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Plenarprotokoll 16/32

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

32. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Dirk Becker als d) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich
Schriftführer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2587 A L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl
Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord-
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2587 B Fraktion der FDP: Keine Renten-
versicherungspflicht für geschäftsfüh-
Absetzung der Tagesordnungspunkte 25 a und b 2588 C rende Alleingesellschafter einer
Begrüßung des Präsidenten der Assemblée GmbH
nationale, Herrn Debré . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2608 B (Drucksache 16/966) . . . . . . . . . . . . . . . . 2589 A

Glückwünsche zum Geburtstag des Abgeord- e) Unterrichtung durch die Bundesregie-


neten Jörg Rohde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2621 D rung: Bericht der Bundesregierung über
die gesetzliche Rentenversicherung, ins-
besondere über die Entwicklung der
Tagesordnungspunkt 3: Einnahmen und Ausgaben, der Nach-
haltigkeitsrücklage sowie des jeweils
a) Zweite und dritte Beratung des von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs erforderlichen Beitragssatzes in den
eines Gesetzes über die Weitergeltung der künftigen 15 Kalenderjahren (Renten-
aktuellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006 versicherungsbericht 2005)
(Drucksachen 16/794, 16/1004, 16/1078) 2588 C und
Gutachten des Sozialbeirats zum Ren-
b) Beschlussempfehlung und Bericht des tenversicherungsbericht 2005 und zum
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Alterssicherungsbericht 2005
dem Antrag der Abgeordneten Volker (Drucksache 16/905) . . . . . . . . . . . . . . . . 2589 A
Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,
Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und f) Unterrichtung durch die Bundesregie-
der Fraktion der LINKEN: 1-Euro-Jobs rung: Ergänzender Bericht der
aus der Berechnungsgrundlage für die Bundesregierung zum Rentenversi-
Rentenanpassung herausnehmen cherungsbericht 2005 (Alterssiche-
(Drucksachen 16/826, 16/1078) . . . . . . . . 2588 D rungsbericht 2005)
c) Beschlussempfehlung und Bericht des und
Ausschusses für Arbeit und Soziales zu Gutachten des Sozialbeirats zum Ren-
der Unterrichtung durch die Bundesregie- tenversicherungsbericht 2005 und zum
rung: Vorschlag für eine Richtlinie des Alterssicherungsbericht 2005
Europäischen Parlaments und des (Drucksache 16/906) . . . . . . . . . . . . . . . . 2589 B
Rates zur Verbesserung der Portabilität
von Zusatzrentenansprüchen (inkl. g) Unterrichtung durch die Bundesregie-
13686/05 ADD 1) rung: Nationaler Strategiebericht
KOM (2005) 507 endg.; Ratsdok. 13686/05 Alterssicherung 2005
(Drucksachen 16/150 Nr. 2.265, 16/1155) 2588 D (Drucksache 15/5571) . . . . . . . . . . . . . . . 2589 C
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

h) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2612 D


Bericht der Bundesregierung über die
Gerd Andres, Parl. Staatssekretär
gesetzliche Rentenversicherung, insbe-
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2613 D
sondere über die Entwicklung der
Einnahmen und Ausgaben, der Nachhal- Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2614 C
tigkeitsrücklage sowie des jeweils erfor-
derlichen Beitragssatzes in den künftigen Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2616 C
15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI Gerd Andres, Parl. Staatssekretär
(Rentenversicherungsbericht 2004) BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2617 A
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Ren- Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/
tenversicherungsbericht 2004 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2617 B
(Drucksache 15/4498) . . . . . . . . . . . . . . . . 2589 C Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 2618 B
Franz Müntefering, Bundesminister Dr. Barbara Hendricks (SPD) . . . . . . . . . . 2618 C
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2589 D
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU) . . . . 2619 C
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2591 D
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2620 B
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2594 A
Jörg Rohde (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2621 D
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 2596 B
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2622 D
2598 A
Peter Weiß (Emmendingen) Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . 2623 D
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2599 C Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2625 A
Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2600 D Rolf Stöckel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2626 D
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2601 D
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 2602 B Tagesordnungspunkt 32:
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2603 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 2604 C rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Artikel-10-
Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 2605 D Gesetzes
Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2606 A (Drucksache 16/509) . . . . . . . . . . . . . . . . 2628 D
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2606 A b) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . 2606 D
zes zur Umsetzung der Richtlinie 2004/
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 2607 C 25/EG des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 21. April 2004 be-
treffend Übernahmeangebote (Über-
Tagesordnungspunkt 4: nahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz)
Antrag der Fraktion der LINKEN: Für (Drucksache 16/1003) . . . . . . . . . . . . . . . 2628 D
Selbstbestimmung und soziale Sicherheit – c) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Strategie zur Überwindung von Hartz IV rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
(Drucksache 16/997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2609 A zes zu dem Vertrag vom 27. Mai 2005
zwischen dem Königreich Belgien, der
in Verbindung mit Bundesrepublik Deutschland, dem
Königreich Spanien, der Französischen
Republik, dem Großherzogtum Luxem-
Zusatztagesordnungspunkt 2: burg, dem Königreich der Niederlande
und der Republik Österreich über die
Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Vertiefung der grenzüberschreitenden
Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, Zusammenarbeit, insbesondere zur
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des Bekämpfung des Terrorismus, der
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Hartz IV grenzüberschreitenden Kriminalität
weiterentwickeln – Existenzsichernd, indi- und der illegalen Migration
viduell, passgenau (Drucksache 16/1108) . . . . . . . . . . . . . . . 2628 D
(Drucksache 16/1124) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2609 A
d) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2609 B
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU) . . . . 2611 A zes zur Umsetzung des Vertrags vom
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 III

27. Mai 2005 zwischen dem Königreich c) Zweite und dritte Beratung des von der
Belgien, der Bundesrepublik Deutsch- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
land, dem Königreich Spanien, der eines Gesetzes zur Änderung des Öl-
Französischen Republik, dem Großher- schadengesetzes und anderer schiff-
zogtum Luxemburg, dem Königreich fahrtsrechtlicher Vorschriften
der Niederlande und der Republik (Drucksachen 16/737, 16/1160) . . . . . . . . 2630 A
Österreich über die Vertiefung der
grenzüberschreitenden Zusammenar- d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
beit, insbesondere zur Bekämpfung des des von der Bundesregierung eingebrach-
Terrorismus, der grenzüberschreiten- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
den Kriminalität und der illegalen Übereinkommen vom 8. Dezember 2004
Migration über den Beitritt der Tschechischen
(Drucksache 16/1109) . . . . . . . . . . . . . . . . 2629 A Republik, der Republik Estland, der
Republik Zypern, der Republik Lett-
e) Erste Beratung des von der Bundesregie- land, der Republik Litauen, der Repu-
rung eingebrachten Entwurfs eines blik Ungarn, der Republik Malta, der
Gesetzes zur Änderung des Agrarstatis- Republik Polen, der Republik Slowe-
tikgesetzes und des Rinderregistrie- nien und der Slowakischen Republik zu
rungsdurchführungsgesetzes dem Übereinkommen über die Beseiti-
(Drucksache 16/1023) . . . . . . . . . . . . . . . . 2629 A gung der Doppelbesteuerung im Falle
f) Antrag der Abgeordneten Rainder von Gewinnberichtigungen zwischen
Steenblock, Winfried Hermann, Peter verbundenen Unternehmen
Hettlich, weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 16/914, 16/1143) . . . . . . . . 2630 C
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE e) Zweite und dritte Beratung des von der
GRÜNEN: Notschleppkonzept an Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
gestiegene Herausforderungen anpassen eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
(Drucksache 16/685) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2629 B 2. März 2005 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Republik
Jemen zur Vermeidung der Doppelbe-
Zusatztagesordnungspunkt 3: steuerung von Luftfahrtunternehmen
a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, auf dem Gebiet der Steuern vom Ein-
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, kommen und vom Vermögen
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 16/915, 16/1144) . . . . . . . . 2630 C
der LINKEN: Die Beziehungen zwischen
f) Zweite und dritte Beratung des von der
EU und Lateinamerika solidarisch
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
gestalten – Kein Freihandelsabkom-
eines Gesetzes zur Änderung und Berei-
men EU-Mercosur
nigung des Lastenausgleichsrechts
(Drucksache 16/1126) . . . . . . . . . . . . . . . . 2629 B (Drucksachen 16/916, 16/955, 16/1145) 2631 A
b) Antrag der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der Zusatztagesordnungspunkt 4:
FDP: Zwangsheirat wirksam bekämp-
fen – Opfer stärken und schützen – a) Zweite und dritte Beratung des von der
Gleichstellung durch Integration und Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Bildung fördern eines Gesetzes zur Änderung der Vor-
(Drucksache 16/1156) . . . . . . . . . . . . . . . . 2629 C schriften über die Luftaufsicht und die
Luftfahrtdateien
(Drucksachen 16/958, 16/1159) . . . . . . . . 2631 A
Tagesordnungspunkt 33:
b) Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
a) Zweite und dritte Beratung des von der schusses: Übersicht 2 über die dem
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Deutschen Bundestag zugeleiteten
eines Gesetzes zur Änderung des Streitsachen vor dem Bundesverfas-
patentrechtlichen Einspruchsverfah- sungsgericht
rens und des Patentkostengesetzes (Drucksache 16/1141) . . . . . . . . . . . . . . . 2631 C
(Drucksachen 16/735, 16/1153) . . . . . . . . 2629 C
c) – j)
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung
des von der Bundesregierung eingebrach- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem schusses: Sammelübersichten 28, 29, 30,
Internationalen Übereinkommen von 31, 32, 33, 34 und 35 zu Petitionen
2001 über die zivilrechtliche Haftung (Drucksachen 16/1132, 16/1133, 16/1134,
für Bunkerölverschmutzungsschäden 16/1135, 16/1136, 16/1137, 16/1138,
(Drucksachen 16/736, 16/1154) . . . . . . . . 2630 A 16/1139) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2631 C
IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Zusatztagesordnungspunkt 5: Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2656 A


Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Heinz Schmitt (Landau) (SPD) . . . . . . . . . . . 2657 A
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bei-
trag des Energiegipfels zur Energieversor-
gungssicherheit und zur Verringerung der Tagesordnungspunkt 6:
Gefahren durch Atomkraft und Klima- Zweite und dritte Beratung des vom Bundes-
wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2632 B rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Renate Künast (BÜNDNIS 90/ zur Änderung des Buchpreisbindungs-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2632 C gesetzes
(Drucksachen 16/238, 16/1118) . . . . . . . . . . . 2658 B
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) . . 2633 C Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 2658 C

Ute Kumpf (SPD) (zur Geschäftsordnung) . . 2633 D Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2659 D

Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär Monika Griefahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2660 D


BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2634 B Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 2662 C
Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2636 A Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2663 B
Michael Müller, Parl. Staatssekretär
BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2637 A Rita Pawelski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2664 B
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2639 B
Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2640 A Tagesordnungspunkt 7:

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Dr. Reinhard


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2641 B Loske, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2642 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Nie wie-
der Tschernobyl – Zukunftssichere Ener-
Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU) . . . 2643 C gieversorgung ohne Atomkraft
Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2644 C (Drucksache 16/860) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2665 C
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2645 D Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2665 C
Dr. Rainer Tabillion (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2647 A
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2666 C
Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2648 B
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 2668 C
Sigmar Gabriel, Bundesminister
Tagesordnungspunkt 5: BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2670 A
a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 2671 A
SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/
Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2672 A
DIE GRÜNEN: Einsetzung eines Parla-
mentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung
Tagesordnungspunkt 8:
(Drucksache 16/1131) . . . . . . . . . . . . . . . . 2649 A
Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
b) Unterrichtung durch den Parlamentari- desregierung eingebrachten Entwurfs eines
schen Beirat für nachhaltige Entwicklung: Gesetzes über die Deutsche Nationalbiblio-
Bericht des Parlamentarischen Beirats thek (DNBG)
für nachhaltige Entwicklung (Drucksachen 16/322, 16/896) . . . . . . . . . . . . 2673 A
(Berichtszeitraum: 11. März 2004 bis
29. Juni 2005) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2673 A
(Drucksache 15/5942) . . . . . . . . . . . . . . . . 2649 A Christoph Waitz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2674 A
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2649 B Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2675 A
Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2651 A Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 2676 A
Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2652 B Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/
Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2653 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2677 A
Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2678 B
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2654 C Christoph Pries (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2679 A
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 V

Tagesordnungspunkt 9: Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 2697 D


a) Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2698 C
Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP: Ordnungspolitischer Kompass für Tagesordnungspunkt 12:
die deutsche Energiepolitik
Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei-
(Drucksache 16/589) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2680 B digungsausschusses zu der Unterrichtung
b) Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, durch den Wehrbeauftragten: Jahresbericht
Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-Schröter, 2004 (46. Bericht)
weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksachen 15/5000, 16/909) . . . . . . . . . . . 2700 B
der LINKEN: Die zukünftige Ener- Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter
gieversorgung sozial und ökologisch des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . 2700 C
gestalten
(Drucksache 16/1082) . . . . . . . . . . . . . . . . 2680 B Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2701 D
Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2680 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 2702 D
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2681 C Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2704 B
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 2683 C Rolf Kramer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2705 B
Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2684 B Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2706 B
Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2685 D Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . 2707 B
Gudrun Kopp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2686 B Hedi Wegener (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2708 A

Tagesordnungspunkt 10: Tagesordnungspunkt 13:

Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender,
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe,
Sicherung von Werkunternehmeransprü- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
chen und zur verbesserten Durchsetzung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Dem Soli-
darsystem eine stabile Grundlage geben –
von Forderungen (Forderungssicherungs-
für eine nachhaltige Finanzierungsreform
gesetz – FoSiG)
der Krankenversicherung
(Drucksache 16/511) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2687 C (Drucksache 16/950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2708 D
Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 2687 C Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/
Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . 2688 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2708 D
Geert Mackenroth, Staatsminister Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2709 C
(Sachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2689 C Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . 2711 A
Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . 2691 B Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU) . . . . . . . . . 2712 C
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Frank Spieth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 2715 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2692 B
Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2693 A
Tagesordnungspunkt 14:
Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2693 D
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Tagesordnungspunkt 11: Neuregelung der Besteuerung von Energie-
erzeugnissen und zur Änderung des Strom-
Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, steuergesetzes
Oskar Lafontaine, Werner Dreibus, Petra Pau (Drucksache 16/1172) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2715 D
und der Fraktion der LINKEN: Gegen die
Schließung von 45 Standorten bei der Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 2716 A
Deutschen Telekom AG Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 2717 C
(Drucksache 16/845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2694 C
Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2718 C
Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2694 D
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 2720 C
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . 2695 D
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/
Martin Zeil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2697 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2721 B
VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Tagesordnungspunkt 15: Tagesordnungspunkt 19:


Antrag der Abgeordneten Cornelia Pieper, a) Antrag der Abgeordneten Bärbel Höhn,
Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abgeord- Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Undine
neter und der Fraktion der FDP: Vorausset- Kurth (Quedlinburg) und der Fraktion des
zungen für Entwicklung, Bau und Betrieb BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ver-
einer Europäischen Spallations-Neutronen- bot der Käfighaltung für Legehennen
quelle in Deutschland schaffen – Deutsche ab 2007 beibehalten
Bewerbung vorantreiben (Drucksache 16/839) . . . . . . . . . . . . . . . . 2728 C
(Drucksache 16/386) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2722 C
b) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dr. Kirsten Tackmann,
Tagesordnungspunkt 16: Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der LINKEN: Ar-
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Fünften Geset- beitsplätze durch artgerechte Legehen-
zes zur Änderung des Urheberrechtsgeset- nenhaltung in Deutschland sichern –
zes Verbot der Käfighaltung ab 2007
(Drucksache 16/1107) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2722 D durchsetzen
(Drucksache 16/1128) . . . . . . . . . . . . . . . 2728 C
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär
BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2723 A
in Verbindung mit
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2723 C
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 2724 B Zusatztagesordnungspunkt 7:
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 2726 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Dirk Manzewski (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2726 D schusses für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge-
ordneten Hans-Michael Goldmann,
Tagesordnungspunkt 17: Dr. Christel Happach-Kasan, Dr. Edmund
Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion der FDP: Keine Wettbewerbsver-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- zerrungen für Landwirte durch die Umset-
geordneten Dr. Norman Paech, Wolfgang zung der EU-Richtlinie zur Haltung von
Gehrcke, Monika Knoche, weiterer Abgeord- Nutztieren in nationales Recht
neter und der Fraktion der LINKEN: Weiter
(Drucksachen 16/590, 16/1142) . . . . . . . . . . . 2728 D
verhandeln – kein Militäreinsatz gegen den
Iran Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
(Drucksachen 16/452, 16/962) . . . . . . . . . . . . 2727 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2729 A

in Verbindung mit Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . 2729 C


Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . 2730 C
Zusatztagesordnungspunkt 6: Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2731 A
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 2732 D
geordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei,
Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 2733 C
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN: Für ein friedliches Vorgehen im Kon- Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . 2735 B
flikt über das iranische Atomprogramm –
Demokratische Entwicklung unterstützen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 2736 D
(Drucksachen 16/651, 16/1157) . . . . . . . . . . . 2727 D
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . 2737 C

Tagesordnungspunkt 18:
Tagesordnungspunkt 20:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur a) Antrag der Abgeordneten Gisela Piltz,
Einführung der Europäischen Genossen- Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei-
schaft und zur Änderung des Genossen- terer Abgeordneter und der Fraktion der
schaftsrechts FDP: Gegen rechtsstaatsfreie Räume –
(Drucksache 16/1025) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2728 B Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 VII

von Akkreditierungsverfahren bedür- Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land)


fen einer Rechtsgrundlage (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2746 B
(Drucksache 16/577) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2738 C Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2748 A
b) Antrag der Abgeordneten Silke Stokar von Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2749 A
Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Krista Sager (BÜNDNIS 90/
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2749 D
GRÜNEN: Kein Generalverdacht bei
den Sicherheitsüberprüfungen zur Fuß-
ballweltmeisterschaft 2006 Anlage 4
(Drucksache 16/686) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2738 C
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände-
rung des Urheberrechtsgesetzes (Tagesord-
Tagesordnungspunkt 21: nungspunkt 16)
Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Josef Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen), DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2750 C
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Kinder-
rechte in Deutschland vorbehaltlos umset- Anlage 5
zen – Erklärung zur UN-Kinderrechtskon-
vention zurücknehmen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
(Drucksache 16/1064) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2738 D der Anträge:

Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ – Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2739 A gegen den Iran

Ina Lenke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2739 C – Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt


über das iranische Atomprogramm – De-
Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2740 C mokratische Entwicklung unterstützen

Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2742 A (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord-


nungspunkt 5)
Marlene Rupprecht (Tuchenbach)
(SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2743 A Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2751 B
Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 2752 B
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2744 C
Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 2753 B
Dr. Norman Paech (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 2754 A
Anlage 1
Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 2745 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2754 C

Anlage 2 Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
Antrags: Gegen die Schließung von 45 Stand- des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung
orten bei der Deutschen Telekom AG (Tages- der Europäischen Genossenschaft und zur
ordnungspunkt 11) Änderung des Genossenschaftsrechts (Tages-
ordnungspunkt 18)
Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2745 C Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 2755 B
Klaus Uwe Benneter (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 2756 D
Anlage 3 Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . 2757 D

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 2759 A
des Antrags: Voraussetzungen für Entwick- Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/
lung, Bau und Betrieb einer Europäischen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2759 D
Spallations-Neutronenquelle in Deutschland
schaffen – Deutsche Bewerbung vorantreiben Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär
(Tagesordnungspunkt 15) BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2761 B
VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Anlage 7 Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2765 A


Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 2766 A
der Anträge:
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/
– Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicher- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2766 C
heitsüberprüfungen im Rahmen von
Akkreditierungsverfahren bedürfen einer
Rechtsgrundlage
Anlage 8
– Kein Generalverdacht bei den Sicherheits-
überprüfungen zur Fußballweltmeister- Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
schaft 2006 Antrags: Kinderrechte in Deutschland vorbe-
haltlos umsetzen – Erklärung zur UN-Kinder-
(Tagesordnungspunkt 20 a und b) rechtskonvention zurücknehmen (Tagesord-
Beatrix Philipp (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 2762 A nungspunkt 21)
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 2763 D Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 2767 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2587

(A) (C)

Redetext

32. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle


Die Sitzung ist eröffnet. Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Ich begrüße Sie alle sehr herzlich zu unseren heutigen Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer stärken
Beratungen. und schützen – Gleichstellung durch Integration und
Bildung fördern
Bevor wir in die Tagesordnung einsteigen, erbitte ich – Drucksache 16/1156 –
Ihre Aufmerksamkeit für einige kurze Mitteilungen. Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Die Kollegin Mechthild Rawert hat ihr Amt als Auswärtiger Ausschuss
Schriftführerin niedergelegt. Als Nachfolger schlägt die Innenausschuss
Fraktion der SPD den Kollegen Dirk Becker vor. Sind Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist offenkundig Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
der Fall. Dann ist der Kollege Becker zum Schriftführer Ausschuss für Bildung, Forschung und
(B) gewählt. Technikfolgenabschätzung (D)
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Entwicklung
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er-
führten Punkte zu erweitern: gänzung zu TOP 33)
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
Bundespolitische Folgerungen aus den Vorgängen an der der Vorschriften über die Luftaufsicht und die Luft-
Rütli-Hauptschule in Berlin fahrtdateien
(siehe 31. Sitzung) – Drucksache 16/958 –
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für
Markus Kurth, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeord- Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss)
neter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/1159 –
Hartz IV weiterentwickeln – Existenzsichernd, individu- Berichterstattung:
ell, passgenau Abgeordnete Dorothee Menzner
– Drucksache 16/1124 – b) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschus-
Überweisungsvorschlag: ses (6. Ausschuss)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Übersicht 2
Finanzausschuss über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
Ausschuss für Kultur und Medien
– Drucksache 16/1141 –
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- schusses (2. Ausschuss)
gänzung zu TOP 32)
Sammelübersicht 28 zu Petitionen
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel,
– Drucksache 16/1132 –
Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der LINKEN d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses (2. Ausschuss)
Die Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika so-
lidarisch gestalten – Kein Freihandelsabkommen EU- Sammelübersicht 29 zu Petitionen
Mercosur – Drucksache 16/1133 –
– Drucksache 16/1126 – e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses (2. Ausschuss)
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sammelübersicht 30 zu Petitionen
Entwicklung – Drucksache 16/1134 –
2588 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe- (C)
schusses (2. Ausschuss) Gerigk, Josef Philip Winkler, Monika Lazar, weiterer Abge-
Sammelübersicht 31 zu Petitionen ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
NEN
– Drucksache 16/1135 –
Menschenhandel bekämpfen – Opferrechte weiter aus-
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- bauen
schusses (2. Ausschuss)
– Drucksache 16/1125 –
Sammelübersicht 32 zu Petitionen
Überweisungsvorschlag:
– Drucksache 16/1136 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Auswärtiger Ausschuss
schusses (2. Ausschuss) Innenausschuss
Sammelübersicht 33 zu Petitionen Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
– Drucksache 16/1137 –
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll – so-
schusses (2. Ausschuss) weit erforderlich – abgewichen werden.
Sammelübersicht 34 zu Petitionen
Die Tagesordnungspunkte 25 a und b sollen abgesetzt
– Drucksache 16/1138 – werden. Es wird allein über den Antrag der Fraktion des
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus- Bündnisses 90/Die Grünen – Tagesordnungspunkt 25 c –
schusses (2. Ausschuss)
beraten. Außerdem soll der Tagesordnungspunkt 34 – da-
Sammelübersicht 35 zu Petitionen bei handelt es sich um die Abstimmung über die Be-
– Drucksache 16/1139 – schlussempfehlung zum Antrag auf Einsetzung eines
ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- Untersuchungsausschusses – unmittelbar im Anschluss
SES 90/DIE GRÜNEN: an die Wahl einer Vizepräsidentin aufgerufen werden.
Beitrag des Energiegipfels zur Energieversorgungssicher- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ich
heit und zur Verringerung der Gefahren durch Atomkraft höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
und Klimawandel
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Wir kommen nun zur Tagesordnung. Ich rufe die
wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 h auf:
geordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
SES 90/DIE GRÜNEN gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über das irani- über die Weitergeltung der aktuellen Renten-
sche Atomprogramm – Demokratische Entwicklung un- werte ab 1. Juli 2006
terstützen
(B) – Drucksachen 16/651, 16/1157 – – Drucksachen 16/794, 16/1004 – (D)
Berichterstattung: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Abgeordnete Joachim Hörster
Dr. Rolf Mützenich ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
– Drucksache 16/1078 –
Jürgen Trittin Berichterstattung:
ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Abgeordneter Anton Schaaf
schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Landwirte durch die
Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst,
Umsetzung der EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren Katja Kipping, weiterer Abgeordneter und der
in nationales Recht Fraktion der LINKEN
– Drucksachen 16/590, 16/1142 –
1-Euro-Jobs aus der Berechnungsgrundlage
Berichterstattung: für die Rentenanpassung herausnehmen
Abgeordente Dr. Peter Jahr
Dr. Wilhelm Priesmeier – Drucksachen 16/826, 16/1078 –
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann Berichterstattung:
Bärbel Höhn Abgeordneter Anton Schaaf
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Hirsch,
Dr. Petra Sitte, Volker Schneider (Saarbrücken), weiterer Ab- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
geordneter und der Fraktion der LINKEN richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
Anforderungen an die Gestaltung eines europäischen und (11. Ausschuss) zu der Unterrichtung durch die
eines nationalen Qualifikationsrahmens Bundesregierung
– Drucksache 16/1127 –
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Parlaments und des Rates zur Verbesserung
Technikfolgenabschätzung (f) der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (inkl. 13686/05 ADD 1)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend KOM (2005) 507 endg.; Ratsdok. 13686/05
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2589
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) – Drucksachen 16/150 Nr. 2.265, 16/1155 – g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (C)
gierung
Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß (Emmendingen) Nationaler Strategiebericht Alterssicherung
2005
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, Dr. Karl – Drucksache 15/5571 –
Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Überweisungsvorschlag:
der FDP Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss
Keine Rentenversicherungspflicht für ge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
schäftsführende Alleingesellschafter einer Haushaltsausschuss
GmbH
h) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
– Drucksache 16/966 – gierung
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Bericht der Bundesregierung über die gesetzli-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie che Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausga-
e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je-
gierung weils erforderlichen Beitragssatzes in den
künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154
Bericht der Bundesregierung über die gesetzli-
SGB VI (Rentenversicherungsbericht 2004)
che Rentenversicherung, insbesondere über
die Entwicklung der Einnahmen und Ausga- und
ben, der Nachhaltigkeitsrücklage sowie des je-
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi-
weils erforderlichen Beitragssatzes in den
cherungsbericht 2004
künftigen 15 Kalenderjahren (Rentenversiche-
rungsbericht 2005) – Drucksache 15/4498 –
Überweisungsvorschlag:
und Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
cherungsbericht 2005 und zum Alterssiche- Verbraucherschutz
(B) rungsbericht 2005 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(D)
Ausschuss für Gesundheit
– Drucksache 16/905 – Haushaltsausschuss
Überweisungsvorschlag: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sen.
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich eröffne die Aussprache und erteile für die Bundes-
Ausschuss für Gesundheit regierung dem Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
Haushaltsausschuss nung, Herrn Franz Müntefering, das Wort.
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gierung der CDU/CSU)
Ergänzender Bericht der Bundesregierung
zum Rentenversicherungsbericht 2005 (Al- Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und
terssicherungsbericht 2005) Soziales:
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
und Die Menschen müssen und sollen Vertrauen in die sozia-
len Sicherungssysteme haben. Deshalb haben wir in die-
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversi- sen Tagen entschieden, dass die Alleingeschäftsführer
cherungsbericht 2005 und zum Alterssiche- von GmbHs, die keine Beschäftigten haben, nicht ren-
rungsbericht 2005 tenversicherungspflichtig werden. Das war eine wich-
– Drucksache 16/906 – tige, nötige und schnelle Entscheidung.
Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]:
Finanzausschuss Ihr solltet den FDP-Anträgen öfter folgen,
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Herr Minister!)
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es gab ein einsames Urteil des Bundessozialgerichts
Ausschuss für Gesundheit dazu und es gab bei über 500 000 davon Betroffenen
Haushaltsausschuss große Sorgen. Sie müssen nicht einzahlen und sie müssen
2590 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Bundesminister Franz Müntefering


(A) vor allen Dingen auch nicht nachzahlen. Das haben wir schen Entwicklung in unserem Land besteht Handlungs- (C)
schnell miteinander klargestellt. bedarf. Dazu gehört ganz entscheidend, dafür zu sorgen,
dass die älter werdende Generation nicht so früh aus dem
Zentrale Themen heute sind der Rentenversiche- Erwerbsleben gedrängt wird oder dass sie in den Fällen,
rungsbericht und der Alterssicherungsbericht. Damit in denen sie ausgeschieden ist, wieder in das Erwerbsle-
verbunden sind natürlich auch die Entscheidungen zu ben einsteigen kann.
dem speziellen Gesetz über die Weitergeltung der aktu-
ellen Rentenwerte ab 1. Juli 2006. Dazu will ich zu- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
nächst ein paar Worte sagen.
Auf dem letzten Treffen des EU-Ministerrats ist unter
Dieses Gesetz über die Weitergeltung der aktuel- Hinweis auf die Lissabonstrategie vereinbart worden, zu
len Rentenwerte ab 1. Juli 2006 ist von uns veranlasst erreichen, dass bis zum Jahre 2010 50 Prozent der
und auf den Weg gebracht worden, weil lange Zeit un- 55-Jährigen und Älteren in Europa in Beschäftigung
klar war, ob zum 1. Juli 2006 eine Kürzung der Renten sind. Davon sind wir in Deutschland noch weit entfernt.
gemäß der geltenden gesetzlichen Regelung erforderlich 42 Prozent der 55-Jährigen und Älteren sind berufstätig,
werden würde. Mit dieser Initiative haben wir klarge- 58 Prozent nicht. Das hängt damit zusammen, dass
stellt: Die große Koalition will, dass die Renten nicht ge- 50 Prozent der Unternehmen in Deutschland niemanden
kürzt werden – nicht in diesem Jahr und auch in den beschäftigen, der älter als 50 Jahre ist. Diese Tendenz ist
kommenden Jahren nicht. Es war aber lange Zeit nicht schlecht. Diese Mentalität hat dazu geführt, dass in
ganz klar, wie die Grundvoraussetzungen für die Ent- Deutschland – nicht in allen Unternehmen, aber in vie-
scheidung sein würden. len; manche sind auch vorbildlich – 55-Jährige und Äl-
Ihnen ist bekannt, dass sich die Erhöhung der Renten tere als nicht mehr zu gebrauchen angesehen werden.
nach der Entwicklung der Einkommen der aktiv Be- Das ist falsch. Diese Generation kann noch etwas und sie
schäftigten richtet. Das Ergebnis ist nun, dass wir inzwi- wird auch gebraucht. Wir in dieser Koalition wollen da-
schen wissen, dass die Zunahme der anpassungsrelevan- für sorgen, dass sich diese Erkenntnis durchsetzt und
ten Einkommen der aktiv Beschäftigten im Westen dass die Chancen dieser Generation auf dem Arbeits-
0,2 Prozent beträgt, während es im Osten minus 0,4 Pro- markt besser werden. Deshalb haben wir die Initiative
zent sind. Wir wissen auch, dass die Renten nicht ganz 50 plus gestartet.
so stark erhöht werden, wie die Einkommen steigen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
sondern dass sich die Erhöhung um die Riester-Treppe
und um den Nachhaltigkeitsfaktor reduziert. Das sind Das geht nicht schnell und einfach. Aber diese Schritte
etwa 1,1 Prozent. Wenn man dies abgezogen hätte, dann wollen wir gehen.
(B) hätte es auf beiden Seiten eine Kürzung gegeben. Aber (D)
es gibt drei Schutzklauseln: Die Rente darf wegen der Damit verbunden wird das faktische Anheben des
Riester-Treppe nicht sinken; die Rente darf wegen des Renteneintrittsalters. Es liegt heute im Schnitt, wenn
Nachhaltigkeitsfaktors nicht geringer werden; die Rente man die Erwerbsminderungsrente hinzunimmt, bei
darf sich in den neuen Bundesländern nicht schlechter 60 Jahren und mehr, das heißt bei 39 Lebensarbeitsjah-
als in den alten Bundesländern entwickeln. Das heißt un- ren. Mit 21 Jahren steigt man in den Beruf ein und mit
ter dem Strich: Es bleibt bei null. Die Tatsache, dass wir 60 Jahren und einem bisschen scheidet man aus. Da wir
dies mit einem Gesetz regeln und dafür keine Verord- länger leben – das ist gut; wir hoffen, Sie alle sind bei
nung erlassen – das wäre sonst der Fall gewesen –, hat guter Gesundheit mit dabei; das ist das Schöne an der
auch den positiven Nebeneffekt, dass die Deutsche Ren- demografischen Entwicklung –, bedeutet das aber auch,
tenversicherung Bund nicht 20 Millionen Bescheide an dass wir deutlich länger Rente zahlen müssen als noch
die Rentnerinnen und Rentner verschicken muss, son- vor Jahrzehnten. Daraus wiederum resultiert angesichts
dern dass mit dem vorliegenden Gesetz die Situation ge- der aktuellen Bevölkerungsstruktur, dass sich die Zahl
regelt wird und damit Rechtsverbindlichkeit eintritt. der beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
bezogen auf die Rentnerinnen und Rentner, immer wei-
Aus den Erkenntnissen der letzten Wochen ziehen wir ter verschiebt.
folgende Konsequenz: Wir werden dafür sorgen – die
nötigen Vorbereitungen dazu laufen –, dass die 1-Euro- Das Verhältnis betrug einmal 8 : 1; in den 50er-Jahren
Jobs in Zukunft nicht mehr in die Lohnentwicklung ein- kamen auf einen Rentner acht Beschäftigte. Heute be-
gerechnet werden. trägt das Verhältnis etwa 1 : 3,2 bis 3,5; also 3,5 Be-
schäftigte auf eine Rentnerin oder einen Rentner. Im
(Beifall bei der SPD) Jahre 2030/40 wird das Verhältnis bei etwa 2 : 1 liegen.
Diese haben die Berechnungsgrundlage in erheblichem Zwei Arbeitnehmer müssen also Steuern oder Sozialver-
Maße verzerrt. Wir möchten, dass die 1-Euro-Jobs in sicherungsbeiträge zahlen, um einen Rentner zu finan-
Zukunft nicht mehr in den Schnitt der Lohnentwicklung zieren. Das zeigt die Notwendigkeit, diese Gesellschaft
einbezogen werden. darüber zu informieren. Wir müssen klar machen, dass
wir hier etwas tun müssen. Das Erste, das getan werden
Bei dem Rentenversicherungsbericht und dem Alters- muss, ist, mit der Initiative 50 plus dafür zu sorgen, dass
sicherungsbericht hat es Vorlauf gegeben. Der Alterssi- die Menschen mit 50 Jahren und mehr nicht aus dem Job
cherungsbericht – ihn gibt es in jeder Legislaturperiode gedrängt werden, sondern dass sie länger arbeiten kön-
nur einmal – macht deutlich: Angesichts der demografi- nen und sie dann, wenn sie keinen Job mehr haben, wie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2591
Bundesminister Franz Müntefering
(A) der eine altersgerechte Arbeit aufnehmen können. Das über die gesetzliche Rentenversicherung hinaus über zu- (C)
wollen wir erreichen. sätzliche private Vorsorgeinstrumente zu versichern. Das
ist auch möglich. Wir werden dafür sorgen, dass der
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Insolvenzschutz für Betriebsrenten noch verbessert
Wir werden die hier vorbildlichen Betriebe auszeich- wird. Dies wird zusätzliche Sicherheit schaffen.
nen. Immer mehr haben längst begriffen, dass ein ver- Ich möchte mich abschließend auf eine Kabinettsent-
nünftiger Altersmix im Betrieb wichtig ist. Die Alten scheidung beziehen, die wir gestern getroffen haben,
laufen nicht mehr so schnell wie die Jungen; aber ihr Er- auch wenn sie nicht unmittelbar mit dem Thema zu tun
fahrungswissen ist ein hohes Gut. hat. Seitens der Bundesregierung wurde ein 6-Milliar-
Damit verbunden wird die Entscheidung – in diesem den-Euro-Programm für Forschung, Entwicklung
Herbst wird das gesetzlich fixiert –, dass das Rentenein- und Innovation beschlossen, die in den nächsten Jahren
trittsalter von 65 Jahren auf 67 Jahre steigt. Damit ist das sehr gezielt gefördert werden sollen. Dabei soll versucht
Alter gemeint, von dem an die Rente ohne Abschläge werden, die Wirtschaft mit einzubeziehen und deutlich
bezogen wird. Es gibt kein festes Renteneintrittsalter zu machen, dass wir diesen Weg einschlagen müssen,
und damit keine Fixierung auf einen bestimmten Tag, an um ein Wohlstandsland zu bleiben.
dem jemand aus seinem Job ausscheiden muss; das kann Wer eine dauerhafte Alterssicherung will, muss ein
er früher oder später tun. Dies ist bereits heute so gere- Interesse daran haben, dass der Wohlstand in Deutsch-
gelt. Es gibt einen Korridor zwischen 60 und 65, in dem land mindestens auf dem derzeitigen Niveau erhalten
jemand aus dem Erwerbsleben ausscheiden kann. Wenn bleibt. Wenn er im Jahr 2030 dem heutigen Stand ent-
er dies mit 60 mit einem Abschlag in Höhe von spricht, dann werden die Alten und die Jungen in Wohl-
0,3 Prozent im Monat tut, entspricht das 18 Prozent be- stand leben können. Dann muss man allenfalls über ein
zogen auf die fünf Jahre bis 65. paar Prozentpunkte streiten.
Der Korridor von 60 bis 65 wird sich bis zum Jahr Wenn der Wohlstand zurückgeht, dann wird es – was
2029 auf 63 bis 67 verschieben. Dabei werden diejeni- auch immer wir gegenwärtig in die Gesetze aufnehmen –
gen, die auf 45 Rentenversicherungsjahre kommen, weniger zu verteilen geben. Wenn man aber Wohlstand
ihre Rente unverändert mit 65 ohne Abschlag bekom- will, dann muss man berücksichtigen, dass wir heute ei-
men. Die anderen werden bis zum Alter von 67 Jahren nen gehörigen Teil der Investitionen in die Wirtschaft, in
zu arbeiten haben oder vorher mit einem Abschlag in die Herzen und Köpfe der jungen Menschen investieren
Rente gehen können, wie es auch heute üblich ist. müssen. Was wir in Vorschule, Schule, Ausbildung,
Es ist keine leichte Entscheidung; aber wir sind der Qualifizierung und Weiterbildung investieren, bildet die
(B) Meinung, dass dies rechtzeitig deutlich gemacht werden entscheidende Grundlage für eine vernünftige Alterssi- (D)
muss, damit sich die Menschen in ihrer persönlichen cherung auch in der Zukunft. Das ist das Wichtigste, was
Biografie – und übrigens auch die Tarifparteien – recht- es in diesem Land zu tun gibt.
zeitig darauf einstellen und entsprechende Entscheidun- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gen treffen können.
Es ist nicht immer leicht, entsprechend zu argumen-
Eines ist sicher: Die gesetzliche Rentenversiche- tieren, weil man im Grunde denen, die heute auf Leistun-
rung bleibt das Kernstück der Alterssicherung in diesem gen hoffen, die sie auch verdient haben und die wir ih-
Land. Bei allen Einsparungen macht sie auch weiterhin nen geben möchten, sagen muss, dass ein gehöriger Teil
einen beträchtlichen Anteil der Alterssicherung aus. dessen für andere Zwecke genutzt werden muss, um da-
Aber sie muss um zusätzliche private Vorsorge ergänzt für zu sorgen, dass die Rente auch für die kommenden
werden. Diese besteht insbesondere aus den beiden Säu- Generationen noch sicher ist.
len betriebliche Altersvorsorge und Riesterrente. In
beiden Bereichen ist ein starker Zuwachs zu verzeich- Der Rentenniveausatz sagt wenig aus, wenn man
nen. Inzwischen sind mit steigender Tendenz insgesamt nicht sicher ist, dass der gleiche Wohlstand, den wir
15,7 Millionen Menschen – einschließlich der Beschäf- heute haben, auch in die Zukunft transportiert wird. Des-
tigten im öffentlichen Dienst – an einer Form der be- halb verbindet sich an dieser Stelle das Thema „Rente
trieblichen Altersvorsorge beteiligt. und Zukunft der Alterssicherung“ in der eben geschil-
derten Weise mit dem Thema „Bildung, Ausbildung und
Ich begrüße sehr, dass die Tarifparteien sehr darauf Qualifizierung“.
bedacht sind; denn wir haben in diesem Bereich eine
Chance, etwas zu erreichen, was auf anderem Wege Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
nicht so einfach ist: nämlich dass auch diejenigen mit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
niedrigem Einkommen in die betriebliche Vorsorge mit
einbezogen werden. Denn bei der Riesterrente, von der
inzwischen schon 5,6 Millionen Menschen Gebrauch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
machen, gibt es das Problem, dass sich diejenigen aus Das Wort hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb,
unteren Einkommensgruppen zu stark zurückhalten. Wir FDP-Fraktion.
müssen ihnen Hilfe geben und dafür werben. Es muss in
Deutschland selbstverständlich sein – sowohl innerhalb Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
der Familien als auch in der Gesellschaft insgesamt –, in Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
jungen Jahren, also frühzeitig, damit zu beginnen, sich Die Altersvorsorge ist ein ebenso wichtiges wie sensibles
2592 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Heinrich L. Kolb


