Reihen, dass dieses Haus zurzeit nichts zustande
bekommt. Ich kann Sie nur bitten: Unterstützen Sie den
Wer die Globalisierung will, braucht dafür auch die
Minister bei der Frage einer deutlichen Verbesserung der
Verkehrswege.
Finanzierung der Infrastruktur in Deutschland.
So weit Peter Ramsauer über den nötigen Ausbau des
Schienennetzes und die Chancen einer Pkw-Maut. Herzlichen Dank.

(Daniela Raab [CDU/CSU]: Welche Ideen haben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sie denn? Keine, muss ich feststellen!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deutschland braucht neue Schienentrassen, findet der


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bundesverkehrsminister. – Das ist richtig. – Denn nur so
ließen sich die riesigen Gütermengen transportieren, die Jetzt hat das Wort der Kollege Reinhold Sendker für
in den nächsten Jahrzehnten auf das Land zurollen. Doch die CDU/CSU-Fraktion.
Bauvorhaben stießen oftmals auf Widerstände. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch hier wird suggeriert, dass wir ein neues Schie-
nenausbauprogramm bekommen. In einem Interview in Reinhold Sendker (CDU/CSU):
Transaktuell vom 12. Februar dieses Jahres sagen Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
über sich selbst, Sie seien ein „Überraschungsminister“. Kollegen! Um die Voraussetzungen für Wachstum und
Mit Ihrer 100-Tage-Bilanz seien Sie absolut zufrieden. Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu gewährleisten,
Das Problem ist nur, dass Sie als Überraschungsminister haben CDU/CSU und FDP im Verkehrsausschuss An-
tatsächlich für Überraschungen sorgen. fang Februar im Rahmen der Etatberatung einen Antrag
(Gustav Herzog [SPD]: Für böse vorgelegt, um eine bedarfsgerechte Ausstattung des Ein-
Überraschungen!) zelplanes 12 im Bundeshaushalt, vor allem im Hinblick
auf zukünftige Haushalte, zu erreichen.
Sie kündigen gerne neue Projekte an. Wie sieht es mit
(B) dem Schienenausbau aus? Was ist mit den Lärmschutz- Der Substanzerhalt, ganz besonders nach diesem (D)
maßnahmen? Was wird aus dem Schienenbonus? Alles strengen Winter, sowie auch Aus- und Neubau von Ver-
Fehlanzeige! Der Schienenausbau ist nicht finanziert. kehrsinfrastruktur dürfen nicht hinter den bedarfsgerech-
Ich habe Sie im Ausschuss nach einem verkehrspoliti- ten Erfordernissen zurückbleiben.
schen Fahrplan gefragt. Auch hier Fehlanzeige. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Machen neten der FDP)
Sie hier jetzt eine Presseschau?) Mit diesem zielführenden Antrag wollen wir das Bun-
Sie erklären die 500-Millionen-Euro-Rückzahlung desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
der Mautmittel zu einer Fußnotenproblematik für den beauftragen, ein zukunftsweisendes, nachhaltiges Ge-
Haushalt des Bundesverkehrsministers. Im Gegensatz zu samtkonzept für eine auskömmliche Finanzierung zu er-
uns haben Sie die Finanzierungskreisläufe für die Straße arbeiten. Dieser Antrag wurde so im Ausschuss Anfang
akzeptiert. Bis zum heutigen Zeitpunkt haben Sie uns Februar mit Mehrheit beschlossen. Deswegen, liebe Kol-
noch nicht erklären können, wie Sie die jeweilige leginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, haben Sie bei
Deckungsquote von 30 Prozent für den Ausbau der all Ihren Gefühlen keine Sorge: Die von Ihnen gefor-
Schiene und von 12 Prozent für den Ausbau der Wasser- derte Zukunftsstrategie ist bereits durch den Antrag der
straßen aus den Mauteinnahmen finanzieren wollen. Koalitionsfraktionen im Fachausschuss beschlossen. Ich
nenne das eine vorausschauende und verantwortliche
(Gustav Herzog [SPD]: Das wird eine Politik. Genau dafür steht diese Koalition.
Überraschung!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
All das zeigt: Dieses Ressort ist zum jetzigen Zeit-
punkt absolut planungslos. Es hat keinen Kompass in der Sie haben unseren Antrag, Herr Beckmeyer, leider ab-
Frage: Wie finanziere ich die Infrastruktur in Deutsch- gelehnt und legen nun einige Wochen später Ihre Vor-
land? Aus diesem Grunde ist es absolut notwendig, dass schläge in einem Antrag mit fast gleicher Überschrift
Sie heute dem sozialdemokratischen Antrag hinsichtlich vor. Ich sage nur: Diese hätten Sie schon während der
einer Zukunftsstrategie für die Infrastrukturinvestitionen Ausschussberatungen zum Haushaltsplan im Ausschuss
zustimmen. vortragen können. Das haben Sie nicht getan. Ebenso
wäre es Ihnen in den zurückliegenden Jahren noch in der
(Zuruf der Abg. Daniela Raab [CDU/CSU])
Regierungsverantwortung – hören Sie genau zu – mög-
– Gnädige Frau, Sie selbst haben als Mitglied der Koali- lich gewesen, vieles von dem, was Sie hier heute vor-
tion im Verkehrsausschuss vor gar nicht allzu langer Zeit schlagen und der Bundesregierung aufgeben wollen,
2086 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Reinhold Sendker
(A) selbst auf den Weg zu bringen. Auch das haben Sie ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
säumt. neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deshalb hätten Sie den Punkt wie vieles andere in Ihrem
Antrag schon etwas konkreter gestalten können. Wir ha-
In all den Jahren kam von Ihnen noch viel weniger. ben das mit der Forderung der Weiterentwicklung der
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Immerhin 12 Mil- Kriterien für die Priorisierung von Investitionsprojekten
liarden, nicht nur 10 Milliarden!) getan. Unser Kriterium ist das der gesamtwirtschaftli-
chen Vorteilhaftigkeit; denn genau diese Ausrichtung
Deswegen, Herr Beckmeyer, liebe Kolleginnen und Kol- unterstützt unser gemeinsames Ziel einer leistungsfähi-
legen der SPD-Fraktion, machen wir das jetzt. gen Verkehrsinfrastruktur als Voraussetzung für Wachs-
tum, Beschäftigung und Wohlstand. Eine Zukunftsstrate-
(Ute Kumpf [SPD]: Sie machen doch zurzeit gar gie, wie sie hier in Rede steht, muss vor allem
nichts! Sie machen Krisensitzungen!) Verkehrsmengen und Verkehrszuwächse in Gegenwart
CDU/CSU und FDP handeln auf der Basis des im und Zukunft berücksichtigen. Hier und heute nur einen
Ausschuss beschlossenen Antrags zur Erarbeitung einer Wunschkatalog mit der Bitte an die Bundesregierung um
Gesamtkonzeption, auch vor dem Hintergrund der Ver- Priorisierung anzuführen, ist wohl eindeutig zu wenig.
einbarungen im Koalitionsvertrag. Diese hätten Sie lesen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
können. Sie sind eindeutig und auch zukunftsweisend. neten der FDP)
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie haben eine Ein weiteres Thema, das hier angesprochen werden
merkwürdige Wahrnehmung!) muss, ist die Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesell-
Gerade weil Deutschland ein Kernland in Europa ist, schaft, die VIFG. Sie wollen die Einnahmen aus der
werden wir dafür sorgen, dass Erhalt, Ausbau und Neu- Maut vollständig und auskömmlich für Investitionen in
bau der Verkehrswege gesichert werden. Dies ist und die gesamte Verkehrsinfrastruktur vorsehen. Demgegen-
bleibt für uns in der Verkehrspolitik das wichtigste Ziel. über fordern wir die Herstellung eines Finanzkreislaufs
Straße
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Martin Burkert [SPD]: Genau das ist der
Punkt! Straße, Straße, Straße!)
Hierbei dürfen wir natürlich nicht übersehen – damit
kommen wir zur sachlichen Bewertung der Zahlen –, unter direkter Zuweisung der Einnahmen aus der Lkw-
(B) dass nach Auslaufen der Konjunkturprogramme eine Maut an die VIFG und bitten das Ministerium, den Vor- (D)
Absenkung der Mittel nach 2010 erfolgt. Es geht also schlag zu prüfen. Unser Ziel ist und bleibt es, die ent-
darum, mittelfristig die Verkehrsinvestitionen auf hohem scheidenden Schwächen der vergangenen Jahre, nämlich
Niveau zu verstetigen. So wollen wir in diesem Zusam- die kontinuierliche Unterfinanzierung, die schwanken-
menhang auch die Modelle für die Beteiligung Privater, den Haushaltslinien und die Transparenzdefizite bei Pla-
die eben angesprochen worden sind, im Rahmen öffent- nung, Genehmigung, Bau und Betrieb, abzubauen.
lich-privater Partnerschaften voranbringen. Der Minister Ich möchte herausstellen: Investitionen in die Ver-
hat gestern im Verkehrsausschuss darauf hingewiesen, kehrsinfrastruktur, für Straße, Schiene und Wasserstraße,
dass wir mit den ersten Beispielen gute Erfahrungen ge- wollen wir auf einem hohen Niveau sicherstellen. Dabei
macht haben. Herr Kollege Beckmeyer, wenn ich auf hat sich die Verkehrsinfrastruktur an den Bedürfnissen
Ihre Ausführungen zurückkommen darf: Wir haben in der Menschen und an den Erfordernissen der Volkswirt-
den früheren Jahren von Ihnen dazu keine Vorschläge schaft zu orientieren. Das hat auch der Verkehrsminister
gehört. Auch heute gab es keine weiteren Finanzierungs- immer betont. Uns ist natürlich bewusst, dass Infrastruk-
vorschläge und keine Alternative. Das ist ein schwaches turpolitik in Deutschland vor großen Herausforderungen
Bild. steht. Wahr ist aber auch: Nur leistungsfähige und opti-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) mal vernetzte Verkehrswege schaffen die Voraussetzung
für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Die Rekordin-
In Ihrem Antrag fordern Sie Prioritäten im Rahmen vestitionssumme von 12,6 Milliarden Euro für Verkehrs-
der Infrastrukturfinanzierung. Dann nennen Sie den Ka- investitionen im Jahr 2010 ist dafür weiß Gott ein star-
talog, den Sie aufgeführt haben, nämlich den Ausbau kes Fundament. Ausgehend hiervon gilt es nun,
von bedeutenden Verkehrsknotenpunkten und von wich- zukünftig den Erhalt und den Ausbau von Verkehrsinfra-
tigen Hafenhinterlandanbindungen sowie die Berück- struktur in unserem Lande zu sichern. Diesem Ziel dient
sichtigung der Mobilitätsbedürfnisse der Menschen in der Antrag der Koalitionsfraktionen. Diesem Ziel dient
Regionen mit geringer Bevölkerungszahl. besonders die vom Ministerium zu erarbeitende Gesamt-
konzeption. Der SPD-Antrag hingegen stößt auf unsere
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Lesen Sie mal vor!) Kritik, die wir, wenn Sie den Antrag nicht verändern
– Ich habe das vorgelesen, weil ich mich unwillkürlich werden, in der Ausschussberatung erneuern werden.
frage, was davon eigentlich nicht prioritär ist. – Eine Herzlichen Dank.
konsequente Priorisierung ist doch eigentlich unerläss-
lich in dieser Zeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2087

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: portieren? Ist es volkswirtschaftlich wirklich schlau, (C)
Herr Sendker, das war Ihre erste Rede hier im Haus. dass große Industrieunternehmen keine eigenen Lager
Dazu gratulieren wir Ihnen alle sehr herzlich und wün- mehr haben und ihre Lieferungen in Lkws auf Autobah-
schen Ihnen alles Gute für die Arbeit hier. nen zwischenlagern lassen? Ist es wirklich sinnvoll, dass
jeder dritte Lkw leer unterwegs ist und dass praktisch die
(Beifall) Hälfte der Ladekapazität aus Luft besteht? Verkehrspoli-
Thomas Lutze ist der nächste Redner für die Fraktion tisch muss der Schwerpunkt unserer Anstrengungen da-
Die Linke. rauf gerichtet sein, den Lkw-Fernverkehr auf ein sinn-
volles Maß zu begrenzen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn man die Beanspruchung der Infrastruktur be-
trachtet, so kommt man zu dem Ergebnis, dass ein Lkw
Thomas Lutze (DIE LINKE): mit 40 Tonnen – es sind sogar Lkws mit bis zu 60 Ton-
Frau Präsidentin! Herr Minister! Sehr geehrte Damen nen geplant – eine Straße genauso belastet wie
und Herren! Ich empfinde es als positiv, dass wir heute 60 000 Pkws. Vom Lärm und von den Abgasen, von den
relativ unaufgeregt über Grundsätzliches in der Ver- Umweltgefahren und den Folgen war noch gar nicht die
kehrspolitik reden können. Insofern ist der Antrag der Rede. Die Linke setzt sich dafür ein, dass der notwen-
SPD-Fraktion sehr hilfreich. Er ist in einigen Punkten in- dige Güterfernverkehr zukünftig mehrheitlich über die
haltlich in Ordnung und führt durchaus in die richtige Schiene abgewickelt wird.
Richtung.
Wir sind daher sehr skeptisch, dass die notwendigen
Erlauben Sie mir dennoch, zu zwei, drei Punkten sehr Investitionen für den Bau und den Erhalt der Infrastruk-
kritische Anmerkungen zu machen. Im vorliegenden tur über private Partnerschaften abgewickelt werden
Antrag wird sehr viel über die Binnenschifffahrt gespro- können. Soll ein mittelständisches Bauunternehmen jetzt
chen; darüber ist viel zu lesen. Ohne Zweifel gehört der gleichzeitig den Auftrag abwickeln und ihn mitfinanzie-
Güterverkehr auf Flüssen und Kanälen zu den umwelt- ren? Bekanntlich gibt es in unserer Fraktion Bedenken,
freundlicheren Möglichkeiten, Güter von A nach B zu was die Arbeit von Banken gerade im Hinblick auf die
transportieren. Allerdings warnen wir davor, dieses Netz aktuelle Krise angeht. Dass nun aber kleine und mittel-
jetzt weiter ausbauen zu wollen. Durch diese Ausbau- ständische Unternehmen diesen Job übernehmen sollen,
maßnahmen würde die Umweltverträglichkeit in Mitlei- halten wir für nicht gerade erstrebenswert. Verkehrsin-
denschaft gezogen. Hinzu kommt, dass die Stärken des frastruktur ist – so unsere Meinung – ein öffentlicher
Verkehrsmittels Binnenschiff eher beim Schüttgut liegen Sektor. Dieser sollte nach Auffassung der Linken auch
und dass hier größere Kapazitäten volkswirtschaftlich öffentlich bleiben.
(B) kaum notwendig sind. Im Gegensatz zur Schiene und zur (D)
Straße hat die Binnenschifffahrt zusätzlich das Handicap Vielen Dank.
eines möglichen Hochwassers oder Niedrigwassers, je (Beifall bei der LINKEN)
nach Witterung.
Richtig im Antrag der SPD ist, dass der Verkehrsbe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
reich Schiene im Güterverkehr ausgebaut werden muss. Herr Lutze, das war auch Ihre erste Rede hier im Ho-
Ich darf allerdings auch erwähnen, dass gerade unter so- hen Hause. Herzlichen Glückwunsch dazu und alles
zialdemokratischen Verkehrsministern – aber auch davor Gute für Ihre Arbeit als Abgeordneter!
– der Güterverkehr auf der Schiene sehr stiefmütterlich
behandelt wurde. Will man einen attraktiven Personen- (Beifall)
nah- und -fernverkehr schaffen und einen deutlich höhe- Patrick Döring hat das Wort für die FDP-Fraktion.
ren Anteil des Transportaufkommens an Gütern auf der
Schiene abwickeln, dann braucht man dafür die nötige (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Infrastruktur. Diese ist so in Deutschland nicht mehr vor-
handen. Wenn wir das, was die SPD vorschlägt, wollen, Patrick Döring (FDP):
dann müssen in den nächsten Jahren vergleichbare In- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
vestitionen getätigt werden, wie wir sie in den letzten Nachdem ich während der Rede des geschätzten Kolle-
20 Jahren für das ICE-Netz ermöglicht haben. Auch als gen Beckmeyer fieberhaft viele Minuten auf die Begrün-
Parlamentsneuling ist mir aufgefallen, dass die Mittel dung des Antrages gewartet hatte und nachdem viele Zi-
hierfür eher bescheiden sind. Umverteilen wäre nach un- tate aus Interviews des Bundesministers vorgetragen
serer Sicht angebracht. Also lassen Sie bitte die Finger worden waren, kam mir der Gedanke, dass ich mich
von Projekten wie Stuttgart 21! Dann haben Sie 5 Mil- nicht daran erinnern kann, dass hier jemals auch nur ein
liarden Euro mehr für sinnvollere Projekte und für den einziges Interview seines Vorgängers zitiert worden ist.
Güterfernverkehr auf der Schiene.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten chen bei der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Insoweit kann ich nur sagen: Der aktuelle Verkehrs-
Ein Punkt fehlt leider im Antrag der SPD: Das ist die minister hat alles richtig gemacht. Sie wären doch froh,
Verkehrsvermeidung. Müssen wir unbedingt Senf oder wenn von Ihren früheren Verkehrsministern – Sie haben
Joghurt 600 Kilometer auf deutschen Autobahnen trans- sie von 1998 bis 2009 gestellt – in diesem Hause zumin-
2088 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Patrick Döring
(A) dest noch eine Spur wahrzunehmen wäre; aber das ist Wahrheit, die die Menschen draußen wahrnehmen. Das (C)
ganz offensichtlich nicht der Fall. ist das Ergebnis von Regierungen, an denen die SPD be-
teiligt war.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – La-
chen bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Uwe Beckmeyer [SPD]: Ist
Der Antrag ist eine gute Gelegenheit, drei oder vier das die Ankündigung, dass Sie die Ökosteuer
grundsätzliche verkehrspolitische Themen anzuspre- jetzt abschaffen wollen, oder was ist das?)
chen. Bei aller Wertschätzung der Ansätze, die vorgetra-
gen worden sind und die sich im Antrag wiederfinden: In Ich will mich dem Antrag zuwenden. Noch bemer-
Wahrheit werden durch diesen Antrag ein paar verkehrs- kenswerter finde ich, was Sie als Zukunftsstrategie zur
politische Irrtümer der vergangenen Zeit perpetuiert. Ich Sicherung der Infrastrukturfinanzierung beschreiben.
verweise zunächst auf den alten Gedanken der notwendi- Man könnte auf die Idee kommen – auch Herr Sendker
gen Verlagerung der Verkehre von der Straße auf die hat dies gesagt –, dass man, wenn man elf Jahre lang re-
Schiene; auch der Kollege Lutze hat ihn eben formuliert. giert hat, eine solche Strategie politisch bereits umge-
Es gibt die Notwendigkeit einer solchen Verlagerung setzt hat. Sie kennen die Ursache dafür, dass es keine
– das bestreitet auch keiner –; aber wer den Eindruck er- mittelfristige Finanzplanung gibt: Diese Regierung
weckt, dass die Verlagerung von Verkehren durch Politik plant, einen soliden Haushalt vorzulegen. Wir wollen
oder ausschließlich durch Investitionsmittel zu erreichen nicht alles fortsetzen, was Sie fälschlicherweise in Ihre
wäre, der verkennt einfach, dass bestimmte Verkehre nie Haushalte eingestellt haben; daher wollen wir in Ruhe
verlagerbar sind und dass unsere Infrastruktur in ihrem alle Ausgabepositionen prüfen. Dann werden wir das si-
aktuellen Zustand ein bedeutendes Verkehrsmengen- cherstellen, was Sie hier von uns verlangen. Aber ein
wachstum überhaupt nicht verkraften könnte. Deshalb Zukunftsprogramm von uns einzufordern, nachdem man
muss man an diesem Punkt ein Stück Realismus walten selbst elf Jahre die Hausleitung gestellt hat, das ist nun
lassen. wirklich das Einfachste, was einer Opposition einfallen
kann.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Die Schiene ist nicht leistungsfähig, und sie ist nicht der CDU/CSU)
der richtige Verkehrsträger für kurze Verkehre; vielmehr
ist sie der richtige Verkehrsträger für mittlere und lange In Wahrheit bleibt es dabei – das ist ja auch den Zwi-
Verkehre. Das weiß auch jeder Experte. Man muss sagen, schenrufen zu entnehmen –: Sie wollen dieser Koalition
wie zusätzliche Güterverkehre auf dem vorhandenen das Etikett anheften, wir seien schienenfeindlich und
(B) Netz – das Netz in Deutschland wird gemischt genutzt – straßenfreundlich, während Ihnen alle Verkehrsträger (D)
abgewickelt werden sollen, ohne den vielgelobten Schie- gleich wichtig gewesen seien.
nenpersonennahverkehr oder den Schienenfernverkehr Ich halte fest: Für uns ist leistungsfähiger Schienen-
einzuschränken. Auf diese Frage hatten Sie heute ge- verkehr ein wichtiges Element der Verkehrspolitik. Wir
nauso wenig wie in den vergangenen elf Jahren eine Ant- sind aber im Gegensatz zu Ihnen bereit, anzuerkennen,
wort. dass der Verkehrsträger, auf dem die meisten Tonnen an
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gütern transportiert werden und auf dem die meisten
der CDU/CSU) Menschen jeden Tag fahren, nämlich die Straße, auf-
grund seiner Bedeutung ebenso klar und deutlich finan-
Wenn behauptet wird, Straßengüterverkehr sei für eine ziert werden muss und wir hier vor großen, zum Teil so-
exportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland weni- gar größeren Herausforderungen als beim Verkehrsträger
ger wichtig oder für die Verkehrspolitik weniger bedeu- Eisenbahn stehen.
tend, dann kann man nur entgegnen: Das ist eine Verzer-
rung der Wirklichkeit. (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist völlig unstrit-
tig!)
Bemerkenswert ist auch, dass das Bild gezeichnet
wird, sowohl in der rot-grünen als auch in der schwarz- Wes Geistes Sie in Wahrheit sind, zeigt sich doch da-
roten Regierungszeit sei unheimlich viel in die Verkehrs- ran, dass Sie mit Ihrem Haushaltsantrag im Ausschuss
träger investiert worden. Wenn man die preisbereinigten versucht haben, einen Teil der Mittel zur Finanzierung
Investitionsansätze für die Straße von Rot-Grün und von Bundesstraßen und Bundesautobahnen wegzuneh-
auch die von Schwarz-Rot anschaut, dann ist festzustel- men
len, dass in all diesen Jahren für den Verkehrsträger (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das ist falsch!)
Straße nicht mehr und nicht weniger investiert worden
ist als in den Jahren 1990 bis 1998, also zu Zeiten der und zur Erhöhung der Mittel für das CO2-Gebäudesanie-
Kabinette Kohl III und Kohl IV. Auch das gehört zur rungsprogramm zu verwenden. Wer auf diese Weise Kli-
Wahrheit. Was allerdings gestiegen ist, das ist die Belas- mapolitik machen will, wird am Ende scheitern, liebe
tung des deutschen Autofahrers und des Gewerbes mit Kolleginnen und Kollegen.
Steuern und Abgaben. Ich verweise auf zusätzliche Steu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ern wie die Ökosteuer und auf zusätzliche Abgaben wie der CDU/CSU)
die Lkw-Maut. Preisbereinigt betrachtet sind die Investi-
tionen in die Straße also nicht gestiegen. Das ist die Deshalb ist dieser Antrag zu Recht abgelehnt worden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2089
Patrick Döring
(A) Wir werden die Straße nicht gegen die Schiene aus- waren, nämlich für Investitionen in den Verkehrsträger (C)
spielen, genauso wenig wie Verkehrsinvestitionen gegen Straße. Wir werden schon die Länder, die das umzuset-
notwendige Investitionen für den Klimaschutz im Ge- zen haben, und auch das Bundesministerium dazu brin-
bäudebereich. gen, dass das passiert.
(Ute Kumpf [SPD]: Wer macht das denn?) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Passiert nur nicht! –
Martin Burkert [SPD]: Streusalz vielleicht!)
Das wäre nämlich unverantwortlich angesichts der
wahnsinnigen Herausforderungen, vor denen wir stehen: Deshalb ist die Grundannahme, diese Mittel würden
der Beseitigung der Winterschäden auf den Bundesstra- nicht ausgegeben, grundfalsch und entspricht auch nicht
ßen und Bundesautobahnen, aber auch auf kommunalen dem, was wir politisch wollen. Wir wollen vielmehr,
und Landesstraßen. dass diese Mittel ausgegeben werden.
Deshalb gilt für die Beratung des vorliegenden Antra- Zur zweiten Frage, geschätzter Kollege Beckmeyer:
ges das, was der Kollege Sendker richtigerweise gesagt Wer glaubt, integrierte Verkehrspolitik zeichne sich da-
hat: Wir haben mit unserem Haushaltsbegleitantrag die durch aus, dass der Autofahrer die anderen Verkehrsträ-
Grundlinien des Koalitionsvertrages deutlich gemacht. ger finanziert, der hat ein sehr schlichtes Bild von inte-
Anhand dieser Grundlinien wird das Haus und werden grierter Verkehrspolitik. Wir haben ein anderes Bild. Das
wir als handlungsfähige Koalition die nächsten Jahre tä- setzen wir mit unserer Politik auch durch. Das ist der
tig werden. Unterschied.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der CDU/CSU – Martin Burkert [SPD]: Auto-
Wollen Sie die Zwischenfrage des Kollegen Beckmeyer lobbyist!)
zulassen?
Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen,
möchte ich festhalten: Der, wie ich finde, recht kümmer-
Patrick Döring (FDP):
liche Versuch oppositionellen Handelns mit diesem An-
Ja, bitte. Gerne. trag wird im Ausschuss entlarvt werden. Diese Bundes-
(Ute Kumpf [SPD]: In welcher Branche sind regierung wird in der Verkehrs- und Baupolitik die
Sie eigentlich Unternehmer, Herr Döring?) Akzente setzen, die unsere Volkswirtschaft benötigt. Da-
bei unterstützt die FDP-Fraktion in dieser Koalition den
Uwe Beckmeyer (SPD): Bundesverkehrsminister.

(B) Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die So- Herzlichen Dank. (D)
zialdemokraten einen Haushaltsantrag gestellt haben, in
dem – im Gegensatz zu dem, was Sie behaupten – vorge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sehen war, Mittel, die das Ressort normalerweise wieder
bei Herrn Schäuble abgeben muss, eben zur Förderung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
genau des Projektes, das Sie kritisieren, zu verwenden? Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für
Wir haben also die Absicht gehabt – Sie haben dem lei- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
der nicht zustimmen wollen –, Mittel, die im Haushalt
vorgesehen waren, nicht wieder zurückzugeben, sondern Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sinnvoll für Verkehrsprojekte einzusetzen. NEN):
Zweite Frage, wenn ich das darf, liebe Frau Präsiden- Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kolle-
tin: Wir unterscheiden uns nicht in den Perspektiven, die gen! Lieber Patrick Döring, es ist durchaus amüsant,
wir für den Verkehrsträger Straße sehen. Der entschei- wenn du dich darüber mokierst, wie Uwe Beckmeyer
dende Unterschied zwischen uns ist, dass Sie die inte- den Verkehrsminister zitiert hat. Aber vielleicht solltest
grierte Verkehrspolitik nicht mehr als Kernpunkt der du zumindest ab und zu die Positionen eures Verkehrs-
Verkehrspolitik der neuen Koalition ansehen. Das ist der ministers wahrnehmen. Dann hättest du in der Zeitung
gravierende Fehler Ihrer aktuellen Politik. lesen können, dass der Verkehrsminister vor Weihnach-
ten in der Süddeutschen Zeitung gefordert hat, dass der
Herzlichen Dank. Zuwachs des Güterverkehrs auf der Schiene stattfinden
(Beifall bei der SPD) soll.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Patrick Döring (FDP): und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Lieber geschätzter Kollege Beckmeyer, ich bedanke LINKEN)
mich ganz herzlich für die beiden Fragen.
Damit hat er genau das gefordert, worüber du eben ge-
Zunächst einmal stelle ich fest: Wir haben nicht die sagt hast, dass es nicht möglich sei. Nun kann man sa-
Absicht, die möglicherweise nicht ausgegebenen Mittel gen: Diese schwarz-gelbe Koalition ist in fast allen
für den Bereich Bundesstraßen und Bundesautobahnen, Punkten zerstritten. Warum soll sie dann nicht auch im
die im Konjunkturpaket für 2009 und 2010 vorgesehen Verkehrsbereich total zerstritten sein? – Das Problemati-
sind, zurückzugeben, sondern wir haben die Absicht, sche ist allerdings, dass es uns weder im Land noch in
diese Mittel dafür zu verwenden, wofür sie vorgesehen der Verkehrspolitik weiterhilft, wenn die FDP darauf be-
2090 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Anton Hofreiter


(A) steht, dass die Mauteinnahmen komplett für die Straße Beim nachhaltigen Investieren darf man also nicht (C)
verwendet werden. Man muss sich die Dimensionen des- stur darauf achten, ob der Anteil der Straße hoch oder ob
sen, was hier zu finanzieren ist, klarmachen. Im Jahr der Anteil der Schiene gering ist. Man muss vielmehr,
2009 waren Mauteinnahmen in Höhe von 5 Milliarden wenn man verantwortliche Politik betreiben will, da-
Euro eingestellt. Davon sollen 38 Prozent für die rüber nachdenken, was in Zukunft passiert, das antizipie-
Schiene verwendet werden. Über 1,5 Milliarden Euro ren und dann Investitionsschwerpunkte setzen.
habt ihr dann anders zu finanzieren. Wie soll das gesche-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hen?
Die Investitionsschwerpunkte müssen in dem Bereich
Warum hat man die Mautfinanzierung überhaupt ein- gesetzt werden, der zukunftsträchtig ist. Der zukunfts-
geführt? Die Mautfinanzierung hat man eingeführt, da- trächtigere Bereich ist in diesem Fall die Schiene. Wir
mit man einen soliden Grundstock für Verkehrsinfra- müssen als bedeutende Export- und Importnation für un-
strukturinvestitionen hat, auf den der Finanzminister sere Wirtschaft eine funktionierende Schieneninfrastruk-
keinen direkten Zugriff hat. tur zur Verfügung stellen, die sowohl klimawandelsicher
als auch ressourcensicher ist.
(Patrick Döring [FDP]: Genauso!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man hat die Mautfinanzierung nicht für einen, sondern
für alle Verkehrsträger eingeführt. Beides wird durch die Politik dieser Regierung unter-
graben. Sie wissen nicht, wie Sie den Ausfall der Maut-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einnahmen in Höhe von 600 Millionen Euro und die
und bei der SPD) 38 Prozent für die Schiene finanzieren sollen. Sie wissen
nicht einmal, wie Sie Ihre Straßenprogramme finanzie-
Denn der rot-grünen Koalition war bewusst, dass Logis- ren sollen. Das Einzige, was der Minister macht – des-
tikunternehmer ihre Container und Waren nicht nur auf halb sind die Zitate manchmal durchaus angebracht –,
der Straße transportieren. Vielmehr kommen Waren in ist, im Land via Zeitung zu verkünden, was er vorhat.
einem Hafen an, werden dann in vielen Fällen auf die Aber er kann weder im Ausschuss noch hier im Plenum
Schiene verladen und legen die letzte Meile bis zum Ver- erklären, wie die zukünftige Verkehrspolitik aussehen
braucher auf dem Lkw zurück oder werden zum Teil auf soll.
Binnenschiffe und dann auf den Lkw verladen. Das
heißt, Logistikketten bestehen nicht nur aus dem Trans- (Patrick Döring [FDP]: Sie haben im Aus-
port auf Straßen. Vielmehr wird der Transport der Waren schuss nicht zugehört!)
von verschiedenen Verkehrsträgern übernommen. Lieber Das muss sich ändern.
(B) Patrick, du hast gesagt, der Autofahrer solle nicht die (D)
Schiene finanzieren. Unserer Beobachtung nach werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lkws nicht von Autofahrern gesteuert und wird die Maut und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
nicht vom Lkw-Fahrer gezahlt, sondern von Logistikun- LINKEN)
ternehmen. Logistikunternehmen brauchen aber alle
Verkehrsträger, um ihre Geschäfte abzuwickeln. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Jetzt hat der Kollege Patrick Schnieder das Wort für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die CDU/CSU-Fraktion.
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU)

Zur Finanzierung der Infrastruktur. Infrastruktur ist Patrick Schnieder (CDU/CSU):


etwas, das über sehr viele Jahre errichtet wird. Man baut Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Straßen und Schienen nicht für 10 oder 20 Jahre. Viel- Leistungsfähige Verkehrswege und Mobilität sind Vo-
mehr wird eine Straßen- und Schieneninfrastruktur für raussetzung für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit
sehr lange Zeiträume errichtet. Deshalb muss man da- unserer Volkswirtschaft. Die Regierungskoalition wird
rüber nachdenken, welche Trends in den nächsten Jahren dies mit ihrer Verkehrspolitik sicherstellen. Wir wissen
zu erwarten sind. Es gibt zwei sehr grundlegende aber auch: Mobilität muss für die Menschen in unserem
Trends, die im Verkehrsbereich entscheidend sind. Der Lande bezahlbar bleiben.
eine Trend ist der Klimawandel. Der andere problemati-
sche Trend ist die Endlichkeit fossiler Rohstoffe. Die Dieser Aufgabe sind wir uns in der christlich-libera-
Verkehrsträger sind unterschiedlich leistungsfähig. len Koalition bewusst. Eine entsprechende Ausstattung
des Bau- und Verkehrshaushaltes ist deshalb von zentra-
Wenn man die Schiene mit der Straße vergleicht, dann
ler Bedeutung. Der Bundeshaushalt 2010 jedenfalls er-
kommt man zu dem Schluss, dass die Schiene in Bezug
füllt diese Aufgabe. Er sieht fast 12 Milliarden Euro an
auf die beiden Trends weitaus leistungsfähiger ist. Die
Investitionen in Verkehrswege vor. Dabei orientieren wir
Schiene weist eine funktionierende Elektromobilität auf.
uns nicht an ideologischen Grundsätzen. Unsere Leit-
Wir wissen zudem, wie wir regenerative Energie für die
schnur sind die Bedürfnisse der Menschen sowie die Er-
Schiene bereitstellen können, das heißt ohne fossile
fordernisse der Wirtschaft und der Unternehmen.
Energieträger. Bei der Straße tun wir uns weitaus schwe-
rer. Es gibt natürlich auch Ideen für Elektromobilität auf Klar ist aber auch: Die Investitionshöhe beizubehal-
der Straße. Aber beim Lkw wird es sehr kompliziert. ten, wird ab 2011 angesichts der Haushaltslage, des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2091
Patrick Schnieder
(A) Wegfalls der zusätzlichen Mittel aus den Konjunkturpa- der Neuauflage des Bundesverkehrswegeplans ab 2015, (C)
keten und der Erfordernisse der Schuldenbremse eine ausdrücklich nicht darum, eine Wunschliste mit neuen
äußerst große Herausforderung. Unser Ziel muss daher Projekten zu erstellen. Vielmehr brauchen wir ein Ge-
realistischerweise sein, über dieses Jahr hinaus dauerhaft samtkonzept für eine zukünftige Infrastruktur, das finan-
mehr als 10 Milliarden Euro jährlich in Erhalt, Ausbau zierbar und realistisch ist.
und Neubau der Verkehrsinfrastruktur zu investieren.
Angesichts der Haushaltsentwicklungen brauchen wir
Die Herausforderung der nächsten Jahre besteht in Verlässlichkeit bei der Finanzierung unserer Verkehrs-
dem Finanzrahmen, der zur Verfügung steht. Herr Kol- wege und der Verkehrsinfrastruktur. Dazu müssen wir
lege Beckmeyer, es passt nicht zusammen, wenn Sie pre- auch nach neuen Finanzierungsinstrumenten Ausschau
digen, 10 Milliarden Euro in den nächsten Jahren seien halten. In diesem Zusammenhang verstehe ich überhaupt
zu wenig, dabei aber die Haushaltslage vollkommen nicht, Herr Kollege Beckmeyer und Herr Kollege
ignorieren. Dr. Hofreiter, warum Sie hier so mautfixiert diskutieren.
Unser Verkehrsminister hat eine klare und eindeutige
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute Aussage getroffen:
Kumpf [SPD]: Wenn Sie Geld verschwenden,
ist das nicht unser Problem!) (Uwe Beckmeyer [SPD]: Welche?)
Uns geht es darum, die Ausgaben im Verkehrsbereich Für diese Koalition ist die Pkw-Maut in dieser Periode
auf diesem Niveau zu verstetigen. Wir wollen die He- kein Thema. Das ist so, das bleibt so, Punkt.
rausforderungen der Finanzlage berücksichtigen. Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute Kumpf
gleich gilt aber: Die Schuldenbremse darf nicht zur Kon- [SPD]: Wie lange gilt diese Aussage?)
junkturbremse werden. Deshalb müssen wir in den
nächsten Jahren eine klare Prioritätensetzung vorneh- Zu den neuen Finanzierungsinstrumenten, mit denen
men. Was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegt haben, liebe wir uns auseinandersetzen müssen, gehört erstens die
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wird dem in Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastrukturfinanzie-
keiner Weise gerecht. Prioritäten zu setzen, heißt, eine rungsgesellschaft, der VIFG, einschließlich ihrer be-
Rangfolge festzulegen; es heißt nicht, dass alles gleich grenzten Kreditfähigkeit. Ziel muss sein – dazu stehen
wichtig ist. wir –, dass die Einnahmen aus der Lkw-Maut eins zu
eins in die Straßeninfrastruktur fließen.
Wir in der Regierungskoalition nehmen eine konse-
quente Schwerpunktsetzung vor: Erstens. Wir orientie- Zweitens werden wir auch das Instrument der öffent-
ren uns am Bedarf der einzelnen Verkehrsträger. Wir lich-privaten Partnerschaft verstärkt nutzen müssen. Die
ersten Projekte, die so finanziert worden sind, haben
(B) spielen die Verkehrsträger nicht gegeneinander aus. Wir (D)
wollen eine Gleichwertigkeit der Verkehrsträger herstel- gute Erfahrungen gezeitigt. Wir sind froh darüber, dass
len. weitere acht Projekte mit einem Volumen von etwa
1,5 Milliarden Euro mittelfristig vorgesehen sind.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Haben Sie sich da
mit Patrick Döring abgesprochen?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Infrastruktur ist
eine öffentliche Aufgabe. Wir werden auch in den kom-
– Wir sind einer Meinung in dieser Koalition. Das gilt in menden Jahren mit öffentlichen Investitionen dafür sor-
Ihrer Fraktion ja nun nicht jeden Tag. gen, dass diese Infrastruktur leistungsfähig ist und es
(Beifall bei der CDU/CSU – Patrick Döring bleibt, und zwar so leistungsfähig, wie es für eine gute
[FDP], an die SPD gewandt: Ihr spielt doch Entwicklung unseres Landes erforderlich ist.
die Verkehrsträger immer gegeneinander aus!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zweitens. Für unsere Koalition gilt in erster Linie: Er-
halt geht vor Neubau. Vorrangig ist, den Substanzverlust Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
bei der Infrastruktur zu stoppen. Denn wir können es uns Herr Kollege, auch für Sie war das die erste Rede
nicht leisten, die Verkehrs- und Bausubstanz auf Ver- heute hier im Hohen Haus. Herzlichen Glückwunsch al-
schleiß zu fahren. ler Kolleginnen und Kollegen dazu und alles Gute für
Ihre Arbeit als Abgeordneter des Deutschen Bundesta-
Drittens. Bei Neu- und Ausbauvorhaben müssen die- ges!
jenigen Projekte Vorrang haben, die gesamtwirtschaft-
lich gesehen besonders vorteilhaft sind, die Impulse für (Beifall)
Beschäftigung und Wachstum geben. Vorrang haben die Der Kollege Ulrich Lange ist der nächste Redner,
Projekte, die bestehende Engpässe beseitigen, Unfall- ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion.
schwerpunkte entschärfen und Dauerstaus vermeiden
helfen.
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Momentan werden die Bedarfspläne für Bundesfern- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
straßen und Schienenwege überprüft. Wir werden uns und Kollegen! Meine Damen und Herren von der SPD-
deshalb auch über unsere langfristigen Prioritäten ver- Fraktion! Herr Beckmeyer, Ihr Antrag und Ihre Ausfüh-
ständigen müssen. Viele Rahmenbedingungen haben rungen waren erstaunlich: Deutschland braucht eine mo-
sich seit 2003, seit der Vorlage des Bundesverkehrswe- derne Zukunftsstrategie zur Infrastruktur. – Diese Er-
geplans, geändert. Es geht bei der Fortschreibung, bei kenntnis, Herr Beckmeyer, und auch Ihr Vortrag sind
2092 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Ulrich Lange
(A) eine Kapitulationserklärung nach elf Jahren SPD-geführ- – Natürlich, so ist es! Dank unseres neuen Verkehrs- (C)
ten Verkehrsministeriums: außer Pressemitteilungen kei- ministers Peter Ramsauer gibt es klare Zielvorgaben.
nerlei Inhalte,
(Lachen bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Sie haben heute schon etliche zitieren können.
nichts zu bieten, aber sich hier mit einem eigenen Antrag
groß hinstellen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

(Uwe Beckmeyer [SPD]: Sie waren vier Jahre Kollege Hofreiter, seien Sie beruhigt: Wir werden alle
dabei!) erdenklichen Anstrengungen unternehmen, um mehr
Frachtverkehr auf die Schiene zu bekommen.
– Sie haben doch das Ministerium geführt. Es war
höchste Zeit, dass nach über 4 000 Tagen wieder ein (Florian Pronold [SPD]: Anstrengungen allein
Unionsmann in das Ministerium eingezogen ist. Das war reichen nicht! – Dr. Anton Hofreiter [BÜND-
die richtige Antwort, die wir in der Verkehrspolitik in NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie sich
Deutschland gebraucht haben. erst mal mit der FDP einigen!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn das so einfach wäre, dann frage ich mich, warum
neten der FDP) Sie das in den sieben Jahren, in denen Sie an der Regie-
rung waren, nicht selbst gemacht haben. Es ist nämlich
Jetzt werden wir die Perspektiven entwickeln, die nicht einfach, weil die Schienenwege nicht immer für al-
Deutschland braucht, und ich bin mir sicher, die christ- les ertüchtigt sind.
lich-liberale Koalition ist dazu in der Lage. Wir werden
schaffen, was Sie in über 4 000 Tagen nicht geschafft ha- (Uwe Beckmeyer [SPD]: Das stimmt!)
ben, allerdings nicht in 100 Tagen. – Das stimmt! Danke für die Zustimmung. Im Laufe der
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Oh weh, oh weh, oh Rede werden die Zurufe besser, Herr Kollege.
weh!) Wir müssen also dafür sorgen, dass wir wieder mehr
Was bleibt denn in Erinnerung aus Ihren elf Jahren? Personen- und Güterverkehr auf die Schiene bekommen.
Eine Zukunftsstrategie kann es ja wohl nicht sein; an- Was wollen wir dafür tun? Wir müssen die überörtlichen
sonsten hätten Sie diesen Antrag heute nicht so einbrin- und regionalen Verkehrsverbindungen besser aufeinan-
gen müssen. Sie fordern von uns eine Strategie, weil Sie der abstimmen.
keine haben. Das ist doch die Wahrheit. (Ute Kumpf [SPD]: Das ist nicht schlecht!)
(B) (Ute Kumpf [SPD]: Kann es auch ein bisschen (D)
Wir brauchen effektivere Bahnhöfe. Investitionsmittel in
leiser sein, Herr Kollege?) Höhe von 300 Millionen Euro stehen zur Verfügung.
– Das gilt für Sie genauso.
(Uwe Beckmeyer [SPD]: Wer hat es
(Patrick Döring [FDP]: Zwischenrufe sind erfunden?)
manchmal auch Lärmbelästigung!)
Sie werden dieser Maßnahme sicher zustimmen. Wir
– Mit denen können wir umgehen. müssen die Bahntrassen nach Priorität ausbauen. Da-
rüber haben wir gestern im Ausschuss lange beraten. Wir
Es wird die christlich-liberale Koalition sein, die mit
müssen den „Masterplan Güterverkehr und Logistik“ ge-
einer effizienten Verkehrsinfrastruktur die Mobilität, die
meinsam mit der Wirtschaft erstellen und dabei den Ver-
eine Schlüsselfunktion in unserer Gesellschaft hat, stei-
kehrsträger Schiene entsprechend berücksichtigen. Wir
gern wird.
müssen auch eine Gleisanschlussförderung betreiben.
(Florian Pronold [SPD]: Wer hat Ihnen denn Ich kann ein sehr gutes Beispiel aus meiner Region an-
das aufgeschrieben?) führen: Die Firma Henkel hat 1,4 Millionen Euro inves-
tiert.
– Herr Pronold, das kann ich schon selber.
Insgesamt glaube ich, dass es uns trotz schwieriger
(Zuruf)
Haushaltslage gelingen wird, den Wirtschaftsmotor Ver-
– Nein, das erspare ich Ihnen jetzt. Im Gegensatz zu Ih- kehrsinfrastruktur zu fördern, damit wir eine leistungsfä-
nen habe ich hier keinen Napf stehen. hige Verkehrsinfrastruktur bekommen. Dem messen wir
höchste Bedeutung bei.
Wir werden in den nächsten Jahren durch massive öf-
fentliche Investitionen – die beiden Kollegen haben be- Herzlichen Dank.
reits dazu Stellung genommen – die Infrastruktur verbes-
sern. Herr Beckmeyer, lassen Sie mich einige Fragen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stellen – auch wenn Sie die nicht hören wollen –: Wer
hat denn den Investitionsstau, auch im Bereich Schiene, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zu vertreten? Wer hat denn 2004 die Haushaltsmittel Damit ist die Aussprache geschlossen.
gekürzt? Woher kommt denn die investive Bugwelle, die
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
wir jetzt abbauen müssen?
Drucksache 17/782 an die in der Tagesordnung aufge-
(Ute Kumpf [SPD]: Na, na!) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2093
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist andere Bereiche die Zahlen ihrer Beschäftigten immer (C)
die Überweisung so beschlossen. hervorheben und sagen: Wir sind so wichtig, es muss et-
was getan werden. – In diesem Bereich arbeiten
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
1,5 Millionen Menschen. Er ist wichtig.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Christoph Poland, Rita Pawelski, Wolfgang
Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und Zu dieser positiven Entwicklung beigetragen hat ohne
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Zweifel die wirklich hervorragende Marketingarbeit der
neten Helga Daub, Reiner Deutschmann, Patrick Deutschen Zentrale für Tourismus.
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Kulturtourismus in Deutschland stärken
– Ja, das ist einen Applaus wert. Vielen Dank der Zen-
– Drucksache 17/676 – trale! – Mit Kunst und Kultur lockt sie sehr erfolgreich
Überweisungsvorschlag: zahlreiche Gäste nach Deutschland. Die Grundlage hier-
Ausschuss für Kultur und Medien (f) für legen Bund, Länder und Kommunen. Mit großem
Auswärtiger Ausschuss Einsatz und Engagement fördern und erhalten sie attrak-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung tive kulturelle Anziehungspunkte.
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ein richtig schönes Beispiel dafür ist die Kulturhaupt-
Ausschuss für Tourismus stadt RUHR.2010. Das ist für unser Land, das ist für
Haushaltsausschuss Kultur und Tourismus ein herausragendes Ereignis, das
eine ganz andere Facette von Kultur in den Blickpunkt
Hierzu ist es verabredet, eine Dreiviertelstunde zu de-
rückt. Ich hoffe, sie wird uns noch viele neue, schöne
battieren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Impulse geben.
Dann ist das so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
gin Rita Pawelski für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr gut!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Eine andere Erfolgsgeschichte wird in meiner Heimat
Niedersachsen geschrieben, genauer gesagt: in Ostfries-
Rita Pawelski (CDU/CSU): land. Früher eher bekannt durch die Ostfriesenwitze und
(B) Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Otto, den Friesen, ist Ostfriesland heute die niedersäch- (D)
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland sische Modellregion für Kulturtourismus.
ist ein schönes Land mit einer wunderschönen Natur, mit
vielen sympathischen und offenen Menschen und mit ei- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
nem reichen kulturellen Erbe. Klasse! – Ute Kumpf [SPD]: Warum denn nur
Niedersachsen, Frau Kollegin?)
(Beifall der Abg. Heike Brehmer [CDU/CSU])
Hier gab es 2007/2008 mit dem „Garten Eden“ ein rich-
Unser Land verfügt über ein riesiges, facettenreiches tig erfolgreiches Vernetzungsprojekt. Auf dieser Grund-
Kulturangebot. In Deutschland gibt es 33 UNESCO- lage wurde im vergangenen Jahr das Kulturnetzwerk
Welterbestätten, 1 100 historische Stadt- und Ortskerne Ostfriesland gegründet. Dieses umfasst 32 Standorte,
mit besonderer Denkmalbedeutung. Hier bei uns gibt es 68 Partner aus Kultur und Tourismus sowie 77 Projekte.
zahlreiche Kunstschätze und einzigartige Bauwerke,
6 000 Museen, 130 Berufsorchester, 180 thematische (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Straßen, Kulturwege und historische Routen, 360 öf- Tolles Modell!)
fentliche und private Bühnen sowie 12 000 Kultur- In Ostfriesland boomt der Tourismus. Das zeigt, wie
und Volksfeste. wichtig die Vernetzung zwischen Kultur und Tourismus
Deutschland ist ein Kulturland und daher ein belieb- ist; denn dann ist sie ein Erfolgsmodell. Sie bringt Gäste
tes Reiseland für Kulturtouristen aus aller Welt. Jeder ins Land und Geld, was an und für sich auch nicht
siebte ausländische Tourist kommt wegen der Kultur schlecht ist.
nach Deutschland. Seit 2000 haben die Kulturreisen der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Europäer nach Deutschland um 30 Prozent zugenom- Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
men. Und die Deutschen selbst unternehmen pro Jahr Ein guter Ansatz!)
etwa 80 Millionen Kulturausflüge.
– Das denke ich auch.
Der Kultur- und Stadttourismus in Deutschland ist in
einer Hochphase. Er entwickelt sich zu einem richtigen Wenn man die Zahlen hört und die Entwicklung sieht,
Leuchtturm. Und er hat als Wirtschaftszweig eine könnte man sagen: Warum der Antrag? Es läuft doch al-
enorme, leider immer noch unterschätzte Bedeutung. les gut. – Ja, überwiegend. Trotz der zahlreichen positi-
Der Bruttoumsatz liegt bei 82 Milliarden Euro pro Jahr. ven Beispiele gibt es bei der Zusammenarbeit zwischen
Über 1,5 Millionen Menschen erzielen ihr Einkommen Kultur und Tourismus aber immer noch ungenutzte
in diesem Bereich. Ich sage diese Zahl so deutlich, weil Potenziale. Berührungsängste, Vorurteile, unterschiedli-
2094 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Rita Pawelski
(A) che Bedürfnisse und Abhängigkeiten lassen Kooperatio- über den wir gemeinsam gut beraten haben. Vielleicht (C)
nen allzu oft scheitern. Ich denke, das muss nicht sein. schaffen wir das auch bei diesem Antrag.
Wir kennen die Empfindlichkeiten, und wir müssen Lö-
Ich danke Ihnen ganz herzlich.
sungsansätze anbieten. Wir brauchen einen intensiven
Dialog auf Augenhöhe. Denn eines ist klar: Beide Part- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ner, Kultur und Tourismus, sind gleich wichtig, sind
gleich viel wert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wir wollen den Kulturtourismus weiter stärken. Da- Ulla Schmidt ist die nächste Rednerin für die SPD-
rum brauchen wir eine einheitliche Plattform für strate- Fraktion.
gisches kulturtouristisches Marketing. Das ist übrigens (Beifall bei der SPD)
auch eine Forderung der Enquete-Kommission „Kultur
in Deutschland“. Mit Unterstützung von Bund und Län-
dern sollen Kultur- und Tourismusanbieter auf freiwilli- Ulla Schmidt (Aachen) (SPD):
ger Basis zusammengeführt werden, um Marketingmaß- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
nahmen gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen. Frau Pawelski, ich stimme mit Ihnen in allem überein,
Diese Plattform sollte durch ein spezielles Internetange- was Sie über die Schönheit Deutschlands sagen,
bot ergänzt werden, sozusagen als zentrale Onlineanlauf- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
stelle. Frei nach dem Motto „Urlaub in Deutschland auf Wir auch!)
einen Klick“ sollten die Gäste unser schönes Land quasi
auf dem silbernen Tablett serviert bekommen. Kulturge- und auch in Bezug auf die Notwendigkeit, dass Kultur
prägte Reiserouten sollten visuell per Computer abgeru- und Tourismus Partner sind. Aber wir müssen im weite-
fen werden können, um Geschmack auf das Kulturland ren Verlauf der Debatte über diesen Antrag reden, da-
Deutschland zu machen. rüber, wie wir es in einer gemeinsamen Anstrengung
schaffen, Kultur und Tourismus oder Kulturtourismus im
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und richtig verstandenen Sinne zu fördern. Das ist seit lan-
der FDP) gem ein Anliegen der SPD. Wir hätten gerne mit Ihnen
in der letzten Legislaturperiode einen gemeinsamen An-
Pläne, Hotels, Tickets und alles, was zum kulturtouristi- trag auf den Weg gebracht. Aber wir haben sicherlich
schen Urlaubstrip gehört, sollte dort gebündelt werden, unterschiedliche Auffassungen über die Schwerpunkt-
abgerufen und bestellt werden können. Ich denke, das setzung in diesem Bereich. Wir sollten in den kommen-
wäre Service aus einer Hand. den Wochen genau darüber diskutieren. Denn für uns
(B) (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das steht nicht war immer wichtig, dass die besonderen Anforderungen (D)
im Antrag! Aber das ist egal!) des Kulturbereichs – –

Das ist auch Grundvoraussetzung, um junge Menschen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


in kulturtouristische Bahnen zu lenken. So lernen sie Frau Kollegin Schmidt, möchten Sie eine Zwischen-
Kultur kennen und nutzen die Tourismusangebote hier in frage von Frau Pawelski zulassen? – Bitte schön.
Deutschland.
Gleichzeitig müssen weitere Weichen gestellt werden. Rita Pawelski (CDU/CSU):
Bund, Länder und Kommunen müssen ein gemeinsames Verehrte Frau Schmidt, in der letzten Legislatur-
Konzept für diesen Bereich entwickeln. Kulturcluster, in periode gehörten Sie diesem Ausschuss verständlicher-
denen die Kulturakteure ihre Ressourcen bündeln und so weise nicht an; Sie hatten ein anderes wichtiges Amt.
ihre Attraktivität für den Tourismus steigern können, Ein fast wortgleicher Antrag lag in der letzten Legisla-
sind zu fördern. Ein regelmäßiger Wettbewerb „Kultur- turperiode zur Beratung in der Großen Koalition vor. Die
region Deutschland“, mit dem das Engagement von Kulturpolitiker waren sich einig; aber im letzten Mo-
Städten und Regionen für ein besonderes kulturelles An- ment wurde dieser Antrag von Ihrer Fraktion aufgrund
gebot gewürdigt wird, sollte eingeführt werden. der Wahlen zurückgezogen. Wir waren auf einem guten
Weg. Ich habe es sehr bedauert, dass dieser Antrag nicht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schon in der letzten Legislaturperiode beraten wurde.
der FDP – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] Aber Sie haben jetzt alle Chancen, an diesem Antrag
[CDU/CSU]: Gute Vorschläge! Sehr gut!) mitzuarbeiten. Noch einmal: Ich freue mich auf die Zu-
sammenarbeit auch mit Ihnen.
Der Kulturtourismus bietet große Chancen für Kultur
und Tourismus, für Wachstum und Beschäftigung, für
Land und Leute. Er führt zusammen, er schärft das Be- Ulla Schmidt (Aachen) (SPD):
wusstsein für andere Kulturen und Lebensweisen, und er Frau Pawelski, das in der letzten Legislaturperiode
stiftet Gemeinschaft zwischen Menschen unterschiedli- Erarbeitete basierte schon auf einem sehr ausführlichen
cher Herkunft. Lassen Sie uns deshalb die richtigen Leit- Antrag, den SPD und Grüne entwickelt hatten
planken einziehen, um den Kulturtourismus in die richti- (Heinz Paula [SPD]: 2005!)
gen Bahnen zu lenken. Ich freue mich sehr auf die
Zusammenarbeit und erinnere an den Vorgänger dieses und der an einzelnen Punkten nicht so weit ging wie Ihr
Antrags – es war ein Antrag zur Kreativwirtschaft –, jetzt vorliegender Antrag. Ich hätte mir gewünscht, dass
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2095
Ulla Schmidt (Aachen)
(A) wir in der vergangenen Legislaturperiode eine Einigung alle frommen Wünsche zur Förderung des Kulturtouris- (C)
erzielt hätten. Dann hätten vielleicht schon Schritte in mus hinfällig sind; denn wegen der finanziellen Situa-
die Wege geleitet werden können. tion der Kommunen – wir haben gestern darüber debat-
tiert – erodiert dort die Basis, auf der Kulturpolitik
Ich stelle aber noch einmal fest: Auch bei der Bera- gestaltet werden kann. Das ist nicht nur durch die Krise
tung über diesen Antrag wird es uns darauf ankommen, bedingt, sondern hat auch viel mit der schwarz-gelben
die besonderen Anforderungen des Kulturbereichs sowie Steuerpolitik und den von Ihnen weiter geplanten Steu-
die besonderen Anliegen der kreativ Tätigen in den Mit- ersenkungen zu tun.
telpunkt der Debatten zu stellen und dafür zu sorgen,
dass mithilfe dieses Antrags der Wert der kulturellen Kolleginnen und Kollegen, deswegen müssen wir die
Pluralität herausgestellt wird. gestern im Ausschuss begonnene Diskussion weiterfüh-
ren und darüber nachdenken, wie wir entsprechende
Insofern hoffe ich auf gute Zusammenarbeit und auf Rahmenbedingungen schaffen können, damit Kultur in
offene Beratungen. Man sollte nicht nur auf dem behar- den Städten als eine Aufgabe der öffentlichen Daseins-
ren, was man hier vorgelegt hat. vorsorge gefördert werden kann. Wenn wir das nicht tun,
(Beifall bei der SPD) sorgen wir nämlich dafür, dass die Infrastruktur zurück-
gebaut wird. Wir müssen sie aber ausbauen. Das ist
Lassen Sie mich beispielhaft einige Punkte nennen, wichtig, wenn wir Kultur und Tourismus miteinander
auf die es uns ankommt. verbinden wollen.
Erstens. Sie haben angesprochen, dass wir uns in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Frage der Förderung des Kulturtourismus auf einen in- DIE GRÜNEN)
tensiven Dialog mit den Kulturschaffenden in den Re-
gionen, Städten und Ländern stützen sollen, dass es hier Wir haben den Vorschlag unterbreitet, einen Ret-
um Vermarktungsstrategien geht und dass auch die von tungsschirm für Kommunen aufzuspannen. Es gibt auch
der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ auf andere Vorschläge. Wir müssen aber eine Lösung finden.
den Weg gebrachte und geforderte Clusterbildung eine Allein mit der Aussage „Es darf uns nicht mehr kosten.“
Rolle spielt. Meines Erachtens tun wir bei der Förderung werden wir hier wahrscheinlich nicht weiterkommen.
dieser auch von uns unterstützten Instrumente sehr gut Drittens. Es fehlt jede Aussage zu den Arbeits- und Le-
daran, genau darauf zu achten, dass bei diesen Instru- bensbedingungen der Kulturschaffenden. Ich habe jetzt
menten nicht plötzlich ein Verdrängungswettbewerb ent- – auch in dem neuen Amt – viele Diskussionen geführt.
steht; denn die Gefahr ist immer sehr groß – das wissen Es ist so – darin sind wir uns auch einig –, dass diejenigen,
alle, die beispielsweise in der Kommunalpolitik lange die Kultur schaffen, die Basis dafür sind, dass Kulturtou-
(B) gearbeitet haben –, dass im Interesse der Vermarktung in (D)
rismus entstehen kann und die Städte oder Regionen ihr
einzelnen Bereichen plötzlich sehr stark nach marktwirt- Image entwickeln können.
schaftlichen Kriterien gefördert wird und das, was die
Kultur ausmacht, nämlich die Kulturvielfalt, dahinter Zu dieser Wahrheit gehört aber auch, dass derjenige,
verschwindet. der seine kulturelle Vielfalt und all seine Potenziale ent-
falten will, auch Sicherheit im Hinblick auf seine exis-
Deswegen sollten wir bei der Debatte über die Aus- tenzielle Absicherung haben muss. Deshalb müssen wir
wirkungen und die Ausarbeitung dieser Instrumente sehr im Rahmen des Themas Kulturtourismus auch darüber
deutlich machen, dass die Förderung des Kulturtouris- reden, wie die Einkommensbasis der Kulturschaffenden
mus für uns mehr umfasst als die Förderung des Besuchs aussieht und wie wir beispielsweise die Künstlersozial-
von Museen, Kulturstätten oder Opern. Bei der Förde- versicherung weiterentwickeln können; denn wir wissen,
rung des Kulturtourismus muss nämlich die gesamte kul- dass es bei der Absicherung, bei Krankengeld und Ar-
turelle Identität und Bedeutung einer Stadt oder einer beitslosigkeit, Lücken gibt. Außerdem müssen wir be-
Region berücksichtigt werden, also auch die Angebote denken, dass ein Mindestmaß an sozialer Absicherung
der Kleinkunst und das, was vor Ort durch viele in eh- die Grundbedingung dafür ist, dass man den Kopf frei
renamtlichem Engagement oder in Projekten Tätige ge- hat, um das Potenzial, das man hat, zu entfalten.
schaffen wird; denn die Vielfalt macht die kulturelle
Identität einer Region aus. Nur wenn wir das berücksich- Ich bin froh, dass wir im „Deutschland-Plan“ von
tigen, haben wir die Chance, die gesamten kreativen Ent- Frank-Walter Steinmeier einen Zusammenhang mit die-
wicklungspotenziale zu fördern. ser Frage hergestellt haben und einen Kreativpakt von
Wirtschaft, Politik und Künstlern fordern. Auch darüber
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Agnes sollten wir einmal reden. Denn in diesen Zusammenhang
Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – das betrifft auch die Tourismuswirtschaft – gehören
Zweitens. In Bezug auf die öffentliche Kulturfinan- Tarifverträge und soziale Standards, die auch im Kultur-
zierung fordern Sie vieles, was Bund, Länder und Kom- und Medienbereich eingehalten werden müssen. Bei die-
munen gemeinsam machen sollen. In Ihrem Antrag steht sen Themen müssen wir auch über den Schutz des geisti-
allerdings, alles das dürfe den Bund nichts kosten. gen Eigentums sprechen; denn das ist die Voraussetzung
dafür, dass sich das vorhandene Potenzial entfalten kann.
(Heinz Paula [SPD]: Tja!)
Der allerletzte Punkt. Wir werden in diesem Zusam-
Wenn man sich das vor Augen hält und auch die aktu- menhang auch über die Einbeziehung des bürgerschaftli-
ellen Entwicklungen berücksichtigt, stellt man fest, dass chen Engagements und die Rahmenbedingungen dafür
2096 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Ulla Schmidt (Aachen)


(A) reden müssen. Mit diesem Antrag zur Stärkung des Kul- nen Seite und den Touristikern auf der anderen Seite. (C)
turtourismus bietet sich uns die Chance, durch eine Das ist ein Disput, der oft genug zu einer gegenseitigen
breite Debatte auch eine Antwort auf die Frage zu geben, Blockade, zu einem ärgerlichen Windhundrennen um öf-
wie wir die kulturelle Infrastruktur in 10, 20 oder 30 Jah- fentliche Fördermittel geführt hat. Ernst genommener
ren sicherstellen wollen. Denn dann werden wir es mit Kulturtourismus muss darauf bedacht sein, Berührungs-
einem größeren Anteil älterer Menschen zu tun haben, ängste und Missverständnisse abzubauen. Hier besteht in
mit älteren Menschen, die auf der einen Seite – der Tat Handlungsbedarf.
Wir werden uns deshalb mehr als bisher für einen
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dialog zwischen Kultur und Tourismus einsetzen müs-
Frau Kollegin. sen. Beides kann und darf nicht separat betrachtet wer-
den. Im Gegenteil, beides sollte sich in hervorragender
Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Weise ergänzen.
– Einwohner einer Stadt und Region sind, auf der an-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
deren Seite aber Touristen, vielleicht auch Kulturschaf-
der CDU/CSU)
fende. Wenn es uns jetzt nicht gelingt, die Grundlagen
für soziale und kulturelle Netzwerke zu schaffen, – Wenn wir heute über Kulturtourismus in Deutschland
sprechen, sprechen wir nicht mehr von einem zarten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Pflänzchen, sondern – Frau Pawelski hat die Zahlen ge-
Frau Kollegin! nannt – von einem Wirtschaftszweig, in dem 82 Milliar-
den Euro erwirtschaftet werden und von dem in Deutsch-
land inzwischen 1,5 Millionen Menschen leben. Gerade
Ulla Schmidt (Aachen) (SPD):
im Osten Deutschlands ist der Kulturtourismus für viele
– wird Nachhaltigkeit nicht gesichert sein. Kommunen die einzige Einkommensquelle.
Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
(Beifall bei der SPD) CDU/CSU)
Deutsche Kultur genießt weltweit einen sehr guten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ruf. Vergessen wir auch nicht die Nachkommen ehema-
Helga Daub hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. liger Auswanderer, die unser Land auf der Suche nach
(Beifall bei der FDP) ihren Wurzeln besuchen. Hier ließe sich wunderbar mit
der Luther-Dekade werben.
(B) (D)
Helga Daub (FDP): (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- Kluger Vorschlag!)
nen! In der vergangenen Woche – ab und zu hat man ja Der Kulturtourismus spielt mittlerweile auch inner-
ein bisschen freie Zeit; dann nimmt man auch einmal an halb Deutschlands eine wichtige Rolle. Wir leben in Zei-
Seminaren und ähnlichen Veranstaltungen teil – habe ich ten, in denen sich immer mehr Menschen vom Pauschal-
von einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung gehört, tourismus abwenden und ihr eigenes Land kennenlernen
die sich Mediatisierung nennt. Der Vorgang, der damit wollen. Städtereisen und Kurzurlaube sind in. Immer
gemeint ist, ist zwar nicht ganz neu, spielt in dem Be- mehr Menschen nehmen kulturelle Highlights in ihre
reich, über den wir heute sprechen, aber eine zunehmend Reiseplanung auf. Ich erinnere, obwohl das fast unnötig
wichtige Rolle. ist, an die Berliner Museumsinsel oder an die Ausstel-
Mit „Mediatisierung“ ist gemeint, dass sich der lung des MoMA am Potsdamer Platz, bei der sich lange
Mensch seine Wirklichkeit immer mehr nach Medienbil- Schlangen bildeten. Das war übrigens ein hervorragen-
dern zusammenbastelt. Was in den Medien vorkommt, des Beispiel dafür, wie man eine Ausstellung bundesweit
existiert; was dort nicht vorkommt, wird ignoriert. Man- vermarkten kann.
che Experten fürchten daher – nicht ganz zu Unrecht –, (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
dass die sogenannten primären Erfahrungen dadurch im- Aber Schleswig-Holstein hat auch viel zu bie-
mer mehr in den Hintergrund gedrängt werden. ten! – Gegenruf des Abg. Christoph Poland
Was meine ich damit? Es geht darum, dass wir mitt- [CDU/CSU]: Welches Land hat das nicht?)
lerweile an einem Punkt angelangt sind, an dem kultu-
Hoffen wir, dass die Vermarktung „RUHR.2010 – Kul-
rell/touristisch vermeintlich weniger attraktive Orte Se-
turhauptstadt Europas“ genauso gelingt. RUHR.2010 ist
henswürdigkeiten erfinden, um im Wettbewerb um den
eine Riesenchance für das Ruhrgebiet und könnte dazu
Gast mithalten zu können. Wer will es den Menschen
beitragen, das Image des Ruhrgebietes nachhaltig zu
denn verdenken, dass sie ein Stück vom Kuchen, dem
verändern, und zwar hin zum Image eines Kulturstand-
Medienrummel, abhaben wollen? Was ich damit nicht
ortes. Der Einstieg war schon sehr gut; aber auch nach
meine und was auch nicht hierher gehört, ist zum Bei-
2010 müssen wir dranbleiben.
spiel das Glottertal mit der Schwarzwaldklinik, auch
wenn das Glottertal sehr schön ist, Herr Pfeiffer. (Ute Kumpf [SPD]: Sie müssen einmal dorthin
fahren! Dort gibt es ganz viel Kultur!)
Wer sich mit dieser Materie befasst, weiß um die alten
Streitpunkte zwischen den Kulturschaffenden auf der ei- – Ich komme von dort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2097
Helga Daub
(A) Aber auch historische Altstädte haben ihren Reiz. Als Ich hätte mir bei einem Antrag, den Sie damals mitgetra- (C)
ich kürzlich durch einen Ort mit einer historischen Alt- gen haben, wenn er auch im letzten Moment nicht zum
stadt ging, hörte ich, wie eine Touristin mit unverkenn- Tragen kam, gewünscht, Sie hätten sich da etwas anders
bar amerikanischem Akzent zu ihrem Begleiter sagte: verhalten.
Mein Gott, zu der Zeit hatte Kolumbus uns noch nicht
einmal entdeckt! – Sie meinte die Jahreszahlen auf den (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
historischen, alten Häusern. Unsere historischen Kultur- der CDU/CSU)
güter sind ein Pfund, mit dem Deutschland wuchern
kann. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin, Ihre Wünsche äußern Sie jetzt schon
Übrigens gehören auch Volksfeste zum Kulturgut. Für
außerhalb der Redezeit.
das Oktoberfest werden wir nicht gesondert werben
müssen – es ist hinreichend bekannt –, für Volksfeste in
anderen Bundesländern aber durchaus. Helga Daub (FDP):
Ich komme zum Ende.
(Ute Kumpf [SPD]: Na, ob Komatrinken auf
dem Oktoberfest Kultur ist? Komatrinken Nur so viel: Wir stehen im Wettbewerb mit anderen
würde ich ausschließen!) Ländern in „good old Europe“, und wir müssen uns an-
strengen, um den Anschluss zu halten. Im Tourismus ist
Allein mit den unterschiedlichen Landsmannschaften hat es wie im richtigen Leben: Andere Mütter haben auch
Deutschland eine große Vielfalt zu bieten. Diese Vielfalt schöne Töchter.
hat die Deutsche Zentrale für Tourismus im Ausland in
hervorragender Weise kommuniziert und wird dies auch (Ute Kumpf [SPD]: Auch Schwiegerväter
weiterhin tun. haben schöne Söhne!)
Auch die Deutsche Welle spielt in diesem Zusammen- Ich will sagen: Andere Länder haben auch schöne Kul-
hang eine nicht unerhebliche Rolle. Sie ist ein Kommu- turdenkmäler, hervorragende Künstler und ein kreatives
nikationsmittel, das gerade die jungen weltoffenen Men- Potenzial, um den Tourismus zu vermarkten. Deshalb
schen in vielen Teilen der Welt erreichen kann. bitte ich Sie, diesem Antrag zuzustimmen.
Von Bedeutung ist auch die Durchführung von Deutsch-
land-Jahren im Ausland; davon konnte sich Staatsministe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
rin Cornelia Pieper in Vietnam gerade überzeugen. Frau Kollegin!
Wir begrüßen, dass nach Jahren des Abbaus und der
(B) Stagnation die auswärtige Kulturpolitik wieder eine be- Helga Daub (FDP): (D)
deutende Rolle spielt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit, auch wenn sie
nicht ganz ungeteilt war.
(Ute Kumpf [SPD]: Frank-Walter Steinmeier,
Frau Kollegin!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Bei den genannten Punkten liegt der Schwerpunkt na- Unsere Tochter ist besonders schön!)
türlich auf der kulturellen Komponente. Wir hoffen, dass
sie touristische Wirkung nach sich ziehen wird. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Zurück nach Deutschland. Wir müssen für den Kul- Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Kornelia
turtourismus gemeinsam mit den kommunalen Spitzen- Möller das Wort.
verbänden ein Konzept erarbeiten. Dazu könnte die Aus- (Beifall bei der LINKEN)
lobung eines regelmäßigen Wettbewerbs „Kulturregion
Deutschland“ gehören; Sie haben es auch schon er-
wähnt, Frau Pawelski. So kann es gelingen, Ressourcen Kornelia Möller (DIE LINKE):
zielgerichteter zu bündeln. Wenn man Ressourcen bün- Frau Präsidentin! Ich grüße Sie, Herr Vorsitzender!
delt und koordiniert, kann das die Haushalte entlasten. In Meine Damen und Herren! Es gehört zur Tradition der
vielen Kommunen geschieht das schon; aber eine natio- Tourismuspolitiker der Koalitionsfraktionen, unmittelbar
nale Koordinierung wäre sicherlich hilfreich. vor der jährlichen ITB eine Debatte zum Stand und zu
den Perspektiven des Tourismus in Deutschland auszulö-
(Ute Kumpf [SPD]: Warum denn das? Warum sen.
Zentralstaat von der FDP? Wo ist die Freiheit?
Das ist ja ganz was Neues! Lenkung des Kul- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
turtourismus durch die FDP! Das ist Indoktri- Kulturtourismus!)
nation, was Sie machen wollen!)
– Genau. – Diesmal geht es um die Stärkung des Kultur-
Ich möchte hinzufügen: Um allen Menschen eine tourismus. Offenbar soll es jedoch bei einer konsequen-
Teilhabe am Kulturtourismus zu ermöglichen, müssen zenlosen Debatte bleiben; denn die Koalition will keinen
wir dafür sorgen, dass möglichst viele Angebote barrie- Cent dafür ausgeben. Es ist ein Schaufensterantrag – mal
refrei sind. wieder.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Mit dem vorgelegten Antrag zielen Sie vorrangig auf
CDU/CSU) eine bessere Vermarktung der Kultur. CDU/CSU und
2098 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Kornelia Möller
(A) FDP kritisieren, dass noch nicht alle Potenziale beim Zu- cher wehren sich gegen eine Kulturpolitik als Eventisie- (C)
sammenwirken von Kultur und Tourismus Gewinn brin- rungsstrategie – so heißt das –, als Teil einer einseitigen
gen, das heißt, mit dem erwarteten Profit genutzt werden Ausrichtung der Politik des Senats auf den Profit. Sie
können. Diese einseitige Ausrichtung auf Vermarktungs- wehren sich gegen eine unternehmerische Stadtpolitik,
strategien lehnt die Linke ab. die Künstler und Bewohner aus ihren Lebensräumen
verdrängt, statt sie zu fördern.
(Beifall bei der LINKEN)
Dieser sozialen Seite an der Schnittstelle von Touris-
Die Kultur ist vor allem ein öffentliches Gut und wesent-
mus und Kultur widmet der Antrag der Koalitionsfrak-
liches Moment von Lebensqualität und nicht ausschließ-
tionen keine Silbe, wie er insgesamt die sozialen
lich ein Standortfaktor. Die Kultur hat über ihre Bedeu- Aspekte des Tourismus fast völlig ausblendet. Auch in
tung für den Tourismus hinaus einen Wert an sich. Wir Bezug auf die Barrierefreiheit des Tourismus bleibt er
plädieren deshalb für ganzheitliche und nachhaltige Stra- leider weit hinter unseren Erwartungen zurück.
tegien zur Entwicklung von Städten und Regionen als
Lebensräume, in die sich auch Konzepte für Kultur und (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Das steht doch
Tourismus einbetten lassen. Erfolgreicher Kulturtouris- drin!)
mus verlangt aus unserer Sicht über nutzerfreundliche
– In einem einzigen Punkt, Punkt 8, fordern Sie die Bun-
Kultureinrichtungen und ein gemeinsames Kulturtouris-
desregierung auf, auf die Barrierefreiheit hinzuwirken.
muskonzept von Ländern und kommunalen Spitzenver-
Entschuldigung, aber schwammiger geht es nicht.
bänden hinaus, dass die vorhandenen kulturellen Poten-
ziale erhalten und ausgebaut werden. Kulturtourismus ist ökonomisch und arbeitsmarkt-
politisch bedeutsam; das ist schon angeklungen. Er ist
Deutschland hat zweifelsohne eine reiche kulturelle
ein wichtiger Faktor und muss gezielt gefördert werden.
Infrastruktur – noch. Akut bedroht wird sie gegenwärtig
Dabei sehen wir neben den Ländern auch den Bund in
durch die Folgen der Wirtschaftskrise und die aktuelle
der Pflicht. Insofern hat sich die Linke auch grundsätz-
Politik. Viele Kommunen stehen vor dem Ruin. Sie sind lich für die im Antrag genannte Initiative „Kultur- und
nicht mehr in der Lage, ihre öffentliche Infrastruktur
Kreativwirtschaft“ ausgesprochen. Wichtig ist uns in
aufrechtzuerhalten. Hier wird dann bei den freiwilligen
diesem Zusammenhang, dass die bestehenden Existenz-
Ausgaben als Erstes im Bereich der Kultur gekürzt. Das gründerprogramme und Beratungsangebote sowie die
ist bei uns in Bayern genauso wie anderswo auch. Entge-
Mittelstandspolitik stärker auf die speziellen Anforde-
gen der Regierungspolitik, mit der den Kommunen noch
rungen von Klein- und Kleinstunternehmen der Kultur-
härtere finanzielle Daumenschrauben verordnet werden und Kreativwirtschaft ausgerichtet werden.
sollen, fordern wir als Linke ein Soforthilfeprogramm
(B) Kultur zum Erhalt der Infrastruktur in den Städten und Selbstverständlich müssen auch die sozialen Pro- (D)
Gemeinden. Das ist der beste Beitrag zur Stärkung des bleme der Beschäftigten stärker Berücksichtigung fin-
Kulturtourismus. den. Da wundere ich mich etwas über die Kollegin
Schmidt von der SPD; denn wir haben in der letzten Le-
(Beifall bei der LINKEN) gislaturperiode einige Anträge eingebracht und mussten
Zum Nulltarif ist das allerdings nicht zu haben. Nur im dann feststellen, dass Schwarz-Rot genauso agiert hat,
Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen wie Sie es jetzt Schwarz-Gelb vorwerfen.
kann über den Erhalt der baulichen Substanz hinaus die (Iris Gleicke [SPD]: Das kann nicht sein!
Arbeit der Kulturstätten weiterhin gesichert werden. Niemals!)
Nehmen wir die in Ihrem Antrag und auch eben von Man kann hier also einiges tun. Wir stehen demnächst
Ihnen angesprochene Lutherdekade. Die Stadt Witten- ganz an Ihrer Seite und können gerne gemeinsam wei-
berg in Sachsen-Anhalt kann die Lasten durch das welt- tere Anträge einbringen.
weite Interesse am Reformationsjubiläum im Jahre 2017
unter keinen Umständen alleine schultern. Sie braucht Kurzum: Ihr Antrag ist gesellschaftlich kontraproduk-
ausdrücklich Bundesförderung. Die Akteure vor Ort hof- tiv, weil er vorrangig und einseitig von den Profitinteres-
fen deshalb auf positive Bescheide all jener Ministerien, sen einer kleinen Gruppe ausgeht. Er ist widersprüch-
in denen über Fördermittel zu entscheiden sein wird. Wir lich, weil Sie mit Ihrer Politik des finanziellen
werden dann sehen, wie ernst Ihnen der Kulturtourismus Ausblutens den Kommunen kurz- und mittelfristig den
wirklich ist. Boden entziehen.
Die kulturelle Infrastruktur ist aber nicht allein durch
die knappen Kassen der Kommunen bedroht. Gefährdet Vizepräsidentin Petra Pau:
wird sie auch durch eine kurzsichtige Standortpolitik Kollegin Möller, achten Sie bitte auf die Redezeit!
und einseitige Vermarktungsstrategien, nämlich genau
die, auf die Sie mit Ihrem Antrag zielen. Paradoxerweise Kornelia Möller (DIE LINKE):
zerstören Sie so das Potenzial, das Sie eigentlich verwer- Ja. – Er ist unglaubwürdig, weil jeder weiß, dass For-
ten wollen. Dagegen wächst aber der Widerstand der Be- derungen und Aufgabenstellungen der finanziellen Un-
troffenen, wie zum Beispiel in Hamburg. Dort wehren termauerung bedürfen, wenn sie erfüllt werden sollen.
sich Künstler, Bürger und Kulturschaffende gemeinsam
Ich danke Ihnen.
gegen die Kürzung des Kulturhaushalts. Sie sagen klar:
Das schädigt die Zukunft unserer Stadt. – Die Kulturma- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2099

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: werden von der nackten Not getrieben. Dass fast alle der (C)
Das Wort hat der Kollege Markus Tressel für die 52 Stätten, die am Kulturhauptstadtprogramm teilneh-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. men – die Kulturhauptstadt RUHR.2010 ist bereits er-
wähnt worden –, mit Nothaushalten leben müssen, sagt
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): viel aus. Das ist für eine Kulturnation ein schwaches
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Bild.
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
möchte ich eines sagen: Der vorliegende Antrag hat ein DIE GRÜNEN)
lobenswertes Ziel, das ich vom Grundsatz her voll und
ganz unterstütze. Unsere Fraktion hat deshalb jetzt einen Antrag formu-
liert, in dem es darum gehen wird, die kulturelle Infra-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN struktur finanziell zu sichern. Wir wollen ein Substanz-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und erhaltungsprogramm Kultur auflegen. Ich empfehle,
der FDP) wenn es Ihnen wirklich um Kulturtourismus geht, die-
– Klatschen Sie nicht zu früh! – Es geht um die Synergie sem Antrag zuzustimmen, wenn er in diesem Hause zur
von Kultur, Kreativökonomie und Tourismus. Da sind Abstimmung steht.
wir noch beieinander; da sind wir auf einer Seite. Aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ich muss schon das berühmte Wasser in den Wein gie-
ßen, wenn sich die Frage nach der Finanzierung stellt. Wichtiger ist aber noch: Stoppen Sie die Sorglosigkeit
Die Kollegin Schmidt hat das bereits angesprochen. gegenüber den Kommunen, und packen Sie Butter bei
die Fische!
Die Kollegin Pawelski hat es schon gesagt: Deutsch-
land ist schön. – Im Antrag wird vieles aufgezählt. Aber (Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜND-
man muss sich die Frage stellen, wie wir die 1 100 histo- NIS 90/DIE GRÜNEN])
rischen Stadt- und Ortskerne langfristig erhalten wollen, Mir geht es an dieser Stelle keineswegs um Pauschalkri-
ohne dafür mehr Geld zur Verfügung zu stellen. tik an Ihrer tourismuspolitischen Ausrichtung. Sie wis-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sen, dass wir im zuständigen Ausschuss sehr gut und
sowie bei Abgeordneten der SPD) sehr vertrauensvoll zusammenarbeiten. Aber hier wollen
Sie ein – zugegebenermaßen prachtvolles – Haus bauen,
Wie wollen wir die 33 UNESCO-Welterbestätten erhal- ohne vorher die Fundamente zu setzen oder zu pflegen.
ten und dauerhaft ausbauen, ohne dafür mehr Mittel zur Das kann nicht funktionieren.
Verfügung zu stellen?
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D)
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Im Antrag geht es
nicht um den Ausbau!) Wir wollen den Kulturtourismus fördern. Bei einem
Bruttoumsatz von 82 Milliarden Euro und rund 1,6 Mil-
Wie wollen wir Kulturcluster fördern, wenn wir keine lionen Beschäftigten wird schnell klar, dass dies ein för-
Mittel zur Verfügung stellen? derungswürdiger Sektor ist. Auch da sind wir auf einer
Linie. Wir sind auch dafür, dass die Gespräche mit den
Ich könnte diese Fragen beliebig fortführen. Die Ant-
Ländern und Kommunen intensiviert werden, nicht zu-
wort bleibt immer dieselbe. Sie haben einen Antrag vor-
letzt vor dem Hintergrund der finanziellen Situation der
gelegt, der für die Länder und Kommunen gigantische
Kommunen. Wir sind auch für die Barrierefreiheit. Das
Mehrausgaben bedeutet. Ich bin fest davon überzeugt,
wissen Sie; dafür haben wir uns immer eingesetzt.
dass sie die notwendigen Mittel in die Hand nehmen
würden, um den Kulturtourismus zu fördern, aber sie (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Wir schon lange!)
können es nicht. Damit komme ich zu einem Punkt, den
Wir könnten auch dem Vorschlag eines Wettbewerbs
Sie sicherlich schon erwartet haben, dem von Ihnen ver-
„Kulturregion Deutschland“ und der Vernetzung der Ak-
abschiedeten Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Mit der
teursstrukturen oder der Bildung von Kulturclustern zu-
darin vorgesehenen Mehrwertsteuersenkung für Hotels
stimmen. Voraussetzung dafür ist und bleibt aber ein
haben Sie den Ländern keinen Drops, sondern einen
schlüssiges Finanzierungskonzept, und das fehlt hier.
ganz dicken Brocken zum Schlucken gegeben, was die
sicher gut gemeinte Intention Ihres Antrages leider kon- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
terkariert.
Sie haben es in Ihrem Antrag selber herausgearbeitet:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Ruf Deutschlands in Kulturbelangen ist herausra-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der gend. Wir dürfen aber genau aus diesem Grund die
LINKEN) Kommunen und die Länder nicht im Regen stehen las-
sen. Kulturtourismus lebt in erster Linie – auch das ist in
Wie sieht denn die Lage in den Kommunen und Län-
diesem Antrag deutlich geworden – von diesen kommu-
dern aus? Dort werden Bäder geschlossen. Schulen ver-
nalen Angeboten. Wachstumsmotor in kultureller und
kommen. Im öffentlichen Sektor werden Stellen abge-
ökonomischer Hinsicht kann er nur sein, wenn wir ihn
baut, und im Kulturbereich wird jämmerlich entlohnt. Im
nicht schon im Voraus abwürgen.
Kulturbetrieb wird sogar vor Theaterschließungen nicht
mehr haltgemacht. Das machen die Länder und Kommu- Ich freue mich ganz besonders, dass Sie – das gilt ins-
nen aber nicht aus Verantwortungslosigkeit, sondern sie besondere für die Unionsfraktion – mit der Bildung von
2100 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Markus Tressel
(A) Kulturclustern jetzt auch die zahlreichen Klubs in Berlin ter Neumann damals mit uns im Wirtschaftsministerium (C)
unterstützen wollen. das Baby Kulturtourismus aus der Taufe gehoben hat,
war das ein Novum. Das Baby hat sich inzwischen wun-
(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Was?)
derbar entwickelt.
Das geht mit der Schaffung von Kulturclustern einher.
Die Förderung der Kreativökonomie hat etwas mit ei- (Zuruf von der FDP: Prächtiger Knabe!)
nem moderneren Verständnis von Kulturpolitik zu tun. Wenn wir über Kulturlandschaft reden, ist immer ein
Wir freuen uns, dass dies in diesem Antrag Eingang ge- neuer Geist dabei, nämlich der unternehmerische Geist,
funden hat. Wir wissen, dass durch diese Klubszene den wir in den Diskussionen vorher nicht hatten. Umso
neue Wertschöpfungsprozesse in Berlin und im Umland mehr bedauere ich es, wenn ich von der Opposition das
entfacht werden, und sind hier sehr zuversichtlich. Wort „Kultur“ immer nur im Zusammenhang mit dem
Ich möchte auf eine Zeitungsveröffentlichung zurück- Wort „Zuschussbetrieb“ höre. Manchmal wird Kultur
kommen. Die Süddeutsche Zeitung hat sich in der Aus- vielleicht noch als schöpferisches oder schmückendes
gabe vom 19. Februar dieses Jahres mit der gravierenden Beiwerk wahrgenommen. Es wird jedoch nicht das im-
Finanznot der Kommunen beschäftigt, auch der im mense ökonomische Potenzial gesehen, das in dem Be-
Ruhrgebiet. In diesem Artikel wird die Finanznot sehr reich der Kulturlandschaft vorhanden ist. Die Kultur-
treffend beschrieben. Ich möchte die letzten beiden Sätze hauptstadt in diesem Jahr ist „RUHR.2010“. Im Rahmen
zitieren: von „RUHR.2010“ ist die Kultur- und Kreativwirtschaft
eines der Hauptthemen. Das zeigt, dass erkannt worden
Bisher ist die kulturelle Landschaft der Bundesre- ist, wie wichtig dieses Thema ist. Deswegen muss unser
publik weltweit einmalig. Das dürfte, wenn die Ent- Motto sein: Die Kultur braucht Wirtschaft, und die Wirt-
wicklung so weitergeht, in zwei Jahren Geschichte schaft braucht die Kultur.
sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wir haben eine schwierige Haushaltslage. Das hat
Pessimismus ist nicht gut!) gestern die Debatte mit den Kommunen gezeigt. Wir se-
hen ganz genau, dass wir die Finanzierung der Kultur
Alles in allem kann ich sagen: Ja, die Förderung des von der Haushaltslage abkoppeln und die Fähigkeit der
Kulturtourismus ist zwingend notwendig, dann aber auf Kulturschaffenden und der Kreativen erhöhen müssen,
der Basis eines Gesamtkonzepts, das den Kommunen damit sie sich eigenständig finanzieren können. Das
und den Ländern zunächst den notwendigen finanziellen muss unser Ziel sein. Wir sollten nicht immer darüber
(B) Spielraum lässt, Kultur zukunftsweisend betreiben zu nachdenken, ob noch ein weiterer Topf eingerichtet wer- (D)
können. Ihr Antrag ist keine differenzierte Grundlage für den kann, um das Füllhorn auszuschütten.
eine dezidierte Förderung des Kulturtourismus oder der
Kreativökonomie. Deswegen können wir diesem Antrag (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
leider nicht zustimmen. neten der FDP)
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Müssen Sie auch Die Kulturschaffenden selbst wollen, dass ihr ökonomi-
nicht! Wir beraten ihn ja erst!) scher Wert in diesem Land anerkannt wird. Sie haben in
der Tat einen immens großen volkswirtschaftlichen
Vielen Dank. Wert. Sie wollen sich nicht immer nur als Subventions-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN empfänger sehen, als die Sie sie, liebe Kolleginnen und
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Kollegen von der Opposition, hinstellen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Vizepräsidentin Petra Pau: neten der FDP)
Kollege Tressel, das war Ihre erste Rede im Deut-
schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg auch Wir müssen aber eines sehen: Die Wirtschaft braucht
für Ihre weitere parlamentarische Arbeit. auch die Kultur. Kultur schafft Werte, aber Kultur schafft
auch Arbeitsplätze. Allein in dem Bereich der Kultur-
(Beifall) und Kreativwirtschaft sind über 1 Million Menschen be-
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Dagmar schäftigt. Es gibt 240 000 Unternehmen in dieser Bran-
Wöhrl das Wort. che. Dieser Sektor ist nicht nur für Großstädte wie Ber-
lin, sondern auch für viele andere Regionen zu einem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wachstumsbeschleuniger geworden. Wie stolz war ges-
neten der FDP) tern die Stadt Berlin, als sie mitteilen konnte, dass 2009
mit über 18 Millionen Übernachtungen das beste Touris-
Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): musjahr aller Zeiten für Berlin gewesen ist. Daran sieht
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! man, dass der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle
Angesichts der Reden in dieser Debatte freue ich mich. für die Kreativen und die Kulturschaffenden ist. Auch
Ich freue mich darüber, dass die Worte „Kultur“ und die Berlinale hat ein traumhaftes Ergebnis für die Stadt
„Kreativwirtschaft“ in wirklich jeder Rede vorgekom- gebracht. Di Caprio kommt nicht, weil wir hier tolle Pal-
men sind. Das war nicht immer so. Als Herr Staatsminis- menstrände haben, sondern er kommt wegen der Kultur.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2101
Dagmar Wöhrl
(A) Gut, die Stars kommen schon wegen Kultur und Ge- Dagmar Wöhrl (CDU/CSU): (C)
schäft, aber das gehört hier zusammen. Ich achte darauf.
Die Kulturreisen nach Deutschland haben letztes Jahr Eines müssen wir aber auch sehen: Tourismusanbieter
um 30 Prozent zugenommen. Das Ruhrgebiet erwartet müssen ihre Defizite in diesem Bereich aufarbeiten und
dieses Jahr einen Zuwachs von 15 Prozent, mit steigen- sich um künstlerisches Know-how kümmern, wenn sie
der Tendenz. Deutschland ist inzwischen das zweitbe- auch Kulturangebote machen wollen.
liebteste Kulturreiseland in Europa. Aber das kommt Wir müssen Brücken bauen. Dies ist die Aufgabe der
nicht von ungefähr. Hinter dieser Entwicklung stecken Politik.
viele kreative Köpfe. Unsere Aufgabe ist es, sie zu unter-
stützen, und zwar in vielerlei Hinsicht. Das ist die Auf-
gabe der Politik. Aber das muss nicht immer mit Geld Vizepräsidentin Petra Pau:
geschehen, wie gefordert wird. Das ist nicht das A und O Kollegin Wöhrl, jetzt müssen Sie das Signal bitte be-
in diesem Zusammenhang. achten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ulla (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber ohne Geld Schade! Lassen Sie sie doch noch ein bisschen
geht es auch nicht!) weiterreden!)

– Liebe Frau Kollegin Schmidt, Sie haben vorhin Dagmar Wöhrl (CDU/CSU):
vom Kreativpakt des Kollegen Steinmeier geredet. Das Ich darf in diesem Zusammenhang noch einmal auf
habe ich damals mit Schmunzeln zur Kenntnis genom- das Motto hinweisen, das ich zu Beginn meiner Rede an-
men; das war zu Vorwahlkampfzeiten. Ich habe mir ge- gesprochen habe: Die Kultur braucht die Wirtschaft, und
dacht: Er hat noch nie etwas von der Kultur- und Krea- die Wirtschaft braucht die Kultur. Dies ist der richtige
tivwirtschaft gehört. – Alles das, was damals gefordert Weg.
worden ist, hatten wir schon längst in die Wege geleitet.
Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mit mir
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Nachsicht hatten.
Auch dank Dagmar Wöhrl!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es sind hier allein elf Branchenhearings abgehalten wor-
den. Vizepräsidentin Petra Pau:
Der Kulturtourismus ist eine einzige Erfolgsge- Das Wort hat der Kollege Heinz Paula für die SPD-
(B) schichte. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Fraktion. (D)
MoMA-Ausstellung, die Documenta in Kassel und viele (Beifall bei der SPD)
Ereignisse mehr. Wir müssen aber sehen: Es gibt immer
noch Potenziale, die nicht vollständig ausgeschöpft wer-
den. Der Tourismus geht zwar mit der Kultur Hand in Heinz Paula (SPD):
Hand – so kann man sagen –, aber sie liegen sich nicht in Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
den Armen. Kultur und Tourismus sind zwei Seiten einer Me-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: daille geworden.
Gute Formulierung!) Dies wird richtigerweise im Tourismuspolitischen Be-
richt der letzten Bundesregierung festgestellt. Das zeigt:
Das heißt, um den Tourismus anzukurbeln, müssen wir
Wir sind auf dem richtigen Weg. Frau Wöhrl, dies geht
die Kulturprodukte vermarkten. Diese Vermarktung er-
weit über das hinaus, was Sie gerade angesprochen ha-
folgt oft nicht. Oft ist weder Marketing noch Kunden-
ben, nämlich die Verbindung von Wirtschaft und Kultur.
orientierung vorhanden.
Dieser Bereich ist Gott sei Dank viel breiter und viel fa-
Jetzt könnte man sich fragen, ob die Kulturschaffen- cettenreicher aufgestellt und ist damit auch viel interes-
den eine Kommerzialisierung befürchten und vielleicht santer.
gar keine Vermarktung wollen. Das Gutachten, das die Sie wissen, 2005 hat Rot-Grün mit dem Antrag „Die
Bundesregierung in der letzten Legislaturperiode in Auf- vielfältigen Potenziale des Wirtschaftsfaktors Kulturtou-
trag gegeben hat, hat uns gezeigt, dass dem nicht so ist. rismus weiter erschließen“ einen wesentlichen Meilen-
Vielmehr fehlt vielen Kreativen das ökonomische stein gesetzt. Sie greifen in Ihrem Antrag einige Punkte
Know-how. Das hängt mit der Struktur zusammen. auf. Allerdings müssen wir leider feststellen, dass viele
97 Prozent der Betriebe sind Kleinbetriebe. Deswegen Punkte unter den Tisch gefallen sind.
ist es richtig, dass wir das Kompetenzzentrum für Kul-
tur- und Kreativwirtschaft ins Leben gerufen haben. Da- (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Sie hätten sie ja
mit unterstützen wir diesen Bereich im Hinblick auf Pro- umsetzen können!)
fessionalisierung und Dialogfähigkeit. Ich glaube, dass So haben Sie zum Beispiel mit keinem Wort die Vielfäl-
wir hier auf dem richtigen Weg sind. tigkeit und den Wert der Kultur an sich erwähnt. Sie zie-
len nur auf die Vermarktung. Das ist etwas zu eng ge-
Vizepräsidentin Petra Pau: dacht. Ich finde es gut, dass Sie in Ihren Ausführungen
Kollegin Wöhrl, achten Sie bitte auf das Signal! – in Ihrem Antrag findet sich dies noch nicht wieder –
2102 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Heinz Paula
(A) den sehr wichtigen Vermarktungsfaktor, das Internet, mit deutung ist: die Städtebauförderung. Was tun Sie an die- (C)
benannt haben. Da müssen wir in der Tat noch schärfer ser Stelle? Sie kürzen um 10 Millionen Euro.
hinschauen. Es kann nicht angehen, dass nur ein Drittel
der Menschen über schnelle Breitbandzugänge verfügt. (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Das ist ein
Skandal!)
(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen]
[SPD]) Dieser Vorgang muss schlicht und ergreifend korrigiert
werden. Das werden wir in den anschließenden Beratun-
Hier muss Ihr Antrag deutlich nachgebessert werden. gen in aller Deutlichkeit verlangen.
Stichwort Ehrenamt – Kollegin Ulla Schmidt hat da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
rauf hingewiesen –: Es kann doch nicht angehen, dass LINKEN)
Sie diesen Bereich – über 2 Millionen ehrenamtlich En-
gagierte leisten eine tolle Arbeit – anders als in unserem Sie sprechen die Barrierefreiheit an. Gut so! Aller-
Antrag von 2005 überhaupt nicht erwähnen. Dies muss dings – wir sind uns eigentlich einig; als langjährige
dringend korrigiert werden. Mitglieder in den zuständigen Ausschüssen wissen Sie
das –, wir sind schon viel weiter. Sie kennen unseren ge-
Lassen Sie mich einen anderen Punkt ansprechen; meinsamen Antrag „Barrierefreien Tourismus weiter
hier war ich wirklich entsetzt. Wie kann Ihnen der Fehler fördern“. Wir haben dort eine lange Liste von Vorschlä-
unterlaufen, dass Sie in dem vorliegenden Antrag den gen eingebracht und beschlossen, die von zentraler Be-
gesamten Komplex der europäischen Ebene mit keinem deutung sind, zum Beispiel die Beachtung der Barriere-
einzigen Wort erwähnen? Hier muss entsprechend nach- freiheit bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen usw.
geschärft werden; darauf müssen wir in der Diskussion Unsere Meinung ist: Die Bundesregierung muss diese
achten. Punkte zügigst umsetzen, damit wir hier einen Schritt
(Beifall bei der SPD) weiterkommen.

Ein – Entschuldigung, dass ich es so deutlich sage – Frau Wöhrl, ganz wichtig wäre es, den wirklich zen-
Armutszeugnis für Kultur- und Tourismuspolitiker stellt tralen Bereich der Entwicklung des gesamten Arbeits-
sinnigerweise die Nr. 13 Ihres Antrages dar. Sie fordern kräftemarktes anzusprechen. Da geht es nicht nur um die
dort die Bundesregierung auf, Vermarktung, sondern vor allen Dingen darum, dass wir
auf einen eklatanten Fachkräftemangel zusteuern wer-
die vorgenannten Maßnahmen im Hinblick auf die den. Wir erwarten, dass dieser Punkt in diesem Antrag
aktuelle Haushaltslage ohne zusätzliche Belastun- ebenfalls Berücksichtigung findet; denn dieser Mangel
gen des Bundeshaushalts zu planen und durchzu- gefährdet die zukünftige Entwicklung des gesamten tou-
(B) führen. rismuspolitischen Sektors. (D)
Sorry, so wird es nicht funktionieren. Es funktioniert mit (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Sicherheit auch nicht, wenn Sie die verkehrten Impulse
setzen. Das Hotelgewerbe nach dem Gießkannenprinzip Lassen Sie mich zum Schluss mit einem Blick auf die
mit 1 Milliarde Euro zu unterstützen, ist der verkehrte Regierungsbank kurz feststellen: Im Gegensatz zur De-
Weg. batte über den vorherigen Tagesordnungspunkt, als der
zuständige Verkehrsminister persönlich da war, fehlt nun
(Jens Ackermann [FDP]: Das haben Sie doch der zuständige Minister.
gefordert! – Weiterer Zuruf der Abg. Helga
Daub [FDP]) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Der Staatsminister ist aber anwesend!)
– Frau Daub von der FDP, hören Sie auf Ihren stellver-
tretenden Parteivorsitzenden! Wo der Mann recht hat, Das verwundert mich allerdings nicht weiter; denn es ist
hat er recht. Dazu kann ich nur sagen: Weg mit dieser in der Tat so, dass Minister Brüderle es bisher, sowohl
Maßnahme! bei der Haushaltsrede als auch bei seiner ersten Rede,
wirklich geschafft hat, mit keinem einzigen Wort – man
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten höre und staune! – den Begriff „Tourismus“ zu nennen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) oder irgendwelche inhaltlichen Aussagen dazu zu täti-
Positiv zu beurteilen ist, dass Sie – Frau Pawelski, Sie gen. Ich halte das für einen unmöglichen Vorgang.
erinnern sich – im Gegensatz zu den Beratungen in der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
letzten Legislaturperiode die UNESCO-Welterbestätten LINKEN – Jens Ackermann [FDP]: Sie haben
in Ihren Antrag aufgenommen haben. Das ist sehr posi- nicht zugehört!)
tiv. Ich habe allerdings überhaupt kein Verständnis dafür,
dass Sie gleichzeitig in den Haushaltsberatungen die Ich wünsche mir, dass Ihr Antrag schnellstmöglich an
Mittel für deren Erhalt und Sanierung – in Ihrem Antrag den zuständigen Minister weitergeleitet wird, damit er
verweisen Sie noch stolz auf die bereits zur Verfügung endlich zur Kenntnis nimmt, dass er dafür verantwort-
gestellten 150 Millionen Euro und eine Fortsetzung der lich ist, entsprechende Punkte umzusetzen.
Förderung – um 10 Millionen Euro kürzen. Welche Lo-
(Rita Pawelski [CDU/CSU]: Wie lange sind
gik steckt hinter einem solchen Vorgang?
Sie in der Opposition? Was haben Sie denn ge-
Schauen wir uns den nächsten Bereich an, der für den macht? Wenn man vier Jahre in der Opposition
gesamten kulturpolitischen Tourismus von zentraler Be- ist, kann man so eine Rede halten!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2103
Heinz Paula
(A) – Zur Beruhigung der Gemüter, Frau Pawelski: Wir wer- im Antrag hinweisen, in dem ein Wettbewerb „Kulturre- (C)
den im Ausschuss sehr sachlich versuchen, Ihren Antrag gion Deutschland“ gefordert wird. Das ist im vereinigten
weiterzuentwickeln, sodass wir insgesamt zu einem gu- Europa der Regionen besonders wichtig. Es gibt schon
ten Ergebnis kommen können. genug Modelle zur Entwicklung des regionalen Gedan-
kens, Stichwort „Welcome-Center“.
Ich bedanke mich.
Seit den 90er-Jahren kennen wir den Begriff des Kul-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Gisela
turtourismus. Es geht dabei um die Kultivierung von
Piltz [FDP]: Ich vergesse immer, wie lange Sie
Freizeit und Tourismus und nicht nur um Basisprojekte
eigentlich regiert haben!)
und anderes. Dass das Aufkommen dieses Begriffs mit
der Wiedervereinigung zusammenfällt, scheint mir kein
Vizepräsidentin Petra Pau: Zufall zu sein. Deutschland wird wieder neu entdeckt.
Das Wort hat der Kollege Christoph Poland für die Folgte die Bildungsreise des 19. Jahrhunderts noch
Unionsfraktion. Goethes Spuren, ist die Kulturreise ihr modernes Pen-
(Beifall bei der CDU/CSU) dant. Auf solchen Reisen erschließen sich uns der
Schlosspark von Sanssouci, die Straße der Romantik, die
Festspiele in Mecklenburg-Vorpommern, die UNESCO-
Christoph Poland (CDU/CSU):
Welterbestätten und weitere Erfolgsgeschichten wie
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Thüringer Bachwochen, die Documenta in Kassel – von
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte der MoMa hatten wir schon gehört –, die Dresdner
am liebsten mein Manuskript weglegen; aber ich bin zu Musikfestspiele und auch das Netzwerk „Garten Eden“
neu hier und kenne mich zu wenig aus, als dass ich mir in Ostfriesland. Nehmen Sie an dieser Stelle auch die eu-
das jetzt zutraue. Herr Paula, ich kann Ihnen trotzdem ropäischen Kulturhauptstädte. Von RUHR.2010 war
sagen: Es sind zwei Staatssekretäre aus dem Wirtschafts- schon die Rede.
ministerium da, und der Kulturstaatsminister sitzt eben-
falls auf der Regierungsbank. Ich finde, jede Region muss sich kulturtouristisch
selbst vermarkten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Beratung dieses Antrags zur Stärkung des Kultur-
tourismus hat gezeigt, dass wir in diesem Haus ein Stück Zwei Beispiele aus meiner kulturtouristischen Praxis
weit Gemeinsamkeit hinsichtlich der Unterstützung und sollen diese Wichtigkeit belegen.
vor allen Dingen der Förderung von Kultur und Touris-
Ich reise mit meinem Theaterförderverein des Lan-
(B) mus haben. Ich wundere mich aber über die Haltung der destheaters Neustrelitz jährlich in andere Kultur- und (D)
Linken, die diesem Konsens nicht so ganz zuzustimmen
scheinen. Theaterregionen in Deutschland, um einen Blick über
den Tellerrand zu erhalten. Seit 15 Jahren veranstalte ich
Wir müssen dafür sorgen, dass dieser Konsens ausge- selbst Konzerte mit Jazz- und Weltmusik auf meinem
baut wird. Deutschland hat ein hervorragendes Kultur- Hof in Klein Trebbow. Das Dorf war vorher nahezu un-
image mit einem großen kulturellen Erbe in vielerlei bekannt. Wir locken mittlerweile Tausende von Touris-
Hinsicht. Dazu zählen Architektur, Kunst, Museen und ten in diese Region.
Ausstellungen. Lassen Sie mich hier besonders hervor-
heben: Es sind die Veranstaltungen und Ereignisse, die (Rita Pawelski [CDU/CSU]: Ohne staatliche
die Menschen in der letzten Zeit immer wieder mit Inte- Zuschüsse!)
resse in die Regionen locken. Ich muss Sie der Gefahr – Ohne staatliche Zuschüsse.
aussetzen, von mir manches zu hören, was Ihnen heute
schon zu Ohren gekommen ist. Eine neue Zahl fällt mir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dabei ein. Der Kulturstaatsminister hat 2008 folgende Wir haben mit kleinen kommunalen Hilfen angefangen;
Zahlen veröffentlicht: In diesem Jahr sind 113 Millionen diese staatlichen Hilfen werden dieses Jahr eingestellt,
Bürger in ein Museum gegangen; im Gegensatz dazu weil die Kommune sparen muss. Wir haben als Familie
hatten nur 17 Millionen Bürger ein Ticket für ein Fuß- dafür aber auch 15 Jahre lang auf Urlaub verzichtet. Das
ballspiel der 1. oder 2. Bundesliga gelöst. – Ich denke, möchte ich hier einmal sagen.
der Staatsminister konnte das als einen großen Erfolg
verkünden. (Zuruf von der LINKEN: Sehr tapfer!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und In meinem Wahlkreis gibt es auch das Hans-Fallada-
der FDP) Haus in Carwitz. Wir haben damit ein tolles kulturelles
Reiseziel. Für dieses Jahr gibt es ein weiteres tolles Rei-
Der kulturtouristische Markt gilt also zu Recht als boo- seziel, das ich Ihnen ans Herz legen möchte, nämlich das
mende Branche. Sehen Sie sich nur die große Gruppe der Sterbezimmer der Königin Luise in Schloss Hohenzie-
wissensdurstigen Senioren an, die immer größer wird. ritz, das im 200. Todesjahr von Luise zusammen mit der
Neben dem kulturorientierten Städtetourismus müssen Operette Königin Luise – Königin der Herzen im Rah-
aber auch die vielfältigen Kulturangebote im ländlichen men der Schlossgartenfestspiele in Neustrelitz als Reise-
Raum stärker vermarktet werden. Die wirtschaftliche Be- ziel lockt.
deutung für die Städte, aber auch für die ländlichen Re-
gionen steigt. Hier möchte ich besonders auf den Punkt (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2104 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Christoph Poland
(A) Natur, Kultur und Tourismus finden zusammen, etwa Ich schließe die Aussprache. (C)
mit den Buchenwäldern, die als UNESCO-Kulturerbe
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
anerkannt sind. Die Natur als Reiseziel ist ein besonde-
Drucksache 17/676 an die in der Tagesordnung aufge-
res Gut. So viele schöne und verschiedenartige Land-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
schaften haben wir mit der Wiedervereinigung in das ge-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
meinsame Deutschland eingebracht und müssen dies mit
so beschlossen.
der dort vorhandenen oder zu entwickelnden Kultur ver-
binden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich den
nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, bitte ich Sie,
Mit dem Kulturtourismus werden die regionale Kul-
wenn Sie der folgenden Debatte nicht folgen können
tur, die Sehenswürdigkeiten und die Traditionen ge-
oder wollen, Ihre Gespräche draußen fortzusetzen. Die-
stärkt. In diesem Zusammenhang will ich noch einen
jenigen, die neu zu uns gekommen sind, finden sicher-
weiteren Trend ansprechen: den Religionstourismus.
lich recht bald einen Sitzplatz.
Diesen gibt es zwar schon lange, aber er nimmt neuer-
dings wieder zu. So gab es im vergangenen Jahr welt- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie den Zusatz-
weit über 200 Millionen Religionstouristen. Mit der punkt 2 auf:
Luther-Dekade, die schon vor zwei Jahren begonnen hat,
bieten wir im Hinblick auf das 500-jährige Jubiläum des 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Thesenanschlags Jahr für Jahr ein attraktives Programm Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
für Besucher in Deutschland. Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Schon immer und unverzichtbar arbeiten zahlreiche
ehrenamtlich Tätige im Kulturbereich. Das ist ein wich- Dem Vorbild Großbritanniens und Frank-
tiges bürgerschaftliches Engagement, das ich an dieser reichs folgen – Boni-Steuer für die Finanz-
Stelle ausdrücklich hervorheben möchte. Herr Paula, branche einführen
auch Sie haben das ja erwähnt. – Drucksache 17/452 –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
des Abg. Heinz Paula [SPD]) Haushaltsausschuss
Das verdient eine außerordentliche Würdigung. Wir ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten
brauchen in Zukunft qualifiziertes Personal – das hatte Dr. Gerhard Schick, Fritz Kuhn, Kerstin Andreae,
Frau Schmidt schon in ihrer Rede gesagt und Sie, Herr weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
Paula, haben das auch noch einmal gesagt –, das sich mit NIS 90/DIE GRÜNEN (D)
(B)
Kultur und Tourismus auskennt und die Besucher ent-
sprechend empfangen kann. Gehaltsexzesse nicht länger auf Kosten der
Allgemeinheit
Lassen Sie mich aus Sicht eines Abgeordneten aus ei-
nem attraktiven Reiseland an dieser Stelle einmal fest- – Drucksache 17/794 –
halten: Mit der Absenkung der Mehrwertsteuer für Über- Überweisungsvorschlag:
nachtungen zu Beginn dieses Jahres sind die finanziellen Finanzausschuss (f)
Spielräume für unsere Hoteliers und touristischen Unter- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
nehmen deutlich verbessert worden. Das ist erforderlich Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
für eine erfolgreiche Bilanz in der Zukunft. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Schließen möchte ich mit Goethe. Der hat es trefflich Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
so ausgedrückt: „Man reist ja nicht, um anzukommen, gin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
sondern um zu reisen.“ Es ist das Reisen an sich, das Un- (Beifall bei der LINKEN)
terwegssein, das Kennenlernen von Ländern, Regionen
und Kulturen, das uns fasziniert und bildet. In der Ver- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
bindung von Kultur, Religion und Natur schaffen wir Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
schöne Erlebnisse und leisten einen wichtigen Beitrag Kollegen! Von der Politik nahezu unbehelligt, konnten
zur positiven wirtschaftlichen Entwicklung in Deutsch- die Banken jahrelang ihre Profitansprüche immer höher
land. schrauben. Das ist eine der Ursachen für die Krise. Die
Herzlichen Dank. Bankmanager wurden für die Bedienung der Profit-
ansprüche exorbitant belohnt, unter anderem mittels
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) exzessiver Bonuszahlungen. Damit wurde die Orientie-
rung an kurzfristiger Profitmaximierung noch verstärkt.
Vizepräsidentin Petra Pau: Die wirksame Regulierung der Vergütungssysteme in
Kollege Poland, das war Ihre erste Rede im Deut- der Finanzbranche bleibt daher eine der notwendigen
schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der Maßnahmen auf der Agenda.
weiteren parlamentarischen Arbeit.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist
(Beifall) richtig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2105
Dr. Barbara Höll
(A) Die Bundesregierung bekundete, hier aktiv sein zu lungen erfolgen. Andererseits wollen Sie mit der Boni- (C)
wollen. Es gab Absichtserklärungen, die aber nichts wei- steuer – die nicht anfällt, wenn keine Bonuszahlungen
ter als heiße Luft sind: Man müsse prüfen und die inter- erfolgen – die klammen öffentlichen Kassen unterstüt-
nationale Entwicklung abwarten. – Derweil kassieren zen. Das scheint mir ein Widerspruch zu sein. Vielleicht
die Banker kräftig weiter. Die Krise hat den Staat Mil- können Sie diesen aufklären.
liarden gekostet, vor allem für die Rettung der mitver-
antwortlichen Banken. Die Frage bleibt: Wer zahlt denn Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
nun die Zeche? Heute steht im Handelsblatt – etwas
Herr Kollege, danke für Ihre Frage. Ich nutze gerne
überraschend –: „Milliardenverlust bei Rettungsfonds
die Gelegenheit, das noch einmal klarzustellen.
Soffin“, für das vergangene Jahr über 4 Milliarden Euro.
Die Position der Linken ist klar: Die Zeche für diese Wir als Linke halten das System der Bonuszahlungen
Krise haben die Verursacher zu zahlen. prinzipiell für verkehrt, da sie eine Orientierung auf
(Beifall bei der LINKEN) kurzfristige Profitmaximierung bedeuten und perspekti-
visch gedacht gesamtwirtschaftliches Interesse über
Zu diesen gehören an vorderster Stelle die Banken und mehrere Jahre verhindern. Da wir das – das ist ein Punkt
deren Manager. Es kann nicht sein, dass sie weiterhin der Regulierung der Finanzmärkte – sicher nicht von
unbehelligt Millionen vor allem in Form von Bonuszah- heute auf morgen ändern werden, ist die Idee der Besteu-
lungen kassieren. erung der vorhandenen Bonuszahlungen, zu denen die
Banken sich ja gegenüber ihren Managern verpflichtet
Großbritannien und Frankreich haben nun gezeigt, haben, als kurzfristige Maßnahme eine sehr charmante
wie man schnell, einfach und effektiv reagieren kann, Idee; denn damit besteht tatsächlich die Möglichkeit, da
wenn man denn will. In beiden Ländern wird seit Jahres- anzusetzen, wo es sich lohnt: bei den Banken selber. Die
beginn eine Sonderabgabe auf exzessive Bonuszahlun- Banken müssen sich überlegen, ob es sinnvoll ist,
gen in der Finanzbranche erhoben. Die Steuer wird di- Bonuszahlungen zu leisten; denn sie sehen, was diese
rekt bei den Banken und nicht vom Einkommen der kosten. In Großbritannien kosten Bonuszahlungen in
Manager erhoben. Hohe Boni werden damit für die Ban- Höhe von 1 Million Euro die Bank 1,5 Millionen Euro.
ken unattraktiv; denn sie verteuern Bonuszahlungen Das heißt, es verteuert sich für sie. Dadurch ist sie pers-
durch einen Steuersatz von 50 Prozent. Zudem erweist pektivisch nicht mehr daran interessiert, solche Bonus-
sich diese Bonisteuer als finanzieller Renner. Laut zahlungen zu tätigen.
Financial Times Deutschland vom 5. Februar erwartet
Großbritannien in diesem Jahr Einnahmen in Höhe von Zudem gibt es einen nicht ganz unerheblichen Neben-
bis zu 4,5 Milliarden Euro allein durch diese Steuer. Ich effekt. Als in Großbritannien die Bonussteuer eingeführt
(B) frage Sie angesichts klammer öffentlicher Kassen, öf- wurde, ist man davon ausgegangen, vielleicht (D)
fentlicher Milliarden für die Banken, steigender Arbeits- 1 Milliarde Euro einzunehmen. Inzwischen geht man da-
losigkeit und vieler Probleme: Wie wollen Sie dafür sor- von aus, dass 4,5 Milliarden Euro gezahlt werden. Das
gen, dass diejenigen, die die Krise verursacht haben, zeigt auch, dass die Bonuszahlungen durch die Steuer
auch die Zeche zahlen, und wie verantworten Sie, auf nicht automatisch sofort zurückgehen. Umso notwendi-
eine solche Einnahmequelle zu verzichten? Auf diese ger ist eine langfristige Regelung, ein langfristiges Ver-
Frage müssen Sie eine Antwort geben, falls Sie unseren bot dieser Zahlungen. Andererseits haben wir dadurch
Vorschlag ablehnen. eine Möglichkeit, die Banken dazu zu zwingen, darüber
nachzudenken, wie sie weiter mit diesem Thema umge-
Allerdings habe ich eine gewisse Hoffnung, dass auch
hen. Zudem werden die öffentlichen Kassen gestärkt. Ich
die Regierungskoalition zustimmt. Immerhin hat Frau
denke, durch diesen unmittelbaren Effekt lohnt sich die
Merkel die Bonussteuer als eine „charmante Idee“ be-
Regelung auf alle Fälle.
zeichnet.
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es ist vieles Ich habe eben nicht ohne Grund das Handelsblatt zi-
charmant!) tiert. Beim staatlichen Rettungsfonds waren im vergan-
genen Jahr Verluste in Höhe von etwa 1 Milliarde Euro
Lassen Sie jetzt diesen Worten Taten folgen! Unser Vor- geplant. Jetzt sind wir bei 4 Milliarden Euro. Wenn man
schlag liegt auf dem Tisch. diese Zahlen nebeneinanderstellt, erkennt man einen un-
mittelbaren Zusammenhang. Man sieht, dass das, was an
Vizepräsidentin Petra Pau: unmittelbarer Belastung auf den Bundeshaushalt zu-
Kollegin Höll, gestatten Sie eine Zwischenfrage des kommt, die Mitverursacher der Krise zahlen müssten.
Kollegen Volk von der FDP-Fraktion? Das wollen wir als Linke.
(Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): [CDU/CSU]: Eine reine Bewertungsfrage,
Ja. Frau Kollegin!)
Ich wollte mich noch bei Herrn Schäffler von der
Dr. Daniel Volk (FDP): FDP bedanken. Herr Schäffler hat, da die Kanzlerin von
Danke, Frau Präsidentin, danke, Frau Kollegin Höll. – einer „charmanten Idee“ gesprochen hatte, den Prüfauf-
Eines habe ich nicht ganz verstanden. Sie sagen, Sie trag an den Wissenschaftlichen Dienst gestellt, ob das
wollen mit einer Bonisteuer vermeiden, dass Bonuszah- überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Herr
2106 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Barbara Höll


(A) Schäffler wollte damit seine Klientel bedienen. Er hat Die Bonisteuer trifft einen gewissen Aspekt im Banken- (C)
leider Pech gehabt; denn das Gutachten ergab das Ge- bereich, aber sie trifft auch nicht jeden, sondern einige
genteil. Es ist tatsächlich möglich. Auch in der Bundes- wenige. Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen,
republik können wir eine solche Besteuerung der über- für den völlig falschen Ansatz. Daher bedanke ich mich
höhten Bonuszahlungen an die Manager der Banken für die Gelegenheit, die Sie mir hier noch einmal gege-
sofort beschließen und damit wirklich steuernd eingrei- ben haben.
fen.
(Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Petra Pau:
Damit hat die Kollegin Höll ebenfalls die Gelegen-
Die Bonisteuer ist verfassungsgemäß. Sie nimmt Ver- heit, noch einmal zu sprechen.
antwortliche für die Krise in die Pflicht. Sie lohnt sich.
Sie ist ein Stück mehr Gerechtigkeit. Es ist dringend (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir haben
Zeit, sie einzuführen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung. aber das Thema Bonisteuer!)

Danke. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):


(Beifall bei der LINKEN) Danke, Herr Schäffler. – Erstens stelle ich fest: Sie
haben einen Prüfauftrag an den Wissenschaftlichen
Dienst gegeben,
Vizepräsidentin Petra Pau:
Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Schäffler (Beifall bei der LINKEN)
das Wort. der lautet: „Verfassungsrechtliche Vereinbarkeit einer
Sondersteuer auf Boni von Bankmanagern“, niemand
Frank Schäffler (FDP): anders aus diesem Hause. Sie wollen diese Diskussion.
Frau Kollegin Höll, Sie haben mich gerade direkt an-
Zweitens geht es um eine Regulierung der Finanz-
gesprochen; deshalb geben Sie mir bitte die Gelegenheit,
märkte, und dazu dient unter anderem die Finanztransak-
dass ich darauf antworte.
tionsteuer, die, wenn sie ordentlich ausgestaltet ist,
Ich bin der Auffassung, dass die Auseinandersetzung kleine Sparer überhaupt nicht trifft, sondern ein Regulie-
darüber geführt werden muss – so wie wir das hier auch rungselement ist. Zudem geht es darum, dass die Verur-
tun –, wie wir diejenigen, die in dieser Schieflage vom sacher der Krise tatsächlich zur Kasse gebeten werden.
Staat durch einen Rettungsrahmen, durch den SoFFin, Dafür werden wir verschiedene Instrumente brauchen.
geschützt wurden, am Ende zur Rechenschaft ziehen, gar
(B) keine Frage. Aber ich will darüber keine juristische De- Wir haben von Anfang an kritisiert, dass Sie eine Be- (D)
grenzung der Managergehälter nur bei den Banken vor-
batte führen, sondern ich will mit Ihnen eine inhaltliche
schreiben, die staatliche Hilfen in Anspruch nehmen,
Debatte führen, wie wir das tun. Deshalb kann man mei-
nes Erachtens hierbei nicht mit verfassungsrechtlichen (Zuruf von der CDU/CSU: Bei den anderen
Fragen kommen. wäre es auch nicht angebracht!)
(Widerspruch bei der LINKEN) und es da nur auf die Manager beziehen, aber zum Bei-
spiel nicht auf die Investmentbanker. Sie waren auch da
Vielmehr bin ich der Auffassung, dass wir eine inhaltli- schon sehr zögerlich. – Es ist doch nicht angebracht,
che Debatte über folgende Frage führen müssen: Was ist dass jemand, der Bankchef ist, Millionen im Jahr ver-
der richtige Weg, um dieses Problem zu lösen? dient, Sie mit Ihrer Leistungsgerechtigkeit! Das ist doch
Hier warte ich auf die Vorschläge der Linken dazu, prinzipiell nicht richtig.
wie wir das tatsächlich tun sollen. Wir als FDP machen (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
uns darüber Gedanken. Ich glaube, wir müssen den FDP: Wie viel verdienen Sie denn?)
SoFFin zu einer Finanzversicherungsagentur weiterent-
wickeln, die am Ende dazu führt, dass die Branche für Die Bonisteuer ist natürlich ein Instrument, das an die
die Finanzierung der Schieflage der HRE, aber auch der Höhe von Bonuszahlungen anknüpft, nicht aber den ein-
Commerzbank, der WestLB und der Aareal Bank – also fachen Leistungszuschlag eines Bankangestellten be-
derjenigen, die bisher Geld aus dem System bezogen ha- trifft. Sie spielt tatsächlich erst ab einer bestimmten Grö-
ben – über Beiträge geradestehen muss und die Gelder ßenordnung eine Rolle. Diese Steuer würde somit Geld
zurückgeführt werden. Das halte ich für eine marktge- bringen, würde regulierend eingreifen und würde tat-
rechte Lösung. sächlich die Verursacher zur Kasse bitten. Ihren Vor-
schlag hierzu sind Sie noch schuldig.
Wenn man jetzt wie wild nach Bonisteuern oder in ei-
ner anderen Woche nach Finanztransaktionsteuern sucht, (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martina Krogmann
dann wird man der Krise nicht wirklich gerecht, weil Sie [CDU/CSU]: Weiter geht’s!)
die Verursacher damit nicht wirklich treffen. Eine Steuer
greift immer sehr willkürlich. Die Finanztransaktion- Vizepräsidentin Petra Pau:
steuer trifft den kleinen Sparer; das haben wir hier schon Das Wort hat nun der Kollege Leo Dautzenberg für
mehrmals diskutiert. die Unionsfraktion.
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2107