(A) politisches Feld. Die Menschen in unserem Land erwar- sicher bleiben und werden Spielräume für nennenswerte (C)
ten zu Recht – und sie vertrauen darauf –, dass sie nach positive Rentenanpassungen nicht entstehen.
einem langen Arbeitsleben eine ausreichende Versor-
gung im Alter aus den drei Säulen gesetzliche Renten- (Beifall bei der FDP)
versicherung sowie private und betriebliche Vorsorge Aufgabe und Leitlinie der Politik muss es daher sein,
haben. Ich glaube, wir sind uns in diesem Hause einig, alles zu tun, was eine Wende zum Besseren begünstigt,
dass die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin den und alles zu unterlassen, was eine positive Entwicklung
Kern der Altersvorsorge bilden wird. gefährdet. Deswegen ist es fatal, wenn Sie, wie geplant,
Wichtig ist dabei Verlässlichkeit. Deswegen möchte am 1. Januar des kommenden Jahres die Mehrwert-
ich Ihnen, Herr Minister Müntefering, für Ihre Ankündi- steuer um 3 Prozentpunkte anheben; denn das wird eine
gung danken, der Forderung im FDP-Antrag auf Bun- deutliche Dämpfung der konjunkturellen Entwicklung
destagsdrucksache 16/966 zu folgen und Geschäftsfüh- zur Folge haben.
rer einer GmbH, die zugleich Gesellschafter sind, von (Beifall bei der FDP)
der Rentenversicherungspflicht freizustellen. Damit
bewegen Sie sich nach einigem Zögern nun doch bei ei- Statt mit entschiedenen Reformen die Voraussetzun-
nem Problem, das für zahlreiche mittelständische Unter- gen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze zu schaffen,
nehmer zu einem K.-o.-Kriterium hätte werden können. kurieren Sie an den Symptomen. Eine – allerdings sehr
Sie sind an dieser Stelle nicht der Versuchung erlegen begrenzte – Entlastung erfährt die Rentenkasse in die-
– das ist zu begrüßen –, Kasse zu machen, und das wohl sem Jahr durch das Vorziehen der Fälligkeit der Sozial-
auch deswegen nicht, weil ganz offensichtlich die zu er- versicherungsbeiträge. Faktisch 13 Monatsbeiträge
wartenden Mehreinnahmen in einem krassen Missver- werden im laufenden Jahr 9,6 Milliarden Euro mehr an
hältnis zu dem erwartenden volkswirtschaftlichen Scha- Liquidität in die Rentenkasse spülen. Aber um welchen
den gestanden hätten. Vielen Dank dafür. Preis, Herr Minister! Der Wirtschaft und vor allem den
mittelständischen Betrieben werden in der Summe
(Beifall bei der FDP) 20 Milliarden Euro Liquidität entzogen. Das ist ein
gigantisches Konjunkturdämpfungsprogramm, das das
Die heutige umfassende Diskussion über die Rente zarte Pflänzchen Aufschwung massiv bedroht. Hinzu
sollte man mit einer nüchternen Bestandsaufnahme be- kommen ein erheblicher Umstellungsaufwand sowie ein
ginnen. Die Lage der Rentenkasse ist kritisch. Das ist, ebenfalls erheblicher laufender Aufwand für die monat-
Herr Minister, kein Schlechtreden, sondern es ist ein not- lichen Vorabschätzungen der Beitragsschuld, der die Un-
wendiger realistischer Blick auf die Verhältnisse. Wir ternehmen selbst dann noch drücken wird, wenn der Ent-
(B) haben seit Jahren aufgrund einer schleppenden konjunk- lastungseffekt dieser Maßnahme längst nicht mehr (D)
turellen Entwicklung und eines schon dramatisch zu besteht.
nennenden Verlustes an sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigung ein jährliches Defizit der gesetzlichen Ich sage Ihnen voraus: Die Koalition schießt sich an
Rentenversicherung in einer Größenordnung von dieser Stelle in das eigene Bein. Genauso wenig wie die
4 Milliarden bis 5 Milliarden Euro. Das hat im Ergebnis Rechnung der Vorgängerregierung bei der Tabaksteuer
dazu geführt, dass trotz des Zuschusses aus den Einnah- wird diese Kalkulation aufgehen. Das Vorziehen der Fäl-
men der Ökosteuer an die Rentenversicherung, der An- ligkeit kostet Arbeitsplätze und wird die Probleme der
hebung des Beitragssatzes in der Rentenversicherung auf Rentenversicherung verschärfen. Sie handeln so kurz-
19,5 Prozent, der Erhöhung der Beitragsbemessungs- sichtig wie ein Bauer, der in einer Hungersnot das Saat-
grenze, bislang zwei Nullrunden für die Rentner – so wie gut zum Brotbacken verwendet. Eine nachhaltige Politik
es aussieht, kommt noch eine dritte hinzu –, des Ver- ist das jedenfalls nicht.
kaufs der Gagfah, also des Immobilienvermögens der
Rentenversicherung, sowie der Verbeitragung der (Beifall bei der FDP)
Direktversicherung und der Zusatzversorgung – was die Ohnehin haben Sie die nächste Anhebung des Bei-
Betroffenen 2 Milliarden Euro jährlich kostet – am Ende tragssatzes in der Rentenversicherung auf 19,9 Pro-
des letzten Jahres die Nachhaltigkeitsrücklage – früher zent am 1. Januar 2007 beschlossen. Das soll 4 Milliar-
nannte man sie Schwankungsreserve; seitdem sie nach- den Euro zusätzlich bringen. Aber selbst dann muss – im
haltig sein soll, ist sie beileibe nicht mehr so tragfähig Bundeshaushalt 2008 – mit 600 Millionen Euro ausge-
wie vorher – mit gerade einmal 1,8 Milliarden Euro den holfen werden, um erkennbare Löcher in der Rentenver-
unteren Sollwert von 3 Milliarden Euro nicht erreicht sicherung zu schließen. Eine geordnete Rentenpolitik
hat. Nur durch Inanspruchnahme der Bundesgarantie sieht anders aus.
konnte unterjährig die Auszahlung der Renten gesichert
werden. Ein ebenso einmaliger wie bemerkenswerter Nun versuchen Sie, Herr Müntefering, den aus der be-
Vorgang! schriebenen Entwicklung entstandenen Vertrauensscha-
den zu begrenzen, indem Sie vollmundig ankündigen, es
Angesichts dessen muss man eines festhalten, Herr werde wenigstens in dieser Legislaturperiode keine Ren-
Müntefering: Ohne eine Wende am Arbeitsmarkt, ohne tenkürzungen geben.
den Aufbau neuer sozialversicherungspflichtiger Be-
schäftigungsverhältnisse und ohne eine Zunahme der (Peter Weiß [Emmendingen] CDU/CSU: Das
Zahl der Beitragszahler wird die Zukunft der Rente un- ist doch gut!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2593
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Das mag gut gemeint sein; aber es ist sachlich falsch. richtes nicht mehr wirklich überraschen. Ich will hier gar (C)
Was glauben Sie denn, wie die Rentner in diesem Lande nicht mehr auf die zeitlichen Aspekte eingehen, sondern
es empfinden müssen, wenn die Rente nicht erhöht wird, mich ganz auf den Inhalt konzentrieren. Dessen Bewer-
sie aber ab dem 1. Januar 2007 eine um 3 Prozent höhere tung lautet: Um den Korridor des Rentenversiche-
Mehrwertsteuer zahlen müssen? Von der in Aussicht ge- rungs-Nachhaltigkeitsgesetzes mit seinen Niveau- und
stellten Senkung der Arbeitslosenversicherungsbei- Beitragszielen einhalten zu können, wird die Entwick-
träge profitieren diese Menschen ja überhaupt nicht lung der Jahre bis 2019 – also der mittelfristige
mehr. Ich kann Ihnen sehr deutlich sagen: Diese Men- Bereich – systematisch überschätzt. Der Sozialbeirat hat
schen empfinden das als eine Dreistigkeit; sie empfinden hier von sehr ambitionierten Annahmen gesprochen.
es als eine weitere deutliche Kürzung ihrer verfügbaren
Renten. Es ist unehrlich, zu behaupten, es gebe keine Herr Müntefering – er hört jetzt nicht zu; aber er wird
Rentenkürzung, wenn man sie in Wahrheit doch längst in es hoffentlich nachlesen –, ich finde es in der Tat sehr
Koalitionsrunden beschlossen hat. mutig, wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums 2007 bis
2019 ein Lohnwachstum von 2,5 Prozent angenommen
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wird, wo wir doch im Schnitt der letzten zehn Jahre ge-
der LINKEN) rade einmal 1 Prozent Wachstum der Löhne und Gehäl-
ter hatten, wenn im Durchschnitt dieses Zeitraums 2007
Es ist auch nicht das erste Mal, dass dies geschieht.
bis 2019 eine Beschäftigungszunahme von jährlich
Schon zweimal haben die Rentner Nullrunden hinneh-
0,6 Prozent unterstellt wird, wo wir im Schnitt der letz-
men müssen und wurden gleichzeitig zusätzlich belastet:
ten fünf Jahre einen Rückgang um durchschnittlich
mit dem vollen Pflegeversicherungsbeitrag, mit dem Zu-
1,6 Prozent per annum hatten, und wenn im Durch-
satzbeitrag zur Krankenversicherung und mit der Verbei-
schnitt dieses Zeitraums ein Wachstum des Bruttoin-
tragung der Zusatzversorgung/Direktversicherung. Herr
landsproduktes angenommen wird, wo wir im Durch-
Müntefering, es kann vor diesem Hintergrund nicht
schnitt der letzten fünf Jahre nur 0,8 Prozent, im
wirklich verwundern, dass das Vertrauen der Rentner in
Durchschnitt der letzten zehn Jahre gerade einmal
Ihre Politik nachhaltig gestört ist.
1,4 Prozent hatten. Mit konkreter Politik unterlegt wur-
Weil das so ist, macht es keinen Sinn, sozusagen zur den diese sehr positiven Annahmen über die Wirtschafts-
Bestärkung einer behaupteten Nichtkürzungsabsicht das entwicklung bisher nicht. Es regiert allein das Prinzip
heute hier vorliegende Gesetz über die Weitergeltung der Hoffnung. Es ist mehr als fraglich, ob alles das Realität
aktuellen Rentenwerte zu beschließen. Hier soll den werden kann, was Sie hier niedergeschrieben haben.
Rentnern ein X für ein U vorgemacht werden. Die Aber Papier ist bekanntermaßen geduldig.
schmerzliche dritte Nullrunde in Folge soll den Betroffe-
(B) nen jetzt sogar noch als Erfolg und als Wohltat verkauft Doch nur mit diesen „mutigen“ Annahmen, der ange- (D)
werden. Ich sage sehr deutlich: Eine Absenkung der kündigten Anhebung des Renteneintrittsalters auf
Renten nach der Rentenformel ist 2006 auch ohne dieses 67 Jahre und dem angekündigten Nachholfaktor – ob das
Gesetz nicht zu befürchten. Auch die Regierung selber alles so kommt, wird man sehen müssen – wird es über-
ging nie von einer negativen Lohnentwicklung aus, wie haupt möglich sein, im Korridor des Rentenversiche-
sich im Rentenversicherungsbericht zeigt. Die nun vor- rungs-Nachhaltigkeitsgesetzes zu bleiben. Das zeigt:
liegenden offiziellen Zahlen bestätigen das. Auch mittelfristig ist die gesetzliche Rentenversicherung
auf Kante genäht. Es muss schon einiges richtig gut lau-
Es ist daher heute das erste Mal, seit ich diesem Ho- fen, damit die Naht hält.
hen Haus angehöre – das sind jetzt immerhin schon
15 Jahre –, dass der Bundestag ein Gesetz beschließen Gerade weil das so ist, dürfen die betriebliche und die
soll, dessen Regelungsgegenstand zum Zeitpunkt der private Vorsorge nicht vernachlässigt werden, sondern
zweiten und dritten Lesung weggefallen ist. Ich finde müssen weiter ausgebaut werden. Der Sozialbeirat hat in
das – ich sage es deutlich, Herr Müntefering – unzumut- seinem Gutachten daher zu Recht gefordert, dass die
bar. Hier soll Regierungshandeln vorgetäuscht werden, abgabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 ausläuft.
wo Regierungsversagen festzustellen ist. Die Regierung plant aber genau dies. Wir, die FDP-Bun-
destagsfraktion, fordern die Verlängerung der sozialab-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gabenfreien Entgeltumwandlung über das Jahr 2008 hi-
der LINKEN) naus, weil sie sich bewährt hat.
Wie auch der Sozialbeirat fordere ich Sie auf, dieses Ge- (Beifall bei der FDP)
setz zurückzuziehen, weil es inhaltsleer ist. Es ist ein
Nullum. Das „Handelsblatt“ hat vollkommen zutreffend Die Rente wird in diesem Haus sicher auch in Zu-
geschrieben: „Koalition führt Rentner hinters Licht.“ kunft ein wichtiges Thema sein. Entscheidend ist, dass
Die Regierung verhindert öffentlichkeitswirksam eine man mit einer nüchternen Bestandsaufnahme der Ver-
Rentenkürzung, die ohnehin nicht gekommen wäre. – hältnisse beginnt. Die Regierung hat bisher versagt, weil
Dem ist nichts hinzuzufügen. sie am Arbeitsmarkt keine Weichenstellung zugunsten
von mehr Beschäftigung und mehr Beitragszahlern vor-
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Birgitt genommen hat.
Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nach alledem kann das Vorgehen der Bundesregie-
rung bei der Aufstellung des Rentenversicherungsbe- (Beifall bei der FDP)
2594 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wahr ist natürlich auch: Wir werden den Rentenver- (C)
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, sicherungsbeitrag im nächsten Jahr von heute 19,5 Pro-
CDU/CSU-Fraktion. zent auf 19,9 Prozent anheben. Ich habe noch keinen se-
riösen Vorschlag gehört, wie wir darauf verzichten
können. Ich will daran erinnern: Wir werden gleichzeitig
Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um 2 Pro-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zentpunkte senken. Das bedeutet: Unter dem Strich wer-
Wir beraten heute abschließend über den Entwurf eines den Arbeitnehmer und Arbeitgeber bei den Sozialabga-
Gesetzes über die Weitergeltung der aktuellen Renten- ben entlastet. Im nächsten Jahr sinkt der Gesamtsozial-
werte ab 1. Juli 2006. Die Bundesregierung hat diesen versicherungsbeitrag auf unter 40 Prozent. Das ist das
Entwurf vor zwei Monaten auf den Weg gebracht, um erste Mal seit dem Jahr 1995. Das ist ein beachtlicher Er-
frühzeitig klarzustellen: Es wird für die Rentner in die- folg der Konsolidierungspolitik dieser großen Koalition.
sem Jahr keine Rentenkürzung geben, so wie wir es im
Koalitionsvertrag festgelegt haben. Die große Koalition (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
hält, was sie verspricht. der SPD)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gleichzeitig werden wir – auch das geht aus den Be-
der SPD) richten hervor und ist politisch klar geäußert worden –
die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre be-
Wir haben dieses Gesetz vorsichtshalber in der Tat schließen. Auch dazu gibt es, wie wir wissen, keine seri-
frühzeitig eingebracht. Wir stehen für Vertrauen und für öse Alternative. Klar ist auch: Das muss mit besonderen
Verlässlichkeit. Wir werden die beitragsfinanzierte ge- Anstrengungen für die Verbesserung der Beschäfti-
setzliche Rentenversicherung als wichtigste Säule der gungschancen Älterer einhergehen. Diesen Weg wer-
Alterssicherung in Deutschland erhalten. Die Rentner den wir beschreiten. Wir legen hier ein Gesamtkonzept
können sich darauf verlassen, dass sie ihre Altersbezüge vor.
weiter erhalten.
Es hätte die Möglichkeit bestanden, dass auch die Op-
Das bedeutet nicht – das wissen auch alle hier im position hier einmal ihr Konzept darlegt.
Hause –, dass wir etwa die gesetzliche Rentenversiche- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir müssen so
rung unter Naturschutz stellen wollen. Es gehört zur viel kritisieren an Ihrer Politik und wir haben
Wahrheit, festzustellen, dass die heute Jungen den Le- so wenig Redezeit!)
bensstandard durch die gesetzliche Rente allein im Alter
nicht sichern können. Für sie ist eine kapitalgedeckte Stattdessen betreiben die Oppositionsfraktionen nichts
(B) Ergänzung der gesetzlichen Rente durch betriebliche als Rosinenpickerei. Es ist klar: Die Linken stellen den (D)
und private Altersvorsorge unerlässlich. Antrag, die 1-Euro-Jobs bei der Rentenberechnung nicht
zu berücksichtigen. Dieser Antrag ist völlig überflüssig,
Umgekehrt gilt aber auch, dass sich die heutigen Ren- weil die 1-Euro-Jobs in die Rentenberechnung bisher gar
tenbezieher trotz langjähriger Beitragszahlung nicht nur nicht einfließen.
mit Rentenansprüchen in Höhe des Sozialhilfeniveaus
begnügen müssen. Die finanziellen Lasten der Alterung (Klaus Ernst [DIE LINKE]: Der Mann hat
müssen zwischen den Generationen fair und gerecht ver- keine Ahnung!)
teilt werden. Genau das ist die Maxime, die Richtschnur Wir werden sie auch in Zukunft nicht einbeziehen. Das
aller Entscheidungen der großen Koalition in der Ren- ist politisch klar.
tenpolitik. Diese Entscheidung ist richtig.
Nun wundert es mich nicht, wenn ein solcher Antrag
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von den Linken kommt, aber ich muss schon sagen, Herr
Wir haben dies mit einem rentenpolitischen Maßnah- Kollege Kolb: Ich mache mir Sorgen um die FDP und
menpaket verbunden. Vor vier Wochen haben wir dieses um die Seriosität Ihrer Politik.
Paket mit der Vorlage des Rentenversicherungsberichts (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
2005 mit Zahlen untermauert. Wir beschreiten mit die- neten der SPD – Zurufe vom BÜNDNIS 90/
sem Zahlenwerk den Weg in die Realität. Lassen Sie DIE GRÜNEN: Oh! – Dr. Heinrich L. Kolb
mich dies an einem Beispiel deutlich machen: Im letzten [FDP]: Butter bei die Fische!)
Rentenversicherungsbericht der rot-grünen Bundesregie-
rung ging man noch davon aus, dass die Renten bis zum Sie beantragen hier allen Ernstes, wir sollten unseren
Jahr 2018 um gut 30 Prozent steigen. Schön wärs gewe- Gesetzentwurf über die Weitergeltung der aktuellen
sen. Nach unserem Bericht liegt der vergleichbare Wert Rentenwerte zurückziehen. Was ich hier in Händen
bei 17 Prozent. Das ist zwar weniger, aber es ist ein rea- halte, Herr Kollege Kolb, ist die erste von 17 Seiten der
listischer Wert. Die Zeit der Schönfärberei ist vorbei. Verordnung der vorigen Bundesregierung aus dem letz-
Die große Koalition geht mit realistischen Zahlen an die ten Jahr, in der festgelegt wurde, dass es im Jahr 2005
Lösung dieser Probleme heran. keine Rentenerhöhung gibt. Dies wollen Sie durch die-
ses Papier hier ersetzen und das soll dann, wie der
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Minister schon gesagt hat, 20 Millionen Mal verschickt
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Zuhören, Ge- werden, um das den Leuten mitzuteilen. Das ist Ihr Bei-
nossen! Damit seid Ihr gemeint!) trag zum Bürokratieabbau. Es kann doch wohl wirklich
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2595
Dr. Ralf Brauksiepe
(A) nicht Ihr Ernst sein, Herr Kollege Kolb, dass Sie uns das Weil ich gerade dabei war, wollte ich eigentlich auch (C)
hier auch noch als seriöse Alternative verkaufen wollen. noch etwas Unfreundliches zu den Grünen sagen,
Ich verstehe es wirklich nicht.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Gib uns noch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mehr!)
Herr Kollege Kolb, wir haben vor zwei Tagen Profes- musste aber feststellen: Wir beraten die Tagesordnungs-
sor Ruland verabschiedet. Ich habe bei der Gelegenheit punkte 3 a bis h, aber Sie von den Grünen haben leider
einmal mit Norbert Blüm gesprochen und ihn gefragt: überhaupt nichts vorgelegt. Es liegt kein Gesetzentwurf,
Wie war das denn eigentlich mit dem Herrn Kolb, der ja kein Antrag, nicht einmal ein Entschließungsantrag von
einmal Staatssekretär war? Ich habe gedacht, er würde Ihrer Fraktion vor.
mir sagen: Der war immer gegen CDA-Politik, ein ganz
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Rente
schwieriger Fall. – Das hat Norbert Blüm aber gar nicht
interessiert die nicht!)
zum Ausdruck gebracht, sondern er hat gesagt: Mit dem
Herrn Kolb konnte man sehr gut zusammen regieren. Es ist wirklich sehr bedauerlich, dass es von Ihnen kei-
Das war ein sehr guter Mann. nen Beitrag zu dieser Debatte gibt. Deswegen muss ich
Sie heute leider aussparen. Vielleicht kommt von Ihnen
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! – Zu- in der Zukunft wieder etwas, wenn Sie mit Ihren inter-
rufe von der FDP) nen Problemen fertig sind.
Herr Kolb, Sie können es doch eigentlich. Von daher (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
bitte ich Sie wirklich: Gehen Sie von diesem unseriösen neten der SPD)
Kurs ab! Wir brauchen in diesem Land eine seriöse libe-
rale Opposition, die seriöse Anträge stellt und nicht sol- Ich komme zu dem Konzept der Rentenpolitik der
che, die Sie, meine Damen und Herren, nur stellen kön- großen Koalition zurück.
nen, weil Sie wissen, dass Ablehnung gesichert ist.
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Zu den Freun-
Gehen Sie von diesem Weg ab, liebe Kolleginnen und
den in der großen Koalition!)
Kollegen!
Wir werden die Maßnahmen sinnvoll aufeinander aufge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – baut fortführen. Im nächsten Jahr wird es eine moderate
Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Wir halten fest: Erhöhung des Rentenbeitragssatzes geben. Wir werden
Blüm lobt Kolb!) die in diesen Jahren nicht durchgeführten Rentenkürzun-
Ähnliches gilt für Ihren Antrag zur Rentenversiche- gen durch den Einbau eines Nachholfaktors in der Ren-
(B) rungspflicht für geschäftsführende Alleingesellschaf- tenanpassungsformel nachholen, weil die Jungen auf (D)
ter. Den haben Sie nicht eingebracht, weil Ablehnung Dauer nicht allein die Lasten tragen können.
gesichert war. Den haben Sie am 15. März vorgelegt, als (Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU])
Erfüllung schon gesichert war, lieber Herr Kolb.
Vielmehr muss jede Generation ihren Beitrag leisten.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dr. Heinrich L. Darum werden wir das so machen.
Kolb [FDP]: Wie wir es machen, ist es ver-
kehrt!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Hierbei geht es in der Tat um ein ernstes Problem. Ich Alle diese Maßnahmen gehen mit einem moderat stei-
bin dem Kollegen Max Straubinger aus unserer Fraktion genden Bundeszuschuss an die Rentenkasse einher.
dankbar. In den regelmäßigen Gesprächen, die wir in der Wenn man sich die Mühe macht, die Zahlen aus dem
Koalition haben, hat er als Erster dieses Thema ange- Bundeshaushaltsplanentwurf 2006 mit denen der letzten
sprochen und darauf gedrungen, dafür eine Lösung zu Jahre zu vergleichen, wird man feststellen: Der Anstieg
finden. des Bundeszuschusses ist heute deutlich geringer als in
der Vergangenheit. Zur Ehrlichkeit gehört dazu, auch zu
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Guter Mann!) sagen: Ohne eine solche moderate Steigerung geht es
Ich kann erfreut feststellen: Unsere sozialdemokrati- nicht. Neben den Beitragszahlern und den Rentnern
schen Partner muss auch der Steuerzahler seinen Beitrag zum Erhalt
des Systems der gesetzlichen Rentenversicherung leis-
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Freunde! Die ten.
sozialdemokratischen Freunde!)
Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass
sind für unsere guten Argumente meistens offen, so auch uns das Thema Rente in der gesamten Wahlperiode be-
in diesem Fall. Deshalb sind sie unseren Argumenten ge- gleiten wird. Das gilt für die gesetzliche Rente genauso
folgt. Wir haben uns vor Wochen auf diese Regelung wie für die kapitalgedeckte Altersvorsorge.
verständigt. Nachdem das politisch klar war, haben Sie
diesen Antrag gestellt in dem Wissen, dass das sowieso Lassen Sie mich, weil das angesprochen worden ist,
passiert. Das ist keine seriöse Oppositionspolitik, liebe noch ein Wort zur sozialabgabenfreien Entgeltum-
Kolleginnen und Kollegen! wandlung bei der betrieblichen Altersvorsorge sagen.
Es ist doch völlig klar, dass man es, wenn man in Zeiten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von 5 Millionen Arbeitslosen, leeren Rentenkassen und
neten der SPD) einer geringen Quote von Menschen – etwa jeder siebte
2596 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Ralf Brauksiepe