(A) Leo Dautzenberg (CDU/CSU): ben. Das ist in der Tat zu kritisieren. Das sollte nicht (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe nachhaltig in Vergütungsstrukturen einbezogen werden.
Kolleginnen und Kollegen! Bei der Debatte dieser Pro-
blemstellungen sollten wir es so machen wie beim baye- Wir sind auf einem guten Weg. Ich habe eben schon
rischen Knödelessen: eins nach dem anderen, statt die ausgeführt – auch unsere Kanzlerin hat das getan –, dass
Dinge so durcheinander zu werfen, einmal davon zu re- in der Ausgestaltung unserer sozialen Marktwirtschaft
den und dann von etwas anderem. Damit landet man Vergütungssysteme dem Wert einer Leistung entspre-
dann im Grunde genommen wieder bei Betrachtungen, chen sollten. Durch unser Vorstandsvergütungsgesetz,
wie es dem SoFFin geht und wie man die Beteiligung das auf den Weg gebracht ist, sind Vorstandsgehälter
des Finanzsektors an den Kosten regeln will. Wir sollten leichter zu kürzen, die Haftung des Aufsichtsrates ist
uns darauf konzentrieren. verschärft worden und der zwingende Selbstbehalt von
Vorständen in Haftungsfällen gegeben. Im Koalitions-
Wenn Sie, Frau Kollegin Höll, allerdings eine heutige vertrag steht: Fehlanreize müssen beseitigt werden und
Pressemeldung zum SoFFin so darstellen, als wäre das Vergütungssysteme müssen am langfristigen Erfolg ei-
im Grunde genommen schon ein Liquiditätsabfluss aus nes Unternehmens ausgerichtet und im Grunde auch mit
Verlusten, dann muss ich Ihnen sagen, dass dies eine einem Malus versehen werden. Die Auszahlung sollte
reine Bewertungsfrage und somit ein Buchverlust ist, der sich nicht am kurzfristigen Erfolg orientieren, sondern
noch nichts über die am Ende zu tragenden Kosten aus- auf einen längeren Zeitraum bezogen werden und Ma-
sagt. Deshalb sollte man solche Szenarien nicht an die lus-Regelungen einschließen.
Wand malen, um einen Vergleich mit anderen Bereichen
zu ziehen. Frau Kollegin Höll, Sie stellen darauf ab, was in Lon-
don läuft. Ich frage Sie: Ist es tatsächlich eine Wirkung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) in Ihrem Sinne, wenn andere die Belastung durch die
Darüber hinaus sollten wir uns in der gesamten Dis- Steuern bezahlen und nicht diejenigen, die sie erhalten?
kussion nicht ausschließlich auf den Begriff Boni kon- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Es ist eine
zentrieren. Ich frage Sie, Frau Kollegin Höll: Wenn man Sofortmaßnahme!)
Vergütungen an Bankmanager zahlt, die nicht mit dem
Begriff Boni verbunden sind, was nehmen Sie dann als Setzt es in Ihrem Sinne nicht zu spät an, wenn man nach-
Besteuerungsgrundlage für diese Vergütung? Es wäre träglich etwas besteuert, was das Unternehmen und da-
doch wesentlich sinnvoller, über Vergütungsstrukturen mit das Finanzinstitut bereits verlassen hat? Wesentlich
generell zu reden und nicht über die reine Begrifflich- besser wäre es doch, wenn wir Vergütungssysteme hät-
keit. ten, die im Unternehmen ansetzen
(B) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie wollen (D)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ein gemeinsa-
mer Antrag zum Spitzensteuersatz ist auch in den Antrag radikalisieren! Das ist in Ord-
Ordnung!) nung!)
Man braucht die Boni einfach nur umzubenennen, und und nicht erst dann, wenn die Liquidität das Unterneh-
schon haben Sie die Grundlage für die Besteuerung ver- men verlässt und somit nicht mehr zur Stärkung des Ei-
loren. Deshalb sollten wir über Vergütungsstrukturen im genkapitals zur Verfügung steht.
Allgemeinen reden.
Für meine Fraktion kann ich postulieren: Wir sähen es
Ich glaube, nicht nur Sie haben festgestellt, dass in in manchen Bereichen lieber, wenn die Vergütungsstruk-
den Vergütungssystemen der Wirtschaft, aber auch in an- turen so angelegt wären, dass das Eigenkapital des Un-
deren gesellschaftlichen Bereichen, zum Beispiel Me- ternehmens gestärkt wird, um in Zukunft sicherer zu ar-
dien oder Sport, die Relationen nicht mehr stimmen. beiten, anstatt erhebliche Beträge auszuschütten.
Man sollte sich nicht auf einen Bereich beschränken,
sondern auch im Sinne unseres Ordnungsmodells der so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zialen Marktwirtschaft, verbunden mit dem Wertebezug, Ich bin erstaunt,
Vergütungssysteme insgesamt bewerten. Unsere Kanzle-
rin hat hierfür einen Grundstein gelegt, indem sie vorge- (Iris Gleicke [SPD]: Ich wäre an Ihrer Stelle
schlagen hat, dass auch Vergütungssysteme einer Über- auch erstaunt! – Lothar Binding [Heidelberg]
prüfung unterliegen und an der Leistungsfähigkeit [SPD]: Da hat keiner geklatscht bei der CDU! –
gemessen werden sollen. Gegenruf der Abg. Dr. Martina Krogmann
[CDU/CSU]: Wir sind nur etwas ermattet! Wir
Ich stimme Ihnen zu, dass momentan gerade im In- haben heftig genickt!)
vestmentbanking Vergütungsstrukturen zusätzlich hono-
riert werden, die an sich mit Leistungsfähigkeit nichts zu dass Sie das als überraschenden Vorschlag empfinden.
tun haben, sondern Ausfluss momentaner Marktverwer- Sie haben anscheinend nicht nachvollzogen, was wir
fungen sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Um derzeit schon seit zwei, drei Monaten diskutieren.
im Zinsarbitragegeschäft Geld zu verdienen, brauchen (Beifall bei der CDU/CSU)
sie keine großartigen Leistungen zu erbringen, sondern
der Verdienst ergibt sich aufgrund der Marktsituation. Sie reagieren hier nur dann mit einem Pawlow’schen Re-
Man kann es auch anders bezeichnen: Man muss nichts flex, wenn es in Ihre Linie passt. Das zeigt, dass Sie den
tun, und trotzdem ist ein Erfolg in diesem Bereich gege- Diskussions- und Entwicklungsprozess nicht nachvoll-
2108 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Leo Dautzenberg
(A) zogen haben. Die gesetzliche Grundlage ist bereits ge- (Gisela Piltz [FDP]: Wo ist eigentlich Herr (C)
legt. Steinbrück?)
Die BaFin verfügt jetzt, auch das ist neu, über ge- Sie brauchen gar nicht skeptisch zu gucken. Sie diskutie-
wisse rechtliche Grundlagen für die Risikobetrachtung. ren ja noch. Ich rede von Sachen, die passiert sind:
Sie hat nicht nur die Möglichkeit, auf Vorstandsvergü- Garantien für Sparer und Arbeitsplätze, Konjunktur-
tungen zu achten, sondern auch die Möglichkeit, das programme I und II, Bürgschaften für die Banken – na-
Vergütungssystem der Banken insgesamt in die Risiko- türlich zum Schutz der Einleger, Sparer und Kreditneh-
bewertung einzubeziehen und Begrenzungen vorzuneh- mer –, Kredite zur Stabilisierung des Eigenkapitals. Die
men. Das trifft auch die Investmentbanker, die nicht Vor- Liquiditätskrise war überwunden.
stände sind. Hinsichtlich dieser Problemstellung sind wir
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und wer hat
also auf einem guten Weg.
das gemacht?)
Wir werden das unterstützen, was von der Regierung Wir sind dankbar, dass die CDU/CSU-Fraktion damals
bisher vorgelegt worden ist. mitgeholfen hat.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es ist ja nichts (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja!)
vorgelegt worden!)
Jetzt fragt man sich, nachdem das alles so gut funktio-
Wir werden als Fraktion dazu beitragen, dass wir zu niert hat: Warum könnt ihr diese Arbeit nicht einfach
langfristigen, tragfähigen Vergütungssystemen kommen. fortsetzen? Fragt doch gelegentlich noch einmal den
Wenn man vorschnell nur an einem Ende ansetzt, ist das Peer Steinbrück. Immerhin war das die Rettung in der
der falsche Weg. Not. In der Panik richtig zu reagieren, ist etwas ganz Be-
Vielen Dank. sonderes. Das hat gut funktioniert.
Parallel dazu haben Peer Steinbrück und unsere Frak-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tion eine Ursachenanalyse betrieben. Wir haben feststel-
len müssen, dass Menschen Unglaubliches veranstaltet
Vizepräsidentin Petra Pau: haben. Niemand in der Welt hätte vermutet, dass Leute,
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar die uns gegenüber so auftreten, ganz vornehm, mit einer
Binding das Wort. wunderschönen Sprache und total arrogant, so etwas
veranstalten. Vorstände entwickeln Produkte, die keiner
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) beurteilen kann. Aufsichtsräte genehmigen Geschäfts-
(B) modelle, die keiner versteht. Ratingagenturen sagen, (D)
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): dass dieser Mist etwas wert ist. Wirtschaftsprüfungsge-
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! sellschaften merken nicht viel. Im kulturellen Verhalten
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, der Antrag dieser vier Gruppen haben sich Abgründe aufgetan, auch
von der Linken ist ein Zeichen von Nervosität. Der An- hinsichtlich des Begriffs Gier.
trag von den Grünen ist auch ein Zeichen von Nervosi- Parallel dazu gab es wiederum eine Analyse des Sys-
tät, und der vor einigen Wochen eingebrachte Antrag der tems. Wir haben gelernt: Das System hat eine ganz wich-
SPD mit einem ganz ähnlichen, übergreifenden Inhalt tige Funktion. Wir haben gelernt, dass es nicht unbedingt
war auch ein Zeichen von Nervosität. Warum sind wir gut ist, Kreditverbriefungen zu verbieten. Wir haben
eigentlich alle so nervös? Die Regierung ist total ruhig. aber auch gelernt, was passiert, wenn man aus Kreditver-
Die Regierung macht nichts. briefungen, deren Versicherungen und der Verbriefung
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der der Versicherung der Ursprungskredite dann eine Ver-
SPD und der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: briefung der verbrieften Verbriefung macht. Dann gibt es
Gar nichts!) etwas, was die Banker toxische Produkte nennen. To-
xisch heißt ja giftig. Normalerweise hätte man den Be-
Sie wollen mit uns diskutieren. Jetzt diskutieren wir griff jedenfalls in einer Bilanz nicht vermutet.
schon eine ganze Weile, und wir wollen natürlich, dass
Es haben sich Abgründe in den Strukturen des Welt-
jetzt etwas passiert. Ich frage: Wo ist die Kanzlerin? Wo
finanzplatzes aufgetan: ein Mangel an Risikomanage-
ist Schäuble? Ich meine nicht, warum er nicht hier sitzt.
ment, mangelhafte Sicherheiten und fehlender Bezug zur
Herr Koschyk kann ihn gut vertreten. Ich meine: Wo ist
Realwirtschaft. Inzwischen kennen wir die Krise ziem-
Schäuble? Wo ist die Kanzlerin?
lich genau. Jetzt fragen wir uns natürlich: Was machen
Gehen wir noch einmal zurück zur Dimension der Fi- die Menschen, die die Krise verursacht haben, mit diesen
nanzkrise. Als Lehman Brothers Konkurs angemeldet Erfahrungen? Sie machen weiter wie bisher. Deshalb ist
hat, war das ein Schock. Der ging durch die ganze Welt. jetzt erneut Eile geboten.
Das halbe deutsche Volk saß mit bleichem Gesicht vor (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
dem Fernseher und wusste nicht, was mit seinem Spar- LINKEN)
guthaben ist. In dieser Paniksituation, die berechtigt war,
hat Peer Steinbrück ein Notprogramm entwickelt, ein Wir müssen auch fragen: Was erlauben eigentlich die
Ad-hoc-Programm, das übrigens gut funktioniert und Strukturen im Vergleich zu der Zeit vor der Krise? Die
das Schlimmste verhindert hat: Garantien für Sparer. Antwort ist: Sie erlauben genau das Gleiche, weil wir
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2109
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) hinsichtlich der Verhaltensänderung der Menschen Kosten, die ein Unternehmen hat – Ähnliches soll für (C)
nichts getan haben, abgesehen davon, was die Große Ko- Zuwendungen und Abfindungen für Leute, die gar keine
alition damals ad hoc als Lösungsvorschläge auf den Leistung erbracht haben, gelten –, ab bestimmten Beträ-
Weg gebracht hat. Nach der Krise scheint es so zu sein, gen auf 50 Prozent zu begrenzen.
als ob es vor der Krise ist. Deshalb müssen wir achtge-
(Joachim Poß [SPD]: Haben wir vor zwei Jah-
ben, dass wir jetzt nicht ganz bestimmte gute Vorschläge
ren vorgelegt, und konnten wir in der Großen
für Einzelmaßnahmen machen, die unsere Nervosität wi-
Koalition nicht durchsetzen!)
derspiegeln. Vielmehr müssen wir von der Regierung er-
warten, dass sie ein geschlossenes Gesamtkonzept zur Man kann darüber streiten, ob der Betrag 1 Million Euro
Verhinderung künftiger Krisen dieser Art erarbeitet; zu niedrig oder zu hoch angesetzt ist. Ich sage: 1 Million
denn sie werden kommen. Euro ist ein Einkommen, von dem sich im Prinzip leben
lässt. Darüber müssen wir mit Westerwelle noch disku-
Ich möchte auf die Reden von Joachim Poß und
tieren; aber eigentlich funktioniert das sehr gut.
Carsten Sieling hinweisen, die schon im Januar dieses
Jahres erklärt haben, wie ein solches Konzept aussehen Man muss überlegen, wie die Kreditwirtschaft und
kann. Deshalb hat die SPD einen eigenen Antrag vorge- die Realwirtschaft miteinander verknüpft sind. Darauf
legt, der in seiner Wirkung das Gesamtsystem in den geht der Antrag der SPD in einer sehr geschickten Weise
Blick nimmt und nicht nur einzelne Punkte. ein. Er geht auch darauf ein, dass die Bonizahlungen an
sich ein krankes System erzeugen oder motivieren. Denn
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn ich Bonuszahlungen bekomme, unabhängig da-
– Sie lachen, aber Sie haben nichts vorgelegt; dann darf von, ob meine Beratung gut war oder schlecht, dann ver-
man nicht so fröhlich sein. kaufe ich natürlich jeden Unsinn. Ich spreche jetzt nur
von bestimmten Bankern, nicht von allen. Denn Pau-
Die Lage ist ernster, als Sie denken. Ich frage: Wo ist schalurteile helfen nicht weiter; das ist völlig klar.
Schäuble? Wo wurde etwas vorgelegt? Wo ist die Kanz-
lerin? Gibt es Lösungskonzepte? Nein, Schäuble ist Eine allgemeine Bankenabgabe und eine Beteiligung
nicht da, und die Kanzlerin wartet ab. der Banken an den öffentlichen Lasten durch die Krise
sind zu prüfen. Dazu gibt es überhaupt keine Ideen. Im
Es hätte schon sehr viel passieren müssen. Wir haben Moment tun wir nichts; aber wir müssen etwas tun. Wir
nämlich – jetzt komme ich noch einmal auf die Große müssen jetzt etwas vorlegen. Das kann schnell passieren,
Koalition zu sprechen – eine sehr gute Vorbereitung. und zwar bevor sich der neoliberale Selbstbedienungsla-
Leo, das weißt auch du. Im Steuerhinterziehungsbe- den
kämpfungsgesetz gibt es die Option, dass das Ministe-
(B) rium, ohne uns zu fragen, ein sehr gutes Bündel von (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!) (D)
Maßnahmen durch Verordnung in Kraft setzen kann. auf die nachstaatliche Rettung der nächsten Krise vorbe-
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber ohne reitet. Denn das ist die Idee. Die Privaten versagen, und
Kavallerie!) am Punkt des Versagens rufen sie nach dem Staat, des-
sen Steuerleistungen sie zuvor kritisiert haben und der
– Ja, du kannst es ins Lächerliche ziehen; aber mir ist das deshalb verarmt. Das ist ein Supermodell. Ich glaube,
Thema ernst. wir alle haben gemerkt, dass die FDP das verfolgt. Das
Man kann mit der Rechtsverordnung sehr viel errei- tragen wir nicht mit. Ich frage: Wo ist Schäuble? Wo ist
chen. Eine Rechtsverordnung ist Sache von Schäuble. die Kanzlerin? Vielleicht kann die FDP den beiden ja
Ich frage: Wo ist Schäuble? Wo ist die Kanzlerin? Im helfen.
Verhältnis zu Steueroasen könnte er etwas tun. (Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Ich
frage, wo Sie die letzten Jahre gewesen sind!)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Doppelbesteue-
rungsabkommen mit der Schweiz!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Beim Betriebsausgabenabzug könnte er etwas tun. Bei Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDP-
den OECD-Standards hinsichtlich des Informationsaus- Fraktion.
tauschs könnte er etwas tun. Bei der Zinsrichtlinie, bei
der Bargeldkontrolle und der Geldwäsche und auch bei (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Betriebsprüfungen von Einkommensmillionären könnte der CDU/CSU)
er etwas tun. All diese Maßnahmen könntet ihr machen,
mindestens in der Geschwindigkeit – das würde ich er- Björn Sänger (FDP):
warten –, in der ihr die Milliarde für die Hotels rausge- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
schmissen habt. Herren! Herr Kollege Binding, beruhigen Sie sich jetzt
erst einmal. Sie sind ja ganz aufgeregt, unglaublich.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ich bin
total aufgeregt! Stellen Sie sich vor, was ge-
Um künftige Krisen zu vermeiden, muss man mehr
rade passiert!)
tun, als darüber zu diskutieren, Herr Schäffler. Deshalb
ist es wichtig, darüber nachzudenken, die Absetzbarkeit Sie haben es angesprochen: Es werden nervöse Anträge
von Gehältern, letztendlich eine steuerliche Hilfe bei vorgelegt, erst diese Woche wieder von den Linken.
2110 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Björn Sänger
(A) (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das habe (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das verteuert (C)
ich nicht gesagt!) es aber erheblich!)
Ich bin gespannt, was nächste Woche kommt. Das ist ein Das haben Sie gerade eben auf die Frage des Kollegen
bisschen wie Murmeltiertag. Dr. Volk selbst gesagt. Sie machen es für die Banken
einfach nur teurer; denn diese werden weiter zahlen. Das
(Zuruf von der SPD: Dann machen Sie doch
geht zulasten des Eigenkapitals.
mal gescheite Politik!)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eben! –
Sie sagen, diese Anträge sind nervös. Gleichzeitig
Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Oder es führt
möchten Sie aber ein geschlossenes Konzept haben. Es
dazu, dass die Boni auch mal gekürzt werden!)
ist auch absolut notwendig, ein geschlossenes Konzept
zu haben. Sie haben gerade in Ihrem Redebeitrag fünf, Das führt schlussendlich dazu, dass wir in eine Kredit-
sechs unterschiedliche Maßnahmen angesprochen, die klemme geraten.
alle sehr sinnvoll und notwendig sind.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Nicolette Kressl [SPD]: Ach so!) der CDU/CSU)
Diese muss man aber vernetzt in ein geschlossenes Kon- Schauen Sie sich am Beispiel Großbritannien doch
zept, wie Sie es auch haben wollen, einfließen lassen. einmal an, wie viele Umgehungstatbestände es gibt. Da
(Joachim Poß [SPD]: Dafür haben wir ja eine können Sie die Boni einfach über eine Tochtergesell-
Regierung, dass sie so etwas vorlegt!) schaft, beispielsweise auf den Kanalinseln, auszahlen.
Da sind sie wieder, die bösen Töchter.
Das kann man aber eben nicht mit der heißen Nadel nä-
hen. Dafür braucht man Zeit und sinnvolle Vorbereitung. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die Steuer-
Wir haben das Ganze im Koalitionsvertrag vereinbart oasen wollen wir ja wohl schließen, oder
und werden es entsprechend vorlegen, und zwar so, dass nicht? – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg
die Probleme gelöst werden. [CDU/CSU]: Das könnt ihr uns ja wohl nicht
vorwerfen!)
(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]:
Wird doch nichts geliefert!) Das können Sie nicht verhindern. Die Möglichkeiten
sind immer wieder da. Sie schaffen eine Menge von Be-
Die Linken möchten mit der Bonisteuer das Abkas- wertungsproblemen. Was machen Sie denn beispiels-
sieren der an kurzfristiger Profitmaximierung interes- weise, wenn ein Bonus in einem Sachwert ausgezahlt
sierten Manager, die Millionen scheffeln, verhindern. wird? (D)
(B)
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Komisch,
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Mit einer dass Großbritannien das kann! – Weiterer Zu-
Steuer verhindern!) ruf von der LINKEN: Wollen Sie etwa Gut-
– Mit einer Steuer, genau. – Diese Steuer soll bei Bonus- scheine, oder was?)
zahlungen ab einer jährlichen Höhe von 27 000 Euro Den wollen Sie auch erfassen. Wie wollen Sie es aber
greifen. Es sind 27 000 Euro – korrigieren Sie mich –, bewerten, wenn jemand beispielsweise einen Mercedes
nicht ganz 1 Million Euro. 300 SL Roadster, Baujahr 1955, als Dienstwagen be-
(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nicht am kommt? Dafür zahlen Sie am Markt 500 000 Euro. Er
Tag!) hatte 1955 aber einen Listenpreis von – ich weiß es nicht
genau – 33 000 DM. Bei Dienstwagen wird nach Listen-
– Nicht am Tag. Es geht um Boni ab 27 000 Euro jähr- preis besteuert. Das müssten Sie in diesem Fall auch ma-
lich. Sie werden mir zustimmen, dass das keine Million chen. Ich weiß nicht, ob Sie das Ziel, das Sie an dieser
ist. Stelle verfolgen, auf diese Weise wirklich erreichen.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Boni! (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Vielleicht
Zusätzlich zum Gehalt!) bauen Sie hier ein Problem auf?)
Wir haben im Übrigen eine Ursachenanalyse ge- Die Bonisteuer hilft an dieser Stelle überhaupt nicht.
macht. Sie haben vollkommen recht: Die kurzfristige Herr Kollege Dr. Schick, der Antrag von den Grünen ist
Profitmaximierung überraschend gut. Das sage ich an dieser Stelle, obwohl
(Zuruf von der LINKEN: Was ist denn das eigent- das Wort „Gehaltsexzesse“ in der Überschrift ein biss-
lich? Erklären Sie mir das doch mal!) chen brutal klingt. Sie haben aber erkannt, dass eine Haf-
tung eingeführt werden muss, wenn Boni gezahlt wer-
hat – unter anderem; im Zusammenspiel mit vielen ande- den. Das leistungsorientierte Vergütungssystem an sich
ren Faktoren – dazu geführt, dass wir uns jetzt in der ist nichts Schlimmes. Es muss aber mit einer Haftung
Krise befinden; das ist unwidersprochen. Mit der Boni- verbunden werden. Von daher sind wir auf einer Linie.
steuer allein werden Sie es aber nicht schaffen, dass die Über den langfristigen Erfolg können wir uns noch un-
Leute sich kurzfristig nicht weiter an einer Profitmaxi- terhalten. Wir müssen darüber diskutieren, wie viele
mierung orientieren. Denn sie bekommen weiterhin ihre Jahre „langfristig“ ist. Das ist eine Diskussion über die
Boni. zeitliche Dimension, in die wir da eintreten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2111
Björn Sänger
(A) Aus unserer Sicht gehört auch ein Malus dazu. Wenn Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
es in die eine Richtung geht, dann geht es auch immer in Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
die andere Richtung. Wir müssen die Rechte der Aktio- ein guter Stil, dass wir sachlich diskutieren. – Da wir ge-
näre in der Hauptversammlung stärken und für Gehalts- rade über Bonizahlungen in Millionenhöhe reden,
transparenz sorgen. Wir brauchen in den Aufsichtsräten möchte ich den Bezug zur Sozialstaatsdebatte herstellen,
effiziente Strukturen, also eine Begrenzung der Man- weil ich glaube, dass dieser Bezug wichtig ist. Wenn
date, und die persönliche Haftung der Aufsichtsräte. Wir man irgendwo von spätrömischer Dekadenz sprechen
müssen dafür sorgen – Thema persönliche Haftung –, kann, dann bei den Gehaltsexzessen in den Spitzenposi-
dass dann, wenn ein Manager scheitert, nicht auch noch tionen unserer Wirtschaft.
der Selbstbehalt im Rahmen der D&O-Versicherung
vom Unternehmen gezahlt wird; dann hätte man nämlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eine Vollkaskoversicherung, und das wollen wir nicht. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
Wer den Karren an die Wand gefahren hat, der muss LINKEN)
auch persönlich, am eigenen Einkommen und am eige- Deswegen ist dieser Begriff gerechtfertigt. Es wird übri-
nen Vermögen, spüren, dass er einen Fehler gemacht hat. gens auch von vielen vernünftigen Leuten in dieser
Branche inzwischen so gesehen, dass es sich um Ge-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
haltsexzesse handelt. Deswegen sagen wir es so, wie es
CDU/CSU)
ist.
Außerdem brauchen wir eine Wartezeit beim Wechsel (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
vom Vorstand in den Aufsichtsrat. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ja, in Ord-
All das ist grundsätzlich richtig. Aber Sie haben in Ih- nung!)
rem Antrag einen kleinen Fehler gemacht, der die Zu- Ich glaube, es ist wichtig, deutlich zu machen, dass
stimmung bedauerlicherweise unmöglich macht, näm- diese Zahlungen drei Probleme auslösen: Zum Ersten
lich die Begrenzung des Betriebsausgabenabzugs. schaden sie dem Institut selbst, wenn viel zu riskantes
(Nicolette Kressl [SPD]: Oh! Auch das noch!) Geschäft belohnt wird. Zum Zweiten destabilisieren
diese Zahlungen den gesamten Finanzmarkt und könnten
Damit bekämpft man nicht die Ursachen, sondern das eine weitere Krise auslösen; deswegen muss hier schnell
führt schlussendlich dazu, dass die Kosten steigen, was gehandelt werden. Das Dritte ist: Sie führen zu einer
zulasten des Eigenkapitals geht; das habe ich schon er- Auseinanderentwicklung in unserer Gesellschaft, die wir
wähnt. nicht hinnehmen dürfen. Das Schlimme daran ist, dass
(B) durch den Betriebskostenabzug auch noch die breite (D)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wollen Sie die Masse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler belastet
als Alternative vielleicht gesetzlich be- wird.
grenzen? – Christine Scheel [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Ach so! Wir lassen es lieber (Joachim Poß [SPD]: Genau!)
die Steuerzahler zahlen, ja? – Dr. Gerhard Deswegen setzen wir hier an.
Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn
nicht mehr die Eigentümer, dann absenken? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das müssen Sie zusammen denken!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sie
– Nein, ich will sie nicht gesetzlich begrenzen. – Ge- wollen beim Steuerzahler ansetzen, oder was?
haltszahlungen sind nach wie vor Betriebsausgaben und Heißt das etwa, Sie wollen die Steuern erhö-
demzufolge auch steuerlich abzugsfähig. hen? Das ist doch eine Milchmädchenrech-
nung!)
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eben!)
An diesen drei Punkten muss sich jeder Vorschlag,
Ich fasse zusammen: Von den Linken habe ich nichts der gemacht wird, messen lassen. Der Vorschlag der
anderes erwartet. Ein ausdrückliches Lob an die Grünen, Linkspartei greift zu kurz, weil die vorgesehenen Rege-
bis auf die Kleinigkeit, die ich angesprochen habe; aber lungen leicht zu umgehen sind. Er greift nicht bei Fixge-
daran können wir arbeiten. hältern, bei denen über Aktienoptionen natürlich auch
Danke. entsprechende Anreize ausgelöst werden können.

(Beifall bei der FDP) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Genau! Es


geht um die Gehaltsstruktur!)
Vizepräsidentin Petra Pau: Außerdem begrenzen Sie Ihre Forderungen auf die
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die Finanzbranche. Dazu muss ich sagen: Porsche gehört
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. nicht zur Finanzbranche, aber auch dort ist heftig speku-
liert worden. Auch darauf muss es eine Antwort geben.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Jetzt muss Herr (Frank Schäffler [FDP]: Oh ja!)
Schick das Dankeschön aber auch zurückge-
ben! – Frank Schäffler [FDP]: Genau! Jetzt Ich frage mich: Ist es eigentlich gerecht, bei jeman-
muss er uns auch mal loben!) dem, der ein geringes Fixgehalt hat und eine Bonus-
2112 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Gerhard Schick


(A) zahlung in Höhe von 30 000 Euro erhält, auf diese davor – ich weiß es schon gar nicht mehr so genau – Ent- (C)
Bonuszahlung eine zusätzliche Steuer zu erheben, bei je- eignung der Banken und Überführung der Kreditinstitute
mandem mit einem Fixgehalt von 2 Millionen Euro aber in das Eigentum der öffentlichen Hand. Jetzt fordert sie
keine zusätzliche Steuer zu erheben? eine Bonisondersteuer. Was wollen Sie denn nun?
Wir gehen dieses Thema systematischer an und orien- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Alles! –
tieren uns dabei an den genannten drei Punkten: Erstens Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Und eine
verstärken wir die Kontrollmechanismen in den Unter- Mauer drum herum!)
nehmen, damit die Eigentümer dafür sorgen können,
dass die Vorstände das Unternehmen nicht als Selbstbe- Wir sind uns einig: Wir müssen die Institute, die für
dienungsladen begreifen. Das muss über den Aufsichts- diese Krise hauptverantwortlich sind, an den Kosten der
rat und die Hauptversammlung geschehen. Krise angemessen beteiligen. Das sind wir den Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahlern schuldig.
(Joachim Poß [SPD]: Das haben auch wir
schon gemacht!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Das ist ein wichtiger Punkt: bessere Kontrollmechanis-
men und Haftung in den Unternehmen selbst. Was noch viel wichtiger ist: Wir müssen dafür Sorge
tragen, dass eine solche Krise, wie wir sie in den letzten
Zweitens müssen wir dafür sorgen – jetzt gebe ich das zwei Jahren erlebt haben, nicht mehr entstehen kann.
Lob an Sie zurück; das, was Sie hierzu vorschlagen, ist Wir haben bereits gehandelt. Unter anderem haben wir
nämlich richtig –, dass die BaFin das besser kontrollie- einen Selbstbehalt bei D&O-Versicherungen eingeführt.
ren kann. Variable Vergütungsbestandteile müssen zukünftig eine
Der dritte Aspekt ist der steuerliche Ansatzpunkt. mehrjährige Bemessungsgrundlage haben. Wir haben
dafür gesorgt, dass Aktienoptionen frühestens nach vier
(Joachim Poß [SPD]: Genau! Da habt ihr aber Jahren ausgeübt werden können. Der Aufsichtsrat muss
nicht mitgemacht! Das haben wir vor zwei nun für unangemessene Vergütung des Vorstandes haf-
Jahren vorgeschlagen!) ten. Auch bei Verbriefungen bleibt nun ein Selbstbehalt.
Es gibt ein Maß, ab dem nicht mehr argumentiert werden Die Vorgaben des Baseler Ausschusses für Bankenauf-
kann, dass es sich um eine notwendige Betriebsausgabe sicht für eine höhere Eigenkapitalunterlegung gelten.
handelt. Das ist dann der Fall, wenn es exzessiv prakti- Demnächst werden wir dafür sorgen, dass die BaFin in
ziert wird und nicht mehr mit Leistung begründet wer- die Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile ein-
den kann. Deswegen wollen wir bei Abfindungen von greifen und diese sogar untersagen kann.
(B) 1 Million Euro die Grenze dessen ziehen, was wir noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
als notwendige Betriebsausgabe anerkennen.
Wir sorgen damit für Vergütungssysteme, die angemes-
(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Und das sen sind, die transparent sind und die vor allem auf eine
wollen die Grünen bestimmen?) nachhaltige Entwicklung des jeweiligen Unternehmens
Gehälter, die 500 000 Euro übersteigen, wollen wir im- ausgerichtet sind.
merhin noch zur Hälfte als notwendige Betriebsausgabe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
akzeptieren. Diese Vorschläge lassen immer noch eine
Riesengehaltsspanne zu; aber wir geben damit eine kon- Ich möchte Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass
sequente Antwort auf die Gehaltsexzesse, die es gibt, die allermeisten Institute in Deutschland bereits reagiert
und sorgen, indem wir verhindern, dass Finanzmarkt- haben. Der Anteil der Bar-Boni, auf die Sie zuzugreifen
unternehmen, wie es zurzeit der Fall ist, in eine Fehlsteu- beabsichtigen, an der variablen Vergütung ist längst auf
erung geraten, für stabilere Finanzmärkte und mehr Ge- einen Bruchteil zurückgegangen. Die Boni werden heute
rechtigkeit. in der Regel auf Sperrkonten eingezahlt, auf die erst
nach zwei, drei, vier Jahren zugegriffen werden kann
Danke schön.
und auch nur dann, wenn eine nachhaltige positive Ent-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wicklung des Unternehmens erkennbar ist. Das ist nicht
sowie bei Abgeordneten der SPD) nur der richtige Weg, das ist bereits die Realität; das
müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unions- CSU])
fraktion.
Vor diesem Hintergrund muss man sich die Frage stel-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- len, was Sie mit Ihrem Antrag bezwecken wollen. Wel-
neten der FDP) che Zielrichtung verfolgen Sie, wo ist bei der Besteue-
rung der Boni der Lenkungszweck? Das Problem
Olav Gutting (CDU/CSU): falscher Anreizimpulse wird mit einer solchen Sonder-
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! besteuerung jedenfalls nicht gelöst. Sie wollen diese
Letzte Woche hat die Linksfraktion die Einführung der Boni bereits bei den Unternehmen besteuern. Die Praxis
Tobin-Steuer bzw. Börsenumsatzsteuer gefordert, davor in Großbritannien zeigt – Sie haben es selbst eingeräumt –,
eine Bankensonderabgabe à la Obama, dazwischen oder dass die Unternehmen die Boni weiter bezahlen, nur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2113
Olav Gutting
(A) dass es sie nun das Doppelte kostet. Diese Besteuerung Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
hat also letztendlich keinen greifbaren Lenkungseffekt Ich schließe die Aussprache.
dahin gehend,
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Doch!) den Drucksachen 17/452 und 17/794 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
dass die Anreize, die wir als mitverantwortlich für die Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
Krise erkannt haben, in irgendeiner Form eingedämmt die Überweisungen so beschlossen.
würden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Außerdem ist da die Frage der rechtlichen Zulässig-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
keit. Zum einen ist der Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3
gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Grundgesetz zu beachten. Eine Sondersteuer für die
Änderung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes
Boni von Bankmanagern wäre nur bei einer sachgerech-
ten Begründung im Hinblick auf den Lenkungszweck – Drucksache 17/717 –
mit dem Grundgesetz vereinbar. Worin soll dieser Len- Überweisungsvorschlag:
kungszweck bestehen? Wir sehen an dem Beispiel Groß- Finanzausschuss (f)
britannien doch, dass es quasi keinen Lenkungseffekt Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
gibt. Zudem soll die ganze Sache auf vier Monate be- Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
grenzt sein. Ein Lenkungseffekt ist deswegen nicht er- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
kennbar, und er wäre in Deutschland auch nicht vonnö-
ten, weil die notwendige Lenkung bereits durch die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
vorhin genannten Maßnahmen der Bundesregierung ge- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
währleistet ist. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
der FDP – Widerspruch bei der LINKEN) mentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Was ist zum anderen mit dem Übermaßverbot nach
Art. 14 Grundgesetz? Zuerst wollen Sie 50 Prozent bei
der Bank abschöpfen, und danach wollen Sie noch ein- Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär beim Bun-
mal abschöpfen, und zwar bei dem betroffenen Mitarbei- desminister der Finanzen:
ter, der einen Grenzsteuersatz von 51 Prozent – inklusive Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(B) der Kirchensteuer – hat. Die Kraftfahrzeugsteuer ist seit dem 1. Juli 2009 eine (D)
Bundessteuer, für die aufseiten der Bundesregierung der
Jetzt kommen wir einmal zu dem Gutachten vom Bundesminister der Finanzen zuständig ist. Im Wege ei-
Wissenschaftlichen Dienst, das Sie vorhin angesprochen ner Organleihe bedienen wir uns übergangsweise, bis
haben. Sie haben es offensichtlich nicht gelesen; denn in zum 30. Juni 2014, der Landesfinanzbehörden.
dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes steht,
dass genau diese Besteuerung mit zweimal circa Es ist das Ziel der Bundesregierung, mit dem heute
50 Prozent eine unzulässige Doppelbesteuerung ist. hier eingebrachten Gesetzentwurf bereits einen ersten
wichtigen Schritt zur Vereinheitlichung und Vereinfa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) chung der Normen im Kraftfahrzeugsteuergesetz vorzu-
nehmen. Damit soll eine gleichmäßige und erleichterte
Vor diesem Hintergrund muss man sich jetzt fragen: Was Rechtsanwendung im Bundesgebiet erreicht werden.
soll diese Bonibesteuerung?
Ich möchte auf folgende Regelungen in dem Gesetz-
Auch hier hilft ein Blick nach Großbritannien; denn entwurf kurz zu sprechen kommen:
dadurch wird einiges erklärt. In Großbritannien gibt es
diese Strafsteuer befristet auf vier Monate. Wenn jetzt Die steuerrechtlichen Hinderungsgründe bei der Zu-
irgendjemand auf die Idee kommt, einen Zusammenhang lassung von Kraftfahrzeugen zum Verkehr auf öffent-
zwischen diesem kurzfristigen Aktionismus und damit lichen Straßen, nämlich die Verpflichtung zur Abgabe
zu sehen, dass in Großbritannien in drei Monaten Parla- einer Einziehungsermächtigung des künftigen Halters
mentswahlen stattfinden, dass dieser Aktionismus also und die Prüfung der Kraftfahrzeugsteuerrückstände
nur etwas mit Populismus zu tun hat, dann liegt er rich- durch die Zulassungsbehörde, werden nun durch Bun-
tig. desgesetz geregelt. Dadurch werden, soweit dies mög-
lich ist, die entsprechenden Rechtsverordnungen der
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Deshalb Länder und Landesgesetze abgelöst. Diese Maßnahme
haben wir gesagt: Zwei Jahre!) dient der Deregulierung und Vereinfachung des Rechts
und bildet einen Schwerpunkt in dem Gesetzentwurf.
Das Ergebnis ist: Durch die Bonibesteuerung mögen
Neidkomplexe möglicherweise kurzfristig befriedigt Des Weiteren wollen wir die befristete Steuerbefrei-
werden, in der Sache bringt sie uns jedenfalls nicht wei- ung für Diesel-Pkw der Abgasstufe Euro 6 zur Abwen-
ter. Deswegen gehen wir diesen Weg nicht mit. dung eines Vertragsverletzungsverfahrens auf Erstzulas-
sungen im Zeitraum vom 1. Januar 2011 bis 31. Dezember
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) 2013 beschränken. Für Erstzulassungen im Zeitraum
2114 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) vom 1. Juli 2009 bis zur Verkündung des Gesetzes ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
eine Vertrauensschutzregelung vorgesehen.
Aber müssen wir eigentlich die wertvolle Zeit, die wir
Die anstehenden Maßnahmen zur Tierseuchenbe- hier verbringen, einem solchen Gesetzentwurf widmen?
kämpfung sollen nicht zu zusätzlichen finanziellen Be-
lastungen der Landwirtschaft, insbesondere der Milch- Ich habe einmal nachgesehen: Vor ungefähr einem
wirtschaft, führen. In bestimmten Regionen wird der Jahr hatten wir 34 Tagesordnungspunkte. Das war am
Transport der Gewebeproben auf dem Wege der Mit- Ende der Ära der Großen Koalition, und wir hatten nicht
nahme durch die Milchsammelfahrzeuge kostengünstig mehr viele Reformen vor uns. Aber damals musste un-
erfolgen. Durch eine klarstellende Erweiterung der Re- heimlich viel zu Protokoll gegeben werden.
gelung über die Steuerbefreiung der Milchsammelwagen
Heute Morgen haben wir mit der Situation der Woh-
wird sichergestellt, dass diese Mitnahme der Gewebe-
nungswirtschaft angefangen. Das ist zwar wichtig, aber
proben nicht zum Wegfall der Steuerbefreiung führt.
dieses Land wartet darauf, dass Sie uns endlich etwas
Eine weitere Maßnahme in dem Gesetzentwurf, die Grundsätzliches vorlegen, damit wir in eine Reform ein-
der Vereinheitlichung des Vollzugs des Kraftfahrzeug- steigen können. Stattdessen ändern wir hier Marginalien.
steuergesetzes im Bundesgebiet dient, stellt die vorgese-
hene Änderung der Verfahrensweise bei der zwangswei- Ich habe gestern im Ausschuss gefragt, ob es Ände-
sen Außerbetriebsetzung von Kraftfahrzeugen bei rungsvorschläge geben wird oder ob wir eine Anhörung
Kraftfahrzeugsteuerrückständen dar. Diese sollen aus- brauchen. Darauf wurde mir gesagt, es werde nichts der-
schließlich von den zuständigen Zulassungsbehörden gleichen geben. Jetzt wundere ich mich; denn in dieser
durchgeführt werden. Bundesregierung gibt es ja Ideen. Gestern Abend war
Herr Pofalla im Beirat für nachhaltige Entwicklung. Er
Schließlich geht es darum, dass für zulassungspflich- hat mir erzählt, dass die Regierung Vorreiter für Elektro-
tige drei- und leichte vierrädrige Kraftfahrzeuge, darun- mobilität werden will, dass unheimlich viel geplant und
ter die sogenannten Trikes und Quads, die Steuer nach eine entsprechende Förderung vorgesehen ist. Ich frage
dem Hubraum und der jeweiligen EU-Abgasstufe be- mich, wo es diese Förderung geben wird, wenn das bei
messen werden soll. Dies ist erforderlich, da keine CO2- Ihnen im Ministerium nicht angekommen ist.
Werte vorliegen, die in gesicherten obligatorischen Ver-
fahren ermittelt wurden. Des Weiteren gibt es eine Wirtschaftsministerkonfe-
renz, die letztes Jahr getagt, tolle Beschlüsse gefasst und
Außerdem erhält der Gesetzentwurf noch klarstel- tolle Berichte erstellt hat. Sie hat unter anderem den Ein-
lende Regelungen zum Beispiel zu den steuerlichen Be- stieg in die Elektromobilität mit einer entsprechenden
messungsgrundlagen bei Elektro-Pkws. Dies erleichtert Förderung beschlossen.
(B) die Rechtsanwendung hinsichtlich bereits geltender Ver- (D)
günstigungen für Elektromobilität in Deutschland. Sie hingegen fördern Elektroautos nicht mehr und
nicht weniger als zuvor. Reichweitenverlängerung
Abschließend wollen wir durch das Gesetz eine
kommt bei Ihnen nicht vor. Ich frage mich, wie Sie in
Rechtsgrundlage schaffen, um weiterhin die mögliche
der Industrie Signale setzen wollen, ohne vorher ein paar
Aufrechnung von Steueransprüchen zu gewährleisten.
Ideen zu entwickeln, was man machen könnte.
Wir bitten das Parlament um zügige Beratung des Ge-
setzentwurfs der Bundesregierung. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Eine solche Vision haben Sie nicht. Dann ändern Sie
wenigstens das, was den Menschen gegenwärtig
Schwierigkeiten bereitet. Es gibt immer noch Menschen,
Vizepräsidentin Petra Pau:
die ihr Auto nicht abgewrackt haben, das aber älter als
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die
drei Jahre ist, und die nicht in der Lage sind, einen Ruß-
SPD-Fraktion.
partikelfilter nachzurüsten, zum Beispiel beim Audi A2
(Beifall bei der SPD) oder beim Lupo. Diese Leute müssen jetzt in jeder Stadt,
in die sie fahren, eine Plakette für ein Jahr kaufen. Ob in
Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Berlin, Hannover oder in München, sie brauchen jedes
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Mal eine neue Plakette für 50 Euro. Das ist doch furcht-
Herren! Ich fand es sehr erstaunlich, Herr Staatssekretär, bar.
dass ein Gesetzentwurf praktisch komplett vorgelesen Hier gäbe es die Chance, das zu ändern; denn – Sie
wurde; das habe ich bisher noch nicht erlebt. Aber das ist haben darauf hingewiesen – der Bund hat erstmalig die
in diesem Fall gut möglich; denn die Begründung um- gesamte Gesetzgebung zur Mobilität in seiner Hand. Ich
fasst nur zwei Seiten. finde, Sie vertun eine unheimlich große Chance, indem
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Sie einen solchen Gesetzentwurf vorlegen, aber nicht
einmal die Probleme, die die Menschen im Moment ha-
Damit komme ich zum Kernproblem. Ich hatte selber ben, anpacken und lösen.
vor, in meiner Redezeit den Gesetzentwurf vorzulesen.
Jetzt haben Sie das schon getan, und ich will das nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wiederholen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2115
Ingrid Arndt-Brauer
(A) Ich denke, dass wir uns damit beschäftigen müssen, Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
was wir in Zukunft im Bereich Mobilität tun wollen. Wir Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für
würden uns sicherlich alle freuen, wenn wir CO2-arme die FDP-Fraktion.
Autos bzw. Elektroautos hätten und abgasfrei auf deut-
schen Straßen fahren könnten. Sie hätten jetzt die (Beifall bei der FDP)
Chance, damit anzufangen. Sie hätten die Chance, einzu-
stielen, dass die Industrie entsprechende Forschung be- Dr. Birgit Reinemund (FDP):
treibt, zum Beispiel im Batteriesektor. Die anderen Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ob es
Ministerien warten darauf. Ich verstehe überhaupt nicht, im Deutschen Bundestag eine Debatte gibt, entscheidet
wieso man solch eine Chance nicht frühzeitig nutzt und das Parlament, nicht die Regierung. Ich war erstaunt,
eine entsprechende Förderung betreibt. Ich denke, das dass man so emotional zu diesem technischen Thema
sind wir unseren nachfolgenden Generationen schuldig. sprechen kann.
Sie wollen all das nicht tun und sagen: Nein, wir be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Lachen
schränken uns auf Regelungen – das ist so lächerlich, bei Abgeordneten der SPD)
dass ich es kaum vorlesen kann – zur „Mitnahme von
Gewebeproben zur Tierseuchenbekämpfung durch Es geht hier bereits um das Fünfte Gesetz zur Ände-
Milchsammelfahrzeuge“. rung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Die letzte Ände-
rung gab es 2009, davor 2008, 2007 usw. Es handelt sich
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – also um ein Gesetz, das offensichtlich jährlich angepasst
Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär: Für werden muss. Die Kfz-Steuer ist komplex, stark diffe-
Bauern ist das nicht lächerlich!) renziert, mit vielen Sondertatbeständen behaftet, eben
hoch bürokratisch.
– Nein, das ist auch für Bauern lächerlich. Auch der
Bundesrat tritt dem Eindruck entgegen, „dass die Mit- Frau Arndt-Brauer, was Sie als „blödsinnig“ und als
nahme von Gewebeproben zur Tierseuchenbekämpfung „Marginalien“ bezeichnet haben, muss dennoch heute
in der Regel durch Milchfahrzeuge erfolgt.“ Das ist völ- besprochen werden; denn es besteht einiger Handlungs-
lig fern der Realität. Der Bundesrat bittet darum, klarzu- bedarf, vor allem, um ein drohendes EU-Vertragsverlet-
stellen, dass die Regelung für alle Fahrzeuge im ländli- zungsverfahren abzuwenden. Die Große Koalition hat
chen Bereich gelten sollte. Die Empfehlungen des eine deutsche Sonderregelung im Gesetz fixiert, die als
Bundesrats zeigen schon im Ansatz, dass all das, was wir Wettbewerbsverzerrung angemahnt wurde. Jetzt muss
hier tun, ein bisschen blödsinnig ist. die Geltungsdauer der befristeten Steuerbefreiung für
Diesel-Pkw der Abgasstufe 6 schnellstens an das Ge-
(B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – (D)
meinschaftsrecht angepasst werden.
Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Man merkt,
dass es keinen Landwirt mehr in Ihrer Fraktion Seit Juli 2009 ist die Kfz-Steuer Bundessache, also
gibt!) nicht mehr Ländersache. Nach Übertragung der Ertrags-
und Verwaltungshoheit auf den Bund müssen nun bis
Ich möchte Sie bitten, die Situation, die wir im Mo- spätestens 30. Juni 2010 die auslaufenden Länderverord-
ment vorfinden – Stillstand in allen Bereichen, Ökono- nungen in Bundesrecht überführt werden.
men erwarten maues Wachstum –, zu nutzen: Steigen Sie
Ein weniger dringender, aber wichtiger Aspekt dieses
als Erstes mit der Reform der Kfz-Steuer und später mit
Gesetzentwurfs: Wer künftig ein Kraftfahrzeug zulassen
der Mobilität als Ganzes in neue Bereiche ein! Nehmen
will, wird mit Inkrafttreten dieses Gesetzes bundesweit
Sie etwa den Einstieg in die Elektromobilität, den die an-
auf Steuerrückstände überprüft, nicht mehr nur im jewei-
deren Ministerien schon vorbereiten, auch im Finanz-
ligen Bundesland. Die bisher bei den Ländern gesam-
ministerium wahr! Betreiben Sie eine nachhaltige Poli-
melten Daten zur Kraftfahrzeugsteuer sollen dazu zen-
tik, von der wir etwas haben! Es reicht nicht, dass Sie
tral verwaltet werden. Damit wird eine bundesweite
hier Gesetzesentwürfe fast komplett vorlesen und glau-
Kraftfahrzeugsteuerrückständeprüfung – ein Wortunge-
ben, damit könne man vernünftige Politik betreiben.
tüm – möglich. Das ist eine vernünftige Lösung zur Be-
Denken Sie daran, was wir letztes Jahr zu dieser Zeit ge-
kämpfung von Steuerhinterziehung.
macht haben! Schauen Sie in die Protokolle – ich kann
sie Ihnen gern zur Verfügung stellen – und orientieren (Beifall bei der FDP)
Sie sich daran! Im Moment verschwenden wir unsere
Zeit mit Marginalien. Hierbei handelt es sich nicht um ein Bagatellthema:
Nach Angaben des Bundesministeriums der Finanzen
(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Warum reden beliefen sich die Steuerrückstände 2008 auf immerhin
Sie dann so lange?) 194 Millionen Euro.
Das sollten wir den Steuerzahlern nicht antun. (Zurufe von der FDP: Aha!)

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Die Landesfinanzbehörden verwalten die Kraftfahr-
zeugsteuer für den Bund im Wege der Organleihe noch
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der LIN- bis Mitte 2014. Das gibt uns die Möglichkeit, ohne Zeit-
KEN: Ist schon schwer, die acht Minuten zu druck neue Strukturen aufzubauen. Allerdings kostet uns
füllen, wenn nichts da ist!) dieser Service für die Jahre 2010 bis 2013 170 Millionen
2116 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Birgit Reinemund


(A) Euro jährlich, sodass durchaus überlegenswert ist, diese Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
Übergangsfrist zu verkürzen. Das Wort hat der Kollege Richard Pitterle für die
Fraktion Die Linke.
Ziel der Übertragung der Kfz-Steuer auf den Bund
war eine Vereinheitlichung und Deregulierung der Nor- (Beifall bei der LINKEN)
men. In diese Richtung zielen die weiteren Definitionen
und Klarstellungen dieses Entwurfs. Zum Beispiel wird Richard Pitterle (DIE LINKE):
die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung von Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
Trikes und Quads definiert, die nach Hubraum und legen! Einerseits haben Sie unsere Zustimmung, soweit
Schadstoffemissionen klassifiziert werden müssen, da Sie die Milchwirtschaft bei der Bekämpfung der Tier-
noch keine standardisierten CO2-Messmethoden existie- seuchen durch Steuerbefreiung für Milchfahrzeuge un-
ren. Das gilt übrigens auch für alle Bestands-Pkws, die terstützen wollen, andererseits frage ich mich jedoch,
vor dem 1. Juli 2009 zugelassen wurden. Das wirft die warum die FDP Sonntagsreden über die Vereinfachung
Frage auf, ob vorgesehen ist, diese Sonderfahrzeuge ab des Steuerrechts durch die Abschaffung von Ausnahme-
2013 auf eine Steuerbemessung nach Kohlendioxidemis- tatbeständen hält, wenn sie uns heute dazu anstiftet, ei-
sion umzustellen, wie es für die Bestandsfahrzeuge be- nen weiteren Ausnahmetatbestand im Steuerrecht zu
reits gesetzlich vorgeschrieben ist. schaffen. Diese Frage muss doch erlaubt sein. Vielleicht
Um die Landwirtschaft finanziell zu entlasten, soll lernt die FDP jetzt in der Regierung, dass man mit Bier-
der Transport von Gewebeproben zur Tierseuchenbe- deckelpopulismus keine Probleme lösen kann und Lo-
kämpfung in Milchsammelwagen steuerunschädlich er- sungen keine Lösungen ersetzen.
möglicht werden. Auch das ist keine Bagatelle. Das wird (Beifall bei der LINKEN)
dem ländlichen Raum deutlich weiterhelfen. Positiv zu
beurteilen sind die Anregungen verschiedener Agrar- Es bleibt zu hoffen, dass auch Herr Westerwelle das
und Veterinärverbände, diese Steuerbefreiung auf den noch lernt.
Transport von Laborproben allgemein auszuweiten. Was Die im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagenen
spricht dagegen? Maßnahmen zur Änderung des Kraftfahrzeugsteuerge-
setzes lassen die wirklich wichtigen Themen außen vor.
Wie ich eingangs meiner Rede erwähnte, beraten wir
In einigen Bereichen der Kfz-Steuerregelungen bestehen
hier über eine weitere Änderung des Kraftfahrzeugsteu-
nämlich Verbesserungsbedarf und -potenzial. Wie wir
ergesetzes, was fast jährlich auf der Tagesordnung steht.
alle wissen, erfüllt die Kfz-Steuer eine Lenkungsfunk-
Wäre es nicht sinnvoll, über eine Vereinfachung nachzu-
tion, die die Bürgerinnen und Bürger zum Handeln in so-
denken?
(B) zialem oder ökologischem Sinn veranlassen soll. Die (D)
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) befristete Steuerbefreiung bei der Erstzulassung von
Dieselpersonenkraftwagen der anspruchsvollsten Abgas-
Wir schlagen vor, die verkehrsbezogenen Steuern zu- stufe Euro 6 lässt dies deutlich erkennen. Sie entfaltet
sammenzufassen, zum Beispiel indem die Kraftfahr- eine Anreizwirkung beim Neuwagenkauf zur frühen
zeugsteuer auf die Mineralölsteuer umgelegt wird. Dafür Einführung emissionsarmer Fahrzeuge, die wir als Linke
sprechen aus meiner Sicht eine Reihe guter Gründe. begrüßen. Nachdem diese nun kurzfristig ausgesetzt
werden muss, bleibt die Frage, warum die Bundesregie-
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Dann machen Sie
rung es versäumt hatte, abzuklären, ob die befristete
es doch!)
Steuerbefreiung mit dem EU-Recht vereinbar ist.
Der Wegfall einer kompletten Steuerart ist ein Beitrag Wir befürworten diese Steuerbefreiung und insbeson-
zur Vereinfachung und zum Bürokratieabbau. dere die Beschränkung auf Neuwagen; denn emissions-
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Machen Sie es arm bedeutet nicht notwendig klimaschonend. Die
doch! Sie haben doch die Mehrheit!) Abgasnorm Euro 6 legt nur die Grenzwerte für Kohlen-
monoxid, Stickstoffoxide, Kohlenwasserstoffe und Parti-
– Gerne. – Die Stärkung des Verursacherprinzips, das kel fest, nicht jedoch für CO2. Im Jahr 2009 lag der
heißt, dass derjenige, der mehr fährt, auch mehr bezahlt, durch den gesamten Verkehr verursachte prognostizierte
ist ökologisch durchaus sinnvoll. Anteil an den CO2-Emissionen Deutschlands bei 19 Pro-
zent, der allein von Pkw verursachte bei 12 Prozent. Da
(Frank Schäffler [FDP]: Die SPD hat das im- der von Pkw verursachte Anteil an den gesamten CO2-
mer verhindert!) Emissionen beständig wächst, sind wirkungsvolle Maß-
Ein Auto, das 90 Prozent der Zeit in der Garage steht, nahmen für den Personenverkehr unerlässlich.
emittiert schließlich auch 90 Prozent weniger CO2. Es ist nicht hinnehmbar, dass die CO2 ausstoßenden
Diese Chance zur Steuervereinfachung haben wir jetzt, Spritschlucker, die sich auf den Straßen tummeln, von
nachdem die Zuständigkeit auf den Bund übergegangen uns nicht zur Kasse gebeten werden.
ist. Lassen Sie uns darüber diskutieren.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
Vielen Dank. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dies war bereits ein schwerwiegendes Versäumnis der
der CDU/CSU) Großen Koalition. Als die EU-Verordnung zu CO2-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2117
Richard Pitterle
(A) Emissionsnormen für Personenkraftwagen eine Refor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
mierung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes erforderlich und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
machte, hat die damalige Bundesregierung die Chance LINKEN)
vertan, das neue Gesetz vernünftiger zu gestalten. Die
heutigen Nachbesserungen sind einfach ungenügend. Stattdessen legen Sie uns einen Gesetzentwurf vor, der
das Kraftfahrzeugsteuergesetz lediglich technisch und
So berechtigt die steuerlichen Anreize zum Kauf von formal in ein paar Punkten nacharbeitet, weil Sie dies im
teuren Ökoautos sind, so muss auch beachtet werden, Zuge der Föderalismusreform II versäumt haben oder ei-
dass der klassische Kleinwagen ebenfalls wenig Sprit nige Dinge von der EU-Kommission bemängelt worden
verbraucht. Die Besitzer von großen Limousinen, Sport- sind.
und Geländewagen, die zur Kategorie der extremen
Dabei ist eine grundlegende ökologische Reform
Spritschlucker gehören, sollten wir aufgrund des über-
dringend geboten. Ich sage Ihnen, warum. Der durch
mäßigen CO2-Ausstoßes steuerlich stärker belasten.
Verkehr bedingte CO2-Ausstoß ist seit 1990 nicht gesun-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ ken, sondern ist – wir alle wissen es – kontinuierlich und
DIE GRÜNEN) dramatisch gestiegen. Gleichzeitig hat sich Deutschland
auf EU-Ebene aus guten Gründen verpflichten müssen,
Tun wir dies nicht, schaffen wir weder Anreize zu leich- die Emissionen im Verkehrs-, Haushalts- und Landwirt-
teren, langsameren und verbrauchsärmeren Fahrzeugen schaftsbereich bis 2020 gegenüber 2005 um 14 Prozent
noch solche zum Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel. zu senken. Ich frage Sie: Wie wollen Sie dieses Ziel er-
Gerade die Verlagerung des Verkehrs vom Individual- reichen, wenn wir nicht endlich alle Instrumente in die
verkehr hin zu öffentlichen Verkehrsmitteln und auf die Hand nehmen, die uns zur Verfügung stehen, um im Ver-
Schiene muss bei der steuerlichen Lenkung mehr Beach- kehrsbereich Fortschritte im Klimaschutz zu machen?
tung finden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Obwohl aus dem Verkehrsministerium viele Ankün- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
digungen kommen, lassen die Taten auf sich warten. KEN)
Durch die grundlegende Reform der Kraftfahrzeugsteuer
sind die steuerlichen Regelungskapazitäten nun auf den Es reicht eben nicht, dass wir ein paar Förderprogramme
Bund übergegangen, was die Entscheidungsverfahren für die Forschung an neuen Antriebssystemen auflegen.
bedeutend vereinfacht. Auf eine Blockadepolitik der Wir müssen auch im Rahmen der Kfz-Steuer ernsthafte
Länder können Sie sich nunmehr nicht mehr berufen, Anreize setzen, um den CO2-Ausstoß im Verkehr zu sen-
wenn Sie Ihre Untätigkeit auf diesem Gebiet entschuldi- ken.
(B) gen wollen. Nutzen Sie jetzt die Chancen für eine Poli- Die Signale von Schwarz-Gelb gehen aber leider (D)
tik, die für ein besseres Klima sorgt! Die Umwelt muss – wir wissen es – in eine ganz andere Richtung. Erst ges-
im Mittelpunkt stehen und nicht länger die Ihnen nahe- tern bestätigten Sie, Herr Staatssekretär Koschyk, mir
stehende Autolobby. zum Beispiel im Finanzausschuss, dass sich die Koali-
Danke. tion nicht für CO2-basierte Steuern und Abgaben in der
EU einsetzt. Ich warte schon darauf, dass Sie die Mini-
(Beifall bei der LINKEN) reform vom vergangenen Jahr wieder rückgängig ma-
chen, nach dem Motto: Mit Vollgas in die Vergangen-
Vizepräsidentin Petra Pau: heit, auf der Suche nach der politisch-geistigen Wende!
Das Wort hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bündnis 90/Die Grünen. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Dabei sagt Verkehrsminister Ramsauer selbst, dass
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verkehr und Bauen für 70 Prozent des Primärenergiever-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re- brauchs und für 40 Prozent der Treibhausgasemissionen
den heute – das wurde schon mehrfach erwähnt – über verantwortlich sind. Wir Grünen haben immer ange-
eine Gesetzesänderung, deren spannendste Neuerung die mahnt, bei der Kfz-Steuer keine Mogelpackung zu ma-
erweiterte Steuerbefreiung für Fahrzeuge aus dem Be- chen, sondern sie richtig zu reformieren, und das heißt
reich der Milchwirtschaft und der Zollverwaltung ist. So eben, eine vollständige Umstellung auf eine CO2-Basis.
weit, so wenig. Auch ich muss mich leider in diese Mei- Bei einer rein CO2-orientierten Kfz-Steuer, wie wir sie
nung einreihen. uns vorstellen, wären nicht, wie bei Ihnen, die großen
Dieselfahrzeuge am Ende sogar die Gewinner der Re-
Interessant an Ihrer Vorlage ist vor allem das, was form; vielmehr würden die Besitzer großer Spritschlu-
nicht in ihr steht. Seit 2009 ist die Kraftfahrzeugsteuer cker tatsächlich spürbar mehr zur Kasse gebeten als die
keine Länder-, sondern eine Bundessteuer. Das haben Halter kleiner und sparsamer Fahrzeuge.
wir Grüne damals ausdrücklich begrüßt. Wir hatten dies
lange gefordert; denn damit liegt die Kompetenz für alle Wir wollen als ersten Schritt Fahrzeuge bis zu einem
Kfz-bezogenen Steuern endlich auf Bundesebene, und es CO2-Ausstoß von 120 Gramm pro Kilometer für vier
wäre eine konsistente Steuerpolitik in diesem Bereich Jahre steuerfrei stellen und höhere CO2-Ausstöße pro-
möglich. Allerdings, man muss diese Chance auch er- gressiv besteuern. Das ist nicht nur ökologisch, sondern
greifen. auch sozial sinnvoll; denn es belastet diejenigen am
2118 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Lisa Paus
(A) meisten, die sich teure, schwere Karossen leisten kön- Beides, die Änderung der Bemessungsgrundlage wie (C)
nen. der Übergang, waren in den Augen vieler sicher überfäl-
lig und dennoch ein Kraftakt. Um heute zwei Zahlen zu
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ nennen: Immerhin ging und geht es um mehr als
DIE GRÜNEN und der LINKEN) 40 Millionen Pkw und um ein Steueraufkommen von
Leider sehe ich keine Anzeichen, dass Sie hier aktiv 8 bis 9 Milliarden Euro, welches in der Zuständigkeit
werden wollen. Stattdessen das Gegenteil: Verkehrsmi- wechselte.
nister Ramsauer hat etwas angekündigt, was eigentlich Ich betone es gern noch einmal: Bei allem, was heute
nur am 1. April ernst genommen werden kann: die Ein- diskutiert wird, war es damals gut und richtig, diesen
führung von sogenannten Wechselkennzeichen, um die Schritt zu gehen. Es war ein Beitrag zum Umweltschutz,
Besitzer von Zweit-, Dritt- oder Viertautos steuerlich zu zu mehr Gerechtigkeit und zur Deregulierung an einer
entlasten. Das ist nicht nur für Verkehrssünder toll und nicht unerheblichen Stelle in diesem Land. Politik kann
wird den Autoschiebern sicherlich in die Hände spielen, und soll mit Anreizen für Käufer sowie mit Impulsen für
nein, es ist auch ansonsten absurd. Ich hoffe sehr, dass die Industrie Lenkungsfunktionen ausüben; wir haben es
das nicht das letzte Wort der Bundesregierung in Sachen heute mehrfach gehört. Eng verbunden damit ist es uns
Reform der Kfz-Steuer sein wird. Fangen Sie endlich an, aber ebenso wichtig – lassen Sie mich auch dies sagen –,
Politik zu machen, die auch für die restlichen 364 Tage die Arbeitsplätze in dieser Branche im Blick zu behalten
im Jahr taugt! und alle Maßnahmen daraufhin zu prüfen, gerade in Zei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten wie diesen.
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
KEN) neten der FDP)
Dies gilt für die großen Hersteller gleichermaßen wie für
Vizepräsidentin Petra Pau: die zahlreichen kleinen und mittleren Betriebe im Zulie-
Das Wort hat die Kollegin Patricia Lips für die Uni- fererbereich.
onsfraktion.
Vor diesem Hintergrund ist es schon wichtig, dass wir
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) letztes Jahr beschlossen haben – ich möchte dieses Bei-
spiel an dieser Stelle doch einmal konkret nennen, da es
auch einen sehr engen Bezug zum vorliegenden Gesetz-
Patricia Lips (CDU/CSU):
entwurf hat –, dass beispielsweise bei einem neu gekauf-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und ten Diesel-Pkw eine befristete Steuerbegünstigung zu
(B) Herren! Ich glaube, es gibt in diesem Land kaum ein (D)
gewähren ist, wenn das Fahrzeug eine besondere Norm
Thema, das derart viele Menschen beschäftigt: Poten- erfüllt und damit den Anforderungen vorzeitig mehr als
ziell ist nahezu jeder über 18 davon in irgendeiner Form eigentlich erforderlich genügt. Auch wenn nun aufgrund
betroffen. Insofern kann man die eine oder andere Auf- des Gemeinschaftsrechts der EU der Zeitraum für diese
regung in diesem Haus verstehen. Wir haben schon in Steuerbegünstigung gegenüber dem ursprünglichen Vor-
den Debatten der vergangenen Jahre viele Forderungen haben eingegrenzt werden musste, so zeigt doch dieses
gehört. Ich sage aber auch: Wir haben in der Vergangen- Beispiel, welche Möglichkeiten Politik mit Elementen
heit sehr konkrete Beschlüsse gefasst und umgesetzt. der Kfz-Steuer hat, um an bestimmten Stellen gezielt
Diese Beschlüsse gingen im Hinblick auf Ziele und Len- einzuwirken. Gleichzeitig ist das ein Punkt, der die Not-
kungswirkung durchaus in Richtung dessen, was von der wendigkeit der im vorliegenden Gesetzentwurf vorge-
Politik gestaltet werden kann. schlagenen Korrekturen aufzeigt.
Der vorliegende Gesetzentwurf kann in der Tat nicht Das bisherige Verfahren der Erhebung dieser Steuer
isoliert betrachtet werden kann. Er ist die logische und durch Länderverwaltungen mit unterschiedlichsten
unmittelbare Folge von Beschlüssen von vor etwa einem Rechtsverordnungen kann nicht ad hoc umgestellt wer-
Jahr. Was war geschehen? den. Es bedarf eines Prozesses, um zu einer geordneten
Erstens. Die Kfz-Steuer wurde derart neu gestaltet Zusammenführung an einer Stelle zu gelangen. Deshalb
– lassen Sie mich das an dieser Stelle noch einmal beto- wurde in der Tat vereinbart, dass sich der Bund noch
nen; es hört sich immer so an, als hätten wir gar nichts über einige Jahre der Einrichtungen der Länder bedient.
getan; damals hatten wir noch eine Große Koalition –, Ob es um die Behandlung von Steuerrückständen geht
dass der CO2-Ausstoß seit Juli vergangenen Jahres eine – auch ich halte das für einen durchaus wichtigen Punkt,
besondere Berücksichtigung erfährt. Über viele Jahre den man einmal benennen sollte –, um die Voraussetzun-
wurde dieser Schritt immer wieder beschworen, und wir gen zur Zulassung wie zur Abmeldung von Fahrzeugen,
alle haben ihn immer wieder vertagt. Letztes Jahr sind um die Abgabenordnung oder anderes mehr – wir alle
wir diesen Schritt gegangen. kennen es aus eigener Erfahrung –,
(Zurufe von der SPD)
Zweitens. Die Kfz-Steuer ging mit diesem Datum
– hieraus resultiert der heutige Schwerpunkt – gänzlich vieles ist dabei zu berücksichtigen und technisch anzu-
an den Bund über. Sie war bis dahin zwar bundesgesetz- passen, auch wenn es nicht immer mit Änderungen der
lich geregelt, aber im Aufkommen, das heißt in den Ein- eigentlichen Kfz-Steuer oder ihrer Bemessungsgrund-
nahmen, wie in der Verwaltung eine Ländersteuer. lage verbunden ist.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2119
Patricia Lips
(A) Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bleibt eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Auf- (C)
festzustellen: Das bisher eingeleitete Verfahren, die Ver- hebung von Zugangsbeschränkungen in Kom-
antwortung für die Kfz-Steuer von den Ländern auf den munikationsnetzen
Bund zu übertragen, ist grundsätzlich auf einem guten
– Drucksache 17/646 –
Weg. Gleiches gilt für die Einführung der neuen Bemes-
sungsgrundlage, die seit Mitte des vergangenen Jahres Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
gilt. Eher geräuschlos im Gegensatz zu vielen anderen Innenausschuss
Themen werden diese Aufgabenänderungen vollzogen, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
obgleich der Schritt insgesamt kein kleiner war und ist. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Das vorliegende Gesetz soll dazu beitragen, diesen Pro- Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zess zu beschleunigen, Deregulierungen herbeizuführen Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
und Sachverhalte zu klären. Ausschuss für Kultur und Medien
Der Dialog mit den Ländern geht in der kommenden ZP 3 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Zeit wie dargelegt weiter. Sehr vielfältig waren und sind Dr. Konstantin von Notz, Volker Beck (Köln),
die Verfahren über viele Jahre vor Ort gewachsen. Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der
Selbstverständlich kann man sich immer noch mehr Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
wünschen und sagen, was man noch alles mit der Verab- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe-
schiedung dieses Gesetzentwurfes verbinden könnte. Ich bung des Gesetzes zur Erschwerung des Zu-
nenne einmal das Stichwort „weitere Steuerbegünstigun- gangs zu kinderpornografischen Inhalten in
gen“. Wir hätten auch viele der Ideen, die heute genannt Kommunikationsnetzen und Änderung weite-
wurden, zum Teil schon im vergangenen Jahr, als die rer Gesetze
große Umstellung stattfand, umsetzen können. Ich bin
mir sicher, dass wir uns zum gegebenen Zeitpunkt mit – Drucksache 17/772 –
dieser Materie wieder zu befassen haben. Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass wir im Innenausschuss
vergangenen Jahr einen wichtigen Schritt gegangen sind. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Hier und heute geht es konkret um Korrekturen und An- Verbraucherschutz
passungen im laufenden Verfahren der Zusammenfüh- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
rung. Ich hoffe, dass es zu einer konstruktiven Befassung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
mit diesem Thema kommt. Ausschuss für Kultur und Medien

(B) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Für die Aussprache ist nach einer interfraktionellen (D)
Vereinbarung eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Ich schließe die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann für die
SPD-Fraktion. – Der Kollege ist offensichtlich nicht an-
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wesend. Hat die SPD einen Vorschlag, wer an seiner
wurfs auf Drucksache 17/717 an die in der Tagesord- Stelle sprechen soll? – Das ist nicht der Fall.
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist
Dann ist die Überweisung so beschlossen. die pure Angst! – Weiterer Zuruf von der
CDU/CSU: Das ist peinlich! – Gegenruf der
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b so- Abg. Iris Gleicke [SPD]: Stimmt! Dem ist
wie den Zusatzpunkt 3 auf: nichts hinzuzufügen!)
10 a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- Dann rufe ich jetzt erst einmal den Kollegen Ansgar
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- Heveling für die Unionsfraktion auf.
bung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kin-
derpornografie in Kommunikationsnetzen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
– Drucksache 17/776 –
Ansgar Heveling (CDU/CSU):
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
Innenausschuss legen! Es ist heute schon eine bemerkenswerte Debatte.
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Denn hier wird der Versuch unternommen, einen völlig
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und normalen parlamentarischen Vorgang zu einem Kampf-
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
thema zu machen. Ein Gesetz ist vom Bundestag
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe beschlossen worden. Anschließend hat es – den Verfah-
Ausschuss für Kultur und Medien rensvorschriften des Grundgesetzes entsprechend – sei-
nen weiteren Weg genommen und ist in Kraft getreten.
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weite- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE NEN]: Aber sehr zögerlich!)
2120 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Ansgar Heveling
(A) Nach Meinung der Opposition ist dies nun offensichtlich Vergegenwärtigen wir uns, worum es geht. Es geht (C)
ein so unerhörter Vorgang, dass von ihr nur zwei Tage um Kinder, viele von ihnen fast noch Babys. Sie bräuch-
nach Inkrafttreten die Aufhebung des Gesetzes beantragt ten Schutz und Zuwendung. Stattdessen werden an ihnen
wird. ekelerregende sexuelle Handlungen vorgenommen. Weil
es Menschen gibt, die Videos und Bilder von solchen Ta-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ten ins Internet stellen, und weil es andere Menschen
NEN]: Weil Sie selber sagen, Sie wollen es
gibt, die sich solches Ekelmaterial ansehen, werden Kin-
nicht anwenden!)
der auf grausamste Weise zu Opfern. Sie werden trauma-
Da kann man sich nur fragen: Wenn sich einige Fraktio- tisiert und stigmatisiert. Es geht also primär nicht um
nen dieses Hauses als Gesetzgeber selbst nicht mehr technische Fragen oder die Möglichkeiten des Internets,
ernst nehmen wollen, wie soll es dann bitte schön die sondern um Kinder, die des besonderen Schutzes und
Bevölkerung tun? des Einsatzes des Staates bedürfen, weil sie sich selbst
nicht wehren können, ja weil sie oft nicht einmal begrei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen können, was mit ihnen geschieht.
Wohlgemerkt: Es geht um ein Gesetz,
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das Sie selber nicht anwenden wollen!) Mit den Folgen der Verletzungen an Körper und Seele
werden sie jedoch ein Leben lang zu kämpfen haben.
von dem eine Rednerin der SPD vor einem knappen Jahr Deshalb und nur deshalb muss der Staat in diesem klar
im Gesetzgebungsverfahren an dieser Stelle gesagt hat: definierten Bereich strafrechtlich relevanten Tuns han-
Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zu- deln. Wir als Gesetzgeber haben die Pflicht, ihm dazu
gangssperren im Internet braucht eine klare gesetz- die nötigen Instrumente an die Hand zu geben.
liche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mit Es geht bei solchen Bildern oder Filmen nicht um ir-
ihrer Forderung durchgesetzt hat. gendetwas Virtuelles. Der Verbreitung im Internet gehen
Hört! Hört! stets reale Taten voraus, schändliche Taten, gegen die
eingeschritten werden muss, Taten, die vielfach auch da-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch verhindert werden könnten, dass man die Verbrei-
Weiter heißt es: tungswege kappt.

Nur eine gesetzliche Regelung schafft Rechts- (Beifall bei der CDU/CSU)
sicherheit und genügt verfassungsrechtlichen An-
(B)
forderungen. Bei jedem anderen Medium geschieht das, etwa wenn es (D)
um Druckschriften oder DVDs kinderpornografischen
An anderer Stelle betonte der SPD-Abgeordnete Martin Inhalts geht. In diesen Fällen ist das präventive Vorgehen
Dörmann, der eigentlich vor mir hätte reden sollen: selbstverständlich, und niemand erhebt ernsthaft den
Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen ge- Vorwurf der Zensur. Richtig ist, dass das Internet im Ver-
recht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitung gleich zu anderen Medien komplexer strukturiert ist und
kinderpornografischer Inhalte im Internet und dem auch an Staatsgrenzen nicht haltmacht. Dementspre-
Einsatz für ein freies Internet … Ich finde, mit die- chend eröffnet es vielfältige Umgehungsmöglichkeiten,
sem Gesetzentwurf ist das gelungen. und das erschwert die Bekämpfung. Aber diese Erkennt-
nis darf doch nicht zur Kapitulation des Rechtsstaats
So weit die SPD vor noch nicht einmal einem Jahr. führen.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)
Nun soll angeblich alles anders sein. Dabei ist es uns
Schon die bestehende gesetzliche Regelung steht in
von der CDU/CSU nicht ersichtlich, dass es irgendwel-
einem Stufenverhältnis und geht vom Vorrang der Lö-
che neuen Erkenntnisse gibt, die uns nun zu einer Aufhe-
schung vor der Sperrung aus. Das Bundesinnenministe-
bung des Gesetzes veranlassen sollten. Darum geht es
rium hat nun im Zuge seiner Vollzugskompetenz auf der
den Verfassern der Gesetzentwürfe auch gar nicht. Sach-
Grundlage der gesetzlichen Regelung für die Anwen-
lich hat sich nichts, aber auch gar nichts geändert. Nur
dung von § 1 Abs. 2 des Gesetzes ermessensbindend
die politischen Konstellationen sind anders. Doch ob das
festgelegt, dass für die Dauer eines Jahres lediglich von
allein ein Grund ist, die Aufhebung eines Gesetzes zu
der Löschungsalternative Gebrauch gemacht werde.
fordern? Wir haben noch Verständnis, wenn eine bislang
Auch das ist ein vollkommen normaler Vorgang. Er lässt
farblos gebliebene Opposition einmal Profil zeigen will.
ausreichend Raum, die Wirksamkeit des Mittels der Lö-
Dabei stellt sich allerdings die Frage: Ist das Gesetz zur
schung genau zu prüfen. Sollte sich zeigen, dass es an-
Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunika-
dere schlagkräftige und effektive Maßnahmen gibt, dann
tionsnetzen das taugliche Objekt für den Feuerzauber der
Opposition? Die Antwort ist ein klares Nein. sollte es unser gemeinsames Ziel sein, diese Möglichkei-
ten rechtssicher in Anspruch zu nehmen. Solange aber
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: solche rechtssicher nicht zur Verfügung stehen, würde
Lesen Sie einmal das Interview Ihrer eigenen der Staat seinen Sicherheitsauftrag missachten, wenn er
Familienministerin!) auf gesetzliche Schutzwerkzeuge endgültig verzichtet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2121
Ansgar Heveling
(A) Eine Aufhebung des Gesetzes, ohne dass zugleich al- Nun scheint bei der Bekämpfung von Kinderporno- (C)
ternative Schutzinstrumente aufgezeigt werden, ist der grafie die Argumentation von damals nicht mehr so
falsche Weg. Hier macht es sich die Opposition zu ein- wichtig zu sein. Das Gesetz bringt – auch das muss man
fach. Eine Aufhebung ohne Alternativen wäre jedenfalls sagen – bezüglich der Bekämpfung von Kinderpornogra-
eine Bankrotterklärung im Kampf für den Schutz unserer fie nichts. Das haben wir damals festgestellt, und das
Kinder. konnten wir auch am Montag wieder feststellen. Denn
im Ergebnis der Anhörung im Petitionsausschuss zu der
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. entsprechenden Petition hieß es letztlich: Das Gesetz ist
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ergebnisunwirksam, da die Inhalte weiter vorhanden
neten der FDP) sind. Es ist unnötig, da die Verfolgung der Taten möglich
ist. Es ist intransparent, da die Gefahr besteht, dass Sei-
Vizepräsidentin Petra Pau: ten versehentlich gesperrt werden. Es ermöglicht Will-
kür, weil niemand die Sperrung kontrollieren kann. Es
Kollege Heveling, das war Ihre erste Rede im Deut-
birgt die Gefahr, dass bei Bekanntwerden der Sperrlisten
schen Bundestag. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg in der
die sogenannten Gelben Seiten für Pädophile erstellt
parlamentarischen Arbeit. Wenn ich das als Präsidentin
werden.
hinzufügen darf: Ich gratuliere Ihnen zu etwas, was nicht
vielen bei ihrer ersten Rede gelingt: Sie sind vorbildlich Dass die Regierung jetzt vorgibt, dieses Gesetz nicht
in der Zeit geblieben. entsprechend seiner Zielstellung anwenden zu wollen,
(Beifall) ist zwar in der Sache erfreulich; logisch, juristisch und
rechtsstaatlich ist es jedoch nicht nachzuvollziehen.
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Wieland
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Allerdings!)
(Beifall bei der LINKEN)
Da werden also Gesetze verabschiedet, um sie dann
nicht anzuwenden. Das ist der Verkauf des Rechtsstaats,
Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Herr Heveling; das muss man einmal sagen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nun ist es doch so weit gekommen: Bundespräsident Ausweislich einer Dienstanweisung des BMI vom
Köhler hat das umstrittene Zugangserschwerungsgesetz 17. Februar dieses Jahres – ich habe sie hier schwarz auf
unterzeichnet. Seit vorgestern ist es in Kraft. weiß – an das Bundeskriminalamt heißt es, dass die Bun-
desregierung sich ausschließlich für das Löschen einset-
Herr Heveling sagt, für eine Aufhebung brauchten wir zen wird; Zugangssperren sollen nicht erfolgen. – Das (D)
(B)
Alternativen. Die Bundesregierung hat in diesem Zu- Gesetz ist zum Sperren erlassen worden! – Spielräume
sammenhang schon angekündigt, ein Löschgesetz in den sollen genutzt werden, „dass keine Aufnahme in Sperr-
parlamentarischen Geschäftsgang zu geben. Wie das listen erfolgt“. Sperrlisten sind nicht an Internetprovider
aussieht, kann ich mir allerdings nicht so richtig vorstel- zu übermitteln, und die Erarbeitung der technischen
len. Wozu brauchen wir ein Löschgesetz? Löschen kön- Richtlinie bleibt ausgesetzt. Weiter heißt es in der
nen wir auch heute schon. Die Verbreitung von Kin- Dienstanweisung: Selbst wenn ein Versuch, das Löschen
derpornografie ist strafbar. Wenn die Provider informiert zu veranlassen, erfolglos ist, soll nicht gesperrt werden,
werden, dann werden die entsprechenden Seiten in aller sondern das Bundesministerium der Justiz und das Aus-
Regel – das zeigen die Erfahrungen; wir haben das hier wärtige Amt um Unterstützung gebeten werden. – Wie
in der letzten Legislaturperiode rauf und runter diese Unterstützung aussehen soll, weiß ich im Moment
debattiert – sofort gelöscht. Dem Argument, internatio- nicht so richtig. Aber immerhin bietet man etwas.
nal würde das nicht funktionieren, kann ich nur entgeg-
nen: Auf internationaler Ebene wird auch ein deutsches Mit anderen Worten: Das ist eine Anweisung, ein er-
Löschgesetz nicht interessieren. lassenes, beschlossenes, verabschiedetes, rechtskräfti-
ges, in Kraft getretenes Gesetz nicht anzuwenden. Das
(Beifall bei der LINKEN – Ingo Wellenreuther ist der Verkauf des Rechtsstaates.
[CDU/CSU]: Genau deswegen!)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/
Erstaunlich ist, dass neben der Linken inzwischen DIE GRÜNEN)
auch alle übrigen Fraktionen, jedenfalls in weiten Teilen,
sich offensichtlich einig sind, dass wir dieses Zugangser- Man stelle sich parallel dazu einmal vor, die Regie-
schwerungsgesetz nicht brauchen. Deswegen war ich rung verabschiedet ein Gesetz zur Erhöhung des Spit-
über den Debattenbeitrag gerade ein bisschen erstaunt. zensteuersatzes und sagt dann anschließend: Das wen-
Denn es hat sich allen die Frage aufgedrängt, warum die- den wir jetzt aber nicht an. – Die Bananenrepublik lässt
ses Gesetz zu Wahlkampfzeiten mit einer höchst umstrit- grüßen. Da ist doch etwas faul im Staate. Aber laut Aus-
tenen Begründung durch den Bundestag gepeitscht wer- sage der CDU ist das ein völlig normales Verfahren, ein
den musste. Frau von der Leyen war – daran erinnern völlig normales Verhalten. Es kann doch nicht sein, dass
wir uns sicherlich alle noch – geradezu hysterisch bei der dies das Verhältnis zum Rechtsstaat sein soll.
Debatte.
Zur Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzes hat die
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist eine FDP seinerzeit – ich erwähne in diesem Zusammenhang
Unverschämtheit!) Herrn Stadler, der heute anwesend ist – sehr ausführlich
2122 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Jörn Wunderlich
(A) Stellung genommen, und zwar zu der gesamten Proble- Zunächst einmal geht es um zentrale Grundrechte. Je- (C)
matik. der hat das Recht, sich frei und ungehindert zu informie-
ren. Eine Zensur findet nicht statt. Weiter geht es um die
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die vier
Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnisses, und es
Minuten müssen doch um sein, oder?)
geht um das Grundrecht auf freie und informationelle
– Ja, leicht darüber. Selbstbestimmung.
Ich freue mich jedenfalls auf die Beratungen. Um ei- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dass
nen vernünftigen Rechtszustand herzustellen, kann man die Gesundheit der Kinder bei Ihnen an letzter
im Grunde genommen nur dem Antrag der Linken zu- Stelle kommt, ist bezeichnend!)
stimmen und dieses Gesetz aufheben. Es wird sich zei-
gen, ob diese Regierung verfassungstreu und bürger- Trotz dieser sensiblen Grundrechte wurde das Zu-
rechtsbejahend ist. Ich persönlich habe da allerdings gangserschwerungsgesetz in sechs Wochen durch den
meine berechtigten Zweifel. Bundestag gejagt. Niemand hat die Sachverständigen
wirklich angehört, eine breite Diskussion fand nicht
Schönen Dank. statt.
(Beifall bei der LINKEN) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ganz genau!)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir haben als Opposition gemahnt; aber auf diese Mah-
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege nungen hat man nicht gehört.
Christian Ahrendt.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
NEN]: Kollege Otto hat geredet und geredet!)
der CDU/CSU)
Sie, Herr Dörmann, haben hier vor dem Haus für Ihre
Christian Ahrendt (FDP): Fraktion vorgetragen, dass die Verbreitung kinderporno-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und grafischer Inhalte im Internet immer mehr zunehme und
Herren! Ich darf für meine Fraktion sagen, dass wir die deswegen Internetseiten gesperrt werden müssten.
Gesetzesinitiativen der Opposition begrüßen. Jetzt ist ein Jahr vergangen, Sie sind vier Monate
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nicht mehr in der Regierung, und nun schreiben Sie in
NEN]: Oh!) der Begründung Ihres Gesetzentwurfs:
(B) Das Zugangserschwerungsgesetz ist ungeeignet, um Zwischenzeitlich hat sich die Erkenntnis durchge- (D)
Kinderpornografie im Internet erfolgreich zu bekämp- setzt, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau
fen. Darauf haben wir als FDP immer hingewiesen. und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen
sind.
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das macht
die Sache nicht richtiger!) Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD,
genau das haben wir Ihnen im letzten Jahr erklärt. Des-
An unserer klaren Haltung hat sich an dieser Stelle
wegen ist es keine neue Erkenntnis, die Sie hier vortra-
nichts geändert. Wir haben immer gesagt: Löschen ist
gen.
besser als Sperren.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
geordneten der SPD) Sie wollen hier mit einem Heiligenschein durchs Land
Deswegen haben wir in den Koalitionsverhandlungen laufen. Sie tragen aber keinen Heiligenschein, Sie sind
mit dem Koalitionspartner auch verabredet, dass Inter- verantwortungslos. So, wie beim Zugangserschwerungs-
netseiten nicht gesperrt werden. gesetz mit den Grundrechten umgegangen worden ist,
war das auch verantwortungslos.
Als ich diese Rede vorbereitet habe – Herr Dörmann,
insofern ist Ihr verspätetes Erscheinen zur Debatte auch Ich will jetzt auch eine Bemerkung über die Grünen
ein gewisses Anzeichen –, habe ich mich zunächst ge- machen, damit sie sich nicht zu früh freuen. Denn im
fragt: Begrüßt du auch den Entwurf der SPD? Dann habe Grunde genommen planen Sie von den Grünen das Glei-
ich über das Verfahren nachgedacht und bin zu dem che. Nächste Woche wird aus Ihren Reihen ein Antrag
Schluss gekommen: Das, was Sie hier vorlegen, ist nicht zum Thema ELENA kommen. ELENA, von Rot-Grün
zu begrüßen, sondern ist eher eine sehr bedauernswerte verabschiedet, ist nichts anderes als ein riesiges Spiona-
Initiative. Wenn man sich einmal anschaut – Kollege gegesetz gegen Arbeitnehmerrechte.
Wunderlich hat es eben schon beschrieben –, was hier im (Beifall bei der FDP und der LINKEN – Zurufe
Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens abgelaufen ist, vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)
dann muss man sagen, dass das erschreckend ist. Wenn
man sich anschaut, worum es eigentlich geht, dann sieht Das Manöver, sich auch hierbei aus der Opposition he-
man auch, über welche bedeutenden Fragen wir hier re- raus als Verteidiger der Grundrechte darzustellen, wer-
den. den wir Ihnen an dieser Stelle nicht durchgehen lassen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2123
Christian Ahrendt
(A) Meine sehr geehrten Damen und Herren, man darf es naten keine Debatte stattgefunden. Das ist hochgradig (C)
sich mit diesem Thema – das ist vorhin auch schon ange- merkwürdig.
klungen – nicht so einfach machen. Man darf den Kampf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gegen Kinderpornografie und die Freiheit des Internets
durch vordergründigen Populismus und holzschnittartige Es stimmt: Die Herstellung und Verbreitung von Kin-
Gesetze nicht gegeneinander ausspielen. Der freie und derpornografie ist ein gravierendes gesellschaftliches
unzensierte Zugang zum Internet ist das eine, der Kampf Problem. Aber gerade weil das so ist, verbietet sich eine
gegen die Kinderpornografie das andere. rein symbolische Placebopolitik, wie sie im Zugangser-
schwerungsgesetz zum Ausdruck kommt. Für Politik-
Die Kollegen Wunderlich und Heveling haben es be-
simulation ist das Problem zu ernst.
reits angesprochen: Jedes Bild dokumentiert eine Verlet-
zung. Hinter jedem kinderpornografischen Bild steht die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Verletzung eines Jungen oder eines Mädchens. In dem und bei der LINKEN – Dr. Günter Krings
Moment, in dem man sich das Bild anschaut, findet die [CDU/CSU]: Für Nichtstun auch!)
Verletzung noch einmal statt. Deshalb sagen wir: Lö-
schen ist in erster Linie Opferschutz. Deswegen haben Mit welcher Rhetorik dieses Gesetz eine Mehrheit
wir immer betont: Löschen geht vor Sperren. fand, wollen wir auf sich beruhen lassen, aber erstaun-
lich ist die jüngste Entwicklung schon. Es gab in den
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten letzten Monaten ein allgemeines Zurückrudern durch
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE alle Reihen, auch durch Ihre.
GRÜNEN – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]:
(Zuruf von der LINKEN: Nicht durch unsere!)
Gerade das steht im Gesetz drin!)
Die SPD hat es sich anders überlegt.
Weil wir in den letzten Monaten bei unserem Koali-
tionspartner viel Überzeugungsarbeit geleistet haben, ist (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir rudern
zwischen dem Bundesinnenminister und der Bundesjus- nur vorwärts!)
tizministerin verabredet worden, dass es eine Gesetzes-
Von Herrn Uhl habe ich schon berichtet.
initiative zur Löschung kinderpornografischer Seiten
geben wird. Wir haben im Rahmen dieser Gesetzesinitia- Am Montag fand die Anhörung zur Petition „Keine
tive die Möglichkeit, das Thema in den Ausschüssen neu Indizierung und Sperrung von Internetseiten“ statt.
und in der erforderlichen Breite zu diskutieren. Ich gehe Franziska Heine trug das Anliegen von 134 000 Mit-
davon aus, dass wir am Ende dieses Verfahrens ein ver- zeichnerinnen und Mitzeichnern vor. Das ist die höchste
nünftiges Gesetz vorweisen können. Ich lade Sie ein, Beteiligung an einer Petition, die es bisher gegeben hat.
(B) sinnvoll und vernünftig mitzuberaten. Auch diese Anhörung hat gezeigt, dass das Zugangs- (D)
erschwerungsgesetz misslungen ist und man vor seiner
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Verabschiedung nicht all die kritischen Expertenmeinun-
(Beifall bei der FDP) gen hätte in den Wind schreiben dürfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Petra Pau: und bei der LINKEN – Dr. Günter Krings
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz für [CDU/CSU]: Jetzt kommen gleich die kon-
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. struktiven Vorschläge!)
– Diese kommen gleich. Freuen Sie sich schon einmal
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE darauf. – Strafrechtlich relevante Seiten – seien es solche
GRÜNEN): mit rechtsradikalem Inhalt,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch
Sehr geehrter Herr Kollege Heveling, es ist schon er- mit linksradikalem Inhalt!)
staunlich, was sich hier abspielt. Vor wenigen Wochen
stand der Kollege Uhl an dieser Stelle und erklärte, man betrügerische Internetseiten oder aber solche mit kin-
habe damals bei diesem Gesetz im Nebel gestochert und derpornografischem Inhalt – können schon heute pro-
sei nicht so richtig unterwegs gewesen. blemlos gelöscht werden, was auch vielfach geschieht.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Heute hat Spiegel Online eine Studie zitiert, in der die
NEN]: Wo ist er eigentlich?) Zeit bis zum Löschen von Internetseiten untersucht
wurde. Bei Phishing-Seiten, also bei Seiten, die Bankzu-
Parallel zu Ihrer Rede hier gibt die frischgebackene Fa- gangsdaten abfischen, dauert das Löschen einer Seite
milienministerin Schröder ein Interview bei Spiegel vier Stunden, bei Seiten mit kinderpornografischem In-
Online halt dauert es über 700 Stunden. Das zeigt die Problema-
tik auf: Mit Sperren ist einem nicht geholfen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wo ist die eigentlich?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN)
– ja, wo ist sie eigentlich? –, in dem sie erklärt, dass es
damals ein Missverständnis gewesen sei. Sie aber halten Die Sperren, die der Kern des Gesetzes sind, über das
eine Rede, in der Sie so tun, als hätte in den letzten Mo- wir heute reden, sind ineffektiv, können spielend leicht
2124 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Konstantin von Notz


(A) umgangen werden und sind der Einstieg in eine Technik Vizepräsidentin Petra Pau: (C)
für das Internet, mit der jedweder gewünschte oder uner- Kollege von Notz, ich bitte um Beachtung meines Si-
wünschte Inhalt staatlicherseits und ohne Richtervorbe- gnals.
halt gesperrt werden kann, was schon heute in China, im
Iran und in ähnlich demokratisch desorientierten Staaten (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
passiert. GRÜNEN]: Er fand es so schön! Er wollte es
noch länger sehen!)
Natürlich gibt es auch bei uns Begehrlichkeiten, auf
die Sperrinstrumente, die jetzt geschaffen wurden, zu-
rückzugreifen, zum Beispiel seitens der Musikindustrie Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
oder im Rahmen eines Jugendmedienschutz-Staatsver- NEN):
trages, der sein Ziel verfehlt. Das darf nicht sein. Vor Jawohl. – Sie haben auf die Untätigkeit des Bundes-
diesem Hintergrund sagen weite Teile der Bevölkerung präsidenten gehofft. Vergeblich. Jetzt und hier müssen
Nein zu diesem Gesetz. Sie Farbe bekennen. Gehen Sie den ehrlichen und saube-
ren Weg! Stimmen Sie für die Aufhebung dieses Geset-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zes!
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD) Herzlichen Dank.
Wir können viel gegen Kinderpornografie tun. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
müssen die internationale Zusammenarbeit bei den The- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
men Kindesmissbrauch und Verbreitung von Kinderpor- der SPD)
nografie verbessern. Wir brauchen eine Stärkung von
Polizei und Staatsanwaltschaft in diesem Bereich, und Vizepräsidentin Petra Pau:
zwar personell und technisch.
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann für die
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist alles SPD-Fraktion.
kein Widerspruch!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dorothee
Wir müssen den Aktionsplan zum Schutz von Kindern Bär [CDU/CSU]: Ah! Auch schon da?)
und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung
weiter voranbringen, und wir brauchen endlich mehr
Martin Dörmann (SPD):
fundierte, wissenschaftlich belastbare Expertisen über
die Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(B) Aber dieses Gesetz, das Zugangserschwerungsgesetz, Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich aufgrund einer mir (D)
brauchen wir nicht. offensichtlich falsch übermittelten Zeit zwei Minuten zu
spät gekommen bin. Vielleicht lag es daran, dass es die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erste Rede des Kollegen Heveling war, zu der ich ihm
Vor diesem Hintergrund verstehe ich am wenigsten natürlich gratuliere, ohne dass ich zu den Inhalten etwas
Ihr Verhalten hier und heute, sehr geehrte Kolleginnen sagen möchte.
und Kollegen von der FDP-Fraktion. Im Wahlkampf Zur Sache. Vor gerade einmal zwei Tagen ist das Zu-
sind Sie mit dem vollmundigen Versprechen angetreten, gangserschwerungsgesetz in Kraft getreten. Es regelt das
dieses Gesetz umgehend zurückzuholen. Immerhin ha- Sperren von Internetseiten mit kinderpornografischen
ben Sie eine Aussetzung in den Koalitionsvertrag hinein- Inhalten. Das Sperren soll dann erfolgen, wenn ein Lö-
verhandelt. schen dieser Seiten nicht in angemessener Zeit erreicht
(Zurufe von der FDP: Eben!) werden kann.
– Genau. (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Aha!)
Ich denke, es gibt niemanden in diesem Hause, der
Vizepräsidentin Petra Pau: das Ziel nicht teilt, kinderpornografische Inhalte nach-
Kollege von Notz, achten Sie bitte auf das Signal. haltig aus dem Netz zu entfernen. Wir müssen aber er-
kennen: Es war ein Fehler, dass die Große Koalition da-
Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei im vergangenen Jahr auch auf das Instrument der
NEN): Internetsperren gesetzt hat, wenn auch nur als Ultima
Selbstverständlich. – Wenn es also tatsächlich Koali- Ratio.
tionsmeinung ist, dass das Sperren falsch ist und nichts
bringt, wenn Sie von CDU/CSU und FDP tatsächlich in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
der Debatte dazugelernt haben und das alles nicht nur DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Wahlkampfrhetorik war, dann nehmen Sie dieses Parla- Solche Sperren sind technisch leicht zu umgehen.
ment ernst und versuchen Sie nicht, ein gültiges Gesetz
mit einem Ministererlass, quasi par ordre du mufti, aus- (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist kein
zuhebeln. Argument!)
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann sind Sie beseitigen nicht die eigentlichen Inhalte und entfal-
Sie also für Sperren?) ten in erster Linie eine symbolische Wirkung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2125
Martin Dörmann
(A) (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Auch kein Immerhin ist zu begrüßen, dass auch die neue Bundesre- (C)
Argument!) gierung ausdrücklich das Prinzip „Löschen statt Sper-
ren“ anerkennt.
Gleichzeitig aber wecken sie bei vielen Menschen die
Sorge vor einer Internetzensur. (Gisela Piltz [FDP]: Da waren wir klüger als
Sie!)
(Gisela Piltz [FDP]: Das ist alles eine völlig
neue Erkenntnis oder was?) Das muss dann aber auch rechtsstaatlich sauber umge-
setzt werden, also durch die Aufhebung des Sperrgeset-
Auch wenn gerade dies nicht beabsichtigt war, hat die
zes.
Politik insgesamt einen Verlust an Glaubwürdigkeit und
Akzeptanz erlitten, (Gisela Piltz [FDP]: Das sagen gerade Sie?
Das ist ja interessant!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Nicht akzeptabel ist das – das sage ich insbesondere
GRÜNEN]: So ist es!) an die Adresse der Liberalen, die sich hier jetzt sehr auf-
regen –,
zumal selbst Unionsmitglieder hinter vorgehaltener
Hand oder sogar ganz offen zugeben, dass es der damali- (Gisela Piltz [FDP]: Über Sie habe ich mich
gen Familienministerin, Frau von der Leyen, die die schon immer aufgeregt!)
Sperren auf die Tagesordnung gesetzt hatte, vor allem
worauf sich Union und FDP geeinigt haben, nämlich das
um ein populäres Wahlkampfthema ging.
Gesetz für ein Jahr faktisch nicht anzuwenden.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(Christian Ahrendt [FDP]: Was haben Sie denn
GRÜNEN]: Genau!)
gemacht?)
Die SPD-Bundestagsfraktion sieht ihre Mitverantwor-
Der damit verbundene rechtliche und politische Wirr-
tung und will hieraus die richtigen Konsequenzen zie-
warr, den Sie angerichtet haben, muss schnellstmöglich
hen.
beendet werden.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Sie
Politik muss sich auch korrigieren können. haben den Wirrwarr angerichtet!)
Aus diesen Gründen bringen wir heute einen Gesetz- Es geht nicht, dass durch Regierungsanweisung ein Ge-
entwurf in den Bundestag ein, um das Zugangserschwe- setz einfach mal eben ausgesetzt wird.
rungsgesetz aufzuheben. Es ist richtig, auf die symboli-
(B) (Beifall bei der SPD – Ute Kumpf [SPD]: Not- (D)
schen Internetsperren zu verzichten und konsequent auf
standsgesetzgebung!)
das Prinzip „Löschen statt Sperren“ zu setzen;
Der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis und viele an-
(Gisela Piltz [FDP]: Das ist wirklich populis-
dere haben das bereits als verfassungswidrig bezeichnet.
tisch!)
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die CDU
denn nur mit dem Löschen der rechtswidrigen Seiten
hält das für normal!)
und der konsequenten Strafverfolgung können die kin-
derpornografischen Inhalte wirksam aus dem Netz ent- Es ist beschämend, dass sich Union und FDP hierfür her-
fernt werden. geben, letztlich nur, um einen Koalitionskompromiss
hinzubekommen.
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das
funktioniert weltweit, ja?) (Gisela Piltz [FDP]: Das sagen ausgerechnet Sie?
Ich würde mich schämen an Ihrer Stelle!)
Die SPD hat stets deutlich gemacht, dass zu einer er-
folgreichen Bekämpfung kinderpornografischer Inhalte Es genügt auch nicht, anzukündigen, demnächst werde
im Internet eine Vielzahl von Maßnahmen gehören, und man ein Löschgesetz vorlegen. Niemand weiß heute, ob
hierzu im letzten Jahr einen eigenen Zehn-Punkte-Plan und wann ein solches Gesetz tatsächlich in Kraft treten
vorgelegt. Dazu gehören insbesondere eine bessere Aus- würde. Eines kommt hinzu: Durch die Ankündigung ei-
stattung der Polizei und eine intensive internationale Zu- nes Löschgesetzes und aktuelle Stellungnahmen erweckt
sammenarbeit. Denn schließlich sind das Hauptproblem die Regierungskoalition den Eindruck, es brauchte ein
die Seiten auf ausländischen Servern, die nicht direkt Gesetz, um solche Seiten zu löschen. Das Gegenteil ist
von Deutschland aus gelöscht werden können. der Fall.
(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Na also! (Gisela Piltz [FDP]: Ach, warum haben Sie
Und dann?) das dann nicht so gemacht?)
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie nun Es ist völlig unstreitig, dass bereits nach bisheriger
zügig und konsequent entsprechende Maßnahmen er- Rechtslage und ohne ein besonderes Gesetz kinderpor-
greift. Bisher haben wir zwar viele Ankündigungen ge- nografische Inhalte in Deutschland durch die Internet-
hört, aber nur wenige Taten gesehen. provider vom Netz genommen werden müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Halt nur in
der LINKEN) Deutschland!)
2126 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Martin Dörmann
(A) Das ist im Übrigen übliche Praxis. Ein einfacher Hin- Deshalb fordern wir nicht nur die Aufhebung des Zu- (C)
weis des BKA genügt in der Regel. Ein Verbreiten sol- gangserschwerungsgesetzes, sondern auch die unverzüg-
cher Inhalte ist bereits strafbar. liche Aufhebung aller einschlägigen BKA-Verträge, die
durchaus angekündigt wurde. Lassen Sie uns also klare
Vor diesem Hintergrund fordert die SPD-Bundestags- Verhältnisse schaffen! Sorgen wir dafür, dass die Politik
fraktion die Koalitionsfraktionen auf, von jeglichen ihre insgesamt verloren gegangene Glaubwürdigkeit zu-
symbolischen und rechtsstaatlich bedenklichen Hand- rückgewinnt! Recht und Freiheit im Internet zu sichern,
lungen Abstand zu nehmen. Denn das würde den Ver- sollten wir als gemeinsame Aufgabe wahrnehmen.
trauensschaden für die Politik nur noch vergrößern.
Vielen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der SPD – Ingo Wellenreuther
Mehr als 130 000 Menschen haben sich im vergange- [CDU/CSU]: Den Schutz der Kinder hast du
nen Jahr der E-Petition gegen das Gesetz angeschlossen. vergessen, oder?)
Es hat sich gezeigt, wie gut es war, dass Rot-Grün sei-
nerzeit dieses Instrument neu geschaffen hat. Erst am
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Montag haben wir in einer Anhörung des Petitionsaus-
schusses, die ich sehr gut fand, mit Frau Franziska Das Wort hat nun Dorothee Bär für die CDU/CSU-
Heine, die die E-Petition mit auf den Weg gebracht hat, Fraktion.
darüber diskutiert. Der Erfolg der E-Petition hat die Poli-
tik offensichtlich stark beeinflusst und insgesamt zu ei- Dorothee Bär (CDU/CSU):
ner neuen Sensibilität für Fragen des Internets beigetra- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
gen. Es ist gut, dass inzwischen alle Parteien Netzpolitik hatte eigentlich schon gehofft, dass das Thema von den
zu einem wichtigen Thema erklärt haben. In der nächs- Kollegen der Fraktionen insgesamt als zu ernst betrach-
ten Woche werden wir im Bundestag, die Regierungs- tet wird, um heute eine solche Show abzuziehen. Mich
koalition zusammen mit den Fraktionen SPD und ärgert es auch, dass es eine sehr technische Diskussion
Bündnis 90/Die Grünen, die Enquete-Kommission „In- ist und Vorschläge der Oppositionsfraktionen fehlen.
ternet und digitale Gesellschaft“ auf den Weg bringen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die E-Petition hatte übrigens bereits erheblichen Ein- NEN]: Was haben Sie denn zu bieten?)
fluss auf das Gesetzgebungsverfahren im vergangenen Wir haben hier einen gordischen Knoten zu durch-
Jahr. Mit ihrem Rückenwind konnte die SPD-Bundes- schlagen; das ist uns allen klar. Wir wollen den Kampf
tagsfraktion gegen den anfänglichen Widerstand aus der gegen die Kinderpornografie nicht nur aufnehmen, son-
(B) Union entscheidende Verbesserung am damaligen Ge- dern auch gewinnen. (D)
setzentwurf durchsetzen. So wurden wichtige Punkte ge-
setzlich verankert. Ich nenne nur das Prinzip „Löschen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
vor Sperren“, eine strenge Kontrolle der BKA-Sperrliste, GRÜNEN]: Nicht mit dem Gesetz!)
zahlreiche Datenschutzbestimmungen sowie eine Befris- Wir haben natürlich auf der anderen Seite – dieses An-
tung des Gesetzes. liegen ist uns, denke ich, allen wichtig – ein freies Inter-
Uns ging es dabei nicht darum, eine Sperrinfrastruk- net zu erhalten. Man darf über Namen keine Witze ma-
tur aufzubauen, sondern – im Gegenteil – eine sich be- chen – das mag keiner –, aber ich muss ganz ehrlich
reits im Aufbau befindliche Sperrinfrastruktur zu kon- sagen, dass man sich bei manchen Reden der Linken
trollieren und gesetzlich einzugrenzen. Folgendes wird doch sehr stark wundert. Ich möchte die FDP zu einem
bis heute in der öffentlichen Debatte viel zu wenig be- konstruktiven Dialog einladen, aber ihr gleichzeitig zu-
achtet: Bereits vor dem Gesetz gab es Verträge zwischen rufen: Willkommen in der Regierungskoalition! Ich
dem BKA und den wichtigsten deutschen Internetprovi- würde mich freuen, wenn jedem Mitglied der FDP lang-
dern über die Einrichtung solcher Sperren, und zwar sam bekannt würde, dass wir gemeinsam regieren.
ohne jegliche Kontrolle und mit der Gefahr, dass sich (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der
auch jemand, der ungewollt auf illegale Seiten stößt, ei- SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
nem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren ausgesetzt se- Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hen konnte. NEN]: Sofort wieder ein Krisengipfel heute
Nach den uns vorliegenden Informationen wurde Abend!)
diese Sperrinfrastruktur bereits vor einiger Zeit umge- Die Herausforderung, größtmöglichen Erfolg zu ha-
setzt, und zwar völlig unabhängig vom Gesetz. Zur Ver- ben, besteht darin, beide Seiten, die berechtigte Anliegen
hütung von Schlimmerem haben wir als SPD-Fraktion haben, an einen Tisch zu bekommen und gemeinsam
uns damals verpflichtet gefühlt, zahlreiche Schutzbe- nach einer Lösung zu suchen. Wir müssen uns in dieser
stimmungen zugunsten der Internetuser gesetzlich zu re- Debatte auf der einen Seite von dem Gedanken freima-
geln. chen, dass jeder, der für die Freiheit des Internets ist,
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der SPD-Fraktion dem schändlichen Missbrauch an Kindern das Wort re-
geht es heute darum, die netzpolitische Debatte wieder det. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht jedem, der
vom Kopf auf die Füße zu stellen. sich mit Vehemenz und schützender Hand vor unsere
Kinder, die Schwächsten der Gesellschaft, stellt, per se
(Lachen bei der FDP) unterstellen, dass er für eine Internetzensur ist.
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Dorothee Bär
(A) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin Zu einem Gesamtmaßnahmenpaket, das wir brau- (C)
von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das chen, gehört selbstverständlich auch eine effektive Straf-
tut niemand!) verfolgung im In- und Ausland sowie natürlich eine bes-
sere Prävention. Es ist wichtig, dass wir das Thema nicht
– Doch, natürlich. Sie waren in der letzten Legislatur- nur ins Internet verlagern; denn dort – der Kollege
periode noch nicht hier, Herr Kollege. Heveling hat dies sehr richtig gesagt – geschehen die Ta-
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE ten nicht. Sie finden im realen Leben statt. Da muss na-
GRÜNEN]: Wir stellen uns auch vor die Kin- türlich zuallererst angesetzt werden. Das ist das alles
der! Das lassen wir uns von niemandem ab- Entscheidende. Wir müssen dieses Thema gemeinsam
sprechen!) behandeln – mit Eltern, Erziehern und Lehrern –, um un-
sere Kinder stark zu machen, damit so etwas überhaupt
– Ja, Sie stellen sich auch vor die Kinder. Aber hören Sie nicht mehr passieren kann.
mir bitte zu, bevor Sie in meine Rede hineingackern.
Dann wüssten Sie nämlich, dass ich genau das gesagt Zum Gesamtpaket gehört auch – deswegen habe ich
habe. eingangs gesagt, dass mir die Diskussion insgesamt zu
technisch ist – eine gesellschaftliche Ächtung der Täter,
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE derjenigen, die solche Bilder produzieren, aber gerade
GRÜNEN]: Wer gackert denn hier?) auch derjenigen, die solche Bilder konsumieren; denn
CDU/CSU und SPD haben in der vergangenen Legis- das ist die Voraussetzung dafür, dass dies zu einem Ge-
laturperiode gemeinsam ein Gesetz verabschiedet, ein schäftsmodell wird, mit dem man sich auf Kosten der
Gesetz zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Tele- Schwächsten in der Gesellschaft bereichern kann.
kommunikationsnetzen. In dem Gesetz ging es darum
– das ist bereits angesprochen worden –, kinderporno- Ich würde mir wünschen – diesen Appell habe ich in
grafische Webseiten zu löschen. Falls das nicht möglich der heutigen Debatte vermisst –, dass wir uns gemein-
ist, wenn zum Beispiel der Server im Ausland liegt, sol- sam an einen Tisch setzen, wie ich es am Anfang meiner
len die Seiten gesperrt werden. Jeder der damals daran Rede beschrieben habe, und zwar ohne Schaum vor dem
Beteiligten wusste und weiß auch heute, dass das Sper- Mund. Nicht jeder, der etwas gegen Kinderpornografie
ren von Internetseiten selbstverständlich nicht der Weis- tun möchte, ist gegen die Freiheit im Internet – ganz im
heit letzter Schluss ist, um effektiv gegen Kinderporno- Gegenteil –, aber umgekehrt ist auch nicht jeder, der
grafie vorzugehen. Wir waren aber die Einzigen, die sagt, man müsse die Freiheit aufrechterhalten, für Kin-
gesagt haben: Wir gehen diesen ersten Schritt in die rich- derpornografie.
(B) tige Richtung. Wir sollten uns gemeinsam an einen Tisch setzen, um (D)
(Beifall bei der CDU/CSU) nach einer Lösung zu suchen: sowohl mit Kinderschüt-
zern als auch mit Netzaktiven, die dasselbe anstreben,
Dass da noch draufgesattelt werden muss, ist völlig nämlich unsere Kinder vor Missbrauch zu schützen und
selbstverständlich. Wenn wir aber zum alten Gesetz zu- gleichzeitig die Freiheit im Netz zu erhalten.
rückkehren würden – wie Sie es wollen –, dann würden
wir einen Schritt zurückgehen. Wir wollen einfach alle Vielen Dank.
technischen und auch alle anderen Möglichkeiten nut-
zen, um diesem schändlichen Treiben ein Ende zu berei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ten.
(Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Kollege von Notz hat um eine Kurzintervention gebe-
Wir müssen uns natürlich überlegen, ob wir neue Ge- ten. – Bitte schön.
setze brauchen oder ob wir auch untergesetzliche Maß-
nahmen ergreifen können. Da, wie gesagt, viele Server
im Ausland stehen, helfen uns an dieser Stelle multilate- Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE
rale und bilaterale Abkommen, beispielsweise mit den GRÜNEN):
USA, wo sehr viele Server stehen. Vielen Dank. – Frau Kollegin, wenn das Sperren von
Internetseiten so wichtig ist, wie Sie es hier darstellen,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wie erklären Sie dann den Erlass des Bundesinnenminis-
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des teriums, auf das Sperren zu verzichten, und wie bringen
Kollegen von Notz? Sie das damit in Einklang, dass dieses Haus gemäß sei-
ner Gesetzgebungskompetenz den entsprechenden Ge-
setzentwurf auch mit Ihren Stimmen verabschiedet hat?
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Der Herr Kollege von Notz hat seine Redezeit um (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
mehr als das Doppelte überschritten. Deswegen werde DIE GRÜNEN und der LINKEN)
ich seine Anliegen nachher bilateral mit ihm klären.
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
GRÜNEN]: Da freue ich mich schon drauf!) Kollegin Bär.
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(A) Dorothee Bär (CDU/CSU): Hiezu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion (C)
Ich hatte wirklich gehofft, dass Sie mir zuhören. Ich Bündnis 90/Die Grünen vor.
habe gesagt: Wir haben einen Gesetzentwurf verabschie-
det, und das war der erste Schritt in die richtige Rich- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
tung. Es wurde übrigens nicht beschlossen, dieses Ge- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
setz nicht anzuwenden, keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem ungedul-
NEN]: Doch!) digen Parlamentarischen Staatssekretär Christoph
sondern es wurde entschieden, es für ein Jahr auszuset- Bergner das Wort. – Bitte schön.
zen.
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ich habe den Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Erlass zum Nichtanwenden schwarz auf weiß Bundesminister des Innern:
hier, Frau Bär! Kennen Sie etwa die Erlasse Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bera-
Ihrer eigenen Ministerien nicht?) ten in abschließender Lesung ein Vertragsgesetz. Dies
soll für die Bundesregierung Anlass sein, zunächst ein-
– Mir ist von meinen Eltern beigebracht worden: Wer
mal den befassten Ausschüssen für die zügige Beratung
schreit, hat unrecht. Herr Kollege Wunderlich, geifern
dieses Gesetzentwurfes zu danken. Da bei der Einbrin-
Sie da drüben also ruhig weiter. –
gung keine Debatte stattgefunden hat, wollen wir die ab-
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: schließende Lesung nutzen, um die Bedeutung dieses
Hallo? Unverschämt!) Gesetzgebungswerkes zu skizzieren.
Wir wollen natürlich weitere Maßnahmen ergreifen. Ich Wir wissen, dass die informationstechnischen Sys-
habe jetzt das Angebot gemacht, dass wir uns noch ein- teme längst das Rückgrat unserer Verwaltung bilden,
mal überlegen sollten, welche weiteren Schritte folgen dass durch ihren Einsatz Bürokratiekosten gesenkt und
könnten. Ich lade selbstverständlich auch die Grünen die Serviceleistungen der Behörden verbessert werden
ein, dies mit uns gemeinsam zu tun. konnten. Informationstechnik war in den letzten Jahren,
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- um es genauso technisch auszudrücken, der entschei-
NEN]: Erst muss das Gesetz vom Tisch!) dende Treiber für die Modernisierung unserer öffentli-
chen Verwaltung. Trotzdem – das ist der Widerspruch –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: gibt es in unserem föderalen Staat bisher keinen verbind-
(B) Ich schließe die Aussprache. lichen Rahmen für die IT-Zusammenarbeit von Bund (D)
und Ländern. Kooperationen erfolgen bisher auf freiwil-
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- liger Basis. Das hat dazu geführt, dass Entscheidungen
würfe auf den Drucksachen 17/776, 17/646 und 17/772 oftmals erschwert, Entscheidungsprozesse verlangsamt
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse wurden und so mit dem rasanten Entwicklungstempo in
vorgeschlagen. Die Vorlagen auf Drucksachen 17/646 der Informations- und Kommunikationstechnik nicht
und 17/772 sollen federführend vom Rechtsausschuss be- Schritt halten konnten.
raten werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so Wir wissen nur zu gut, dass eine kostengünstig arbei-
beschlossen. tende öffentliche Verwaltung ein wichtiger Standortvor-
teil ist und dass es gerade für die Wirtschaft wichtig ist,
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
dass die Behörden bei der Erfüllung ihrer Aufgaben über
Zweite und Dritte Beratung des von der Bundes- Ländergrenzen und Verwaltungsebenen hinweg effi-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zient zusammenarbeiten. Dies setzt allerdings voraus,
zum Vertrag über die Errichtung des IT-Pla- dass die Behörden im Rahmen der Erfüllung ihrer Auf-
nungsrats und über die Grundlagen der gaben, auch wenn sie unterschiedlichste IT-Systeme ein-
Zusammenarbeit beim Einsatz der Informa- setzen, Daten und Informationen problemlos austau-
tionstechnologie in den Verwaltungen von schen können.
Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung
von Artikel 91 c GG Damit die IT auch künftig einen Beitrag zur Moderni-
sierung der öffentlichen Verwaltung leisten kann, muss
– Drucksache 17/427 – sie zukunftsfähig gemacht werden. Dazu muss die bisher
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- lose Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zu ei-
schusses (4. Ausschuss) nem dauerhaften, planvollen Zusammenwirken entwi-
ckelt werden. Hier hat man sich in der Föderalismus-
– Drucksache 17/571 – kommission II auf den vorliegenden Entwurf des IT-
Berichterstattung: Staatsvertrages geeinigt. Dieser Entwurf steht in einer
Abgeordnete Reinhard Grindel Reihe mit der Einführung von Art. 91 c Grundgesetz, in
Michael Hartmann (Wackernheim) dessen Folge noch in der vergangenen Wahlperiode das
Manuel Höferlin IT-Netzgesetz beschlossen wurde. Nun folgt das Gesetz
Jan Korte zum Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats.
Dr. Konstantin von Notz Zusammen führen diese drei Rechtsvorhaben ein neues,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2129
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
(A) verbindliches System der Bund-Länder-Zusammenarbeit Lage versetzt, ihre Informations- und Handlungspflich- (C)
im Bereich der öffentlichen IT ein. ten mit möglichst geringem Kostenaufwand zu erfüllen.
Das Herzstück der neuen IT-Steuerung ist das, was Drittens. Für den Bereich IT-Sicherheit gilt es im Pla-
wir mit dem heutigen Vertragsgesetz beschließen, näm- nungsrat, zur Abwehr von IT-Angriffen die Kompeten-
lich die Errichtung des IT-Planungsrats. Der IT-Pla- zen der Länder und des Bundes zu bündeln. Dieses Prin-
nungsrat bringt Bund, Länder und Kommunen in einem zip der Kompetenzbündelung gilt auch für den Bereich
gemeinsamen Steuerungsgremium an einen Tisch. Die mehr Datenschutz und Datensicherheit im Internet.
Informationstechnik bekommt somit eine einheitliche Auch hier gilt: Durch den übergreifenden, alles mitei-
Stimme. nander verbindenden Charakter des Internets wird es er-
forderlich, im IT-Planungsrat gemeinsam mit den Län-
Der Bund ist im IT-Planungsrat durch die Beauftragte dern nach Lösungen für den Datenschutz zu suchen.
des Bundes für Informationstechnik vertreten. Die Län- Meine Damen und Herren, die beratenden Aus-
der entsenden hochrangige, mit Entscheidungsbefugnis- schüsse haben die Annahme dieses Gesetzentwurfs emp-
sen ausgestattete Vertreter, in der Regel die Staatssekre- fohlen. Ich bitte das Plenum, diesem Gesetzentwurf zu-
täre oder die sogenannten CIOs. Damit wird der IT- zustimmen. Wenn Sie dies tun, dann kann sich der IT-
Planungsrat als politisch-strategisches Gremium etab- Planungsrat bereits im April dieses Jahres zu seiner kon-
liert. So ist auch sichergestellt, dass die notwendige enge stituierenden Sitzung zusammenfinden, und dann kön-
Zusammenarbeit mit den Fachministerkonferenzen auf nen wir bei der Modernisierung unserer Verwaltung we-
Augenhöhe erfolgen kann. Ebenso wichtig ist es, die sentlich vorankommen. In diesem Sinne bitte ich um
kommunale Ebene einzubinden. An den Sitzungen kön- Unterstützung und Befürwortung dieses Gesetzentwurfs.
nen drei von den kommunalen Spitzenverbänden ent-
sandte Vertreter beratend teilnehmen. Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Auch die Belange des Datenschutzes – das sage ich
mit Blick auf einen der eingebrachten Entschließungsan-
träge – werden im IT-Planungsrat Berücksichtigung fin- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
den: Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPD-
Informationsfreiheit nimmt an den Sitzungen des IT-Pla- Fraktion.
nungsrats beratend teil. Zudem ist vorgesehen, dass wei-
tere Personen eingeladen werden können, zum Beispiel Gabriele Fograscher (SPD):
Vertreter der Fachministerkonferenzen oder Vertreter der Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Landesdatenschutzbeauftragten. Mit der heutigen Entscheidung zum Vertrag über die Er-
(B) richtung des IT-Planungsrats und über die Grundlagen (D)
Die Bandbreite der fachlichen Themen und die Viel- der Zusammenarbeit beim Einsatz der Informationstech-
zahl der Abstimmungspartner zeigt, dass der IT-Pla- nologie in den Verwaltungen von Bund und Ländern
nungsrat ein Querschnittsgremium ist. Die enge und schaffen wir die Voraussetzung für eine moderne, effi-
transparente Zusammenarbeit mit allen Beteiligten ist ziente und bürgerfreundliche Verwaltung.
eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg dieses
Die heutige IT-Infrastruktur der öffentlichen Verwal-
Gremiums. Deshalb ist es wichtig, dass Transparenz her-
tung ist nicht mehr zeitgemäß. Zu diesem Ergebnis kam
gestellt wird, indem die Entscheidungen des IT-Pla-
das Projekt „Deutschland-Online Infrastruktur“ bei einer
nungsrats im elektronischen Bundesanzeiger veröffent- Bestandsaufnahme der IT-Netzstruktur von Bund, Län-
licht werden. dern und Kommunen bereits 2006. Es gebe zu viele
Es sei mir gestattet, einige der Neuerungen, die der Netze, es gebe keine gemeinsamen Sicherheitsstandards,
IT-Planungsrat bringen wird und die aus der Sicht der und die Netze entsprächen den Anforderungen einzelner
Bundesregierung besondere Bedeutung besitzen, kurz zu Fachabteilungen, seien für andere Abteilungen aber oft-
skizzieren: mals nicht nutzbar.
Dieses Ergebnis war Anlass für die Kommission von
Erstens. In dem Staatsvertrag ist vorgesehen, dass IT- Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-
Standards im IT-Planungsrat durch Mehrheitsentschei- Länder-Finanzbeziehungen, der sogenannten FöKo II,
dungen beschlossen werden. Solche Beschlüsse des IT- aktiv zu werden. In den Beschlüssen der FöKo II vom
Planungsrats werden in allen Behörden Bindungswir- März 2009 wurde festgestellt – ich zitiere –:
kung entfalten. Umgekehrt kann auf Antrag des Bundes
oder dreier Länder eine unabhängige Einrichtung über- Vor dem Hintergrund moderner Verwaltungsanfor-
prüfen, ob eine Standardisierung wirklich notwendig ist. derungen und neuer Bedrohungen ist die Sicherheit
Das ist eine Sicherung, die verhindert, dass sich in der und Austauschbarkeit von Daten in den öffentli-
öffentlichen Verwaltung einseitig proprietäre Standards chen IT-Netzen von herausragender Bedeutung. …
verfestigen. Hierfür sind
– so heißt es in den Beschlüssen weiter –
Zweitens. Der IT-Planungsrat ist eine große Chance
für den Bürokratieabbau. Die Bund-Länder-Zusammen- durch Änderungen im Grundgesetz sowie durch
arbeit in diesem neuen Gremium ermöglicht es künftig, einfachgesetzliche und staatsvertragliche Rahmen-
mehrere Ebenen übergreifende elektronische Verfahren vorgaben die rechtlichen Voraussetzungen zu schaf-
zu etablieren. Bürger und Unternehmen werden so in die fen.
2130 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Gabriele Fograscher
(A) Die grundgesetzlichen Änderungen sind in Art. 91 c Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
Grundgesetz vorgenommen worden. Durch diesen neuen Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Frak-
Art. 91 c Grundgesetz, der seit Juli 2009 gilt, wird es tion.
dem Bund und den Ländern nun ermöglicht, bei Fragen
der Informationstechnik zusammenzuwirken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die einfachgesetzlichen Voraussetzungen wurden
durch das sogenannte IT-Netzgesetz geschaffen. Darin Manuel Höferlin (FDP):
wird geregelt, wie das Zusammenwirken ausgestaltet Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
wird. Dieses Gesetz gilt seit August 2009. Damen und Herren! Neben den „technischen Hinwei-
Nun fehlt also noch der dritte Schritt, nämlich der sen“ des Staatssekretärs Bergner ist mit der Errichtung
Staatsvertrag, um den es heute geht. Durch ihn wird der des IT-Planungsrates zur Zusammenarbeit beim Einsatz
IT-Planungsrat eingerichtet. Mit diesem IT-Planungsrat von Informationstechnologien in den Verwaltungen von
soll die Koordinierung zwischen Bund und Ländern bei Bund und Ländern ein weiterer Grundstein für die er-
Fragen der Informationstechnologie übersichtlicher und folgreiche E-Government-Strategie in Deutschland ge-
vor allem auch sicherer werden. Gerade die sensiblen legt.
Daten der öffentlichen Verwaltung müssen besonders (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
geschützt werden. der CDU/CSU)
Der IT-Planungsrat als neues Steuerungsgremium Mit dem IT-Planungsrat setzen wir konsequent einen
zwischen Bund und Ländern setzt sich aus dem Beauf- weiteren Baustein der Föderalismusreform II um und
tragten der Bundesregierung für die Informationstechnik füllen Art. 91 c Grundgesetz mit Leben. Wir lösen das
und jeweils einem für die Informationstechnik zuständi- Nebeneinander zahlreicher IT-Gremien in Bund und
gen Vertreter jedes Landes zusammen. Drei Vertreter der Ländern ein Stück weit auf, schaffen effiziente, einfache
Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der Bundes- und transparente Entscheidungsstrukturen und fördern
datenschutzbeauftragte können an den Sitzungen teil- die Kooperation zwischen Bund und Ländern wie auch
nehmen. Organisatorisch ist der Planungsrat beim Bun- der Länder untereinander.
desministerium des Innern angesiedelt, und die
Finanzierung der Geschäftsstelle tragen Bund und Län- Meine Damen und Herren, die Koalition hat die kon-
der gemeinsam. tinuierliche Modernisierung öffentlicher Verwaltungen
und die Fortentwicklung der E-Government-Strategie
Die SPD hat den Handlungsbedarf hinsichtlich der des Bundes schon im Koalitionsvertrag als gemeinsames
Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in der In- Regierungsziel festgeschrieben.
(B) (D)
formationstechnik frühzeitig erkannt und im Rahmen der
Föderalismuskommission II unter Vorsitz von Peter (Ute Kumpf [SPD]: Das reicht aber nicht!)
Struck maßgeblich vorangetrieben. Die Sorge, dass man
Die FDP sieht in den Möglichkeiten der Informa-
mit dem IT-Planungsrat eine Stelle schafft, die sich wei-
tionstechnologie eine große Chance für die öffentliche
tere Kompetenzen aneignen will und in die Belange der
Verwaltung.
Länder einzugreifen versucht, ist aufgrund des Staatsver-
trages und der Zusammensetzung des Gremiums unbe- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz
gründet. Josef Jung [CDU/CSU])
Bündnis 90/Die Grünen haben heute einen Entschlie- Wir Liberale wollen Verwaltungsprozesse einfacher,
ßungsantrag vorgelegt. Diesen lehnen wir ab, unbürokratischer und transparenter gestalten. E-Govern-
ment ist kein Selbstzweck der Verwaltung. Der Bürger
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
muss in jedem Fall im Mittelpunkt der Bemühungen ste-
NEN]: Was?)
hen.
weil wir die darin aufgestellten Forderungen für bereits
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz
ausreichend berücksichtigt halten.
Josef Jung [CDU/CSU])
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wenn es durch diese Anstrengungen gelingt, dass
NEN]: Ihr seid jetzt Opposition! Daran muss
Bürgerinnen und Bürger unnötigen Papierkrieg vermei-
man mal erinnern!)
den können, dass ewige Wartezeiten auf Behördenfluren
Es kann keine Alternative zu einer zeitgemäßen und verkürzt werden und Parallelstrukturen in etlichen Äm-
vor allem sicheren IT-Infrastruktur für die öffentliche tern entfallen und damit Entlastung eintritt, dann haben
Verwaltung geben. Deshalb halten wir die grundlegende wir einen Erfolg erreicht und der Politikmüdigkeit der
Entscheidung für eine Vernetzung der öffentlichen Ver- Bürger ein Stück entgegengewirkt. Denn funktionie-
waltungen, die die FöKo II unter Peter Struck auf den rende und schlüssige E-Government-Strukturen entlas-
Weg gebracht hat, für notwendig und richtig. Darum ten Bürger und Behörden gleichermaßen.
wird die SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzentwurf
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz
heute zustimmen.
Josef Jung [CDU/CSU])
Vielen Dank.
Effiziente Verwaltungsstrukturen eröffnen vor allen
(Beifall bei der SPD) Dingen den Kommunen in vielen Feldern neue Möglich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2131
Manuel Höferlin
(A) keiten. Wenn es uns gelingt, durch Maßnahmen im Be- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, (C)
reich der Verwaltungsmodernisierung die teilweise im- alle Forderungen, die Sie hier in Ihrem Entschließungs-
mensen Bürokratiekosten zu senken, verbleiben den antrag stellen, sind vor allen Dingen eines: Selbstver-
Kommunen mehr finanzielle Spielräume in anderen Be- ständlichkeiten.
reichen, zum Beispiel für den Ausbau der Kinderbetreu-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ungsangebote oder die Senkung von Steuern und Gebüh-
NEN]: Manchmal muss man auch die be-
ren.
schließen, insbesondere bei dieser Regierung!)
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz
In der Begründung Ihres Antrags schreiben Sie selbst:
Josef Jung [CDU/CSU])
Die Gewährleistung des Datenschutzes ist aus-
Auch bei der Beschaffung von Hard- und Software
drücklich in mehreren Landesverfassungen nor-
können wir mit einer zwischen Bund und Ländern und
miert.
den Ländern untereinander vernetzten IT-Strategie Ein-
sparpotenziale realisieren. Verwaltungsmodernisierung Informationelle Selbstbestimmung bezeichnen Sie
und E-Government können sich also sprichwörtlich aus- völlig zu Recht als Grundrecht. Sollen wir deshalb auch
zahlen. andere Grundrechte explizit in die Geschäftsordnung des
Planungsrates aufnehmen? Da sage ich Nein. Es ist
Den Chancen durch E-Government stehen aber
schlichtweg Schaufensterpolitik, einen Entschließungs-
durchaus auch Herausforderungen gegenüber. Wir wer-
antrag mit diesen Selbstverständlichkeiten zu formulie-
den keine gesellschaftliche Akzeptanz für elektronische
ren, betrieben von der Fraktion, die unter Rot-Grün den
Verwaltungsverfahren erhalten, wenn wir nicht auch die
Datenschutz geschleift hat wie keine andere Regierung
wenig technikaffinen Bürgerinnen und Bürger, die es
zuvor.
durchaus gibt, auf diesem Weg mitnehmen. Deshalb
müssen wir eine Spaltung der Gesellschaft in eine digi- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tale und eine nichtdigitale Gesellschaft verhindern. der CDU/CSU – Lachen des Abg.
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz
GRÜNEN] – Reinhard Grindel [CDU/CSU]:
Josef Jung [CDU/CSU])
Das musste einmal gesagt werden!)
In der kommenden Woche werden die Fraktionen im Werte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, aus
Deutschen Bundestag über die Einsetzung einer En- diesem Grund lehnen wir Ihren Entschließungsantrag ab.
quete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“
zu entscheiden haben. Ganz ausdrücklich wollen wir Li- Die Bürgerinnen und Bürger können sich sicher sein:
(B) berale uns in dieser Kommission auch mit Fragen von Die FDP wird weiterhin in Bund und Ländern darüber (D)
E-Government-Dienstleistungen befassen. Wir werden wachen, dass auch bei Beratungen und Entscheidungen
in der Enquete-Kommission auch Empfehlungen erar- des IT-Planungsrates die Interessen des Datenschutzes
beiten müssen, wie eine Teilhabe aller Bürgerinnen und nicht zu kurz kommen werden. Ich freue mich, dass wir
Bürger an der digitalen Gesellschaft und den Vorteilen heute das Gesetz zum Vertrag über die Errichtung des
des E-Governments sichergestellt werden kann. IT-Planungsrats verabschieden können. Ich würde mich
freuen, wenn alle Fraktionen diesem Gesetzentwurf zu-
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Franz stimmen würden. Sagen Sie Ja zu mehr Effizienz und
Josef Jung [CDU/CSU]) Transparenz in der Verwaltung! Machen Sie mit, wenn
Ich möchte es nicht auslassen, auch auf den vorlie- wir einen weiteren wichtigen Grundstein für einen mo-
genden Entschließungsantrag der Grünen einzugehen. dernen Dialog zwischen Bürgern, Bürgerinnen und Ver-
Ich freue mich, in Ihrem Antrag zu lesen, dass Sie an die waltung legen!
Beachtung des Grundrechts auf informationelle Selbst- Vielen Dank.
bestimmung erinnern; hier sprechen Sie einem Liberalen
aus der Seele. Ich begrüße auch, dass die Grünen auf die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Beteiligung der Landesdatenschutzbeauftragten an den der CDU/CSU)
Sitzungen des IT-Planungsrats drängen, „wenn die Län-
der betreffende datenschutzrelevante Fragen erörtern Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
werden“. Auch die Forderung nach der vorrangigen Ver- Kollege Höferlin, dies war Ihre erste Rede im Deut-
wendung offener IT-Standards ist berechtigt. Die Koali- schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
tion aus FDP und Union hat dies bereits im Koalitions- Wünsche für die weitere Arbeit hier bei uns.
vertrag zum Thema gemacht. Es ist schön, dass Sie sich
uns hier anschließen. (Beifall)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das Wort hat nun Kollegin Halina Wawzyniak, Frak-
der CDU/CSU) tion Die Linke.
Die FDP steht im Deutschen Bundestag wie keine an- (Beifall bei der LINKEN)
dere Fraktion für Wettbewerb und Mittelstandsförde-
rung, sodass Sie von den Grünen mit der Forderung nach Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Verhinderung marktbeherrschender Positionen einzelner Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Anbieter bei uns offene Türen einrennen. ren! Die Bundesregierung möchte die Arbeit der Verwal-
2132 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Halina Wawzyniak
(A) tung in Bund und Ländern effizienter und effektiver ge- mit den Betroffenen und ihren Interessenvertretungen (C)
stalten. Das ist zu begrüßen. Auch die Linke hält den IT- geschehen.
Planungsrat grundsätzlich für ein taugliches Mittel, die-
ses Ziel zu erreichen. Es ist sinnvoll, dass Bund und (Beifall bei der LINKEN)
Länder bei der Planung und Errichtung von IT-Infra- Viertens. Weitere Demokratiedefizite erkennt man,
strukturen zusammenarbeiten können. wenn man sich ansieht, wie die Beschlüsse zustande
Allerdings muss im Staatsvertrag, der heute und hier kommen sollen. Das Zustimmungsquorum für die Fas-
ratifiziert werden soll, hinsichtlich der Zusammenset- sung verbindlicher Beschlüsse ist mit dem finanziellen
zung des Rates, des Zustandekommens der Beschlüsse Beitrag der Länder zum IT-Planungsrat kombiniert. Da-
und schließlich der Umsetzung der Ergebnisse einiges mit hängt die Möglichkeit der Einflussnahme von der fi-
nachgebessert werden. Was kritisieren wir im Einzel- nanziellen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Bundeslan-
nen? des ab. Das ist kein Föderalismus, sondern Diktatur nach
Kassenlage.
Erstens. Nach unserer Ansicht fehlt dem Rat eine hin-
reichende demokratische Legitimation. Der Staatsver- (Beifall bei der LINKEN)
trag, der Grundlage der Einsetzung des IT-Planungsrates Die Verwendung freier Software mit offenem Quell-
sein wird, wurde von der Ministerialbürokratie formu- code wird durch die Einrichtung des IT-Planungsrats be-
liert. Weder der Bundestag noch die Länderparlamente hindert statt ermöglicht. Es besteht weder eine hinrei-
oder aber die Gemeinden und Kommunalverbände wa- chende demokratische Legitimation des IT-Planungsrats
ren an der Erarbeitung des Inhalts angemessen beteiligt. und seiner Beschlüsse noch die Gewähr, dass bei dessen
Die Beschlüsse, die der Rat fassen wird, werden eine un- Beschlüssen datenschutzrechtliche Grundsätze gewahrt
mittelbare Grundrechtsrelevanz haben. Daher sollte nach bleiben. Wir werden aus diesem Grund der Ratifizierung
unserer Ansicht eine entsprechende unmittelbare demo- dieses Staatsvertrages unsere Zustimmung nicht geben.
kratische Legitimation unabdingbare Voraussetzung der Da wir aber für Einzelfallprüfungen und nicht für allge-
Arbeit des Rates und der Umsetzung seiner Beschlüsse meine Ablehnung von Anträgen der Grünen stehen, ha-
sein. ben wir uns entschlossen, dem Entschließungsantrag der
(Beifall bei der LINKEN) Grünen, weil er einige unserer Kritikpunkte aufgreift,
unsere Zustimmung zu geben.
Zweitens. Die Zusammensetzung des Rates spiegelt
nicht die Bedeutung des Themas wider. Die Bürgerinnen (Beifall bei der LINKEN – Wolfgang Wieland
und Bürger werden hauptsächlich in den Kommunen mit [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist in
den Behörden konfrontiert. Daher sollten nach unserer Ordnung!)
(B) (D)
Ansicht Kommunalverbände und Gemeinden angemes-
sen im Rat vertreten sein. Eine nur beratende Teilnahme Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
an den Sitzungen ist nicht hinnehmbar; denn die Kom- Das Wort hat Konstantin von Notz für die Fraktion
munen sind von den IT-Vorgaben des Planungsrates di- Bündnis 90/Die Grünen.
rekt betroffen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Es ist absurd und zeugt von mangelndem Interesse
der Regierung an einem umfassenden Datenschutz, dass Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
ausgerechnet der Bundesdatenschutzbeauftragte eben- Kollegen! Es freut mich, zu hören, dass wir auf Unter-
falls nur beratend und die Landesdatenschutzbeauftrag- stützung treffen. Das vorliegende Gesetz zum IT-Pla-
ten gleich gar nicht an den Sitzungen teilnehmen sollen. nungsrat nimmt sich eines wichtigen Themas an, und
meine Fraktion begrüßt es ausdrücklich, dass hiermit
(Beifall bei der LINKEN) eine Grundlage für die Zusammenarbeit der Verwaltun-
gen von Bund und Ländern beim Einsatz von Informa-
Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die be-
tionstechnologie gelegt wird; denn bisher – das wurde
sondere Bedeutung des Rechts auf informationelle
vielfach hier gesagt – ist die Zusammenarbeit leider un-
Selbstbestimmung und der Gewährleistung der Vertrau-
zureichend. Die neuen Bestimmungen im Gesetz sehen
lichkeit und Integrität der informationstechnischen Sys-
insbesondere vor, dass Bund und Länder bei der Pla-
teme jüngst wieder hervorgehoben.
nung, der Errichtung und dem Betrieb der notwendigen
Drittens. Die schwammige Formulierung in § 2 des informationstechnischen Systeme zusammenwirken
Staatsvertrages über die Unterstützung der Arbeit des können. Durch den Staatsvertrag wird gewährleistet,
Rates durch etwaige Beiräte enttäuscht. Ein den Rat be- dass die IT-Planung in der öffentlichen Verwaltung nicht
ratendes Gremium aus Experten sollte zwingend ge- vorwiegend durch den Bund geprägt wird. Dafür soll der
schaffen werden. Insbesondere sollten nach unserer An- Staatsvertrag eine Kooperation zwischen Bund und Län-
sicht in diesem Beirat auch die Sozialpartner vertreten dern auf Augenhöhe im Sinne der im Grundgesetz be-
sein; denn schließlich müssen die Mitarbeiterinnen und schriebenen Gemeinschaftsaufgaben ermöglichen. Das
Mitarbeiter vor Ort das umsetzen, was der Rat be- ist alles sehr schön und zu begrüßen. Auch dass der Bun-
schließt. Ein IT-gestützter Bürokratieabbau hat auch zur desbeauftragte für den Datenschutz beratend an den Sit-
Folge, dass Stellen wegfallen und sich die Arbeitsbedin- zungen teilnehmen kann, ist ein richtiger und unterstüt-
gungen ändern werden. Dies sollte nur in Partnerschaft zenswerter Schritt. Überlegenswert wäre es allerdings
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2133
Dr. Konstantin von Notz
(A) auch aus unserer Sicht, dem Bundesdatenschutzbeauf- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): (C)
tragten ein effektives Mitbestimmungsrecht einzuräu- Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
men. Kollegen! Um seine Kernaufgaben erfüllen zu können,
stützt sich der Staat auf Informationstechnologie. Steuer-
(Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- verwaltung und Polizei wären heute ohne Computer un-
NIS 90/DIE GRÜNEN]) denkbar. Umgekehrt verlangt der Bürger mit Recht, dass
Insgesamt fehlen dem vorliegenden Gesetz aber we- der Staat viele seiner Leistungen auch im Internet zur
sentliche Aspekte. Erlauben Sie mir daher, einige Ergän- Verfügung stellt. „E-Government“ ist das Stichwort,
zungspunkte aus unserem Entschließungsantrag zu be- dem wir uns auch in dieser Legislaturperiode widmen.
nennen, zu denen Herr Höferlin teilweise seine Mit dem neuen Personalausweis, Frau Kollegin
Zustimmung signalisiert hat. In der noch zu beschließen- Fograscher, den wir gemeinsam beschlossen haben,
den Geschäftsordnung des IT-Planungsrats ist die beson- kommen wir einen riesigen Schritt weiter. Er wird die
dere Beachtung des Grundrechts auf informationelle Welt auf diesem Gebiet verändern.
Selbstbestimmung ausdrücklich zu fixieren. Es gehört 18 Milliarden Euro geben der Bund, die Länder und
dort hinein. Auch wenn dieses Recht bereits im Grund- die Kommunen im Jahr für Informationstechnik aus. Da-
gesetz steht, ist gerade bei einem Thema, das diesen Be- mit der Einsatz dieser Schlüsseltechnologie zwischen
reich berührt, eine Klarstellung wichtig und richtig. der Verwaltung von Bund, Ländern und Kommunen ko-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordiniert werden kann, richten wir den IT-Planungsrat
ein. Mit dem Gesetzentwurf bzw. dem Vertrag, den wir
Zu den Sitzungen des IT-Planungsrats soll mindestens heute verabschieden, sind wir an einem Meilenstein im
ein Landesdatenschutzbeauftragter eingeladen werden, Hinblick auf die Modernisierung der Verwaltung in
wenn in dem jeweiligen Land betreffende datenschutzre- Deutschland angelangt.
levante Fragen erörtert werden. Hier geht es nicht um eine
Kannbestimmung, sondern um eine Institutionalisierung. Die organisierte Kriminalität schert sich wenig um fö-
Bei der im Staatsvertrag vorgesehenen vorrangigen Ver- derale und nationale Grenzen und Zuständigkeiten. Sie
wendung bestehender Marktstandards muss peinlich ge- handelt grenzüberschreitend.
nau darauf geachtet werden, dass man durch diese Vor- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gabe nicht in Verfahren landet, die den rechtlich NEN]: Das sagt der Bayer!)
erforderlichen Datenschutz nicht gewährleisten. Ich sage
Ihnen voraus, Herr Höferlin: Wenn Sie dies jetzt nicht be- Die Polizeibehörden versuchen, mit verbesserter Infor-
achten, werden Sie nachher damit Probleme haben. mationstechnik und einem verbesserten Informations-
austausch zu reagieren. Das geht natürlich nur mit einer
(B) Es müssen aber auch Vorkehrungen getroffen werden, (D)
abgestimmten Computertechnik.
dass die vorrangige Verwendung der Marktstandards
nicht zu marktbeherrschenden Positionen von Anbietern Denken Sie an den neuen Versuch, Licht ins Dunkel
der jeweiligen technischen Dienste führt. Wir wünschen des Behördendickichts zu bringen: an die Behördenruf-
uns außerdem, dass bei der Definition von technischen nummer 115. Es wird möglich sein, ganz alltägliche Fra-
IT-Standards darauf hingewirkt wird, dass vorrangig of- gen nach der Steuer, der Rente, nach Schulanmeldungen
fene IT-Standards eingesetzt werden. Und es bedarf oder wozu auch immer über die Nummer 115 zu klären
mehr Transparenz – da stimme ich der Linken voll zu – oder zumindest zu erfahren, an welche Anlaufstelle man
durch eine regelmäßige Berichtspflicht. Der Deutsche sich wenden kann. Das ist ein bürgerfreundlicher Dienst,
Bundestag und die Öffentlichkeit müssen über die Ent- das ist Vernetzung. Das geht nur mit IT-Technologie.
scheidungen und Berichte bezüglich des IT-Planungsrats Natürlich ist es zum einen ungeheuer schwierig, Hun-
zeitnah und regelmäßig informiert werden. derte von IT-Abteilungen zu koordinieren. Zum anderen
Ich kann Sie beruhigen, meine Damen und Herren fördern unsere föderalen Verwaltungsstrukturen Doppel-
von der Koalition: Das alles sind echte Verbesserungen, entwicklungen und informationelle Abschottung in den
wie sie auch von vielen Landesparlamenten, übrigens verschiedenen Kommunen und Bundesländern. Es ist
auch von dem schwarz-gelben in Sachsen, gefordert nicht unsere Absicht, ein zentrales System für ganz
werden. Insofern können Sie unserem Entschließungsan- Deutschland, für Bund, Länder und Gemeinden, einzu-
trag beruhigt zustimmen. richten. Aber ist es denn ein Ausweis föderaler Tüchtig-
keit, wenn unsere Polizeibehörden neun unterschiedliche
Herzlichen Dank. Systeme zur Vorgangsbearbeitung unterhalten? Braucht
wirklich jedes Bundesland ein eigenes Programm zur
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Berechnung und Auszahlung von Agrarsubventionen?
und bei der LINKEN)
(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: GRÜNEN]: Nein!)
Das Wort hat nun Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU- Braucht jedes Bundesministerium sein eigenes System
Fraktion. zur Buchhaltung und zur Personalwirtschaft? Natürlich
nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU – Reinhard Grindel
[CDU/CSU]: Jetzt kommt endlich wieder In Einzelfällen mag digitale Abschottung richtig sein.
Klarheit in die Debatte!) Aber ein digitales Babylon können wir uns heute nicht
2134 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Hans-Peter Uhl