(A) bis achte –, die die Riester-Förderung in Anspruch neh- Das ist wichtig und gut. Es freut mich, dass Sie unsere (C)
men, die Regierungsgeschäfte übernimmt, mit Ziel- Anregung aufgenommen haben.
konflikten zu tun hat. Aber ich finde, es ist selbstver-
(Lachen bei der CDU/CSU und der SPD)
ständlich, dass man bei den Dispositionen, die man trifft,
von der geltenden Rechtslage ausgeht. Die Rechtslage Zum Zweiten. Es geht um ein Gesetz über die Weiter-
ist ganz klar die, dass diese sozialabgabenfreie Entgelt- geltung der aktuellen Rentenwerte, das die Bundesregie-
umwandlung, die die Sozialkassen an anderer Stelle eine rung eingebracht hat. Jetzt hören wir, dass dieses Gesetz
Menge Geld kostet, im Jahr 2008 ausläuft. Jeder, der eigentlich überhaupt nicht notwendig sei,
seine Dispositionen verantwortlich trifft, wird erst ein- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)
mal von dieser bestehenden Rechtslage ausgehen.
weil die Renten gar nicht sinken würden, da nämlich die
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Werden Sie Lohnerhöhung offensichtlich doch noch so hoch sei,
das ändern?) dass es für eine Nullrunde reiche und keine Rentensen-
Wir haben uns gleichwohl vorgenommen, vor dem kung vorgenommen werde. Jetzt frage ich mich natür-
Hintergrund der positiven Entwicklung seit dem In- lich: Warum macht die Bundesregierung ein Gesetz, das
Kraft-Treten des Alterseinkünftegesetzes im vergange- eigentlich überflüssig ist?
nen Jahr bis zum nächsten Jahr zu prüfen, wie die Ent- (Beifall bei der LINKEN)
wicklung weiter verläuft. Im Jahr 2007 werden wir dann
entscheiden, welche Maßnahmen wir zur weiteren För- Wenn man sich diesem Gedanken nähern will, dann
derung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge ist es hilfreich, ab und zu im „Handelsblatt“ zu blättern.
ergreifen. Damit ist im Jahr 2006 das zu diesem Thema Dort heißt es:
gesagt, was dazu zu sagen ist. Da liegt nicht nur der Verdacht nahe, dass sich die
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Schieben, schie- Politik mit einer Shownummer brüsten will. Ganz
ben, schieben! Alles Wiedervorlage!) nebenbei spart sie sich per Gesetz auch die Infor-
mation der Ruheständler über die Entwicklung ihrer
Wir werden die Entscheidungen vor dem Hintergrund Bezüge, auf die diese eigentlich ein Anrecht haben.
der Erkenntnisse, die wir bis zum nächsten Jahr gewon-
nen haben, verantwortlich treffen. Meine Damen und Herren, ich glaube, es geht sogar
noch um ein bisschen mehr. Jeder weiß, dass diese Bun-
Damit wird insgesamt deutlich, liebe Kolleginnen und desregierung den Rentnern in unerträglicher Weise an
Kollegen: CDU/CSU und SPD stellen sich den Proble- die Wäsche geht.
men in der Rentenversicherung. Wir haben beim Thema
(Beifall bei der LINKEN)
(B) Rente wichtige Entscheidungen getroffen. Wir betreiben (D)
keine Rosinenpickerei wie die Opposition, sondern wir Jeder weiß, dass die gesetzlichen Maßnahmen, die ge-
haben ein in sich geschlossenes, wenn auch nicht popu- plant sind, zu massiven Einschnitten bei den Rentnern
läres Konzept, das es nunmehr in Gesetzesform zu gie- führen würden. Wenn man jetzt ein Gesetz veröffent-
ßen gilt. Das haben wir uns für die Zukunft vorgenom- licht, über das die Presse schreiben kann, dass die Bun-
men. Jeder ist herzlich eingeladen, dabei konstruktiv desregierung diejenige ist, die die Rente eigentlich
mitzuwirken. sichert, dann deutet das darauf hin, dass sich die Bundes-
regierung damit möglicherweise einen Imagevorteil ver-
(Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber keiner schaffen will. Das ist ein Etikettenschwindel genau wie
muss! Man muss nicht jeden Quatsch mitma- vor der Bundestagswahl, Herr Müntefering. So betreiben
chen!) Sie hier in diesem Hause Politik.
Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Nun kommen wir zum eigentlichen Punkt, nämlich
zum Rentenversicherungsbericht. Alte und neue Bun-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: desregierung haben seit Jahren ihre Finger in den Geld-
Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Ernst von börsen der Rentner. Da wird das Sicherungsniveau auf
der Fraktion Die Linke. 46,3 Prozent reduziert. Es gibt von 2005 bis 2009 fak-
tisch Nullrunden. Herr Müntefering, eigentlich sind es
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Peter Ramsauer keine Nullrunden. Denn Sie wissen ganz genau, dass wir
[CDU/CSU]: Der Oberpopulist!) gleichzeitig Inflation und dass wir gleichzeitig eine
Mehrwertsteuererhöhung haben. Wenn man dies über
Klaus Ernst (DIE LINKE): vier Jahre summiert, dann ergibt sich in den nächsten
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine Damen und vier Jahren real eine Rentenkürzung von mindestens
Herren! Man soll ja positiv denken. Ich möchte das 8 Prozent.
heute einmal versuchen, auch wenn es mir angesichts
des Rentenberichts der Bundesregierung äußerst schwer (Beifall bei der LINKEN)
fällt. Aber das Positive zuerst: Man nimmt richtiger- Wenn Sie glauben, dass das sozialdemokratische Politik
weise künftig die 1-Euro-Jobs aus der Berechnung des ist, dann glauben Sie auch, dass Zitronenfalter Zitronen
Rentenwertes heraus. falten, Herr Müntefering.
(Beifall bei der LINKEN) (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2597
Klaus Ernst
(A) Wenn Sie gleichzeitig auch noch den Bundeszuschuss Um es noch einmal deutlich zu machen, will ich je- (C)
senken, wenn Sie gleichzeitig die Heraufsetzung des manden zitieren, der zumindest in der CDU noch be-
Renteneintrittsalters auf 67 Jahre einführen wollen, dann kannt sein müsste, auch wenn es einigen von Ihnen
kann ich nur sagen, dass das mit einer vernünftigen schwer fällt, sich an ihn zu erinnern. Er hat nämlich ge-
Sozialpolitik überhaupt nichts mehr zu tun hat. Die sagt:
Schwankungsreserve ist inzwischen aufgebraucht; sie ist
Wenn Armutsvermeidung zur Hauptaufgabe des
eigentlich gleich null. Reden Sie also nicht mehr von
Sozialstaates wird, verwandelt sich dieser in eine
Schwankungsreserve! Was nicht mehr vorhanden ist,
Bedürfnisprüfungsanstalt, weil er – bevor er Hilfe
kann doch auch nicht mehr schwanken. Das ist doch
leistet – ständig fragen muss: „Bist du reich, bist du
weg, meine Herren und Damen.
arm?“
(Beifall bei der LINKEN)
Das war Ihr Herr Blüm, der das gesagt hat.
Auch dieser Etikettenschwindel wird von der Bundes-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)
regierung betrieben.
Wo er Recht hat, hat er Recht, auch wenn Sie ihn heute,
Sie denken darüber nach, wie Sie in dem Ausmaß, in
wie Herrn Kirchhof, am liebsten wegsperren würden. So
dem die Renten in diesem Lande aufgrund Ihrer Berech-
ist doch die Realität.
nungsmethoden sinken, die Diäten für die Abgeordneten
nach einer anderen Berechnungsmethode erhöhen könn- (Beifall bei der LINKEN)
ten.
Die Rente hat schon jetzt ein Niveau erreicht, von
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE dem viele nicht mehr vernünftig leben können. Sie ma-
LINKE]) chen Politik nicht für die Menschen, sondern offensicht-
lich für Zahlen. Ihr oberstes Ziel ist die Beitragssatz-
Das würde dazu führen, dass ein Abgeordneter 1,3 Pro-
stabilität. Aber Sie vergessen dabei, wie es den Leuten
zent mehr Diäten bekommen soll. Das kann zwar uns als
geht, die von ihrer Rente letztendlich leben müssen.
Abgeordnete freuen. Aber draußen versteht das kein
Mensch mehr. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Von den Arbeitnehmern reden Sie nicht!)
(Beifall bei der LINKEN)
Ihr Ziel ist übrigens – das ist der nächste Etiketten-
Hier wird eine Politik betrieben, die immer andere be-
schwindel – nicht Beitragssatzstabilität. Sie können es
trifft, aber die eigenen Taschen füllt. Das ist verwerflich
noch so oft behaupten: Das glaubt Ihnen kein Mensch
und nicht zu akzeptieren, Kolleginnen und Kollegen.
(B) mehr. Denn die einzige Gruppe, für die der Beitragssatz (D)
(Beifall bei der LINKEN) tatsächlich stabil bleibt, sind die Unternehmen. Aber für
die Arbeitnehmer bleibt der Beitragssatz nicht stabil,
Herr Müntefering, bei Ihren Berechnungen bauen Sie
wenn sie privat vorsorgen müssen.
auf Sand. Die Zahl der Arbeitslosen, so lese ich in Ihrem
Bericht, soll von 2005 bis 2009 um 650 000 sinken. Wie (Beifall bei der LINKEN)
wollen Sie dies, bitte schön, erreichen? Die Vorschläge,
Private Vorsorge bedeutet, dass zwar die Arbeitgeberbei-
wie Sie die Arbeitslosigkeit reduzieren wollen, bleiben
träge auf unterem Niveau eingefroren werden, dass aber
Sie schuldig. Jeder weiß, dass Ihre Politik eher dazu füh-
gleichzeitig die Arbeitnehmer durch ihre private Zusatz-
ren wird, dass die Arbeitslosigkeit weiter zunimmt.
versicherung, die sie abschließen müssen, weniger in der
Diese Milchmädchenrechnung, die Sie hier aufmachen,
Tasche haben als vorher. Beitragssatzstabilität findet nur
glaubt Ihnen doch keiner mehr. Woher nehmen Sie bei-
für die Arbeitgeber statt, aber nicht für die Bevölkerung
spielsweise Ihre Annahme, dass die Entgelte ab 2010
und nicht für die Versicherten. Deshalb sage ich: Wenn
statt um 3 Prozent immer noch um 2,5 Prozent steigen
Sie das so machen, ist das, was Sie der Bevölkerung sug-
sollen? Ich habe den Eindruck, Sie haben sich zum Kaf-
gerieren, Etikettenschwindel. Sie entlasten die Arbeitge-
feesatzlesen getroffen und dann Ihren Bericht veröffent-
ber, ohne dass es einen Effekt hat.
licht.
Ich sage Ihnen: Die eigentliche Ursache für die Pro-
Mit Ihrer Politik zerstören Sie die Grundlagen dieses
bleme in der Rentenversicherung liegt darin, dass die
Sozialstaats. Sozialstaat ist nämlich nicht nur Armen-
Löhne in diesem Lande nicht mehr steigen. Sie steigen
küche, Sozialstaat ist nicht nur die Verteilung von Sup-
unter anderem deshalb nicht, weil Sie durch Ihre Politik
pen an Bedürftige. Sozialstaat hat auch etwas mit Orga-
dazu beigetragen haben, dass die Gewerkschaften in ei-
nisation zu tun. Wenn man eine Versicherung hat, dann
ner Art und Weise geschwächt werden, dass Lohnerhö-
entsteht ein Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung
hungen kaum noch durchsetzbar sind. Ein Arbeitslosen-
dadurch, indem man einzahlt. Sie haben aber letztend-
geld-II-Empfänger weiß, was er bekommt. Diejenigen,
lich vor, dieses Niveau so weit nach unten zu drücken,
die noch keine Arbeitslosengeld-II-Empfänger sind, die
dass jeder, der irgendwann in seinem Leben ein
noch in Arbeit sind, wissen, was ihnen blühen würde,
Hartz-IV-Empfänger wurde und nicht privat vorsorgen
wenn sie Arbeitslosengeld II bekommen würden. Des-
konnte, an die Armutsgrenze gedrückt wird. Das ist
halb ist es natürlich so, dass die Widerstandskraft in den
keine Sozialpolitik, sondern eine gezielte Verarmung
Betrieben bzw. bei den Beschäftigten gesunken ist. Des-
künftiger Generationen.
halb haben wir Nullrunden und letztendlich auch ein
(Beifall bei der LINKEN) Problem in der Rentenversicherung. Weil es inzwischen
2598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Klaus Ernst
(A) 6 Millionen Menschen gibt, die mit prekären Arbeitsver- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) (C)
hältnissen, mit Billigjobs abgespeist werden, wird unzu-
Machen Sie keine Symbolpolitik mit einem Gesetz, das
reichend in die Sozialkassen eingezahlt. Wenn Sie das
niemals zur Anwendung kommen wird!
ändern, würden Sie das Übel tatsächlich an der Wurzel
packen und nicht permanent die kleinen Leute schröp- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
fen, Herr Müntefering. sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
KEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Ich komme zum nächsten Punkt, zu den Rentenversi-
Ich komme damit zum Schluss. Sie haben gesagt: Die
cherungsberichten 2004 und 2005. Was die Menschen
Menschen sollen Vertrauen haben. Herr Müntefering,
bei der sozialen Sicherung und gerade bei der Rente
worin denn? Ihrer Politik zu vertrauen ist so, als würde
dringend brauchen, sind Vertrauen und Verlässlichkeit.
man den Würger von Boston um eine Halsmassage bit-
Ich glaube, dass Ihre Annahmen bezüglich der Lohnent-
ten. Das wäre genau dasselbe.
wicklung und des Wirtschaftswachstums viel zu opti-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – mistisch sind. Ich erinnere an die Fehlprognosen von
Veronika Bellmann [CDU/CSU]: So ein 1995. – Herr Kollege Brauksiepe, 1995 gab es leider
Schwachsinn!) noch keine rot-grüne Bundesregierung.
Wer Ihnen traut, hat künftig dafür zu sorgen, dass er ir- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Da waren
gendwie über die Runden kommt. Mit der Rente wird es die Zahlen auch noch gut!)
jedenfalls bei dieser Politik der Bundesregierung nicht
mehr klappen. Die Rente wird von dieser Regierung ka- Natürlich wünsche auch ich mir, dass die Gewerk-
puttgemacht. schaften endlich wieder bessere Tarifabschlüsse durch-
setzen können; denn das ist gut für die Beschäftigten, die
(Beifall bei der LINKEN) Binnennachfrage und letztendlich auch für die Renten.
Aber ein Rentenversicherungsbericht ist nun einmal kein
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wunschkatalog. Wir brauchen eine realistische Vorschau
Das Wort hat nun die Kollegin Irmingard Schewe- auf die nächsten 15 Jahre.
Gerigk. Die gesetzliche Rente hat in den letzten Jahren durch-
aus schmerzhafte Reformen durchlebt. Niveausenkun-
Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE gen und der Nachhaltigkeitsfaktor sind in diesem Zu-
GRÜNEN): sammenhang nur zwei Stichworte. Aber dadurch ist sie
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zukunftsfähig geworden. Durch sie werden die meisten
(B) (D)
Herr Kollege Ernst, ich beneide Sie: Es ist schön, wenn Menschen vor Armut geschützt. Sie wird aber nicht aus-
man ein so einfaches Weltbild hat, wie Sie es haben. Da reichen, um den Lebensstandard im Alter zu sichern. Pri-
kann man sich zufrieden zurücklehnen. vate und betriebliche Vorsorge tut zusätzlich Not.
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Der ehemalige Geschäftsführer des Verbandes Deut-
DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD scher Rentenversicherungsträger, Franz Ruland, der
und der FDP) „Rentenpapst“, hat am 3. April dieses Jahres in einem
Interview mit der „FAZ“ die Einschätzung vertreten:
Wir diskutieren heute über eine Reihe rentenpoliti-
scher Vorhaben. Ich beginne mit dem Entwurf eines Ge- Was im Rentensystem kürzbar war, ist gekürzt wor-
setzes zur Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte. Ziel den.
dieses Gesetzentwurfes war es, mögliche Rentenkür-
Ich schließe mich dieser Einschätzung explizit an und
zungen aufgrund niedriger Lohnsteigerungen zu vermei-
erweitere sie um die Bemerkung: Innerhalb des bisheri-
den. Dieses Ziel hat meine Fraktion voll und ganz unter-
gen Umlagesystems der gesetzlichen Rentenversiche-
stützt. Da das Ministerium selbst jetzt aber bestätigt,
rung sind alle Reformen durchgeführt worden, die ver-
dass es aufgrund der Lohnentwicklung nicht zu einer
tretbar sind. Die schrittweise Heraufsetzung des
Rentenkürzung kommen wird, ist dieser Gesetzentwurf
Renteneintrittsalters, die noch zu verabschieden ist,
absolut überflüssig.
schließe ich in diese Bemerkung ausdrücklich ein. Herr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Minister, wir unterstützen Sie bei der Heraufsetzung des
Renteneintrittsalters; denn das ist eine logische Konse-
Man kann es auch anders ausdrücken: Stell dir vor, die
quenz des längeren Lebens. Heute beziehen die Men-
Regierung macht ein Gesetz und keiner braucht es.
schen 17 Jahre lang Rente, 1960 waren es zehn Jahre
Herr Minister Müntefering, man sollte die Sauerlän- weniger. Ich fordere Sie aber auf, bei der Umsetzung
der nicht unterschätzen: Sie sind ein Fuchs. Sie haben nicht zu stümpern.
vor den Landtagswahlen den Robin Hood der Rentner
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Rentnerinnen gespielt und ihnen gesagt, dass Sie
Rentenkürzungen per Gesetz ausschließen. Die Men- Die Erhöhung des Renteneintrittsalters und die Be-
schen sind froh und akzeptieren scheinbar dankbar eine schäftigung Älterer in den Unternehmen sind wie ein
neue Nullrunde. Doch nun, da Sie wissen, dass die Ren- Gespann. Beides muss parallel und im gleichen Tempo
ten nicht gekürzt werden müssen, fordere ich Sie auf: laufen; ansonsten geht es schief. Hier ist die Wirtschaft
Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück! in der Verantwortung. Ohne Arbeitsplätze für Ältere ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2599
Irmingard Schewe-Gerigk
(A) die Rente mit 67 eine Rentenkürzung und das lehnen wir Ich komme zu den Betriebsrenten. Wer ein Gesamt- (C)
ab. rentenniveau erreichen will, das den Lebensstandard si-
chert, muss rechtzeitig auch privat und betrieblich vor-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sorgen. Gerade durch die Entgeltumwandlung hat sich
Es wird gern verschwiegen, aber wir haben ein struk- die Betriebsrente enorm etabliert. Wir begrüßen daher
turelles Problem bei den Einnahmen der Rentenversi- den Entwurf der europäischen Richtlinie zur Portabili-
cherung. Diese Schwierigkeit ist nicht kurzfristiger Na- tät von Zusatzrentenansprüchen.
tur. Sie wird in den nächsten Jahren andauern, wenn wir (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das
nicht an den Ursachen ansetzen. An dieser Stelle ist die hat aber mit Entgeltumwandlung nichts zu
große Koalition blind; denn sie ignoriert die Analyse tun!)
namhafter Experten. Bereits im Gutachten zum Renten-
versicherungsbericht 2004 hat der Sozialbeirat auf die – Ich komme gleich darauf, Herr Kollege. – Moderne
Probleme bei der Entwicklung der Beitragseinnahmen Arbeitsmärkte fordern auch mobile Beschäftigte. Des-
aufmerksam gemacht. Er hat die Diskrepanz zwischen halb muss die betriebliche Altersvorsorge flexibler wer-
dem gestiegenen Bruttoinlandsprodukt und sinkenden den. Sie darf nicht als Finanzierungsmasse der Arbeitge-
Einnahmen der Rentenversicherung benannt. Die Ursa- ber verwendet werden und muss stärker vor Insolvenz
chen liegen auf der Hand: gedämpfte Lohnentwicklung, geschützt werden.
weniger sozialversicherungspflichtige Erwerbstätige,
weniger Pflichtversicherte, mehr Selbstständige, mehr Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
geringfügig Beschäftigte und mehr Arbeitslose mit ei-
nem niedrigeren Beitrag. Doch obwohl CDU/CSU und Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
SPD das Gutachten bekannt war, haben sie keine adä- Kollegen Weiß?
quaten Konsequenzen daraus gezogen, sondern die
Schlussfolgerung im Koalitionsvertrag ins Gegenteil Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
verkehrt. Im Gutachten zum Rentenversicherungsbericht GRÜNEN):
2005 bewertet der Sozialbeirat die Annahmen zur kurz- Herr Kollege Weiß, es ist mir eine Freude.
und mittelfristigen Beschäftigungs- und Entgeltentwick-
lung an mehreren Stellen als ambitioniert. Offensichtlich
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
wollte sich der Sozialbeirat diplomatisch ausdrücken
und die positiven Konjunkturerwartungen nicht dämp- Frau Kollegin Schewe-Gerigk, es ist mir eine Freude,
fen. dass ich Ihnen heute Morgen eine Freude machen kann.
(B) Schauen Sie aber in die neueste Studie „Prognos (Heiterkeit) (D)
Deutschland Report 2030“. Darin steht, dass in den Sie haben soeben ausgeführt, dass die Grünen die Be-
nächsten 25 Jahren mit einem massiven Rückgang von triebsrenten in Deutschland stärken und weiter ausbauen
Arbeitsplätzen im traditionellen Industriebereich zu wollen – was, wie ich glaube, die Zustimmung des gan-
rechnen ist. Daneben wird von einer starken Zunahme zen Hauses findet – und dass die Entgeltumwandlung
der Zahl der Selbstständigen gerechnet. Aufgrund der eine sehr gute Grundlage bildet. Das ist vollkommen
letzten Jahre wissen wir, dass Selbstständigkeit in vielen richtig. Dann haben Sie aber einen Schlenker zu der
Fällen eine selbst gewählte Notlösung ist, um der Ar- europäischen Richtlinie zur Portabilität von Zusatzren-
beitslosigkeit zu entgehen. Sorge bereiten uns vor allem tenansprüchen gemacht. Ich weiß nicht, wie das zusam-
jene Selbstständige, die nicht in der Lage sind, sich aus- menpassen soll, Frau Kollegin Schewe-Gerigk. Alle Ex-
reichend sozial abzusichern. perten des Betriebsrentensystems in Deutschland sagen
Herr Minister Müntefering, in der Haushaltsdebatte uns: Wenn wir diese EU-Richtlinie, so wie sie ist, akzep-
der letzten Woche haben wir Ihnen vorgeworfen, dass tieren würden, würde dadurch das System der Betriebs-
Sie den Bundeshaushalt zulasten der Versicherten sanie- renten in Deutschland keinen Aufschwung erleben, son-
ren, zum Beispiel durch die Erhöhung der Sozialabga- dern zusammenbrechen. Viele Betriebe würden sich aus
ben für Minijobs. Ihr Sozialbeirat wird da sehr viel dem Betriebsrentensystem verabschieden. Die Zusatz-
deutlicher – ich zitiere –: „Die Erhöhung von Sozialbei- versorgung für Angehörige des öffentlichen Dienstes
trägen mit dem ausdrücklichen Ziel, den Bundeshaushalt wäre am Ende. Deswegen kann ich nicht verstehen, wie
zu entlasten, ist verfassungsrechtlich problematisch.“ das zusammenpassen soll. Erklären Sie uns einmal, wie
diese EU-Richtlinie mit ihren negativen Auswirkungen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für das Betriebsrentensystem zu Ihrer Aussage passen
soll, dass Sie die Betriebsrenten fördern wollen!
Als Beispiel für diesen verfassungsrechtlich bedenkli-
chen Eingriff in die Finanzierungsgrundlagen der Ren-
tenversicherung wird im Gutachten die Halbierung des Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE
Mindestbeitrags von 78 auf 40 Euro für Langzeitarbeits- GRÜNEN):
lose kritisiert. Während jede Existenzgründerin und Wir haben gesagt, dass wir die Entgeltumwandlung
jeder freiwillig Versicherte den Mindestbeitrag von nicht weiter sozialversicherungsmäßig und steuerlich
78 Euro entrichten muss, macht der Bund in seinem ei- fördern wollen. Denn in dem betreffenden Gesetz wurde
genen Gestaltungsbereich selbstherrlich Ausnahmen. Ich eine Laufzeit bis 2008 beschlossen. Dazu kommt, dass
empfinde das als Politik nach Gutsherrenart. diese Maßnahme die Sozialkassen ziemlich plündert. Sie
2600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Irmingard Schewe-Gerigk
(A) war als Anschubfinanzierung vorgesehen und dieses Ziel rade die Babyboomer in Rente gehen – und viele andere (C)
hat sie erreicht. Dinge, etwa die Ausnahmeregelung bei der abschlag-
freien Rente, bei der Sie sagen: Die Dachdecker müssen
Bei der EU-Richtlinie handelt es sich doch ganz ein- eigentlich schon früher in Rente. Im Rentenversiche-
deutig darum, dass diejenigen, die mobil sind, junge rungsbericht findet man davon überhaupt nichts wieder.
Menschen, nicht erst ab einem Alter von 30 Jahren, son- Dann wenden Sie sich den Betriebsrenten zu und sagen:
dern bereits ab 21 Jahren geschützt werden sollen. Es Hier wollen wir Einschnitte vornehmen. – Am nächsten
gibt junge Leute, die ins Ausland gehen und ihre Renten- Tag ist das alles wieder nicht richtig. Es ist ein Hin und
ansprüche mitnehmen wollen. Sie möchten ferner, dass Her und da fällt auf: Von der Kanzlerin ist in diesem Zu-
das nicht erst nach einer Betriebszugehörigkeit von fünf sammenhang überhaupt nichts zu hören. Haben Sie von
Jahren möglich sein soll, sondern bereits nach zwei Jah- der Kanzlerin mal etwas zur Rentenpolitik gehört, zu
ren. Das ist doch eine wichtige Sache. Ich finde, eine dem wichtigsten Thema, das wir derzeit diskutieren?
Maßnahme, die steuerlich begünstigt ist und von der die
Arbeitnehmer auch etwas haben, gehört in das Eigentum (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein! – Dr. Ralf
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn solche Brauksiepe [CDU/CSU]: Jede Menge!)
Zusagen vorliegen. Es ist absolut richtig, dass diese An- Herr Müntefering, manchmal tun Sie mir ja auch et-
sprüche mitgenommen werden können und sie den Ar- was Leid; denn Ihre Fraktion hat sich in dieser Frage
beitnehmerinnen und Arbeitnehmern auch zustehen. vollkommen weggeduckt. Ich finde, das ist keine verant-
Aber ich werde darauf gleich in meiner Rede noch inten- wortliche Politik. Hier müssen Sie endlich den Men-
siver eingehen, Herr Kollege. schen verlässliche Konzepte vorlegen, damit sie sich
Ich habe dank Ihrer Zwischenfrage meine Redezeit darauf einstellen können. Denn gerade diejenigen, die
noch etwas verlängern können. kurz vor der Rente stehen oder die schon im Rentenbe-
zug sind, können doch in ihrem Leben nichts mehr ver-
Wir wollen aber auch, dass Arbeitnehmer und Arbeit- ändern; sie sind auf Verlässlichkeit angewiesen. Sie wol-
nehmerinnen die betriebliche Altersvorsorge bei einem len im Alter eine auskömmliche Rente und ein Leben in
Wechsel des Arbeitgebers generell und uneingeschränkt Würde haben.
weiterführen können. Bereits bestehende Ansprüche für
ausscheidende Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Vielen Dank.
müssen dynamisiert werden, damit sie sich nicht mit der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Zeit entwerten.
Was tut die Regierung? Jetzt komme ich auf die Stel- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(B) lungnahme der Bundesregierung zu dieser EU-Richt- Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Friedrich für die (D)
linie zurück; wir haben es gestern im Ausschuss disku- SPD-Fraktion.
tiert. Da sagt die große Koalition: Eigentlich wollen wir
(Beifall bei der SPD)
uns von der EU gar nichts sagen lassen.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Peter Friedrich (SPD):
Richtig!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Ich dachte immer, wir seien ein Mitgliedsland der Euro- Herren! Wir diskutieren heute über die Weitergeltung
päischen Union. Aber Sie meinen: Eigentlich hat die EU der aktuellen Rentenwerte und den Rentenversiche-
in diesen Dingen nichts zu sagen. Die Stellungnahme der rungsbericht 2005. In der Debatte wurde die Generatio-
Bundesregierung ist sehr einseitig an den Interessen der nengerechtigkeit mehrfach angesprochen. Ich bin dank-
Arbeitgeber ausgerichtet. Auch wir wollen, dass die be- bar, dass ich als jüngerer Abgeordneter die Möglichkeit
triebliche Altersvorsorge für die Arbeitgeberinnen und habe, für meine Fraktion ein paar Anmerkungen dazu zu
Arbeitgeber interessant bleibt. Aber aus lauter Arbeitge- machen.
berfreundlichkeit die Flexibilisierung der betrieblichen Erste Anmerkung. Es ist das Verdienst und die Ver-
Altersvorsorge gleich ganz abzulehnen, das wäre unseres antwortung einer realistischen Reformpolitik, dass die
Erachtens ein kapitaler Fehler. Damit schaden Sie der Bewältigung der demografischen Entwicklung nicht im
betrieblichen Altersvorsorge. Konflikt zwischen den Generationen stattfindet. Ein
Krieg der Generationen findet in Deutschland nicht statt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Es (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
ist gerade umgekehrt!) CDU/CSU)
Ich komme zum Schluss. Betrachte ich die Rentenpo- Die Bürgerinnen und Bürger aller Generationen sind zu
litik der großen Koalition – wir haben darüber ja in den einem solidarischen Beitrag bereit.
letzten Wochen und Monaten viel gehört und hier disku-
(Vorsitz: Vizepräsident Wolfgang Thierse)
tiert –, dann kann ich nur sagen: Der Zickzackkurs geht
weiter. Sie machen jeden Tag neue Vorschläge, die Sie Wir haben Korrekturmechanismen in das System ein-
dann wieder zurücknehmen; ich nenne nur: die Erhö- gebaut, die der veränderten Altersstruktur der Bevölke-
hung des Bundeszuschusses im nächsten Jahr mit rung Rechnung tragen. Diese würden kurzfristig zu Ren-
600 Millionen Euro, die Reduzierung der Rentenbeiträge tensenkungen führen. Malen Sie sich einmal aus, was
ab dem Jahre 2014 – wo Sie genau wissen, dass da ge- das für die Menschen bedeuten würde: Das hätte einen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2601
Peter Friedrich
(A) gravierenden Vertrauensverlust in die gesetzliche Rente Besteuerung ab 300 000 Euro vorsehen, der sollte einer (C)
zur Folge, den kein Mensch ernsthaft wollen kann; es sei Eisenbahnerwitwe, die sich zum Beispiel in Radolfzell
denn – das ist der einzige Grund, diesen Vertrauensver- am Bodensee – meinem Wahlkreis – zusammen mit ih-
lust in Kauf zu nehmen –, er hofft darauf, dass Alterssi- rem Mann in Eigenarbeit ein Häuschen gebaut hat, er-
cherung ein rein privates, persönliches Risiko wird. klären, was das für sie bedeuten würde. Die Häuser ha-
ben einen Wert, der weit über diesen Beträgen liegt.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das will
Wollen Sie tatsächlich über die Vermögensteuer von die-
niemand!)
ser Frau Solidarbeiträge einfordern?
Wer aber glaubt, Generationengerechtigkeit durch we-
(Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN)
niger Solidarität zu erreichen, der irrt, Herr Kolb.
Das steht tatsächlich in Ihrem Konzept. Sie sollten ein-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
mal schauen, wen Sie damit eigentlich treffen und wel-
CDU/CSU)
che Leute Sie für die Wohlhabenden dieses Landes hal-
Deshalb ist der Entwurf eines Gesetzes über die Weiter- ten.
geltung der aktuellen Rentenwerte richtig.
(Beifall der SPD und der CDU/CSU)
Die Anstrengungen, die wir jetzt im Bereich Rente
unternehmen, müssen von Reformen der anderen großen Vizepräsident Wolfgang Thierse:
solidarischen Sicherungssysteme flankiert werden. Wir Kollege Friedrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage
stehen gegenüber den Menschen in der Verantwortung, des Kollegen Ernst?
ihnen eine längere reale Lebensarbeitszeit zu ermögli-
chen. Das gilt – das wurde schon angesprochen – für das
Ende des Erwerbslebens, das heißt, dass die Menschen Peter Friedrich (SPD):
das Renteneintrittsalter tatsächlich im Erwerb stehend Ja.
erleben müssen. Das gilt aber auch für den Anfang des
Erwerbslebens. Die Gesamtarbeitszeit der Menschen Klaus Ernst (DIE LINKE):
muss zunehmen. Herr Friedrich, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
Wir müssen auch die Auswirkungen der Demografie men, dass bei unseren Vorschlägen zur Vermögensteuer
auf die anderen Sicherungssysteme berücksichtigen. Des- ein Häuschen im Wert von 300 000 Euro unter den Frei-
halb diskutieren wir momentan über die Frage, wie die betrag fallen würde?
Gesundheitsreform weitergehen kann. Wer glaubt – wie (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist denn so
das mehrfach in die Diskussion geworfen wurde –, man ein Häuschen in Stuttgart wert?) (D)
(B)
könne eine Reform auf höhere Zu- und Aufzahlungen
gründen, der irrt. Das hieße nämlich nichts anderes, als Peter Friedrich (SPD):
dass wir von den Rentnerinnen und Rentnern an der Apo-
Herr Ernst, ich nehme das zur Kenntnis. Allerdings
theke das zurückfordern, was wir ihnen vorher gegeben
stelle ich Ihnen anheim, zur Kenntnis zu nehmen, dass
haben. Das hieße, die Kranken müssten mit den Gesun-
Sie in meinem Wahlkreis für 300 000 Euro wahrschein-
den solidarisch sein. Auch das können wir nicht wollen.
lich kein Häuschen finden werden. Das ist das Problem.
Zweite Anmerkung. Bei der Rentenfrage muss man Die Leute sehen ihr Eigenheim als Altersvorsorge an. Es
nicht über zwei, sondern über drei betroffene Generatio- ist für sie mehr als nur in Haus. Trotzdem wollen Sie
nen sprechen. Wir diskutieren viel und emsig über die – so steht es in Ihrem Konzept – da heran.
Beitragszahler und die Leistungsempfänger. Generatio-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nengerechtigkeit ist aber mehr als eine reine Zahlungs-
bilanz. Es geht auch um die Frage, in welchem Zustand Meine dritte Anmerkung: Der wichtigste Beitrag zu
sich die Solidargemeinschaft befindet, in die zukünftige einer erfolgreichen Rentenpolitik in Zukunft ist eine er-
Beitragszahler hineingeboren werden, in der sie auf- folgreiche Familienpolitik. Natürlich können wir nicht
wachsen. Daher sind für die zukünftige Struktur der binnen weniger Jahre die Ergebnisse einer seit Jahrzehn-
Rente folgende Fragen von Bedeutung: Wie schaffen wir ten laufenden gesellschaftlichen Entwicklung korrigie-
nachhaltiges Wachstum? Wie schaffen wir eine dauer- ren. Aber so zu tun, als sei Demografie gottgegeben und
hafte Steigerung der Qualität unseres Bildungssystems? ein Naturgesetz, bedeutet, sich vor der politischen Auf-
Wie schaffen wir die Integration zugewanderter Bürge- gabe zu drücken. Deutschland braucht mehr Kinder. Es
rinnen und Bürger? Wie ist der Wohlstand zwischen den kommt häufig der Einwand, diese Kinder müssten dann
Generationen und innerhalb einer Generation verteilt? ja auch Arbeit haben und Beiträge zahlen, um der Rente
überhaupt zu nutzen. Der Einwand ist natürlich richtig.
(Beifall bei der SPD)
Aber es heißt, den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun.
Herr Ernst, in Ihrer Rede spielten all diese Themen Kinder sind mehr als nur persönliches Glück. Sie sind
keine Rolle. Deshalb möchte ich mir einen Hinweis auch ein Wachstumsimpuls für die Gesellschaft und für
nicht verkneifen: Wer in der Debatte immer wieder be- die Wirtschaft eines Landes. Damit wir mehr Kinder be-
tont, man müsse den Wohlhabenden endlich einmal an kommen, brauchen wir in Zukunft für die Menschen die
den Kragen, um das finanzieren zu können – in dieser Verlässlichkeit, dass die Betreuung der Kinder gewähr-
Verbalität tragen Sie das vor –, und gleichzeitig Vor- leistet ist und dass Beruf und Familie dauerhaft mit-
schläge zur Vermögensteuer auf den Tisch legt, die eine einander vereinbar sind.
2602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Peter Friedrich
(A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen von einer Schrumpfrente und machen den Leuten (C)
der CDU/CSU) schlichtweg Angst, was ihre Sicherheit im Alter betrifft.
Vierte Anmerkung: Ebenso wie Geld eine zentrale Ich finde, dass solche Debattenbeiträge, die den
Ressource für die Rente ist, ist Vertrauen eine zentrale eigentlichen Kern des Themas vermeiden, nur dafür sor-
Ressource für die Rente. Deswegen ist meine Bitte an gen, dass Rentnerinnen und Rentner wie auch Arbeit-
alle hier im Haus, insbesondere an die, die an den Rän- nehmerinnen und Arbeitnehmer zusätzlich verunsichert
dern sitzen: Hören Sie auf, bei den Menschen bezüglich werden. Aber die Menschen in unserem Land wollen
der Rente Ängste zu schüren. Hören Sie damit auf! Hö- keine hysterischen Schlagzeilen, sondern sie wollen wis-
ren Sie auf der einen Seite damit auf, den Beitragszah- sen, wie es um ihre Altersversorgung wirklich bestellt
lern Angst zu machen, sie würden überfordert, und hören ist. Das wird im Rentenversicherungsbericht und im Al-
Sie auf der anderen Seite auf, ihnen Altersarmut einzure- terssicherungsbericht der Bundesregierung in aller Klar-
den und den Systemkollaps zu propagieren. heit dargelegt. Darüber sollten wir miteinander reden.
(Zuruf von der LINKEN) Deswegen steht im Koalitionsvertrag: Mit der großen
Koalition wird es selbst dann, wenn sich die Löhne
Dies beschreibt nicht die Realität der Rente in Deutsch- schlecht entwickeln, keine Rentenkürzung geben. Übri-
land. Sie wissen ganz genau, dass wir bei der Altersar- gens wird es, Herr Kolb, auch keine Rentenkürzung
mut so gut dastehen wie noch nie zuvor. durch die Hintertür geben. Sie haben ja nicht über diese
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Legislaturperiode gesprochen, sondern über die vergan-
CDU/CSU) gene Regierung; Ihre Rede war sehr rückwärtsgewandt.
Wenn Sie dies nicht berücksichtigen, machen Sie den (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Damals war der
Menschen Angst. Sie treiben sie aus einem solidarischen Minister Fraktionsvorsitzender!)
Sicherungssystem. Mit dieser Propaganda verringern Sie
Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land können
die Solidarität in unserer Gesellschaft.
sich darauf verlassen, dass wir dieses Versprechen einlö-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen. Ein Gesetz, wie wir es heute beschließen, ist die
der CDU/CSU) stärkste Form der Einlösung unseres Versprechens. Es
gibt mit Schwarz-Rot keine Rentenkürzung. Das ist
Deswegen ist es gut, dass die große Koalition für die, Fakt.
die darauf angewiesen sind, dass ein solidarisches Siche-
rungssystem existiert und für sie da ist, wenn sie es brau- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
chen, eine verlässliche Grundlage schafft und sich nicht der SPD)
(B) aus populistischen Gründen vor der Verantwortung (D)
Bei all diesem Gerede, das nichts anderes als Verun-
drückt.
sicherung schafft, muss man einfach noch einmal klar
Herzlichen Dank. und deutlich sagen: Grundsätzlich gilt für die Rente zu-
allererst die Mathematik. Wer Adam Riese außer Kraft
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setzen will, wird bei der Rente eine Bauchlandung erle-
der CDU/CSU) ben.

Vizepräsident Wolfgang Thierse: Die Veränderungen im Altersaufbau unserer Gesell-


schaft, die Zunahme der Zahl älterer Mitbürgerinnen und
Kollege Friedrich, dies war Ihre erste Rede im Deut-
Mitbürger und die steigende Lebenserwartung, zwingen
schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alle guten
uns dazu, mit unserer umlagefinanzierten Rentenversi-
Wünsche für Ihre weitere Arbeit!
cherung auf diese Herausforderung zu antworten, aller-
(Beifall) dings nicht mit Wehgeschrei, sondern mit einem
Ausgleichsmechanismus, der für eine solidarische
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Peter Weiß, Generationengerechtigkeit sorgt. Darum geht es bei
CDU/CSU-Fraktion. der gesetzlichen Rentenversicherung.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das war auch schon das Kennzeichen aller bisherigen
Rentenreformen, angefangen von Norbert Blüm im
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Jahr 1992. Wären diese Reformen nicht durchgeführt
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! worden, würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung,
Wir führen ja manchmal eine eher kurzatmige Renten- den die jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in
debatte über viele Einzelfragen. Die Oppositionsredner unserem Land im Jahr 2030 voraussichtlich zahlen
verstehen es meisterhaft – zumindest versuchen sie es –, müssten, zwischen 36 und 41 Prozent liegen. Das würde
noch ein paar zusätzliche Kampfschauplätze aufzuma- für die jungen Leute das endgültige Aus der Solidarität
chen bedeuten. Genau das wollen die Linken:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Danke! Danke!) (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ui! Ui!)
und sich an Einzelpunkten festzuklammern. Man fragt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutsch-
sich: Was soll das Ganze, was Sie hier vorführen, eigent- land noch mehr Geld von ihrem sauer verdienten Lohn
lich? „Bild“ und „Super Illu“ machen das auch. Sie spre- wegnehmen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2603
Peter Weiß (Emmendingen)
(A) (Lachen bei der LINKEN) An dieser Stelle will ich noch Folgendes erwähnen: (C)
Es ist bereits heute möglich, dass eine Familie mit zwei
Das, was die Linken wollen, bedeutet unter dem Strich: Kindern, die einen jährlichen Eigenbetrag von 64 Euro
Alle werden gleich arm gemacht. in eine Riesterrente einzahlt, zusätzlich 336 Euro vom
Staat geschenkt bekommt. Ich finde, das ist ein großzü-
(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ilja Seifert
giges Angebot des Staates, um die Menschen zur priva-
[DIE LINKE]: So ein Blödsinn!)
ten Altersvorsorge zu motivieren. Das wollen wir als
Um eine solidarische Generationengerechtigkeit her- große Koalition sogar noch verbessern. Deswegen bin
zustellen, müssen wir konsequenterweise auch die ich überzeugt: Wenn wir nicht schlecht über das Thema
Regelaltersgrenze schrittweise auf 67 Jahre erhöhen. Altersvorsorge reden, sondern den Leuten erklären, was
Im Rentenversicherungsbericht wird deutlich, dass es in diesem Land möglich ist, dann werden wir es schaf-
gelingen kann – das ist unser Wille –, den Beitragssatz fen, dass in ausreichendem Maße private und betrieb-
zur gesetzlichen Rentenversicherung bis zum Jahr 2030 liche Altersvorsorge betrieben werden, sodass das Ge-
unter 22 Prozent zu halten. Ein Beitragssatz von 22 Pro- samtversorgungsniveau der Menschen im Alter nicht
zent ist wesentlich geringer als ein Beitragssatz von sinkt, sondern zumindest so hoch bleibt, wie es gegen-
36 bis 41 Prozent. Das könnte die junge Generation noch wärtig ist. Der Alterssicherungsbericht der Bundesregie-
tragen. rung zeigt: Wenn es uns gelingt, die Kombination aus
gesetzlicher Rente, betrieblicher Altersvorsorge und
Am Dienstag dieser Woche ist der „Papst“ der deut- Riesterrente für alle so attraktiv zu machen, dass sie sie
schen Rentenversicherung, Professor Ruland, offiziell in nutzen, steigt das Alterseinkommen in Zukunft sogar.
den Ruhestand verabschiedet worden. In einem Inter- Deswegen sage ich: Wir brauchen kein Untergangsge-
view mit der „FAZ“ vom 3. April dieses Jahres hat er schrei, wie es hier zum Teil aufgeführt wird, sondern
noch einmal trotz des bestehenden Reformbedarfs die Planbarkeit und Verlässlichkeit – dann bleibt Altersar-
große Anpassungsfähigkeit und die Krisenfestigkeit des mut in Deutschland auch in Zukunft ein Fremdwort.
Umlagesystems hervorgehoben.
Vielen Dank!
Man kann, so glaube ich, heute in der Tat feststellen: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt auch in Zu-
kunft das wesentliche und prägende Element der Alters-
vorsorge in Deutschland. Aber die Botschaft an die Ar- Vizepräsident Wolfgang Thierse:
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und vor allem an die Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPD-
junge Generation muss lauten: Die gesetzliche Renten- Fraktion.
(B) versicherung allein reicht zur Sicherung des Lebensstan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D)
dards im Alter nicht mehr aus. Sie muss zwingend um
die betriebliche und die private, kapitalgedeckte Alters-
Anton Schaaf (SPD):
vorsorge ergänzt werden, wenn man nicht in Altersarmut
geraten will. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
schon bei der letzten rentenpolitischen Debatte in diesem
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hause gesagt: Wir haben es mit einer Gemengelage zu
neten der SPD) tun: zwischen gnadenlosem Populismus auf der einen
Seite
Deshalb ist die politisch spannende und zentrale Auf-
gabe, die vor uns liegt, eigentlich nicht so sehr die Frage, (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Na, na, na!)
wie es mit der gesetzlichen Rente aussieht, sondern: und gnadenloser Klientelpolitik auf der anderen Seite.
Schaffen wir es, dafür zu sorgen, dass möglichst jeder
Arbeitnehmer eine betriebliche und eine private Alters- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Realismus, Herr
vorsorge aufbaut? Schaaf!)