(A) mehr leisten. Ein Polizeibeamter, der einen Kriminalfall (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
in München bearbeitet, darf die Papiere nicht ausdru- neten der FDP)
cken und nach Hamburg faxen müssen, damit die dortige
Polizei den Fall übernimmt. Das alles muss koordiniert Präsident Dr. Norbert Lammert:
werden. Das heißt, wir wollen das volle Potenzial der In- Ich schließe die Aussprache.
formationstechnik durch Vernetzung und Kooperation
ausschöpfen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum
Art. 91 c des Grundgesetzes ist die Grundlage für das, Vertrag über die Errichtung des IT-Planungsrats und
was wir heute beschließen. Es geht um zwei Aufgaben: über die Grundlagen der Zusammenarbeit beim Einsatz
Erstens. Dem Bund wird die Aufgabe zugewiesen, die der Informationstechnologie in den Verwaltungen von
informationstechnischen Netze des Bundes und der Län- Bund und Ländern – Vertrag zur Ausführung von Arti-
der miteinander zu verbinden. kel 91c GG. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf der Drucksache 17/571, den
Zweitens. Die verbindliche Abstimmung und gemein- Gesetzentwurf der Bundesregierung auf der Drucksache
same Steuerung der Informationstechnik in der Verwal- 17/427 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-
tung wird verfassungsrechtlich ausdrücklich festge- entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
schrieben. Damit überwinden wir auf dem Gebiet der stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-
Informationstechnologie unsere föderalen Strukturen, setzentwurf in zweiter Beratung mit Mehrheit angenom-
die ohne eine solche Überwindung auf Abschottung aus- men.
gerichtet wären.
Wir kommen zur
Der IT-Planungsrat ist die Lösung des Problems. Der
dritten Beratung
zur Abstimmung stehende Vertrag setzt die Möglichkei-
ten des Grundgesetzes um und schafft die Grundlage für und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
die Errichtung eines IT-Planungsrats, in dem diejenigen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
sitzen – es ist bereits gesagt worden –, um die es geht, Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
also auch der Bundesdatenschutzbeauftragte. Meine lie- entwurf hat in dritter Beratung ganz offenkundig die er-
ben Kollegen von den Grünen, Herr von Notz, wenn im forderliche Mehrheit auskömmlich erhalten und ist da-
Einzelfall ein Landesdatenschutzbeauftragter benötigt mit angenommen.
wird, dann wird auch er im IT-Planungsrat seinen Platz Wir stimmen nun über den Entschließungsantrag der
finden. Da habe ich überhaupt keine Sorgen. Dort müs- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache (D)
(B) sen natürlich die kommunalen Spitzenverbände vertreten
17/793 ab. Wer stimmt für den Entschließungsantrag? –
sein; schließlich sollen die informationstechnischen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der
Netze der Kommunen an dieses Netz angeschlossen Entschließungsantrag abgelehnt.
werden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Die Probleme bei der Vernetzung sind kein deutsches
Phänomen; in jedem Land gibt es diese Probleme. Es Beratung des Antrags der Abgeordneten Sören
muss gesagt werden: Deutschland ist das erste Land, das Bartol, Uwe Beckmeyer, Martin Burkert, weiterer
seine Verwaltung mit dieser modernen Technologie der Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Vernetzung, der Vereinheitlichung und der gemeinsamen Kommunen die Einrichtung von Carsharing-
Steuerung in dieser Weise regelt. Es ist gut, dass wir hier Stellplätzen ermöglichen
an der Spitze des Fortschritts marschieren. Eine Grund-
gesetzänderung, ein Staatsvertrag, ein hochrangiges Ab- – Drucksache 17/781 –
stimmungs- und Steuerungsgremium, eben der IT-Pla- Überweisungsvorschlag:
nungsrat, und die heutige Verabschiedung im Parlament – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
deutlicher kann man nicht zum Ausdruck bringen, für Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
wie wichtig man diese Aufgabe hält.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Das zur Abstimmung stehende Gesetz und damit der Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
IT-Planungsrat sind ein großer Schritt zur Modernisie- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
rung unserer Verwaltung. Ich wünsche daher einen IT-
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Planungsrat, der sich seiner Verantwortung bewusst ist
Sören Bartol für die SPD-Fraktion das Wort.
und mit strategischer Gestaltungskraft dafür sorgt, dass
die Informationstechnik der deutschen Verwaltung einen (Beifall bei der SPD)
internationalen Maßstab für Effektivität und Effizienz
Ich verbinde den Aufruf des ersten Redners mit der
darstellt. Die breite Zustimmung dieses Hauses – dass es
heimlichen Hoffnung, dass wir vielleicht schon während
sie gibt, den Eindruck habe ich heute – gibt dem zukünf-
der ersten Wortmeldung eine überzeugende Übertragung
tigen IT-Planungsrat für diese Aufgabe ein klares Man-
des englischen Begriffs ins Deutsche erhalten
dat. Daher bitte ich Sie, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen, heute um Zustimmung zu dieser richtungswei- (Sören Bartol [SPD]: Autoteilen! Ganz
senden Entscheidung für die deutsche Verwaltung. einfach!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2135
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) und damit noch zutreffender über diesen Sachverhalt Erstens. Carsharing-Parkplätze führen nicht etwa (C)
miteinander debattieren können. dazu, dass Parkraum knapper wird. Das Gegenteil ist der
Fall: Sie entlasten vom Parkdruck. Das ist im Interesse
Bitte schön, Herr Kollege Bartol. der Anwohner, aber auch aller anderen Verkehrsteilneh-
mer.
Sören Bartol (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Zweitens. Carsharing trägt dazu bei, die Klimaschutz-
Kollegen! Gleich am Anfang, wie gewünscht, ein Über- ziele im Verkehrsbereich zu erreichen. Eine Studie aus
setzungsvorschlag zu Carsharing: Autoteilen. der Schweiz, die Vorreiter beim Carsharing ist, belegt
das: Jeder Carsharing-Nutzer emittiert jährlich 290 Kilo-
„Besser frühzeitig einsteigen“, kommentierte der gramm CO2 weniger; denn Carsharing ändert das Mobi-
Focus letzte Woche die neueste Prognose zu den Wachs- litätsverhalten. Carsharing-Kunden fahren seltener Auto,
tumsaussichten von Carsharing. 1,1 Millionen Menschen sie nutzen häufiger Busse und Bahnen, fahren Rad oder
werden sich in Deutschland 2016 19 000 Autos teilen, pro- gehen zu Fuß.
gnostiziert die Unternehmensberatung Frost & Sullivan.
Die Ende Januar veröffentlichte Studie ist noch druck- Ich finde, das sind starke Argumente dafür, dass die
frisch. Ich empfehle sie Ihnen zur Lektüre, sehr geehrte Förderung von Carsharing endlich auf die Agenda dieser
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und FDP, Bundesregierung kommt.
und hoffe, dass Sie noch den rechtzeitigen Einstieg in (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Bettina Herlitzius
die Zukunft der Mobilität schaffen. Ich würde mich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
freuen, wenn wir in dieser Legislaturperiode endlich den
Beschluss des Bundestages von 2005 umsetzen könnten. Inzwischen gibt es genügend Erfahrungen, die die
praktische Umsetzung erleichtern werden, zum Beispiel
Ein kleiner Rundblick; denn das Thema Carsharing- bei der Frage, wie die Stellplätze gegen Falschparker zu
Parkplätze beschäftigt uns ja nun in der dritten Legisla- sichern sind. Im Dialog mit Ländern, Kommunen und
turperiode, leider bisher ohne erkennbare Fortschritte: Vertretern der Branche wird sich hier sicherlich eine sehr
2005 hat der Bundestag noch mit den Stimmen von SPD praktikable Lösung finden lassen. Ich bin überzeugt,
und Grünen beschlossen, die Rahmenbedingungen für dass die Kommunen die Möglichkeit – ich betone ganz
Carsharing zu verbessern. Ziel unserer Initative war es, bewusst: die Möglichkeit – zur Einrichtung solcher
dass Kommunen die Möglichkeit erhalten, Parkplätze Stellplätze sinnvoll nutzen werden. Denn um nichts an-
für Carsharing-Autos auszuweisen. Das SPD-geführte deres geht es, als den Kommunen ein zusätzliches In-
Bundesverkehrsministerium hat daraufhin einen Gesetz- strument einer nachhaltigen Stadtverkehrspolitik an die
entwurf vorgelegt. Dieser stieß auch auf breite Zustim- Hand zu geben.
(B) mung bei den Verbänden vom Städtetag bis hin zum (D)
ADAC, und auch die Mehrheit der Länder unterstützte Die Akzeptanz für Carsharing wächst; denn es entlas-
ihn. Allein das CDU-geführte Bundeswirtschaftsminis- tet die Umwelt in den Städten und verbessert die Lebens-
terium witterte damals einen Angriff auf die Automobil- qualität. Die geteilte Autonutzung ermöglicht bezahlbare
industrie und die Autovermietungen und verweigerte und flexible Mobilität, und zwar ohne eigenes Auto. Wer
seine Zustimmung. Diese allerdings haben inzwischen nach Feierabend mehrere Runden um den Block fahren
längst den Zukunftsmarkt „Carsharing“ für sich ent- muss, um einen Parkplatz zu finden, ist schnell von den
deckt. Vorzügen von Carsharing zu überzeugen. Wer dann noch
einen Carsharing-Parkplatz in der Nähe seiner Wohnung
Daimler hat in Ulm und Neu-Ulm sein Pilotprojekt oder mit guter Bus- bzw. Bahnanbindung findet, wird
„Car2Go“ eingeführt, eine neue und noch flexiblere noch bereitwilliger auf sein Auto oder sein Zweitauto
Form des Carsharings: Die Autos können spontan ge- verzichten.
nutzt und an fast beliebigen Orten wieder abgestellt wer-
den. Das Modell hat Erfolg: 200 Smarts sind dort unter- Beispiel Bremen: 2003 wurden im öffentlichen Stra-
wegs, 12 000 Kundinnen und Kunden haben sich ßenraum zwei sogenannte „mobil.punkte“ eingerichtet.
registriert. Das sind Carsharing-Stationen mit guter Anbindung an
das öffentliche Verkehrsnetz und mit Informationstermi-
Auch Autovermieter wie Hertz und Sixt bieten inzwi- nals. Das Ergebnis sind 170 neue Carsharing-Kunden,
schen eigenes Carsharing an, und auch sie nutzen gerne von denen ein Drittel das eigene Auto abgeschafft hat.
das Angebot von reservierten Parkplätzen, die Senat und
Bezirke zum Beispiel in Berlin zur Verfügung stellen. Nicht nur technologische, sondern auch soziale Inno-
vationen sind gefragt, wenn wir das Ziel sozial- und um-
Es wird endlich Zeit, dass Sie das, was in Berlin und weltverträgliche Mobilität erreichen wollen. Elektromo-
anderswo auf eigene Kappe ohne bundesgesetzliche bilität und Carsharing sind ideale Partner auf dem Weg
Grundlage praktiziert wird, auf eine bundesweite und in die Mobilität der Zukunft. Sie sind wie geschaffen für
auch rechtssichere Grundlage stellen. Zu Recht ist das eine Stadt der kurzen Wege und neue multimodale Nutzer-
deutsche Straßenverkehrsrecht restriktiv, was die Aus- gruppen, die sogenannte „Generation ohne Golf“, wie
weisung von Stellplätzen anbelangt. Ausnahmeregelun- die Welt vorgestern schrieb. Damit Carsharing-Anbieter
gen gibt es aber nicht nur für behinderte Menschen, son- die höheren Kosten für die Anschaffung von Elektroau-
dern auch für Handwerker. Auch eine Bevorrechtigung tos und die Erprobung neuer Fahrzeugkonzepte aufbrin-
von Carsharing-Autos lässt sich meiner Meinung nach gen können, brauchen sie Förderung. Hier ist auch die
sehr gut begründen: Bundesregierung gefragt. „Deutschland hat das Poten-
2136 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Sören Bartol
(A) zial, sich zu einem Schlüsselmarkt für Elektroauto-Sha- verwirklichen. Allerdings gibt es außer den genannten (C)
ring zu entwickeln“, heißt es in der Studie von Frost & positiven Effekten für Mobilität und Umwelt auch
Sullivan. Ich glaube, dass diese Chance genutzt werden Schattenseiten, die wir in den folgenden Ausschusssit-
muss. Ich fordere Sie auf, hier endlich tätig zu werden. zungen beleuchten müssen. Ein Problem ist, dass wir bei
Zustimmung zum vorliegenden Antrag in Zeiten knap-
(Beifall bei der SPD)
pen Parkraums in unseren Städten einer künstlichen Ver-
Gute Beispiele für Carsharing-Förderung gibt es bei knappung Vorschub leisten könnten, und zwar zulasten
unseren europäischen Nachbarn zuhauf. Italien hat eine anderer Verkehrsteilnehmer. Das kann zur Verdrängung
nationale Koordinierungsstelle für Carsharing eingerich- und Benachteiligung anderer Individualverkehrsträger
tet und eine Abwrackprämie zugunsten von Carsharing wie hauptsächlich der privaten Pkws, der Taxen und der
gezahlt. In den Niederlanden und Belgien können Kom- Mietwagen führen. Das kann nicht in unser aller Sinn
munen selbstverständlich selber darüber entscheiden, sein. Zurzeit ist es so, dass die erwähnten Verkehrsträger
welchen Verkehrsdiensten sie Parkflächen anbieten. Was nebeneinander den knappen Parkraum in unseren Innen-
neue Mobilitätskultur heißt, machen uns die Franzosen städten nutzen und zur Belebung des Einzelhandels bei-
vor. Nach dem Erfolg von Velib, dem kostenlosen Leih- tragen.
fahrradsystem, kommt jetzt Autolib: 4 000 Carsharing-
Autos mit Elektroantrieb, 1 400 Leihstationen über die Es bleibt nun an uns, in den folgenden Ausschusssit-
Stadt verteilt. Die Abkürzung Autolib steht für „automo- zungen gemeinsam mit den Verkehrsexperten und exter-
bile“ und „liberté“. Damit interpretieren sie in Frank- nen Sachverständigen diese Probleme zu erörtern. Die
reich neu, was in Deutschland leider allzu oft noch unter CDU/CSU wird sich weiterhin für einen kooperativen
dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ steht. Hoffen Stil in der Verkehrspolitik einsetzen. Dazu gehört Car-
wir, dass Paris auch diesmal zum Trendsetter für sharing.
Deutschland wird und unser dritter Versuch, dieses Carsharing wird mit Sicherheit in Ballungsräumen
Thema in Ihre Köpfe zu bekommen, endlich zum Erfolg immer attraktiver werden, auch ohne ein massives Ein-
führt! greifen von staatlicher Seite. Daher möchte ich Sie,
Vielen Dank. meine liebe Kolleginnen und Kollegen, bitten, mit die-
sem Antrag ergebnisoffen umzugehen und die Beratun-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen in den zuständigen Gremien abzuwarten. Wir sollten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nicht gesetzlich dazu beitragen, dass die einzelnen Ver-
kehrsteilnehmer gegeneinander ausgespielt werden.
Präsident Dr. Norbert Lammert: Gleiches Recht für alle heißt, dass auch andere Akteure
(B) Volkmar Vogel ist der nächste Redner für die CDU/ Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen können. (D)
CSU-Fraktion. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den vorliegenden An-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- trag nicht per se ab,
neten der FDP)
(Beifall des Abg. Sören Bartol [SPD])
Volkmar Vogel (Kleinsaara) (CDU/CSU): meldet aber Bedenken an, da die Umsetzung dieses An-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! trags Konkurrenz statt Kooperation zwischen den Ver-
Sich ein Auto zu teilen ist eine gute Sache. Deshalb be- kehrsteilnehmern fördern könnte und vielleicht die kom-
grüßt die CDU/CSU außerordentlich die sehr guten munale Selbstverwaltung beschränkt.
Wachstumsquoten, die das Carsharing als ein wesentli- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
ches Element des Individualverkehrs aufzuweisen hat.
Das bisherige Wachstum zeigt, dass sich diese Branche (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
kontinuierlich und eigenständig entwickeln kann, ohne Sören Bartol [SPD]: Da müsste ich eigentlich
große Eingriffe von staatlicher Seite. Das Carsharing hat fast klatschen!)
im Krisenjahr 2009 sehr beachtliche Zuwachsraten von
über 15 Prozent verzeichnen können. Damit ist die Bran- Präsident Dr. Norbert Lammert:
che aber nicht zufrieden. Ohne Krise und Umweltprämie
Nächster Redner ist der Kollege Herbert Behrens für
– letztere haben wir veranlasst – wäre der Zuwachs noch
die Fraktion Die Linke.
höher, so die Branchenvertreter. Wir sehen beim Carsha-
ring ein gesundes Wachstum von stets zweistelligen (Beifall bei der LINKEN)
Prozentzahlen pro Jahr. Es kann festgestellt werden: Der
Branche geht es gut, im Vergleich zu anderen Branchen Herbert Behrens (DIE LINKE):
sogar sehr gut. Daher, liebe Antragsteller, besteht nun
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
wirklich kein akuter Handlungsbedarf bei diesem aus
Kollegen! Meine Damen und Herren! Das Thema „Car-
unserer Sicht wichtigen Element im Individualverkehr.
sharing-Stellplätze“ auf der Tagesordnung des Bundesta-
Es sollte nichts überstürzt werden.
ges zu finden, war für mich zunächst überraschend. Ich
Parkraumbewirtschaftung ist kommunale Aufgabe. bin davon ausgegangen, dass das andernorts geregelt
Dorthin gehört sie. Carsharing hilft, die hauptsächlich wird, eher dort, wo es Carsharing-Angebote gibt. Ich sel-
urbane Mobilität zu sichern, und ist auch ein umweltpo- ber kenne Carsharing aus Hannover. Ich habe dort als
litischer Baustein, um die ambitionierten Klimaziele zu Nutzer von diesem Angebot profitieren können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2137
Herbert Behrens
(A) Mich überrascht, dass es dem Bundestag seit 2004, chen in den Städten zu finden, dann nehmen Sie sich (C)
seit dieses Projekt auf dem Tisch ist, nicht möglich ge- diese Zahlen einfach einmal vor. Allein das wäre ein
wesen ist, die Frage der Stellplätze für Carsharing-Autos Grund, Carsharing zu fördern.
zu regeln. Wenn man Carsharing machen will, kann man
(Beifall bei der LINKEN)
bei einer entsprechenden Stelle, zum Beispiel bei
teilAuto, anrufen und nachfragen, ob noch ein Auto frei Es gibt weitere gute Gründe, Carsharing zu fördern; ich
ist. Egal, für welchen Anlass man ein Auto braucht, ob will sie nicht aufführen, auch deshalb nicht, weil die Uhr
für eine Fahrt allein oder für einen Transport, bisher war hier langsam auf null geht.
klar: An irgendeiner Stelle in der Stadt steht ein Auto zur
Im Unterschied zur Anfangszeit von Carsharing ver-
Verfügung. Man fährt hin und findet im Parkhaus oder
zichten die heutigen Nutzerinnen und Nutzer bewusst
auch auf reservierten Parkflächen in Anwohnerstraßen
auf das eigene Auto. Sie nutzen dabei eine Vielzahl von
ein Auto vor.
unterschiedlichen Verkehrsmitteln und suchen immer
(Patrick Döring [FDP]: Eben!) das für den entsprechenden Zweck passende Fahrzeug
aus. Das ist intelligente Verkehrspolitik, das unterstützen
Das war bislang völlig selbstverständlich. Es war ohne wir, und das wollen wir auch erreichen.
großen Aufwand möglich und ohne dass man den Ein-
druck hatte, mit seinem Carsharing-Auto einen Parkplatz (Beifall bei der LINKEN)
zu blockieren. Wir wollen eine linke Verkehrspolitik. Wir müssen in
Mich überrascht allerdings nicht nur, dass ich dieses der Tat „anders verkehren“. Wir müssen auch Carsha-
Thema heute auf der Tagesordnung finde, sondern es är- ring-Angebote in die entsprechenden Offerten einbezie-
gert mich auch. Die Vorstellung, dass wir uns im Bun- hen, die uns in der Stadt zur Verfügung stehen. Meines
destag mit diesem Thema über Jahre beschäftigen müs- Erachtens können wir mit Carsharing beispielsweise die
sen, will mir nicht so richtig plausibel erscheinen. Ich Lücke zwischen Fahrradverkehr und öffentlichem Perso-
kann mir das eigentlich nicht vorstellen. nennahverkehr schließen. Dazu gehört einfach ein Kon-
zept, das Carsharing möglich macht und es nicht behin-
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. dert. Die Frage von Stellplätzen möge doch bitte in der
Sören Bartol [SPD]) 17. Legislaturperiode endgültig zu regeln sein.
2007 legte das Verkehrsministerium zwar einen Ent- Vielen Dank.
wurf zur Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes vor;
dieser verschwand dann allerdings irgendwo. Man sagt, (Beifall bei der LINKEN)
er sei in die Lücke zwischen den Bundesministerien ge-
(B) rutscht; man habe sich nicht darauf einigen können, und Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
möglicherweise bestünden sogar verfassungsrechtliche Lieber Kollege Behrens, ich gratuliere Ihnen herzlich
Bedenken, Parkflächen für Carsharing-Autos einzurich- zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag,
ten. Aber schließlich hieß es im März 2008, also vor (Beifall)
knapp zwei Jahren, dann doch: Die Bundesregierung ar-
beitet derzeit an einer abgestimmten Formulierung, die verbunden mit allen guten Wünschen für die weitere par-
diese Bedenken ausräumt. – Wenn es allerdings zwei lamentarische Arbeit.
Jahre dauert, diese Formulierung dem Bundestag vorzu- Es wird möglicherweise in der Legislaturperiode
legen, dann vermag ich nicht einzuschätzen, wie sich das nicht oft vorkommen, dass ein Vorredner von der CDU/
auswirkt, wenn wir uns im Gesetzgebungsverfahren CSU-Fraktion die Redezeit einspart, die ich Ihnen dann
wichtigen, vordringlichen Themen zuwenden müssen. zu Ihrer von der Fraktion gemeldeten hinzugeben kann.
(Beifall bei der LINKEN) (Heiterkeit und Beifall)
Die Linke macht sich beim Carsharing stark für Au- Deswegen werden Sie dies als besonderen Höhepunkt
tos. Das mag Sie vielleicht überraschen, denn es ist ja Ihrer Laufbahn sicherlich unauslöschlich in Erinnerung
nicht immer so. Grundsätzlich haben wir eine andere behalten.
Position zum Verkehrskonzept der Bundesregierung,
aber auch mancher Oppositionspartei. In diesem Fall Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring für die
machen wir uns stark fürs Auto und unterstützen deshalb FDP-Fraktion.
den Antrag der SPD, der ermöglichen soll, dass wir in (Beifall bei der FDP)
der 17. Legislaturperiode endlich eine entsprechende
Regelung herbeiführen.
Patrick Döring (FDP):
Jedoch weniger aufgrund meiner persönlichen Erfah- Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident!
rungen, sondern eher aus grundsätzlichen Erwägungen Insbesondere am Anfang hat mir die Rede des geschätz-
steht die Linke dafür, dass das Carsharing verbessert ten Kollegen Behrens gut gefallen, denn er hat ein-
wird. Wir sind dafür, weil ein Fahrzeug beim Carsharing drucksvoll beschrieben, was es alles schon gibt, und
25 Autos ersetzt. So sagen es die Experten aus der Car- zwar ohne Gesetzentwurf, weil private Unternehmen,
sharing-Branche. Wenn Sie die Frage beantworten wol- private Initiativen, Parkhausbetreiber und andere die
len, ob ein Carsharing-Auto Parkplätze wegnimmt oder Flächen zur Verfügung stellen, weil sie all das ermögli-
ob es überhaupt erst wieder die Chance eröffnet, Parkflä- chen, was Sie und auch ich schon in Anspruch genom-
2138 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Patrick Döring
(A) men haben, ebenso viele andere aus meiner Fraktion, sondern dass es ein Fahrzeug einer Institution, die Car- (C)
nämlich Carsharing. Niemand hier im Haus ist gegen sharing betreibt, ist. Damit fängt es an.
Carsharing, unterstelle ich erst einmal, und niemand ist
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
dagegen, dass sich diese Verkehre entwickeln.
NEN]: Das ist wieder so ein FDP-Problem! –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Florian Pronold [SPD]: Carsharing mit Mase-
rati!)
Deshalb muss man zunächst einmal anerkennen: Bei
diesem Thema hat sich unheimlich viel getan, obwohl, Man muss sich gut überlegen, ob man das will.
wie Sie beklagen, der Diskussionsprozess über die Frage Zweitens. Wir würden die Nutzungskonkurrenz in
von Stellplätzen im öffentlichen Straßenraum schon et- den Stadtteilen mit wenig öffentlichem Parkraum erhö-
was länger andauert. hen. Das ist keine Frage. Was nützt mir der ausgewie-
sene Stellplatz, wenn am Ende großer Parkraummangel
(Sören Bartol [SPD]: Es könnte sich mehr beispielsweise in einem Wohnviertel aus der Gründerzeit
tun!) herrscht?
Erstens haben wir selbstverständlich – das ist eben
nicht so trivial, wie es vielleicht auch der Antrag dar- Präsident Dr. Norbert Lammert:
stellt – auch im öffentlichen Straßenraum bei der Park- Herr Kollege Döring, lassen Sie eine Zwischenfrage
raumbewirtschaftung erhebliche Nutzungskonkurren- des Kollegen Bartol zu?
zen. Ich sage voraus – deshalb freue ich mich auf die
Diskussion im Ausschuss –, dass natürlich auch andere Patrick Döring (FDP):
am Verkehr in der Stadt beteiligte Verkehrsteilnehmer Unbedingt.
sagen werden: Einen extra markierten Parkplatz im öf-
fentlichen Straßenraum für meine Zwecke fände ich ei-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
gentlich ganz witzig.
Ich nehme das mit besonderem Respekt zur Kenntnis.
Wir haben diese im öffentlichen Personennahverkehr Als Sie ans Rednerpult schritten, kam ein von mir über-
für das Taxi. Übrigens haben wir sie, geschätzter Kol- hörter Zwischenruf aus den Reihen der SPD-Fraktion,
lege Bartol, für den Handwerker, der in Ihrer Rede vor- ob ich bei Ihnen nicht die Redezeit in dem Maße kürzen
kam, nicht. Er hat eine Ausnahmegenehmigung, die hin- könnte, wie ich beim Kollegen Behrens draufgelegt
ter seiner Windschutzscheibe liegt und ihn in der Regel habe. Jetzt wird der Zwischenruf durch den Versuch wie-
ermächtigt, in die Fußgängerzone einzufahren und keine der gutgemacht, Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage
(B) Gebühren bezahlen zu müssen. Aber wenn im öffentli- zu verlängern, was ich besonders sympathisch finde. (D)
chen Straßenraum kein Parkplatz da ist, dann nützt ihm
auch der Schein nichts; in diesem Fall muss er genauso Sören Bartol (SPD):
in der zweiten Reihe parken wie jeder andere ohne Herr Präsident, das mache ich sehr gerne. – Lieber
Schein. Patrick, nimmst du bitte zur Kenntnis, dass Folgendes
relativ logisch ist: Wenn man in einem Wohngebiet ei-
Anders ist das bei den Menschen mit Behinderungen: nen Carsharing-Parkplatz ausweist und sich daraufhin
Sie haben extra ausgewiesene Parkräume. Wenn sie be- Menschen für Carsharing entscheiden und sich kein
setzt sind, nützt ihnen dieses extra ausgewiesene Feld Zweitauto beschaffen, sondern Carsharing-Autos nut-
übrigens auch relativ wenig. Das muss man wohl hinzu- zen, dann wird der Parkraumdruck dort deutlich abneh-
fügen. men. Das heißt, ein Carsharing-Parkplatz vermindert
Bleibt also, dass wir für einen weiteren Nutzer, näm- Parkraumdruck, weil sich mehrere Leute – das steckt
lich den Benutzer eines Carsharing-Fahrzeugs, im öf- schon im Wort, ich sage es noch einmal auf Deutsch –
fentlichen Straßenraum – Parkhäuser, private Grund- das Auto teilen, das heißt, es gibt weniger Autos im
stücke, das ist alles erledigt und machbar – spezielle Wohngebiet. Ich finde, das ist nicht so schwierig zu ver-
Parkplätze markieren oder beschildern und gleichzeitig stehen.
– das gehört dann wohl dazu – die Fahrzeuge speziell (Heiterkeit bei der SPD)
kennzeichnen oder beschildern; denn mir nützt nicht al-
lein die Abholstation. Vielmehr müsste ich, wenn es et- Patrick Döring (FDP):
was bringen soll, in jeder Wohnsiedlung zwei, drei Geschätzter Kollege Bartol, auch das ist ein Effekt,
Plätze entsprechend markieren und vor allem kontrollie- der eintritt. Aber auch ich habe mich vorbereitet und mit
ren können, ob das Fahrzeug, das auf diesen Plätzen Carsharing-Unternehmen gesprochen.
steht, auch tatsächlich ein Carsharing-Fahrzeug ist.
(Sören Bartol [SPD]: Das ist schon mal ein
(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fortschritt!)
NEN]: Das ist Quatsch! So funktioniert das
System nicht!) Die, mit denen ich spreche, sagen: Mehr als die Hälfte
ihrer Mitglieder oder Nutzer hatten vorher kein Fahr-
Nun höre ich von denen, die Carsharing-Fahrzeuge be- zeug. Die erhöhen den Parkdruck in einem Wohngebiet,
nutzen, dass nicht unbedingt alle wollen, dass man es weil sie jetzt mit einem Fahrzeug bis vor die Tür fahren
dem Fahrzeug ansieht, dass es nicht dem Fahrer gehört, können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2139
Patrick Döring
(A) (Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
NEN]: Die Alternative ist, dass sie sich eines Bettina Herlitzius ist die nächste Rednerin für die
kaufen!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Es gibt immer zwei Seiten einer Medaille. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich akzeptiere, dass das zum Teil möglich ist, aber es
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gibt auch den anderen Fall. Das muss man für dicht be-
baute Gründerzeitwohngebiete durchaus anmerken dür- Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich
fen. Ich bin gar nicht so skeptisch, was den Antrag an- bin froh, dass Sie diesem SPD-Antrag durchaus aufge-
geht, aber ich möchte deutlich machen, dass man die schlossen gegenüberstehen. Ich möchte diese Stimmung
Belange anderer berücksichtigen muss. aufnehmen. Ich freue mich über diesen Antrag. Wir wer-
den ihm wahrscheinlich zustimmen. Wir hatten ja einen
Am Ende bleibt zu fragen: Was ist rechtlich zu tun? fast deckungsgleichen Antrag letztes Jahr im Sommer
Das wird im Straßenverkehrsgesetz und in der Straßen- eingebracht, der von der Großen Koalition leider abge-
verkehrs-Ordnung geregelt. Wir müssen gleichzeitig da- lehnt worden ist.
für sorgen, dass wir nicht eine Tür öffnen, dass zum Bei- (Patrick Döring [FDP]: Der war viel
spiel Mietwagenunternehmer, sich auf eine solche schlechter!)
Regelung berufend, für sich eine Sonderrechtssituation
in Anspruch nehmen könnten. Das will hier keiner. Aber ich sehe: Es hat sich etwas entwickelt. Insofern bin
ich sehr optimistisch, was die Debatte angeht.
Drittens. Wir müssen deutlich machen: Wir wollen al-
les das, was auf der privaten Ebene im Bereich Carsha- Worum geht es bei Carsharing?
ring derzeit möglich ist, fördern und unterstützen. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Gute Frage!)
Wenn wir in diesem Geist den Antrag in der zweiten Man muss das wohl doch etwas ausführen. Nachdem ich
und dritten Beratung diskutieren, kommen wir zu einem einige Beiträge hier gehört habe, glaube ich, dass grund-
guten Ergebnis. Dazu will die FDP-Fraktion beitragen, sätzliche Missverständnisse bestehen. Wir können ruhig
weil das Carsharing für die Entwicklung der Verkehre in bei den deutschen Wörtern bleiben: Auto teilen. Men-
den Städten unseres Landes ein ausgesprochen sinnvol- schen teilen sich ein Auto, aber nicht mit dem Schrau-
ler Beitrag ist. Das erkennen wir sehr wohl an. Wir wol- benzieher oder mit dem Schweißgerät. Nein, sie teilen
len alle privaten und unternehmerischen Initiativen be- sich die Nutzung. Bis zu 20 Personen – teilweise sind es
fördern. sogar mehr – können sich durch geschicktes Zeitma-
(B) Abschließend komme ich zu einem Punkt, der nicht nagement ein Auto teilen. Diese 20 Personen müssen (D)
nicht alle ein Auto haben. Wenn es aber auch nur zehn
meine Zustimmung findet. Er steht zwar nicht im An-
Autos mehr werden, entstehen genau die Probleme, die
trag, wurde aber in der Rede angesprochen. Ich glaube
nicht, dass diejenigen, die Carsharing betreiben, eine zu- Sie gerade beschrieben haben, Herr Döring: der ver-
stärkte Parkdruck und die Erhöhung des Verkehrs in den
sätzliche Förderung für innovative Fahrzeugkonzepte
Innenstädten. Deswegen ist das ein interessantes Modell.
brauchen, Stichwort: Elektromobilität.
Der Schritt zum Carsharing ist weniger in der Überle-
(Florian Pronold [SPD]: Aber wenn Sie es bei gung begründet: „Ich habe noch nie ein Auto gehabt;
Hotels machen?) jetzt probiere ich das mal aus“, sondern eher darin: Be-
Wir halten es für richtig, dass wir bei der Elektromo- vor ich mir ein Auto kaufe, mache ich Carsharing; viel-
bilität die Technologieentwicklung, zum Beispiel die leicht kann ich meinen Bedarf damit decken. – Insofern
Speichertechnologie, fördern und uns die Frage stellen: ist das schon eine wichtige Variante.
Wie organisieren wir ein effizientes Wiederaufladesys- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tem in Deutschland? Für die unmittelbare Anschaffung sowie des Abg. Sören Bartol [SPD])
des Fahrzeuges macht es, glaube ich, keinen Sinn, zu-
sätzliche Subventionen einzuführen. Der effiziente Ver- Schauen wir ein bisschen weiter; betrachten wir Un-
brennungsmotor wird genauso eine umweltpolitische ternehmen oder Behörden. Ein Großteil der Carsharing-
Rolle und eine Rolle für die Verkehre unserer Städte Fahrten sind mit fast 40 Prozent berufliche Fahrten. Wir
spielen wie der Elektromotor. Deshalb sollten wir das reden hier also nicht über privaten Individualverkehr,
den Initiativen bzw. den Unternehmen, die Carsharing sondern über berufsbedingte Fahrten. Wir reden darüber,
betreiben, überlassen. Wir werden im Rahmen der Dis- dass Behörden, dass Unternehmen ihre Dienstflotte ab-
kussion feststellen, ob wir das Problem lösen können. bauen. Das ist wichtig und in der Innenstadt interessant.
Ich bin guter Dinge, dass wir einen zusätzlichen Beitrag Es profitieren vor allem unsere Innenstädte: Es gibt
zu einer noch stärkeren und noch besseren Entwicklung weniger Parkplatzbedarf, der Individualverkehr wird
von Carsharing leisten können. eingeschränkt, aber vor allen Dingen bietet das Carsha-
Herzlichen Dank. ring eine Mobilitätsmöglichkeit für Menschen mit klei-
nem Geldbeutel. Ein Carsharing-Auto zu nutzen, ist na-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – türlich wesentlich günstiger, als ein eigenes Auto zu
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- besitzen. Davon profitieren unsere Innenstädte und un-
NEN]: Da sind wir gespannt!) sere Wohnviertel, da die Wohnqualität gesteigert wird.
2140 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Bettina Herlitzius
(A) Vor 20 Jahren entstanden die ersten Initiativen zum Der Antrag ist im Bundesrat mit großer Mehrheit be- (C)
Carsharing, zum Stadtteilauto, zum Gemeinschaftsauto; schlossen worden. CDU, CSU und SPD müssen dabei
so wurde es damals genannt. Das waren teilweise ideolo- gewesen sein; denn wir sind nicht allein im Bundesrat.
gisch tief verwurzelte Gesellschaften. Ich kann mir vor-
stellen, dass Ihre Bedenken daher rühren. Seit zehn Jah- Insofern kann man feststellen, dass sich die Länder ei-
ren ist dieser Markt aber professionell. Er hat sich nig sind. Umso ärgerlicher ist dieses Trauerspiel, das Sie
entwickelt. Es bestehen Wachstumspotenziale. Hier ist hier im Deutschen Bundestag aufführen. Lassen Sie uns
eine interessante ökologische Mobilitätsdienstleistung beim Thema Carsharing endlich zum letzten Akt kom-
entstanden. men! Treffen Sie eine fachpolitisch richtige Entschei-
dung! Stärken Sie nachhaltige, kostengünstige Mobili-
Trotzdem ist Carsharing nach wie vor ein Nischen- tätsformen in unseren Städten!
produkt im Bereich der städtischen Mobilität.
Danke schön.
(Manfred Grund [CDU/CSU]: Auch im
Parlament!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Woran hapert es? Von Nutzern geteilte Autos sind Teile
einer Mobilitätskette. Das heißt, sie können den öffentli-
chen Nahverkehr, auch den Individualverkehr nicht er- Präsident Dr. Norbert Lammert:
setzen. Da machen wir uns gar nichts vor. Die Nutzer Nun erhält der Kollege Gero Storjohann das Wort als
von Carsharing brauchen den öffentlichen Nahverkehr. letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt.
Sie brauchen als Grundvoraussetzung die direkte Anbin-
dung an den öffentlichen Nahverkehr, an zentrale Halte- Gero Storjohann (CDU/CSU):
stellen, an Busse und Bahnhöfe. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
(Patrick Döring [FDP]: Haben sie doch! Es und Kollegen! Carsharing, Auto teilen, das ist eigentlich
sind doch überall Parkhäuser! An jedem Bahn- ein ganz altes Thema. Ich komme vom Dorf. Als dort die
hof ist ein Parkhaus! – Gegenruf des Abg. Jörn ersten Landwirte anfingen, sich die Mähdrescher zu tei-
Wunderlich [DIE LINKE]: Bei mir am Bahn- len, wurden sie erst belächelt; aber inzwischen ist es üb-
hof aber nicht! Da ist kein Parkhaus!) lich. Dass man inzwischen auch die Anhänger von Tre-
ckern gemeinsam nutzt, ist gang und gäbe.
– Herr Döring, schön, dass Sie zuhören. – Aber genau
das ist das Problem. Der Parkraum an zentralen Stellen (Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜND-
des öffentlichen Nahverkehrs ist knapp und teuer. NIS 90/DIE GRÜNEN] – Manfred Grund
(B) [CDU/CSU]: Das war „Bauer sucht Mähdre- (D)
Viele Kommunen scheuen davor zurück, Parkflächen scher“?)
für Carsharing-Modelle auszuweiten. Wir brauchen da-
her eine klare bundesrechtliche Regelung, die den Kom- Das macht man aus wirtschaftlichen Gründen und aus
munen bei ihren nachhaltigen Mobilitätskonzepten den marktwirtschaftlicher Vernunft. Insofern ist es wunder-
Rücken stärkt. Das sind wichtige Rahmenbedingungen, bar.
die mit diesem Antrag gefordert werden. Wir müssen das
Straßenverkehrsrecht und die Straßenverkehrs-Ordnung Dieses Modell ist inzwischen in den Städten ange-
ändern. Es kann nicht sein, dass Taxen, für die wir extra kommen. Damit kann man Geld verdienen. Denn es gibt
Stellflächen reservieren, gegenüber Stadtteilautos bevor- ein Angebot, das andere gern nutzen wollen. Dieses An-
zugt werden. gebot kann man laufend hinterfragen und verbessern.
Das ist, glaube ich, der Ansatz des vorliegenden An-
(Patrick Döring [FDP]: Taxen sind ÖPNV trags. Wir als Bundespolitiker haben jetzt zu entschei-
nach dem Gesetz!) den: Was bedeutet es, wenn wir für unsere Kommunen
Hier muss Gleichbehandlung herrschen. Hier müssen einen Rahmen schaffen? Hier ist viel Richtiges gesagt
beide Mobilitätsbranchen die gleiche Chance haben. worden. Mein Kollege Vogel hat die Bedenken vorgetra-
gen, die wir als Union bisher gehabt haben und die aus
Lassen Sie mich zum Schluss der Ehrlichkeit halber der kommunalen Familie an uns herangetragen worden
sagen: Auch wir haben diesen Antrag abgeschrieben, sind. Patrick Döring hat hier sehr engagiert vorgetragen,
dass damit auch viele freiwillige Entscheidungen zusam-
(Patrick Döring [FDP]: Nichts anderes hatten
menhängen.
wir erwartet!)
zumindest zum Teil. Er ist abgeschrieben von einem im Wir sind, glaube ich, alle für Carsharing. Jetzt geht es
Bundesrat mit Mehrheit beschlossenen Antrag. Im Ver- um die Frage, inwieweit wir es vielleicht privilegieren,
kehrsausschuss und im Umweltausschuss dort ist dieses inwieweit wir gewisse Dinge für dieses Gewerbe er-
Thema behandelt worden. leichtern können. Auch in meiner Familie betreiben wir
Carsharing. Die Söhne möchten gerne mit dem Auto des
(Sören Bartol [SPD]: Ich habe den nicht abge- Vaters fahren. Deswegen gibt es nicht unbedingt weniger
schrieben! Das ist eine Unterstellung! – Fahrzeuge in einer Familie. Vielmehr bestehen die
Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Söhne selbstverständlich darauf, dass sie das Auto neh-
NEN]: Die SPD hat das Rad noch einmal er- men, das ihnen gerade für ihren Zweck gefällt. Wenn
funden, behauptet sie!) man mit drei oder vier Leuten durch die Gegend fährt, ist
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2141
Gero Storjohann
(A) es besser, ein größeres Auto zu haben. Insofern ist Car- – Drucksachen 17/508, 17/591 Nr. 2, 17/768 – (C)
sharing ein zusätzliches Angebot.
Berichterstattung:
Wir als Union haben viele neue Kollegen in unserer Abgeordnete Dr. Michael Paul
Arbeitsgruppe. Sie hatten noch nicht die Gelegenheit, Ute Vogt
dieses Thema intensiv zu beraten. Deshalb lautet das Dr. Lutz Knopek
Angebot, dass wir sehr intensiv über die Fragen, wie Ralph Lenkert
man Carsharing attraktiv machen kann und inwieweit es Dorothea Steiner
Vorgaben für die Kommunen geben soll, beraten wer-
den. Das ist hier die Ansage. Ich bitte darum, dass wir Auch hierzu soll es nach einer Vereinbarung unter den
diesen Antrag in die Ausschüsse überweisen. Wir freuen Fraktionen eine halbstündige Aussprache geben. – Ich
uns auf eine interessante und vertiefende Debatte. Ich höre keinen Widerspruch. Wir können also so verfahren.
glaube, so werden wir allem gerecht: dem Problem der Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
Mobilität und den Verkehrskonzepten. Ich habe mich be- nächst der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau
sonders gefreut, dass sogar von den Grünen ein Plädoyer Ursula Heinen-Esser. Bitte schön.
für das Auto kam.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim
NEN]: Für das geteilte Auto!) Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit:
Nicht ein einziges Mal wurde das Fahrrad im Stadtver-
kehr erwähnt; aber auch dafür sind wir als Union. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Präsident hat den
Ich freue mich auf eine spannende Debatte im Aus- etwas sperrigen Titel der Verordnung, über die wir uns
schuss. heute Abend austauschen und bei der wir hoffentlich zu
einer eindeutigen Abstimmung kommen werden, bereits
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
vorgetragen. Es geht um die Verordnung über Luftquali-
neten der FDP und des Abg. Sören Bartol
tätsstandards und Emissionshöchstmengen.
[SPD] – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das ist vom Land über uns Diese Verordnung dient der Umsetzung einer EU-
gekommen!) Richtlinie, nämlich der Richtlinie über Luftqualität und
saubere Luft für Europa, in deutsches Recht. Das ist eine
Präsident Dr. Norbert Lammert: klare Eins-zu-eins-Umsetzung. Die neue Rechtsverord-
Ich schließe die Aussprache. nung fasst einige nationale Regelungen zusammen und
(B) dient damit der Verwaltungsvereinfachung. Ferner wer- (D)
Ich greife die Anregung des Kollegen Storjohann auf, den zwei Verordnungen aufgehoben. So weit zum tech-
die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten nischen Teil.
Ausschüsse zu überweisen, so denn das Plenum diesem
kühnen Vorschlag folgen will. Sind Sie damit einver- Neu an dieser Verordnung ist, dass für ganz besonders
standen? gesundheitsschädliche, sehr kleine Feinstäube erstmals
Luftqualitätswerte festgelegt werden. Für diese beson-
(Iris Gleicke [SPD]: Ja! – Patrick Döring ders kleinen Stäube gilt ab dem Jahr 2010 ein Zielwert,
[FDP]: Unbedingt!) der so weit wie möglich einzuhalten ist. Dieser Zielwert
– Unbedingt. – Ist jemand anderer Meinung? wird ab dem Jahr 2015 zum verbindlichen Grenzwert.
Das heißt, er muss ab dem Jahr 2015 ganz klar eingehal-
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir haben ten werden. Alle sonstigen Werte werden unverändert
noch Beratungsbedarf! – Dr. Kirsten Tackmann übernommen. Insofern gibt es keine Änderungen.
[DIE LINKE]: Ja, für den neuen Kollegen!)
Darüber hinaus wird klar geregelt, dass die natürlich
– Aha. – Unbeschadet des hilfsweise angemeldeten Be- vorkommende Feinstaubbelastung der Luft aus der ge-
ratungsbedarfs messenen Konzentration herausgerechnet werden kann.
(Zuruf von der LINKEN: Das war ein Scherz!) Wir haben bereits die eine oder andere Diskussion da-
rüber geführt, wie wir beispielsweise mit dem Salzgehalt
ist die Überweisung hiermit einvernehmlich beschlos- der Luft an der See oder mit Staub, der durch Verwehun-
sen. gen verursacht wird, umgehen sollen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Etwas anderes ist auch neu – darüber hat es im Aus-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- schuss recht rege Diskussionen gegeben –, nämlich: Die
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz neue Luftqualitätsrichtlinie gibt den Mitgliedstaaten
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der erstmals die Möglichkeit, die Fristen zur Einhaltung be-
Verordnung der Bundesregierung stimmter Grenzwerte zu verlängern. Diese Neuregelung
berücksichtigt die Tatsache, dass in vielen Ländern
Neununddreißigste Verordnung zur Durchfüh- Europas zwei Grenzwerte immer noch nicht fristgerecht
rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Ver- eingehalten werden, obwohl große Anstrengungen un-
ordnung über Luftqualitätsstandards und ternommen werden. Es handelt sich dabei zum einen um
Emissionshöchstmengen – 39. BImSchV) den seit 2005 geltenden Wert für Feinstaub. Zum ande-
2142 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Parl. Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser


(A) ren handelt es sich um den seit 1. Januar dieses Jahres Ihnen mit der Umsetzung der Richtlinie einen wirklich (C)
geltenden Grenzwert für Stickstoffdioxid. Diese Grenz- guten Vorschlag vorlegen.
werte werden vor allem an sehr stark befahrenen Straßen
In diesem Sinne herzlichen Dank fürs Zuhören.
in Innenstädten überschritten. Die Fristverlängerung für
Feinstaub ist bis 2011 und für Stickstoffdioxid bis Ende (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
des Jahres 2014 möglich. neten der FDP)
Lassen Sie mich genauer auf die Bedeutung dieser
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Regelung eingehen. Maßgebend für die Fristverlänge-
rung ist Art. 22 der Richtlinie. Im Ausschuss hatten wir Das Wort erhält nun die Kollegin Ute Vogt für die
darüber diskutiert, dass wir Teile aus der Richtlinie in SPD-Fraktion.
die Verordnung übernommen haben. Wir müssen aber (Beifall bei der SPD)
ganz klar sagen, dass dieser Artikel der Richtlinie unmit-
telbar gilt. Wir haben Teile in die Verordnung übernom- Ute Vogt (SPD):
men, allerdings liegt hier eine der wenigen europarecht- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
lichen Möglichkeiten vor, dass eine Richtlinie direkt und Kollegen! Es gibt in diesem Hause niemanden, der
durchschlägt. der Aussage nicht zustimmt, dass die Umsetzung der
Wesentliche Voraussetzung zur Gewährung der Frist- Richtlinie 2008/50/EG zur Verbesserung der Luftqualität
verlängerung ist in beiden Fällen – für Feinstaub und für notwendig ist und dass es von daher durchaus sinnvoll
Stickstoffdioxid – die Vorlage eines sogenannten Luft- ist, diese Richtlinie umzusetzen. Es war beispielsweise
reinhalteplans. In der folgenden Debatte wird es noch überfällig, den Grenzwert für Feinstaubpartikel weiter
eine Rolle spielen: In Hannover gab es eine Diskussion zu senken und dafür zu sorgen, dass nunmehr auch
über das Thema der Öffentlichkeitsbeteiligung bei der Feinststaubpartikel erfasst sind. Es war leider auch not-
Vorlage von Luftreinhalteplänen. In diesem Plan muss wendig, darauf zu reagieren, dass es die Mitgliedsländer
dargelegt werden, mit welchen Maßnahmen die Grenz- der EU vor allem in Ballungsgebieten immer noch nicht
werte bis zum Ablauf der Fristverlängerung eingehalten schaffen, die vorgegebenen Grenzwerte einzuhalten.
werden sollen. Bei Feinstaub gilt zusätzlich, dass eine Aus meinem eigenen Wahlkreis, der Stadt Stuttgart,
Fristverlängerung nur dann gewährt werden kann, wenn kann ich berichten: Allein im vergangenen Jahr wurde
die Grenzwertüberschreitungen auf standortspezifische der zulässige Feinstaubgrenzwert an der Messstation
Ausbreitungsbedingungen, ungünstige klimatische Be- Neckartor an 112 Tagen überschritten. Im Vergleich
dingungen oder grenzüberschreitende Einträge zurück- dazu, dass eine Überschreitung an nur 35 Tagen erlaubt
(B) zuführen sind, wenn es sich um Ursachen handelt, die ist, ist das eine enorm hohe Zahl. Etwas weiter entfernt, (D)
man durch technologischen Fortschritt oder die Einrich- in einer anderen Straße, die von etwa 35 000 Fahrzeugen
tung von Umweltzonen nicht direkt beeinflussen kann, befahren wird, ist der erlaubte Stundenmittelwert von
wenn es sich also um besondere Lagen – beispielsweise Stickstoffoxid bereits 103 Mal überschritten worden, ob-
von Städten – handelt. wohl er eigentlich nur 18 Mal pro Jahr überschritten
werden darf.
Aber bevor diese Fristverlängerung wirksam werden
kann – auch das ist wichtig und wird in Art. 22 der Wir sehen also: Mit der Umsetzung der Richtlinie in
Richtlinie geregelt –, prüft die EU-Kommission die Ein- deutsches Recht alleine ist es sicher nicht getan. Denn
haltung dieser Anforderungen durch den Mitgliedstaat. nahezu jede größere Stadt und viele Ballungsräume ha-
Für Feinstaub hat sie bereits zahlreichen deutschen ben größte Schwierigkeiten, auch nur in die Nähe der
Kommunen Fristverlängerungen gewährt. Bei einigen vorgegebenen Grenzwerte zu kommen, und das, obwohl
Kommunen allerdings – auch das muss man klar sagen – vielerorts Maßnahmen eingeleitet worden sind, die zur
hat die Kommission Einwände erhoben und verlangt, Luftreinhaltung beitragen sollen. Häufig sind diese Maß-
dass die von den Kommunen vorgelegten Luftreinhalte- nahmen aber unzureichend, und die Kommunen alleine
pläne überarbeitet werden bzw. nachgebessert werden sind nicht in der Lage, dieser Problemlage Herr zu wer-
müssen. Zusätzliche Maßnahmen zur Senkung der Fein- den.
staubbelastung und zur termingerechten Einhaltung des
Mit der Umsetzung dieser Richtlinie verbinden wir
Grenzwerts sind aus Sicht der Kommission noch erfor-
auch die Erwartung, dass die Bundesregierung die Initia-
derlich.
tive ergreift, Bund, Länder und Kommunen bei diesem
Die Frist zur Umsetzung der Richtlinie endet im Juni Thema näher zusammenzubringen. Die Kommunen
dieses Jahres. Das Gesetz war bereits im Bundesrat. Im brauchen unsere Unterstützung bei der Erstellung der
Bundesrat hat es einige redaktionelle Änderungen gege- Pläne, aber vor allem bei der Durchsetzung geeigneter
ben, die wir übernehmen werden. Zu gegebener Zeit Maßnahmen. Es braucht dazu auch ein Umdenken in der
werden wir auch im Bundestag noch darüber diskutie- Verkehrspolitik des Bundes. Das Carsharing – über die
ren. erste Initiative haben wir eben etwas gehört – ist ein
Baustein. Aber es geht auch um die Stärkung der
Jetzt richte ich mich an die Kolleginnen und Kollegen Schiene und um eine ausreichende Förderung des öffent-
von der Opposition. Sie haben sich im Ausschuss enthal- lichen Personennahverkehrs. Es geht vor allem um große
ten, weil Sie noch formale Fragen hatten. Meine Bitte an Schritte zum Einstieg in die Elektromobilität und um die
Sie: Stimmen Sie heute Abend zu! Ich denke, dass wir Unterstützung von Wasserstofffahrzeugen. Die Schad-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2143
Ute Vogt
(A) stoffe, um die es geht, stammen nämlich im Wesentli- weiteren wichtigen Schritt zu einer nachhaltigen Verbes- (C)
chen aus dem Straßenverkehr. Die Ausweisung von Um- serung der Luftqualität in Deutschland. Bereits gültige
weltzonen hilft zwar, aber nicht in dem Maße und nicht Regelungen werden zusammengefasst, im Kern fortge-
in der Geschwindigkeit, wie es notwendig wäre. Wir schrieben und für die Kommunen praktikabler gemacht.
brauchen daher neue Mobilitätskonzepte für die Innen-
Teile dieser neuen Verordnung bedeuten einen Para-
städte. Die Kommunen brauchen dabei unsere Unterstüt- digmenwechsel bei der Bewertung der Luftqualität. Es
zung. besteht heute kein Zweifel mehr, dass von Feinstaub-
Vor allem darf es nicht zu weiteren Steuerausfällen emissionen ein besonderes gesundheitliches Risiko aus-
kommen. Die Präsidentin des Deutschen Städtetages, geht. Bisher wurden die umweltpolitischen Maßnahmen
Petra Roth, hat – dies wurde schon häufiger zitiert – ge- allein an den relativ großen Schwebepartikeln, an den
warnt, dass den kommunalen Haushalten Steuerausfälle Schwebepartikeln mit einem Durchmesser von 10 Mi-
in zweistelliger Milliardenhöhe drohen. Das muss doch krometern, den sogenannten PM10, ausgerichtet. Zu-
auch für Sie aus den Koalitionsfraktionen ein Anlass künftig rücken kleinere Partikel, die sogenannten
sein, Ihre Finanz- und Steuerpolitik zu überdenken. PM2,5, in den Fokus unserer Aufmerksamkeit. Auch die
Überdenken Sie Ihre Finanz- und Steuerpolitik gerade PM1,0 und die PM0,1 werden längst gemessen, unter-
unter dem Blickwinkel des Schutzes der Lebensqualität sucht und bewertet.
und der Gesundheit der Menschen in unseren Städten! Das ist richtig so und konsequent; denn sowohl bei
Die Kommunen sind dringend auf unsere Unterstützung kurz- als auch bei langfristiger Exposition sind nicht un-
angewiesen. erhebliche gesundheitliche Risiken zu befürchten, was
Sorgen Sie für Klarheit und Transparenz in dieser Ge- durch aussagekräftige amerikanische und europäische
setzgebung! Es geht bei der Umsetzung dieser EU- Studien inzwischen hinreichend belegt ist. Dokumentiert
Richtlinie nicht nur darum, zu tun, was unabdingbar er- sind Akuteffekte wie zum Beispiel Herz-Kreislauf- und
forderlich ist, sondern auch darum, dass diejenigen, von Atemwegsbeschwerden, aber auch Langzeiteffekte. Stu-
denen wir erwarten, dass sie Aktivitäten entwickeln, um dien zur Langzeitexposition gegenüber Feinstaub zeigen
diese Verordnung umzusetzen, der Verordnung das We- ein signifikant erhöhtes Mortalitätsrisiko bei kardio-pul-
sentliche entnehmen können. monalen Erkrankungen und auch bei Lungenkrebs.

Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie sind wir nicht Wie gestern beim Deutschen Krebskongress hier in
zufrieden, wo es um die Fristverlängerung geht. Frau Berlin mitgeteilt wurde, nimmt die Zahl der Krebsneuer-
krankungen in Deutschland zu. Es gibt nun annähernd
Staatssekretärin, es ist nicht nachvollziehbar, warum in
450 000 Fälle pro Jahr. Wir können davon ausgehen,
der Verordnung nicht wenigstens die wesentlichen Krite-
dass hier auch die Feinstaubbelastung eine Rolle spielt.
(B) rien aus Art. 22 der EU-Richtlinie eindeutig genannt Ultrafeine Partikel spielen in der Pathogenese eine be-
(D)
werden. Auch wenn die Richtlinie unmittelbare Geltung
sonders wichtige Rolle, da sie im Gegensatz zu den grö-
erlangt, ist es doch wichtig, dass im Gesetzestext auf ei- ßeren Partikeln lungengängig sind. Nase, Mund und Ra-
nen Blick transparent und nachvollziehbar erkennbar ist, chen halten PM10-Teilchen noch zum großen Teil
worum es geht, welche Kriterien einzuhalten sind. Es zurück. PM2,5-Teilchen dringen jedoch bis in die Lun-
geht nicht darum, dass die Details der Anlage wiederholt genbläschen vor, können hier aufgenommen werden und
werden müssten; aber das Anliegen muss aus dem Text so bis in die Blutbahn des Menschen gelangen.
der Verordnung hervorgehen.
Ultrafeine Partikel haben aber noch einen anderen ne-
Wir werden uns bei der Verabschiedung der Verord- gativen Effekt. An ihrer Oberfläche lagern sich Schwer-
nung der Stimme enthalten. Sie können aber in jedem metalle oder krebserzeugende polyzyklische aromati-
Fall auf uns zählen, wenn es darum geht, die Kommunen sche Kohlenwasserstoffe, die sogenannten PAKs, an. Da
zu stärken und ihnen dabei zu helfen, Luftreinhaltepläne, kleinere Partikel eine größere Oberfläche im Verhältnis
die Bund, Länder und Kommunen zur Verbesserung der zu ihrem Volumen haben, sind sie zudem stärker mit die-
Lebensqualität und zum Schutz der Gesundheit gemein- sen Stoffen belastet als größere Partikel. Außerdem stei-
sam erstellen, zeitnah umzusetzen. gen sie in die Atmosphäre auf. Sie werden dort fotoche-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten misch umgewandelt und können über mehrere Hundert
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Kilometer transportiert werden. Das ist ein interessanter
Aspekt, wenn man über die Sinnhaftigkeit von Verkehrs-
zonen nachdenkt.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lutz Knopek für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
die FDP-Fraktion. der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Eine Fokussierung auf die feinen und ultrafeinen Par-
der CDU/CSU) tikel ist also wichtig. Mit dem vorliegenden Entwurf ei-
ner Verordnung werden die Voraussetzungen für einen
besseren Gesundheitsschutz der Menschen in unserem
Dr. Lutz Knopek (FDP):
Land geschaffen, vor allem in den Städten und Ballungs-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit räumen.
der heute vorliegenden Neununddreißigsten Verordnung
zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgeset- Mit der Einführung eines Grenzwertes für PM2,5 al-
zes unternimmt die Koalition aus FDP und Union einen lein ist es natürlich nicht getan. Das Umweltbundesamt
2144 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Lutz Knopek


(A) hat berechnet, welche Minderungspotenziale einzelne Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
umweltpolitische Maßnahmen jeweils versprechen. Herr Kollege Dr. Knopek, das war Ihre erste Rede
Auf der Ebene der Einzelmaßnahmen geht es neben hier im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen ganz
der Reduzierung verkehrsbedingter Partikelemissionen herzlich dazu und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit
vor allem um die Senkung der Emissionen aus Kleinfeu- alles Gute.
erungsanlagen in Haushalten. Dieses Themas hat sich (Beifall)
der Bundestag gleich nach seiner Konstituierung im De-
zember vergangenen Jahres angenommen. Nächster Redner ist nun für die Fraktion Die Linke
der Kollege Ralph Lenkert.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Mit der Novellierung der 1. BImSchV – Sie erinnern
sich – wurden anspruchsvolle Grenzwerte für neue Holz-
öfen und andere Kleinfeuerungsanlagen eingeführt. Ralph Lenkert (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ein weiteres Potenzial zur Feinstaubsenkung sieht das
Umweltbundesamt in der Nachrüstung von Rußpartikel- Die Feinstaubbelastungen in der Bundesrepublik verkür-
filtern bei Dieselfahrzeugen. Die alte Regierung wollte zen nach wissenschaftlichen Schätzungen von Professor
das erfolgreiche Programm zur Förderung von Rußparti- Wichmann die durchschnittliche Lebenserwartung um
kelfiltern bei Pkw Ende vergangenen Jahres auslaufen sechs Monate. Die gesundheitsschädigende Wirkung
lassen. Die schwarz-gelbe Koalition hat sich nun geei- von Feinstaub nimmt dabei zu, je kleiner der Partikel-
nigt, dass dieses Programm 2010 nicht nur fortgesetzt, durchmesser und je höher ihre Anzahl ist. Auch die che-
sondern auch auf leichte Nutzfahrzeuge ausgedehnt mische und biologische Zusammensetzung und die
wird. Oberflächenstruktur entscheiden über die Gefährlichkeit
der Feinstäube.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Die 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-
Immissionsschutzgesetzes soll nun entsprechend der
Das ist sehr sinnvoll, vergegenwärtigt man sich, dass EU-Richtlinie neue Grenzwerte für Feinstäube und
mehr als 65 Prozent der Emissionen von Dieselrußparti- Ultrafeinstäube festlegen und Messpunkte und Verfahren
keln von Nutzfahrzeugen ausgehen. zur Überprüfung der Einhaltung der Grenzwerte definie-
Die Fortsetzung und Ausdehnung der Förderung von ren. Dass EU und Bundesregierung bei den Grenzwerten
Rußpartikelfiltern ist aber nicht nur eine ökologisch allein das Gewicht je Staubgrößenklasse berücksichtigen
und nicht auch die Anzahl und die chemische und biolo-
(B) sinnvolle Maßnahme, sondern auch ein Programm zur gische Zusammensetzung, macht sicherlich das Messen
(D)
Stärkung des Mittelstands; denn ein großer Teil der
leichten Nutzfahrzeuge gehört Handwerkern und kleinen billig. Aber ist das ein sinnvolles Sparen?
Gewerbetreibenden, die mit ihren Fahrzeugen oftmals
nicht in die bestehenden Umweltzonen einfahren dürfen (Beifall bei der LINKEN)
und denen es auch aufgrund der Politik der Vorgängerre- Es ist schon ein Unterschied für die Gesundheit, ob es
gierung am nötigen Kapital zur Erneuerung ihrer Fahr- sich beim Feinstaub um Bodenstaub vom Feld oder Ver-
zeuge mangelt. Die FDP macht an dieser Stelle deutlich, brennungsrückstände aus der Industrie handelt.
dass Ökonomie und Ökologie nicht zwangsläufig Ge-
gensätze darstellen müssen. Wir machen Umweltpolitik (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
mit den Menschen und nicht gegen sie. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Derzeit gibt es bei uns in Thüringen 22 Messstellen
der CDU/CSU) zur Luftüberwachung. Nach dem Verordnungsentwurf
soll der Feinstaub zukünftig nur noch an einer Mess-
Zum Schluss meiner Rede will ich noch kurz auf die
stelle, nämlich der in Erfurt, verpflichtend erfasst wer-
unlängst von der Deutschen Umwelthilfe geäußerte Kri-
tik an dem vorliegenden Verordnungsentwurf eingehen. den. Niedrige Kosten sind also auch das Kriterium für
Es geht dabei um die Regelung zur Fristverlängerung für die in der Verordnung festgelegte Mindestanzahl der
die einzuhaltenden Grenzwerte. Die Parlamentarische Messstellen zur Überwachung des Feinstaubes. Eine ein-
Staatssekretärin Frau Heinen-Esser hat im Ausschuss zige Messstelle soll sicherstellen, dass die Grenzwerte in
sehr deutlich gemacht, dass sich Deutschland hierbei ganz Thüringen eingehalten werden. Glauben Sie daran?
strikt an EU-Recht hält. Allerdings verschärfen wir die Das ist, wie wenn man daran glaubt, dass ein fester Ra-
Anforderungen nicht auch noch im nationalen Allein- darkasten, der Unter den Linden installiert wird, sicher-
gang, wie von der Deutschen Umwelthilfe gewünscht. stellt, dass in ganz Berlin-Mitte die Geschwindigkeitsbe-
Im Koalitionsvertrag haben FDP und Union vereinbart, grenzungen eingehalten werden.
dass alle EU-Vorgaben eins zu eins in deutsches Recht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
umgesetzt werden. Das machen wir auch in diesem Fall. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Eine einseitige Verschärfung zulasten der deutschen
Kommunen lehnen wir ab. Der Volksmund sagt: Wer billig kauft, kauft teuer.
Diese billige Feinstaubüberwachung wird uns, was die
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Gesundheit angeht, viel kosten. Die Linke will deshalb
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bessere Grenz- und Messwerte, den garantierten Erhalt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2145
Ralph Lenkert
(A) bestehender Messstellen und zusätzliche mobile Mess- Neue bei dieser Richtlinie ist, dass nicht nur die gebiets- (C)
einrichtungen. bezogene Luftreinhaltung im Mittelpunkt steht, sondern
dass ab jetzt in Maßnahmen zur Verbesserung der Luft-
(Beifall bei der LINKEN) qualität auch maßgebliche Verursacher mit einbezogen
Generell gilt jedoch: So notwendig die Grenzwerte und werden können. Das ist eine Verbesserung.
Messwerte sind, eine bessere Luftqualität wird nicht er-
Eine bedeutsame Veränderung ist auch, dass nun neue
messen; man muss die Luftverschmutzung verringern.
Ziel- und Grenzwerte für Feinstaub mit einer Partikel-
(Beifall bei der LINKEN) größe bis 2,5 Mikrometer angestrebt werden. Uns wurde
mehrfach erläutert, welche Bedeutung diese Feinstaub-
In Großbritannien ermittelte man, dass der Straßen- partikel haben und wie sie sich auswirken. Hier stimme
verkehr 30 Prozent des Feinstaubes kleiner als 2,5 Mi- ich – ganz anders als beim Rattengift – vollkommen mit
krometer und sogar 50 Prozent des Ultrafeinstaubes klei- Herrn Knopek überein. Der Zielwert soll ab 2010 gelten,
ner als 0,1 Mikrometer verursacht. Studien in der der Grenzwert aber erst ab 2015, in fünf Jahren. Das
Bundesrepublik belegen, dass die Feinstaubkonzentra- könnte schneller gehen.
tionen in Wohn- und Arbeitsräumen an Hauptverkehrs-
straßen deutlich über den Belastungen vergleichbarer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Räume in verkehrsarmen Gebieten liegen. Schauen Sie
nicht weiter zu, wie die Menschen, die an Hauptstraßen Abgesehen davon, dass die Regelung sehr spät kommt
leben und bzw. oder dort arbeiten, mit einem deutlich er- und Deutschland zu Recht bereits zweimal von der EU-
höhten Lungenkrebsrisiko, mehr Fällen von chronischer Kommission ermahnt wurde, ist festzustellen, dass der
Bronchitis und häufigeren Asthma-Attacken klarkom- Bund – Frau Staatssekretärin hat es gerade unterstrichen –
men müssen. nur den europäischen Minimalkonsens eins zu eins um-
setzt. Ich würde sagen: Das ist griechisches oder italieni-
(Beifall bei der LINKEN) sches Niveau. Kritikwürdig ist, dass die Bundesregie-
Mit Verkehrsvermeidung, der Verlagerung von Güter- rung im Rahmen ihrer Möglichkeiten nicht den
transporten von der Straße auf die Schiene sowie einem bestmöglichen Schutz der Bevölkerung anstrebt.
erweiterten, besseren und günstigeren öffentlichen Per- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
sonennahverkehr ließe sich die Feinstaubbelastung dau- des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])
erhaft verringern.
Weitere Punkte, die in der Kritik stehen, sind die
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten möglichen Fristverlängerungen im Zusammenhang mit
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Einhaltung der Grenzwerte in den Kommunen und (D)
(B)
Allein dadurch würde sich die durchschnittliche Lebens- die Voraussetzungen dafür. Sie erhärten den Eindruck,
erwartung um zwei Monate erhöhen und eine Verbesse- dass Kommunen Fristverlängerungen eingeräumt wer-
rung der Lebensqualität erreicht werden. den können, ohne dass sie überhaupt die Voraussetzun-
gen dafür erfüllen. Wir haben gehört: Zehn deutsche
Die 39. BImSchV ist eine Mogelpackung. Die Linke Kommunen haben bereits eine Verlängerung der Frist für
lehnt sie deshalb ab. die Einhaltung des Grenzwerts für PM10-Feinstaub, also
Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Feinstaub mit einer Partikelgröße bis 10 Mikrometer, be-
antragt und diese eingeräumt bekommen. Gleichzeitig
(Beifall bei der LINKEN) sagt die Staatssekretärin im Ausschuss, 2014 sei Schluss
mit lustig bezogen auf die Ausnahmeregelungen. Ja, was
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: denn nun? Gerade die Einhaltung der Grenzwerte, insbe-
Nun hat die Kollegin Dorothea Steiner für die Frak- sondere bei den kleinsten Feinstaubpartikeln, ist für die
tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Gesundheit der Menschen entscheidend.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie Sie LINKE])
gehört haben, geht es heute erneut um Luftqualität und
Luftreinhaltung. Das mag sich alles sehr technisch anhö- Noch etwas: Die Rechtsetzung ist für die Anwender,
ren, aber das Thema ist von essenzieller Bedeutung für die Kommunen, ziemlich intransparent. Sie müssen sich
die Gesundheit von Bürgerinnen und Bürgern. aus der Richtlinie, der Verordnung und dem Bundes-Im-
missionsschutzgesetz die Voraussetzungen für die Frist-
Die 39. BImSchV setzt die EU-Luftqualitätsrichtlinie verlängerung und den Zeitpunkt zur Einhaltung der
vom Juni 2008 in nationales Recht um. Auch bisher wa- Grenzwerte zusammensuchen. Dass den Kommunen da-
ren schon feste Grenzwerte für Luftschadstoffe wie bei Fehler unterlaufen, ist nicht verwunderlich. Fies ist
Schwefeldioxid, Stickstoffdioxid, Stickstoffoxide und nur, wenn ein FDP-Umweltminister – ich meine hier ei-
Feinstäube mit einer Partikelgröße bis 10 Mikrometer nen ganz bestimmten, nämlich Herrn Sander aus Nieder-
sowie für Blei, Benzol, Kohlenmonoxid und Ozon fest- sachsen – versucht, Kommunen bei der Umsetzung von
gelegt. Anhand der Auflistung dieser Schadstoffe kön- Umweltzonen zu behindern. Schön, dass es Gerichte
nen Sie messerscharf erkennen, dass insbesondere der gibt, die das Recht angemessen auslegen und diesem
Verkehr als Schadstoffemittent im Fokus steht. Das Umweltminister eins auf die Mütze geben.
2146 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dorothea Steiner
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Grenzwerte der 22. und 33. BImSchV werden dabei (C)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der übernommen, ohne dass das ambitionierte Ziel, die Luft-
LINKEN) qualität stetig zu verbessern, aus den Augen verloren
wird. Deshalb wird mit dem vorliegenden Verordnungs-
Sie hören, dass der Fraktion der Grünen wegen der entwurf erstmalig ein Grenzwert für Feinstaubpartikel
angeführten Mängel eine Zustimmung zu dieser Verord- mit einer Größe von 2,5 Mikrometern und weniger ein-
nung nicht sinnvoll erscheint. Deswegen werden wir geführt. Diese Feinstäube – wir haben es gerade er-
nicht zustimmen, sondern uns bei der Abstimmung ent- örtert – sind wegen ihrer Lungengängigkeit besonders
halten. gesundheitsgefährdend.
Vielen Dank. Die materiellen Vorgaben der europäischen Richtlinie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werden durch die Verordnung eins zu eins in deutsches
und bei der SPD) Recht umgesetzt. Das gilt auch für die strengen Bedin-
gungen, unter denen die EG-Richtlinie Fristverlängerun-
gen für die Nichteinhaltung der Grenzwerte für Benzol,
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
PM10 und Stickstoffdioxid vorsieht. Das Instrument der
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Fristverlängerung ist notwendig. In einzelnen Gebieten
Dr. Michael Paul für die CDU/CSU-Fraktion. können wegen der geografischen Lage die strengen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grenzwerte schlicht und ergreifend noch nicht eingehal-
ten werden. Aber die Fristverlängerung ist kein Frei-
fahrtschein und wird erst nach eingehender Prüfung
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): durch die EU-Kommission genehmigt. Vorhin wurde
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Saubere ausgeführt, dass es bereits allein in Deutschland zehn
Luft ist keine Selbstverständlichkeit, gerade in einem In- Ausnahmen gebe. Ich lade Sie ein, bei der Europäischen
dustrieland wie Deutschland. Um eine gute Luftqualität Kommission nachzuschauen. Dort ist sehr transparent
zu erreichen, brauchen wir vielmehr wirkungsvolle um- aufgelistet, welche anderen europäischen Städte eben-
weltpolitische Instrumente. falls Ausnahmen beantragt haben und unter welchen
In der Vergangenheit haben wir aufgrund anspruchs- Auflagen diese genehmigt wurden. Es ist keinesfalls so,
voller Umweltvorschriften bereits große Erfolge bei der dass blindlings jedwede Fristverlängerung gewährt wird.
Luftreinhaltung erzielen können, in Deutschland wie in Vielmehr wird ein strenger Prüfungsmaßstab angelegt.
Europa. So konnte der Anteil der gefährlichen Stick- Das ist natürlich im Interesse der Luftqualität sinnvoll.
oxide in der Stadtluft in der Zeit von 1995 bis 2007 von Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposi- (D)
(B) 140 auf 70 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft reduziert
tion, sagen, wir hätten all das, was das europäische
und damit halbiert werden. Dies hängt auch mit der Ent- Recht vorsieht, in die Verordnung schreiben müssen,
wicklung zusammen, die Anfang der 90er-Jahre mit den dann kann ich nur entgegnen: Wir müssen doch wirklich
Euro-Normen für Fahrzeuge eingeleitet wurde. Dabei ist nicht alles doppelt aufschreiben.
der Grenzwert für Stickoxide in den letzten zehn Jahren
bei Pkw mit Ottomotor von 150 auf 60, bei Diesel-Pkw (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sogar von 500 auf 180 Milligramm pro Kilometer redu- NEN]: Die Menschen müssen wissen, was
ziert worden. Noch ein Beispiel: Bei Benzol sank die gilt! Und das steht da nicht drin!)
Belastung in den Städten seit 1997 von 7,9 auf 2,0 Mi-
krogramm pro Kubikmeter Luft und damit auf knapp ein – Was gilt, lässt sich aus dem Bundesgesetzblatt, in
Viertel. Auch der Anteil der Feinstaubpartikel in einer dem die Luftqualitätsrichtlinie mit dem Art. 22 veröf-
Größe unter 10 Mikrometer, die sogenannten PM10, in fentlicht ist, nachlesen. Im Übrigen wissen Sie so gut
der Stadtluft konnte von 1995 bis 2007 von 40 auf wie ich – das Bundesumweltministerium hat sie uns vor-
25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft verringert werden. gelegt –, dass allein die Mitteilung der Kommission, in
Diese Zahlen zeigen den bisherigen Erfolg der Luftrein- der ausgeführt wird, unter welchen Umständen eine
haltungspolitik. Fristverlängerung gewährt wird, mehr als 100 Seiten
umfasst. Wenn es Ihr Wunsch ist, diese Verordnung da-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durch aufzublähen, dann bitte schön. Ich halte das aus
Verwaltungsvereinfachungsgründen und aus Verständ-
Diesen Weg gehen wir konsequent weiter. Mit dem lichkeitsgründen für ungeeignet.
heute von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf ei-
ner 39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
missionsschutzgesetzes wird zum einen europäisches neten der FDP)
Recht, insbesondere die Luftqualitätsrichtlinie aus dem
Jahre 2008, umgesetzt; zum anderen werden damit die Lassen Sie mich einen letzten Punkt anführen, näm-
22. BImSchV, die sich mit den klassischen Luftschad- lich die Ausnahme für natürliche Luftgemische, die so-
stoffen beschäftigt, und die 33. BImSchV, die das boden- genannten Aerosole. Natürlich müssen gesundheitsge-
nahe Ozon zum Gegenstand hat, zusammengefasst. fährdende Aerosole, wie sie durch Industrieanlagen
Schon aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung ist entstehen, berücksichtigt werden. Natürliche Aerosole,
das zu begrüßen. wie zum Beispiel die Luft in den Seebädern, die sogar
eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, dürfen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denklogisch nicht als Schadstoffe eingeordnet werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2147
Dr. Michael Paul
(A) Deshalb ist es richtig, dass nach der vorgelegten Verord- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
nung nunmehr diese natürlichen Quellen herausgerech- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
net werden können. Sie sind damit einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
CSU]) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen für
Dasselbe gilt für die im Winter eingesetzten Streumittel die Fraktion Die Linke.
oder Verwehungen aus der Landwirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich darf zusammenfassend feststellen: Mit der
39. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes wird ein weiteres wirksames Instru- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
ment zur Einhaltung der strengen Anforderungen an die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Luftqualität geschaffen. Die CDU/CSU wird deshalb Die Fraktion Die Linke bringt heute den Antrag „Sofort-
diesem Vorhaben zustimmen. hilfeprogramm Kultur“ ein, um den Auswirkungen der
Finanz- und Wirtschaftskrise auf die kommunale Kultur-
Vielen Dank. szene in Deutschland etwas entgegenzusetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN)
neten der FDP)
Das muss sofort geschehen, abgesehen davon, dass na-
türlich die Finanzgrundlagen der Kommunen prinzipiell
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: verändert werden müssen.
Ich schließe die Aussprache.
Gestern haben uns Experten im Ausschuss für Kultur
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- und Medien auf erschreckende Weise deutlich gemacht,
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 17/768 zu der Neununddreißigsten Ver- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Dass
ordnung der Bundesregierung zur Durchführung des ein Nothilfefonds völliger Unsinn ist!)
Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss emp- wie bedroht Bibliotheken, Museen, Musikschulen, Or-
fiehlt, der Verordnung auf Drucksache 17/508 zuzustim- chester und Theater sind und dass Tausende Arbeits-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer plätze in diesem Bereich bereits abgebaut wurden und
ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- weitere Tausend zur Disposition stehen. Für die CDU/
lung ist damit angenommen mit den Stimmen der Koali- CSU beschwört die Linke hier ein Schreckensszenario. (D)
(B)
tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Aber dieses Schreckensszenario ist leider Wirklichkeit,
Linke und Enthaltung der Fraktion der SPD und der in Groß- und Kleinstädten, in Ost und West. Die Exper-
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ten haben dies gestern im Ausschuss genauso beschrie-
ben und bestätigt.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zu-
satzpunkt 4 auf: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Im
Gegenteil! Sie haben nicht zugehört!)
14 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Für uns Linke gehört die Kultur zur Daseinsvorsorge.
Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei der LINKEN)
Da diese Daseinsvorsorge bedroht ist, fordern wir Ab-
„Soforthilfeprogramm Kultur“ zum Erhalt
hilfe, und zwar schnell und der Notsituation angemes-
der kulturellen Infrastruktur einrichten
sen.
– Drucksache 17/552 –
(Beifall bei der LINKEN)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f) Außergewöhnliche Umstände fordern außergewöhnli-
Finanzausschuss ches Handeln. – Damit hat die Kanzlerin die Milliarden-
Haushaltsausschuss hilfen für Banken und Unternehmen gerechtfertigt. Wa-
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes rum sollte das nicht auch Hilfe für Bibliotheken,
Krumwiede, Undine Kurth (Quedlinburg), Ekin Theater, Museen, Orchester, Musik- und Malschulen so-
Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion wie soziokulturelle Zentren rechtfertigen? Es geht dabei
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ja auch um die Zukunft unserer Kinder.

Kulturelle Infrastruktur sichern – Substanzer- (Beifall bei der LINKEN)


haltungsprogramm Kultur auflegen Der Bund hat geholfen, die Anna-Amalia-Bibliothek
– Drucksache 17/789 – nach dem Brand zu retten und wiederherzustellen. Das
ist ein nationales Kulturgut. Und die Büchereien überall
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
im Land, die schon jetzt geschlossen wurden oder bald
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie geschlossen werden? Der Bundespräsident spricht von
Haushaltsausschuss einem Bibliothekssterben. Das ist keine Erfindung der
2148 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) Linken. Sind diese vielfach bedrohten Büchereien nicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
auch ein nationales Kulturerbe, ein Erbe, das uns dazu Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Kruse für
verpflichtet, es an unsere Kinder weiterzugeben? Wir ha- die Fraktion CDU/CSU.
ben es mit einer Katastrophe zu tun, die Politiker in der
Regierung und auch im zustimmenden Parlament ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
macht und zu verantworten haben. der FDP)

(Beifall der Abg. Agnes Krumwiede [BÜND- Rüdiger Kruse (CDU/CSU):


NIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang Börnsen Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
[Bönstrup] [CDU/CSU]: Großer Unsinn!) Herren! Ich finde die Intention hinter Ihrem Antrag sehr
Die Bundesregierung und der Bundestag sind deshalb sympathisch. Es treibt Sie die Sorge um, dass die Kultur
jetzt in der Pflicht, Katastrophenschutz zu leisten. in den kommunalen Haushaltskrisen – was immer das im
Einzelnen ausgelöst hat – letztendlich den Kürzeren
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten zieht und unter die Räder kommt. Ihr Antrag, der aus
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dieser Sorge resultiert, fällt allerdings nicht in die Kate-
gorie „gut“, sondern in die Kategorie „gut gemeint“. Ich
Vom Verfassungsrechtler Professor Meyer haben wir will Ihnen auch sagen, warum.
gestern im Ausschuss gehört: Selbst wenn ein Nothilfe-
fonds des Bundes nicht verfassungskonform ist, In Ihrer Begründung nehmen Sie Köln als Beispiel für
eine Kommune oder eine Stadt, die ihren Kulturhaushalt
(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: jetzt drastisch kürzt. Es ist richtig: Köln hat seinen Kul-
Hört! Hört!) turetat um 30 Prozent gekürzt. Hamburg hat das nicht
könnte der Bund politisch tätig werden; denn wo kein getan. Ich bin ganz stolz; ich war bis Oktober letzten
Kläger, da kein Richter. Jahres haushaltspolitischer Sprecher meiner Fraktion in
der Hamburgischen Bürgerschaft. Wir haben gemein-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: schaftlich erreicht, dass unser Sparhaushalt, der wirklich
Das ist ein großartiges Verfassungsverständ- wehtut, die Kultur verschont hat. Köln hat das anders ge-
nis!) sehen. Ich teile Ihre Ansicht, dass Kultur ein sehr wichti-
ges Gut ist und nicht irgendein Luxus. Man muss aber
Er hat darauf hingewiesen, dass ein solcher Fonds nur auch sagen: Köln liegt nicht in der Diaspora, und die
noch in diesem Jahr eingerichtet werden kann. Genau Hamburger schöpfen nicht ständig Milch und Honig aus
darum geht es ja. Jetzt, in diesem Jahr, muss gerettet der Elbe. Das heißt, die Kürzung des Kulturhaushalts ist
(B) werden, was sonst zerstört wird. eine Entscheidung von Politikern, wie wir es sind, die (D)
(Beifall bei der LINKEN) die Kultur vor Ort leider als zweit- oder drittrangig anse-
hen. Das bedeutet, dass der Kampf dafür, dass Kultur
Wie ein Tsunami bricht die Sparwelle über die kultu- immer ausreichende Mittel bekommt, in jeder Kom-
rellen Einrichtungen herein. Will man den Bürgerinnen mune, in jedem Land und auch hier im Bund geführt
und Bürgern vor Ort wirklich sagen: „Wir dürfen keine werden muss.
Sandsäcke austeilen; wir dürfen keine Hilfe schicken“?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Will man es wirklich dabei belassen? Klaus Staeck, der
Präsident der Akademie der Künste, spricht davon, dass Jetzt haben Sie die Sorge, dass dieser Kampf nicht
die Politik jetzt gefordert sei, Opferschutz zu leisten. immer gewonnen wird, und Sie möchten hier gerne mit
Besser kann man es eigentlich nicht beschreiben. Mitteln des Bundes für einen begrenzten Zeitraum hel-
fend eingreifen. Das ist ein durchaus positiv gemeinter
Eine Momentaufnahme aus dem realen Schreckens- Ansatz. Aber er ist kontraproduktiv, und ich will Ihnen
szenario: Am 12. Februar erreichte mich eine Nachricht sagen, warum. Dieser Ansatz ist ungerecht; denn durch
aus dem Stadtrat von Kranichfeld in Thüringen. Zitat: ihn werden diejenigen bestraft, die nicht gekürzt haben.
Der Ort mit 3 700 Einwohnern hatte im Jahr 2009 (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Gar keine
3 000 Euro für Kultur eingestellt. Für den Haus- Ahnung!)
haltsentwurf 2010, der aufgrund der fehlenden Mit-
tel nicht ausgeglichen ist, ist dieser Betrag auf null Man löst sofort einen Reflex aus – da sind alle Haushäl-
gesetzt worden. Wir bitten um einen Schutzschirm ter gleich –, dass man sagt: Okay, auch wir machen uns
für die Kultur. jetzt förderungsfähig; unsere Ausgaben für Kultur kann
ja der Bund übernehmen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der LINKEN: Quatsch!)
Die Fraktion Die Linke bittet Sie um Zustimmung für
ein Nothilfeprogramm als außergewöhnliche Über- – Sagen Sie doch nicht immer gleich „Quatsch!“. – Am
gangsmaßnahme, um Schaden von unserem Land abzu- Ende ist es doch folgendermaßen: Selbst substituierte
wenden. Mittel in Höhe von 1 Milliarde Euro sind irgendwann
aufgebraucht. Was geschieht dann in den Kommunen?
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Glauben Sie denn im Ernst, dass Kultur bei einer Erho-
Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung der Kommunalfinanzen in gleicher Weise finanziert
NEN]) wird?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2149
Rüdiger Kruse
(A) (Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Steuerpolitik führt dazu, dass die Einnahmen der (C)
Das ist doch eine Nothilfe!) Kommunen noch stärker zurückgehen als ohnehin schon
durch die Finanzkrise verursacht. So hat das sogenannte
Es wird folgendermaßen sein: Das örtliche Theater wird Wachstumsbeschleunigungsgesetz mindestens 1,6 Milliar-
dann mit der Begründung geschlossen, dass die Bundes- den Euro Einnahmeausfälle pro Jahr für die Kommunen
mittel nicht mehr vorhanden sind. zur Folge.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das ist doch wie eine Notbeatmung!) Im Augenblick noch nicht!)
Ich will gar nicht auf die Idee „Wo kein Kläger, da Martin Roth, Generaldirektor der Staatlichen Kunst-
kein Richter, daher kein Verfassungsverstoß“ eingehen. sammlungen Dresden, fasste die Folgen der Krise und
Man muss doch auch sehen: Es gibt viele sehr gute Ini- Ihrer Politik vorgestern in der Akademie der Künste in
tiativen des Bundes, zum Beispiel das Sonderprogramm einem bitteren Bonmot zusammen: Diesmal ist die Krise
Denkmalschutz. Mit 40 Millionen Euro Bundesgeldern so schlimm, dass nicht mehr nur die Kultur betroffen ist.
wurden Investitionen in Höhe von insgesamt 80 Millio- Schwimmbäder müssen geschlossen werden, Jugend-
nen Euro ausgelöst. Das ist ein sehr vernünftiges Pro- klubs und andere soziale Einrichtungen sind gefährdet.
gramm, das den Kommunen hilft. Kurz: Viele öffentliche Güter stehen auf dem Spiel.
Was wir tun müssen, ist – die Bundesregierung hat es Aber die Kultur – das wissen wir doch – ist mit einem
aufgegriffen –, tatsächlich an die Wurzel des Übels und Anteil von circa 1,8 Prozent an den öffentlichen Haushal-
nicht an die Gemeindefinanzierung zu gehen. Es gibt seit ten einer der schwächsten Bereiche. Gerade die
gestern eine Gemeindefinanzkommission, die den ge- Schwächsten treffen die Einsparungen am härtesten.
samten Bereich regeln soll. Auch das ist keine neue Erfahrung. Nordrhein-Westfalen
zum Beispiel trifft die Finanzkrise besonders hart, weil
(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wenn hier die Kulturfinanzierung zu 80 Prozent durch die Kom-
ich nicht mehr weiter weiß, gründ’ ich einen munen erfolgt, während im gesamtdeutschen Durch-
Arbeitskreis!) schnitt der kommunale Anteil bei 43 Prozent liegt.
Ihr ist die Kulturfinanzierung ausdrücklich ins Arbeits- Die Hiobsbotschaften aus dem Kulturbereich reißen
buch geschrieben worden. nicht ab. Egal ob Theater, Orchester, Bibliotheken oder
Musikschulen in Nord-, Ost-, West- oder Süddeutsch-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) land – überall wird massiv gekürzt, gestrichen und ge-
spart. Prominentes Beispiel dieser Sparpolitik ist das
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass wir hier nicht ak-
(B) tionistisches Strohfeuer brauchen, sondern jeder von uns Wuppertaler Schauspielhaus, das kurz vor dem Aus (D)
steht, sollten die geplanten Kürzungen umgesetzt wer-
– das entspricht auch der föderalen Verfassung unserer den. Beim Schleswig-Holsteinischen Landestheater soll
Republik – an seiner Stelle für dieses wertvolle Gut Kul- so stark gespart werden, dass das in Flensburg ansässige
tur kämpfen muss, wir also hier im Deutschen Bundes- Musiktheater, Kollege Börnsen, massiv gefährdet ist.
tag. Das werden wir auch tun. Aus Dessau höre ich gerade, dass das dortige Theater ge-
Herzlichen Dank. fährdet ist. Auch die geplante, glücklicherweise aber ab-
gewendete Fusion zweier Orchester in Berlin war durch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Einsparpläne motiviert.
Das alles – wir wissen es doch – ist nur die Spitze des
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Eisbergs. Bevor eine Stadt ein Theater schließt, sind
Herr Kollege Kruse, das war Ihre erste Rede in die- viele kleinere Projekte längst weggebrochen. Darauf hat
sem Hause. Ich gratuliere sehr herzlich und wünsche Ih- Olaf Zimmermann vom Deutschen Kulturrat gestern bei
nen für Ihre weitere Arbeit alles Gute. der Anhörung zur Lage der öffentlichen Kulturfinanzie-
rung im Kulturausschuss hingewiesen. Aber gerade
(Beifall) diese vielen kleinen Projekte machen die kulturelle Viel-
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Thierse falt in Deutschland aus. Sind diese erst einmal wegge-
für die SPD-Fraktion. brochen, lassen sie sich später schwerlich wiederbele-
ben.
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Wenn wir heute über den Vorschlag eines Kulturhilfe- LINKEN)
fonds debattieren, reden wir nicht nur über Maßnahmen Die Süddeutsche Zeitung vom 19. Februar fasst die Lage
gegen die Auswirkungen der internationalen Finanz- treffend zusammen:
krise, sondern auch und gerade über die Folgen der un-
verantwortlichen Steuerpolitik der schwarz-gelben Bun- Bisher ist die kulturelle Landschaft der Bundes-
desregierung. republik weltweit einmalig.
– Wir sind zu Recht darauf stolz. –
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das dürfte, wenn die Entwicklung so weitergeht, in
LINKEN) zwei Jahren Geschichte sein.
2150 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) Zum Glück haben viele Kultureinrichtungen großen die Kommission sprechen, sondern über deren Versteti- (C)
Rückhalt in der Bevölkerung, und Einsparungen werden gung; das ist der Punkt.
nicht protestlos hingenommen. Morgen gibt es in Kiel
vor dem Landtag eine Demonstration, bei der 25 000 (Beifall bei der SPD – Michael Frieser [CDU/
Unterschriften für den Erhalt des Landesmusiktheaters CSU]: Darüber sollte man einmal reden dür-
übergeben werden. In Berlin haben Staatsminister Bernd fen!)
Neumann und Klaus Wowereit von der Fusion zweier – Ja. – Eine grundsätzliche Diskussion über die Finanz-
Orchester Abstand genommen, nachdem innerhalb von verfassung ist dringend erforderlich. Sie wird aber – wir
nur drei Tagen Tausende Unterschriften gesammelt wur- wissen es – einige Zeit in Anspruch nehmen.
den. In meinem Wahlkreis sollte eine Stadtteilbibliothek
geschlossen werden. Dagegen hat sich massiver Bürger- Deshalb müssen wir doch darüber reden, was kurz-
protest erhoben. fristig zu tun ist. Es bleibt dabei: Um eine Katastrophe
zu verhindern, brauchen wir eine schnelle Verbesserung
Was auf dem Spiel steht, hat der eben schon erwähnte der kommunalen Finanzen. Daher fordern wir Sozialde-
Klaus Staeck an einem Beispiel erläutert: In Anklam, mokraten einen Rettungsschirm für die Kommunen ins-
Mecklenburg-Vorpommern, wird die Bibliothek ge- gesamt. Wir wollen nicht einzelne Politikfelder heraus-
schlossen; parallel entsteht eine sogenannte nationale Bi- picken und den Kommunen vorschreiben, wie sie ihre
bliothek der Rechtsextremisten. Das beschreibt die Ge- Mittel verwenden sollen, gewissermaßen das alte, immer
fährlichkeit der Situation, in der wir uns befinden. problematische Spiel „Soziales gegen Kultur, Kultur ge-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem gen Soziales“. Wir wissen, wer meistens verliert. Die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Kommunen müssen selbst in die Lage versetzt werden,
Frieser [CDU/CSU]: Jetzt einmal langsam! über ihre Prioritäten zu entscheiden.
Das ist schon heftig!) Kurzfristig soll der von uns vorgeschlagene Rettungs-
Der Bund ist in der Pflicht, zu helfen, weil er eben ei- schirm folgende Forderungen erfüllen: Erstens. Die Ein-
nen Teil der Finanzkrise selbst verursacht hat. Der vom nahmeausfälle durch das sogenannte Wachstumsbe-
Deutschen Kulturrat vorgeschlagene Kulturnothilfe- schleunigungsgesetz in Höhe von 1,6 Milliarden Euro
fonds, den die Linken in ihrem Antrag aufgegriffen ha- müssen vom Bund vollständig ausgeglichen werden.
ben, und das „Soforthilfeprogramm Kultur“ der Grünen (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
sind ernsthaft zu diskutierende, verständliche Vor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schläge, die der Dramatik der Situation geschuldet sind.
In der gestrigen Anhörung des Kulturausschusses aller- Zweitens. Der Bund soll seinen Anteil an den Kosten
(B) dings gab es gewichtige Argumente dagegen. Von meh- der Unterkunft befristet für zwei Jahre um 3 Prozent (D)
reren Experten wurde eingewendet, dass ein solcher steigern. Das wäre eine wesentliche Entlastung der
Nothilfefonds nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Kommunen und läge auch im Interesse der Kultur. In
Auch die kommunale Selbstverwaltung ist ein so hohes Zukunft müssen jegliche Steuersenkungspläne zulasten
Gut, dass wir sie immer respektieren sollten. Vor allem der Kommunen unterbleiben.
aber – das scheint mir der entscheidende Gesichtspunkt
Diese kurzfristigen Maßnahmen, liebe Kolleginnen
zu sein – sichern Notmaßnahmen nicht die dauerhafte
und Kollegen, müssen durch mittel- und langfristige
Finanzierung und lösen keine strukturellen Probleme.
Maßnahmen ergänzt werden. Wir müssen prinzipiell und
All das sind ernsthafte Einwände.
grundsätzlich die Kommunen wieder in die Lage verset-
Was also ist zu tun? Klaus Hebborn vom Deutschen zen, ihren Aufgaben nachzukommen. Kommunen brau-
Städtetag hat es gestern bei der Anhörung auf den Punkt chen solide Finanzen, gerade im Interesse der Kultur.
gebracht: „Wer etwas für die Kultur tun will, muss etwas Dafür machen wir Sozialdemokraten uns stark.
für die kommunalen Finanzen tun.“
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Das ist die Hauptaufgabe. Dieser Hauptaufgabe müssen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
sich Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam widmen. Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann
Die gesamte Finanzverfassung in Deutschland gehört auf für die FDP-Fraktion.
den Prüfstand. Deshalb begrüße ich durchaus den gestri-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gen Beschluss des Bundeskabinetts, eine entsprechende
Kommission einzusetzen. Ich hoffe sehr, dass mit diesem
Beschluss auch die Einsicht verbunden ist, dass die aben- Reiner Deutschmann (FDP):
teuerliche Steuersenkungspolitik, die massiven, nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
wiedergutzumachenden Schaden in Deutschland anrich- Kolleginnen und Kollegen! Bereits im letzten Frühjahr
tet, beendet wird. Gerade für den Bereich Kultur ist sie so führte der Kultur- und Medienausschuss des Deutschen
gefährlich. Besonders riskant ist der Vorschlag, die Ge- Bundestages ein Expertengespräch über die „Folgen der
werbesteuer abzuschaffen. Auch das wurde gestern aus- Wirtschafts- und Finanzkrise für die Kultur in Deutsch-
drücklich betont. Das wäre eine Katastrophe für die land“ durch. Der damalige Ausschussvorsitzende Hans-
Kommunen, warnte der eben erwähnte Klaus Hebborn. Joachim Otto hatte zusammenfassend festgestellt, dass
Nicht über die Streichung dieser Gemeindesteuer sollte sich der Kultursektor angesichts der zu erwartenden har-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2151
Reiner Deutschmann
(A) ten Einschnitte in den nächsten Jahren „sturmfest ma- Aus meiner eigenen Erfahrung als Kommunalpolitiker (C)
chen“ müsse. weiß ich, dass viele Kommunen bei der Aufstellung der
Haushalte in den vergangenen Jahren durchaus Spiel-
In vielen Kommunen ist der Sturm inzwischen ange-
räume hatten. Im Zeitraum von 2003 bis 2008 sind die
kommen; die kommunalen Kassen sind leer. Die Käm-
Steuereinnahmen der Kommunen um mehr als 50 Pro-
merer setzen gerade in den Städten und Gemeinden den
zent, nämlich um 25 Milliarden Euro, gestiegen.
Rotstift besonders hart an der Kultur an, die schon vor
der Krise aufgrund struktureller Defizite Probleme bei (Beifall bei der FDP)
der Aufstellung ihrer Haushalte hatten.
Dies hätte Spielräume für die Rückzahlung von
Die Experten des gestrigen Gesprächs im Kultur- und Schulden oder für die Finanzierung von Kulturausgaben
Medienausschuss zur Lage der öffentlichen Kulturfinan- eröffnet, könnte man meinen. Die Kulturausgaben haben
zierung waren sich einig: Ein Kahlschlag im Kulturbe- aber laut aktuellem Kulturfinanzbericht nur in geringem
reich muss unter allen Umständen vermieden werden. Maße von diesem Geldsegen etwas abbekommen. In zu
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vielen Kommunen gehört die Kulturförderung leider
nicht zu den Prioritäten. Oft wurden überzogene Infra-
Die Frage ist, wie wir diesen Kahlschlag vermeiden kön- strukturmaßnahmen umgesetzt, statt strukturelle Defizite
nen. abzubauen und effiziente Strukturen aufzubauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kulturrat NRW (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wer ist in
forderte die Landesregierung in Düsseldorf schon im den Kommunen in Sachsen? Die CDU!)
Dezember letzten Jahres auf, den eigenen Kulturhaushalt
stabil zu halten und die Kommunen nach dem Vorbild – Da sieht es gut aus; dazu komme ich gleich.
anderer Bundesländer durch höhere Landeszuweisungen
im Bereich der Kulturförderung zu entlasten. Gefordert Jede Kommune muss und soll natürlich für sich selbst
wurde ein zweckgebundener Zuschuss für die Kultur- entscheiden. Ich bin aber der festen Überzeugung, dass
haushalte der Kommunen durch das Land Nordrhein- sich die Vernachlässigung der Kultur durch eine ver-
Westfalen. Damit spricht der Kulturrat NRW etwas aus, fehlte Prioritätensetzung gerade auf die kulturelle Bil-
was eigentlich für alle ganz selbstverständlich sein dung unserer Bürger negativ auswirken wird, dies insbe-
sollte: Die Kulturhoheit liegt laut Grundgesetz bei den sondere bei Kindern und Jugendlichen.
Ländern. Darum müssen die Länder darauf achten, dass Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Antrag
die Kommunen finanziell nicht ausbluten. der Grünen geht in Punkt II in die richtige Richtung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deut- Hier ist die Bundesregierung gestern bereits aktiv ge-
(B)
sche Kulturrat fordert nun von der Bundesebene die Ein- worden. Mit der Einsetzung der Kommission zur Re- (D)
richtung eines Nothilfefonds zur Rettung der Kulturetats form der Gemeindefinanzen hat sie einen ersten guten
der Kommunen. Die Linke unterstützt diesen Vorschlag, Schritt zur Sicherung der Finanzen getan.
indem sie 1 Milliarde Euro für diesen Fonds zur Verfü- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gung stellen möchte. 1 Milliarde Euro, so hoch ist fast
der gesamte Kulturetat des Kulturstaatsministers. Damit wird auch der Kulturförderung geholfen. Die
Kommunen benötigen verlässliche, konjunkturunabhän-
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Ja
gige Einnahmequellen, um ihre kommunale Selbstver-
und?)
waltung überhaupt noch ausüben zu können.
Im Übrigen investiert der BKM in über 80 Fällen mit-
hilfe des Konjunkturpakets II noch weitere 100 Millio- Aus eigener Erfahrung kann ich den Verantwortlichen
nen Euro in die kulturelle Infrastruktur. Auch aus dem in den Bundesländern nur empfehlen, sich das Sächsi-
10-Milliarden-Euro-Programm des Bundes für Zu- sche Kulturraumgesetz zu eigen zu machen, um die Kul-
kunftsinvestitionen in Ländern und Kommunen wird die turfinanzierung auf solide Füße zu stellen. Kein anderes
kulturelle Infrastruktur gefördert. Land gibt pro Kopf mehr für die Förderung der Kultur
aus als Sachsen. Das Kulturraumgesetz lebt von einer
Meine sehr verehrten Damen und Herren, so verlo- Sockelfinanzierung des Freistaates und dem Solidarge-
ckend die Auflegung eines Nothilfefonds scheinbar ist, danken der kommunalen Ebene.
das gestrige Expertengespräch mit den Betroffenen hat
unsere Meinung bestätigt, dass der Bund ein solches Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland be-
Hilfspaket allein schon aus verfassungsrechtlichen Grün- greift sich als Kulturnation. Wir brauchen endlich eine
den gar nicht auflegen darf. planungssichere Grundlage für die Kulturfinanzierung.
Deswegen dürfen wir uns nicht damit abfinden, dass die
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kultur als sogenannte freiwillige Aufgabe immer das
der CDU/CSU) erste Opfer von Konjunkturkrisen sein soll.
Der Bund ist schlicht und ergreifend nicht zuständig. (Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das
Kein Experte hat gestern Gegenteiliges behauptet. ist eine vernünftige Forderung, ja!)
(Herbert Behrens [DIE LINKE]: Aber der
Neben der Neustrukturierung der Gemeindefinanzen
Bund ist verantwortlich!)
muss die Kultur flächendeckend in allen Bundesländern
– Das steht wohl infrage. zur Pflichtaufgabe gemacht werden. Auch deshalb ist die
2152 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Reiner Deutschmann
(A) Verantwortung des Staatsziels Kultur im Grundgesetz geschlossenes Programmkino oder ein fehlendes sozio- (C)
längst überfällig. kulturelles Zentrum bedeuten weniger Bildung, weniger
Information und einen Verlust an sozialer und kultureller
Vielen Dank. Teilhabe. Das Schlimme ist: Betroffen sind vor allem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) jene, die sowieso schon zu den Verlierern der Krise zäh-
len.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Aber nicht nur sie sind die Leidtragenden. Es wird
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun gravierende Einschnitte geben an den Gehältern und bei
die Kollegin Agnes Krumwiede. den festen Stellen für Orchestermusiker oder Schauspie-
ler, die zum Großteil bereits jetzt im Niedriglohnsektor
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): arbeiten. Bestehende kulturelle Strukturen zu bewahren,
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und heißt immer auch, Arbeitsplätze zu erhalten.
Kollegen! Geld fließt in unserem System immer dorthin, Unser Vorschlag, die Prüfung eines KfW-Sonderpro-
wo der schnellste Profit erwartet wird: in Unternehmen gramms Kulturförderung, könnte eine Symptomkur für
und in Banken. Nicht erst seit der Finanz- und Wirt- unser erkranktes System bedeuten.
schaftskrise ist dieses Prinzip ins Wanken geraten. Ich
frage mich: Wie ökonomisch ist eigentlich ein mensch-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
liches Leben? Was erwirtschaftet eine Bibliothek? Keine
messbaren Werte. Aber die Werte, die von einer Speku- Frau Kollegin, die Kollegin Heinen-Esser würde
lationsblase zerstört werden, sind messbar. gerne eine Zwischenfrage stellen.

Wie gehen wir in Zukunft also mit dem Geld um? Set- Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zen wir weiterhin ausschließlich auf alte Strukturen oder Ja.
endlich auf eine nachhaltige Zukunft unter anderen, ganz
neuen Vorzeichen? Der Deutschlandfonds stellt Milliar-
den als Überbrückung für mittelständische Unternehmen Ursula Heinen-Esser (CDU/CSU):
zur Verfügung, die aufgrund der Finanz- und Wirt- Verehrte Frau Kollegin, ich danke Ihnen für das Köl-
schaftskrise in ihrer Existenz bedroht sind. Eine Biblio- ner Beispiel, das Sie erwähnt haben. Ein kurzer Hinweis,
thek oder ein kleines Theater können nicht ohne Weite- bevor ich zur Frage komme: Es ist noch nicht entschie-
res ihre Wirtschaftlichkeit nachweisen, haben aber eine den, ob das Schauspielhaus neu gebaut oder saniert wird.
ebenso große Bedeutung für die Infrastruktur einer Das wird erst in den nächsten Wochen entschieden, es
macht kostenmäßig auch keinen großen Unterschied. Es
(B) Stadt. (D)
ist allerdings notwendig, damit das Gebäude überhaupt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weiterhin bespielbar ist.
Für Hotelübernachtungen wurde die Mehrwertsteuer Sie haben die 30-prozentige Kürzung der Kulturaus-
verringert, aber die Gäste werden ausbleiben, wenn gaben in Köln kritisiert. Meine Frage ist: Ist Ihnen be-
nichts mehr da ist, weshalb sich eine Reise lohnt. Unsere wusst, dass diese Kürzung eine Entscheidung des rot-
tagsüber hübsch anzusehenden Städte werden abends tot grün dominierten Stadtrates in Köln ist?
sein, weil keine Kleinkunstbühne, kein Programmkino,
kein Theater oder Festival am Leben erhalten werden (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
konnten. Billigere Hotelübernachtungen allein erhöhen
nicht die Attraktivität einer Stadt als Wirtschaftsstandort. Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja, das ändert nichts an meiner grundsätzlichen Kri-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tik.
und der SPD)
(Michael Frieser [CDU/CSU]: Aber an Ihrer
Am Neubau von kulturellen Eliteobjekten mangelt es Mitgliedschaft bei den Grünen vielleicht!)
in Deutschland nicht. In Köln soll für 360 Millionen
Euro ein neues Schauspielhaus gebaut werden, während Ich bin in erster Linie Kulturpolitikerin, deswegen habe
im gleichen Atemzug der Kulturetat um 30 Prozent ge- ich das Beispiel gewählt. Es gibt viele weitere Beispiele.
strichen wurde. Die Frage ist doch: Was passiert, nach- Beispielsweise soll das Pergamonmuseum in Berlin für
dem Prominente und Politiker die neu aus dem Boden 400 Millionen Euro erweitert werden.
gestampften Kulturstätten medienwirksam eingeweiht
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber das passiert
haben? Denn der finanzielle Aufwand, diese Bauhüllen
doch unter Rot-Rot!)
der Kultur am Leben zu erhalten, ist ungleich höher als
die Baukosten. Ein Theater ohne Ensemble ist nur eine – Ja und? Aber nicht unter Grün.
leere Hülle.
(Heiterkeit – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, GRÜNEN)
bei der SPD und der LINKEN)
Es gibt unendlich viele Beispiele dafür, dass in Deutsch-
Prunkbauten werden das Kultursterben nicht kaschie- land Millionen in Gebäude investiert werden, bei denen
ren können und auch nicht Ihr Leugnen der Realität, kein Mensch weiß, wovon sie eigentlich bespielt werden
Herr Kruse. Kein Bücherbus in ländlichen Gebieten, ein sollen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2153
Agnes Krumwiede
(A) (Christoph Poland [CDU/CSU]: Wo soll nation Deutschland die drei Ebenen Bund, Länder und (C)
Nofretete denn sonst stehen?) Gemeinden ihre Aufgaben, und die kann man nur bis zu
einem gewissen Punkt vermischen.
– Die steht doch schon.
Wenn ich mir anschaue, wo die Kulturnation
Ich würde jetzt gerne mit meiner Rede fortfahren. Das
Deutschland trotz aller Schwierigkeiten im Jahr 2010
Expertengespräch gestern im Kulturausschuss hat ge-
steht, dann glaube ich – ich hoffe, dass wir uns darüber
zeigt, dass akuter Handlungsbedarf besteht. Unser Sys-
einig sind –, dass wir auf allen Ebenen in Europa und in
tem ist erkrankt. Unzählige kommunale Haushalte haben
der Welt keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Man-
keinen Finanzspielraum mehr für die Kultur und andere
ches der Bilder, die hier schnell an die Wand geworfen
Bereiche der freiwilligen Leistungen. Wenn die Regie-
wurden, ist ein ganzes Stück zu düster. Wir sollten nicht
rung nicht umgehend handelt, riskieren wir sehenden
alles kleinreden.
Auges, dass sich unsere Kulturlandschaft in ein Ruinen-
feld verwandelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir fordern die Regierung auf, unseren Vorschlag zu Auf Bundesebene erbringen wir in Form des Haushal-
prüfen und Überbrückungsmaßnahmen für die Substanz- tes des Staatsministers und in Form der auswärtigen Kul-
erhaltung kultureller Strukturen in die Tat umzusetzen. turpolitik einen nicht übergroßen, aber unseren Aufga-
Wir werden nicht aufgeben. Eine Fortsetzung unserer ben entsprechend sehr ordentlichen Beitrag. Wenn man
Forderungen und Vorschläge zur Kulturrettung folgt. sich die Bilanz der Kulturpolitik der letzten Jahre an-
Wir werden hier unermüdlich stehen und appellieren: schaut,
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Dann fangen Sie einmal in Köln an!) Die ist sehr gut!)
Geben Sie den Kommunen ihre Selbstverwaltung zu- die ein ganzes Stück weit die Bilanz der vormaligen
rück! Leiten Sie eine Reform der Gemeindefinanzierung Großen Koalition ist, stellt man fest, dass sich diese Bi-
ein! lanz sehen lassen kann,
(Christoph Poland [CDU/CSU]: Haben wir
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
doch gemacht!)
Hervorragend ist sie sogar!)
Lassen Sie nicht zu, dass unsere Kulturlandschaft ver-
ödet! Wir müssen dafür sorgen, dass für alle Menschen, und zwar sowohl für den Bereich der auswärtigen Kul-
turpolitik auf der einen Seite, aber auch für den Bereich
von jung bis alt, von gering- bis besserverdienend, in
(B) Stadt und Land unser kulturelles Erbe und Orte der Fan- von Staatsminister Bernd Neumann auf der anderen (D)
tasie erhalten bleiben. Seite. Wir verzeichnen beim Haushalt des Staatsminis-
ters seit fünf Jahren einen Aufwuchs. Das ist eine Sache,
Was wir für die Kultur tun können, ist untrennbar mit die ich nicht kleingeredet wissen möchte.
einem Bewusstsein dafür verbunden, was die Kultur
nachhaltig für uns tut. Sie rüttelt uns auf aus festgefahre- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
nen Denkstrukturen und bereichert unsere emotionale Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Erlebniswelt. Kultur befriedigt das Bedürfnis des Men- Genau! Über 10 Prozent!)
schen, dass nicht ein Tag ist wie der andere. Nun haben wir derzeit zweifellos auf allen Ebenen
Vielen Dank. eine sehr schwierige Finanzierungssituation. Diese Si-
tuation ist nicht allein in Deutschland schwierig, sondern
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sie ist in Europa und der ganzen Welt schwierig. Das hat
Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun.
Das gilt auch für Köln!)
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Das ist der Kern!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Marco Wanderwitz Bei allem Verständnis dafür, dass die Opposition das
für die CDU/CSU-Fraktion. Wachstumsbeschleunigungsgesetz hier anführt, ist anzu-
merken, dass die Ausgaben mit den Auswirkungen des
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wachstumsbeschleunigungsgesetzes im Verhältnis ste-
hen, da mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz auch
Marco Wanderwitz (CDU/CSU): eine Wachstumsbeschleunigung und damit wiederum
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einnahmevorstellungen verbunden sind.
Der Ausschuss für Kultur und Medien hat zu diesem
Themenkreis gestern ein Expertengespräch durchge- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: „Vor-
führt, in dem natürlich auch die Forderungen, die heute stellungen“!)
hier als Anträge auf dem Tisch liegen, eine Rolle ge- Da steht so viel gegen so viel. Nur damit wir die Größen-
spielt haben. Das haben wir nicht das erste Mal getan. ordnung kennen: Da steht gut 1 Milliarde einem zwei-
Als Kulturpolitiker des Bundes beschäftigen wir uns na- stelligen Milliardenbetrag auf allen Ebenen gegenüber.
türlich regelmäßig mit der Länderebene und der kommu-
nalen Ebene. Trotz alledem haben in unserer Kultur- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
2154 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Marco Wanderwitz
(A) Die Antwort des Bundes, die Antwort der christlich- Insofern bleibt aus der heutigen Debatte nichts ande- (C)
liberalen Koalition in der Kulturpolitik ist relativ ein- res übrig als die Forderung: Irgendwie möchten wir ir-
fach. Man kann sie im Koalitionsvertrag nachlesen und gendetwas doch ganz gerne. Glauben Sie uns – man
findet sie in der aktuellen Haushaltsdebatte. Sie lautet: kann nicht oft genug darauf hinweisen –: Einer Nach-
Der Bund wird seine Ausgaben für Kultur nicht kürzen, hilfe in Hilfestellung und Hilfeleistung bedarf es nicht.
sondern wiederum erhöhen. Wenn wir die letzten Programme kurz betrachten, sehen
wir, dass Mittel aus dem Konjunkturpaket I und dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Konjunkturpaket II direkt in kulturelle Baulichkeiten, in
Kollege Kruse hat, weil er Hamburger ist, das Bei- kulturelle Infrastruktur geflossen sind. Das hat deutlich
spiel Hamburg angesprochen. Kollege Deutschmann gezeigt, dass es funktionieren kann und dass der Bund
kommt wie ich aus Sachsen und hat das sächsische Bei- tätige Hilfe vor Ort leistet, ohne verfassungswidrig han-
spiel angesprochen. Die Lage ist viel differenzierter, als deln zu müssen, so wie Sie es fordern.
sie hier gezeichnet wird. Sie hat natürlich – das hat (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Rüdiger Kruse schon angesprochen – auch immer etwas
mit den Menschen zu tun, die in den Ländern und Kom- Beim Zukunftsinvestitionsprogramm für Länder und
munen politische Verantwortung tragen. Kommunen hat der Bund verfassungsgemäß direkt in die
Infrastruktur vor Ort investiert.
(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
Vielleicht noch ein persönliches Wort zur Kulturstif-
Die Haushalte sind teilweise durchaus vergleichbar; tung des Bundes, für die man nicht dankbar genug sein
nicht in jedem Falle, aber es gibt vergleichbare Haus- kann: Allein in Bayern – mein Geburtsort ist Nürnberg;
halte. Politiker in Stadt A oder in Land B treffen unter- Frau Krumwiede, Sie wissen, wovon ich rede; vielleicht
schiedliche Entscheidungen. Jeder ist ein Stück weit für lassen Sie mich einen Satz zum Thema Nürnberg sagen –
die Entscheidungen, die er trifft, verantwortlich. hat man seit 2002 durch die Hilfe des Bundes
Wir haben hier jetzt konkrete Forderungen auf der Ta- 8 Millionen Euro direkt in 70 Projekte vor Ort investiert.
gesordnung. Ich will nur noch einige wenige Sätze dazu Strukturwandel ist dabei ein Stichwort. Sie kennen das
vielleicht: AEG-Gelände, Aufgabe „struktureller Wan-
sagen; ich habe gerade einen Blick auf meine verblei-
del“. Es war eine Initiative des Bundes, dort ein Theater-
bende Redezeit geworfen, Frau Präsidentin. Die Verfas-
projekt vor Ort zu unterstützen.
sungsrechtler sagen uns einhellig: Das, was die Linken
hier vorgelegt haben, ist verfassungswidrig. Es geht, wenn es richtig gemacht wird, und der Bund
tut es auch. An dieser Stelle zu sagen, der Bund müsse
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
jetzt aktive Hilfe vor Ort leisten, kommt leider etwas zu
(B) Ich sage ganz offen: Auch Sie sind Teil dieses obersten spät und ist aus meiner Sicht ein Fingerzeig in die fal- (D)
Verfassungsorgans Deutscher Bundestag. Da erwarte ich sche Richtung. Deshalb kann ich nur sagen: Kämpfen
etwas mehr Verantwortungsbewusstsein, etwas mehr se- Sie mit uns gemeinsam, diese Projekte weiterhin zu un-
riöse Politik. Legen Sie wenigstens den Grundgesetzän- terstützen. Dann gehen wir in die richtige Richtung.
derungsantrag gleich daneben, damit es seriös wird. Ich möchte nicht in die jeweilige Vita schauen, um zu
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- sehen, wie viel kommunalpolitische Erfahrung hier
derspruch bei der LINKEN) wirklich gegeben ist. Ich war – ich darf das betonen –
13 Jahre kulturpolitischer Sprecher meiner Fraktion im
So ist es jedenfalls nicht seriös. Sie stellen politische Nürnberger Stadtrat. Ich glaube, zu wissen, wie schwie-
Forderungen auf, die – das sagt die erklärte Mehrheit der rig es manchmal ist, Kulturpolitik vor Ort zu organisie-
Verfassungsrechtler – verfassungswidrig sind. ren. Der Gürtel der Kommunen ist extrem eng. Sie geben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sogar Zeichen in die Richtung: Wenn der Bund einen
Rettungsschirm zur Verfügung stellt, dann kann sich die
Kommune auf andere Institutionen und andere Einrich-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tungen stützen.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion. Die Aufforderung, die Ausgaben und Investitionen et-
was zurückzuziehen, ist ein sehr gefährliches Vorhaben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Kollegin Krumwiede, tun Sie mir einen Gefallen.
Ich bitte Sie im Interesse der Kommunen und der Städte
Michael Frieser (CDU/CSU): in Deutschland, die Tempel unserer Kultur und die Thea-
Frau Präsidentin! Werte Kollegen! Wir sind – so ter nicht als Bauhüllen zu bezeichnen.
würde ich es beschreiben – in der chemischen Unterab- (Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
teilung des Projektes „Jugend forscht“: Wie viel heiße NEN]: Ich habe von Neubauten gesprochen!
Luft passt gepresst in zwei Seiten Antrag? Das Ganze Weil dafür Geld da ist! – Wolfgang Börnsen
formulieren wir so, dass es möglichst emotional und be- [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sie meinte das rot-
troffen klingt. Ich will Sie in Ihrer Betroffenheit gerne grüne Projekt in Köln!)
unterstützen. Aber nach der gestrigen Anhörung wäre zu
erwarten gewesen – Kollege Wanderwitz hat das richtig Das ist genau der Ausgang der ideologischen Konfronta-
betont –, dass dieser Antrag zurückgezogen wird. tion, die wir hier nicht brauchen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2155
Michael Frieser
(A) Ich möchte generell sagen: Ich bitte Sie, das nicht zu Zweitens. Die Umstrukturierungsbeihilfen sowie Ro- (C)
machen. Denn damit tun Sie auch anderen Einrichtungen dungsprämien im Weinsektor werden in den Anwen-
keinen Gefallen, sondern erweisen der Kultur insgesamt dungsbereich des Direktzahlungen-Verpflichtungenge-
einen Bärendienst. setzes einbezogen.
(Agnes Krumwiede [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Drittens. Nach EU-Recht ist vorgeschrieben, dass der
NEN]: Ich weiß nicht, ob Sie so viel von Kul- Anteil von Dauergrünland an der gesamten landwirt-
tur verstehen wie ich!) schaftlichen Nutzfläche nicht erheblich abnehmen darf.
Ich glaube, es ist entscheidend, dass wir einbinden, Was ist nun das Wesentliche an der Neuregelung? Be-
Brücken bauen und darauf achten, Private mitzunehmen, sonders wichtig ist die Botschaft, dass für die Beteiligten
damit die kulturelle Struktur vor Ort erhalten bleibt. Was Vereinfachungen und neue Perspektiven anstelle von
wir nicht brauchen, ist der Hinweis darauf, dass wir die neuen Belastungen entstehen. Wir erreichen eine Konti-
Kulturpolitik in den Kommunen mit wie auch immer ge- nuität des Gesetzes. Wie versprochen werden die EU-
arteten Forderungen vor eine Zwangsverwaltung stellen. Vorgaben eins zu eins umgesetzt. Im Hinblick auf die ge-
meinsame Agrarpolitik nach 2013 setzen wir mit der Zu-
Vielen Dank. stimmung zum Gesetzentwurf ein deutliches, positives
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zeichen für die anstehenden Verhandlungen.
Lassen Sie mich das kurz erläutern: Direktzahlungs-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: verpflichtungen in Verbindung mit Cross Compliance
Ich schließe die Aussprache. bieten für den Staat ein Steuerungsinstrument für die
Landwirtschaft. Dies ist im Hinblick auf die elementaren
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Herausforderungen der Zukunft ganz besonders wertvoll
Drucksache 17/552 und 17/789 an die in der Tagesord-
und wichtig.
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sind die Überweisungen so beschlossen.
Das heißt, die Landwirtschaft muss auch zukünftig die
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Ernährung mit sicheren, qualitativ hochwertigen und ge-
sunden Lebensmitteln gewährleisten können.
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtun- neten der FDP)
gengesetzes
(B) Die Landwirtschaft pflegt nach den Vorgaben von Cross (D)
– Drucksache 17/758 – Compliance unsere allseits geliebte, vielfältige Kultur-
Überweisungsvorschlag: landschaft. Dies ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Öko-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nomie der ländlichen Räume und ein wichtiger Beitrag
Verbraucherschutz (f) zur Ressourcenschonung, auch mit Blick auf die erneu-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit erbaren Energien.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre neten der FDP)
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfah-
ren. Genauso wichtig wie der Erhalt von Direktzahlungen
und Cross Compliance ist für uns der Bürokratieabbau.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Auch wenn in der vergangenen Wahlperiode erste Er-
Kollege Alois Gerig für die CDU/CSU-Fraktion das folge bei der Entbürokratisierung in diesem Bereich er-
Wort. zielt wurden, zum Beispiel die Einführung praxisnaher
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bagatellregelungen, bleibt es ein ständiger Auftrag für
die Politik, weitere Vereinfachungen zu erreichen.
Alois Gerig (CDU/CSU): Ein Pferdefuß des bestehenden Gesetzes ist zum Bei-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten spiel die Regelung zum Erosionsschutzkataster, nicht
Damen und Herren! Bei oberflächlicher Betrachtung kann nur weil die Wogen – wohl nicht zu Unrecht – derzeit
man zu der Meinung kommen, dass die Änderung des Di- hochgehen, sondern weil das richtige Maß in der Tat
rektzahlungen-Verpflichtungengesetzes nichts Spektaku- noch nicht gefunden scheint. Deshalb sollten wir dieses
läres enthält. Bei näherem Hinsehen ergeben sich jedoch Thema in den Ausschussberatungen noch einmal auf-
einige positive Aspekte, die näher zu beleuchten sind. greifen.
Das Fachliche in Kürze: Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich begrüße
es ausdrücklich, dass Frau Bundesministerin Ilse Aigner
Erstens. Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung immer wieder den Wert der Landwirtschaft für unsere
werden Teil der Cross-Compliance-Verpflichtungen. Gesellschaft betont.
Noch-nicht-Insidern will ich dieses neudeutsche Wort
erklären. Es bedeutet Überkreuzverpflichtung bzw. so (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter
viel wie: „Ich gebe dir, aber dafür musst du mir …“ Bleser [CDU/CSU]: Das macht sie gut!)
2156 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Alois Gerig
(A) Diese Botschaft muss verstärkt in die Öffentlichkeit ge- dards sind inhaltlich längst im jeweiligen deutschen (C)
tragen werden. Fachrecht geregelt. Da muss ich sagen: Meisterhaft, na-
hezu heldenhaft, wie sich diese Bundesregierung und die
(Christoph Poland [CDU/CSU]: Richtig!)
Koalitionsfraktionen hier zeigen!
Unsere Landwirtschaft erfüllt nicht zuletzt wegen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Cross Compliance hohe Standards: beim Umweltschutz, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
beim Tierschutz und bei der Lebensmittelsicherheit.
Dies wirkt sich, wie aktuell veröffentlicht wurde, bei- Die parlamentarischen Beratungen im Plenum sind
spielsweise dahin gehend aus, dass Pflanzenschutzmit- das Schaufenster des Bundestages, und ich begrüße aus-
telrückstände in Lebensmitteln bei uns trotz sehr intensi- drücklich, dass wir unsere Debatten öffentlich führen.
ver Kontrollen fast nicht mehr oder zumindest deutlich Der politisch interessierte Bürger wird sich bei solch ei-
seltener die zulässigen Höchstwerte übersteigen als in ner Debatte aber fragen: Was soll das, wenn im deut-
Nicht-EU-Ländern. schen Fachrecht im Grunde genommen alles schon gere-
gelt ist?
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Nun gut, meine Damen und Herren, beschäftigen wir
uns damit. Die Einhaltung der Genehmigungsverfahren
Direktzahlungen sind, ebenso wie die gesamte Förde- für die Verwendung von Wasser zur Bewässerung – falls
rung der Landwirtschaft, eine Honorierung der Leistung entsprechende Verfahren vorgesehen sind – ab 2010 und
für die Gesellschaft und nicht zuletzt auch eine Anerken- der Standard zur Schaffung von Pufferzonen entlang von
nung dafür, dass wir deutschen Bürger uns sehr kosten- Wasserläufen gehören nunmehr ebenfalls zur Erhaltung
günstig ernähren können. Hinzu kommt der Zugewinn landwirtschaftlicher Flächen in einem guten landwirt-
für die Ökologie, die Wirtschaftskraft und die Wert- schaftlichen und ökologischen Zustand.
schöpfung für den ländlichen Raum.
Ich sage es nicht gerne noch einmal, aber ich muss es
Wenn man bedenkt, dass die Förderung der Landwirt- sagen: Es wird deutlich, dass weder die Regierung noch
schaft in der EU im Jahr 2008 gerade einmal 0,5 Prozent die Koalition Sinn in vernünftiger Arbeit sieht.
des Bruttoinlandsprodukts betragen hat, muss doch uns
allen klar werden, dass wir gemeinsam – hier appelliere In Art. 6 Abs. 2 der EG-Verordnung heißt es:
ich besonders an die Kolleginnen und Kollegen aus den Die nicht zu den neuen Mitgliedstaaten zählenden
Oppositionsfraktionen – und möglichst geschlossen auf Mitgliedstaaten
eine Fortführung der Gemeinsamen Agrarpolitik mit Di-
rektzahlungen aus der ersten Säule und mit einer gut aus- – so auch Deutschland –
(B) gestatteten zweiten Säule hinarbeiten sollten. (D)
stellen sicher, dass Flächen, die zu dem für die Bei-
Danke schön. hilfeanträge „Flächen“ für 2003 vorgesehenen Zeit-
punkt als Dauergrünland genutzt wurden, als Dau-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peter ergrünland erhalten bleiben.
Bleser [CDU/CSU]: Eine gute Rede!)
(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
[FDP])
Herr Kollege Gerig, das war Ihre erste Rede im Deut- Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuschaue-
schen Bundestag. Ich gratuliere auch Ihnen sehr herz- rinnen und Zuschauer, hätten wir intensiven Beratungs-
lich, verbunden mit den besten Wünschen für Ihre wei- bedarf; aber den greift weder die Bundesregierung noch
tere Arbeit. die Koalition auf.
(Beifall) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber du
machst es doch jetzt!)
Nun hat die Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-
Fraktion das Wort. Am Montag dieser Woche hatten wir im Ausschuss
eine Anhörung zum Thema „Klimaschutz und Landwirt-
(Beifall bei der SPD) schaft“. Fakt ist, dass die Landwirtschaft nicht nur be-
troffen ist, sondern mit circa 128 Megatonnen – das sind
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): 13 Prozent – an den Treibhausgasemissionen beteiligt
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe ist.
Kolleginnen und Kollegen! Als dieses Gesetz in unserer
Wohl wissend, dass der Umbruch von Dauergrünland
Fraktion auf der Tagesordnung stand, sagte unser Erster
äußerst problematisch ist, gilt es, in allen Bundesländern
Parlamentarischer Geschäftsführer: Das hört sich aber
darauf zu achten, dass der Verlust von Grünland die
sehr kompliziert an. Erklär doch bitte mal! Dann habe
ich erklärt, dass es hier um die technische Umsetzung 5-Prozent-Grenze nicht überschreitet. Nach Zahlen des
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
von EU-Recht in deutsches Recht geht.
Verbraucherschutz vom November 2009 verzeichnen ak-
Ich frage mich, meine Damen und Herren, liebe Zu- tuell drei Bundesländer, nämlich Schleswig-Holstein,
schauerinnen und Zuschauer auf den Tribünen: Hat die Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern, seit
Koalition in dieser Zeit nichts Besseres zu tun, als über 2003 einen Verlust von Grünland, der deutlich über
eine technische Umsetzung zu debattieren? Die Stan- 5 Prozent liegt. Zwei weitere Länder – Rheinland-Pfalz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2157
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
(A) und Nordrhein-Westfalen – stehen knapp an der 5-Pro- wurf unter „Problem und Ziel“ steht. Lesen Sie sich (C)
zent-Grenze. Die Analyse agrarstatistischer Daten zeigt, doch einmal durch, weshalb wir das Ganze machen. Wir
dass im Zeitraum von 2005 bis 2007 allein in vier Bundes- sorgen jetzt für die technische Umsetzung, weil das der
ländern – das muss man sich einmal deutlich machen – schnellstmögliche Weg ist, EU-Gesetze in deutsches
über 6 000 Hektar Moorboden in Ackerflächen umge- Fachrecht umzusetzen. Ich glaube, das ist eine sinnvolle
wandelt wurden. Sache.
Professor Heißenhuber von der TU München, der auf (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Dann brau-
unsere Einladung hin an der Anhörung teilnahm, belegte chen wir aber nicht darüber zu reden!)
dort, dass 30 Prozent der CO2-Emissionen aus der Bewirt-
schaftung von Mooren stammen. 8 Prozent der landwirt- Nehmen Sie doch bitte auch einmal zur Kenntnis: Wir
schaftlich genutzten Fläche in Deutschland sind damit für sind jetzt nicht in der Kernzeit am Donnerstag um 9 Uhr,
sage und schreibe 30 Prozent der CO2-Emissionen der sondern es ist Donnerstagabend. Ich glaube, es ist rich-
gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche in tig, auch das Thema Landwirtschaft hier im Plenum des
Deutschland verantwortlich. Deutschen Bundestages zu diskutieren.
Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Kli- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
mawandels wäre es angemessen, wenn die Bundesregie- CDU/CSU – Dr. Kirsten Tackmann [DIE
rung und die sie tragenden Fraktionen hier einen LINKE]: Um 20 Uhr!)
Schwerpunkt setzten, indem sie dem Umbruch von
Mooren Einhalt gebieten würden und einen Fahrplan zur Denken wir doch bitte auch einmal daran: Die Hälfte
Vermeidung von Treibhausgasemissionen entwickeln der Menschen in Deutschland lebt in ländlichen Räumen
würden, um die Landwirtschaft aus der Kritik zu bekom- oder in kleineren Städten. Diese Menschen brauchen die
men und den Bauern in diesen Gebieten Möglichkeiten Aufmerksamkeit des Deutschen Bundestages ganz ge-
zur weiteren Arbeit zu eröffnen. Stattdessen spricht sie nauso wie die Menschen, die in größeren Städten leben.
über die technische Umsetzung von EU-Recht in deut- (Beifall bei der FDP – Dr. Kirsten Tackmann
sches Recht. [DIE LINKE]: Eben! Und keine technische
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Umsetzung!)
DIE GRÜNEN) Deswegen ist es richtig, dass wir einen solchen Gesetz-
Meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, entwurf zügig verabschieden und dass wir ihn auch im
ich bitte Sie: Glauben Sie doch nicht, dass Sie mit dem Deutschen Bundestag debattieren. Ich glaube, das ist ein
richtiger Weg.
(B) Sieg bei der Bundestagswahl im vergangenen Herbst Ihr (D)
Ziel schon erreicht haben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
Danke schön. CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD) Wir ändern hier das Direktzahlungen-Verpflichtun-
gengesetz. Ein Kollege hat mir gesagt: Das alles soll gar
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nicht kompliziert sein, obwohl doch allein die Gesetzes-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Christel überschrift sieben Zeilen lang ist? Es ist ja das Problem
Happach-Kasan für die FDP-Fraktion. in der Agrarpolitik, dass Texte immer ein bisschen län-
ger sind als in anderen Politikfeldern. Es handelt sich
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aber um nichts weiter als um ein Änderungsgesetz zum
der CDU/CSU) Direktzahlungen-Verpflichtungengesetz.
In diesem Direktzahlungen-Verpflichtungengesetz
Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
aus dem Jahre 2004 ist festgestellt – mein Kollege Gerig
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! hat das in seiner Jungfernrede auch ausgeführt –, dass
Liebe Kollegin Waltraud Wolff, natürlich wollen wir Direktzahlungen nur dann erfolgen, wenn die verbindli-
jetzt auch noch ordentlich regieren; denn das ist das Ziel chen Vorschriften im Bereich des Umweltschutzes, im
gewesen, das mit dem Gewinn der Bundestagswahl ver- Bereich der Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, im
bunden war. Das wollen wir jetzt machen, und damit Bereich der Tiergesundheit und des Tierschutzes und im
steigen wir ein. Bereich der Erhaltung landwirtschaftlicher Flächen in ei-
(Beifall bei der FDP – Waltraud Wolff [Wol- nem guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zu-
mirstedt] [SPD]: Was meinst Du denn, warum stand sowie die verbindlichen Vorschriften der Dünge-
ich das gesagt habe? – Friedrich Ostendorff verordnung und der Pflanzenschutzmittelverordnung
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr habt ja eingehalten werden.
auch lange genug herumgesessen! Nach vier
Monaten kann man jetzt einmal darüber nach- Ich erinnere hier auch gerne einmal an die Anhörung
am Montag, bei der es immer wieder um die Düngemit-
denken!)
telanwendungsverordnung ging. Wir müssen schon fest-
Ich darf einmal ganz klar sagen: Ich bitte auch die stellen, dass sie wohl doch sehr viel besser eingehalten
Kolleginnen und Kollegen von der linken Seite des Hau- wird, als dort dargestellt wurde; denn sonst würden die
ses ganz herzlich, nachzulesen, was in dem Gesetzent- Landwirte ihre Direktzahlungen nicht bekommen.
2158 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir wollen auch die Exportförderung gerade in die (C)
der CDU/CSU) Länder, die Entwicklungshilfe beziehen, zurückfahren,
weil wir der Meinung sind, dass wir dort nicht in die
Dieses Gesetz von 2004 soll heute um die Bereiche Märkte eingreifen dürfen. Ich glaube, das ist ein sehr
Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung erweitert wichtiges Thema. Wer weltweite Ernährungssicherheit
bzw. ergänzt werden. Ich glaube, das ist sehr richtig. will, der muss den Ländern gestatten, dass sie ihre eige-
Es ist ja richtig: Wir befinden uns sozusagen am Vor- nen Märkte entwickeln, und darf nicht mit deutschen
abend der Diskussion über die Gemeinsame Agrarpoli- Produkten, subventioniert vom deutschen Steuerzahler,
tik. Wir als FDP stehen dafür, dass wir eine starke erste dort eingreifen und dafür Mittel einsetzen. Das halten
Säule haben wollen. Wir müssen sehen – das ist in der wir nicht für richtig.
Ausschussdebatte sehr deutlich geworden –, dass die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
neuen Beitrittsländer gerne ein Mehr vom Kuchen des der CDU/CSU)
Agrarhaushaltes haben wollen, was wir ihnen nicht hun-
dertprozentig verwehren können, wie ich meine. Die Welternährung ist ein sehr wichtiges Thema, dem
wir uns als ein Gunstland der landwirtschaftlichen Pro-
Vor diesem Hintergrund sagen wir: Wir als FDP wol- duktion, wie ich meine, nicht verschließen können. Ich
len keine Prämiengleichheit. Wir sagen aber auch: Wir glaube, dass wir eine gemeinsame ethische Verpflich-
werden das nicht hundertprozentig verwehren können. tung haben, für die Menschen der Dritten Welt mitzu-
Insofern sind wir mit Staatssekretär Müller einvernehm- denken und sie darin zu unterstützen, sich selbst ernäh-
lich der Meinung, dass wir damit rechnen müssen, dass ren zu können. Das ist jedenfalls für uns als Liberale ein
der Umfang der Direktzahlungen für Landwirte abneh- sehr wichtiges Thema.
men wird. Das ist so, und das müssen wir den Landwir-
ten sagen. Wir müssen ihnen gleichzeitig aber auch Hil- (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann
fen geben, damit sie in dieser schwierigen Situation [FDP])
bestehen können.
Kollege Gerig hatte die Frage der Erosionskataster
(Beifall bei der FDP) angesprochen. Dazu müssen wir noch einige Hausaufga-
ben machen. Das werden wir im Rahmen der Gesetzes-
„Schwierige Situation“ heißt, dass wir die starken beratungen tun.
Landwirte weiter stärken wollen und dass wir denjeni-
gen, die sich nicht am Markt behaupten können, Aus- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
stiegsszenarien eröffnen müssen. Das ist die Philosophie
der FDP, die wir durchsetzen wollen. Wir haben ja ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(B) meinsam beschlossen, die GEFA zu unterstützen und da- (D)
mit auch die Exportförderung weiter zu unterstützen. Ich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
glaube, das ist eine weitere wichtige Maßnahme. Nun hat die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die
Fraktion Die Linke das Wort.
Ein weiterer Punkt ist für uns als FDP ganz entschei-
dend: Wir wollen Marktregulierungsmechanismen, die (Beifall bei der LINKEN)
sich nicht bewährt haben, nicht wieder einführen. Wir
stehen für den Ausstieg aus der Milchquote. Ich glaube, Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
dass es gut ist, dass wir damit in 2015 durch sind. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE] un- Ich hoffe, ich darf jetzt reden, Frau Happach-Kasan.
terhält sich mit dem Abg. Jörn Wunderlich (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Aber
[DIE LINKE]) gern! Die Präsidentin hat Ihnen das Wort er-
– Kollegin Tackmann, Sie können ruhig auch einmal zu- teilt!)
hören. Das wäre nicht schlecht. – Alles klar.
(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Jörn Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eigentlich
Wunderlich [DIE LINKE]: Da liegen die Ner- nur EU-Recht umgesetzt; Frau Kollegin hat schon darauf
ven aber blank!) hingewiesen. Aber weil es um ein wichtiges Ziel geht,
Wir stehen auch dazu, dass das Mittel der Interven- lohnt es sich, denke ich, darüber zu reden.
tion nicht mehr in dem Umfang eingesetzt wird wie bis- Gewässerschutz und Wasserbewirtschaftung sollen in
her. Allein 10 Prozent des Agrarhaushaltes werden für den Sanktionsrahmen der sogenannten anderweitigen
die Intervention aufgewendet. Wir sind der Meinung, Verpflichtungen oder auch Cross Compliance aufgenom-
dass wir dies zurückfahren müssen. Denn überall dort, men werden. Das heißt übersetzt: Wer Agrarförderung
wo Intervention zum Einsatz gekommen ist – das kann bekommt, muss mit gezielten Kontrollen zur Einhaltung
ich als Schleswig-Holsteinerin gut mit Beispielen bele- von Gewässerschutzauflagen rechnen. Bei Verstößen er-
gen –, müssen wir feststellen, dass in der Folge die folgen Abzüge oder auch die Streichung der Agrarförde-
Struktur der Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte rung.
sich verschlechtert hat. Wir brauchen aber gute Struktu-
ren für unsere Betriebe. Deswegen finden wir es richtig, Für die Agrarbetriebe ist das eine wichtige Konse-
die Mittel im Bereich der Intervention zurückzufahren. quenz dieses Gesetzentwurfes. Übrigens wurde das Ziel
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2159
Dr. Kirsten Tackmann
(A) bereits im Rahmen des Gesundheitschecks der EU 2008 Landwirtschaft reduziert werden können. Sie müssen (C)
vorgegeben. nur konsequent angewandt werden. Das wiederum ist in
vielen Fällen Ländersache. Ich denke, dort sollten wir
Wer also gegen geltendes Wasserrecht verstößt, wird genauer hinschauen, wie das Recht umgesetzt wird.
das demnächst schmerzlich auf dem Konto spüren. Au- Wenn das nicht ausreicht, muss nachjustiert werden.
ßerdem erhöht sich das Risiko, erwischt zu werden. Da-
mit wird der Gewässerschutz aus unserer Sicht wirksa- Aus meiner Sicht bietet die Aufnahme des Gewässer-
mer durchgesetzt; und das ist auch gut so. Denn wer zum schutzes in die Kontrollmechanismen bei der Vergabe
Beispiel zu nah an den Vorfluter heranpflügt oder wer von Agrarfördermitteln die Chance einer wirksamen
unnötige Stoffeinträge ins Wasser zu verantworten hat, Durchsetzung des Fachrechtes. Der Protest des Bauern-
kann nicht auf die volle Unterstützung der Steuerzahle- verbandes war aus meiner Sicht allzu kurzsichtig; denn
rinnen und Steuerzahler rechnen. der Gewässerschutz sollte gerade auch im Interesse von
Landwirtschaftsbetrieben sein. Deshalb sollten wir, an-
So wird Umweltrecht an einer besonders wichtigen statt zu mauern, gemeinsam dafür sorgen, dass der Ge-
Stelle besser und sensibler umgesetzt. Denn Wasser ist wässerschutz überall wirksam durchgesetzt wird. Dann
neben dem Boden die kostbarste Ressource in der Land- müssen auch keine Mittel gestrichen werden.
wirtschaft.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Die Auflagen sind für die Betriebe durchaus wirt-
schaftlich leistbar. Das Umweltbundesamt hat in einer
Der Schutz des Grundwassers, der Gewässer und der soeben erschienenen Studie bewiesen: Gewässerschutz
Meere ist gesellschaftlicher Konsens in Europa. In den in der Landwirtschaft ist durchaus ohne Gefährdung der
vergangenen Jahrzehnten hat sich auf diesem Gebiet ei- wirtschaftlichen Erfolge der Landwirtschaftsbetriebe
niges getan. Durch verbesserten technischen Gewässer- möglich. Das hilft dann der Umwelt und schont – kurz-
schutz, zum Beispiel Kläranlagen, sind die Flüsse und fristig und langfristig – die Geldbeutel der Landwirtin-
Bäche sauberer geworden. nen und Landwirte, die gerade sehr unter Druck stehen.
Damit wächst aber gleichzeitig die Bedeutung der so- In Brandenburg wurde die Entwicklung eines Moor-
genannten diffusen Eintragsquellen von Gewässern. schutzprogramms explizit in den Koalitionsvertrag auf-
Dazu gehören Einträge aus der Landwirtschaft beispiels- genommen. Das halte ich für einen sehr wichtigen
weise durch Düngemittel. Beitrag zum Gewässerschutz. Wir werden den Gewäs-
Landwirtschaftsbetriebe haben daher aus meiner serschutz konsequent weiterverfolgen.
(B) Sicht eine gewachsene Verantwortung für den Schutz Vielen Dank. (D)
unserer Gewässer. Das gilt besonders für die Stickstoff-
und die Phosphatbelastungen aus der Düngung. So (Beifall bei der LINKEN)
stammten bei uns zum Beispiel zwischen 2003 und 2007
über 70 Prozent der Stickstoff- und über 50 Prozent der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Phosphoreinträge in die Oberflächengewässer aus der Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für
Landwirtschaft. Aktuelle Daten zeigen, dass sich die Si- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
tuation nicht wesentlich verbessert hat.
Allerdings möchte ich an dieser Stelle auch anmer- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ken, dass wir einen fairen Umgang mit der Landwirt- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
schaft pflegen sollten. Mich wundert schon, dass in an- Die EU hat den Geltungsbereich von Cross Compliance
deren Wirtschaftsbereichen weniger genau hingeschaut geringfügig ausgeweitet. Die Bundesregierung setzt dies
wird. Selbst massive Verschmutzungen von Oberflä- durch Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtungen-
chengewässern werden dort sogar mit Ausnahmegeneh- gesetzes pflichtgemäß um. Das kann aber nicht darüber
migungen geduldet. Die Versalzung der Werra hat ge- hinwegtäuschen, dass Cross Compliance in vielen Berei-
rade erst bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. chen ein zahnloser Tiger bleibt.
Aber auch die Belastungen der Wasserhaushalte (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
durch den Braunkohleabbau wie auch seine Privilegie- DIE GRÜNEN)
rung durch die Freistellung vom Wassernutzungsentgelt
Cross Compliance macht vor allem die Einhaltung gel-
gehören auf den Prüfstand. Wenn konsequent gegen die
tenden Rechts zur Fördervoraussetzung, wobei Verstöße,
Belastung unserer Gewässer vorgegangen werden soll
wenn sie denn überhaupt festgestellt werden, in der Re-
– das befürworten wir ausdrücklich –, dann nicht mit
gel nur geringe Subventionskürzungen zur Folge haben.
zweierlei Maß.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist doch völlig
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
verkehrt!)
neten der SPD)
Mein Kollege Friedrich Ostendorff sieht das ein biss-
Das Fachrecht zum Gewässerschutz selbst ist in chen anders; er hat es gerade erlebt.
Deutschland durchaus ausreichend geregelt: Düngever-
ordnung und Wasserhaushaltsgesetz bilden den gesetzli- Laut Gesetzesbegründung legt auch dieses Gesetz den
chen Rahmen, mit dem auch die Einträge durch die Landwirten keinerlei neue Verpflichtungen beim Gewäs-
2160 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Cornelia Behm
(A) serschutz und bei der Wasserbewirtschaftung auf; ein musgehalt der landwirtschaftlichen Böden und eine grö- (C)
über bestehendes Recht hinausgehender neuer Umwelt- ßere Artenvielfalt in der Agrarlandschaft werden der
standard wird nicht eingeführt. Die Einhaltung von Ge- Lohn sein. Wenn sich Deutschland im UN-Jahr der Bio-
setzen kann aber heute nicht mehr als Rechtfertigung für diversität hier zu einer Vorreiterrolle durchringen
die Direktzahlungen ausreichen. Hier muss spätestens könnte, wäre das ein Beitrag, der endlich einmal über
die Weiterentwicklung der Gemeinsamen Agrarpolitik viele schöne bisher gemachte Worte hinausgehen würde.
nach 2013 einen Paradigmenwechsel bringen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD)
Direktzahlungen kann es nur noch geben, wenn gesell-
schaftlich gewünschte Leistungen für Klima-, Umwelt- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
und Artenschutz erbracht werden. Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Georg von der Marwitz für die CDU/CSU-Frak-
Das ist bisher aber kaum der Fall; denn die durch tion.
Cross Compliance für einen deutschen Betrieb entste-
henden Zusatzkosten liegen im Vergleich zu einem ukra- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
inischen Betrieb bei gerade einmal 20 Euro pro Hektar.
Wissenschaftler des Johann-Heinrich-von-Thünen-Insti- Hans-Georg von der Marwitz (CDU/CSU):
tuts haben diesen Wert seriös berechnet. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Ich meine, dass Cross Compliance schon vor 2014 Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
substanziell weiterentwickelt werden muss. Ich nenne ren! Die geplante Änderung des Direktzahlungen-Ver-
drei Beispiele. pflichtungengesetzes bedeutet vor allem eines: die
Erweiterung der sogenannten Cross-Compliance-Vorga-
Erstes Handlungsfeld ist die Düngeverordnung. Die ben. Cross Compliance ist – wir haben es heute schon
nach wie vor zu hohen Nitratüberschüsse von mehr als mehrfach gehört – eine Überkreuzeinhaltung von Ver-
100 Kilogramm pro Hektar sind ein ernstes Problem für pflichtungen. Das sind Auflagen, an deren Einhaltung
Klima-, Arten- und Gewässerschutz. Zwar soll die die Auszahlung der Direktzahlungen aus der ersten
Düngeverordnung die Überschüsse auf 60 Kilogramm Säule der EU-Agrarpolitik geknüpft ist.
pro Hektar vermindern; aber sie verfehlt ihr Ziel, da sie
keine ausreichenden Sanktionsmöglichkeiten enthält. Dazu zählen bislang 18 EU-Richtlinien zum Umwelt-,
Hier bedarf es dringend der Nachbesserung. Tier- und Gesundheitsschutz. Mit der Gesetzesänderung
kommt künftig die Einhaltung von Genehmigungsver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) fahren für die Beregnung und Bewässerung landwirt- (D)
(B)
Zweites Handlungsfeld ist der Bereich Grünland. Wir schaftlicher Flächen zum Auflagenkatalog des Cross-
brauchen einen deutlich besseren Schutz des Grünlan- Compliance-Kontroll- und -Sanktionssystems hinzu.
des. Der Eingreifwert von 5 Prozent Grünlandverlust ist Des Weiteren werden bestimmte Beihilfen im Weinhilfe-
keine Hilfe; denn bis zu diesem Eingreifwert findet in sektor in den Anwendungsbereich des Gesetzes einbezo-
manchen Ländern eine regelrechte Umbruchralley statt. gen. Außerdem verpflichtet der Gesetzentwurf die
Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass der Anteil des
Wir müssen Regelungen schaffen, um insbesondere Dauergrünlands an der gesamten landwirtschaftlichen
das wertvolle Feuchtgrünland zu sichern. Dazu haben Fläche nicht erheblich abnimmt. Das haben wir heute
uns die Experten bei der Anhörung am vergangenen schon mehrfach gehört.
Montag ausdrücklich aufgefordert.
Auch die neuen Auflagen zum Gewässerschutz und
Das dritte Handlungsfeld ist der Humus. Auch die
zur Wasserbewirtschaftung sollen dem Erhalt von Agrar-
Verpflichtung zum Erhalt der organischen Substanz geht
flächen in einem guten landwirtschaftlichen und ökolo-
völlig ins Leere. Hier gibt es ein riesiges Schlupfloch,
gischen Zustand dienen. Die Erfüllung der Auflagen soll
durch das nahezu alle, die sich am Humusgehalt ihrer
deshalb durch systematische Kontrollen in Form von Ri-
Böden versündigen, passen. Die Verpflichtung kann
sikoanalysen und anlassbezogenen Kontrollen, soge-
nämlich durch eine dreigliedrige Fruchtfolge erfüllt wer-
nannten Cross Checks, sichergestellt werden. So weit, so
den, wobei eine Kultur 70 Prozent der Betriebsfläche
gut. Zu den Details des Gesetzentwurfes haben mein
einnehmen darf. Der Landwirt darf theoretisch immer
Kollege Gerig und viele andere heute schon Stellung ge-
wieder drei Humuszehrer hintereinander anbauen, wo-
nommen. Die Eins-zu-eins-Umsetzung ist eine Ver-
mit der Sinn der Fruchtfolge geradezu auf den Kopf ge-
pflichtung der EU und damit ein Muss. Gegen die Fort-
stellt würde. Eine wirkliche Verpflichtung zum Erhalt
schreibung und Anpassung von Cross Compliance ist
der organischen Substanz sieht anders aus.
grundsätzlich nichts einzuwenden. Auch die Absicht,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Geld nur denjenigen Landwirten zu geben, die vernünf-
tig mit der Natur umgehen, ist durchaus begrüßenswert.
Diese Beispiele zeigen, dass Cross Compliance bisher
nicht das umweltpolitische Instrument ist, das es sein Aber, um im EU-Sprachgebrauch zu bleiben: Durch-
sollte. Die EU muss hier nachbessern. Doch unabhängig kreuzen in der täglichen Praxis am Ende womöglich die
von der EU kann und sollte Deutschland bei den Direkt- Cross Checks den Sinn und Zweck der Cross Com-
zahlungen-Verpflichtungen mehr fordern als bisher. Eine pliance? Längst mehren sich die kritischen Stimmen. Zu
bessere Klimabilanz der Landwirtschaft, ein höherer Hu- groß seien der bürokratische Aufwand und die Belastung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2161
Hans-Georg von der Marwitz
(A) für den einzelnen Betrieb, zu umfangreich die Doku- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist genau der (C)
mentationspflichten und Kontrollen und zu gering die Punkt!)
tatsächlichen Risiken. Wer die 28-seitige Checkliste von
Cross Compliance aus dem Jahre 2009 durchblättert, Hier setzt meine Kritik an: Welche gravierenden Be-
kann diese Argumentation nachvollziehen. drohungen gehen denn von unserer Landwirtschaft aus,
dass sie den daraus folgenden bürokratischen Aufwand
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für die Betriebe und die Verwaltung rechtfertigen?
neten der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sie veranschaulicht, wie breit gefächert die Kontrollver-
pflichtungen sind. Um nur die wichtigsten Bereiche zu Gerade in unserem Land kann es sich ohnehin kein
nennen: Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit, Lage- Landwirt leisten, geltendes Recht zu ignorieren. Unser
rung und Entsorgung, Erhalt landwirtschaftlicher Flä- Rechtssystem sieht bei Verstößen, bezogen auf die
chen, Natur- und Artenschutz, Pflanzenbau, Pflanzen- Schwere des Vergehens, die nötigen Sanktionen vor.
schutz und Düngung im Besonderen, Tierhaltung und da (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
im Besonderen Haltung, Fütterung, Hygiene, tierärztli- NEN]: Eben nicht!)
che Behandlung, Krankheiten von Schweinen, Rindern,
Schafen, Ziegen und Geflügel und last, not least Tier- – Doch. – Aber wer möchte tagtäglich aufschreiben,
kennzeichnung und -registrierung. dass er sich an das Gesetz hält? Wer hat schon Lust
dazu? Ist es sinnvoll, dass Landwirte inzwischen einen
(Peter Bleser [CDU/CSU]: Mehr geht gar nicht unerheblichen Teil ihres Arbeitstages am Schreib-
nicht!) tisch mit der Dokumentation ihrer Arbeit verbringen, nur
um sicherzustellen, dass sie bei der Erfüllung der Vo-
Kenner wie Laien wird diese Bandbreite nicht überra-
raussetzungen für die Direktzahlungen keinen Fehler
schen. Die Anforderungen an die moderne Agrarwirt-
machen?
schaft wachsen stetig. Für Landwirte heißt das konkret:
Absatzfähig sind nur Produkte, die der zunehmend er- (Christoph Poland [CDU/CSU]: Genau!)
nährungs- und umweltbewusste Verbraucher für gesund
hält. Sicher können wir dem durch die Einhaltung be- Meine Damen und Herren, man kann in der Tat geteil-
währter Produktions- oder Hygienestandards begegnen. ter Meinung sein, ob Cross Compliance im Berufsalltag
und in der Verwaltungspraxis praktikabel und zielfüh-
Doch brauchen wir tatsächlich ein Konvolut von rend ist oder ob es in einem Land mit hohen Umwelt-
19 EU-Richtlinien mit den entsprechenden Prüfungen standards und einem umfangreichen Fachrecht wie in
(B) und Kontrollleistungen? Für jedes Futtermittel, jede der Bundesrepublik überhaupt nötig ist, den Nachweis (D)
Saat, über Qualität und Menge der eingesetzten Pro- der Einhaltung von Gesetzen und Verordnungen zur Vo-
dukte, über deren Weiterverwendung sowie Lagerung raussetzung für Direktzahlungen zu machen. Ich wäre
und Transportbedingungen müssen Dokumentationen dankbar, wenn wir gemeinsam in Brüssel im Zuge der
erstellt werden. Nicht unerheblich gestalten sich auch Verhandlungen zur GAP-Reform 2014 den bürokrati-
die Cross-Compliance-Vorgaben zur Tierhaltung und schen Aufwand im Rahmen der Cross Compliance deut-
Tierkennzeichnung. Minutiös ist festzuhalten, was wie lich reduzieren würden.
in welchem Zeitraum eingesetzt wurde und von welchen
Gefährdungen der Landwirt hätte Kenntnis haben kön- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nen. All diese – mit Verlaub – Selbstverständlichkeiten
Ich hatte es bereits eingangs erwähnt: Die Umsetzung
müssen dokumentiert werden. Respekt gilt allen, die hier
von EU-Recht ist ein Muss. Die Brüsseler Vorgaben sind
den Überblick behalten, namentlich was die diversen
einzuhalten. Aber gestatten Sie mir, in diesem Zusam-
Fristen angeht. Ich erspare Ihnen die Aufzählung der im
menhang einen Ausblick zu wagen. Wie gesagt, befin-
Einzelnen befassten Behörden und Ämter.
den wir uns im Vorfeld der Verhandlungen zur Reform
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich stelle den der Gemeinsamen Agrarpolitik der Europäischen Union
Sinn und Zweck von Cross Compliance nicht grundsätz- nach 2013. In den kommenden Monaten werden erste
lich infrage. Der Schutzgedanke steht auch aus meiner Weichen für die Agrarreform gestellt, um eine nachhal-
Sicht im Vordergrund. Aber schießen wir mit dem Re- tige und multifunktionale Landwirtschaft zu unter-
gelwerk für Cross Compliance nicht über das Ziel hi- stützen, um eine hohe Qualität landwirtschaftlicher
naus? Erzeugnisse und deren Verarbeitung zu sichern, um
nachwachsende Rohstoffe für die energetische und in-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dustrielle Nutzung bereitzustellen, um über den Markt
neten der FDP) nicht entlohnte Gemeinwohlleistungen der Landwirt-
schaft zu erhalten, um den Strukturwandel sozialverträg-
Wohlgemerkt, Cross Compliance bedeutet nicht, dass lich zu begleiten und um – nicht zuletzt – vitale ländli-
der Landwirt sich an mehr oder andere Gesetze oder Ver- che Räume zu sichern. Grundpfeiler der Sicherung
ordnungen halten müsste, als er es ohnehin schon tut. vitaler ländlicher Räume ist aus meiner Sicht der Erhalt
Cross Compliance bedeutet allerdings, dass ihm, wenn der dort wirtschaftenden Landwirtschaftsbetriebe.
er die Erfüllung dieser Vorgaben nicht nachweisen kann,
die Direktzahlungen empfindlich gekürzt werden kön- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen. neten der FDP)
2162 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Hans-Georg von der Marwitz


(A) Meine Vision gerade als ökologisch wirtschaftender Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- (C)
Landwirt ist eine von bäuerlichen Familienbetrieben ge- ner das Wort dem Kollegen Jerzy Montag für die Frak-
prägte Landwirtschaft, die sich am Nachhaltigkeitsprin- tion Bündnis 90/Die Grünen.
zip orientiert, die Kulturlandschaft erhält, regionale
Produktvielfalt hervorbringt und durch eine flächende- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ckende, umweltgerechte und klimaschonende Produk- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
tion sowie artgerechte Tierhaltung gekennzeichnet ist, Der Sachverhalt ist denkbar einfach: Eine Arbeitnehme-
kurz: eine im besten Sinne multifunktionale Agrarwirt- rin hat mit 18 Jahren einen Arbeitsplatz erhalten und mit
schaft. 28 durch Kündigung verloren. Sie hatte eine Kündi-
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gungsfrist von einem Monat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sauerei!)
Hätte sie ihren Arbeitsplatz mit 25 erhalten und mit 35
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: verloren, hätte sie eine Kündigungsfrist von vier Mona-
Herr Kollege von der Marwitz, ich gratuliere Ihnen ten. Diese Ungerechtigkeit sieht das deutsche Bürgerli-
sehr herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundes- che Gesetzbuch vor. Diese Frau hat sich aus einem, wie
tag und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles ich finde, gesunden Verständnis dafür, dass das eine Dis-
Gute. kriminierung ist, an ein deutsches Arbeitsgericht ge-
wandt. Dieses Gericht sagte: Ja, auch wir sind der Mei-
(Beifall) nung, dass dies ein Fall von Diskriminierung ist. Es legte
Ich schließe die Aussprache. diese Sache im Vorabentscheidungsverfahren dem Euro-
päischen Gerichtshof vor. Der Europäische Gerichtshof
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- hat entschieden, wie es das europäische Recht vorsieht:
wurfs auf Drucksache 17/758 an die in der Tagesord- Es hat diese Regelungen für mit dem europäischen Recht
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie nicht vereinbar erklärt.
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen. Nun müssen wir lesen, dass die Bundesvereinigung
der Deutschen Arbeitgeberverbände zu dieser Entschei-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie den Zu- dung sagt – so zitiert im Handelsblatt vom 20. Januar
satzpunkt 5 auf: 2010 –:
16 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy Der EuGH erfindet einfach Rechtsgrundsätze jen-
(B) Montag, Beate Müller-Gemmeke, Ingrid seits des EU-Vertrags. Er schafft damit eine uner- (D)
Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Frak- trägliche Rechtsunsicherheit …
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 622 Absatz 2 stimmt ja auch!)
Satz 2 BGB) – Diskriminierungsfreie Ausge- – Ich höre vonseiten der Union: „Das stimmt ja auch!“
staltung der Kündigungsfristen bei Arbeits-
verhältnissen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Sie an Fol-
gendes erinnern: Art. 3 des Vertrages über die Europäi-
– Drucksache 17/657 – sche Union, den hier alle Fraktionen bis auf die Linke
Überweisungsvorschlag: gutgeheißen haben, schreibt Folgendes vor:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss (f) Sie
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – die Europäische Union –
Federführung strittig
bekämpft … Diskriminierungen und fördert soziale
ZP 5 Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein- Gerechtigkeit …
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Nach Art. 10 des Lissabon-Vertrags
Umsetzung des EuGH-Urteils (C – 555/07) –
Erweiterung des Kündigungsschutzes bei un- … zielt die Union darauf ab, Diskriminierungen aus
ter 25-Jährigen Gründen … des Alters … zu bekämpfen.
– Drucksache 17/775 – Art. 6 des Lissabon-Vertrags erklärt die Charta der
Überweisungsvorschlag: Grundrechte für verbindlich in der Europäischen Union
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) und damit in Deutschland. In Art. 21 dieser Charta, die
Rechtsausschuss alle Fraktionen in diesem Hohen Hause begrüßt haben,
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie heißt es:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Diskriminierungen, insbesondere … wegen Alters
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die … sind verboten.
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so ver- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
fahren. Richtig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2163
Jerzy Montag
(A) Angesichts dieser klaren Rechtslage ist es nicht eine (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Unerträglichkeit, dass der Europäische Gerichtshof so NEN]: So sind sie, die Christdemokraten!
entschieden hat, wie er entschieden hat; unerträglich ist Schon damals waren es die Sozis!)
vielmehr, dass es in Deutschland die Arbeitgeber sind,
Diese Regelung findet sich noch heute in § 622 Bür-
die das offensichtlich nicht akzeptieren wollen.
gerliches Gesetzbuch. Sie gilt unverändert seit 1926 bis
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, heute. Nun hat jedoch der Europäische Gerichtshof im
bei der SPD und der LINKEN) Januar entschieden, dass diese Regelung jüngere Arbeit-
nehmer diskriminiert. Das Gericht sagt, junge Arbeitneh-
Das müssen wir an dieser Stelle heute klar und deutlich
mer werden generell gegenüber älteren Arbeitnehmern
sagen.
benachteiligt; denn das Gesetz behandelt Personen mit
Diese Vorschrift darf nicht mehr angewendet werden. gleich langer Betriebszugehörigkeit unterschiedlich, je
Man könnte es dabei belassen; aber das würde für uns in nachdem, in welchem Alter sie in den Betrieb eingetreten
Deutschland einige erhebliche rechtliche Probleme sind. Es benachteiligt die jungen Menschen, insbeson-
aufwerfen. Solange das Gesetz so ist, wie es ist, gilt ei- dere diejenigen, die ohne oder nach nur kurzer Berufs-
nerseits das Verwerfungsmonopol des Bundesverfas- ausbildung eine Arbeit aufnehmen, also zum Beispiel
sungsgerichts und andererseits die Entscheidung des Verkäuferinnen mit Hauptschulabschluss. Wer nach lan-
Europäischen Gerichtshofs, dieses Gesetz nicht mehr an- ger Ausbildung später den Beruf aufnimmt, ist nicht in
zuwenden. Das ist, finde ich, für die Richterinnen und gleicher Weise betroffen.
Richter in Deutschland keine gute Situation. Deswegen
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Montag, ich
haben wir vorgeschlagen, diese Vorschrift, die klar dis-
sage sehr deutlich im Namen meiner Fraktion: Wir leh-
kriminierend und klar europarechtswidrig ist, aus dem
nen jede Art der Altersdiskriminierung ab.
Gesetzbuch zu streichen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
neten der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
DIE GRÜNEN]: Wunderbar!)
Die SPD hat praktisch den gleichen Vorschlag unter-
Dies haben wir in der Koalitionsvereinbarung mit unse-
breitet. Ich denke, dass die Koalition gut daran täte, sich
rem Koalitionspartner ausdrücklich verankert.
in den folgenden Beiträgen dieser Debatte darüber, wie
man diese Diskriminierung beseitigen kann, nicht hin (Beifall bei der FDP)
und her zu winden und nicht nach Schlupflöchern zu su-
Deshalb werden wir das Gesetz auch ändern.
chen, sondern sich klar dazu zu bekennen, dass es zu ei-
(B) ner europäischen Politik der Menschenrechte auch ge- Wir werden es uns dabei aber nicht so leicht machen (D)
hört, Diskriminierungen im Arbeitsleben zu bekämpfen. wie Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der SPD
Ein kleiner Beitrag dazu ist der von uns vorgelegte Ge- und den Grünen. Ihre Anträge sind offensichtlich mit der
setzentwurf. heißen Nadel gestrickt. Sie fordern: Weg mit der Vor-
schrift, und zwar ersatzlos!
Danke.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Natürlich!)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Ich befürchte gerade auch nach Ihrem Beitrag, Herr
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kollege Montag: Sie haben das Urteil weder gelesen
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gitta Connemann noch wirklich verstanden.
für die CDU/CSU-Fraktion. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sehr qualifiziert! – Anette Kramme [SPD]:
Das ist ja ein Stil hier! – Weiterer Zuruf von
der SPD: Das ist eine Unterstellung! )
Gitta Connemann (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Eines ist das Urteil nämlich sicherlich nicht: einfach.
schreiben das Jahr 1926. Die Welt wird von einer Krise Das aber haben Sie in Ihrer Eingangsbemerkung, mit der
erschüttert. Sie diese Debatte eröffnet haben, gesagt. Der Europäi-
sche Gerichtshof fordert eben keine ersatzlose Strei-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chung,
NEN]: Das war drei Jahre später!)
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Millionen Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. Der
NEN]: Sondern die Nichtanwendung!)
Gesetzgeber handelt. Die Kündigungsfristen werden ge-
staffelt. Für Jüngere unter 25 wird die Kündigungsfrist sondern er unterscheidet zwischen verbotener Diskrimi-
auf vier Wochen eingefroren. So soll die Einstellungsbe- nierung auf der einen Seite und erlaubter Differenzierung
reitschaft der Arbeitgeber gefördert werden. Die Reichs- auf der anderen Seite. Die unterschiedliche Behandlung
regierung, übrigens unter sozialdemokratischer Beteili- von Arbeitnehmergruppen ist laut Europäischem Gerichts-
gung, befindet, jüngere Menschen finden leichter wieder hof gerechtfertigt, wenn rechtmäßige Ziele der Beschäfti-
einen Arbeitsplatz, sie sind flexibler und können schnel- gungspolitik, des Arbeitsmarktes oder der beruflichen Bil-
ler reagieren. dung verfolgt werden. Kurzum: Eine Differenzierung
2164 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Gitta Connemann
(A) allein nach dem Lebensalter ist verboten, andere Diffe- Gitta Connemann (CDU/CSU): (C)
renzierungen sind erlaubt, Immer sehr gerne.
(Anette Kramme [SPD]: Wollen wir aber
nicht!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Kollegin Connemann, ich habe Ihren Ausfüh-
insbesondere wenn damit die Einstellungsbereitschaft rungen wirklich mit großem Interesse und genau zuge-
durch mehr Flexibilität erhöht wird. hört. Wir haben den Sachverhalt, dass § 622 Abs. 2
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Satz 2 BGB, also die Nichtanrechnung der Zeiten der
Zugehörigkeit zum Betrieb, wenn der Arbeitnehmer un-
Dies ist nach Ansicht der Luxemburger Richter ein legi- ter 25 ist, nicht mehr angewandt werden darf. Sie selber
times Ziel. Deshalb sollten wir von dieser Möglichkeit sagen, dass Sie diesen Teil weghaben wollen. Sie sagen
auch Gebrauch machen. Denn insoweit gilt nach wie vor aber gleichzeitig, wir machten es uns zu leicht, indem
die Begründung von 1926. Darin heißt es – ich zitiere –: wir dabei blieben. Habe ich Sie so zu verstehen, dass Sie
das, was Sie nun gezwungenermaßen zugunsten der Ar-
Eine allzu starke Erhöhung des Kündigungsschut- beitnehmer machen, nämlich diese Diskriminierung zu
zes hätte erhebliche Nachteile für die erwerbstäti- streichen, im Wege des Ausgleichs an anderer Stelle
gen … Angestellten zur Folge. Diese würde ihre durch eine Schwächung des Kündigungsschutzes errei-
Unterbringung noch schwieriger gestalten, als es chen wollen?
schon heute der Fall ist.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Schon damals erkannte also der Gesetzgeber, dass fle- Nein!)
xible Regelungen beschäftigungsfördernd wirken. Diese
Erkenntnis ist heute so richtig wie damals. In seiner Ist das so zu verstehen, dass Sie das, was Sie nun mit der
jüngsten Umfrage zum Arbeitsmarkt hat der Deutsche linken Hand geben müssen, mit der rechten nehmen wol-
Industrie- und Handelskammertag ermittelt, dass bei ei- len?
nem flexibleren Kündigungsschutz jedes zweite Unter-
nehmen neue Kräfte einstellen wolle. Deshalb sollte ge- (Anette Kramme [SPD]: Genau so ist das!)
rade vor dem Hintergrund der Situation auf dem
Arbeitsmarkt keine ersatzlose Streichung der heutigen Gitta Connemann (CDU/CSU):
Regelung erfolgen, sondern eine Anpassung. Nein, genau so ist es nicht zu verstehen. Die entschei-
dende Frage ist, wie man „zugunsten“ definiert. Wir sind
(Anette Kramme [SPD]: Das ist unglaublich,
vollkommen beieinander – das habe ich auch im Sinne mei-
wohin die CDU geht!)
(B) ner Fraktion und der Koalition sehr deutlich gemacht –, (D)
Wir wollen von der Möglichkeit Gebrauch machen, die dass eine Diskriminierung wegen Alters in keiner Weise
uns der EuGH eröffnet, also differenzieren, für mehr von uns gestattet werden kann. Das heißt, wir sind uns
Flexibilität und damit für mehr Beschäftigung. über die Abschaffung des Lebensalters als Kriterium für
eine Differenzierung vollkommen einig. Aber womit ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) letztlich dem Arbeitnehmer gedient?
Dabei kann man nicht mehr auf das Lebensalter abstellen, (Zuruf von der LINKEN: Kündigungsschutz!)
ohne Frage. Ein mögliches Unterscheidungsmerkmal wä-
ren aber aus meiner Sicht zum Beispiel die Vorbeschäfti- Ihm ist letztlich mit einem Arbeitsplatz gedient. Es
gungszeiten. Bei der Ermittlung der Beschäftigungsdauer bleibt bei der Begründung des Gesetzgebers, der damals
könnten die ersten Jahre eines Arbeitsverhältnisses außer – ich betone: unter sozialdemokratischer Beteiligung –
Betracht bleiben. Das Bundesministerium für Arbeit und festgestellt hat: Ein zu rigider Kündigungsschutz wirkt
Soziales wird dies prüfen. immer beschäftigungsfeindlich.

In den Gesetzentwürfen von Rot und Grün findet sich (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
dazu leider kein Wort, genauso wenig wie zu der eigent- Sie wollen also den Schutz abbauen!)
lichen Brisanz des Urteils; denn die Luxemburger Rich- Das heißt, wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, Einstel-
ter haben die deutschen Gerichte angewiesen, die bishe- lungen zu fördern. Dazu gehört aus unserer Sicht, zu
rige Vorschrift ab sofort nicht mehr anzuwenden. Diesen prüfen, ob wir nicht ein anderes Kriterium einführen
Sachverhalt beurteile ich persönlich, Herr Kollege können, nämlich das Kriterium der Vorbeschäftigungs-
Montag, vollkommen anders als Sie; denn bekanntlich zeit, mit dem Ziel der Beschäftigungsförderung. – Ich
darf nur das Bundesverfassungsgericht ein nationales war mit der Beantwortung Ihrer Zwischenfrage noch
Gesetz zu Fall bringen. Mit seinem Urteil und seiner An- nicht ganz fertig. Es wäre daher nett gewesen, wenn Sie
weisung an nationale Gerichte greift also der Europäi- stehen geblieben wären.
sche Gerichtshof massiv in unsere innerstaatliche Kom-
petenzordnung ein. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich dachte, Sie hätten meine Frage be-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
antwortet!)
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ich komme auf die eigentliche Brisanz des Urteils zu-
Kollegen Montag? rück. Ich hatte auf den Eingriff hingewiesen, den der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2165
Gitta Connemann
(A) EuGH in unser Recht vornimmt. Dazu haben Sie kein hat, europäisches Recht, das auch für die nationale Ge- (C)
einziges Wort gesagt. setzgebung zwingend ist, in nationales Recht umzuset-
zen.
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Doch!) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich
– Sie haben dargestellt, es sei eine unzulässige Bewer-
L. Kolb [FDP]: Das müssen Sie sich selbst fra-
tung durch die Arbeitgeberseite. Das zeigt deutlich, dass
gen, Herr Schreiner!)
Sie sich offensichtlich mit dem Urteil nicht auseinander-
gesetzt haben. – Herr Kollege Kolb, Sie sind wirklich ein Dauerzwi-
Die Folgen sind weitreichend: Zukünftig wird in schenrufer. Stehen Sie auf und stellen Sie eine Zwi-
Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Personen nicht mehr schenfrage!
allein das deutsche Recht und auch nicht mehr das euro- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das möchten Sie
päische Recht maßgeblich sein, sondern eine mögliche gerne! Nein, Zwischenrufe machen wir
künftige Rechtsprechung des Europäischen Gerichts- schon!)
hofs. Das heißt, niemand kann sich mehr darauf verlas-
sen, was in Deutschland gilt. Rechtssicherheit ade, wie – Nein, dann bleiben Sie sitzen und halten den Mund.
übrigens in diesem Fall: Zwei Parteien schließen einen Aber dieses ständige Dazwischengeplapper bringt es nun
Arbeitsvertrag auf der Grundlage nationalen Rechts. auch nicht.
Zehn Jahre später befindet der EuGH und – das ist das (Beifall bei der SPD)
Neue an dieser Entscheidung – weist nationale Gerichte
an, diese Vorschrift nicht mehr anzuwenden. Damit Es ist ja nicht der einzige Fall, in dem der Bundesge-
schwingt sich der Europäische Gerichtshof zu einem Er- setzgeber der europäischen Rahmengesetzgebung weit
satzgesetzgeber auf; denn er ändert unmittelbar deut- hinterherhinkt. Ich sage Ihnen, Frau Kollegin Connemann:
sches Recht und tut damit etwas, was normalerweise nur Ich empfinde es allmählich als höchstpeinlich und blama-
dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht bel, wenn immer erst der Europäische Gerichtshof be-
zusteht. müht werden muss, damit Deutschland seiner Verpflich-
tung nachkommt, EU-Antidiskriminierungsregelungen
Dies können wir – damit, liebe Kolleginnen und Kol-
ordnungsgemäß in nationales Recht umzusetzen.
legen, appelliere ich an Sie alle – nicht hinnehmen. Der
Kern dieses Urteils ist nicht, was wir als Gesetzgeber (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wieso haben
jetzt in der Sache entscheiden. Der Kern ist, welche Be- Sie denn die Regelung nicht geändert? Elf
(B) deutung nationales Recht auf europäischer Ebene insbe- Jahre Rot!) (D)
sondere im Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof
noch hat. Ich empfehle: Lassen Sie uns darüber diskutie- Es ist ein peinlicher, blamabler Vorgang, erst den Euro-
ren! päischen Gerichtshof bemühen zu müssen, um notwen-
dige Umsetzungsmaßnahmen in Gang zu bringen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie hatten elf
Jahre Zeit, Herr Kollege Schreiner! Das war
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Ihr Ministerium!)
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion. Der Kern der Auseinandersetzung ist ein anderer. Sie
haben die berühmte Katze aus dem Sack gelassen, indem
(Beifall bei der SPD)
Sie gesagt haben, die unterschiedliche Behandlung ver-
schiedener Altersgruppen sei sehr wohl gerechtfertigt,
Ottmar Schreiner (SPD): wenn die Einstellungsbereitschaft durch mehr Flexibili-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tät erhöht wird. Das ist ein wörtliches Zitat von Ihnen.
Der Sachverhalt ist vom Kollegen Montag beschrieben Dies ist der Kern dessen, worum es der Koalition geht:
worden, sodass ich ihn hier nicht zu wiederholen brau- mehr Beschäftigung durch noch mehr Flexibilität.
che. Es macht in der Tat einen Unterschied, ob eine
junge Frau nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit über Nun sage ich Ihnen: Es gibt in Europa kaum ein ande-
eine Kündigungsschutzfrist von vier Monaten oder von res Land, in dem das Arbeitsrecht in einem solchen
nur vier Wochen verfügt. Das ist auch ein qualitativer Maße wie hier in Deutschland flexibilisiert worden ist.
Unterschied. (Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ach
Die Frage ist hier jetzt nicht, ob wir Urteilsschelte be- was!)
treiben, Frau Kollegin Connemann, sondern die Frage – Ich kann Ihnen dazu noch ein paar Zahlen vortragen. –
lautet: Ist die Regelung, wie sie in § 622 des Bürgerli- Meine feste Überzeugung ist, dass das deutsche Arbeits-
chen Gesetzbuchs seit 1926 formuliert ist, diskriminie- recht nicht unterflexibilisiert, sondern weit überflexibili-
rend oder nicht? Der Europäische Gerichtshof kommt zu siert ist.
dem Ergebnis, dass diese Vorschrift gegen geltendes eu-
ropäisches Recht verstößt. Die Frage, die wir hier im (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Gitta
Parlament zu diskutieren hätten, wäre eher die, warum Connemann [CDU/CSU]: Was ist denn mit
der deutsche Gesetzgeber es bis zur Stunde unterlassen Dänemark?)
2166 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Ottmar Schreiner
(A) Ich nenne Ihnen einmal einige Zahlen: Von den unter Ich sage Ihnen: Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist (C)
30-Jährigen – es wäre vielleicht ganz angebracht, dass eindeutig überflexibilisiert. Mehr als die Hälfte der jun-
Sie gelegentlich einmal mit jungen Leuten reden – ver- gen Menschen verfügt nicht mehr über ein auf Dauer an-
fügt inzwischen deutlich über die Hälfte über keinen re- gelegtes Arbeitsverhältnis. Weit über ein Drittel der Ar-
gulären, auf Dauer angelegten Arbeitsplatz. Sie werden beitnehmer werden in prekären Arbeitsverhältnissen
in wachsendem Maße in unsichere, in mehr oder weniger beschäftigt: Leiharbeit, zeitlich befristete Arbeit, Mini-
ungeschützte Arbeitsverhältnisse abgedrängt. Gleichzeitig jobs, Praktika usw.
verlangen wir, die Politiker, von jungen Leuten, dass sie
sich für Kinder entscheiden, dass sie eine vernünftige (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Können Sie
Lebensplanung haben und dass sie größere Investitionen mal zum Antrag reden?)
tätigen. Für jemanden, der über einen befristeten Vertrag Zudem weiß man, dass die Ausweitung der prekären Be-
über ein oder zwei Jahre verfügt – vielleicht ist er danach schäftigung unmittelbar mit der Ausweitung des Niedrig-
arbeitslos –, ist eine angemessene, langfristige Lebens- lohnsektors korrespondiert.
planung nicht möglich. Ich sage Ihnen: Auch die jungen
Menschen haben genau den gleichen Anspruch wie an- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Können Sie zum
dere Altersgruppen, auch sie wollen ihr Leben vernünf- Antrag sprechen?)
tig planen können. Das ist der Kern der Debatte. Ich habe mir gestern Abend von einer Fachfrau erklä-
ren lassen, dass inzwischen 25 Prozent der westdeut-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
schen Beschäftigten in einem Beschäftigungsverhältnis
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
sind, in dem sie weniger als 8,50 Euro brutto die Stunde
Ich habe sehr starke Zweifel an der inneren Logik, die verdienen.
dem § 622 BGB innewohnt. Das mag für das Jahr 1926 (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Beschäftigen Sie
richtig gewesen sein, aber wir haben inzwischen auf ei- sich einmal mit dem Urteil des Europäischen
ner Reihe von Rechtsfeldern andere Regelungen als im Gerichtshofs!)
Jahr 1926.
Inzwischen befinden sich über 40 Prozent der ostdeut-
(Beifall bei der SPD) schen Beschäftigten in einem Beschäftigungsverhältnis,
Wo wären wir eigentlich, wenn wir auf dem Stand des (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Jahres 1926 stehen geblieben wären? Das ist doch eine Was hat das mit dem Kündigungsschutz zu
völlig alberne Debatte. tun?)
(B) Ich habe große Zweifel, ob das Kernargument, näm- in dem sie weniger als 8,50 Euro die Stunde verdienen. (D)
lich ein verkürzter Kündigungsschutz für jüngere Men- (Anette Kramme [SPD]: Das ist ein Skandal!)
schen, wirklich zu mehr Beschäftigung führt. Im Übri-
gen: Sozial ist nicht, was Arbeit schafft, sondern sozial Das heißt, die Ausweitung atypischer, prekärer Beschäf-
ist, was gute Arbeit schafft, tigungsverhältnisse korrespondiert unmittelbar mit einer
Ausweitung des Niedriglohnsektors. Dieser Weg führt
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ völlig in die Irre. Wir brauchen Stoppsignale. Wir brau-
DIE GRÜNEN) chen das Zurückdrängen von prekärer und ungeschützter
Beschäftigung. Was junge Leute brauchen, sind auf
von der auch junge Leute angemessen leben und ihre Dauer angelegte, stabile Beschäftigungsverhältnisse.
Kinder ernähren können.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
(Beifall bei der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich will Ihnen ein paar Daten zur Situation nennen,
die sie noch verschärfen werden. Es geht nicht nur um Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
das eben genannte Beispiel, wo der Personenkreis eini- Herr Kollege, Kollegin Connemann möchte gerne
germaßen überschaubar ist. Sie haben in Ihren Koaliti- eine Zwischenfrage stellen.
onsvereinbarungen eine ganze Reihe von weiteren Än-
derungen, die in Richtung Flexibilisierung drängen, Ottmar Schreiner (SPD):
vorgesehen. Das gilt für die Ausweitung zeitlicher Be- Von mir aus kann sie auch zwei stellen.
fristung, für die Ausweitung von Minijobs – inzwischen
sind es über 7 Millionen, jedes fünfte Beschäftigungs- (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Sie kann nur
verhältnis in Deutschland ist ein sozial ungeschützter lernen!)
Minijob –, es gilt auch für die Ausweitung von Hinzu-
verdiensten, die im Ergebnis auf nichts anderes hinaus- Gitta Connemann (CDU/CSU):
laufen als auf eine staatliche Subvention von Lohndum- Herr Kollege Schreiner, mir reicht die eine Zwischen-
ping. Das ist die Arbeitsmarktstrategie der Koalition. frage. – Sie haben sich in Ihrer Rede zu vielem geäußert,
aber leider nicht zum Gegenstand Ihres eigenen Gesetz-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entwurfs,
der LINKEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/
CSU]: Können Sie einmal zum Thema reden?) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2167
Gitta Connemann
(A) nämlich zu der Entscheidung des Europäischen Ge- ob das Kirchen sind, ob das Wohlfahrtsverbände sind (C)
richtshofs. Sie haben sich nicht damit auseinanderge- oder ob das möglicherweise der Deutsche Bundestag ist;
setzt, ob und inwiefern eine Differenzierung möglich ist. auch hier geht es hin und wieder nicht ganz diskriminie-
rungsfrei zu. All das spielt überhaupt keine Rolle. Es
(Anette Kramme [SPD]: Das ist Blödsinn!) kommt entscheidend darauf an, dass dieser Missbrauch
Ich möchte auf einen Satz von Ihnen eingehen. Sie massiv zurückgedrängt wird und der Gesetzgeber end-
haben uns aufgefordert, ein Stoppschild im Bereich der lich tätig wird.
prekären Beschäftigung zu setzen. Ich möchte Sie an die
Was die Regelung anbelangt, von der Sie in Ihrer
entsprechende Debatte der letzten Plenarwoche erinnern.
Frage sprechen, sage ich Ihnen:
Es ging beim Thema Zeitarbeit um den Schlecker-Ef-
fekt, den sogenannten Drehtüreffekt, der in großem (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] –
Maße bei Zeitungsverlagen ausgenutzt wird, die in Ver- Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie haben
bindung mit sozialdemokratischer Medienbeteiligung meine Frage nicht beantwortet! Was tun Sie als
stehen. Gestern habe ich ein Schreiben vom Deutschen Eigentümer?)
Journalisten-Verband bekommen, in dem genau dieser
Sachverhalt bestätigt wird. Wir haben eine ganz klare Antwort gegeben. Streichen
Sie die entsprechende Passage in § 622 BGB, und das
Da Sie den Gesetzgeber auffordern, ein Stoppsignal Thema ist geklärt. Das wäre ein kleines symbolisches Si-
für etwas zu setzen, was ich gelinde gesagt anders beur- gnal, dass wir es mit regulären, vernünftigen, geschütz-
teile, frage ich Sie, Herr Kollege Schreiner, als Mitglied ten und sicheren Beschäftigungsverhältnissen ernst mei-
der SPD: Wann setzen Sie einen Stopp bei den tatsäch- nen. Diesem kleinen symbolischen Signal müssen dann
lich skandalösen Vorgängen innerhalb Ihrer eigenen Me- weitere dringend folgen.
dienbeteiligungen?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gute Frage!) Das ist vom Kollegen Montag für die Grünen erklärt
worden. Von mir ist das auch erklärt worden.
Ottmar Schreiner (SPD): Ich sage: Das, was Sie hier treiben, passt in eine gene-
Die Frage habe ich Ihnen, glaube ich, vor 14 Tagen relle Strategie, die zu einer weiteren Förderung von un-
schon einmal beantwortet. geschützten und prekären Beschäftigungsverhältnissen
führt. Das kann im Ernst nicht die Antwort auf die Be-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber unzurei- schäftigungslage in Deutschland sein.
(B) chend! – Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Eben (D)
nicht!)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Wer auch immer in dieser Weise Zeitarbeit einsetzt, ist Herr Kollege Schreiner, gestatten Sie eine Zwischen-
zu verurteilen. Dagegen ist vorzugehen. Ich habe übri- frage des Kollegen Peter Weiß?
gens das Schreiben, das Sie bekommen haben, ebenfalls
erhalten. Wenn ich das richtig im Kopf habe, wurden da-
rin mehr als 35 Adressaten genannt. Darunter mögen ei- Ottmar Schreiner (SPD):
nige gewesen sein, die in die Richtung gehen, die Sie be- Von mir aus. – Kommen Sie jetzt wieder mit dem
nennen. Thema Zeitung?
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Frankfurter (Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie haben die
Rundschau! Sächsische Zeitung!) Frage nicht beantwortet!)
Darunter sind aber auch sehr viele andere. Nochmals ge-
sagt: Das macht die Sache um keinen Deut besser. Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Schreiner, nachdem Sie soeben ange-
(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Genau richtig!) mahnt haben, dass das Bundesministerium für Arbeit
Deshalb brauchen wir dringend Regelungen. und Soziales nicht schnell genug einen Prüfbericht zu
den Vorgängen bei Schlecker zur Zeitarbeit vorgelegt
Das, was bei Schlecker passiert ist, ist eine unglaubli- hat, frage ich Sie: Würden Sie freundlicherweise zur
che Ferkelei. Es ist bezeichnend, dass die Bundesregie- Kenntnis nehmen, dass die Bundesministerin für Arbeit
rung und die sie tragende Koalition bis zur Stunde ihren und Soziales, Frau Dr. Ursula von der Leyen, mit dem
Prüfvorgang bei Schlecker anscheinend nicht abge- Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
schlossen haben. Wie lange wollen Sie eigentlich noch Michael Sommer, eine Arbeitsgruppe dazu eingesetzt
prüfen? Bis die Leute in die Altersversorgung gehen? hat? Wäre es nicht angebracht, wenn der Vorsitzende der
(Beifall bei der SPD – Gitta Connemann Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD,
[CDU/CSU]: Wo ist die Antwort? Was ma- also Sie, Herr Kollege Schreiner, dieser Arbeitsgruppe
chen Sie als Eigentümer? Sie haben meine zumindest die Chance geben würde, einen Bericht zu
Frage nicht beantwortet!) verfassen? Finden Sie es nicht auch bemerkenswert und
erfreulich, dass die Frau Bundesministerin mit dem
Ich sage Ihnen: Da wird überhaupt nicht unterschie- DGB-Bundesvorsitzenden zu genau dieser Frage eine
den. Es ist egal, ob die Träger sozialdemokratisch sind, gemeinsame Arbeitsgruppe eingesetzt hat?
2168 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