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das muss man Auf der linken Seite dieses Hauses hat sich nicht viel ge-
sich aber auch leisten können, Herr Weiß! – ändert, auf der rechten Seite ist allerdings gnadenloser
Zuruf von der LINKEN: Und was ist mit den Populismus hinzugekommen; das muss man in aller
Hartz-IV-Beziehern? Wie soll das denn ge- Deutlichkeit feststellen.
hen?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L.
Die Finanzwirtschaft vermeldet, dass mittlerweile Kolb [FDP])
5,6 Millionen Riesterverträge abgeschlossen wurden.
Das ist schön. Aber das sind noch immer viel zu wenige. – Herr Kolb, ich bin gerne bereit, den Nachweis anzutre-
Deswegen müssen wir uns bemühen, die Attraktivität ten. Sie haben gerade gesagt, wir würden den Rentnerin-
der privaten Altersvorsorge zu steigern. Wir tun das, in- nen und Rentnern mit verschiedensten Instrumenten
dem wir noch in diesem Jahr ein Gesetz beschließen massiv in die Tasche greifen,
werden, durch das selbst genutztes Wohneigentum in die
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, sicher!)
Förderung der Riesterrente aufgenommen wird. Da-
rüber hinaus werden wir den Betrag, mit dem der Staat also real Rentenkürzungen vornehmen. Ich gebe unum-
Familien mit Kindern fördert, deutlich erhöhen. wunden zu, dass es in den letzten Jahren zusätzliche
2604 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Anton Schaaf
(A) Belastungen für die Rentnerinnen und Rentner gegeben Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (C)
hat – als ihr Solidarbeitrag zum Erhalt der sozialen Si- Herr Kollege Schaaf, würden Sie mir zustimmen,
cherungssysteme, dass Sie jetzt demselben Denkfehler unterliegen wie in
der letzten Legislaturperiode bei der Tabaksteuererhö-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na also!) hung, als Sie die Steuersätze erhöht haben und dann erle-
insbesondere bei der Gesundheitsvorsorge – und dass die ben mussten, dass unter dem Strich sogar geringere Ein-
Mehrwertsteuererhöhung nicht kompensiert werden nahmen erzielt werden? Können Sie sich vorstellen, dass
kann. niedrigere Rentenbeiträge zu mehr sozialversicherungs-
pflichtiger Beschäftigung und damit zu mehr Beitragszah-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na also!) lern führen können und dass das am Ende der wirksamere
Weg ist, um die Rentenkasse und die Rentenzahlungen
Das gestehe ich Ihnen zu. zu stabilisieren?
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Mit Ihrer Politik der permanenten Mehrbelastung der
Menschen durch permanente Beitragserhöhungen be-
Aber jetzt will ich den Menschen draußen im Lande schreiten Sie den falschen Weg: Sie haben mit Ihrer Poli-
mal sagen, was Sie vorschlagen: Die FDP schlägt vor, tik den massiven Verlust von anderthalb Millionen Ar-
den Rentenversicherungsbeitrag nicht von 19,5 Prozent beitsplätzen in fünf Jahren zu verantworten; das sage ich
auf 19,9 Prozent zu erhöhen, sondern ihn sogar abzusen- besonders an Sie als SPD-Kollegen gerichtet. Höhere
ken: auf 19 Prozent. Beiträge sind der falsche Weg. Beitragssenkungen und
der Aufbau von Beschäftigung, das ist die Lösung des
(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!)
Problems. Da sollten Sie mir doch eigentlich zustimmen,
Im Klartext geht es um 5 bzw. 9 Milliarden Euro. Sie sa- oder?
gen aber nicht, wer das finanzieren soll. Das heißt, es (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
geht um Kürzungen bei den Rentnerinnen und Rentnern.
So steht es in Ihrem Konzept: reale Kürzungen.
Anton Schaaf (SPD):
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unser Konzept Herr Kolb, wir haben diese Diskussion an anderer
sieht anders aus! Was Sie da in der Hand hal- Stelle schon geführt. Ich sage Ihnen noch einmal: Der
ten, ist eine Fälschung!) Widerspruch liegt bei Ihnen. Auch ich war der Meinung,
dass man die Mehrwertsteuer nicht erhöhen sollte.
Das wollen wir den Menschen nicht zumuten. Und Sie
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)
(B) werfen uns vor, dass wir den Rentnerinnen und Rentnern (D)
in die Tasche greifen! Das ist unlauter, um das ganz Aber man kann das tun, wenn damit die Lohnnebenkos-
deutlich zu sagen. ten gesenkt werden. Genau da widersprechen Sie sich
doch, wenn Sie jetzt fordern, dass die Mehrwertsteuer
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nicht erhöht wird.
der CDU/CSU)
Also, wir haben uns auf den Weg gemacht und einen
Herr Kolb, in all Ihren Papieren betonen Sie, dass die schwierigen Kompromiss gefunden: um die Lohnneben-
gesetzliche Rentenversicherung auch in Zukunft die zen- kosten abzusenken, um die Beitragszahlerinnen und Bei-
trale Säule der Altersversorgung sein wird. Dieser Über- tragszahler zu entlasten und übrigens auch – das sage ich
zeugung bin auch ich, und wir müssen alles dafür tun, an die FDP gerichtet –, damit private Vorsorge überhaupt
damit das auch in Zukunft so bleibt. Aber dann liest man möglich wird. Was private Vorsorge angeht, argumentie-
in einem mir vorliegenden Papier der Jungen Liberalen ren Sie ja gerne, die Arbeitslosengeld-II-Empfänger hät-
– die hoffentlich nie in die Verantwortung kommen –, ten bei der Riesterrente ja gar keine Chance und deswe-
dass die Julis die umlagefinanzierte Versicherung ab- gen drohe Altersarmut. Da liegen Sie aber falsch. Die
schaffen wollen. Das ist die Realität in der FDP. Und Sie drohende Altersarmut resultiert daraus, dass die Men-
stellen sich hier hin und klagen laut über das, was die schen keine Arbeit haben, und nicht daraus, dass sie
Vorgängerregierung getan hat und die große Koalition nicht privat vorsorgen können.
tut, um die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfest zu
machen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Unser Interesse muss also zunächst einmal darin liegen,
Das ist die Gemengelage. dass die Menschen in Brot und Arbeit kommen. Das ist
doch die entscheidende Frage. Die Argumentation auf
Ihrer Seite würde ich also noch einmal sehr deutlich
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
überprüfen.
Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Kolb? Herr Kolb, lassen Sie mich noch etwas zur Sozialab-
gabenfreiheit bei der Entgeltumwandlung sagen.
Auch das ist natürlich ein Punkt, über den man diskutie-
Anton Schaaf (SPD): ren kann. Ich weise nur darauf hin: Wenn uns die Ein-
Aber selbstverständlich. nahmen aus diesem Bereich in der gesetzlichen Renten-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2605
Anton Schaaf
(A) versicherung fehlen, dann trifft das im Nachgang im Der zweite Punkt ist die Altersteilzeit. Wenn wir (C)
Wesentlichen die, die nicht privat vorsorgen konnten. meinen, dass die Menschen später in Rente gehen sollen,
Das ist eine ganz einfache Geschichte. Diese Einnahmen dann sollten wir allerdings auch über flexible Modelle
werden im sozialen Sicherungssystem, in der Rentenver- dafür miteinander diskutieren können. Wir wissen ja,
sicherung, fehlen. dass die Förderung der Altersteilzeit 2009 ausläuft. Wir
sollten uns noch einmal Gedanken darüber machen. Ich
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Bei den Interes- halte es eigentlich für unsinnig, dass es zwei große Brü-
sen der Hartz-IV-Empfänger seid ihr nicht so che im Leben gibt, nämlich einmal den, wenn wir von
zimperlich!) der Schule in den Beruf gehen, und einmal den, wenn
Von daher muss man sehr genau hinschauen, was man an wir aus dem Beruf in die Rente gehen. Wir sollten diese
der Stelle tun will. Übergänge flexibler gestalten und Möglichkeiten dafür
suchen, dass die Menschen flexibler mit diesen Über-
Noch einmal an die linke Seite des Hauses gerichtet: gängen umgehen können, damit es keine Brüche mehr
Ich halte es für eine Verkürzung der Diskussion, wenn sind.
man sagt, die Anhebung des Renteneintrittsalters auf
67 Jahre bedeute eine massive Rentenkürzung. Wenn (Beifall bei Abgeordneten der SPD –
man sich die Historie der gesetzlichen Rentenversiche- Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht zulas-
rung anschaut, dann erkennt man, dass es eine giganti- ten der Beitragszahler, Herr Schaaf!)
sche Steigerung bei der Rente gab. Als wir die gesetzli- Der dritte und letzte Punkt, den ich noch ansprechen
che Rentenversicherung eingeführt haben, betrug die möchte, ist die Frage der Erwerbsminderung. Wenn
durchschnittliche Bezugsdauer der Rente acht Jahre; wir sagen, dass die Menschen länger arbeiten sollen,
mittlerweile sind wir bei 18 Jahren. Wenn man das eine dann müssen wir sicherlich auch individualisierte Instru-
so nicht fassen möchte, dann kann man es aus meiner mente für diejenigen haben, die nicht mehr oder nicht so
Sicht andersherum auch nicht fassen. Wir reden hier aus lange arbeiten können. Deswegen bitte ich, in den De-
meiner Sicht nicht über eine Rentenkürzung, sondern batten, die wir jetzt zu führen haben, insbesondere auch
darüber, dass die Lebensarbeitszeit länger sein muss als noch einmal die Frage der Erwerbsminderung auf die
bisher, damit die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer Agenda zu nehmen. Eine Überlegung wäre zum Bei-
erhalten werden können. spiel, das Alter, ab dem die Möglichkeit eines abschlags-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) freien Zugangs besteht, nicht gleichzeitig mit dem Ren-
teneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen, sondern es bei
63 Jahren zu belassen. Ich denke, das ist ein überlegens-
Vizepräsident Wolfgang Thierse: werter Ansatz.
(B) (D)
Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst? Meine Damen und Herren, ich will mit einem Satz
schließen, der da lautet: Auch in Zukunft ist die Rente si-
cher – sicher die zentrale Säule der Altersvorsorge. Wir
Anton Schaaf (SPD): Sozialdemokraten werden uns darum bemühen.
Nein, danke.
Danke schön.
Lassen Sie mich noch drei inhaltliche Punkte sagen.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Erstens. Wir haben gesagt, dass mit der Gesetzesini-
tiative zur Anhebung des Renteneintrittsalters auf Vizepräsident Wolfgang Thierse:
67 Jahre ein Programm für die Arbeitnehmerinnen und Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Arbeitnehmer über 50 Jahre einhergehen muss. Es kann Kollegen Klaus Ernst.
nicht sein, dass viele Betriebe in unserem Lande ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor dem Hinter- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Du
grund, dass sie relativ teuer und eventuell nicht mehr so lieber Gott! – Wolfgang Meckelburg [CDU/
leistungsfähig sind, entlassen und das Problem in die CSU]: Er kann es nicht lassen!)
Verantwortung der Allgemeinheit stellen. Für die Be-
schäftigung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Klaus Ernst (DIE LINKE):
nehmer tragen auch die Unternehmer in diesem Land Herr Schaaf, ich möchte Ihnen nur zur Kenntnis ge-
ihre Verantwortung. ben – ich gehe davon aus, dass Sie das nicht wussten –,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass das Leben eines Gerüstbauers in der Bundes-
republik im Durchschnitt nach 64 Jahren endet. Wenn
Es kann nicht sein, dass die Unternehmen im Lande nach der Plan der Bundesregierung, ihn bis 67 Jahre arbeiten
Ingeneurinnen und Ingenieuren rufen, während gleich- und erst dann in Rente gehen zu lassen, zur Umsetzung
zeitig 20 000 Ingenieure arbeitslos sind. Die Verantwor- gelangt, wird er drei Jahre vor Rentenbezug ableben. –
tung für Qualifizierung und Weiterbildung liegt hier bei Das nur als Hinweis!
den Unternehmen, nicht bei der Allgemeinheit. Diese
Verantwortung muss man noch einmal in aller Deutlich- (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
keit zuweisen. mendingen] [CDU/CSU]: Sie kennen das Sys-
tem überhaupt nicht! Das war ein tolles Bei-
(Beifall bei der SPD) spiel!)
2606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Mir kommt es langsam so vor, als sei die FDP der Hase, (C)
Kollege Schaaf. der erratisch über das politische Feld in Berlin rennt und
nicht weiß, wohin. Dabei drückt er sich in die Furche
und fällt in die Stacheln des Igels. Ich will Ihnen genau
Anton Schaaf (SPD):
erklären, warum.
Das ist genau das, was ich mit „gnadenlosem Populis-
mus“ meine. Man kann damit zwar auf die erste Seite (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin
der „Bild“-Zeitung kommen, aber mit Sicherheit keine gespannt!)
seriöse Debatte führen.
Ich bin ein wenig enttäuscht darüber, dass Sie immer
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wieder Anträge stellen, die sich im Prinzip schon von
selbst erledigt haben.
Vizepräsident Wolfgang Thierse: (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: So ist es! –
Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Fuchs, Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo ist denn Ihr
CDU/CSU-Fraktion. Gesetzentwurf? Stimmen Sie unserem Antrag
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – zu?)
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt der Halten wir einmal Folgendes fest: Unser Bundes-
Vorschlag zum Bürokratieabbau in der Sozial- arbeitsminister hat hervorragende Arbeit geleistet. Wir
versicherung!) haben ihn vor drei Wochen angeschrieben und ihn gebe-
ten, klarzustellen, dass die Geschäftsführer einer „Regel-
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): GmbH“ keine Scheinselbstständigen sind. Noch bevor
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihr Antrag vorlag, hatte er – das konnten Sie in der Zei-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Ernst, ich tung nachlesen – reagiert. Sie brauchen keine Sorge zu
kann nur sagen: Man kann Sie nicht ernst nehmen. haben, dass diese Regierung schläft. Sie brauchen uns
auch nicht zu helfen. Wir handeln schnell. Dafür bin ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem Bundesarbeitsminister ausgesprochen dankbar.
Ihrem Namen machen Sie überhaupt keine Ehre. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann wollen wir neten der SPD)
mal bei Ihnen gucken, Herr Fuchs!)
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
(B) Ihre Rede hatte mit dem, was heute Thema ist, nichts zu Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage (D)
tun.
des Kollegen Kolb?
Gerade Ihrer Partei verdanken wir doch einen Groß-
teil der Misere in unserem Land. Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
(Zurufe von der LINKEN: Oh! – Dr. Heinrich L. Darauf freue ich mich.
Kolb [FDP]: Na ja!)
Es ist die SED gewesen, die Vorgängerpartei der PDS, Vizepräsident Wolfgang Thierse:
die im gesamten Osten, einem großen Teil unseres Lan- Bitte schön.
des, den Karren in den Dreck gefahren hat. Wir sind
nunmehr bemüht, dies mit den Gesetzen, die wir ma- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
chen, zu korrigieren. Heißt das, Herr Kollege Fuchs, dass Sie unserem An-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- trag heute zustimmen werden? Wenn Sie das nicht tun,
neten der SPD und der FDP) frage ich Sie: Wo ist denn Ihr Antrag, mit dem das
Problem, wonach GmbH-Gesellschafter durch Sozial-
Es ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen, in den alten versicherungsbeiträge in fünfstelliger Größenordnung
Bundesländern Fuß zu fassen. Ihre Partei ist bei den letz- bedrückt werden können, gelöst wird? Solange Sie nur
ten Landtagswahlen kläglich gescheitert. Das wird so davon reden, ist es notwendig und richtig, dass die FDP
weitergehen, weil man Sie weiterhin nicht ernst nehmen Sie mit konkreten Anträgen und auch Gesetzentwürfen
kann. Das, was Sie hier machen, ist Klamauk; nichts an- treibt. Davon werden wir uns auch in Zukunft nicht ab-
deres. bringen lassen, Herr Fuchs.
Lieber Herr Kollege Kolb, von Ihnen hätte ich aller- (Beifall bei der FDP – Dr. Norbert Röttgen [CDU/
dings etwas anderes erwartet. CSU]: Das können Sie gar nicht!)
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Genau!)
Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Ich war von Ihrer Rede ziemlich entsetzt. Kennen Sie ei-
gentlich das Märchen von dem berühmten Wettlauf zwi- Es ist Ihr gutes Recht, Herr Kollege Kolb, dass Sie
schen Hase und Igel? versuchen, uns zu treiben. Aber gehen Sie bitte davon
aus, dass wir das gar nicht nötig haben; denn wir reagie-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kenne ich!) ren schon vorher.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2607
Dr. Michael Fuchs
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beginn die Lebenserwartung noch maximal acht Jahre (C)
neten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: betragen hat, während es heute durchschnittlich 18 Jahre
Wo ist denn Ihr Antrag?) sind. Dass das nicht auf die gleiche Weise finanziert wer-
den kann, ist selbstverständlich. Es kommt heute vor,
Diese Treibjagd werden Sie genauso verlieren, wie Sie
dass jemand mit 29 oder gar 30 Jahren nach dem Stu-
auch jetzt mit Ihrem populistischen Ansatz verlieren
dium endlich ins Berufsleben einsteigt und mit 52 in
werden. Der Bundesarbeitsminister hat bereits klarge-
Frührente geht. Da kann man ja kaum noch von ver-
stellt, dass eine solche Regelung – wie von Ihnen be-
schiedenen Gruppen reden.
fürchtet – für die GmbH-Geschäftsführer nicht gelten
wird.
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wo ist denn die Herr Kollege.
Umsetzung?)
– Erst einmal reicht eine solche Klarstellung. Anschlie- Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
ßend werden wir im Sozialgesetzbuch – Herr Bundesar- Wie wollen wir die Rentenversicherung finanzieren,
beitsminister, ich denke, das sehe ich richtig – die ent- wenn sich die Lebensarbeitszeit so verkürzt hat? Das ist
sprechenden Änderungen vornehmen. Dafür brauchen doch nur über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit
wir Ihre Hilfe nicht. möglich. Ich denke, es ist völlig richtig, dass wir an die-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ser Stelle angesetzt haben.
der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sehe mich bestätigt!)
Wir halten es für dringend notwendig, dass die Selbst- Vizepräsident Wolfgang Thierse:
ständigen geschützt werden und sie die Chance haben, Herr Kollege Fuchs, gestatten Sie eine Zwischenfrage
eine private Altersvorsorge abzuschließen. des Kollegen Seifert von der Linksfraktion?
(Jörg van Essen [FDP]: Ich bin entsetzt! Keine
Umsetzung!) Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
Gerne.
Das ist für uns selbstverständlich. Das sieht die Regie-
rung ganz genauso.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Das Beispiel zeigt, dass die Regierung gerade die As- Lieber Herr Kollege, Sie sprechen – wie auch der
(B) pekte der mittelständischen Unternehmen – im Wesentli- Vorredner schon – zum wiederholten Mal davon, dass (D)
chen betrifft es die Mittelständler – im Auge hat. Deren sich die Rentenbezugsdauer insgesamt erhöht hat. Ich
Probleme nehmen wir ernst und wir werden ihnen auf gehe davon aus, dass Sie sich darüber genauso freuen
diese Art und Weise schnell und ordnungsgemäß helfen. wie ich und einige andere im Hause auch.
Es ist nun einmal so: Vor Gericht und auf hoher See ist
man in Gottes Hand. Das Urteil des Bundessozialge- (Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich hoffe,
richts betrifft aber einen Einzelfall – auch von den Ren- dass ich das selbst habe!)
tenversicherungsträgern wird das so gesehen – und wird Aber warum reden Sie nie davon, dass sich in dersel-
nicht dazu führen, dass sofort etwas passieren muss. ben Zeit die Produktivität in unserem Lande viel stärker
Aber jetzt zum eigentlichen Thema. Wir sind schon erhöht hat als die Rentenbezugsdauer insgesamt und
so weit, dass wir 32,5 Prozent unseres Bruttoinlandspro- dass die Produktivität der entscheidende Faktor ist?
dukts für Soziales ausgeben. Entscheidend ist doch nicht, wie viele Rentner zu finan-
zieren sind, sondern wie viel Produktivität in diesem
Die Sozialleistungsquote beträgt mittlerweile Land besteht, um den Mehrwert zu erzeugen, damit wir
32,5 Prozent und ist damit unglaublich hoch. Der Zu- auch den Rentnerinnen und Rentner angemessene Leis-
schuss zur Rentenversicherung aus dem Bundeshaushalt tungen bieten können. Warum äußern Sie sich dazu gar
beträgt 77,4 Milliarden Euro. Das ist gut so. Wir müssen nicht? Warum blenden Sie das völlig aus und bezeichnen
das Rentensystem auf diese Weise stabilisieren. Wir wis- uns als Populisten?
sen aber auch, dass das hohe Belastungen für den Bund
bedeutet. Deswegen ist es richtig, dass der Bundesar- (Beifall bei der LINKEN)
beitsminister – auch hierfür möchte ich ihn loben – ge-
sagt hat, wir steigen mit der Rente ab 67 in den Umbau Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU):
der Rente ein. Das war notwendig. Wenn Sie meinen, Ohne diese Produktivität wären wir nicht in der Lage,
Herr Ernst, hier mit Populismus, wie Sie ihn eben bewie- die Renten zu finanzieren. Nur aus diesem Grund kön-
sen haben, Klamauk treiben zu können, dann geht das an nen wir sie noch finanzieren. Wir haben doch eben vom
der ernsten Problematik dieses Themas völlig vorbei. Bundesarbeitsminister gehört, welche Entwicklung sich
ergeben hat, nämlich dass sich die Finanzierung der
Ich finde es traurig, dass es darüber keinen Konsens
Rentner auf viel weniger Köpfe verteilt als früher. Das
gibt. Wir können doch nicht so tun, als wäre die demo-
sollten wir zur Kenntnis nehmen. Das spielt doch auch
grafische Entwicklung an diesem Land komplett vor-
beim Produktivitätszuwachs eine Rolle.
beigegangen. Sie hat sich nun einmal so ergeben. Der
Kollege Schaaf hat völlig Recht, dass früher bei Renten- (Beifall bei der CDU/CSU)
2608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Michael Fuchs


(A) Dennoch müssen wir bei den Lohnzusatzkosten vor- ner gemeinsamen Sitzung die hervorragenden bilateralen (C)
ankommen. Mittlerweile zahlen nur noch 26,2 Millionen Kontakte unserer beiden Parlamente und die intensive
Menschen in die Sozialversicherungssysteme ein, denen Zusammenarbeit – auch bei europäischen Themen – er-
aber 72 Millionen Leistungsempfänger gegenüberste- örtern und vertiefen können.
hen. Hierbei ist es die zentrale Aufgabe unserer Politik,
dafür zu sorgen, dass es weniger Leistungsempfänger Herr Präsident Debré, liebe Kolleginnen und Kolle-
und mehr Einzahler in die Sozialversicherungssysteme gen der Assemblée nationale, es freut uns, dass Sie trotz
gibt. Nur dann, wenn wir es hinbekommen, zusätzliche des dichten Programms heute Gelegenheit finden, unse-
sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu rer Debatte kurz beizuwohnen. Wie ich weiß, werden Sie
schaffen, werden wir auch in der Zukunft in der Lage und auch einige deutsche Kolleginnen und Kollegen
sein, die gesamten Systeme zu finanzieren. Deswegen gleich zur Verleihung des zweiten Deutsch-Franzö-
muss sich unsere Politik daran orientieren. sischen Parlamentspreises erwartet.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an unseren Wir wünschen Ihnen noch einen angenehmen Aufent-
Koalitionsvertrag, in dem klar und deutlich steht: halt in Berlin. Herzlichen Dank für Ihr Kommen.

Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist zentrale Ver- (Beifall)


pflichtung unserer Regierungspolitik. Wir wollen Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der
mehr Menschen die Chance auf Arbeit geben. Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
Deswegen ist es auch richtig, dass wir nächstes Jahr ge- über die Weitergeltung der aktuellen Rentenwerte ab
meinsam erste Ansätze verfolgen, die Lohnzusatzkosten 1. Juli 2006. Das sind die Drucksachen 16/794 und
zu senken. Deswegen ist es richtig, im nächsten Jahr die 16/1004. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales emp-
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 2 Prozent- fiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
punkte zu senken. Wir müssen auch alle anderen zusätz- Drucksache 16/1078, den Gesetzentwurf anzunehmen.
lichen Wege beschreiten, um dieses System zu verbes- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
sern. Dazu hätte ich gerne konkrete Vorschläge, aber sie wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
dürfen nicht populistisch sein. Denn wir können uns Stimmenthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in
weitere Kürzungen nicht leisten. Deswegen werden wir zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und
daran arbeiten und gemeinsame Vorschläge vorlegen. SPD gegen die Stimmen der drei anderen Fraktionen an-
genommen.
Wir müssen auch über das Thema Altersarbeitszeit
sprechen. Ich finde es völlig richtig, was der Minister Dritte Beratung
(B) eben gesagt hat, nämlich dass wir älteren Menschen und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (D)
Chancen bieten müssen, im Arbeitsleben zu bleiben oder
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
wieder hineinzukommen. Dazu müssen sämtliche Rege-
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
lungen – zum Vorruhestand etc. – auf den Prüfstand. Es
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
ist auch eine Aufgabe der Tarifpolitik, dafür zu sorgen,
der zweiten Beratung angenommen worden.
dass Menschen nicht so schnell frühverrentet werden.
Das darf nicht mehr möglich sein. Regelungen zur Früh- Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 3 b. Der Aus-
verrentung wie die 58er-Regelung müssen schnell abge- schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschluss-
schafft werden. Ansonsten werden wir unser gemeinsa- empfehlung auf Drucksache 16/1078 die Ablehnung des
mes Ziel nicht erreichen, das System zu erhalten. Antrags der Fraktion Die Linke auf der Drucksache
16/826 mit dem Titel „1-Euro-Jobs aus der Berech-
Vielen Dank.
nungsgrundlage für die Rentenanpassung herausneh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) men“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
Vizepräsident Wolfgang Thierse: empfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Linkspartei und des
Ich schließe die Aussprache.
Bündnisses 90/Die Grünen angenommen.
Bevor wir zur Abstimmung kommen, habe ich das
(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
Vergnügen, sehr angenehme Gäste zu begrüßen. Auf der
LINKE])
Ehrentribüne haben soeben die Mitglieder des Präsi-
diums der Assemblée nationale Platz genommen. Herr Tagesordnungspunkt 3 c. Wir kommen zur Abstim-
Präsident Debré, ich begrüße Sie und Ihre Delegation mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
sehr herzlich im Namen aller Kolleginnen und Kollegen für Arbeit und Soziales zu der Unterrichtung durch die
des Deutschen Bundestages. Bundesregierung über einen Vorschlag für eine Richtli-
(Beifall) nie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Ver-
besserung der Portabilität von Zusatzrentenansprüchen,
Wir freuen uns sehr, dass Sie unserer Einladung zur Drucksache 16/1155. Der Ausschuss empfiehlt unter
diesjährigen gemeinsamen Präsidiumssitzung und zu der Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung zur
Verleihung des zweiten Deutsch-Französischen Parla- Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
mentspreises in Berlin gefolgt sind. Die beiden Präsidien empfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
haben soeben, einer bewährten Tradition folgend, in ei- schlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2609
Vizepräsident Wolfgang Thierse
(A) gen die Stimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die mitzubekommen: Die Realität spricht eine andere Spra- (C)
Grünen angenommen. che.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- (Beifall bei der LINKEN)
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
So war in den aktuellen Mitteilungen der Bundesagentur
fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Be-
zu lesen, nach dem Saisonbereinigungsverfahren er-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU
rechne sich für März eine Zunahme der Arbeitslosenzahl
und SPD gegen die Stimmen der FDP, der Linken und
um 30 000.
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen angenom-
men. Erwerbslose erleben immer weniger wirkliche Hilfe
bei der Suche nach einem Job, sondern leider zuneh-
Tagesordnungspunkt 3 d bis h. Interfraktionell wird mend Demütigungen. In meinem Wahlkreis hat mich
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/966, neulich ein über 50-jähriger Mann angesprochen, der
16/905, 16/906, 15/5571 und 15/4498 an die in der Ta- sein Leben lang gewohnt war, von seiner Hände Arbeit
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. zu leben, und zwar im Baubereich. Ihm hatte man nun
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann einen 1-Euro-Job gegeben. Seine Tätigkeit bestand da-
ist die Überweisung so beschlossen. rin, Unkraut zu jäten, allerdings im Winter. Was haben
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 sowie die 1-Euro-Jobber gemacht? Sie haben – mir wurden
Zusatzpunkt 2 auf: diese Bilder gezeigt – erst den Schnee weggeschippt, um
dann zu versuchen, in dem gefrorenen Boden Unkraut zu
4 Beratung des Antrags der Fraktion der LINKEN jäten.
Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit – (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oje!)
Strategie zur Überwindung von Hartz IV
Meine Damen und Herren, noch vor einigen Jahren hätte
– Drucksache 16/997 – man gedacht, das seien Geschichten aus Absurdistan,
Überweisungsvorschlag: das seien Geschichten aus der Kategorie Schildbürger-
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) streiche. Aber nein, das ist leider die traurige Realität mit
Finanzausschuss Hartz IV. Hier muss sich etwas ändern.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien (Beifall bei der LINKEN)
Haushaltsausschuss
Doch nicht nur die Erwerbslosen gehören zu den Ver-
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte lierern von Hartz IV. Wohlfahrtsverbände haben errech-
(B) Pothmer, Markus Kurth, Irmingard Schewe- net, dass die Zahl der Kinder, die in Armut leben, mit (D)
Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Hartz IV um 500 000 zugenommen hat. Frauen erleben
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eine zivilisatorische Rückwärtsrolle. Neulich erst bei ei-
ner Montagsdemo in Weißenfels hat mich eine Frau an-
Hartz IV weiterentwickeln – Existenzsichernd,
gesprochen. Sie war es immer gewohnt, auf eigenen Bei-
individuell, passgenau
nen zu stehen. Nun ist sie arbeitslos und hat das Pech,
– Drucksache 16/1124 – dass ihr Mann nur wenige Euro über der Bemessungs-
Überweisungsvorschlag:
grenze verdient und sie keinerlei Anspruch auf eigene
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Leistungen hat. Sie muss nun zu ihrem Mann gehen und
Finanzausschuss die Hand aufhalten.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien (Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bedarfsorientierte
Haushaltsausschuss Grundsicherung!)
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Das ist für sie eine unzumutbare Demütigung.
die Aussprache 1 ¼ Stunden vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei der LINKEN)
Aber auch die Beschäftigten gehören zu den Verlie-
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Katja
rern von Hartz IV. Die Erpressbarkeit hat zugenom-
Kipping, Fraktion Die Linke, das Wort.
men.
(Beifall bei der LINKEN) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das stimmt doch
gar nicht!)
Katja Kipping (DIE LINKE):
Vielleicht ist auch Ihnen der Bericht einer Arbeitsge-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe richtsdirektorin zu Ohren gekommen, die beispielsweise
hier eine kleine Broschüre, die den Titel „Hartz IV – von einem dreifachen Vater berichtet hat, der ohne Wi-
Menschen in Arbeit bringen“ trägt. Im Dezember 2004 derspruch von heute auf morgen eine Lohnreduzierung
diente sie zur Information. Inzwischen taugt diese Bro- um 20 Prozent akzeptiert hat. Diese Arbeitsgerichtsdi-
schüre nur noch für die Märchenstunde. Denn von rektorin meinte, es sei die Existenzangst, die Leute dazu
„Menschen in Arbeit bringen“ kann leider nicht allzu zwinge, auf ihre Rechte zu verzichten.
viel die Rede sein. Man muss sich nur die aktuellen Ver-
lautbarungen der Bundesagentur anhören, um deutlich (Beifall bei der LINKEN)
2610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Katja Kipping
(A) Die Liste der Verlierer geht weiter. Handwerk und Um das zu finanzieren, ist natürlich eine Neuausrich- (C)
Handel klagen über fehlende Binnenkaufkraft. In mei- tung in der Steuerpolitik notwendig. Die Großzügigkeit
nem Wahlkreis gegenüber Vermögenden und Unternehmen mit Gewin-
nen können wir uns tatsächlich nicht mehr leisten.
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sie ha-
ben gar keinen Wahlkreis!) (Beifall bei der LINKEN)
gibt es in einer früher florierenden Ladenstraße immer Wer also Augen hat, um zu sehen, und Ohren, um zu hö-
mehr leere Schaufenster, weil wieder einmal ein Frisör ren, der kann feststellen: Hartz IV muss gekippt werden.
Pleite gemacht hat, weil die Leute sich die Produkte und
Dienstleistungen nicht mehr leisten können. Nun kann ich verstehen, dass es Ihnen, meine Damen
und Herren von der SPD, schwer fällt; es ist immerhin
Das Fazit ist: Kinder, Frauen, Handwerker, Beschäf- einmal Ihr Referenzprojekt gewesen. Es gibt einige Pro-
tigte und Erwerbslose gehören zu den Verlierern von bleme, vor denen auch Sie die Augen nicht verschließen
Hartz IV. Es ist höchste Zeit, dass sich hier etwas ändert. können. Meine Damen und Herren von der SPD, es gibt
einige Verbesserungen, die müssten Sie mit uns jetzt
(Beifall bei der LINKEN)
endlich gemeinsam in Angriff nehmen können. Ich emp-
Hartz IV folgt grundsätzlich der falschen Ideologie. fehle Ihnen die aktuellen Untersuchungen der Caritas zur
Das können kosmetische Schönheitskorrekturen nicht Lektüre. Diese Untersuchungen besagen: Der Kranken-
ändern. Wir meinen also: Hartz IV muss grundsätzlich versicherungsschutz ist das Mindeste, was für jeden Er-
überwunden werden. Das Arbeitslosengeld II in seiner werbslosen gewährleistet sein muss.
jetzigen Form muss dabei durch eine soziale Grund-
(Rolf Stöckel [SPD]: Genau das haben wir
sicherung ersetzt werden, die repressionsfrei erfolgt, die
eingeführt!)
diesen Namen verdient und die gesellschaftliche Teil-
habe wirklich ermöglicht. Die heutige Situation sieht so aus, dass Frauen, die in
einer eheähnlichen Gemeinschaft leben – das betrifft
(Beifall bei der LINKEN)
auch Männer; aber in den meisten Fällen sind doch eher
Die 1-Euro-Jobs müssen durch sozialversicherungs- die Frauen betroffen, weil die Männer mehr verdienen –
pflichtige Arbeitsverhältnisse ersetzt werden. Das Motto und die das Pech haben, dass das Einkommen ihrer Part-
könnte lauten: Ordentliche Schulsozialarbeiter statt viel ner nur wenige Euro über der Beitragsbemessungsgrenze
zu kurze und schlecht bezahlte 1-Euro-Jobs. liegt, keinerlei Anspruch auf eine gesetzliche Kranken-
versicherung haben. Versuchen Sie einmal als Frau über
(Beifall bei der LINKEN – Wolfgang 50, sich bei einer privaten Krankenversicherung zu ver-
(B) Meckelburg [CDU/CSU]: Stellt doch euer Ver- sichern! Dafür sind Beträge nötig, die ein Arbeitsloser (D)
mögen zur Verfügung!) nicht aufbringen kann.
Auch die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I muss (Beifall bei der LINKEN)
länger werden. Wir schlagen hier vor: Für jedes Jahr
Beitragszahlung hat man Anspruch auf einen Monat Ar- Auch Ihnen muss doch verständlich sein, dass es nicht
beitslosengeld I. Natürlich gibt es da auch für uns eine angeht, dass das Pflegegeld und die EU-Renten für Be-
Mindestfrist. hinderte bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II
berücksichtigt werden.
(Beifall bei der LINKEN)
(Rolf Stöckel [SPD]: Das ist bei einer bedarfs-
Das Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft sollte im orientierten Grundsicherung aber so!)
21. Jahrhundert endlich überwunden werden. Die gegen-
seitige finanzielle Inhaftnahme innerhalb einer Familie Vor einer Sache kann man die Augen nicht verschlie-
erhöht nur die Anzahl der negativen Aspekte, nämlich ßen: Widersprüche gegen belastende Bescheide müssen
ökonomische Abhängigkeit. Wir meinen, es ist Zeit, ei- endlich eine aufschiebende Wirkung haben. Das ist
nen Individualanspruch einzuführen. zum einen ein Gebot des Rechtsstaates. Wir sehen doch,
dass es bei der Bearbeitung der Widersprüche tatsächlich
(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder enorme Probleme gibt. Ich habe neulich in einer Runde
[CDU/CSU]: Solidarischer Zusammenhalt ei- von Erwerbslosen gesagt: Ja, ich weiß, auf die Bearbei-
ner Familie, Frau Kipping! So etwas kennen tung mancher Widersprüche wartet man schon seit sechs
Sie nicht!) Monaten. Da bin ich ausgelacht worden und die Leute
Wir meinen auch: Schutz vor Wohnungslosigkeit haben gesagt: Wir warten leider schon seit einem Jahr
muss gewährleistet werden. Uns allen wird immer schön darauf, dass unser Widerspruch bearbeitet wird.
warm ums Herz, wenn wir in der Weihnachtszeit Be- (Rolf Stöckel [SPD]: Aber es bleibt keiner
richte im Fernsehen darüber sehen, wie Obdachlosen ge- ohne Hilfe!)
holfen wird. Aber Wohnungslosigkeit, die sich durch
Hartz IV wahrscheinlich verschärfen wird, ist eben nicht – Das ist schöne Theorie, was Sie sagen. Die Praxis sieht
nur zu Weihnachten ein Problem, sondern das ganze Jahr leider anders aus.
über. Deswegen sagen wir: Das Menschenrecht auf
Wohnen muss gewahrt werden. Wir haben uns in den einzelnen Kommunen umge-
hört. Fast überall ist bisher erst jeder zweite Widerspruch
(Beifall bei der LINKEN) bearbeitet worden. Die Tatsache, dass von den bearbeite-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2611
Katja Kipping
(A) ten Widersprüchen mindestens jedem dritten Wider- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- (C)
spruch stattgegeben worden ist, zeigt doch, dass es not- wie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])
wendig ist, dafür zu sorgen, dass Widersprüche eine
aufschiebende Wirkung haben. Aber solange es nicht so ist, brauchen wir Hilfen für die
betroffenen Langzeitarbeitslosen, für die betroffenen
(Beifall bei der LINKEN) Menschen. Hilfe muss vor allem natürlich darin beste-
Ansonsten werden Menschen Leistungen unrechtmäßig hen – das ist richtig –, Brücken zur Arbeit und zur wirt-
vorenthalten. Wir reden dabei nicht von Menschen, die schaftlichen und sozialen Selbstständigkeit, zur Autono-
ein Polster haben, sondern von Menschen, die ohnehin mie des Einzelnen zu bauen.
schon wenig haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Die Probleme, die Menschen mit Hartz IV haben, Klaus Uwe Benneter [SPD] und des Abg. Rolf
sind so ernst, dass wir als Gesetzgeber reagieren müssen. Stöckel [SPD])
Wir können es uns nicht mehr leisten, uns einfach mit Ihr Gesellschaftsbild, Ihr Weltbild ist ein völlig ande-
Märchenstunden zu begnügen. res. Sie wollen die Menschen in monetärer Abhängigkeit
Meine Damen und Herren, wenn Sie unserem Antrag vom Staat, von der Gemeinschaft halten. Statt die Kräfte
aus Prinzipienreiterei nicht zustimmen wollen, so neh- des Einzelnen und die Kräfte seiner Familie zu fördern,
men Sie unseren Antrag wenigstens zum Anlass, um
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Eine Unterstel-
über die dringend notwendigen Veränderungen bezüg-
lung!)
lich Hartz IV mit uns gemeinsam zu beraten.
Besten Dank. was Ihre Verantwortung ist, wollen Sie das Kollektiv he-
ranziehen. Das ist eine ganz falsche Vorstellung; jeden-
(Beifall bei der LINKEN) falls haben wir eine deutlich andere Vorstellung von der
Subsidiarität unserer Staats- und Gesellschaftsordnung.
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Wie Sie sich von der Knappheit der Ressourcen lösen,
Ich erteile das Wort Kollegen Gerald Weiß, CDU/ wie Sie die Kanne der Großzügigkeit ausgießen und
CSU-Fraktion. Wohltaten mit nicht vorhandenem Geld austeilen wollen,
(Beifall bei der CDU/CSU) das nötigt schon Bewunderung ab. So kann man keine
verantwortliche Politik machen.
Gerald Weiß (Groß-Gerau) (CDU/CSU): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
(B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und wie des Abg. Rolf Stöckel [SPD]) (D)
Herren! Man muss eigentlich nicht um Worte streiten,
Frau Kipping, aber manchmal lohnt es sich schon, um Man muss die Begrenztheit der Ressourcen im
Begriffe zu streiten. Wir reden hier nicht über Hartz IV Auge behalten und man muss die knappen Mittel zielge-
– das ist Ihr Kampfbegriff –; wir reden über das richtet einsetzen. Minister Müntefering hat es gestern er-
Sozialgesetzbuch II und die Grundsicherung für Arbeit- läutert. Eine Politik, die die Grundsicherung effektiver
suchende. Das und nicht Hartz IV ist das Thema. und effizienter gestaltet, wird auch sinnvolle Einsparun-
gen möglich machen. Die beiden Reformschritte der Ko-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- alition werden in diesem Jahr Ersparnisse in Höhe von
neten der SPD – Katja Kipping [DIE LINKE]: 300 bis 400 Millionen Euro und im nächsten Jahr in
Das steht auf einem Buch der Bundesregie- Höhe von 1,2 Milliarden Euro ermöglichen. Das sind
rung!) Gelder, die wir sinnvoller, an der richtigen Stelle, und ef-
Von Ihnen, Frau Kipping und Genossen, brauchen wir fektiv einsetzen müssen. Wir müssen den Sozialstaat
auch keine Belehrung des Inhalts, dass wir die Reform zielgerichteter ausgestalten. Das ist der Sinn der Re-
auf dem Sektor des Sozialgesetzbuches II fortsetzen form, die wir uns vorgenommen haben.
müssen. Wir haben das mit einem ersten Änderungsge- (Beifall bei der CDU/CSU)
setz zum Sozialgesetzbuch II zur Beseitigung schwerer
Fehlanreize in diesem Gesetz bereits begonnen. Das war Mit dem SGB II ist Neuland betreten worden. Es ist
die erste Reformstufe. Jetzt kommt die zweite Reform- eine große und auch komplizierte Reform. Hilfe aus ei-
stufe – die Grundlagen dafür hat der Minister gestern im nem Guss für alle Langzeitarbeitslosen, das ist ein richti-
Ausschuss dargelegt –, ein Optimierungsgesetz für das ger Ansatz. Wenn man sich jetzt in der Praxis ansehen
Sozialgesetzbuch II, für die Grundsicherung, mit dem muss, dass es Fehlentwicklungen und Fehlanreize gibt,
wesentliche weitere wichtige Reformschritte umgesetzt dann muss doch die Konsequenz sein: Das SGB II muss
werden sollen. Wir brauchen weder Ihre Belehrungen sozusagen ein lernendes System sein.
noch Ihre Rezepte, Frau Kipping.
(Beifall des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und des Abg. Rolf Stöckel [SPD])
Natürlich wäre es das Beste, wir könnten das Wenn es das nicht ist, muss es ein lernendes System wer-
Arbeitslosengeld II abschaffen. Das würde nämlich be- den.
deuten, dass es uns gelungen wäre, die Langzeitarbeits-
losigkeit in Deutschland zu überwinden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
2612 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Gerald Weiß (Groß-Gerau)