(A) Ottmar Schreiner (SPD): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)


Herr Kollege, ich habe überhaupt kein Problem da- Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
mit, sofort einzuräumen, dass ich das für eine vernünf- für die FDP-Fraktion.
tige Vorgehensweise halte.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: der CDU/CSU)
Sehr gut!)
Nicht alles, was die Koalition macht, ist Anlass für Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Schimpf und Schande. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Schreiner, Sie haben jetzt viel geredet, aber
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wenig zum eigentlichen Gesetzentwurf gesagt. Es
NEN]: Aber das meiste!)
kommt mir so vor, als hätten Sie heute die Rede gehal-
Das wäre ja noch schöner. Das, was Sie hin und wieder ten, die Sie seit Jahren immer wieder halten. Nach dem
betreiben, reicht schon aus, um Ihr Soll zu erfüllen. Regierungswechsel 1998, in der Spätphase Ihrer Regie-
rungsbeteiligung und jetzt in der Opposition halten Sie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
immer die gleiche Rede. Das finde ich bemerkenswert;
Aber das, was Sie eben vorgetragen haben, ist ein außer- das muss ich sagen. Sie tun dabei so – ich weiß, dass Sie
ordentlich begrüßenswerter Vorgang. persönlich gar nicht für die Agenda 2010 gestimmt ha-
ben –, als ob in all diesen Jahren nichts passiert wäre. Es
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ist schon doll und dreist, wenn Sie sagen, die Regierung
Hören Sie auf! Nicht zu viel Lob!)
sei im Verzug und habe nichts umgesetzt, und wenn Sie
Ich hoffe sehr, dass er generalisiert werden kann, mög- fragen, warum sie nicht gehandelt hat. Ich kann nur sa-
lichst unter Beteiligung von Herrn Kolb. gen: Die chtistlich-liberale Regierung ist seit gerade ein-
mal drei Monaten im Amt.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ohne uns wird
es auch nicht gehen!) (Anette Kramme [SPD]: Zumindest den Mindest-
lohn für Leiharbeit haben Sie verhindert!)
– Ohne euch geht allerlei. Wollen wir es einmal dabei
belassen. Natürlich stellt sich die Frage, was in all den Jahren vor-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) her passiert ist. Ich weiß auch nicht, warum Ihre Fraktion
Sie heute Abend als Redner benannt hat. Ich bin auf je-
Ich will noch eine letzte Bemerkung zu Frau den Fall der Meinung, dass Sie nicht wirklich etwas zum
Connemann machen. Das Argument ist immer: Wir Thema gesagt haben. (D)
(B)
brauchen diese flexiblen Arbeitsverhältnisse, weil es an-
sonsten nicht mehr Beschäftigung gibt. Es wird gesagt, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
das seien Zusatzarbeitsplätze. Sie haben nicht eine ein- Kommen Sie doch zum Thema!)
zige Untersuchung, – Genau deswegen komme ich jetzt zu Ihnen, Herr Kol-
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ich habe lege Montag.
gerade eine erwähnt!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die belegt, dass die weitere Flexibilisierung der Arbeits- NEN]: Danke!)
verhältnisse, sei es durch Abbau des Kündigungsschut- Ich will Ihnen sagen: Wir, die Regierung und die Ko-
zes – bei dem Thema sind wir gerade –, sei es durch alitionsfraktionen, haben das Urteil natürlich gelesen.
Ausweitung von Leiharbeit, sei es durch Ausweitung Auch wir haben unsere Schlüsse daraus gezogen. Der
von zeitlichen Befristungen, zu mehr Beschäftigung erste Schluss ist, dass wir keine überstürzten Einzelent-
führt. scheidungen treffen wollen, sondern dass wir das ge-
Das Generalkennzeichen des deutschen Arbeitsmark- samte Arbeitsrecht auf Kollisionen mit dem EU-Recht
tes in den letzten Jahren ist: Wir haben zwar eine Zu- überprüfen wollen und müssen. Denn sonst sagt in ein
nahme an Beschäftigung, aber fast ausschließlich im Be- paar Monaten oder Jahren Herr Schreiner wieder: Das
reich der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse, hättet ihr doch wissen müssen, ihr hättet doch erkennen
müssen, dass dieses oder jenes miteinander kollidiert.
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, wie bei
der SPD!) Der Fall an sich ist schon beschrieben worden. Der
EuGH hat entschieden, dass es gegen das EU-Recht ver-
und wir haben eine deutliche Abnahme regulärer, auf stößt, dass bei den Kündigungsfristen in Deutschland
Dauer angelegter Beschäftigungsverhältnisse. Das ist Beschäftigungszeiten erst ab dem 25. Lebensjahr be-
genau die falsche Entwicklung. Dieser Trend muss ge- rücksichtigt werden; das kann man so kurz beschreiben.
stoppt und, wenn es geht, in Teilen wieder umgekehrt In dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf, Herr Kollege
werden. Montag, fordern Sie die gänzliche Streichung des § 622
Schönen Dank. Abs. 1 Satz 1 BGB.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE NEN]: Abs. 2 Satz 2! Sie sollten unseren Ge-
GRÜNEN) setzentwurf schon lesen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2169
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) – Richtig, Abs. 2 Satz 2. das kann man in diesem Zusammenhang sicherlich dis- (C)
kutieren.
Natürlich kann man so etwas durchaus erwägen, Herr
Kollege Montag, aber es ist nicht alternativlos. Es gibt Bis zu der Gesetzesnovellierung, die aktuell im
Alternativen, die wir zurzeit intensiv prüfen und aus BMAS vorbereitet wird – das haben Sie mittlerweile ge-
meiner Sicht auch prüfen müssen. Denn die Auswirkun- hört und gelernt, Herr Schreiner –, gilt natürlich das Ur-
gen auf das Arbeitsrecht im Falle einer Streichung des teil, das die Arbeitgeber schon jetzt zu beachten haben.
§ 622 Abs. 2 Satz 2 – an der Stelle habe ich es mir rich- Das heißt, die Arbeitgeber dürfen § 622 Abs. 2 Satz 2 ab
tig aufgeschrieben – kommendem Montag nicht mehr anwenden. Bei der Be-
rechnung der Kündigungsfristen muss dann die gesamte
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers berücksichtigt
NEN]: Gut!) werden. Wir werden diese Aufforderung beachten. Das
wollte ich Ihnen heute Abend mitteilen.
wären ja nicht unbeträchtlich. In etlichen Tarifverträgen
wurden die Kündigungsfristen für Arbeitsverträge ana- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
log zum BGB festgelegt. Das gilt etwa für die Bauwirt- Wie viel Zeit brauchen Sie denn?)
schaft mit ihren bundesweit rund 700 000 Beschäftigten, – So viel Zeit wie nötig. In dem Fall geht Sorgfalt vor
von denen viele schon in jungen Jahren ein Stammar- Schnelligkeit, Herr Kollege Montag. Das sollte uns ei-
beitsverhältnis begonnen haben. gentlich allen gemein sein.
Man wird sich unter Umständen auch mit der Frage (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
auseinandersetzen müssen, ob zur Betriebszugehörigkeit Anette Kramme [SPD]: Wenn Sie ein solch
auch Ausbildungszeiten gehören, die, wenn das gericht- einfacher Sachverhalt überfordert, kann man
lich so gesehen wird, zu weiteren Verlängerungen der Ihnen auch nicht mehr helfen!)
Kündigungsfristen führen würden. Wir müssen auch an-
dere Stellen im geltenden Recht überprüfen, die mögli- Herr Kollege Montag, Herr Kollege Schreiner und Frau
cherweise eine Altersdiskriminierung zur Folge haben. Kollegin Kramme, wir sind für weitere konstruktive
Das betrifft einmal die Sozialauswahl insgesamt, Vorschläge selbstverständlich offen.

(Anette Kramme [SPD]: Wie war das noch in Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wün-
Ihrem Koalitionsvertrag?) sche noch einen schönen Abend.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
die eine Benachteiligung Jüngerer im Fall betriebsbe-
(B) dingter Kündigungen vorsieht. Selbst das Betriebsren- (D)
tengesetz, Frau Kramme, das in § 1 b bei der Unverfall- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
barkeit Zeiten vor dem 25. Lebensjahr ausblendet, würde Nun hat die Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion
tangiert. Die Linke das Wort.

Herr Montag, ich will damit nur sagen: All das gilt es (Beifall bei der LINKEN)
zu bedenken. Wir beobachten, dass nach nationalem
Recht zulässige Sachverhalte zunehmend mit Vorgaben Jutta Krellmann (DIE LINKE):
des europäischen Rechts kollidieren. Das ist auch bei der Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Altersdifferenzierung im deutschen Arbeitsrecht der Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bemerkenswert an
Fall. Das ist der Handlungsauftrag, den ich hier sehe und dem hier diskutierten Sachverhalt ist, wie Verbesserun-
beschreibe. gen für Beschäftigte heutzutage zustandekommen. Nach
dem, was ich eben von Frau Connemann und von Herrn
Die Entscheidung des EuGH wollen wir ungeachtet Kolb gehört habe, muss ich sagen, dass es genau in die
der formaljuristischen Bewertung – Frau Connemann hat entgegengesetzte Richtung geht. Ich vermute und be-
etwas bezüglich der Verwerfungskompetenz gesagt – fürchte, dass sich dahinter im Vergleich zum jetzigen
zum Anlass nehmen, jetzt eine Bestandsaufnahme vor- Zustand eher echte Verschlechterungen verbergen.
zunehmen. Wir sind uns übrigens mit den Kolleginnen
und Kollegen in der Koalition einig, dass wir europa- Es ist auffällig, dass nach der gerichtlich bezeugten Ver-
rechtskonforme Nachbesserungen im Arbeitsrecht prü- fassungswidrigkeit wesentlicher Regelungen von Hartz IV
fen wollen. Das Ergebnis kann nicht sein – da stimme nun ein weiterer Fall auf dem Tisch liegt, bei dem ein Ge-
ich der Kollegin Connemann ausdrücklich zu –, dass richt den Gesetzgeber auf eine Gerechtigkeitslücke hin-
sich Kündigungsfristen generell verlängern. Deswegen weisen muss. Was sagt uns dies über die vorangehende
muss man das, was Sie, Frau Connemann, vorgeschla- Bundesregierung? Fehlt da nicht die gesellschaftliche
gen haben, diskutieren, nämlich dass man bei der Be- Bodenhaftung, wenn Sie stets höchstrichterliche Start-
rechnung der Kündigungsfristen anfängliche Beschäfti- hilfe benötigen, um sich überhaupt mit gesetzlich hervor-
gungszeiten möglicherweise berücksichtigungsfrei lässt. gerufener Diskriminierung und Demütigung zu befassen?
Oder ist es schlichtweg Ignoranz? Um es klar zu sagen:
Der Arbeitgeberverband hat sich für die Wahlmög- Die Linke unterstützt die hier eingebrachten Gesetzent-
lichkeit ausgesprochen, bei Beendigung eines jeden Be- würfe des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD. Aber
schäftigungsverhältnisses die gesetzliche Kündigungs- um einen Satz zu streichen, braucht die Linke keinen ei-
frist durch Abfindungsvereinbarungen zu ersetzen. Auch genen Antrag.
2170 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Jutta Krellmann
(A) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Heinrich L. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
Kolb [FDP]: Sie machen doch sonst zu allem Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
Anträge, Frau Kollegin!) Ulrich Lange für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Fakt ist: Die Krise in der Realwirtschaft hat junge Be- (Beifall bei der CDU/CSU)
schäftigte besonders getroffen. Nach der Ausbildung be-
durfte es keiner Kündigung. Man hat sie einfach nicht Ulrich Lange (CDU/CSU):
übernommen. Damit waren Auszubildende neben Leih- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
arbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmern sowie unbe- gen! Es ist kurz vor halb zehn, und ich freue mich über
fristet Beschäftigten die ersten, die in der Krise gehen eine sehr muntere Debatte. Als ich das Thema, über das
mussten. Die Diskriminierung bei den Kündigungsfris- wir gerade diskutieren, gehört habe, habe ich zunächst
ten ist also nur die Spitze der prekären Situation vieler gedacht: Um Gottes willen, worüber reden wir denn
junger Beschäftigter. Deshalb kann die Streichung von heute Abend?
§ 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch nur der Anfang dringend
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
gebotener Reformen in dem Bereich sein.
GRÜNEN]: Ja! Das dachte ich auch! So kann
(Beifall bei der LINKEN) man sich täuschen!)
– Ja, so kann man sich täuschen.
Der nächste Schritt muss die Übernahme aller Auszu-
bildenden sein, wie es bisher nur in wenigen Tarifverträ- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
gen geregelt ist. Jugendliche brauchen ein Recht auf GRÜNEN]: Genau!)
Ausbildung und ein Recht auf Übernahme.
Die Frage, mit der wir uns gerade auseinandersetzen, ist
(Beifall bei der LINKEN) nämlich sehr spannend. So einfach, wie das Ganze auf
den ersten Blick zu sein scheint, ist es natürlich nicht.
Nie war der Einstieg in die Arbeitswelt mit so hohen Ri- Deswegen sage ich: Nicht schnelle Anträge sind zwin-
siken versehen und so prekär gestaltet wie heute. Ich er- gend die richtigen. Gut überlegte Anträge sind die richti-
innere daran, dass junge Menschen unter den befristet Be- gen.
schäftigten weit überdurchschnittlich vertreten sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
30 Prozent der unter 25-Jährigen haben einen befristeten
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Arbeitsvertrag. Die vorgeschlagene Änderung des Kün-
Bei uns fällt zum Glück immer beides zusam-
digungsschutzes entfaltet ihre Wirksamkeit erst ab einer men!)
Betriebszugehörigkeit von sechs Monaten. Die Möglich-
(B) (D)
keit, kalendermäßige Befristungen ohne sachlichen Grund Die Grünen waren schnell, die SPD wie immer nachhin-
zu vereinbaren, lässt den Kündigungsschutz während der kend und nicht denkend. In diesem Zusammenhang ist
Dauer der Befristung faktisch leerlaufen. das nichts Neues.

Die Zukunftschancen junger Menschen in diesem Ich will jetzt nicht auf den Sachverhalt der Entschei-
Land müssen verbessert werden. dung eingehen; der ist klar. Genauso klar ist die Ent-
scheidung des EuGH. Wir erkennen an, dass § 622
(Beifall bei der LINKEN) Abs. 2 Satz 2 BGB vom EuGH als altersdiskriminierend
eingestuft worden ist;
Denn was ist die Folge der prekären Situation, in der die
Regierung die Jugendlichen derzeit schutzlos zurück- (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
lässt? Was ist die Folge, wenn viele von ihnen nur eine GRÜNEN]: Wunderbar!)
geringfügige Beschäftigung finden, wenn der Berufsein- darüber brauchen wir überhaupt nicht zu diskutieren.
stieg von Hochschulabgängern nicht selten nur über eine Die Konsequenz ist auch klar: Dieser Richterspruch gilt.
lange Kette von Praktika funktioniert und eine unbefris- Wir brauchen keinerlei Gesetzesnovellierung – zunächst.
tete Übernahme nach der Ausbildung eher die Ausnahme Auch so weit sind wir uns, wie ich glaube, juristisch ei-
als die Regel ist? Die Folge ist doch, dass eine wirkliche nig.
Lebensplanung oder auch eine Familienplanung für
junge Menschen immer schwieriger oder gar unmöglich In einem Punkt kann ich Ihnen, Herr Montag, nicht
wird. recht geben: nämlich wenn Sie sagen, wegen der Arbeit-
geber soll es keine Streichung geben. Aus eigener Bera-
Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir mehr Si- tungspraxis weiß ich, dass wir bereits seit dem Inkraft-
cherheit, gute Arbeit und gute Löhne. treten des AGG darüber beraten haben und zu dem
Ergebnis gekommen sind, § 622 Abs. 2 Satz 2 nicht
(Beifall bei der LINKEN) mehr anzuwenden. Die tatsächliche Zahl der noch in der
gerichtlichen Schleife befindlichen Fälle dürfte sich des-
Hierfür gab es in den vergangenen Jahren leider keine halb in meinen Augen sehr in Grenzen halten.
Mehrheit im Bundestag. Die Linke wird alle gesetzli-
chen Initiativen, die in diese Richtung gehen, prüfen und Einen anderen Punkt – Kollegin Connemann hat ihn
unterstützen. schon ausführlich dargestellt – will ich nur ganz kurz
streifen. Natürlich ist es sehr kritisch zu beurteilen, wie
(Beifall bei der LINKEN) sich der EuGH hier verhält, seine notwendige Zurück-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2171
Ulrich Lange
(A) haltung aufgibt und sich in die Umsetzung deutscher Meine Damen und Herren, wenn wir diesem Urteil (C)
Rechtsakte einschaltet. des EuGH folgen, geben wir unser nationales Arbeits-
recht auf. Das wäre ein aufgezwungener Systemwechsel.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Wir müssen uns fragen, ob wir das wollen.
GRÜNEN]: Er setzt wenigstens Recht um!
Und Sie?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP)
Ich persönlich halte das für sehr bedenklich. Ich glaube,
dass das Bundesverfassungsgericht und wir als nationa- Man muss sich also die gesamte Bandbreite des Arbeits-
ler Gesetzgeber aufgefordert sind, deutlich zu machen rechts und des Tarifrechts genau anschauen.
– das ist natürlich ein Signal in Richtung EuGH –, dass
wir uns sehr genau überlegen und intensiv darüber dis- Wir wollen als nationaler Gesetzgeber grundsätzlich
kutieren müssen, wie wir in Zukunft mit Entscheidungen die Möglichkeit haben, im Rahmen der Rechtsprechung
des EuGH umgehen wollen und werden. des EuGH altersdifferenziert nationale Gesetze zu erlas-
sen. Ich appelliere an Sie: Nehmen Sie diesen voreiligen
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Gesetzentwurf zurück! Das ist das falsche Signal Rich-
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tung EuGH. Was Sie wollen, führt zu Rechtsunsicher-
Das ist doch ganz einfach: Wir werden sie be- heit. Helfen Sie mit: Setzen Sie sich mit uns an einen
achten müssen oder aus der EU austreten!) Tisch für ein Gesetz, welches allen Altersgruppen, der
Genauso intensiv werden wir uns mit den konkreten Beschäftigungsdauer und dem deutschen Arbeitsrecht
Aussagen des Urteils auseinandersetzen – das werden gerecht wird!
wir allerdings anders tun als Herr Schreiner –; denn der In diesem Sinne einen schönen Abend und herzlichen
EuGH hat die Beschäftigungsdauer ausdrücklich als Dank.
sachlichen Differenzierungsgrund beibehalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Herr Schreiner, „peinlich“ haben Sie genannt, dass Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das war eine gute
keine Streichung erfolgt ist, sondern dass erst der EuGH Rede, Herr Lange!)
entscheiden musste. Herr Schreiner, peinlich war diese
Bemerkung. Ich will Ihnen einmal ganz kurz den chro-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nologischen Ablauf im Zusammenhang mit dieser EU-
Richtlinie vortragen. Die Richtlinie datiert vom 27. No- Bevor wir alle Feierabend haben, gebe ich zu einer
vember 2000. Wer war da in der Regierung? Kurzintervention dem Kollegen Jerzy Montag das Wort.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Schreiner!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) (D)
Das war die erste 100-Euro-Frage. Die zweite Frage: Bis Sehr geehrte Frau Präsidentin, Sie sind zu gütig; herz-
wann hätte die Richtlinie das erste Mal umgesetzt wer- lichen Dank!
den müssen? Bis zum 2. Dezember 2003. Herr Kollege Lange, Sie haben in Ihrem Redebeitrag
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: 2003 sogar!) mich persönlich und meine Fraktion mehrfach in einer
halb lustigen, halb süffisanten Form angesprochen. Ich
Die nächste 100-Euro-Frage: Wer war da in der Regie- gebe zu: § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB hätte schon zu einem
rung? früheren Zeitpunkt ersatzlos gestrichen werden können
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Herr Schreiner!) und sollen.
Herr Schreiner und Herr Montag. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Warum haben
Sie das nicht gemacht?)
(Zuruf der Abg. Anette Kramme [SPD])
Damit ist aber auch das Ende des Lustigen erreicht.
– Wenn Sie etwas wissen wollen, dann fragen Sie; aber Zur Wahrheit der Auseinandersetzung in diesem Hause
blöken Sie nicht dazwischen! Das habe ich heute Mittag um den Kampf gegen Diskriminierung gehört – viel-
schon einmal gehabt. – Wenn Sie etwas hätten ändern leicht haben Sie das nicht mitbekommen –, dass die
wollen, hätten Sie das bei Ihrem eigenen Gesetzentwurf, Union, insbesondere die CSU, gegen jegliche Umset-
als Sie in der Regierungsverantwortung waren, tun kön- zung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien
nen. Widerstand geleistet hat. Sie haben dagegen von A bis Z
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) polemisiert. Sie haben dagegen getan, was Sie nur konn-
ten, und auch falsche Behauptungen aufgestellt, um das
Denken wir einmal zu Ende, was dieses Urteil bedeu- Erreichte zu konterkarieren.
tet: Keine Diskriminierung Jüngerer, das würde das
Ende der tariflichen Unkündbarkeit bedeuten; denn wa- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie hatten doch
rum sollte es die tarifliche Unkündbarkeit aufgrund des die Mehrheit, Herr Montag!)
Lebensalters geben? Das wäre das Ende von vielen Ta-
Sie haben uns erzählt, dass das Antidiskriminierungs-
rifverträgen, von Sozialplänen, von Betriebsvereinba-
gesetz zu Hunderttausenden von Arbeitsgerichtsverfah-
rungen. Das gesamte deutsche Kündigungsrecht stünde
ren führen würde. Sie haben behauptet, dass der Grund-
auf dem Prüfstand, einschließlich einer Sozialauswahl
satz der Vertragsfreiheit zur Disposition stehen würde.
nach dem Alterskriterium.
Sie haben nie begriffen, dass Vertragsfreiheit überhaupt
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es!) erst da beginnt, wo Diskriminierung endet. Sie brauchen
2172 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Jerzy Montag
(A) uns also nicht zu erzählen, wie mühselig es ist, sich in bensalter war. Herr Montag, hier nur zu sagen: „Wir (C)
diesem Hause gegen Diskriminierungen zu wehren. Da streichen etwas“, greift zu kurz.
sind wir von Ihnen in der Vergangenheit gut beraten
(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, absolut!)
worden.
Damit werden Sie dem AGG, der Gleichberechtigung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und dem Gesamtproblem des deutschen Arbeitsrechts
und bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
nicht gerecht.
[FDP]: Das war jetzt nach dem Motto: „Ei-
gentlich bin ich ganz anders, ich komme nur Deswegen wollen wir eine ausführliche Debatte mit
nicht dazu“!) Substanz. Dieser werden wir uns hier sicherlich wieder
stellen, und zu der werden wir uns hier wieder treffen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Schönen Abend, danke schön.
Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Für alles gibt es ein erstes Mal. Natürlich war ich da-
Ich schließe die Aussprache.
mals nicht dabei, Herr Kollege Montag.
Tagesordnungspunkt 16. Interfraktionell wird Über-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 17/657 an
NEN]: Eben!) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
Ich habe mich aber als Anwalt viele Jahre mit dem Ar- schlagen. Allerdings ist die Federführung strittig. Die
beitsrecht beschäftigt und die praktische Auswirkung Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und Die
dieses AGG erlebt. Das AGG war für uns Arbeitsrecht- Linke wünschen Federführung beim Ausschuss für Ar-
ler geradezu ein Konjunkturprogramm – nicht dass ich beit und Soziales. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mich jetzt beschweren würde; das wäre auch nicht in wünscht Federführung beim Rechtsausschuss.
Ordnung. Wir stimmen nun zuerst über den Überweisungsvor-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das
NEN]: Ich will kein Honorar von Ihnen! – heißt, Federführung beim Rechtsausschuss. Wer stimmt
Heiterkeit – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-
L. Kolb [FDP]: Pecunia non olet!) gen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist
eindeutig abgelehnt.
(B) – Wir teilen uns das. – Wir haben im Koalitionsvertrag (D)
deswegen ausdrücklich festgeschrieben: In Zukunft er- Nun stimmen wir über den Überweisungsvorschlag
folgen die Umsetzungen eins zu eins. Das ist das Ent- der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und
scheidende. Die Linke ab, das heißt also, Federführung beim Aus-
schuss für Arbeit und Soziales. Wer stimmt für diesen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Überweisungsvorschlag? – Ist jemand dagegen? – Ent-
neten der FDP – Anette Kramme [SPD]: Bloß haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit an-
nichts zusätzlich gegen Diskriminierung tun!) genommen, das heißt, die Federführung liegt beim Aus-
Ich nenne Ihnen einige Beispiele aus meiner Praxis: schuss für Arbeit und Soziales.
Sie haben vielleicht die Problematik der AGG-Hopper Zusatzpunkt 5. Der Gesetzentwurf auf Druck-
mitbekommen, die sehr massiv war. Sie haben natürlich sache 17/775 soll an die in der Tagesordnung aufgeführ-
mitbekommen, dass Kleinbetriebe plötzlich Probleme ten Ausschüsse überwiesen werden. – Damit sind Sie
dabei bekamen, ihre Anzeigen in der Zeitung selbst zu einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung
gestalten. Sie mussten bei den Anwälten anrufen, um zu so beschlossen.
fragen: Wie darf ich denn überhaupt noch eine Anzeige
schalten, damit ich mich präsentieren und ein neuer Ar- Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 17:
beitnehmer zu mir kommen kann? – So einfach ist es mit Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
dem AGG also nicht. gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Trotzdem bleibe ich dabei: Wenn wir die Diskriminie- Änderung des Telemediengesetzes (1. Teleme-
rung jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu dienänderungsgesetz)
Ende denken, dann stellen wir fest, dass uns bei unserem – Drucksache 17/718 –
Arbeitsrecht ein absoluter Systembruch ins Haus steht; Überweisungsvorschlag:
denn das Argument und Abwägungskriterium Alter war Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
im deutschen Arbeitsrecht bisher ganz wesentlich. Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Mit
Recht!) Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Das betrifft Punkteschemata, Sozialpläne, Betriebs- Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Martina
vereinbarungen, Urlaub usw. Es gab Betriebsvereinba- Krogmann, Andreas Lämmel, Martin Dörmann, Claudia
rungen zu zusätzlichem Urlaub, der abhängig vom Le- Bögel, Kathrin Senger-Schäfer und Tabea Rößner.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2173

(A) Dr. Martina Krogmann (CDU/CSU): setzentwurf schreibt vor, dass der Diensteanbieter, das (C)
Die technische Entwicklung schreitet rasant voran. heißt jede natürliche oder juristische Person, die die
Deshalb ist es in Anbetracht der neuen Übertragungs- Auswahl und Gestaltung der angebotenen Inhalte wirk-
techniken für audiovisuelle Mediendienste notwendig sam kontrolliert, für diese auch verantwortlich ist. Da-
geworden, den geltenden Rechtsrahmen den gewandel- mit wird klargestellt, dass die Anbieter von Video-on-
ten Gegebenheiten anzupassen. Das Erste Gesetz zur Demand-Diensten denselben Vorschriften unterliegen
Änderung des Telemediengesetzes setzt die europäische wie die Anbieter anderer Telemedien. Erfasst werden
Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste in nationa- von dem vorliegenden Gesetzentwurf also auf Abruf be-
les Recht um und stellt klar, welchen Pflichten die Anbie- reitgestellte audiovisuelle Mediendienste, bei denen es
ter von Video-on-Demand-Diensten unterliegen. sich um Massenmedien handelt, das heißt, die für den
Empfang durch einen wesentlichen Teil der Allgemein-
Ziel der Richtlinie ist es, den Auswirkungen des heit bestimmt sind und bei dieser eine deutliche Wirkung
Strukturwandels, der Verbreitung der Informations- und entfalten können.
Kommunikationstechnologien und den technologischen
Entwicklungen auf die Geschäftsmodelle und insbeson- Betroffen sind nur wirtschaftliche Tätigkeiten – auch
dere auf die Finanzierung des kommerziellen Rundfunks solche öffentlich-rechtlicher Unternehmen.
Rechnung zu tragen. Insbesondere sollen optimale Wett- Nicht in den Geltungsbereich des Telemediengesetzes
bewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für die euro- fallen vorwiegend nicht wirtschaftliche Tätigkeiten, die
päischen Unternehmen und Dienste im Bereich der In- nicht mit Fernsehsendungen im Wettbewerb stehen.
formationstechnologien und der Medien gewährleistet Dazu gehören beispielsweise private Internetseiten und
werden. Dienste zur Bereitstellung oder Verbreitung audiovisuel-
Da die Vorschriften für bestimmte Geschäftsmodelle, ler Inhalte, die von privaten Nutzern für Zwecke der ge-
wie zum Beispiel die audiovisuellen Mediendienste auf meinsamen Nutzung und des Austauschs innerhalb von
Abruf, innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Interessengemeinschaften erstellt werden.
Union Unterschiede aufweisen, von denen einige den Ferner werden auch weiterhin alle Formen privater
freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäi- Korrespondenz, zum Beispiel an eine begrenzte Anzahl
schen Union behindern und den Wettbewerb innerhalb von Empfängern versandte elektronische Post, oder ani-
des Binnenmarkts verzerren könnten, war eine europa- mierte Websites nicht in den Anwendungsbereich des
weite Lösung geboten. Es galt, auf alle audiovisuellen Telemediengesetzes fallen, da hier die audiovisuellen
Mediendienste – sowohl Fernsehprogramme, das heißt Elemente nur Nebenerscheinungen darstellen. Wir wer-
lineare audiovisuelle Mediendienste, als auch audiovi- den mit dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht nur die
(B) suelle Mediendienste auf Abruf, das heißt nicht lineare Rechtssicherheit für die Unternehmen weiter erhöhen, (D)
audiovisuelle Mediendienste – zumindest bestimmte ge- sondern auch einen weiteren Beitrag zum Schutz der
meinsame Grundvorschriften anzuwenden. Verbraucher und zu mehr Transparenz leisten.
Gerade kleinere und mittlere Unternehmen werden Die Anbieter audiovisueller Medien auf Abruf unter-
von einem freien und fairen Wettbewerb in der EU profi- liegen den Publizitätspflichten des § 5 Telemedienge-
tieren. Die gleichen Wettbewerbsbedingungen werden zu setz. Der Verbraucher weiß jetzt auch bei Video-on-
einer signifikanten Zunahme von zukunftssicheren, qua- Demand-Anbietern, wer ihm die Dienste anbietet und
lifizierten Arbeitsplätzen gerade auch in Deutschland wie er schnell und unkompliziert mit dem Anbieter in
führen. Der vorliegende Gesetzentwurf regelt den Gel- Kontakt treten kann.
tungsbereich des Telemediengesetzes für diesen Bereich,
fügt entsprechende Definitionen in das TMG ein und sta- Ferner profitiert der Verbraucher auch bei Video-on-
tuiert den Kreis der verpflichteten Unternehmen. Her- Demand-Diensten von den datenschutzrechtlichen Be-
vorzuheben ist, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der stimmungen des Telemediengesetzes, sodass seine per-
sich auf die wirtschaftsbezogenen Regelungen für audio- sönlichen Daten auch hier umfassend geschützt sind.
visuelle Mediendienste auf Abruf beschränkt, in enger Der vorliegende Gesetzentwurf leistet einen weiteren
Abstimmung mit den Ländern, in deren Zuständigkeit Beitrag zur Anpassung der Rechtssicherheit, zur Stär-
die linearen audiovisuellen Mediendienste, also das kung der Wirtschaft und der Verbraucher.
Fernsehen, fallen, erfolgt ist, um eine Harmonisierung
mit dem Rundfunkstaatsvertrag sicherzustellen. So wird
eindeutig geregelt, dass die Anbieter von Video-on-De- Andreas G. Lämmel (CDU/CSU):
mand-Diensten den Regelungen des Telemediengesetzes Wir befassen uns heute mit der Umsetzung einer
und nicht rundfunkrechtlichen Bestimmungen unterlie- Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht.
gen. Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember
Da audiovisuelle Mediendienste auf Abruf sich von 2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates
Fernsehprogrammen in den Auswahl- und Steuerungs- zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungs-
möglichkeiten der Nutzer unterscheiden, ist es gerecht- vorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der
fertigt, für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf weni- Fernsehtätigkeit (Audiovisuelle-Mediendienste-Richtli-
ger strenge Vorschriften zu erlassen, sodass sie nur den nie – AVMD-RL). Innerhalb des deutschen Rechts ent-
Grundvorschriften der Richtlinie über audiovisuelle hält das Telemediengesetz (TMG) die wirtschaftsbezoge-
Mediendienste unterliegen sollten. Der vorliegende Ge- nen Regelungen für die Telemedien. Speziell sind dies die

Zu Protokoll gegebene Reden


2174 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Andreas G. Lämmel
(A) Vorschriften, die der Umsetzung einer anderen Richtlinie zungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohne (C)
der Europäischen Union (2000/31/EG, sogenannte Probleme geschehen. Die Länder werden die Anforde-
E-Commerce-Richtlinie) dienen. Der Rundfunkstaats- rungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkände-
vertrag der Bundesländer beinhaltet ebenfalls Regelun- rungsstaatsvertrag (13. RÄStV) umsetzen. Ich meine, es
gen zum Thema Telemedien. Der Rundfunkstaatsvertrag ist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Frak-
regelt speziell die inhaltsbezogenen Anforderungen und tionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streite-
die Fragen der Aufsicht. Das Telemediengesetz enthält reien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden.
hingegen die wirtschaftsbezogenen Regelungen. Diese Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln.
gesetzlichen Regelungen werden durch die Vereinbarun- In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agieren
gen des Bundes und der Bundesländer aus dem Jahre gelungen.
2004 zur Fortentwicklung der Medienordnung abgerun-
det. Martin Dörmann (SPD):
Die neue Richtlinie der Europäischen Union und de- Es ist keine Überraschung, wenn ich Ihnen verrate,
ren rechtliche Umsetzung in das deutsche Recht erwei- dass das Internet auch 2009 weiter gewachsen ist. Fast
tern den bestehenden Rechtsrahmen für die Branche. 70 Prozent der Deutschen waren im vergangenen Jahr
Gerade in einer Branche mit hohem Innovationstempo online. Die Bedeutung der Internetbranche als wichtiger
ist es notwendig, die rechtlichen Rahmenbedingungen Zukunfts- und Wachstumsmarkt ist weiter gestiegen.
ständig zu aktualisieren und den Marktteilnehmern Dies ist erfreulich und soll so bleiben.
Rechtssicherheit zu gewähren. Das neue Telemedienge-
Die neuen Möglichkeiten schaffen jedoch auch viel-
setz deckt nun sämtliche audiovisuelle Mediendienste
fältige praktische und rechtliche Problemstellungen.
ab. Neben den bisher umfassten Fernsehdiensten sind
Neue Kommunikationsforen und Geschäftsmodelle und
nun auch die audiovisuellen Mediendienste auf Abruf
die massenhafte Nutzung des Internets stellen besondere
Gegenstand des Gesetzes. Die Rechts- und Verwaltungs-
Herausforderungen dar. Wir alle wollen, dass im Inter-
vorschriften der Mitgliedstaaten für audiovisuelle Me-
net kein rechtsfreier Raum entsteht und mit den von uns
diendienste auf Abruf hatten bisher unterschiedliche In-
gewonnenen Daten sorgfältig umgegangen wird.
halte, die teilweise den freien Dienstleistungsverkehr
innerhalb der Europäischen Union zu behindern und Diesem Handlungsbedarf stellt sich das Telemedien-
den Wettbewerb innerhalb des EU-Binnenmarkts zu ver- gesetz. Es bietet ein übergreifendes und einheitliches
zerren drohten. Bedenkt man das erhebliche Potenzial Datenschutzkonzept für Rundfunk und Telemedien und
für hochqualifizierte Arbeitsplätze, welches die neuen schafft zusätzliche Rechtssicherheit. Für die Politik ist
audiovisuellen Mediendienste auf Abruf – gerade für es selbstverständlich, dass man mit der rasanten Ent-
(B) kleinere und mittlere Unternehmen – bieten, dann ist die wicklung des Internets Schritt halten und der Rechtsrah- (D)
Absicht der Europäischen Union, hier gleiche Wettbe- men dahin gehend angepasst werden muss. Hier haben
werbsbedingungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade die wir in dieser Legislaturperiode Arbeit vor uns. Darauf
Prinzipien des Binnenmarktes, freier Wettbewerb und gehe ich später noch ein.
Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer, sind Voraus-
setzungen für einen transparenten und berechenbaren Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
Markt sowie für einen problemlosen Zugang der Ver- ist vergleichsweise unstrittig. Die von der Bundesregie-
braucher zu diesen Diensten. rung geplanten Änderungen dienen zur Umsetzung der
EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste in natio-
Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicher- nales Recht. Damit werden Telemedien, die in fernseh-
heit innerhalb der Europäischen Union für die audiovi- ähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten, in die
suellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingt Vorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen. Die
positiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspek- Bundesländer haben hierzu den 13. Rundfunkände-
tive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingun- rungsstaatsvertrag beschlossen, der am 1. April in Kraft
gen stets zu begrüßen. treten soll. Im Kern geht es um die Liberalisierung der
europäischen Werberegeln, von der man sich insgesamt
Es ist weiterhin positiv zu bewerten, dass der Natio- mehr Flexibilität erwartet. Dies wird jenen Anbietern
nale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetzlichen nutzen, die von der Werbung als Refinanzierungsmodell
Prüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Gesetzent- abhängig sind.
wurf hervorbringt. Zusätzliche Informationspflichten für
die Unternehmen in unserem Lande werden nicht einge- Ich will es nicht unnötig spannend machen und fest-
führt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mit stellen, dass wir diesem Gesetzentwurf auch als Opposi-
diesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Bürokra- tionsfraktion gerne zustimmen. Wenn die Bundesregie-
tiekosten verbunden – ein Umstand, der mir als Wirt- rung sinnvolle Vorschläge macht, gibt es aus unserer
schaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Unter- Sicht keinen Grund, sich zu verweigern.
nehmen, gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, son- Es wird aber zukünftig darum gehen, das Internetge-
dern weniger. setz auf der Höhe der Zeit zu halten. Hierzu will ich zu-
nächst noch einmal die bisherige Diskussion der vergan-
Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundes- genen Legislaturperiode in Erinnerung rufen. Anfang
ländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Abstim- 2007 haben wir mit dem neuen Telemediengesetz erst-
mung wird bewirken, dass die erforderlichen Umset- mals einen einheitlichen, entwicklungsoffenen Rechts-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2175
Martin Dörmann
(A) rahmen im Bereich der Tele- und Mediendienste ge- oder nicht. Die Rechtsprechung hat hier die Unterlas- (C)
schaffen. Frühere Abgrenzungsprobleme sind entfallen. sungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kernglei-
Gegenüber dem alten Rechtszustand wurde eine deutli- che Rechteverletzungen ausgedehnt. Dies hat zu großer
che Verbesserung erzielt. Damit haben wir einen wirksa- Verunsicherung geführt, weil eine weite Auslegung der
men Beitrag zur Fortentwicklung des Internets geleistet, Kerngleichheit zu einer fast uferlosen Haftung führen
für das das Telemediengesetz von besonderer Bedeutung könnte. Auf der anderen Seite würde eine zu enge Ausle-
ist. Wir mussten damals das Gesetz zügig verabschieden, gung möglicherweise zu einer Verkürzung der betroffe-
um ein zeitgleiches Inkrafttreten mit dem neunten Staats- nen Rechteinhaber führen. Insgesamt geht es daher vor
vertrag für Rundfunk und Telemedien zum 1. März 2007 allem um eine gerechte und praktikable Lösung, die die
zu ermöglichen. Beide Regelwerke ergänzen sich und unterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Ver-
haben die bisherigen Bestimmungen abgelöst. brauchern und Internetunternehmen zu einem vernünfti-
gen Ausgleich bringt.
Im Mai 2008 hat der Bundestag eine ausführliche De-
batte über möglichen Änderungsbedarf geführt. Grund- Diesen goldenen Mittelweg zu finden und mit allen
sätzlich gibt es in diesem Hause keine Fraktion, die ei- Beteiligten einvernehmlich abzustimmen, hat sich als
nen solchen Bedarf nicht sehen würde, wenn auch äußerst schwierig erwiesen. Wir erwarten nun von der
jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Bundesregierung, dass sie einen weiteren Gesetzentwurf
vorlegt, in dem die problematisierten Gesichtspunkte be-
Im vergangenen Jahr hat die FDP-Fraktion einen ei- rücksichtigt und angemessen gelöst werden. Die He-
genen Gesetzentwurf zur Änderung des Telemedienge- rausforderungen und Schwierigkeiten sind bestens be-
setzes vorgelegt. Er behandelte insbesondere die Frage kannt. Nun sollte gehandelt werden.
der Störerhaftung. Die von der FDP vorgetragenen Än-
derungsvorschläge gingen bei den Regelungen zu Such-
maschinen und Hyperlinks grundsätzlich in die richtige Claudia Bögel (FDP):
Richtung. Andererseits enthielt der Entwurf allerdings Jeder von uns kennt diese Situation: Man öffnet sei-
auch eine Reihe von Widersprüchlichkeiten und frag- nen E-Mail-Eingang, sieht die neuen Nachrichten
würdigen Regelungsvorschlägen, insbesondere in Fra- durch, öffnet eine nicht eindeutig gekennzeichnete Mail
gen der Störerhaftung. Der Gesetzentwurf war daher und stellt dann mit Erstaunen fest, dass es sich um eine
aus Sicht der damaligen Koalitionsfraktionen insgesamt Werbebotschaft handelt. In den meisten Fällen ärgert
keine geeignete Grundlage für eine Novellierung des Te- man sich über eine solche unaufgefordert zugesandte
lemediengesetzes. Dies hatte auch eine von uns durchge- Verbraucherinformation, zumal sie selten die eigenen
führte Expertenanhörung in der vergangenen Legisla- Bedürfnisse wirklich anspricht bzw. widerspiegelt.
Diese irreführenden Angaben bei E-Mail-Werbung soll
(B) turperiode ergeben. das hier zu beschließende Telemedienänderungsgesetz (D)
Ich habe bei der Plenardebatte im vergangenen Jahr genauso wie andere wesentliche Bestandteile des Um-
bereits darauf hingewiesen, dass es dem Bundestag in gangs mit audiovisuellen Mediendiensten regeln.
der neuen Legislaturperiode vorbehalten bleibt, dieses
Thema erneut aufzugreifen. Das sollten wir alsbald tun. Der Entwurf des Telemedienänderungsgesetzes sieht
eine Eins-zu-eins-Umsetzung der europäischen Audiovi-
Aus unserer Sicht geht es hierbei in erster Linie um suellen-Mediendienste-Richtlinie in deutsches Recht
die weitere Verbesserung der Rechtssicherheit im Be- vor. Im Rahmen dessen werden die Vorgaben der bishe-
reich der Internethaftung. Das betrifft die Klärung der rigen Fernsehrichtlinie aktualisiert und auf fernsehähn-
Störerhaftung sowie Fragen, die von den Haftungsbe- liche Online-Dienste, präzise: audiovisuelle Medien-
stimmungen der einschlägigen E-Commerce-Richtlinie dienste auf Abruf, ausgeweitet. Der dann umfassende
nicht erfasst werden und die auch in Deutschland vor Rechtsrahmen für alle audiovisuellen Mediendienste ist
diesem Hintergrund ausdrücklich nicht geregelt wurden, die Voraussetzung für eine Verbesserung der Rechtssi-
insbesondere Suchmaschinen und Hyperlinks. Insofern cherheit und die Schaffung gleicher Wettbewerbsbedin-
haben wir es nämlich mit einer Rechtsprechung zu tun, gungen.
die in der Internetbranche für Unsicherheiten gesorgt
hat, die es möglichst zu beseitigen gilt. Besonders wichtig für ein Änderungsgesetz im Be-
reich der Telemedien ist die Art der Ausgestaltung. Sie
Konkret geht es etwa um die Fragestellung, inwieweit muss offen sein und bleiben, sodass neue Entwicklungen
ein Diensteanbieter für Inhalte haftet, die er nicht selbst möglich sind und mit allen Kräften unterstützt werden.
eingestellt hat. Dass Rechteverletzungen beseitigt wer- Im vorliegenden Gesetzesentwurf wird diesem Anspruch
den müssen, steht dabei außer Frage. Probleme bereitet Rechnung getragen und die Novellierung kann somit
allerdings die zukünftige Verhinderung einer Rechtever- eine ganze Reihe von Verbesserungen mit sich bringen.
letzung, insbesondere dann, wenn eine Rechteverletzung Vor allem die dann spezifischen Regelungen, wo ein
festgestellt wurde und die Anwendung auf analoge Fälle Diensteanbieter, der audiovisuelle Mediendienste in sei-
zu übertragen ist. Und wer auf seiner Homepage Links nem Portfolio hat, als niedergelassen anzusehen ist,
auf andere Seiten eingestellt hat, kann diese nicht stän- seien in dem Zusammenhang erwähnt. Diese Zuordnung
dig kontrollieren. verdeutlicht Zuständigkeiten und vereinfacht auf diese
Weise Prozesse.
Im Kern geht es also um die Frage, inwieweit Dienste-
anbieter beispielsweise im Rahmen einer Störerhaftung Die Branche, über die wir hier sprechen, ist eine der
reguläre Überwachungspflichten übernehmen müssen dynamischsten überhaupt. Die wirtschaftliche und tech-

Zu Protokoll gegebene Reden


2176 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Claudia Bögel
(A) nologische Fortentwicklung in diesem Bereich erfordert hielt. Nicht aber vorlegen kann dieses Haus die drin- (C)
ein besonders schnelles und effizientes Aktions-Reakti- gend notwendige, immer wieder eingeforderte grundle-
ons-Modell seitens der Politik. Steine, die im Weg liegen, gende Novellierung des Telemediengesetzes. Dass wir
müssen mit beiden Händen gleichzeitig gepackt und zur bis heute keine Novellierung des Gesetzes haben, ist
Seite gerollt werden. nicht nachvollziehbar und ein Armutszeugnis für das
Bundeswirtschaftsministerium.
Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass der rasante
wirtschaftliche und technologische Fortschritt durch ge- Das Telemediengesetz in der aktuellen Fassung ist
eignete rechtliche Rahmenbedingungen für die neuen niedergeschriebene Rechtsunsicherheit. In der Frage
Dienste und den elektronischen Geschäftsverkehr flan- der Haftung müssen die Inhalte- und Zugangsanbieter
kiert und gefördert wird. Als Beauftragte meiner Frak- wissen, was erlaubt und was verboten ist. Seit Inkrafttre-
tion für Informations- und Kommunikationstechnologien ten des Telemediengesetzes entscheiden die Gerichte in
und den Mittelstand möchte ich in diesem Zusammen- Deutschland in zahlreichen Urteilen in diesen und ähn-
hang nachdrücklich auf die besondere Verbindung der lichen Fragen völlig unterschiedlich. Eine gesetzliche
beiden Bereiche hinweisen. Klarstellung ist erforderlich, damit beispielsweise Web-
seitenbetreiber und Inhalteanbieter künftig keinen prä-
Der nationale und internationale Wettbewerb in die-
ventiven Überwachungspflichten für fremde Inhalte aus-
ser Branche ist unvergleichlich fordernd. Besonders die
gesetzt sind. Meine Fraktion hat dazu in der letzten Le-
kleinen und mittleren Unternehmen müssen sich alltäg-
gislaturperiode Änderungsvorschläge gemacht. Auch
lich auf neue Entwicklungen in ihrer Branche einstellen.
die FDP hat solche vorgelegt. Ich bin gespannt, wann
Hier benötigen sie verlässliche und sinnige Gesetzes-
sie diese als Regierungspartei umsetzen wird.
vorgaben, die ihnen ihre Arbeit vereinfachen, die Bedin-
gungen verbessern und dazu beitragen, der internatio- Zweitens. Die EU-Fernsehrichtlinie harmonisiert zu-
nalen Konkurrenz auf Augenhöhe zu begegnen. Denn es allererst Geschäftsbeziehungen. Für die Anbieter von
kann nicht oft genug betont werden: Das Rückgrat der audiovisuellen Dienstleistungen auf dem europäischen
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Deutschlands ist der Binnenmarkt werden Werbebeschränkungen dereguliert
Mittelstand! Ohne ihn geht nichts in Deutschland. und Bedingungen der kommerziellen Kommunikation
Die Globalisierung aber stellt den Mittelstand vor – auch das nur ein anderer Ausdruck für Werbung – de-
neue gewaltige Herausforderungen. Der Unternehmer finiert. Es geht also ums Geldverdienen und um Rendite.
als Einzelkämpfer findet sich schnell auf verlorenem Es geht nicht um Verbraucherrechte, nicht um die Be-
Posten wieder, gefragt sind Vernetzung und ganzheitli- reitstellung eines vielfältigen kulturellen Programman-
ches Denken. Doch das Pferd kann eben nicht von hinten gebots und schon gar nicht um die Sicherung der Auto-
(B) aufgezäumt werden, und Reiten ohne Sattel ist auch eine nomie journalistisch-redaktioneller Arbeit. (D)
riskante Angelegenheit. Regeln, die nicht Hürden auf- Mit dem 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wollen
bauen, sondern durch Präzisierung von Begrifflichkei- die Länder diese Deregulierungsbestimmungen für den
ten und Zuordnung dazu beitragen, die Arbeit zu er- Rundfunk in deutsches Recht umsetzen. Dieser soll nach
leichtern, sehe ich als sehr sinnvoll an. Aus diesem den Plänen der Ministerpräsidenten der Länder zum
Grund möchte ich Sie um Ihre Unterstützung für den 1. April 2010 in Kraft treten. Wir lehnen diese Änderun-
Entwurf des 1. Telemedienänderungsgesetzes bitten und gen im Rundfunkstaatsvertrag ab. Im Gegensatz zu den
freue mich, wenn dadurch auch dem Mittelstand in unse- vorliegenden Änderungen im Telemediengesetz, die
rem Land ein Dienst erwiesen wird. nach der EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind,
lässt die Richtlinie bei der Umsetzung der Werbebestim-
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): mungen für den Rundfunk ausdrücklich Ausnahmen zu.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung Die Nationalstaaten haben hier einen weiten Bemes-
ist eine Folge der Novellierung der EU-Fernsehrichtli- sungsspielraum. Um nur einige Punkte zu nennen: Der
nie. Mit dem 1. Telemedienänderungsgesetz werden Än- nach EU-Recht liberalisierten Möglichkeit zur Produkt-
derungen im Geltungsbereich, in den Begriffsbestim- platzierung hätte durch verbindlichere Formulierungen
mungen und Regelungen zum Sitzland für audiovisuelle rechtssicher Rechnung getragen werden können. Sen-
Mediendienste, wie sie die Richtlinie vorgibt, umgesetzt. dungen mit Produktplatzierungen hätten mit einem kla-
Das alles ist kein Problem, Gesetzgebungsroutine sozu- ren Zusatz „Dauerwerbesendung“ versehen werden
sagen. Problematisch allerdings sind zwei Punkte, auf können. Die vorgesehene Erweiterung des Werbeanteils
die ich hinweisen möchte: bei den privaten Rundfunksendern durch exklusive
Sponsoren- und Product-Placement-Zeiten schadet dem
Erstens. Die Bundesregierung hatte zwei Jahre Zeit, kulturellen Auftrag des Fernsehens.
um die genannten Aspekte der EU-Fernsehrichtlinie bis
zum 19. Dezember 2009 in deutsches Recht umzusetzen. Bei der Umsetzung der Vorgaben aus der neugestalte-
Jetzt ist es Ende Februar 2010. Das Bundeswirtschafts- ten EU-Fernsehrichtlinie sind nach Auffassung der Lin-
ministerium – in der letzten Legislaturperiode von der ken strenge Maßstäbe anzulegen. Produktplatzierungen
CSU geführt, jetzt von der FDP – war zwei Jahre lang müssen für private Rundfunkanbieter ausnahmslos kenn-
außerstande, Änderungen am Telemediengesetz vorzu- zeichnungspflichtig sein. Um Umgehungstatbestände
nehmen. Dort kann man quasi über Nacht ein Internet- – zum Beispiel durch Umetikettierung von Geldzuwen-
sperrgesetz erarbeiten, das in der Ursprungsfassung ja dungen – auszuschließen, sind auch solche Produktplat-
ebenfalls eine Änderung des Telemediengesetzes ent- zierungen zu kennzeichnen, für die kein Entgelt und

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2177
Kathrin Senger-Schäfer
(A) keine ähnlichen Gegenleistungen bezahlt werden. Für gibt es weiterhin die klassischen Telemedienangebote (C)
den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind Produktplatzie- wie etwa spiegel-online.de. Die dritte, nun neue Katego-
rungen, darin in Einklang mit dem Ausnahmetatbestand rie sind Telemediendienste auf Abruf, sogenanntes On-
für kulturelle Vielfalt nach Art. 3 der Fernsehrichtlinie, Demand. Sie werden als „fernsehähnlich“ eingestuft, da
ausdrücklich zu untersagen. sie durch einen wesentlichen Teil der Allgemeinheit
empfangen werden können, und setzen eine wirksame re-
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): daktionelle Verantwortung voraus. Für sie sollen nun in-
nerhalb des Telemediengesetzes spezifische Regelungen
Bis vor kurzem kannte es keiner, spätestens seit der
gelten, beispielsweise gibt es andere Anforderungen an
durch Frau von der Leyen angezettelten Kinderporno-
das Sitzland als bei den anderen Telemedienanbietern.
grafie-Sperr-Debatte ist das Telemediengesetz ein Be-
griff. So weit, so gut. An der europäischen Umsetzung ist
nichts auszusetzen. Aber mehr hat man sich nicht ge-
Weniger bekannt ist aber offenbar, was dort bisher
traut. Schade. Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundes-
geregelt ist – und vor allem: noch geregelt werden
regierung mal einen großen Wurf macht und alle seit
müsste!
langem anstehenden Fragen vom Tisch räumt! Das ist
Wie sonst wären die Bundesländer beim Jugendme- ein Ignorieren all derer, die sich für eine vernünftige
dienschutz-Staatsvertrag, JMStV, auf die Idee gekom- Überarbeitung des Gesetzes während der letzten Jahre
men, Inhalteanbieter, für die die Auflagen des Jugend- eingesetzt haben, als da sind: Provider und Forenanbie-
medienschutzes ja richtigerweise gelten, mit Zugangs- ter, Verbraucher- und Datenschützer und damit sämtli-
anbietern und Inhaltevermittlern gleichzusetzen, die be- che häufig in Anhörungen geladene Experten.
reits nach dem Telemediengesetz – abgemildert – haf-
Es wäre bitter nötig, liebe Bundesregierung, eine Ent-
ten? Oder wollte man hier dem Bund in die Kompetenz
scheidung zu treffen, wie Social-Media-Angebote, aber
grätschen?
auch Blogs und Foren in der Praxis für User Content
Die Debatte um den Jugendmedienschutz hat das Au- haften sollen. Wenn Vorabkontrollen zur durch Gerichte
genmerk in eine falsche Richtung gelenkt: Die Frage angeordneten Pflicht werden, geht eine Szene kaputt, die
muss nicht sein, wie wir die reinen Zugangsanbieter und Bürgerbeteiligung bedeutet, eine Alternative zum Main-
Inhaltevermittler stärker in die Jugendschutzpflicht neh- stream-Journalismus darstellt und aus unserer Netzwelt
men können, sondern wie die bisherigen Haftungsaufla- einfach nicht mehr wegzudenken ist!
gen innerhalb des Telemediengesetzes noch klarer for-
Aber an diese Fragen traut man sich nicht heran.
muliert und an die Realität angepasst werden können.
Stattdessen lässt man die Bundesländer mit absurden
(B) Inhaltliche Vorabkontrollen und -entfernungen sind Regelungen für sämtliche Anbieter rund ums Netz han- (D)
auch nach bisheriger Lesart – jedenfalls einiger Ge- tieren.
richte – im Telemediengesetz nicht klar ausgeschlossen.
Das schafft Rechtsunsicherheit. Klar ist auch für uns Wir Grünen haben bereits in der letzten Legislatur
Grüne: Diensteanbieter müssen rechtswidrige Links und mit zwei Anträgen – 16/3499, 16/6394 – deutlich ge-
Inhalte entfernen, sobald sie davon Kenntnis erlangt ha- macht, was uns im Telemediengesetz fehlt. Dazu gehören
ben und es ihnen technisch zumutbar ist. Aber erst dann neben einheitlichen und sinnvollen Datenschutzregelun-
und nicht vorher. Dazu dient das sogenannte Notice- gen klarere Vorgaben zur Verfolgung von Spam ins TMG.
and-take-down-Verfahren, bei dem Nutzerinnen und Spam ist nicht nur nervig und zeitraubend für die Nutze-
Nutzer dem Diensteanbieter rechtswidrige Inhalte mel- rinnen und Nutzer, sondern auch ein gewaltiger ökologi-
den können, damit dieser sie entfernt. scher Ballast: In einem Jahr fressen Spam-Mails
33 Milliarden Kilowattstunden, so viel Strom wie eine
Auch für Suchmaschinenanbieter müssen endlich ganze Großstadt! Eine Spam-Mail verursacht einen
klare Regelungen her. Sie sind ebenso Zugangsdienst- CO2-Ausstoß von 0,3 Gramm. Die meiste Energie wird
leister, die selbst keine Inhalte produzieren. beim Sichten und Löschen verbraucht, nur ein kleiner
Teil beim Senden und automatischen Filtern. Eine Bun-
Leider aber findet sich von diesen Punkten kein einzi- desregierung, die sich auch Green IT ins Programm
ger im vorliegenden Gesetzentwurf, und das, obwohl die schreibt, könnte ja im TMG mal zeigen, wie ernst sie es
FDP mit auf der Regierungsbank sitzt, die sich die Haf- im Detail meint!
tungserleichterungen immer groß auf die Fahnen ge-
schrieben hatte! Wir Grünen wollen in Sachen Werbemails ein gene-
relles Opt-in-Verfahren. Nur wer der Zusendung von
Der hier zu debattierende Entwurf ist wieder nur Werbung vorher ausdrücklich zugestimmt hat, darf
Stückwerk. Er setzt die Anforderungen der audiovisuel- ebensolche erhalten. Jedes Zuschicken unerwünschter
len Mediendienste-Richtlinie der EU um. Das ist drin- Werbung muss als Ordnungswidrigkeit geahndet und mit
gend notwendig, weil dadurch anerkannt wird, dass es hohem Bußgeld belegt werden. Sie muss außerdem
eben nicht nur den sendenden Rundfunk auf der einen durch die Bundesnetzagentur verfolgt werden. Nur wenn
Seite und die Telemedien auf der anderen Seite gibt, un- es hier spürbare Sanktionen gegen die Versender gibt,
ter die dann alles fällt, was im und um das Internet kann Spam effektiv eingedämmt werden.
Dienste anbietet. Jetzt wird endlich die europäische
Dreiteilung umgesetzt: Es gibt Angebote wie herkömmli- Liebe Koalition, ich fordere Sie auf, uns so schnell
ches Fernsehen, Webcasting oder Live-Streaming. Dann wie möglich ein an die Realitäten des Internets ange-

Zu Protokoll gegebene Reden


2178 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010

Tabea Rößner
(A) passtes Telemediengesetz vorzulegen, in dem sämtliche Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt deutlich: So (C)
Haftungsfragen klar formuliert sind, in dem sich eine ef- sieht eine Stärkung des Internets als dem freiheitlichsten
fektivere Verfolgung von Spam findet und in dem der di- und effizientesten Informations- und Kommunikations-
gitale Datenschutz ernst genommen wird. Immer öfter forum nicht aus!
sehen sich Nutzerinnen und Nutzer damit konfrontiert,
dass ihre persönlichen Daten im Internet veröffentlicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
werden. Hier wird interfraktionell die Überweisung des Ge-
setzentwurfs auf Drucksache 17/718 an die in der Tages-
Wir Grünen fordern seit langem ein sogenanntes ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Kopplungsverbot, das nicht nur für marktbeherrschende Auch damit sind Sie am Ende des Tages einverstanden.
Unternehmen gilt: Die Nutzung eines Onlinedienstes Dann ist die Überweisung so beschlossen.
– egal ob soziales Netzwerk, E-Mail-Dienst oder E-Com-
merce-Angebot – darf nicht an die Herausgabe perso- Damit sind wir auch schon am Schluss unserer heuti-
nenbezogener Daten geknüpft werden. Wir setzen uns gen Tagesordnung.
außerdem dafür ein, dass Nutzerinnen und Nutzer den Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Verbleib ihrer Daten regelmäßig abfragen können. Da- destages auf morgen, Freitag, den 26. Februar 2010,
für soll die Weitergabe der Daten aus unserer Sicht je- 9 Uhr, ein.
weils protokolliert werden. Dies hätte zur Folge, dass
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen restlichen
jede Datenerhebung nachvollziehbar würde und rechts-
Abend und schließe die Sitzung.
widrige Erhebungspraktiken nicht länger verborgen
blieben. (Schluss: 21.34 Uhr)

(B) Berichtigung (D)


23. Sitzung, Seite 1997 (C), vierter Absatz, der erste
Satz ist wie folgt zu lesen: „Wer aber glaubt, es lohne
sich zu wenig, zu arbeiten, der hat verschiedene Möglich-
keiten.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 24. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 25. Februar 2010 2179

(A) Anlage zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 25.02.2010

Bernschneider, Florian FDP 25.02.2010

Binninger, Clemens CDU/CSU 25.02.2010

Bülow, Marco SPD 25.02.2010

Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ 25.02.2010


DIE GRÜNEN

Ehrmann, Siegmund SPD 25.02.2010

Dr. Gysi, Gregor DIE LINKE 25.02.2010

Heil (Peine), Hubertus SPD 25.02.2010

Pflug, Johannes SPD 25.02.2010

Pieper, Cornelia FDP 25.02.2010

Dr. Röttgen, Norbert CDU/CSU 25.02.2010


(B) (D)
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 25.02.2010

Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 25.02.2010


DIE GRÜNEN

Schmidt (Fürth), CDU/CSU 25.02.2010


Christian

Dr. Schwanholz, Martin SPD 25.02.2010

Süßmair, Alexander DIE LINKE 25.02.2010

Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ 25.02.2010


DIE GRÜNEN

Zylajew, Willi CDU/CSU 25.02.2010


Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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