(A) Das heißt, es gilt, aus der Praxis zu lernen und schaft handelt oder nicht. Den Weg, das zu klären, (C)
Folgerungen aus den Fehlentwicklungen zu ziehen. Ich müssen wir vereinfachen. Das wäre ein Aspekt.
sagte schon: Den ersten Schritt haben wir mit dem
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
SGB-II-Änderungsgesetz getan.
der SPD)
Jetzt kommt die zweite Reformstufe. Da brauchen wir
weder Peitschenknallen noch Stinkbomben von der Op- Ähnliches gilt für den Aspekt der Vermögensbeiträge.
position. Wir werden auch diese zweite Reformstufe bis Die Koalition hat sich vorgenommen, die Schonbeträge
zum Sommer umsetzen. für die Alterssicherung anzuheben. Selbst wenn wir im
Gegenzug die Freibeträge für das übrige Vermögen sen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ken müssten, wäre es ein sinnvoller Schritt, Altersver-
mögen in einem machbaren Rahmen als Schonvermögen
In der Erkenntnis, dass Reformbedarf besteht, gibt es
freizustellen, wobei wir uns allerdings nicht so weit von
Übereinstimmung. Das ist aber ein Minimalkonsens.
den Finanzierungsgrundlagen emanzipieren können, wie
Schon darüber, wie sich dieser Reformbedarf definiert,
es die Caritas vorschlägt. Sie fordert einen Betrag ein,
gibt es ganz erhebliche Divergenzen, Frau Kipping, zwi-
den man nicht realisieren kann. Aber der Vorschlag geht
schen Ihnen, aber auch den Grünen und uns. Die Linke
in die richtige Richtung.
will zum Beispiel die Sanktionen praktisch abschaffen,
denen jemand unterworfen ist, der eine angebotene Ar- Lassen Sie uns über diesen qualitativen Reformbedarf
beit nicht annimmt. Wenn Sie das machen, dann machen reden und entsprechend handeln. Dann werden wir unse-
Sie ein ganz wichtiges Steuerungsmittel gegen unge- ren Dienst an den Menschen erfüllen.
rechtfertigte Inanspruchnahme des Sozialstaates kaputt.
Wir brauchen dieses Steuerungsmittel. Wir müssen för- Herzlichen Dank.
dern und fordern. Das Fördern steht am Anfang. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Zurufe von der LINKEN: Wo?)
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Dieses Steuerungsmittel trifft die Minderheit der Unge-
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDP-
rechten. Wer eine angebotene Beschäftigung ablehnt, der
Fraktion.
muss auch gerechten Sanktionen unterworfen sein.
(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
[CDU/CSU]: Hoffentlich wird es jetzt besser
wie des Abg. Rolf Stöckel [SPD])
als eben!)
Wir können keine Ausbeutung zulassen, indem wir
(B) knappe Steuermittel, für die die Unternehmer, die Selbst- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): (D)
ständigen und die Arbeitnehmer arbeiten müssen und für Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
die auch die kommenden Generationen über die Staats- muss zunächst einmal feststellen – ich befinde mich da
verschuldung einstehen müssen, bedenkenlos ausschüt- sicher in Übereinstimmung mit dem Kollegen
ten. Brauksiepe –, dass die Idee von Fordern und Fördern,
(Beifall des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ die hinter dem Sozialgesetzbuch II steht, ein absolut
CSU] und des Abg. Rolf Stöckel [SPD] – Jörg richtiger und notwendiger Ansatz ist.
van Essen [FDP]: Völlig richtig!) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Da haben wir ein wesentlich anderes Menschen- und Ge- Richtig!)
sellschaftsbild. Aber das SGB II hat, wie wir heute feststellen müssen,
Wir müssen in dem genannten Optimierungsgesetz noch zahlreiche Konstruktionsfehler. Es sollten ja eine
im Grunde vier Ziele realisieren: erstens größere Ziel- schnellere Vermittlung in Beschäftigung, eine bessere
genauigkeit bei den Leistungen, zweitens notwendige Betreuung von Arbeitslosen und eine deutliche Kosten-
Klarstellungen in der Verwaltungspraxis, wo es heute senkung erreicht werden. Aber keines dieser gesteckten
Rechtsunklarheiten gibt, drittens bessere Vorbeugung Ziele konnte bisher realisiert werden.
gegen den Leistungsmissbrauch und viertens Verwal- (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)
tungsvereinfachung. Das sind die vier Kernziele, um die
sich die Reformen, die wir uns vorgenommen haben, Das lag nicht daran, dass wir etwa zu wenig Geld in die
ranken müssen. Hand genommen hätten. Denn im Haushaltsentwurf,
über den zurzeit beraten wird, werden in diesem Jahr
Ich sehe nur zum Teil – ich habe heute meinen höfli- 30 Milliarden Euro – darunter fallen direkte Transfers,
chen Tag – übereinstimmende Ansätze in den Anträgen
das Wohngeld, der Wohngeldzuschuss des Bundes und
der Linken und der Grünen und uns. Der Handlungsbe-
die Mittel für die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen –
darf tritt deutlich zutage, zum Beispiel bei den eheähn- in Ansatz gebracht. Das zeigt, am Geld kann es sicher-
lichen Gemeinschaften. Wir sind dafür, dass die Partner
lich nicht liegen.
in einer solchen Verantwortungsgemeinschaft weiter für-
einander einstehen. Aber wir wissen doch, welch ein Wir haben gestern gelesen und auch vom Minister im
Kontrollaufwand nötig ist und welche Probleme bei- Ausschuss gehört, dass derzeit eine dramatische Ent-
spielsweise im Zusammenhang mit der Frage erwach- wicklung zu beobachten ist. Die Wohnungskosten für
sen, ob es sich tatsächlich um eine eheähnliche Gemein- Empfänger von Arbeitslosengeld II liegen im ersten
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2613
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) Quartal 2006 um 25 Prozent über den Kosten im ver- (Jörg van Essen [FDP]: Altes sozialistisches Den- (C)
gleichbaren Vorjahreszeitraum. Die vorläufige Zahl der ken, das das Land in den Ruin geführt hat!)
Bedarfsgemeinschaften, die ALG II beziehen, stieg im
Wenn man damit das Problem der Arbeitslosigkeit lösen
März auf 3,92 Millionen. Das sind 600 000 mehr als im
könnte, hätte sich dafür sicher schon eine Mehrheit ge-
Januar 2005. Wenn sich diese Entwicklung verfestigt,
funden.
dann wird es erneut ein böses Erwachen mit Blick auf
den Haushaltsvollzug geben. Die Politik ist verantwortlich dafür, Rahmenbedin-
gungen zu schaffen, die es den Unternehmen ermögli-
Es besteht kein Zweifel: Die handwerkliche Umset- chen, zu investieren und sozialversicherungspflichtige
zung von Hartz IV war mangelhaft. Es gab vielfältigen Beschäftigung zu schaffen. Nur eine gut funktionierende
Wildwuchs und auch Mitnahmeeffekte. Ich nenne bei- Wirtschaft sorgt dafür, dass die sozialen Sicherungssys-
spielsweise den rapiden Anstieg der Zahl der Ein-Perso- teme überhaupt unterhalten werden können.
nen-Bedarfsgemeinschaften. Auch der gleichzeitige
deutliche Anstieg der Zahl der erwerbsfähigen Hilfebe- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
dürftigen unter 25 Jahren seit Beginn des letzten Jahres der CDU/CSU und der SPD)
ist weder Zufall noch gottgegeben, sondern er entstand
Das haben wir auch bei der Debatte über den vorange-
aufgrund von Fehlanreizen. Hier hätte schnellstens ge-
gangenen Tagesordnungspunkt sehr deutlich gesagt.
gengesteuert werden müssen. Sie sind unserem Vor-
schlag aber nicht gefolgt, auch jetzt noch im Rahmen der Wir wollen – ich sage auch: wir müssen – die Men-
alle sechs Monate stattfindenden Überprüfung der An- schen zurück in sozialversicherungspflichtige Beschäf-
spruchsvoraussetzungen zu prüfen, ob die Ein-Personen- tigung bringen. Das ist das Ziel jeder Arbeits- und
Bedarfsgemeinschaften nach Möglichkeit wieder in die Sozialpolitik. Dazu braucht man eben auch einen funk-
Familie eingegliedert werden können. tionierenden Niedriglohnsektor, in dem die Anreize zur
Aufnahme einer Beschäftigung im ersten Arbeitsmarkt
Frau Kipping, Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass gesetzt werden.
von Telefonbefragungen abzusehen sei. Ich will einmal
festhalten, dass bei den zwischen Juli und September Ihre Forderung, die Grundsicherung auf 420 Euro zu
2005 stattgefundenen Telefonbefragungen 45 Prozent erhöhen, ist angesichts der Summen, die schon heute für
der Arbeitslosengeld-II-Empfänger nicht erreicht wer- das Arbeitslosengeld II aufgewendet werden, absurd.
den konnten. Teilweise lag das an falschen Telefonnum- Ebenso fatal ist auch die Forderung nach Einführung ei-
mern. Bei 10 bis 30 Prozent der erfolgreich durchgeführ- nes Mindestlohns. Ich sage Ihnen noch einmal sehr deut-
ten Telefonate ergab sich ein weiterer Klärungsbedarf. lich: Gesetzliche Mindestlöhne führen zur Verdrängung
von Arbeitsplätzen, insbesondere im Bereich der gerin-
(B) Aber – jetzt kommt es – bei den seit Januar 2006 durch- (D)
geführten Telefonbefragungen hat sich bei 4,1 Prozent ger Qualifizierten.
der Fälle eine Änderung beim Status der Arbeitslosigkeit (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto
ergeben, bei den unter 25-Jährigen sogar in 9,8 Prozent Solms)
der Fälle. Frau Kipping, das zeigt doch, dass die von der
FDP geforderte Meldepflicht keine Schikane, sondern Man könnte noch viel zu diesem Antrag sagen, der
ein Instrument gegen massiven Missbrauch ist. ein ganzes Sammelsurium von Maßnahmen enthält.
Schon der darin enthaltene Ansatz ist verkehrt. Dieser
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Antrag wird in den Beratungen wahrscheinlich nicht in
der CDU/CSU und der SPD) eine vernünftige Form zu bringen sein. Wir werden
Ich denke auch, Frau Kipping, das Prinzip des For- gleichwohl im Ausschuss über ihn beraten. Aber man
derns und Förderns wird von der breiten Mehrheit der muss hier eine Ablehnung am Ende wohl schon in Aus-
Bevölkerung nicht infrage gestellt. Das Gleiche gilt auch sicht stellen.
für das Solidarprinzip. Wer die solidarische Hilfe der Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Gemeinschaft in Anspruch nehmen möchte, der muss
auch bereit sein, zumutbare Arbeit und Qualifikations- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
angebote anzunehmen. der CDU/CSU)

(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Rolf Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Stöckel [SPD] – Katja Kipping [DIE LINKE]:
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Unkrautjäten im Winter!)
Gerd Andres.
Ich sage sehr deutlich: Der von Ihnen vorgelegte An- (Beifall bei der SPD)
trag ist schädlich. Dadurch schaffen Sie keine zusätzli-
chen Arbeitsplätze, sondern gefährden vorhandene sozi-
alversicherungspflichtige Beschäftigung. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales:
(Jörg Rohde [FDP]: Genau so ist es!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen auf der linken
Der Antrag geht von falschen Voraussetzungen aus. Ar-
Seite,
beitsplätze werden nämlich von Unternehmen geschaf-
fen und nicht aufgrund von Anträgen oder Beschlüssen (Klaus Brandner [SPD]: Das ist die rote
des Deutschen Bundestages. Karte!)
2614 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Parl. Staatssekretär Gerd Andres


(A) ich hätte es gut gefunden, wenn die Verfasser des vorlie- Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- (C)
genden Antrages die Broschüre „Hartz IV – Menschen nister für Arbeit und Soziales:
in Arbeit bringen“ nicht nur erwähnt, sondern sie auch Gerne, Herr Präsident.
gelesen hätten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
der CDU/CSU) Bitte, Frau Kipping.
Wer Ihren Antrag nämlich liest – ich habe ihn gelesen
und ihn mit vielen Anmerkungen versehen; ich finde, Katja Kipping (DIE LINKE):
man sollte ihn sich wirklich aufheben –, stellt fest, dass Herr Andres, da Sie so großen Wert auf das Prinzip
er an vielen Stellen fachlich falsch und schlecht ist. des Förderns legen, möchte ich Sie fragen, ob Sie nicht
zumindest einen Aspekt unseres Antrages bestätigen
(Zuruf von der LINKEN: Das ist eine Unter-
können. Es handelt sich um Folgendes: Das Problem ist,
stellung!)
dass Personen, die erwerbslos werden, aber keinen An-
Er unterschlägt an einer ganzen Reihe von Stellen ge- spruch auf eine geldliche Leistung haben, weil ihr Part-
setzliche Regelungen. Er ist nach einem „Wünsch-dir- ner zu viel Geld verdient, in der Praxis leider keinerlei
was-Populismus“ gestrickt. Wenn ich ihn aus finanzpoli- Arbeitsförderung mehr nach SGB III erfahren. Wir
tischer Perspektive betrachte, komme ich zu dem Ergeb- fordern die Bundesregierung auf, ihre Dienstaufsicht
nis: Er ist verheerend. wahrzunehmen und dafür Sorge zu tragen, dass auch
Personen, die erst einmal keine Kosten verursachen, in
(Zuruf von der LINKEN: Das müssen Sie den Genuss von Arbeitsförderungsmaßnahmen kom-
beweisen!) men. Ist das nicht ein Punkt, zu dem Sie sagen müssten:
– Ich kann Ihnen das gerne beweisen. Ich sage Ihnen: „Ja, das hätten wir als Bundesregierung längst tun müs-
Wenn man die Leistungsverbesserungen, die Sie vor- sen. Danke, dass Sie uns darauf hingewiesen haben!“?
schlagen, also Verbesserungen beim Kindergeld und (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge-
Ähnliches, zusammenzählt, kommt man überschlägig ordneten der CDU/CSU)
auf eine Summe von 35 Milliarden Euro. Wer sagt, das
sei bei der gegenwärtigen Haushaltslage einigermaßen
seriös – Sie haben gestern den Haushalt beraten –, Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi-
nister für Arbeit und Soziales:
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Große Frau Kipping, darf ich Ihnen in aller Freundlichkeit
(B) Steuerreform! Ein Minus von 60 Milliarden etwas sagen? Sie werden es nicht glauben: Die Bundes- (D)
Einnahmen!) regierung teilt Ihre Position und hat sie, lange bevor Sie
blendet die Leute. Sie können zwar ab und zu Ihren sie formuliert haben, eingenommen.
Weltökonomen Lafontaine von der Kette lassen; der er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
klärt dann, wie man das alles macht. Aber wie man Ar- der CDU/CSU)
beit schafft – verehrte Frau Kipping, Sie haben ja gesagt,
es werde keine Arbeit geschaffen –, steht nicht in Ihrem Es geht im SGB II darum, festzustellen, ob jemand
Antrag. bedürftig ist. Es geht darum, ihn so schnell wie möglich
aus dem Bedarf herauszubringen. In dem von Ihnen ge-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schilderten Fall, wenn also jemand Arbeit hatte, dann ar-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE beitslos wird und er aufgrund des Partnereinkommens
GRÜNEN) oder deswegen, weil die Bedarfsgemeinschaft gut ausge-
Die Erfahrung, die wir über viele Jahre gemacht ha- stattet ist, keine Leistung bekommt, hat er dennoch ein
ben, ist: Wir haben den Leuten zu viel Geld gezahlt und Anrecht darauf, beraten zu werden, bei der Arbeitssuche
sie zu wenig gefordert. Die Erfahrung, die wir mit der unterstützt zu werden und bestimmte Maßnahmen
Sozialhilfe gemacht haben, war: Wir haben den Leuten durchzuführen. Das steht sogar im Gesetz, verehrte Frau
die Sozialhilfe gezahlt und sie aus dem Arbeitsmarkt Kipping. Wir brauchen nicht Sie dazu, um das festzustel-
ausgegrenzt. len.

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird aber leider
In einem Konzept eines aktivierenden Sozialstaates nicht umgesetzt! – Abg. Katja Kipping [DIE
muss man sich Gedanken darüber machen, wie die Ba- LINKE] meldet sich zu einer weiteren Zwi-
lance von Transferleistungen, Arbeitsanreizen, Anstren- schenfrage)
gungen, Menschen in Arbeit zu bringen und sie bei der
Arbeitssuche zu unterstützen, vernünftig geregelt wer- – Vielleicht könnten Sie sich ein bisschen später noch
den kann. einmal melden. Ich gestehe Ihnen gerne eine oder fünf
Zwischenfragen zu; denn es macht Spaß, sich auszutau-
schen und zu diskutieren.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Andres, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Um in meiner Rede fortzufahren: Ich möchte nicht
Kollegin Kipping? missverstanden werden: Da, wo es um inhaltliche Kritik
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2615
Parl. Staatssekretär Gerd Andres
(A) und um Verbesserungen geht, ist diese Kritik nicht nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (C)
berechtigt, sondern sogar erwünscht.
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutli-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen: Ein verheirateter Arbeitslosengeld-II-Bezieher mit
Dass wir Defizite bei der Umsetzung des Systems und zwei Kindern im Alter von acht und zwölf Jahren be-
dabei haben, Menschen in Arbeit zu bringen, muss uns kommt für die monatlichen Kosten für Unterkunft und
keiner sagen. Da müssen wir viel besser werden; das ist Heizung zusätzlich 542 Euro. Nebenbei hat er einen
eine völlig klare Sache. Sie müssen mir aber einmal er- Minijob für 400 Euro; davon darf er – das habe ich vor-
klären, wie man, indem man überall die Leistungen ver- hin erläutert – 160 Euro anrechnungsfrei behalten. Diese
bessert, die Menschen unterstützen will, wieder erwerbs- Familie kommt auf ein durchschnittliches Einkommen
tätig sein zu wollen. von 1 737 Euro. Wenn er einen Midijob hätte, also zwi-
schen 400 und 800 Euro hinzuverdienen würde, betrüge
Wenn man sich Ihren Antrag ansieht, muss man Ihnen das Familieneinkommen sogar 1 817 Euro.
folgenden Vorwurf machen: Sie blenden völlig aus – das
ist eine schiefe Darstellung, die Sie gerne gewählt (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Netto!)
haben –, dass die Transferleistung der Grundsicherung
für Arbeitsuchende im Jahr 2005 höher war, als sie es – Netto. – Im Vergleich dazu erhält ein gering qualifi-
nach altem Recht gewesen wäre. Dieses Kunststück zierter verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kindern
müssen Sie mir einmal erklären: Der Staat wendet sehr im Alter von acht und zwölf Jahren, der als Hilfsarbeiter
viel mehr Mittel auf und Sie sagen, alles sei viel schlech- im produzierenden Gewerbe arbeitet, einschließlich Kin-
ter geworden. Wenn das frühere Hilfesystem fortgeführt dergeld und Wohngeld durchschnittlich 2 108 Euro. Er
worden wäre, würde es heute vielen Menschen schlech- hat damit durchschnittlich nur etwa 290 Euro mehr zur
ter gehen. Verfügung als ein verheirateter Arbeitslosengeld-II-Be-
zieher mit Midijob.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Bei einer Erhöhung der Regelleistung, wie von Ihnen
Zu Ihrem konkreten Beispiel bezogen auf die Kran- vorgeschlagen, auf 420 Euro, würden uns die Wohl-
kenversicherung: Die Menschen, die nach altem Recht fahrtsverbände, die Sie eben benannt haben, schreiben,
im Sozialhilfesystem waren, waren nicht in die Renten- dass die Zahl der Bedürftigen und Armen noch weiter
versicherung einbezogen. Manche waren nur über die gestiegen ist. Ich weiß auch gar nicht, warum Sie sich da
Familienversicherung mit krankenversichert oder über zurückhalten. Warum fordern Sie nicht gleich 450 oder
die Krankenhilfe nach dem SGB. Was haben wir ge- 500 Euro? Ihr ganzer Antrag verfolgt diese Philosophie.
macht? Mit dem neuen System haben wir die betroffe- Das Spannende daran ist, dass, wenn man dies umsetzen
(B) nen Menschen in die sozialen Sicherungssysteme ein- würde, die Zahl der Bedürftigen und Armen in unserem (D)
bezogen. Land immer weiter steigt. Sie müssen also umgekehrt er-
Sie gehen übrigens auch darüber hinweg, dass wir klären, warum der Arbeitnehmer für rund 200 Euro mehr
Anfang dieses Jahres die Regelleistung für Arbeitslose noch arbeiten gehen soll.
im Osten auf 345 Euro angehoben haben. Das interes- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
siert Sie anscheinend nicht mehr. Sie ignorieren auch, FDP)
dass wir die Freibeträge für Erwerbseinkommen erst vor
einem guten halben Jahr erhöht haben. Sie schieben völ- Es gibt doch praktische Beispiele dafür. Die Men-
lig beiseite, dass es großzügige Freibetragsregelungen schen, die diese Leistungen mit ihren Steuern finanzie-
gibt – ich könnte Ihnen das alles vorrechnen –, ein- ren, stellen doch die Frage, warum sie eigentlich arbeiten
schließlich Hauseigentum, Wohneigentum und einem gehen, wenn jemand auf dem Flur gegenüber ALG II be-
Pkw für jeden Betroffenen. Es gibt viele Modellfälle; Sie kommt und durch die Familienförderung faktisch das
können sie gerne nachrechnen. Gleiche herausbekommt. Das müssen Sie diesen Men-
Ich habe ein weiteres Problem, Frau Kipping. Es ist schen einmal erklären.
richtig, zu sagen: Wir wollen die Menschen fördern, aber Wenn Sie das machen, haben Sie das zusätzliche Pro-
wir müssen sie auch fordern. – Es führt überhaupt kein blem, ein Problem, mit dem wir uns gerade herumschla-
Weg daran vorbei, die Menschen auch zu fordern. Bei gen: Je höher die Leistungen sind, die Sie gewähren,
der Zahlung von Transferleistungen gibt es aber immer umso mehr Menschen haben Anspruch auf diese Leis-
ein Problem. Dies wird deutlich, wenn man denjenigen, tungen. Das heißt, der Hilfsarbeiter, den ich gerade ge-
der sich im Transferleistungssystem befindet, mit dem nannt habe, erhält dann auch noch ergänzende Leistun-
vergleicht, der arbeiten geht. Es geht um das Lohn- gen nach dem SGB II. Denn wenn das unter
abstandsgebot. Wir haben zum 1. Oktober des vergan- Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine Be-
genen Jahres die Zuverdienstmöglichkeiten bei Minijobs darfsgemeinschaft handelt, berechnet wird, kann sich
verbessert. Wer also einen Minijob hat, darf höhere Be- möglicherweise ein Anspruch auf ergänzende Leistun-
träge behalten. Das hat gemäß unserem System die ver- gen ergeben.
rückte Folge, dass in Deutschland angeblich die Armut
steigt. Ich kann Ihnen das erklären: Wenn Sie die Zuver- Ich komme jetzt zu einer weiteren Position, Frau
dienstmöglichkeiten verbessern, weiten Sie gleichzeitig Kipping. Ich sage ganz offen: Darüber werden wir uns
den Kreis der Personen aus, die in das Leistungssystem streiten; Sie werden auch keine Chance haben, das hier
fallen. mehrheitlich durchzusetzen. Das ist das Beruhigende
2616 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Parl. Staatssekretär Gerd Andres


(A) dabei. Sie sagen, man müsse das alles jetzt repressions- Dass die Liberalen und die Vertreter des ganz linken Flü- (C)
frei ausgestalten. gels hier gefehlt haben, macht mich nicht traurig. Denn
es gibt eine breite Mehrheit hier im Parlament, die eine
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Solidari- solche Entwicklung für richtig und notwendig hält. Wir
tät bei den Linken!) machen bei diesem Prozess weiter. Wir werden einzelne
Punkte optimieren und es weiter vorantreiben. Ich
Ja, mein Gott! Sie wollen ferner die Bedarfsgemein-
schaften auflösen und es soll einen individuellen An- glaube, dass wir, auch im europäischen Vergleich, den
richtigen Weg eingeschlagen haben.
spruch geben. Das ist ja ganz wunderbar, wenn man sich
das anschaut. Ich halte das alles für Ammenmärchen. Es Herzlichen Dank.
ist gnadenloser Populismus, den Sie hier abziehen. Das
Gleiche gilt für die praktischen Beispiele, die Sie brin- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gen. Auch das ist gnadenloser Populismus.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin
Dass es Unsinn ist, jemanden bei gefrorenem Boden Un- Katja Kipping das Wort.
kraut jäten zu lassen, müssen Sie im Bundestag nicht er-
zählen. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die
hat doch vorhin gerade geredet!)
(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])
Wenn Sie mir diesen Fall geben, dann wird das ganz Katja Kipping (DIE LINKE):
schnell – ruck, zuck! – abgestellt. Das sage ich Ihnen. Herr Andres, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
noch einmal auf das Problem der Working Poor, also der
(Zurufe von der LINKEN) Menschen, die wirklich von früh bis spät arbeiten und
Dass Sie aber solche Einzelfälle anführen, um den Un- trotzdem in Armut leben, hingewiesen haben. Für mich
sinn zu begründen, den Sie in Ihrem Antrag zusammen- ist das allerdings kein Argument dafür, die Sozialleistun-
geschrieben haben, das müssen Sie uns, glaube ich, nicht gen zu kürzen; vielmehr ist es eher ein Argument, das
antun. uns in unserer Absicht bekräftigen sollte, endlich einen
gesetzlich garantierten Mindestlohn einzuführen.
Ich bitte um Entschuldigung, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Ich habe nur noch ganz wenig Rede- (Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder
(B) zeit und bin bis jetzt nicht dazu gekommen, mich mit [CDU/CSU]: Dann würden Sie noch mehr Ar- (D)
dem Antrag der Grünen näher auseinander zu setzen. Es beitslosigkeit kriegen!)
gibt ja auch Menschen, mit denen wir über viele Jahre In einem Punkt gebe ich Ihnen Recht: Die Berech-
zusammengearbeitet haben. Dieser Antrag hebt sich in nung der Armut, wenn sie allein prozentual und relativ
seiner Qualität wohltuend von dem Antrag der Linken erfolgt, kann zu gewissen statistischen Effekten führen,
ab. die nicht unproblematisch sind. Nun ist aber die Art und
(Lachen des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] – Weise, wie Armut berechnet wird, nicht von der Links-
Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Er ist aber partei erfunden worden; vielmehr ist sie von der Wissen-
nicht gut genug!) schaft, von der EU-Kommission und auch von der
OECD so festgelegt worden.
Darin sind eine Reihe von Vorschlägen enthalten, die ich
sehr spannend finde, insbesondere wenn es um die Be- (Beifall bei der LINKEN)
treuung geht. Es gibt aber auch Positionen, zu denen die Ich finde, wir sollten die Probleme, die Sie zu Recht ge-
Bundesregierung sagt: Da werden wir Ihnen nicht fol- nannt haben, zum Anlass nehmen, uns darüber zu ver-
gen. – Das wundert niemanden. Wir sind gegenwärtig in ständigen, inwieweit man sich bei der Berechnung des
einem Prozess, das SGB II weiter zu optimieren. Das Regelsatzes allein auf die relativen, prozentualen Zahlen
werden wir in den nächsten Wochen tun. Bei einer solch stützen sollte oder ob man nicht lieber einen Warenkorb,
großen Reform ist es unvermeidlich, dass man nach- in dem das Mindeste von dem enthalten sein müsste, was
steuert. Ich sage noch einmal ganz in Ruhe und voller Menschen brauchen, damit sie am gesellschaftlichen Le-
Stolz – das sage ich; ich war daran nämlich beteiligt –: ben teilhaben können, als Grundlage der Berechnung
Die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe und die steuerfi- nimmt.
nanzierte Sozialhilfe zu einem neuen System zusammen-
zufassen, dem die Vorstellung des aktivierenden Sozial- (Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
staats zugrunde liegt, ist des Schweißes aller Edlen wert mendingen] [CDU/CSU]: Ja, wollt ihr einen
gewesen. Es ist ein großes Verdienst, dass wir das, mit Rückschritt im Sozialhilferecht? Wir waren
Ausnahme der FDP und des ganz linken Flügels, durch- doch froh, dass der Warenkorb wegkam! –
setzen konnten, hier und im Bundesrat. Rolf Stöckel [SPD]: Das ist Paternalismus!)
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Wir hatten noch bessere Vorschläge! Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Dann wäre nicht so viel Missbrauch gewesen!) Herr Kollege Andres, zur Erwiderung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2617

(A) Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Das war und ist ein richtiges Ziel, das auch in dieser Le- (C)
nister für Arbeit und Soziales: gislaturperiode verfolgt werden sollte.
Frau Kipping, herzlichen Dank. – Ich will Ihnen nur
Die Umsetzung ist in vielerlei Hinsicht mangelhaft.
sagen: Über Armut reden wir im Rahmen einer anderen
Das will ich gar nicht bestreiten.
Debatte. Ich glaube nämlich, dass wir das System, wie
wir es im SGB II vorgesehen haben, vorzeigen können. (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü-
Dieses System ist bedarfsgerecht; es unterstellt, dass Be- cken] [DIE LINKE])
dürftigkeit vorliegt und dass es ein solidarisches Einste-
Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe
hen füreinander in der Bedarfsgemeinschaft gibt. All das
mit dem Ziel der Schaffung einer Grundsicherung war
sind Prinzipien – Sie beschreiben sie in Ihrem Antrag –,
aber ein erster, richtiger Schritt. Wir haben die entmün-
an denen wir festhalten.
digende Sozialhilfe abgeschafft und den entwürdigenden
Der gesetzliche Mindestlohn ist ein anderes Problem. Verschiebebahnhof zwischen Sozial- und Arbeitslosen-
Spannend sind nicht die Fragen ob oder ob nicht und wie hilfe abgeschafft.
man das konstruiert; spannend ist doch die Frage der
Frau Kipping, es muss noch einmal in Erinnerung ge-
Höhe. Die Umsetzung Ihres wunderbaren Vorschlags
rufen werden, dass die Sozialhilfeträger in der Vergan-
von der Pfändungsfreigrenze würde bedeuten, dass ich
genheit Langzeitarbeitslose in großem Umfang in ir-
den ganzen Leistungsapparat des SGB II auf diese Höhe
gendwelche Maßnahmen geschleust haben, um sie bei
schrauben müsste. Ob die Pfändungsfreigrenze vernünf-
der Bundesanstalt für Arbeit abzugeben. Das war teuer
tig ist, lasse ich völlig außen vor.
und für die Betroffenen verdammt schlecht und entwür-
Sie merken, ich habe sehr viel Spaß an einer fachli- digend.
chen, sachlichen und vernünftigen Debatte. Das ist über-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
haupt kein Problem; die können wir gerne führen. Sie
muss aber fachlich und sachlich fundiert sein. – Das eine Sozialhilfeempfänger haben jetzt erstmals einen Zu-
hat mit dem anderen nichts zu tun. Man kann nicht ein- gang zu den Instrumenten der Bundesanstalt für Arbeit
fach Äpfel mit Birnen vergleichen. Beim gesetzlichen und damit einen Zugang zur Vermittlung in Arbeit und
Mindestlohn und der Leistungshöhe nach dem SGB II Ausbildung.
muss ich immer beachten, dass es einen Anreiz geben
muss, aus dem System heraus in Arbeit zu gehen. In die- (Zuruf von der LINKEN: Das hatten sie auch
sem Land haben wir unglaublich viel Arbeit, die gegen- vorher!)
wärtig nicht gemacht wird. Eine Aufgabe dieses Hauses, Wenn man Sie so hört, vor allem, wenn man Ihren An-
des Gesetzgebers, ist es, dafür zu sorgen, dass die in trag liest, könnte man den Eindruck gewinnen, das alles
(B) (D)
Deutschland vorhandene Arbeit, die zurzeit nicht von le- sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ihr Frak-
gal in Deutschland lebenden Menschen gemacht wird, in tionsvorsitzender Oskar Lafontaine hat im Wahlkampf
Zukunft von diesen erledigt wird. Auch das ist ein Pro- sogar von „Schandgesetzen“ geredet. Ich finde das in je-
blem, dem wir uns stellen müssen. der Hinsicht instinktlos.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie rufen „Hartz IV muss weg! Hartz IV muss über-
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer von wunden werden!“. Die Frage ist, was dabei herauskom-
Bündnis 90/Die Grünen. men soll. Wohin wollen Sie eigentlich? Vorwärts in die
Vergangenheit? Den Eindruck habe ich, wenn ich Ihren
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Antrag lese. Sie versprechen den Menschen eine Erhö-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht hung der Transferleistungen in einer Größenordnung
hilft es der Debatte, wenn wir uns in Erinnerung rufen, – das entspricht auch unseren Berechnungen – von unge-
was das eigentliche Ziel der Arbeitsmarktreform in der fähr 35 Milliarden Euro.
letzten Legislaturperiode war – Herr Andres hat das zum
Sie machen falsche Versprechungen und versuchen
Teil angerissen –: Ziel war es, ein Transfersystem, das
damit, ihnen den Verzicht auf einen Arbeitsplatz
die Lebensstandardsicherung in den Mittelpunkt stellt,
schmackhaft zu machen. Das ist die falsche Politik.
abzuschaffen, weil es diesen Anspruch bei wachsender
Massenarbeitslosigkeit nicht mehr erfüllen konnte, die Sie haben im Wahlkampf Plakate geklebt, auf denen
Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt aber stand: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit ge-
trotzdem nur am Rande als Aufgabe begriff. Dieses kommen ist.“ – Frau Kipping, ich sage Ihnen mit Blick
Transfersystem sollte abgeschafft werden, weil es die auf die Forderungen, die Sie hier heute erheben: Nichts
Langzeitarbeitslosigkeit zementiert hat. Es ging darum, ist hilfloser als eine Idee, die nicht mehr in die Zeit passt,
die Chancen von Langzeitarbeitslosen, Zugang in den weil sie keiner bezahlen kann, aber vor allen Dingen
ersten Arbeitsmarkt durch umfangreiche Betreuung, auch, weil sie an den Problemen vorbeigeht.
passgenaue Hilfsangebote und eine effektive Vermitt-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
lung zu finden, zu verbessern.
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So SPD und der FDP – Zuruf von der LINKEN:
ist es!) Das passt in die Zeit!)
2618 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Brigitte Pothmer
(A) Sie spielen, wie ich finde, immer gern ein bisschen der auftauchen. Sie machen es sich verdammt noch mal (C)
Klassenkampf. Offen gestanden: Es ist höchste Zeit, zu einfach!
dass Sie Ihre politischen Ideale einmal mit den gesell-
schaftlichen Realitäten im Jahr 2006 abgleichen. Die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gesellschaft ist heute ein bisschen komplexer, als Karl Frau Kollegin, erlauben Sie eine weitere Zwischen-
Marx sie noch beschrieben hat. Die „taz“ hat das im letz- frage der Frau Kollegin Dr. Hendricks?
ten Jahr sehr anschaulich dargestellt. Die Frage war
nämlich: Wer ist denn heute das Kapital? Dies wurde am (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU], zu der Abg.
Beispiel Daimler-Chrysler verdeutlicht: 6,9 Prozent ge- Dr. Barbara Hendricks [SPD] gewandt: Waren
hören der Deutschen Bank, 7,2 Prozent dem Emirat Ku- Sie für die rot-grüne Steuerpolitik?)
wait und der Rest ist Streubesitz. 25 Prozent davon wer-
den von Privatinvestoren gehalten und 60,9 Prozent von Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
institutionellen Investoren. Frau Kipping, wer ist da jetzt Ja.
der Boss? Dann noch einmal von der anderen Seite ge-
fragt: Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bürger?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Die Bürger in einem entwickelten Kapitalismus befinden
sich in einem vielfältigen Rollenkonflikt. Als Kunden Bitte.
profitieren sie von dem gnadenlosen Wettbewerb. Als
Anleger freuen sie sich über Kurssprünge und hohe Dr. Barbara Hendricks (SPD):
Dividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieser Frau Kollegin, sind Sie bereit, den Herrn Kollegen
Verhaltensmuster, denen sie selbst unterliegen. Das be- Dehm darauf hinzuweisen, dass nach den in der Bundes-
deutet stagnierende Löhne und kann auch bedeuten, dass republik Deutschland geltenden Bedingungen Konzerne
ihre Jobs bedroht sind. nahtlos im Anschluss, also etwa alle vier Jahre, für die
vergangenen vier Jahre geprüft werden und dass dazu
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: selbstverständlich auch ein Bankkonzern gehört?
Frau Kollegin Pothmer, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dehm? Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich glaube, das hat der Kollege Dehm jetzt gehört, als
Sie es uns allen hier noch einmal deutlich dargestellt ha-
Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben.
Ja.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön. Wissen Sie, was ich für das eigentliche Problem
halte? Das eigentliche Problem ist, finde ich, dass Sie es
mit Ihrer Politik dieser Regierung so einfach machen,
Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): weil Sie Ihre Forderungen nicht belegen, weil sie nicht
Schon die SPD-Kollegen haben von mir, als ich noch finanzierbar sind und weil sie deswegen so einfach vom
in dem Verein war, folgende Frage gehört. Auch Ihnen Tisch zu wischen sind. Dabei braucht diese große Koali-
stelle ich jetzt diese Frage, weil Sie die Deutsche Bank tion eine Opposition, die ihr Feuer unter dem Hintern
als an Daimler-Chrysler Beteiligte erwähnt und gesagt macht.
haben, dass unsere Politik nicht mehr in die Zeit passt,
da sie nicht finanzierbar sei: Wie erklären Sie dann, dass (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
– auch unter der Ägide von Rot-Grün – die Deutsche DIE GRÜNEN)
Bank 16 Jahre lang keine Großbetriebsprüfung hatte und Denn diese Koalition ist dabei, auf ihre ganz eigene
keinen Cent Körperschaftsteuer gezahlt hat? Wären Art Hartz IV zu überwinden. Meine Damen und Herren
diese beiden Instrumente nicht eine Möglichkeit – übri- von Union und SPD, ich darf Ihnen vielleicht noch ein-
gens auch mit einem ähnlichen Ergebnis für Daimler- mal in Erinnerung rufen: Das Motto von Hartz IV war
Chrysler –, um sehr viel für die Finanzierung unseres „Fordern und Fördern“.
Sozialstaates zu tun?
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
(Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth Richtig!)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mindestge-
Es scheint aber so, dass Sie das Prinzip des Förderns
winnbesteuerung! Das haben wir gemacht!)
nicht mehr so richtig in Erinnerung haben.

Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Rolf Stöckel [SPD]: Das ist eine Frage der
Umsetzung vor Ort!)
Die Steuerpolitik unter Rot-Grün habe ich nicht in je-
dem Punkt für richtig gehalten. Das haben wir im Übri- Seit Ihrem Amtsantritt wollen die Zumutungen, mit de-
gen immer sehr deutlich formuliert. Aber Ihre einfachen nen Sie die Hartz-IV-Empfänger überziehen, kein Ende
Muster, die sich in Ihren Anträgen widerspiegeln, wer- nehmen. Mir scheint, Sie folgen nach einer Druckkessel-
den der gesellschaftlichen Realität nicht gerecht. Das theorie der Vorstellung: Je mehr Forderungen an die Ar-
sind ranzige Weisheiten, mit denen Sie hier immer wie- beitslosen gestellt werden und je höher der Leidensdruck
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2619
Brigitte Pothmer
(A) ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ich danke Ihnen. (C)
Menschen in Arbeit kommen. Ich sage Ihnen: Das trägt
nicht gerade zur Motivation bei, einen Arbeitsplatz an- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zunehmen. Das provoziert vielmehr die Abkehr der Be- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
troffenen von der Gesellschaft. der SPD)

Mit Ihren elendigen und durch keine Zahlen belegten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Missbrauchsdebatten schüren Sie, wie ich finde, zu-
nehmend ein Klima des Misstrauens und der Stigmati- Das Wort hat jetzt der Kollege Karl Schiewerling von
sierung. Dies tun Sie nur, um Rückenwind für die der CDU/CSU-Fraktion.
Durchführung von Leistungskürzungen, die Sie schon (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
angedeutet haben, zu bekommen. Das ist wirklich ein Klaus Brandner [SPD])
schäbiges Vorgehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der An-
Aus diesem Grunde haben wir uns entschlossen, ei-
trag der Fraktion der Linken ist im Wesentlichen nichts
nen eigenen Antrag zur Weiterentwicklung von Hartz IV anderes als eine Zusammenstellung von Positionen, die
einzubringen. Aus unserer Sicht enthielt der Hartz-IV- im Parlament auch in der Vergangenheit keine Mehrheit
Kompromiss, der ja im Wesentlichen ein großkoalitionä-
gefunden haben – und das aus gutem Grund. Sie wollen
rer war, von Anfang an erhebliche Zumutungen. Aber das Arbeitslosengeld II und viele andere Leistungen,
ich sage deutlich: Wir haben diese Zumutungen mitge- zum Beispiel das Sozialgeld, anheben. Doch dazu, wie
tragen, weil wir der Auffassung waren und im Übrigen
Sie das finanzieren wollen, äußern Sie sich in Ihrem An-
nach wie vor sind, dass Leistungszahlungen mit dem trag mit keinem Wort; die Größenordnung, um die es da-
Ziel der Integration in den ersten Arbeitsmarkt ver- bei geht, hat Herr Andres vorhin erwähnt. Geld auszuge-
bunden sein müssen. Allerdings sind wir auch der Mei-
ben, ist einfach. Es zu erwirtschaften und es dann
nung, dass sowohl bei den Regelungen zu unterschiedli- gerecht zu verteilen, ist allerdings schwer. Ich sage Ih-
chen Personengruppen als auch auf einzelnen Feldern nen: Ihre Position ist populistisch und unredlich.
der Arbeitsmarktpolitik nachjustiert werden muss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich will nur einige Punkte unseres Antrags nennen: Es
geht auch uns um eine Entkopplung des Hilfebezugs Der Druck auf dem Arbeitsmarkt, den Sie gleich zu
vom Partnereinkommen; hier muss im Interesse der Beginn in Ihrem Antrag beschreiben, ist keine Folge der
(B) Frauen eine bessere Regelung gefunden werden. Wir Einführung der Grundsicherung, sondern unter anderem (D)
halten es vor dem Hintergrund der Entwicklung der ge- eine Konsequenz der gesamtkonjunkturellen Entwick-
setzlichen Rentenversicherung für dringend notwendig, lung. Wir wären international nicht so wettbewerbsfähig,
das Altersvorsorgevermögen besser zu schützen. Wir wie wir es sind, hätten wir nicht hoch qualifizierte Inge-
wollen vor allen Dingen die Integration in den ersten Ar- nieure, Meister und Facharbeiter. Allerdings – das ist
beitsmarkt verbessern, indem wir Langzeitarbeitslosen richtig –: Menschen ohne berufliche Qualifikation haben
ermöglichen, ihre gesamten Transferleistungen in ein es schwer. Einen Qualifikationsdruck nach unten, wie
Beschäftigungsverhältnis einzubringen. Wir wollen also Sie ihn beschreiben, kann ich nicht erkennen.
Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren. Und wir wol-
len, dass mindestens geduldeten Ausländerinnen und In Ihrem neun Seiten umfassenden Antrag gehen Sie
Ausländern endlich Zugang zu Eingliederungsleistungen mit keinem einzigen Wort auf das Fordern und Fördern
eingeräumt wird. der Menschen ein. Sie zeigen auch keinen Weg auf, wie
Sie Bezieher von Leistungen nach dem SGB II in Be-
Meine Damen und Herren, Hartz IV schafft keine Ar- schäftigung bringen wollen.
beitsplätze. Das haben zumindest wir Grüne auch nie be-
hauptet. Hartz IV konzentriert sich auf die bessere Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
mittlung und Integration von Arbeitslosen. Dass dies in Das ist aber der Kern des SGB II.
einer Situation, in der es massenhaft an Arbeitsplätzen
fehlt, nur begrenzt eine Hilfe ist, gebe ich gerne zu. Aber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
es wird nicht leichter, wenn Sie zu alten Konzepten zu- neten der SPD)
rückkehren, die sich bei der Bekämpfung der Massen-
arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten als untauglich erwiesen Sie behaupten in der Präambel Ihres Antrags, dass das
haben. Arbeitslosengeld II keine soziale Grundsicherung sei.
Diese Behauptung ist schlichtweg falsch: Das Arbeits-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN losengeld II ist eine soziale Grundsicherung, allerdings
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ist es keine Hängematte, sondern ein gespanntes Netz.
der SPD) Mit dem Optimierungsgesetz wollen wir dieses Netz
überprüfen und weiter straffen, damit es seinen Zweck
Lenin soll ja immer als erste und entscheidende Frage als Grundsicherung erfüllen kann.
formuliert haben: „Wem nützt das?“ Ich sage Ihnen: Ihr
Antrag nützt weder den Arbeitslosen noch der Bekämp- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
fung der Arbeitslosigkeit. der SPD)
2620 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Karl Richard Schiewerling


(A) Mit dem Prinzip des Forderns und Förderns sind (Beifall bei der LINKEN) (C)
wir auf dem richtigen Weg. Dieses Grundprinzip des
SGB II trägt dazu bei, dass Menschen ohne Arbeit gefor- Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
dert werden, ihren Lebensunterhalt möglichst rasch wie-
Frau Kollegin, ich habe nicht nur Ihre ersten fünf Sei-
der aus eigener Kraft zu bestreiten. Schließlich wollen
ten gelesen, sondern alle neun. Ähnliche Allgemein-
wir Menschen in Arbeit bringen und sie somit aus dem
plätze, wie Sie sie eben benannt haben, durchziehen den
Bezug staatlicher Leistungen herausholen. Von diesem
gesamten Antrag.
Ziel steht nichts in Ihrem Antrag; Sie machen dazu kei-
nen einzigen Vorschlag. Sie wollen die Menschen im (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist ein
Bezug von Transferleistungen nach dem SGB II belas- Konzept!)
sen, ja Sie bestärken sie noch, indem Sie noch mehr
Geld draufpacken wollen. Das entspricht übrigens Ihrem – Wollen Sie zuhören? – Sie wissen ganz genau, dass zu-
Staatsverständnis, demzufolge der Staat für alles und je- sätzliche Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor und die
dermann verantwortlich ist. Das aber führt zu Abhängig- Umwandlung von 1-Euro-Jobs – auch dies sind Jobs, die
keit und Unfreiheit und letztendlich dahin, dass der Staat im öffentlichen Sektor angesiedelt sind – angesichts der
finanziell an seine Grenzen stößt – was wir überdeutlich Gesamtsituation, in der wir uns befinden, keine Lösung
erleben. unserer Arbeitsplatzprobleme sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Abg. Katja Kipping [DIE neten der SPD)
LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Wenn jemand eine vom steuerzahlenden Bürger – ich
Wohlgemerkt – damit ich nicht missverstanden werde –: halte das für einen wichtigen Punkt – finanzierte Grund-
Wir brauchen einen starken Staat, der die Schwachen sicherung erhält, dann kann man von ihm verlangen,
schützt. Aber wir brauchen keinen Staat, der die Men- dass er eine Gegenleistung erbringt und sich anstrengt;
schen entmündigt. Zur Freiheit gehört natürlich der das hat etwas mit Freiheit und Würde zu tun. Das steht
Schutz, aber auch die Verantwortung eines jeden Einzel- im Unterschied zu Ihrem Verständnis: Sie lehnen diese
nen. Anforderungen an die Hilfebedürftigen ab. Sie schrei-
ben:
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Niemand soll zur Ausübung einer Beschäftigung
Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwi- gezwungen werden, die für ihn kein existenzsi-
schenfrage der Kollegin Kipping? cherndes Einkommen schafft …
(B) (D)
(Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Die ist ja Diese Position halte ich rundweg für unsozial: Denn Sie
unersättlich heute!) missachten die Krankenschwester, den Polizisten, die
Friseuse, den Landwirt, alle, die einer Erwerbsarbeit
Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU): nachgehen und Steuern aufbringen, um nach Ihrer Defi-
Ja. nition dem Arbeitslosengeld-II-Empfänger die Freiheit
zu geben, darüber zu entscheiden, ob er arbeiten will
oder nicht.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Kipping. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP – Zuruf von der
CDU/CSU: Ungeheuerlich!)
Katja Kipping (DIE LINKE):
Da hier wiederholt behauptet wird, wir würden uns in Mit Ihrem Staatsverständnis dienen Sie nicht dem
unserem Antrag überhaupt nicht mit dem Bereich Ar- Menschen. „Sozial“ kann nicht daran gemessen werden,
beitsmarktpolitik auseinander setzen, möchte ich Sie wie hoch die Transferleistungen sind.
einfach fragen, ob Sie unseren Antrag überhaupt bis zur
Seite 5 gelesen haben. (Beifall des Abg. Rolf Stöckel [SPD])

(Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegensatz zu Für uns ist sozial – das sage ich sehr deutlich –, wenn der
euch lesen wir was!) Einzelne mit all seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten
mit seiner eigenen Hände und seines eigenen Kopfes Ar-
Dann müsste Ihnen aufgefallen sein, dass wir einen beit den Lebensunterhalt für sich und seine Familie ver-
Punkt 5 in unserem Antrag haben, der da heißt: dienen kann. Wenn das nicht ausreicht, dann hat er ein
Die Arbeitsförderung ist durch zukunftsweisende Anrecht auf Unterstützung. Ich sage das so deutlich:
Lösungen zu verändern. Personalität, Subsidiarität und Solidarität sind aus
unserer Sicht die entscheidenden Grundlagen unserer
Dazu fordern wir die Schaffung eines öffentlich geförder- Verfassung: Jeder leistet seinen Teil. Sie sagen, dass nie-
ten Beschäftigungssektors und wir machen ganz konkrete mand einen 1-Euro-Job – sie sind übrigens durchaus be-
Vorschläge, wie man 1-Euro-Jobs in reguläre sozialversi- gehrt –, der bis zu 160 Euro im Monat zusätzlich bringt,
cherungspflichtige Arbeitsverhältnisse umwandeln kann, annehmen müsse. Dies entspricht nicht der notwendigen
und wir schlagen weitere arbeitsmarktpolitische Maßnah- Mitwirkung und auch nicht der Stärkung der Eigeninitia-
men vor. tive und der Selbstverantwortung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2621
Karl Richard Schiewerling
(A) Nichtsdestotrotz habe ich in dem Antrag der Linken Diskussion um den wie auch immer zu gestaltenden (C)
auch etwas Sinnvolles entdeckt. Kombilohn einsetzen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh!) Meine Damen und Herren, mit dem Antrag der Lin-
ken, der nun vor uns liegt, wollen sich die Linken mal
– Ja. – So heißt es in Ihrem Text: „Die Freibeträge für wieder als Schutzpatrone der ALG-II-Empfänger prä-
Altersvorsorge sind … anzuheben“. – Das ist eine prima sentieren und sie streuen den Menschen doch nichts an-
Idee. Das haben wir auch schon im Koalitionsvertrag so deres als Sand in die Augen.
festgehalten und das werden wir auch umsetzen. Sie
können sich dem dann ja anschließen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Herr Kollege Schiewerling, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage?
Meine Damen und Herren, wir wollen das SGB II op-
timieren, das heißt: weniger Verwaltung, gezielter Ein-
satz der Mittel und eine Verbesserung der Eingliederung. Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
Ich gestehe zu: Hier kann noch mehr geschehen. Davon Nein, ich bin jetzt gleich fertig.
steht in Ihrem Papier aber noch nichts.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich glaube übrigens auch, dass wir darüber reden
Keine Zwischenfrage.
müssen, wie wir präventiv gerade auch den Jugendli-
chen in Bedarfsgemeinschaften, die einer Familie an-
gehören, die sich in der dritten Generation im Sozialhil- Karl Richard Schiewerling (CDU/CSU):
febezug befindet, helfen können, aus dieser Situation Nicht die Grundsicherung macht arm, sondern die Ar-
auszubrechen und neue Wege zu finden. Ich halte das für beitslosigkeit. Wer die Menschen in ihrer Situation be-
eine wichtige neue Herausforderung, vor der wir stehen. lässt und sie nicht fordert, der entmutigt sie. Wir brau-
chen aber Mut und keinen Sozialneid.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Herzlichen Dank.
Dafür müssen im SGB II aber die notwendigen An-
reize für Arbeitslose geschaffen werden, eine reguläre (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt anzustre-
ben. Arbeit muss sich lohnen. Das Institut für Weltwirt- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
schaft in Kiel hat festgestellt: Ich erteile jetzt dem Kollegen Jörg Rohde von der
FDP-Fraktion das Wort und nutze die Gelegenheit, Ih-
(B) Kritische Lohnabstände, die eine Vollzeitbeschäfti- nen, Herr Rohde, im Namen des Hauses zu Ihrem heuti- (D)
gung auf dem ersten Arbeitsmarkt unattraktiv er- gen 40. Geburtstag zu gratulieren.
scheinen lassen, bestehen insbesondere bei ALG-II-
Beziehern, die eine geringe Qualifikation aufwei- (Beifall)
sen, Kinder haben und deren Partner nicht erwerbs-
tätig sind. Verstärkt werden diese Anreizprobleme, Jörg Rohde (FDP):
wenn ein potenzieller Arbeitsplatz im Dienstleis- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
tungssektor … liegt. ren! 15 Monate nach In-Kraft-Treten von Hartz IV ste-
Momentan erzielen 34 Prozent der Erwerbstätigen in hen wir heute in diesem Hause vor dem Scherbenhaufen
den neuen Bundesländern einen monatlichen Brutto- rot-grüner Arbeitsmarktpolitik. Die Hartz-Gesetze, die
lohn von unter 1 600 Euro. Sie zahlen Steuern und fi- vor einigen Jahren wortreich als moderne Dienstleistun-
nanzieren so einen Mehrpersonenhaushalt, der sich im gen am Arbeitsmarkt ins Rennen geschickt wurden, ha-
Leistungsbezug des SGB II befindet und gegebenenfalls ben sich als Totalausfall erwiesen: Sie haben keine Ar-
Anspruch auf passive Leistungen in Höhe von beitsplätze geschaffen, die Arbeitslosigkeit nicht gesenkt
1 600 Euro bis 2 000 Euro hat. Dass hier ein eigener An- und bis heute auch nicht zu einer besseren Qualifizie-
reiz zum Arbeiten fehlt, ist wohl klar. Ich verkenne aller- rung Arbeitsuchender geführt. 5 Millionen Arbeitslose
dings auch nicht, dass es Regionen in Deutschland gibt, warten nicht auf Hartz-Reformen, sondern auf Arbeits-
in denen die wirtschaftliche Situation insgesamt durch- plätze und den Wirtschaftsaufschwung – bisher leider
aus problematisch ist und wo sich dies auch auf die Ar- vergeblich.
beitsplätze auswirkt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der LINKEN)
Wir müssen auch der Frage nachgehen – das ist ein
wichtiges Anliegen –, was wir mit den Menschen tun, Nach wie vor bestehen doppelte Strukturen für die
die aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen nicht Verwaltung von Arbeitslosen. Das daraus folgende
weiter qualifizierbar sind. Auch sie sollen ihren Beitrag Kompetenzwirrwarr, die Zeitverzögerung durch nicht ab-
leisten können. Es müssen Möglichkeiten geschaffen gestimmte Software und die mangelnde Transparenz
werden, dass auch die Menschen, die nicht mehr weiter beim Datenaustausch haben die Situation der Arbeitslo-
qualifizierbar sind oder leichte Behinderungen haben, sen keinesfalls verbessert. Zusätzlich prallen hier zwei
für sich selbst sorgen können. Das ist nicht nur eine völlig unterschiedliche Verwaltungskulturen aufeinander.
staatliche Aufgabe, hier sind auch die Wirtschaft und die Anstatt aber deshalb heute Vorschläge vorzulegen, wie
Tarifpartner gefordert. Genau an dieser Stelle wird die die Konstruktionsfehler der Hartz-Gesetze zu korrigieren
2622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Jörg Rohde
(A) sind, richtet sich die Linke in der Arbeitslosigkeit ein und und Integration von Arbeitslosen allein den Kommunen (C)
will aus Hartz IV eine soziale Vollversorgung machen. übertragen wird.
Höhere Leistungen, keine Missbrauchskontrollen und
(Beifall bei der FDP)
keine Anreize zur Arbeitsaufnahme – dafür ist das
Arbeitslosengeld II nicht gedacht. Dies erfordert jedoch eine Grundgesetzänderung zur
finanziellen Absicherung der Kommunen bei Über-
Primäres Ziel von Hartz IV ist die individuelle Über-
nahme der Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Hierzu
windung des Bezuges von ALG II durch den einzelnen
war Rot-Grün nicht bereit. Auch bei Schwarz-Rot sind
Arbeitssuchenden hin zur Wiedereingliederung in den
hierfür keinerlei Anzeichen zu erkennen. Vor ziemlich
Arbeitsmarkt. Insoweit ist die Überschrift des Antrags
genau zwei Jahren haben FDP und CDU/CSU in einem
der Linken „Strategie zur Überwindung von Hartz IV“
gemeinsamen Bundestagsantrag gefordert,
durchaus berechtigt. Eine Überwindung von Hartz IV in
eine dauerhafte soziale Absicherung ohne das vorran- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das waren noch
gige Ziel der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt Zeiten!)
wäre aber völlig kontraproduktiv.
das kommunale Optionsgesetz so umzugestalten, dass
(Beifall bei der FDP) auch die optierenden Kreise und kreisfreien Städte tat-
sächlich Träger der Arbeitsvermittlung sind und die Auf-
Der Grundsatz von Fordern und Fördern ist rich-
gaben nach dem SGB II in Eigenverantwortung erfüllen
tig. Aber in beiden Punkten ist die alte rot-grüne Bun- können.
desregierung auf halbem Wege stehen geblieben. Die
Kontrolle des Leistungsmissbrauchs lässt zu wün- (Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
schen übrig. Mein Kollege Heinrich Kolb hat bereits auf
die erschreckenden Ergebnisse der Telefonumfrage hin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
gewiesen. Herr Kollege Rohde, erlauben Sie eine Zwischenfrage
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh ja!) des Kollegen Kurth?
Auch der automatisierte Datenabgleich ist mit Hartz IV
Jörg Rohde (FDP):
für die Stellen vor Ort nicht einfacher, sondern aufwen-
Ja.
diger geworden und Missbrauch damit leichter. Ohne
Fordern ist Hartz IV kein Anreiz zur Arbeitsaufnahme.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Beim Fördern sieht es nicht besser aus. Am besten Bitte schön, Herr Kurth.
funktioniert dieses Instrument bei der Ausnahme, näm-
(B) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Erst einmal (D)
lich bei den Optionskommunen.
gratulieren, Herr Kurth!)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)
Herr Staatssekretär Andres, die FDP hat damals nicht Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zugestimmt, weil es bei der Umsetzung bessere Alterna- Den Hinweis, dass ich Herrn Rohde gratulieren soll,
tiven gibt. hätte ich nicht gebraucht. Natürlich gratuliere ich Herrn
Rohde.
(Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb
[FDP]: Wir hätten das mit den Kommunen flä- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
chendeckend gemacht!) der SPD)
Die Stadt Erlangen in meinem Wahlkreis macht es
vor. Hier werden bereits über 50-Jährige, welche auf Jörg Rohde (FDP):
dem allgemeinen Arbeitsmarkt als kaum vermittelbar Danke schön.
gebrandmarkt sind, erfolgreich in Arbeit vermittelt. Das
erfahrene und motivierte Team vor Ort in Erlangen hat Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zum Beispiel mit dem lokalen Projekt „Fifty up“ zu- Lieber Kollege Rohde, Sie fordern, dass den Kommu-
sätzliche Fördermittel aus dem Hause von Herrn nen die Durchführung der Leistungen aus dem SGB II,
Müntefering erhalten und an einem bundesweiten Wett- vulgo Hartz IV, und die Eingliederung in den Arbeits-
bewerb erfolgreich teilgenommen. markt vollständig übertragen werden. In diesem Zusam-
menhang haben Sie auch die Optionskommunen ge-
Aber auch aus den 68 anderen Optionskommunen ist
nannt.
viel Positives zu vernehmen. Das zeigt, dass besonders
die Kommunen in der Lage sind, der Situation der Nun sind Sie auch behindertenpolitischer Sprecher
Langzeitarbeitslosen gerecht zu werden. Sie haben be- Ihrer Fraktion. Ist Ihnen bekannt, dass die optierenden
wiesen, dass sie bei der Arbeitsvermittlung flexible Kommunen in geradezu sträflicher Weise in den ersten
Wege gehen können. Die Kommunen sind näher an den sechs Monaten des Jahres 2005 die Integration von
Problemen der Betroffenen und können eher passgenaue Menschen mit Behinderungen verweigert haben, ob-
und flexible Wege für eine Integration in den Arbeits- wohl sie dazu eindeutig einen rechtlichen Auftrag hat-
markt entwickeln als die zentralistisch organisierte Bun- ten? Ist Ihnen bekannt, dass die damalige rot-grüne Bun-
desagentur für Arbeit. Die FDP-Fraktion fordert daher desregierung vor den Fakten kapitulieren und diese
weiterhin, dass die Verantwortung für die Vermittlung Aufgabe an die Bundesagentur für Arbeit zurückgeben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2623
Markus Kurth
(A) musste – diese macht sie auch nicht so gut, wie sie sie Insbesondere vor dem Hintergrund einer überproportio- (C)
machen sollte –, weil sich die Kommunen einfach ge- nal steigenden Arbeitslosigkeit unter Schwerbehinderten
weigert haben, für Menschen mit Behinderung Angebote muss hier schnell gehandelt werden.
bereitzustellen? Wie kann man vor diesem Hintergrund
behaupten, dass die Kommunen besser befähigt wären, Zu Ihrem Zwischenruf: In Mittelfranken gibt es eine
diese Leistungen alleine durchzuführen? Optionskommune neben vielen anderen; es geht vor al-
lem um die Argen. Das ganze Problem ergibt sich aus
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem SGB IX; es liegt nicht an den Personen, die es vor
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Ort ausführen müssen. Ich kann mir gut vorstellen, dass
KEN) auch mein Kollege Hubert Hüppe von der CDU, der be-
reits im Mai letzten Jahres in einer Kleinen Anfrage auf
Jörg Rohde (FDP):
Probleme bei der Vermittlung behinderter Arbeitsloser
hingewiesen hat, nun als Mitglied der Regierungskoali-
Herr Kollege Kurth, uns allen ist bekannt, dass es da- tion schnell Korrekturen einfordern wird.
mals große Probleme bei der Einführung von Hartz IV
gegeben hat. Das bezieht sich auf alle Bereiche, nicht Ich fasse zusammen: Wenn die Gesetze Hartz I bis IV
nur speziell auf den Bereich der Menschen mit Behinde- so umgesetzt worden wären, wie ursprünglich einmal
rungen. von Peter Hartz geplant, dann wären wir den Zielen ei-
ner arbeitsmarktpolitischen Reform sicherlich näher ge-
(Klaus Brandner [SPD]: Wir reden von jetzt!) kommen. Es gibt großen Reformbedarf bei der Arbeits-
Ich kann eben nur aus meiner Optionskommune in Er- marktpolitik. Aber die beiden Anträge der Fraktionen
langen berichten, dass dort sehr wohl Maßnahmen ge- der Linken und der Grünen gehen größtenteils in die fal-
troffen worden sind, um die Integration von Behinderten sche Richtung.
in den Arbeitsmarkt zu fördern. Ich habe mich dort per- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sönlich vergewissert. Vielleicht kann das nicht auf alle NEN]: Das stimmt nur bei einem!)
68 Optionskommunen ausgedehnt werden – an dieser
Stelle können wir gerne noch nacharbeiten –, aber Deswegen muss man beide Anträge ablehnen.
grundsätzlich halte ich es für besser, vor Ort anzusetzen, Vielen Dank.
weil dort auch die Behinderten bekannter sind als bei ei-
ner zentralen Bundesagentur, die von außen eingreifen (Beifall bei der FDP)
möchte. Ich komme später noch einmal auf diesen Punkt
zurück. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(B) Ich appelliere an die Union, sich an die damals vorge- Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner (D)
legten Anträge zu erinnern. Ich denke, wir werden beim von der SPD-Fraktion.
Leistungssystem noch stärker auf die Grundsätze der So- (Beifall bei der SPD)
zialhilfe zurückkommen müssen. Fehlsteuerungen müs-
sen beseitigt und die Leistungen auf die wirklich Bedürf-
Angelika Krüger-Leißner (SPD):
tigen konzentriert werden.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Kollegen! Seit gut einem Jahr ist die Arbeitsmarktreform
zum SGB II in Kraft. Ganz folgerichtig haben wir es mit
Vor allem jugendliche Arbeitslose haben das Gesetz aus- Schwierigkeiten sowohl in der Akzeptanz und der Um-
genutzt und sind auf Kosten der Allgemeinheit bei ihren setzung als auch hinsichtlich der spürbaren Wirksamkeit
Eltern ausgezogen. Für die Zukunft wurde diesem Miss- zu tun. Darum ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass es
brauch nun ein Riegel vorgeschoben. Von einer Haus- weitere Vorschläge neben denen der Regierungskoalition
haltssanierung auf Kosten arbeitsloser Jugendlicher, wie gibt, den Prozess der Umsetzung des SGB II zu optimie-
es die Grünen nennen, kann aber nicht die Rede sein. ren.
Als behindertenpolitischer Sprecher der FDP möchte Dass der Schritt der Zusammenlegung von Arbeits-
ich ausdrücklich auf einen Punkt des Antrags der Grünen losenhilfe und Sozialhilfe zur neuen Grundsicherung
eingehen. In Punkt 9 Ihres Antrages fordern Sie eine richtig war, bestreitet heute kaum noch jemand. Unsere
bessere Verzahnung von SGB II und SGB IX, um die Zielsetzung orientierte sich an den Bedürfnissen von er-
Vermittlung von arbeitslosen Menschen mit Behinderun- werbsfähigen arbeitslosen Menschen. Es ist für mich
gen in Arbeit zu optimieren. In diesem Punkt stimme ich nach wie vor richtig, daran festzuhalten, die Zugangs-
Ihnen ausdrücklich zu. chancen von Langzeitarbeitslosen in Beschäftigung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durch passgenaue individuelle Vermittlung und Ange-
bote zu verstärken, ihren Verbleib in Arbeitslosigkeit zu
In Mittelfranken – aber nicht nur dort – ist infolge ei- verringern und ihnen eine die Existenz sichernde Grund-
ner Änderung des SGB IX die bis dahin ausgesprochene sicherung zu bieten. An dieser Zielsetzung müssen wir
erfolgreiche Vermittlung von Schwerbehinderten ins jeden Vorschlag messen, der vorgelegt wird.
Stocken geraten.
Wenn wir als richtig erkannt haben, dass wir gleiche
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Chancen für alle Arbeitslosen und eine schnelle und
NEN]: Also doch!) nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt erreichen
2624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Angelika Krüger-Leißner
(A) wollen und dass wir Menschen von Betroffenen zu Be- genau ausgeführt, dass es vielen in dem neuen System (C)
teiligten an einem System machen, sie also aktivieren gar nicht schlechter geht. Natürlich hat derjenige Ein-
und ihre Eigenverantwortung stärken wollen, dann schnitte hinzunehmen, der vorher eine hohe Arbeitslo-
können wir nur den bereits eingeschlagenen Kurs weiter- senhilfe bekommen hat. Wir haben das nie bezweifelt
verfolgen, einschließlich aller notwendigen Weiterent- und offen ausgesprochen. Aber für die Vielzahl der ehe-
wicklungen, die wir aber entschlossen angehen müssen. maligen Sozialhilfeempfänger, die in den letzten Jahren
In dieser Phase befinden wir uns gerade. gar keine Chance auf Arbeitsvermittlung bekommen ha-
ben, hat sich die Situation verbessert.
Heute liegen zwei Anträge vor, die wir meines Erach-
tens unterschiedlich gewichten müssen. Der Antrag der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sollte uns auch der CDU/CSU)
weiterhin beschäftigen. Ich finde, dass er wichtige und Nach der neuen Grundsicherung kommt eine Familie
richtige Ansätze enthält. Das Streiten um gute Lösungen mit zwei Kindern auf einen Grundsicherungsbetrag ein-
in den nächsten Wochen wird sich, glaube ich, lohnen. schließlich Wohnungskosten in Höhe von 1 759 Euro
Lassen Sie mich aber einige Ausführungen zu dem netto im Monat. Das ist sicherlich nicht viel Geld. Aber
Antrag der Fraktion Die Linke machen. Ich glaube, die- das ist weiß Gott nicht Armut per Gesetz. Viele Men-
ser Antrag bringt uns mit seinen Vorschlägen in keiner schen in unserem Land arbeiten für viel weniger. Wenn
Weise voran. Vielmehr soll mit ihm der eingeleitete Pro- ich mir Ihre Vorschläge genauer anschauen, dann stelle
zess zurückgedreht werden. Ich habe große Zweifel, ob ich fest, dass Sie eigentlich gar keine Überwindung von
die Antragsteller die Dimension der vor uns liegenden Hartz IV wollen. Sie wollen vielmehr eine unendliche
Probleme in ihrer Gesamtheit überhaupt erfasst haben. Aufstockung bei Hartz IV. Das mag zunächst einmal
wünschenswert erscheinen. Aber wer die Rechnung be-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zahlen soll, die hier aufgemacht wird, bleibt offen.
Er liest sich wie ein Wunschzettel, fernab jeder Realität (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne
in unserem Land, kurzum: eine soziale Utopie. Dabei Kastner)
gebe ich zu, dass sich seit einem Jahr für viele Menschen
Gravierendes verändert hat. Manche Einschnitte sind Wenn man sich nur drei Ihrer Vorschläge genauer an-
schwer zu verkraften. Auf die neue Situation musste sich schaut – die Erhöhung der Regelleistung auf 420 Euro,
jeder erst einstellen. die Erhöhung der Freibeträge für Vermögen und die Er-
höhung des Kindergeldes, den dicksten Brocken in Ih-
Ich hätte mir gewünscht, dass wir – genauso wie an- rem Antrag –, dann stellt man fest, dass die Mehrkosten
dere Länder – rechtzeitig auf die veränderte Wirt- unter dem Strich 26 Milliarden Euro betragen. Das wird
(B) (D)
schafts- und Arbeitsmarktlage reagiert hätten. Dann einfach so dahingeworfen, ohne zu überprüfen, ob das
wäre vieles leichter geworden. Aber wir haben geschla- überhaupt umsetzbar ist. Das spielt bei Ihnen ohnehin
fen oder wir hatten nicht den Mut dazu. Letztendlich tra- keine Rolle. Diese Kosten müssten andere in diesem
gen wir alle die Verantwortung dafür. Andere Länder ha- Land mit ihrem Arbeitseinkommen bezahlen. Das sind
ben in den 90er-Jahren – ähnlich wie wir – Reformen auf Kosten einer sozialen Utopie, die gar nicht mehr aktivie-
den Weg gebracht. Ich erinnere nur an Dänemark. 1993 ren will. Genau dieser Punkt in Ihrem Antrag macht
hat die sozial-liberale Regierung Reformen durchge- mich richtig wütend. Arbeit kommt in Ihren Vorschlägen
führt, die sie allerdings mehrmals nachbessern musste. kaum noch vor. Ihre vorgebliche Strategie handelt vom
Auch diese Regierung stand unter sehr hohem Druck. Weg zu einer Vollkaskogesellschaft. Beschäftigung ist
Ich erinnere nur daran, dass sie 2001 abgewählt wurde. zweitrangig. Das ist der Geist Ihres Antrages.
Das kann passieren. Wenn wir uns aber heute die Erfolge
Wir können gut erkennen, dass die Linke zurück zu
des Förderns und Forderns vor Augen führen, können
dem Verschiebebahnhof will, den wir früher in der So-
wir eines erkennen: Die Arbeitslosigkeit in Dänemark ist
zialhilfe hatten,
von 11 auf 5 Prozent gesunken. Die Dänen sind ganz be-
sonders erfolgreich bei der Integration gering qualifizier- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ter Menschen auf dem Arbeitsmarkt und beim Abbau der der CDU/CSU)
Jugendarbeitslosigkeit. Genau das muss auch unser Ziel
nun aber für alle Arbeitslosen, damit wir uns in Zukunft
sein.
bloß nicht weiter mit ihren Problemen beschäftigen müs-
Wir müssen uns mit der Umsetzung der Hartz-Ge- sen.
setze beschäftigen, sie analysieren und, wo nötig, än- Es gibt einen Punkt, bei dem wir übereinstimmen: Bei
dern. Aber Sie werden mir, glaube ich, zustimmen, dass der Umsetzung des SGB II gibt es viel zu verbessern.
der uns vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke nicht
geeignet ist, Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion, Ihre Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Strategie zur Überwindung von Hartz IV besteht darin, Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit!
die Menschen zu verunsichern, wieder einmal Schwarz-
malerei zu betreiben und irreale Hoffnungen zu wecken. Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Sie beginnen schon mit einer falschen Behauptung, Danke, Frau Präsidentin. – Vor allen Dingen müssen
wenn Sie sagen, Hartz IV sei Armut per Gesetz. Ich erin- wir Verbesserungen für die Menschen erreichen, die Ar-
nere an die Worte von Staatssekretär Andres. Er hat sehr beit als Teil ihrer gesellschaftlichen Partizipation sehen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2625
Angelika Krüger-Leißner
(A) Für sie müssen wir mehr tun. Ihnen fühle ich mich ver- Verschulden nicht aus eigener Kraft helfen können. Das (C)
pflichtet. Lassen Sie uns das in den nächsten Monaten gibt aber keinem das Recht, auf Kosten der Gemein-
tun! Lassen wir uns nicht durch solche utopischen An- schaft zu leben, wenn er eigentlich selbst arbeiten
träge wie von der Fraktion Die Linke aufhalten! könnte. Es geht nicht darum, so viel Steuergeld wie
möglich in die Transfersysteme zu pumpen, wie es die
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Linksfraktion, ihrem Antrag nach zu schließen, gerne
hätte. Staatssekretär Andres hat eine erschreckende Zahl
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: genannt: 35 Milliarden Euro würde die Durchführung
Das Wort hat der Kollege Paul Lehrieder, CDU/CSU- Ihres Antrages kosten. Das sind traumtänzerische Zahlen
Fraktion. ohne solide Gegenfinanzierung. Ich hätte von der Links-
partei zumindest eine unsolide Gegenfinanzierung er-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
wartet.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Nicht einmal das!)
und Herren! Als Hartz IV an den Start ging, waren große – Von einer soliden Gegenfinanzierung kann man bei ihr
Erwartungen an ein derartig großes Reformvorhaben ge- ohnehin nicht ausgehen.
knüpft.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Zuruf von der LINKEN: Sie wurden
enttäuscht!) Wir haben in der vergangenen Woche einen Haushalt
mit einer dramatischen Neuverschuldung von 38 Milliar-
– Enttäuschung Ihrerseits ist nicht verwunderlich. Sie
den Euro im laufenden Jahr beschlossen.
sind öfter enttäuscht und werden auch öfter enttäuscht
werden. – Als es dann an Art und Umfang der Umset-
zung ging, wurden, wie fast zwangsläufig bei derartigen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Reformprojekten, viele enttäuscht – auch die Linken, Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
zum Glück. Hartz IV ist heute unverdientermaßen zum Kollegen Dehm?
Unwort geworden.
Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen – ge- Paul Lehrieder (CDU/CSU):
nau darum ging es im Kern –, war unbedingt notwendig Ich würde liebend gern, aber die heutige Sitzung ist
und seit langem eine zentrale Forderung der Union. Des- bereits jetzt bis 23.55 Uhr geplant. In Anbetracht der ge-
(B) halb haben wir vor zwei Jahren dem Reformvorhaben ringen Qualität der zu erwartenden Zwischenfrage ver- (D)
der damaligen Bundesregierung in Bundestag und Bun- zichte ich darauf.
desrat zugestimmt. Wie Herr Staatssekretär Andres aus-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
geführt hat, war es den Schweiß aller Edlen wert.
Frau Kipping, hier auf der Tribüne ist eine große An-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
zahl Jugendlicher. Wir zahlen bereits jetzt jeden Tag
der SPD)
100 Millionen Euro Zinsen. Ihr Weg wäre gewesen, die
Ich habe die Formulierung sehr schön gefunden, weil Sie Verschuldung in dramatischer Weise weiter zu steigern.
auch uns als Edle bezeichnet haben. Die Generation, die uns von den Tribünen zuschaut,
hätte keinerlei Bewegungsraum mehr, wenn wir Ihren
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber schwitzen Weg in die soziale Irre gingen.
ist trotzdem eine unangenehme Sache!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Es war uns wichtig, den Schwerpunkt von der Zah-
lung des Lebensunterhalts auf die Wiedereingliederung Wer theatralisch den Sozialstaat untergehen sieht und
der erwerbsfähigen Hilfebezieher in den Arbeits- Hartz IV am sozialen Kältepol verortet, sollte sich ein-
markt zu verlagern. Oberstes Ziel musste sein, die Be- mal den Einzelplan „Arbeit und Soziales“ des
troffenen wieder aus den Transfersystemen herauszufüh- Bundeshaushaltes 2006 ansehen. Wir geben derzeit
ren, sei es durch neue Hinzuverdienstmöglichkeiten, sei mehr als 51 Prozent der gesamten Haushaltsmittel für
es durch eine passgenaue Förderung bei der Wiederein- soziale Leistungen aus. Allein für das Arbeitslosen-
gliederung in Arbeit, sei es durch eine intensivere Be- geld II sind im Haushalt 2006 24,4 Milliarden Euro an-
treuung durch einen persönlichen Ansprechpartner. gesetzt. Für Eingliederungshilfen sind 6,5 Milliarden
Dazu gehören auch die unmissverständliche Androhung Euro und für Verwaltungskosten 3,5 Milliarden Euro
und die Durchsetzung von Sanktionen, wenn der Hilfe- vorgesehen. Darüber hinaus werden 267 Millionen Euro
bedürftige die notwendigen Eigenbemühungen nicht für Beschäftigungspakte zugunsten älterer Menschen
leistet. Nicht umsonst heißt es „fordern und fördern“. veranschlagt. 2006 beteiligt sich der Bund zudem mit
29,1 Prozent an den Unterkunftskosten. Die Kommunen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
werden so um 2,3 Milliarden Euro jährlich im Vergleich
der SPD)
zu dem vor dem 1. Januar 2005 geltenden Recht entlas-
Das Arbeitslosengeld II steht für uns im Einklang mit tet. Dieses Geld kann in die Betreuung vor Ort investiert
dem Auftrag, den das Grundgesetz dem Staat gegeben werden, zum Beispiel in Kinderkrippen. Sieht es so aus,
hat: diejenigen zu unterstützen, die sich ohne eigenes wenn – so schreiben Sie es, liebe Kolleginnen und
2626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Paul Lehrieder
(A) Kollegen der Linksfraktion – „Kosten auf die Kommu- um Hilfe zur Selbsthilfe, die das uneffektiv gewordene (C)
nen abgewälzt werden“? Beileibe nicht! soziale Netz in eine neue Balance bringen soll.
Apropos Kommunen: Frau Kipping, Sie haben den Die überplanmäßigen Ausgaben von mehr als
Prospekt „Hartz IV“ vorgezeigt und auf Ihren Wahlkreis 11 Milliarden Euro, die uns einzelne Kostenblöcke des
verwiesen. Ich habe mich kundig gemacht: Das Bundes- Hartz-IV-Gesetzes gebracht haben, können wir uns auf
tagshandbuch weist aus, dass Sie über die Landesliste Dauer nicht leisten. Es geht um den effizienten Einsatz
Sachsen in dieses Hohe Haus gewählt worden sind. Ich knapper Mittel. Es geht nicht darum, denen zu helfen,
gehe davon aus, dass Sie gleichwohl Verantwortung für die das Geld nicht brauchen. Fehlanreize sind deshalb zu
die Menschen Ihrer Region tragen wollen. bekämpfen, und zwar im Interesse aller.
Ich will Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahlkreis Ein besonders prägnantes Beispiel der letzten Zeit ist
nennen. Mein Wahlkreis Würzburg hat sich 2004 für das der sprunghafte Anstieg der Zahl von Ein-Personen-Be-
so genannte Optionsmodell entschieden. darfsgemeinschaften unter 25-Jähriger. Diesen Anstieg
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: konnten wir vor einigen Wochen in diesem Hohen Haus
Sehr gut!) mit großer Mehrheit – gegen die Linksfraktion – zum
Glück unterbinden.
Im Wahlkreis Erlangen des Kollegen Rohde war es ähn-
lich. Im Laufe des ersten Halbjahres 2005 wurden die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Fälle der Agentur für Arbeit sukzessive übernommen. Widerspruch bei der LINKEN)
Das „Beratungs- und Eingliederungszentrum für Arbeit- Mit dem SGB-II-Optimierungsgesetz wird die Koali-
suchende des Landkreises Würzburg“ vermerkt für das tion diese Linie fortführen. Sie hat sich zum Ziel gesetzt,
gesamte vergangene Jahr, dass trotz schwieriger Aus- neue Akzente bei der Ausgestaltung des Schonvermö-
gangslage 511 Menschen in den ersten Arbeitsmarkt ver- gens zugunsten der Altersvorsorge zu setzen und die De-
mittelt werden konnten, und das bei 1 300 Arbeitslosen finition eheähnlicher Gemeinschaften zu überprüfen, die
bzw. 2 230 Bedarfsgemeinschaften. Das ist eine Quote, Zuständigkeiten der Arbeitsgemeinschaften und optie-
mit der wir uns nicht zu verstecken brauchen. Gegenüber renden Kommunen gesetzlich klarzustellen und einiges
den Jahren 2003 und 2004 mit jeweils etwa 200 Vermit- mehr.
telten ist das ein deutlicher Erfolg.
Wir befinden uns mitten im Reformprozess. Unser
Frau Kipping, legen Sie Ihren Laptop einmal zur Ziel ist es, Menschen in Arbeit zu bringen. Wir haben
Seite! Vielleicht können Sie mir einmal etwas lauschen. begrenzte Mittel und sind kein Selbstbedienungsladen.
(Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) Leben wir über unsere Verhältnisse, leiden am Ende die
(B) ganze Gesellschaft und insbesondere unsere Jugend. (D)
– Das befürchte ich. Alles, was realitätsbezogen ist, ist
für Sie uninteressant. Wer uns bei diesem schwierigen Vorhaben mit kon-
struktiven Vorschlägen unterstützen will, ist uns herzlich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) willkommen. Wer die Bürger mit pathetischem Tonfall,
Besonders erfreulich ist in diesem Zusammenhang, Bärbeißigkeit und ideologischer Verblendung gegen ihre
dass 26,4 Prozent der im vergangenen Jahr vermittelten eigenen Interessen mobilisieren und notwendige Maß-
Arbeitnehmer unter 25 Jahre alt sind. Damit dürfte klar nahmen im Keim ersticken will, ist allerdings fehl am
werden, dass die Reformen allmählich zu greifen begin- Platz. Hier würde man den Bock zum Gärtner machen.
nen. Wir sind froh, dass eine große Mehrheit der Vernünfti-
gen die Anträge der Linkspartei zurückweist.
Bei alledem müssen wir in Rechnung stellen, dass es
sich erst um einen Anfang der Reformen der Arbeits- Danke schön.
markt- und Sozialgesetzgebung handelt. Viel muss noch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
justiert werden. Genau in dieser Phase befinden wir uns
bei Abgeordneten der FDP)
jetzt. Unter anderem mit der Angleichung der ALG-II-
Regelsätze in Ost und West auf 345 Euro wollen wir für
mehr Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen sorgen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Hier sehen wir auch die Grenzen, die uns gesetzt sind. Das Wort hat der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Frak-
Diese Angleichung wird bei Bund und Ländern mit tion.
Mehrkosten von 260 Millionen Euro zu Buche schlagen.
(Beifall bei der SPD)
Dadurch fehlt Geld an anderer Stelle. Da wir leider nicht
unbegrenzt Geld drucken können und es uns nicht leisten
können, über unsere Verhältnisse zu leben, müssen wir Rolf Stöckel (SPD):
in Verantwortung vor dem Steuerzahler die knappen so- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
zialstaatlichen Mittel zielgenau einsetzen. von mir herzliche Glückwünsche, Herr Rohde. Wir wis-
sen jetzt, dass Sie 40 Jahre alt sind – das tut nicht weh;
Ich erinnere an Folgendes: Beim ALG II handelt es ich kann mich noch daran erinnern, wie das bei mir da-
sich grundsätzlich um eine bedürftigkeitsabhängige mals war –, aber wir wissen leider sehr wenig über die
Leistung, die nur in der Höhe der tatsächlichen Hilfe- Optionskommunen,
bedürftigkeit gewährt wird. Sie muss das so genannte so-
ziokulturelle Existenzminimum sicherstellen. Es geht (Jörg Rohde [FDP]: Oh!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2627
Rolf Stöckel
(A) über die Qualität der Eingliederungsvereinbarungen, der Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, mit einigen (C)
aktiven Arbeitsmarktangebote und der Qualifizierungs- Mythen aufzuräumen, die hier auch schon angesprochen
angebote in den Optionskommunen. Sie wissen das viel- worden sind. Eine Behauptung ist, dass die Leistungen,
leicht in Bezug auf Erlangen. Wir wüssten gerne mehr. nämlich 345 Euro plus Übernahme der Miet- und Heiz-
Ich kann Ihnen nur berichten, dass die Arge bei mir im kosten, für Einzelpersonen nicht das menschenwürdige
Kreis Unna einen Spielraum hat, in dem sie auch eigen- Existenzminimum absichern würden. Es gibt kein Land
ständig Entscheidungen treffen kann, und dass die Praxis der Welt, in dem diese Leistungen höher sind und in dem
dort auch nicht unbedingt schlechter ist als in Erlangen; die Arbeitslosigkeit erfolgreicher bekämpft worden wäre
das Beispiel kenne ich zufällig auch.
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir haben natürlich ein Interesse daran – das möchte NEN]: Das stimmt aber so auch nicht! Däne-
ich prinzipiell einmal sagen; deswegen spreche ich das mark zum Beispiel!)
an –, dass die Verhältnisse, was die Qualität, die Sozial-
standards, die Qualifizierung und die Vermittlung an- oder mehr Integration geleistet worden wäre dadurch,
geht, in der Bundesrepublik Deutschland nicht zersplit- dass diese Leistungen höher sind. Die Regelsätze wer-
tert werden, sondern dass es für eine eigenständige den auf einer gesetzlichen Grundlage angepasst und
Praxis in den Arbeitsgemeinschaften vor Ort einen ein- nicht mehr nach einem paternalistischen Warenkorb, der
heitlichen Rahmen gibt, sodass man die Einheitlichkeit auch schon bei der damaligen Sozialhilfe nicht dazu bei-
der Lebensverhältnisse für die Betroffenen auch insofern getragen hat, dass es objektiver oder für die Betroffenen
sicherstellen kann. Das ist eine sozialdemokratische besser gewesen wäre.
Position, die wir auch weiterhin vertreten werden.
Das ist übrigens nicht nur besser für die ehemaligen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger oder für die ehe-
Lehrieder [CDU/CSU] und des Abg. Peter maligen Arbeitslosenhilfeempfänger, die ergänzende So-
Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]) zialhilfe bekommen haben; es ist auch besser für die
Kommunen, denen über viele Jahre die Massenarbeitslo-
„Hartz muss weg“ – so richtig ernst meint die PDS sigkeit mit allen Konsequenzen sozusagen in die Kasse
das auch nicht. Wenn alle Punkte ihres Antrages – es geschoben worden ist. Sie sagen in Ihrem Antrag ja
sind 40 Punkte, die ich hier nicht in sieben Minuten be- auch, dass Sie die Kommunen entlasten wollen. Als je-
werten kann; ich biete an, das einmal zu tun, wenn Sie mand, der aus dem Ruhrgebiet kommt, sage ich Ihnen:
Interesse haben – erfüllt würden, hätte die PDS als Bitte nicht nur die Kommunen in Ostdeutschland entlas-
Transferleistungsgewerkschaft gar keine Daseinsberech- ten. Das muss insbesondere für unsere Kommunen im
(B) tigung mehr. Ruhrgebiet auch gelten. (D)
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Eben!) der CDU/CSU)
Das ist auch der Grund dafür, dass sie hier im Parlament Ist es linke Politik – das habe ich mich gefragt, als ich
sitzt. den Antrag gelesen habe –, ist es menschenwürdig, wenn
Menschen dauerhaft zur Passivität, zur Ausgrenzung
Ich sage zu den Kollegen in der Koalition einmal: Das vom Arbeitsmarkt und zur Abhängigkeit von staatlichen
gilt vielleicht auch für Herrn Rüttgers, der jetzt im Düs- Transferleistungen verdammt werden? Die klare Ant-
seldorfer Stadttor sitzt. Er konnte sich auch nicht klar wort von uns Sozialdemokraten ist: Nein. Ich frage Sie:
entscheiden, ob er sich zu dem Ergebnis des Vermitt- Ist es linke Politik, wenn sich Großunternehmen auf
lungsausschusses bekennt oder ob er dagegen demons- Kosten der Solidargemeinschaft, nämlich mithilfe hoher
triert. Da hat er so ähnliche Verhaltensweisen wie Herr und langer Arbeitslosenhilfezahlungen, massenhaft von
Böhmer an den Tag gelegt. Aber darum geht es nicht. ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch
von ihrer sozialen Verantwortung verabschieden können,
Wenn wir erreichen wollen, dass erwerbsfähige Men-
wie das jahrelang passiert ist? Die klare Antwort von uns
schen nicht mehr dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausge-
lautet: Das ist keine linke Politik.
grenzt werden – ohne Chancen auf persönliche Hilfen
und Förderung, auf Qualifizierung und auf Kinderbe- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul
treuung –, dann darf Hartz IV nicht weg. Es kann erst Lehrieder [CDU/CSU])
dann weg, wenn die Langzeitarbeitslosigkeit – der Kol-
lege Weiß hat das zu Recht gesagt – erfolgreich be- Es wird behauptet – das hat der Parlamentarische
kämpft ist. Ich gehörte aufgrund eigener Erfahrung – ich Staatssekretär Andres hier bereits aufgenommen –, dass
habe 15 Jahre in der Sozialverwaltung gearbeitet – kei- mit der zunehmenden Zahl der Bedarfsgemeinschaften
nesfalls zu denen, die glaubten, die sagenhafte deutsche und der Kinder in Bedarfsgemeinschaften die Armut
Verwaltung brauchte nur einen Hebel umzulegen, dann steigt. Dieser Vorwurf, auch der Armutskonferenz in der
würde schon alles klappen. Niemand kann ernsthaft be- letzten Woche, ist absurd. Wenn Leistungen verbessert
haupten – das ist auch schon von mehreren Vorrednerin- werden – ich sage es hier noch einmal – und der Berech-
nen und Vorrednern gesagt worden –, dass die größte So- tigtenkreis ausgeweitet wird, dann ist das ein Beweis da-
zialreform der Bundesrepublik nach einem guten Jahr für, dass die Armutsbekämpfung im deutschen Sozial-
Praxis bereits optimal läuft. staat weitgehend funktioniert.
2628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Rolf Stöckel
(A) Ich nenne Ihnen eine Zahl aus dem Armuts- und Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
Reichtumsbericht: Wenn es diese Leistungen nicht gäbe Herr Kollege Stöckel, Sie müssen zum Ende kom-
– sowohl die beitragsfinanzierten als auch die steuerfi- men.
nanzierten Sozialleistungen einschließlich der Grund-
sicherung –, dann wären nicht 13,5 Prozent der Men-
Rolf Stöckel (SPD):
schen vom Armutsrisiko bedroht – das sind vor allen
Dingen Ausländer, Alleinerziehende und Familien mit Eine moderne linke Sozialpolitik, die einen wirklich
mehr als zwei Kindern –, sondern 41 Prozent. Das heißt, emanzipatorischen Anspruch hat, kann Sozialpolitik
der Sozialstaat funktioniert bei der Armutsbekämpfung. nicht ohne eine nachhaltige, die Demografie und Globa-
Er ist weiterzuentwickeln; denn er ist verbesserungswür- lisierung einbeziehende Wirtschafts- und Zukunftspoli-
dig. tik denken. Wir haben mit der Agenda 2010 die ersten
Weichenstellungen in die richtige Richtung vorgenom-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der men und dafür viel Prügel eingesteckt. Ich versichere Ih-
CDU/CSU) nen: Wir werden diesen Weg mit der großen Koalition
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten ver- erfolgreich weitergehen.
teidigen auch die Rechtsansprüche der Betroffenen an (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
unseren Sozialstaat. Ein großer Teil der Kostensteige-
rungen ist nicht durch Missbrauch verursacht worden,
sondern resultiert aus der legalen Inanspruchnahme von Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Rechten und gesetzlichen Regelungen. Wir Sozialdemo- Ich schließe die Aussprache.
kraten wollen keinen Almosenstaat; wir wollen keine
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Gesellschaft, in der letztendlich die Armenspeisungen
dem Drucksachen 16/997 und 16/1124 an die in der Ta-
im Vordergrund stehen. Ich glaube, dass wir insofern
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
klar positioniert sind.
Die Vorlage auf Drucksache 16/997, Tagesordnungs-
Deshalb sage ich auch ganz klar: Ich halte es für linke punkt 4, soll zusätzlich an den Ausschuss für Kultur und
Politik, wenn wir einen präventiven, aktivierenden Medien sowie an den Haushaltsausschuss überwiesen
Sozialstaat des Förderns und Forderns entwickeln. Nach werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Überzeugung der sozialen Wissenschaften und Praxis Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
– seit über 25 Jahren vollziehe ich das nach – ist dieses
Prinzip dem Prinzip des konservativen, nachsorgenden Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 f sowie
und vor allem Problemlagen konservierenden Wohl- Zusatzpunkte 3 a und 3 b auf:
(B) fahrtsstaates weitaus überlegen. Das zeigen alle interna- 32 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (D)
tionalen Vergleiche. gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Änderung des Artikel-10-Gesetzes
der CDU/CSU) – Drucksache 16/509 –
Mir ist es völlig unverständlich, warum PDS und Überweisungsvorschlag:
WASG, die sich Linke nennen, mit ihren Sozialstaatsvor- Innenausschuss (f)
stellungen so konservativ und weit entfernt von emanzi- Rechtsausschuss
patorischen Ansätzen agitieren und so tun, als würden b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
sie damit auch noch die Interessen der Betroffenen am gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
besten vertreten. zung der Richtlinie 2004/25/EG des Europäi-
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die schen Parlaments und des Rates vom
sind so reaktionär, reaktionärer geht es nicht!) 21. April 2004 betreffend Übernahmeangebote
(Übernahmerichtlinie-Umsetzungsgesetz)
Das Gegenteil ist der Fall, meine Damen und Herren.
– Drucksache 16/1003 –
Wem der Erhalt des Sozialstaats und nicht nur kurz-
sichtige populistische Parteitaktik am Herzen liegt, der Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
muss mithelfen, diesen Sozialstaat umzubauen Rechtsausschuss
(Zuruf von der LINKEN: Aber nicht ab- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
bauen!)
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
und zukunftsfest zu machen. Das ist allein deshalb unab-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
dingbar, weil soziale Ängste weit verbreitet sind und
Vertrag vom 27. Mai 2005 zwischen dem
weil es Vertrauensverluste gegenüber der Demokratie,
Königreich Belgien, der Bundesrepublik
der Marktwirtschaft und dem Rechtsstaat gibt. Sie be-
Deutschland, dem Königreich Spanien, der
schreiben das ja in Ihrem Antrag. Ich befürchte nur, dass
Französischen Republik, dem Großherzog-
Sie die Lehren aus der Weimarer Republik, vor allen
tum Luxemburg, dem Königreich der Nieder-
Dingen aus dem Ende der Weimarer Republik nicht rich-
lande und der Republik Österreich über die
tig verstanden haben und das auch gar nicht wollen.
Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusam-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) menarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2629
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
(A) Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kri- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle (C)
minalität und der illegalen Migration Laurischk, Otto Fricke, Ina Lenke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
– Drucksache 16/1108 –
Überweisungsvorschlag: Zwangsheirat wirksam bekämpfen – Opfer
Innenausschuss (f) stärken und schützen – Gleichstellung durch
Auswärtiger Ausschuss Integration und Bildung fördern
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe – Drucksache 16/1156 –
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Auswärtiger Ausschuss
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Innenausschuss
Rechtsausschuss
zung des Vertrags vom 27. Mai 2005 zwischen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Deutschland, dem Königreich Spanien, der Ausschuss für Bildung, Forschung und
Französischen Republik, dem Großherzog- Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
tum Luxemburg, dem Königreich der Nieder- Entwicklung
lande und der Republik Österreich über die
Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusam- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
menarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des ten Verfahren ohne Debatte.
Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kri- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
minalität und der illegalen Migration die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
– Drucksache 16/1109 – überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Überweisungsvorschlag: Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Innenausschuss (f)
Auswärtiger Ausschuss
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 33 a bis 33 f sowie
Rechtsausschuss Zusatzpunkte 4 a bis 4 j auf. Es handelt sich um
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
Ausschuss für Tourismus sprache vorgesehen ist.
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Tagesordnungspunkt 33 a:
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
(B)
rung des Agrarstatistikgesetzes und des Rin- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (D)
derregistrierungsdurchführungsgesetzes zur Änderung des patentrechtlichen Ein-
spruchsverfahrens und des Patentkostengeset-
– Drucksache 16/1023 – zes
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und – Drucksache 16/735 –
Verbraucherschutz (f)
Innenausschuss Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Winfried Hermann, Peter Hettlich, – Drucksache 16/1153 –
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
Berichterstattung:
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Notschleppkonzept an gestiegene Herausfor- Dirk Manzewski
derungen anpassen Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Wolfgang Nešković
– Drucksache 16/685 – Jerzy Montag
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfehlung auf Drucksache 16/1153, den Gesetzentwurf
ZP 3 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Mir ist das Abstim-
KEN mungsverhalten der Fraktion der Linken nicht klar. –
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Die Beziehungen zwischen EU und Lateiname- Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU
rika solidarisch gestalten – Kein Freihandels- und FDP bei Enthaltung der Fraktion der Linken ange-
abkommen EU-Mercosur nommen.
– Drucksache 16/1126 – Dritte Beratung
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Entwicklung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
2630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Tagesordnungspunkt 33 d: (C)
damit mit demselben Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen. Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
Tagesordnungspunkt 33 b: eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
8. Dezember 2004 über den Beitritt der Tsche-
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des chischen Republik, der Republik Estland, der
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Republik Zypern, der Republik Lettland, der
eines Gesetzes zu dem Internationalen Über- Republik Litauen, der Republik Ungarn, der
einkommen von 2001 über die zivilrechtliche Republik Malta, der Republik Polen, der Re-
Haftung für Bunkerölverschmutzungsschäden publik Slowenien und der Slowakischen Repu-
– Drucksache 16/736 – blik zu dem Übereinkommen über die Beseiti-
gung der Doppelbesteuerung im Falle von
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Gewinnberichtigungen zwischen verbunde-
schusses (6. Ausschuss) nen Unternehmen
– Drucksache 16/1154 – – Drucksache 16/914 –
Berichterstattung: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
Abgeordnete Marco Wanderwitz schusses (7. Ausschuss)
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans – Drucksache 16/1143 –
Wolfgang Nešković Berichterstattung:
Jerzy Montag Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1154, Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 16/1143,
den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an- wurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
genommen. genommen.
Tagesordnungspunkt 33 c: Tagesordnungspunkt 33 e:
(B) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (D)
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Ölschadengesetzes und an- zu dem Abkommen vom 2. März 2005 zwi-
derer schifffahrtsrechtlicher Vorschriften schen der Bundesrepublik Deutschland und
– Drucksache 16/737 – der Republik Jemen zur Vermeidung der Dop-
pelbesteuerung von Luftfahrtunternehmen
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
schusses (6. Ausschuss) und vom Vermögen
– Drucksache 16/1160 – – Drucksache 16/915 –
Berichterstattung: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
Abgeordnete Marco Wanderwitz schusses (7. Ausschuss)
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans – Drucksache 16/1144 –
Wolfgang Nešković Berichterstattung:
Jerzy Montag Abgeordneter Manfred Kolbe
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/1160, den Gesetzentwurf empfehlung auf Drucksache 16/1144, den Gesetzentwurf
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan- ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan-
zen Hauses angenommen. zen Hauses angenommen.
Dritte Beratung Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des wurf ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses an-
ganzen Hauses angenommen. genommen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2631
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
(A) Tagesordnungspunkt 33 f: Zusatztagesordnungspunkt 4 b: (C)
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes ausschusses (6. Ausschuss)
zur Änderung und Bereinigung des Lastenaus-
Übersicht 2
gleichsrechts
über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-
– Drucksachen 16/916, 16/955 – ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- gericht
schusses (7. Ausschuss) – Drucksache 16/1141 –
– Drucksache 16/1145 – Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-
Berichterstattung: genprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Abgeordneter Manfred Kolbe ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom-
men.
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/1145, den Gesetzentwurf Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- titionsausschusses.
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer Zusatztagesordnungspunkt 4 c:
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gan- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
zen Hauses angenommen. ausschusses (2. Ausschuss)

Dritte Beratung Sammelübersicht 28 zu Petitionen

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 16/1132 –


Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- tungen? – Die Sammelübersicht 28 ist mit den Stimmen
wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen des des ganzen Hauses angenommen.
ganzen Hauses angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4 d:
Zusatztagesordnungspunkt 4 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
(B) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ausschusses (2. Ausschuss) (D)
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Vorschriften über die Luft- Sammelübersicht 29 zu Petitionen
aufsicht und die Luftfahrtdateien – Drucksache 16/1133 –
– Drucksache 16/958 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 29 ist ebenfalls mit den
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(15. Ausschuss) Zusatztagesordnungspunkt 4 e:
– Drucksache 16/1159 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Berichterstattung:
Abgeordnete Dorothee Menzner Sammelübersicht 30 zu Petitionen
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- – Drucksache 16/1134 –
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
Drucksache 16/1159, den Gesetzentwurf in der Aus- tungen? – Die Sammelübersicht 30 ist mit den Stimmen
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung der Grünen ange-
wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthal- nommen.
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Fraktionen der Linken, der Zusatztagesordnungspunkt 4 f:
SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der
Grünen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Dritte Beratung
Sammelübersicht 31 zu Petitionen
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 16/1135 –
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
damit mit dem Stimmenverhältnis wie in der zweiten tungen? – Die Sammelübersicht 31 ist damit mit den
Beratung angenommen. Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
2632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner


(A) Zusatztagesordnungspunkt 4 g: Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
der Koalition zu diesem Energiegipfel als prominentem
ausschusses (2. Ausschuss)
Ereignis gerne Glückwunsch gezollt. Als ich ans Pult
Sammelübersicht 32 zu Petitionen ging, hieß es: Jetzt bekommen wir bestimmt Lob. – Ich
muss der Ehrlichkeit halber sagen: Lob bekommen Sie
– Drucksache 16/1136 – allenfalls für die mediale Inszenierung. Die Ergebnisse
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- waren aber doch eher dünn, falls es neben der Gründung
tungen? – Die Sammelübersicht 32 ist damit mit den von Arbeitsgruppen überhaupt Ergebnisse gab.
Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP bei Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
genstimmen der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
und der Linken angenommen. Es war ein Gipfel der Aussparung, eine Art Spiegelbild
des Minimalkonsenses innerhalb der Koalition. Man
Zusatztagesordnungspunkt 4 h: könnte auch sagen: Sie sind als Gipfelstürmer angetre-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ten, aber irgendwo im märkischen Sand stecken geblie-
ausschusses (2. Ausschuss) ben.
Sammelübersicht 33 zu Petitionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– Drucksache 16/1137 – Ich könnte auch sagen: Das war ganz im merkelschen
Sinne.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 33 ist mit den Stimmen Der Gipfel hat eines gezeigt: viel Wind, aber wenig
der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des Bünd- erneuerbare Energien. Die Gästeliste verwundert einen
nisses 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die dann auch nicht. Vertreten waren die Besitzstandswahrer
Linke angenommen. der Energiewirtschaft, die vier großen Monopolisten,
aber wenige Verbraucher und überhaupt keine Umwelt-
Zusatztagesordnungspunkt 4 i: gruppen. So macht man keinen der Zukunft zugewand-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ten Energiegipfel.
ausschusses (2. Ausschuss) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
Sammelübersicht 34 zu Petitionen der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])

(B) – Drucksache 16/1138 – Sie sind die energiewirtschaftlichen Fragen nicht an- (D)
gegangen. Dabei geht es um die Fragen: Wie kann un-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- sere Energieversorgung langfristig sicher sein? Wie kann
tungen? – Die Sammelübersicht 34 ist mit den Stimmen man sie langfristig wirtschaftlich gestalten und nicht nur
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der CDU/ am Tropf halten? Wie kann man sie nachhaltig gestal-
CSU bei Gegenstimmen der FDP und der Linken ange- ten? – Dazu ist gar nichts gesagt worden. Sie haben auch
nommen. die Kernthemen des Energiebereichs vollkommen außen
Zusatztagesordnungspunkt 4 j: vor gelassen. Wie kann man eigentlich behaupten, einen
Energiegipfel zu veranstalten, wenn man nicht über den
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verkehr diskutiert?
ausschusses (2. Ausschuss)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sammelübersicht 35 zu Petitionen
Das heißt doch: Sie haben das halbe Problem schlicht
– Drucksache 16/1139 – und einfach ignoriert. Der Löwenanteil unserer Erdöl-
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- importe wird nämlich im wahrsten Sinne des Wortes ver-
tungen? – Die Sammelübersicht 35 ist mit den Stimmen fahren. Wir machen hier vollkommen unsinnig Ge-
der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen der Lin- brauch von einer limitierten und teuren Ressource. In
ken, des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP ange- keinem anderen Bereich sind wir so abhängig vom Erdöl
nommen. wie im Verkehr und Sie machen einen Energiegipfel,
ohne über dieses Thema zu reden!
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 5 auf:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktuelle Stunde sowie bei Abgeordneten der FDP)
Beitrag des Energiegipfels zur Energieversor- Wenn sich an dieser Stelle nichts bewegt, bewegt sich
gungssicherheit und zur Verringerung der Ge- demnächst auch im Verkehr nichts mehr. Stattdessen ha-
fahren durch Atomkraft und Klimawandel ben Sie auf diesem Gipfel ein gefährliches Spiel mit der
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat diese Debatte über den Ausstieg aus der Atomenergie getrie-
Aktuelle Stunde beantragt. ben. Der Dissens, den Sie so munter zwischen den
Koalitionsfraktionen pflegen, stellt mittlerweile eine
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Blockade für Innovationen und dringend nötige Investi-
gin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. tionen in Deutschland, zum Beispiel im Mittelstand, dar.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2633
Renate Künast
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C)
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist überschritten.
Ich frage mich auch: Was ist jetzt eigentlich mit dem
Koalitionsvertrag? Gilt er nur ein bisschen oder nur bis
zu einem bestimmten Punkt? Das riecht mir verdammt Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nach: Wir sind ein bisschen schwanger. – Genau so agie- – erpressen lassen.
ren Sie bei diesem Thema. Im Ergebnis tun Sie nichts für
Danke.
die Schaffung von Arbeitsplätzen und für Innovationen
in diesem Land. Mit Ihrem Gerede auf dem Gipfel haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie allenfalls den Kraftwerksbetreibern geholfen, große
Profite zu machen. Sie haben aber mittelfristig nicht ein- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
mal einem Verbraucher in diesem Land geholfen und
dazu beigetragen, dass er auf seiner nächsten Stromrech- Herr Kollege Beck, zur Geschäftsordnung, bitte.
nung sieht, dass die Kosten sinken und nicht weiter stei-
gen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Keiner
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der für dieses Thema, Energie, zuständigen Minister ist
hier anwesend. Ich verstehe ja, dass man sich angesichts
Sie lassen sich durch vermeintliche Investitionszusa-
des Outputs dieses Energiegipfels hier im Parlament
gen zu Zugeständnissen bringen. Was wir in Wahrheit
nicht stellen will. Ich habe Verständnis bei Herrn Glos:
brauchen, ist eine Regierung, die sich nicht erpressen
Er ist in den USA; wenn er kommen sollte, wäre das ein
lässt, gerade beim anstehenden Thema „Emissionshan-
bisschen schwierig. Aber der Bundesumweltminister ist
del und Zertifikate“. Was Ihnen da an Geldern angeboten
im Haushaltssausschuss.
wird, ist das statistische Mittelmaß dessen, was sie so-
wieso investieren müssen. Wir brauchen etwas anderes. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Der Staats-
Wir brauchen einen Anschub, der zu Überkapazität und sekretär ist da!)
neuen Akteuren auf dem Markt führt, damit Wettbewerb
entsteht, zugunsten einer anderen Zukunft und zuguns- Ich meine, das geht nicht. Bei einem so wichtigen
ten der Verbraucherhaushalte. Thema muss die Bundesregierung auch durch Minister
hier im Plenum vertreten sein.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Nein, muss
Man muss jetzt umsteuern; man darf das nicht wieder sie nicht!)
(B) vertagen. Man muss jetzt einsteigen beim Primat der (D)
Wenn sie so nicht vertreten ist, ist das eine Missachtung
Energiepolitik in eine Zukunft der Einsparungen. Wir
des Parlaments. Wir beantragen die Herbeizitierung des
wissen, dass die meisten Industriestaaten, wenn sie eine
Bundesumweltministers.
gute Strategie verfolgen, mit der besten verfügbaren
Technologie problemlos 20 bis 30 Prozent des jetzigen (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Davon
Energieverbrauchs einsparen könnten. Dann brauchen kann doch überhaupt nicht die Rede sein! Das
Sie aber ehrgeizige Anforderungen, in Bezug auf den ist völlig albern! Der Staatssekretär ist anwe-
Wärmeschutz bei Neubauten, Höchstverbrauchstandards send!)
für Klima- und Lüftungsanlagen, und Sie brauchen Ver-
bote für Stand-by-Geräte in der Unterhaltungselektronik. – Es gehört sich, dass beim Thema Energiegipfel auch
Wir können bis 2020 unseren Verbrauch quasi halbieren. der zuständige Minister hier spricht oder dass er, wenn er
nichts zu sagen hat, wenigstens hier anwesend ist und
Der Energiegipfel hat uns eines gezeigt: Sie haben sich eine solche zentrale Debatte des Parlaments anhört.
keine Ziele; Sie arbeiten weiter für die großen Anbieter.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden dem ein grünes
sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
weiterentwickeltes Energieszenario entgegensetzen.
KEN)
(Martin Zeil [FDP]: Bitte keine Drohung!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Daran werden wir Sie messen. Wir werden Sie beim
Frau Kumpf, bitte.
Emissionshandel –

Ute Kumpf (SPD):


Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege Beck, ich glaube, Ihr Einwand und Ihr
Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende. Antrag sind eine Farce. Es ist ein sehr bekannter, sehr
ausgewiesener Experte auf der Regierungsbank anwe-
Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): send, der dieses Thema exzellent für uns vertreten wird.
– ich bin beim letzten Wort – fragen: Wie vergeben (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir Zertifikate? Ich sage Ihnen eines: Die 10 Prozent NEN]: Wer denn? – Jürgen Trittin [BÜND-
müssen wirklich versteigert werden. Wir dürfen eines NIS 90/DIE GRÜNEN]: Meinen Sie Herrn
nicht tun: uns von den großen Wirtschaftsunternehmen – Neumann?)
2634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Ute Kumpf
(A) – Ich rede von unserem Kollegen Michael Müller, der (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
den Minister vertritt. Er ist ein ausgewiesener Fachmann NEN]: Jedenfalls Sie nicht!)
(Martin Zeil [FDP]: Für was?) jedenfalls nicht umfassend und im Rahmen eines ge-
samtstrategischen Konzepts. Damit sollte auf diesem
in der Angelegenheit. Energiegipfel begonnen werden. Das ist unter volkswirt-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schaftlichen, internationalen und technologischen Ge-
sichtspunkten nötig. Das ist eine absolut runde Angele-
Dass Minister Gabriel vor dem Haushaltsausschuss vor- genheit.
stellig werden muss, ist das höchste Recht und auch ein
parlamentarisches Recht des Haushaltsausschusses. Das Sie haben uns vorgeworfen, wir hätten nichts zum
ist auch Ihnen sehr wohl bekannt. Ich denke, es ist genü- Verkehr gesagt. Ich will nur ein Beispiel nennen: Die
gend Kompetenz auf der Regierungsbank vertreten. Brennstoffzelle ist eine ganz wichtige technologische
Antwort auf die vor uns liegenden Herausforderungen.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Sie während Ih-
NEN]: Wieso bezahlen wir überhaupt Minis- rer Regierungszeit Entscheidendes für die Brennstoff-
ter, wenn wir sie nicht brauchen?) zelle geleistet hätten.
Daher ist Ihr Antrag abzulehnen. (Ulrich Kelber [SPD]: Natürlich! – Renate
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
nennt man retrograde Amnesie! Quatsch! Da
protestiert schon die SPD!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich lasse über den Geschäftsordnungsantrag des Kol- Wir legen ein Forschungsprogramm mit einem Volumen
legen Beck abstimmen. Wer für die Herbeizitierung des von 155 Millionen Euro und einer Laufzeit von drei Jah-
Ministers ist, den bitte ich um das Handzeichen. – Ge- ren auf. Eine so massive Forschungsförderung hat es in
genprobe! – Letzteres war die Mehrheit. Deshalb, Herr diesem Bereich noch nicht gegeben. Wir begrüßen, dass
Kollege Beck, ist Ihr Antrag abgelehnt. wir das gemeinsam beschließen können. Frau Künast,
unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde ein solches
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Programm nicht aufgelegt.
Hartmut Schauerte.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Wieso fahren die Autos jetzt schon mit
(B) neten der SPD – Renate Künast [BÜND- Biodiesel?) (D)
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, Herr
Müller spricht! – Gegenruf von der CDU/ Eine Diskussion über die strategische Ausrichtung
CSU: Zuhören!) unserer Energiepolitik ist notwendig. Sie kann einen
Beitrag zur Verbesserung der Energieversorgungssicher-
heit anstoßen. In diesem Zusammenhang sind Fragen der
Hartmut Schauerte, Parl. Staatssekretär beim Bun- Wirtschaftlichkeit, der Umweltverträglichkeit, der inter-
desminister für Wirtschaft und Technologie: nationalen Sicherheit und der Versorgungssicherheit zu
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und berücksichtigen. Es lohnt, über grundsätzliche Fragen zu
Herren! Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin zweimal reden.
dankbar, einmal dafür, dass die Bundeskanzlerin diesen
Energiegipfel organisiert und durchgeführt hat, und zum Frau Künast, in der Energiepolitik brauchen wir vor
Zweiten dafür, dass die Grünen diese Aktuelle Stunde allen Dingen Rationalität, ein Wissen über die Fakten
beantragt haben. Denn so können wir hier erklären, wo- und Zusammenhänge sowie möglichst wenig Ideologie.
rum es wirklich geht. Von den ideologischen Ansätzen grüner Energiepolitik
haben wir uns auf diesem Gipfel verabschiedet. Das
Dieser Energiegipfel war absolut notwendig. Das ha- wird Deutschland ausgesprochen gut tun.
ben alle Beteiligten auch so gesehen. Was die Beteiligten
angeht, Frau Künast: Es waren natürlich Vertreter der (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast
Solarenergiewirtschaft, Klaus Töpfer und weitere Perso- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch
nen aus dem entsprechenden Bereich anwesend. der Oberideologe! Ohne Sie wären wir schon
viel weiter!)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Klaus Töpfer ist ja keine deutsche Mit dem Statusbericht, den Bundesminister Glos zusam-
NGO!) men mit Bundesminister Gabriel vorgelegt hat, haben
wir eine gute Grundlage für die Neuorientierung und die
Der Kreis war also intelligent und der Sache angemessen Versachlichung der Energiepolitik gelegt.
zusammengesetzt. Ein Energiegipfel ist auch kein Klein-
Klein, kein Hin-und-Her und kein Springen von einem Energiepolitische Entscheidungen müssen immer die
Thema zu anderen. Denn er sollte ein strategischer Neu- drei energiepolitischen Ziele im Blick haben: Wirtschaft-
anfang sein. Schließlich haben wir seit vielen Jahren lichkeit und Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicher-
nicht mehr über die Energiepolitik und die Lage der heit sowie Umweltverträglichkeit. Ich habe die Wirt-
Energiewirtschaft in Deutschland geredet, schaftlichkeit bewusst an den Anfang gestellt. Gerade
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2635
Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte
(A) auf diesem Gebiet wurden in der Vergangenheit schwere ein. Mit einfließen sollen auch die Ergebnisse der deut- (C)
Fehler gemacht. schen EU-Ratspräsidentschaft und der G-8-Präsi-
dentschaft im Jahr 2007. Wir wollen das international
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aufstellen. Frau Merkel hat ja bekanntlich die Energie-
NEN]: Atomkraft!) politik als einen der drei Schwerpunkte der deutschen
Der grüne Ansatz bei der Wirtschaftlichkeit, den die EU-Ratspräsidentschaft genannt. Wir bereiten uns da-
Bürger heute teuer bezahlen, war: Energie kann ruhig rauf vor und hoffen, daraus Erkenntnisse für die strategi-
teuer sein; denn nur, wenn Energie teuer ist, gehen die sche Ausrichtung der deutschen Energiepolitik zu ge-
Bürger sparsam damit um. Das war ein Kern Ihrer Ener- winnen.
giepolitik, der natürlich enorme Auswirkungen auf die Wichtig ist natürlich der Energiemix, für den wir auch
Entwicklung der Energiepreise in Deutschland hatte. Erkenntnisse gewinnen wollen. Wie können wir ihn opti-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mieren? Dabei fallen als erstes die Kohle und die fossi-
NEN]: Während Atomkraft noch in hundert len Brennstoffe ins Auge. Wir wollen neue Ansätze in
Jahren kostet!) Technik und Forschung entwickeln bis hin zum CO2-
freien Kraftwerk. Dafür nehmen wir richtig Geld in die
Aufgrund der hohen Kosten für Energie in Deutsch- Hand. Wir schließen nichts aus. Wir wollen möglichst
land haben wir erhebliche wirtschafts- und arbeitsmarkt- breit auch unter dem Gesichtspunkt der Energiesicher-
politische Probleme. Die Kosten für Energie in Deutsch- heit aufgestellt sein.
land wurden von Ihnen aus ideologischen, aus so
genannten pädagogischen Gründen kraftvoll erhöht. Bei Wir begrüßen ausdrücklich die beim Energiegipfel
der Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit des Energie- gegebenen Zusagen der Energiewirtschaft zu umfangrei-
preises – Sie haben den Energiepreis nicht mehr ernst chen Investitionen in Kraftwerke und Stromnetze.
genommen – haben wir eine erhebliche Korrektur vorge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg.
nommen. Ich hoffe, dass sie sich mittelfristig auf den Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU])
Standort Deutschland im Wettbewerb der Nationen posi-
tiv auswirkt. Frau Künast, das hat es in Ihrer Zeit auch schon einmal
gegeben, aber sehr vage, unbestimmt und nicht belast-
(Beifall bei der CDU/CSU) bar. Man wollte 20 Milliarden Euro in ein Investitions-
Wir müssen in aller Sachlichkeit immer wieder analysie- programm investieren. Dieser Gipfel hat dazu geführt,
ren, ob die angestrebten Ziele auch tatsächlich erreicht dass aus den 20 Milliarden Euro 30 Milliarden Euro ge-
werden. Auch das soll ein Ergebnis der verstärkten Dis- worden sind. Er hat eine neue Sicherheit in die Gesprä-
(B) kussion über unsere energiepolitische Ausrichtung sein. che gebracht. Ich halte die Zusagen, die jetzt gemacht (D)
worden sind, für belastbarer als das, was vorher hin und
Der Energiegipfel ist als Auftakt einer Debatte über wieder einmal erörtert worden ist. Wir sind also auch
die mittel- und langfristige Energiepolitik gedacht. Kein hier ein gutes Stück weitergekommen.
laufendes Projekt wird gestoppt. Es gibt keinen Still-
stand. Insofern können wir uns die Zeit nehmen, gründ- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
lich darüber nachzudenken. Alle Projekte, die sich jetzt Das werden Sie alles noch merken!)
in der Pipeline befinden, werden weitergeführt. All das, – Ja, das wird sich zeigen. Haben Sie ein bisschen Ge-
was im Energiewirtschaftsgesetz festgelegt ist – die not- duld! Das ist sicher eine Tugend, die Ihnen ziemlich ab-
wendigen Neujustierungen, die Aufstellung der Netz- geht. Üben Sie sie einmal ein bisschen.
agentur –, läuft unbeeinflusst weiter. Die Ergebnisse des
Energiegipfels zeigen langfristige Planungsansätze auf, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sie zeigen, wie wir uns energiepolitisch in der Zukunft NEN]: Sonst wäre ich nicht hier!)
aufstellen sollten.
Bei uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Bei Ihnen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) war und ist das offensichtlich immer noch umgekehrt.
Wir wählen den anderen, den seriöseren Weg.
Wir werden – das haben Sie den Medien entnommen –
drei Arbeitskreise einrichten. Einer beschäftigt sich mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
den internationalen Aspekten, einer mit den nationalen
Aspekten und einer mit Forschung und Energieeffizienz. Die erneuerbaren Energien sind wichtig. Das haben
Diese drei Arbeitskreise sollen Vorlagen erarbeiten. die Teilnehmer des Energiegipfels einhellig unterstri-
Dann soll ein weiteres Spitzentreffen stattfinden. Ziel chen. Sie sind ein wichtiger und wachsender Teil des
dieses Prozesses ist die Erarbeitung eines Gesamtkon- Energiemixes. Lassen Sie mich dazu zum Abschluss
zeptes, das die Bundesregierung in der zweiten Hälfte noch ein paar Zahlen vortragen, weil ich glaube, dass sie
des Jahres 2007 vorlegen will. Diese Zeit nehmen wir beeindruckend sind. So etwas hat es in der Energiefor-
uns. In der Zwischenzeit wird das getan, was aktuell an- schungspolitik bisher nicht gegeben. Für rationelle Ener-
liegt. Es herrscht also kein Stillstand. Wir arbeiten kon- gieumwandlung haben wir im Jahr 2005 104 Millionen
kret in den aktuellen Bezugsfeldern und erstellen gleich- Euro ausgegeben; für das Jahr 2009 planen wir 203 Mil-
zeitig eine mittel- und langfristige Strategie. lionen Euro ein. Das ist fast eine Verdoppelung und das
sind 36 Prozent der Finanzmittel, die wir für die Ener-
Die praktische Energiepolitik geht weiter und die Er- gieforschung und -optimierung ausgeben. Bei den erneu-
gebnisse und Erkenntnisse fließen in das Gesamtkonzept erbaren Energien gibt es ebenfalls eine Erhöhung von
2636 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte


(A) 135 Millionen Euro Ist in 2005 auf 154 Millionen Euro finde, das ist entlarvend; denn daran wird deutlich, dass (C)
in 2009. Wir sind also in diesen Bereichen gut drauf. In Sie nicht genau genug hinschauen.
keinem Bereich des Haushalts ist ein solcher Aufwuchs
In Ihrem Statusbericht gehen Sie davon aus, dass
zu verzeichnen wie in diesem forschungs- und energiere-
– den Ausstieg aus der Kernenergie unterstellt – in circa
levanten Bereich. Ich meine, wir sind intelligent aufge-
zehn bis 13 Jahren der Fokus auf einer vermehrten Koh-
stellt. Der Energiegipfel war gut. Wir bedanken uns für
lenutzung, auf einer Verdopplung des Gasverbrauchs
die Gelegenheit, mit Ihnen hier im Plenum des Deut-
und auf einer Verdoppelung des Einsatzes erneuerbarer
schen Bundestages eine Stunde darüber diskutieren zu
Energien liegen wird. Sie müssen natürlich auch die
können.
Frage beantworten, wie Sie das Thema Klimaschutz
Herzlichen Dank. – ich habe es bereits angesprochen – in diesem Mix be-
rücksichtigen wollen. Was die erneuerbaren Energien
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- betrifft, ist das okay. Auch wir wünschen uns in diesem
neten der SPD) Bereich eine Förderung, und zwar nach einem differen-
zierten Mengenziel, das wir festzulegen haben. Sie las-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: sen das aber offen.
Das Wort hat die Kollegin Gudrun Kopp, FDP-Frak- Es fehlt ein energiepolitisches Gesamtkonzept, für
tion. dessen Erarbeitung Sie sich jetzt noch fast zwei Jahre
(Beifall bei der FDP) lang Zeit lassen wollen.
(Ernst Burgbacher [FDP]: Sehr wahr! Leider!)
Gudrun Kopp (FDP):
Ich finde, diese Zeit haben wir nicht mehr. Wir sind ge-
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und beutelt von Arbeitslosigkeit, von höchsten Energiekos-
Damen! „Gut drauf“ ist die Bundesregierung – Herr ten und von Rahmenbedingungen, die weit entfernt sind
Staatssekretär, das nehmen wir gern zur Kenntnis. Wahr- von dem, was wir uns unter Wettbewerb und Markt vor-
scheinlich hat der Energiegipfel dazu beigetragen. In stellen. Daran hat natürlich auch die frühere rot-grüne
Wahrheit aber war er ein selbsttherapeutischer Ge- Bundesregierung ihren Anteil. Die neue rot-schwarze
sprächskreis und ohnehin ein Milliardenpoker. Mehr hat Regierung setzt diese Politik im Augenblick schlicht
er nicht gebracht. Substanz kann ich wirklich nicht er- fort. Ich kann in diesem Bereich keine neuen Entwick-
kennen. lungen feststellen.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP)
(B) DIE GRÜNEN) (D)
Die Fragen, um die es geht, liegen auf dem Tisch und
Ich muss Sie daran erinnern: Wir haben gestern im die Antworten sind nahe liegend. Aber Sie geben sie
Wirtschaftsausschuss versucht, auszuloten, wie sich die nicht. Sie streiten sich untereinander und schieben sich
33 bis 40 Milliarden Euro, die Sie an Investitionen im gegenseitig die Karten zu. Sie wollen nachdenken und
Bereich der erneuerbaren Energien zugesagt haben, zu- strategische Überlegungen anstellen. Dabei müssten Sie
sammensetzen und woher sie kommen, also wie belast- dringend Antworten geben, und zwar solche, die Sie im
bar diese Summe ist. Sie konnten uns nicht erläutern, Konsens gefunden haben.
wie sich diese Summe zusammensetzt. So klar scheint
den Regierungsteilnehmern also nicht zu sein, was ei- Wir als FDP-Bundestagsfraktion haben in dieser Wo-
gentlich passieren soll. che ein energiepolitisches Grundsatzpapier verabschie-
det, das zukunftsweisend ist. Darin befassen wir uns mit
(Beifall bei der FDP) der internationalen Energiepolitik, beleuchten den ge-
samten Energiemix ohne ideologische Vorgaben,
Die notwendigen Investitionen in Kraftwerke und
Netze haben Sie angesprochen; sie sind in der Tat wich- (Zuruf von der SPD: Mensch! Donnerwetter!)
tig und richtig. Aber die Unternehmen investieren nur,
und behandeln Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit, Ver-
wenn sie wissen, wie die Rahmenbedingungen aussehen.
sorgungssicherheit und die Minderung von Import-
Auch hierzu haben Sie manche Fragen völlig offen ge-
abhängigkeiten als gleichrangige Ziele. Wir stellen also
lassen: Welche Vorgaben machen Sie mit Blick auf den
weder bestimmte Ziele in den Vordergrund noch rücken
Nationalen Allokationsplan II? Was kommt hier auf uns
wir andere Ziele in den Hintergrund.
alle, auf die Verbraucher wie auf die Unternehmen, zu?
Diese Fragen haben Sie sträflich vernachlässigt. (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Frau Kopp, davon hätte ich gerne ein hand-
In Vorbereitung dieses fulminanten Gipfels habe ich signiertes Exemplar!)
Ihren Statusbericht gelesen. Darin stellen Sie die Frage:
Wird es für die auslaufende Stromerzeugung aus Kern- Ich empfehle Ihnen dringend, sich ausgiebig mit un-
energie qualitativ ausreichend und wirtschaftlich vertret- serem energiepolitischen Grundsatzpapier zu befassen.
bar Ersatz geben? Diese Frage haben Sie gestellt, ohne
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-
bemerkt zu haben, dass Sie in diesem Zweierkanon den
Eckardt)
dritten Aspekt, die Umweltverträglichkeit, völlig außer
Acht gelassen haben. Sie haben sich nicht gefragt, ob das Denn, Herr Staatssekretär Schauerte, wir haben nicht die
unter umweltpolitischen Gesichtspunkten passt. Ich Zeit, zwei weitere Jahre in Arbeitskreisen zu diskutieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2637
Gudrun Kopp
(A) Sie wissen ja: Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann Strategien, je nach dem Verständnis von Zeit: Wenn wir (C)
gründet man einen Arbeitskreis. Sie gründen sogar drei in der Energiepolitik zu dem Ergebnis kommen, dass wir
Arbeitskreise. Handeln Sie! Treffen Sie Ihre Entschei- uns den aktuellen Zwängen anpassen müssen, kommen
dungen! Wir brauchen energiepolitische Leitlinien, in wir zu anderen Schlussfolgerungen, als wenn wir vor al-
denen die Energiepolitik als das dargestellt wird, was sie lem von den großen Zukunftsherausforderungen ausge-
ist: als Standortpolitik. hen und versuchen, frühzeitig Antworten zu geben. Ich
plädiere für das Zweite, weil ich glaube, dass die Verän-
Wirtschaftsminister Glos hat neulich gesagt,
derungen, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen,
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: so gewaltig sind, dass kurzfristige Anpassungen wenig
Wer? Glos? Wer ist das denn?) bringen werden. Wir müssen die Energiepolitik aus öko-
logischen, aus ökonomischen und aus friedenspoliti-
die Energiepolitik sei nach seinem Verständnis die
schen Gründen neu ordnen, sonst wird sie immer mehr
Hauptschlagader der gesamten Wirtschaftspolitik.
zur Achillesferse der modernen Gesellschaft.
(Ernst Burgbacher [FDP]: Ja! In der Tat! Da
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hat er Recht!)
der CDU/CSU)
Wenn das so ist – auch wir sind dieser Meinung –, dann
handeln Sie bitte auch dementsprechend und verlieren Lassen Sie mich das an drei Punkten deutlich ma-
Sie sich nicht in endlosen Diskussionszirkeln. chen: Erster Punkt. Im Augenblick nutzen 1,3 Milliarden
Menschen ungefähr drei Viertel der kommerziellen
Vielen Dank. Energie und Rohstoffe. Nehmen wir an, dass Länder wie
(Beifall bei der FDP) China, Indien und Brasilien – die bevölkerungsreichsten
Schwellenländer – in 35 Jahren das Wohlstandsniveau er-
reichen, das heute Ungarn hat, dann bedeutet das eine Ver-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dreifachung des Weltsozialprodukts. Wenn man gleichzei-
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär tig andere Entwicklungen berücksichtigt – Wachstum der
Michael Müller. Industrieländer, der anderen Länder, Bevölkerungs-
wachstum – ist es eine Verfünffachung. Es ist eine Illu-
Michael Müller, Parl. Staatssekretär beim Bundes- sion, zu glauben, dass diese Herausforderung mit der
minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heutigen Energieversorgung lösbar ist – es ist schlicht
heit: eine Illusion. Im Gegenteil: Die Länder, die auf diese
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Herausforderungen frühzeitig eine Antwort geben, wer-
(B) Energiepolitik ist ein Schlüsselthema dieses Jahrhun- den in der Zukunft am besten dastehen. (D)
derts, dessen Bedeutung weit über ökonomische Fragen
hinausreicht. Hierbei handelt es sich um den Schlüssel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
zur Sicherung des Friedens in der Welt und zur Bewah- der CDU/CSU)
rung der natürlichen Lebensgrundlagen. Weil das so ist, Die zweite große Herausforderung ist der Klimawan-
ist es bei diesem Thema unangebracht, parteipolitische del. Wir wissen in der Zwischenzeit, dass die größten
Spielchen zu beginnen; dafür ist es viel zu ernst. Ich Veränderungen im Klimasystem nicht in den tropischen
halte nichts davon, aus umfangreichen Berichten einen und subtropischen Breiten – obwohl es da schlimm ge-
einzigen Satz herauszugreifen und daran die Kritik fest- nug ist –, sondern in den nordpolaren Regionen stattfin-
zumachen, Frau Kopp. Wenn Sie ehrlich gewesen wären, den; dort ist die Klimasensibilität am höchsten. Bei-
hätten Sie ansprechen müssen, dass der Statusbericht spielsweise beträgt die Erwärmung im Weltdurchschnitt
über lange Passagen den Klimaschutz zum Thema hatte. etwa 0,7 Grad, aber über Grönland erreicht sie schon fast
Wenn das nicht Umweltpolitik ist, dann weiß ich nicht, 3 Grad. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass
was Umweltpolitik ist. die Erwärmung bis zum Ende dieses Jahrhunderts im
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Durchschnitt 2,5 Grad beträgt. Das bedeutet in der Kon-
der CDU/CSU) sequenz: Über Grönland wird eine Erwärmung von mehr
als 12 Grad zu befürchten sein. Was das wegen der Ver-
Dieses Thema ist nicht dazu geeignet, die Schlachten änderungen in den Meeressystemen bedeutet, kann man
von gestern zu schlagen. Es gibt eine Mahnung der sich gar nicht ausmalen!
beiden großen Aufklärer Theodor Adorno und Max
Horkheimer, die immer wieder die Frage gestellt haben, (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ob die europäische Gesellschaft noch die Kraft in sich NEN]: Ich glaube, wir brauchen doch den
hat, Fortschritt und Entwicklung möglich zu machen. Gabriel!)
Aus meiner Sicht ist ihre Mahnung, dass in jeder moder- Die Konsequenz daraus kann nur ein Umbau des Ener-
nen Gesellschaft immer auch der Keim des Rückschritts giesystems sein; darüber ist intensiv zu reden. Das wie-
steckt, richtig. derum ist eine Frage unseres zeitlichen Verständnisses.
Es gibt kaum einen Bereich, in dem die Weichen so (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
neu gestellt werden müssen wie in der Energiepolitik. der CDU/CSU)
Die Grundfrage in der Energiepolitik, die wir klären
müssen, ist: Welches Verständnis von Zeit haben wir? Es Dritter Punkt: Die Zeit der billigen Energie ist vorbei.
gibt nämlich zwei völlig unterschiedliche politische Es sind Leute wie James Schlesinger und Henry
2638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Parl. Staatssekretär Michael Müller


(A) Kissinger, die uns vor drohenden Ressourcenkriegen (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
warnen, wenn nicht vor allem die Industrieländer einen Mit eurem Werner Müller?)
anderen Umgang mit Energie pflegen. Das sind doch die
Herausforderungen der Zukunft, denen wir uns stellen – Wenn ich darauf hinweisen darf: Er war in den letzten
müssen! drei Jahren nicht in der Regierung. – Lasst uns bitte nicht
die Schlachten von gestern schlagen.
Deshalb geht es um unser zeitliches Verständnis von
Energiepolitik. Ein Teil dieses Hauses kennt nur die An- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
passung an aktuelle Zwänge. Aber das kann nicht die Was tut die Regierung? – Renate Künast
Lösung sein. Energiepolitik muss heißen, die Infrastruk- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was macht
tur der Zukunft möglichst früh zu entwickeln. Energie ihr denn jetzt?)
sparen: Effizienzsteigerung und erneuerbare Energien. Ich will, dass diese Zukunftsherausforderungen im
Das sind die Antworten, die von der großen Koalition Zentrum stehen. Die Reaktion der Grünen scheint mir
gemeinsam gegeben werden. eher die zu sein, dass sie Angst haben, ein Thema zu ver-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lieren.
der CDU/CSU) (Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann
Ich will auf einen interessanten Punkt hinweisen: Es [CDU/CSU])
waren im Wesentlichen die Fraktionen von CDU/CSU
Das scheint mir der Punkt zu sein. Das ist diesem Thema
und SPD, die 1990 das große Klimaschutzziel 25 Pro-
nicht angemessen. Lasst uns bitte gemeinsam in die Zu-
zent weniger CO2-Ausstoß entwickelt haben.
kunft schauen.
Ich sage: Ganz egal, wie man die Koalition ein-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
schätzt, sie ist verpflichtet, erfolgreich zu sein, weil das
schon aufgrund der Konstellation notwendig ist. Ich glaube, dass es vor allem um vier zentrale Punkte
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: geht:
Nein, nein!) Erstens. Der Austausch von Energieträgern als Ener-
– Ja, doch. Man sollte über den Tellerrand hinaus- giepolitik ist nicht ausreichend. Die entscheidende Frage
schauen. Für die Demokratie ist es wichtig, dass diese ist, unter welchen Rahmenbedingungen wir so schnell
Koalition erfolgreich ist. – Wenn wir es schaffen – ge- wie möglich mehr einsparen sowie eine höhere Effizienz
rade in der Energiepolitik –, ein Zeichen nach vorne zu schaffen und schneller erneuerbare Energien entwickeln
(B) setzen und eine Entwicklung einzuleiten, die überall in können. (D)
der Welt vorbildlich ist, dann hat sich diese Koalition ge- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
lohnt. Dafür setzen wir uns ein. NEN]: Sagt doch mal was zum Emissionshan-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- del und zum Verkauf der Zertifikate!)
NEN]: Das hätte die SPD ja schon vor Jahren Genau diese Fragen müssen ins Zentrum rücken und
merken können!) nicht der Austausch eines Energieträgers durch den an-
– Liebe Renate Künast, dazu möchte ich einmal etwas deren. Die Frage lautet: Wie können diese Ziele optimal
Deutliches sagen: Es ist ja schön und gut, dass sich die erreicht werden? Das geschieht nicht durch immer mehr
Grünen immer um das Thema erneuerbare Energien ge- Energieeinsatz, sondern der intelligente Einsatz von
kümmert haben – übrigens nicht allein –, Energie ist die entscheidende Herausforderung.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zweiter Punkt: unser Vorangehen beim Klimaschutz.
Das meine ich doch gar nicht!) Das ist die zentrale Zukunftsherausforderung. Die Welt
schaut dabei auf Europa. Was in Europa geschieht, wird
aber es wäre sehr viel schöner gewesen, wenn sich die die Welt prägen.
Grünen beispielsweise auch sehr viel mehr des Themas
Effizienz angenommen hätten. Hier war nämlich die Dritter Punkt. Wir müssen die Energiepolitik immer
große Schwachstelle. Reden wir also darüber. Das wisst mehr als Energieaußenpolitik begreifen. An der Frage
ihr doch auch ganz genau. des Energieeinsatzes wird sich die Sicherheit der Welt
entscheiden. Auch hier ist entscheidend, was Europa tut.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Der Gedanke, das technologisch starke Westeuropa mit
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dem Rohstoffriesen Russland im Sinne einer intelligen-
Also bitte, was ist denn mit dem Emissions- ten Kooperation für die Welt zusammenzubringen, ist
handel?) eine große Vision, die wir voranbringen sollten. Ich
– Auch beim Emissionshandel hätten wir manche Wei- finde, auch hier war die Diskussion in den letzten Wo-
chen anders stellen können. chen im Verhältnis zur großen Bedeutung dieses Themas
kleinkariert. Ich glaube nicht, dass uns das voranbringt.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Clement!) (Beifall bei der SPD – Renate Künast [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Zur Größe von
Auch das weiß Jürgen Trittin besser, als er es hier sagt. Michael Müller!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2639
Parl. Staatssekretär Michael Müller
(A) Lassen Sie mich noch den vierten Punkt nennen. Wir Und was macht die Bundesregierung? Erstens. Sie er- (C)
müssen auch den historischen Fehler überwinden, zu höht die Mehrwertsteuer um noch einmal 3 Prozent-
meinen, dass sich die Stärke eines Landes vor allen Din- punkte. Zweitens. Sie lädt die Energiebosse zum Gipfel
gen an der Arbeitsproduktivität orientiert. Energie- und ein, auf dass alles besser werde. Ich bin der Meinung,
Ressourcenproduktivität sind zentrale Wettbewerbsfak- das ist den Menschen im Land nicht mehr zu vermitteln.
toren in der Zukunft. Dadurch wird der Fehler überwun-
(Beifall bei der LINKEN)
den, dass bei einem schwächer werdenden Wachstum
immer mehr Menschen durch Technik ersetzt werden. Der Energiegipfel bei Bundeskanzlerin Merkel am
Wir schaffen eine Produktivität, durch die auch mehr Ar- Montag letzter Woche hat das Bild abgerundet. Man sitzt
beit möglich wird. gemeinsam im sicheren Boot und lässt die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher schwimmen. Mein Respekt gilt
Das sind vier Herausforderungen, die wir mit der an dieser Stelle Edda Müller vom Verbraucherzentrale
Energiepolitik verbinden. Lasst uns deshalb nach vorne Bundesverband. Sie vertrat als Einzige die 39 Millionen
schauen. Wir führen nicht die Schlachten der Vergangen- privaten Haushalte mit Bravour.
heit, sondern wir sehen vor allem die Herausforderungen
der Zukunft und wir wollen Antworten geben, die um- (Beifall bei der LINKEN)
weltverträglich, wettbewerbsfähig und kostengünstig Machen wir uns nichts vor: Die Gästeliste spiegelt wi-
sind. der, wohin die Reise geht, nämlich zurück in die fossil-
Vielen Dank. atomare Steinzeit. Wenn die Kanzlerin keine andere
Energiepolitik will, dann sollte sie uns das sagen und
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – nicht so einen Zirkus veranstalten.
Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Die Investitionszusage der Konzernbosse ist unserer
Wir wissen jetzt, was Regieren heißt! Wir
Meinung nach eine Mogelpackung. Die 30 Milliarden
dachten immer, Regieren heißt Antworten ge-
Euro waren schon lange vor dem Energiegipfel fest ein-
ben und nicht nur Fragen stellen! – Fritz Kuhn
geplant, und zwar für die Ersetzung der maroden Koh-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war eine
leblöcke bzw. für die Neubauten, die von Umweltminis-
Nullemission! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/
ter Gabriel über den Emissionshandel subventioniert
DIE GRÜNEN]: Da muss man sich nur einmal
werden.
die ganzen SPD-Bundesländer dazu ansehen!)
Hinzu kommt: Kein einziger Arbeitsplatz wird ge-
schaffen. Die neuen Kraftwerke ersetzen zwar die alten
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Dreckschleudern, werden aber nur mit einem Viertel des (D)
(B) Als Nächster hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der Personals betrieben. Das bestätigen sogar die RWE-Be-
Linken das Wort. triebsräte. Dass die Großen der Branche die Investitio-
(Beifall bei der LINKEN) nen nur in Aussicht stellen, darf sicherlich als Drohku-
lisse für die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken
verstanden werden; denn da kann man richtig verdienen:
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): 300 Millionen Euro zusätzliche Einnahmen pro Jahr be-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- schert die Verlängerung der Laufzeit eines einzigen
nen und Kollegen! Der hinter uns liegende Winter wird Atomkraftwerkes.
für uns alle teuer. Der Verbraucher zahlt bis zu 500 Euro Die Branche der erneuerbaren Energien leistet als
mehr für das Heizen und den Strom. Das ist für viele Einzige einen echten Beitrag für eine zukünftige Ener-
Haushalte ein halbes Monatsgehalt. Und was tun die gieversorgung. Der Anteil von Energie aus Sonne, Wind,
Energiekonzerne? Bei immer weniger Mitarbeitern ver- Wasser, Biomasse und Erdwärme soll in den nächsten
künden sie für das letzte Jahr natürlich Rekordgewinne. 14 Jahren auf 20 Prozent steigen. Das bedeutet: Durch
EnBW und RWE haben insgesamt 14 000 Mitarbeiter den steigenden Anteil dieser heimisch erzeugten Energie
entlassen. Andere Konzerne veranstalten Übernahmen nimmt die Versorgungssicherheit zu. Mehr erneuerbare
mit riesigen Summen: 29,1 Milliarden Euro will Eon für Energien entlasten die Geldbeutel der Verbraucher. Sie
die spanische Endesa berappen. Bezahlt wird das Ganze fangen die hoch drehende Preisspirale bei Öl und Gas
aus den Taschen der Verbraucher. auf. Die CO2-Einsparung wird jährlich 270 Millionen
(Ulrich Kelber [SPD]: Und Verbraucherin- Tonnen betragen. Bis 2020 werden 330 000 neue Ar-
nen!) beitsplätze entstehen.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
– Natürlich auch der Verbraucherinnen. – Weitere Bei-
spiele: 6 Milliarden Euro pro Jahr steckt das Stromoligo- Es ist aber zu fragen, ob sich die erneuerbaren Ener-
pol im Rahmen des Emissionshandels in die eigene Ta- gien tatsächlich durchsetzen können. Zurzeit werden sie
sche. 18 Milliarden Euro zahlen die Kunden jedes Jahr vom Energiekartell behindert, sei es beim Anschluss ans
allein für die Nutzung der Stromnetze; aber nur 2 Mil- Netz, sei es durch unzureichenden Ausbau der Strom-
liarden Euro fließen davon in die Netze zurück. Alles in trassen, um zum Beispiel Windstrom einzuspeisen. Die
allem kann man sagen: Die Energiekartelle ziehen den CDU/CSU stimmt in diesen Chor kräftig mit ein. Die
Bürgerinnen und Bürgern ungeniert das Geld aus der Ta- erste Strophe des Liedes lautet, das EEG müsse abge-
sche. schafft werden. Die zweite Strophe – wen wundert’s –
2640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Hans-Kurt Hill
(A) heißt, Atomkraftwerke müssten länger laufen. Eine (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
derart ideologische Polemik hat nun wirklich nichts mit NEN]: Sie brauchen doch Herrn Müller, damit
einer vernünftigen Energiepolitik zu tun. er Ihnen erzählt, was draußen los ist!)
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Diese ist auch dringend notwendig, um unsere Ziele zu
NIS 90/DIE GRÜNEN) erreichen.
Für eine bezahlbare, klimafreundliche und sichere (Beifall bei der CDU/CSU)
Energieversorgung müssen Sie schon etwas mehr tun:
Frau Künast, Sie haben die Verbraucher angespro-
erstens Energieeinsparung durch einen klaren ordnungs-
chen. Was die Energiekosten für die Verbraucher angeht,
rechtlichen Rahmen, zweitens Umschalten auf erneuer-
waren es doch die Grünen, denen die beim Endverbrau-
bare Energien und drittens schnellstmöglicher Ausstieg
cher anfallenden Kosten nicht hoch genug sein konnten.
aus der gefährlichen Atomwirtschaft.
Diese Linie haben Sie immer verfolgt. Jetzt aber präsen-
Unser Fazit: Die Energiewende fällt wegen Stillstands tieren Sie sich als die großen Heilsbringer.
aus und die Zeche zahlen die Bürgerinnen und Bürger.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das ist der Gipfel!
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, Frau Künast.
Danke.
Sie haben den mangelnden Wettbewerb in Deutschland
(Beifall bei der LINKEN) angesprochen. Warum haben Sie in den vergangenen
Jahren nichts unternommen, um nach 1998 den Wettbe-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werb im Stromsektor zu erhalten? Er ist nämlich deshalb
Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier, CDU/ nicht erhalten geblieben, weil Sie die Gesetzgebung
CSU-Fraktion. nicht entsprechend nachjustiert haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das war die SPD!)
Franz Obermeier (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich Noch ein Punkt, Frau Künast: In der Tat – darin stim-
möchte nahtlos an die Rede des Parlamentarischen men wir zufällig überein – kann der Energieverbrauch in
Staatssekretärs Müller anschließen. der Bundesrepublik Deutschland halbiert werden. Darin
gebe ich Ihnen Recht. Aber das geht mit einer Deindus-
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trialisierung und dem Abbau von Arbeitsplätzen in der
NEN]: Das wird Herrn Müller besonders
(B) Bundesrepublik Deutschland einher. Dann haben Sie Ihr (D)
freuen! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Ziel erreicht. Ihre Politik scheint mir nämlich nach wie
GRÜNEN]: Da sind ja die Richtigen zusam- vor in eine Richtung zu führen, durch die Arbeitsplätze
men!)
verloren gehen und noch mehr profitable Industrieunter-
Denn er hat den Kern der gesamten Problematik exakt nehmen aus Deutschland vertrieben werden.
getroffen, indem er die Analyse der globalen Herausfor-
(Beifall bei der CDU/CSU)
derung der vergangenen Jahre noch einmal erläutert und
uns deutlich gemacht hat, was wir in Zukunft in Europa Was mit dem Energiegipfel eingeleitet wurde, deutet
am globalen Energiemarkt zu erwarten haben. einwandfrei in die richtige Richtung. Es ist längst ein
Generalkonzept für die Bundesrepublik Deutschland und
Im Kontrast dazu stand die Rede der Kollegin Künast,
Europa mit Blick auf die globale Entwicklung überfällig.
die den Blick wieder auf eine rein nationale Diskussion
Deswegen sollten wir der Bundesregierung danken, dass
der Fragen verengt hat, die wir schon in den vergange-
sie die Dinge jetzt in die Hand genommen hat.
nen Jahren mit fatalen Folgen für das Land aus einer na-
tionalen Betrachtungsweise hin- und hergewendet ha- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
ben. Sie haben von einer Blockade gesprochen, Frau GRÜNEN]: Die interessiert sich aber nicht da-
Künast. Das stimmt, es gab eine Blockade Ihrerseits für für, was Sie hier erzählen! – Renate Künast
Investitionen in die richtige Richtung. Es gab aber unse- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Bun-
rerseits keine Blockade bei den erneuerbaren Energien, desregierung? Gucken Sie mal zur Regie-
speziell bei der Windkraft. rungsbank! Sie haben gar keine Bundesregie-
rung!)
Die Politik hinsichtlich der gesamten Energieversor-
gung in der Bundesrepublik Deutschland ist durch die Ich möchte noch auf einen weiteren Punkt hinweisen.
grüne Ideologie in eine völlig falsche Richtung gegan- Bei allen Entwicklungen der vergangenen Jahre war
gen. nicht alles falsch. Aber der ökologische Aspekt wurde
nicht im gleichen Maße wie der ökonomische und der
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
soziale Aspekt berücksichtigt.
NEN]: Was? Sie führen unsere Politik doch
weiter!) Vor dem Hintergrund der globalen Herausforderung
Jetzt kommt es durch die Initiative der Bundeskanzlerin (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gott sei Dank zu einer Diskussion, die in erster Linie NEN]: Die gab es aber schon vor zehn Jah-
von Ideologiefreiheit geprägt ist. ren!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2641
Franz Obermeier
(A) muss jetzt beispielsweise beim Zertifikatehandel zur Ich bin gespannt, ob Sie in Zukunft den Anstieg der Ge- (C)
CO2-Minderung ein globaler Ansatz verfolgt werden. winne der Energiekonzerne durch kostenlose Emissions-
Wir als CDU/CSU-Fraktion werden uns weiter für eine zertifikate endlich stoppen werden und den Mut haben,
effiziente CO2-Minderung dergestalt einsetzen, dass wir in ein Versteigerungsverfahren einzusteigen, anstatt wie
unsere Mittel weltweit möglichst effizient zugunsten des bisher die Zertifikate zu verschenken. Wir warten ge-
bestmöglichen Abbaus von Emissionen verwenden. spannt auf Ihre Antworten.
(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
NEN]: Dann sollten Sie die Zertifikate verstei-
Der Energiegipfel ist ein Gipfel der verpassten Chan-
gern, Herr Obermeier! – Renate Künast
cen. Statt Antworten zu geben, haben Sie von der SPD
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Weltweit
an der klimaschädlichen Kohle und Sie von der Union an
Zertifikate versteigern!)
der problematischen Kernenergie festgehalten.
Die Blockade eines grünen Umweltministers, was JI und
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
CDM im Allgemeinen betrifft, gehört Gott sei Dank der
SES 90/DIE GRÜNEN)
Vergangenheit an.
Wo sind Ihre Antworten auf die gesellschaftlich relevan-
Ich bedanke mich bei der Bundeskanzlerin dafür,
ten Fragen, etwa wie man in Zukunft seine Wohnung be-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zahlbar beheizen kann – das ist für sozial Schwache in-
NEN]: Die ist doch gar nicht da!) zwischen zu einem zentralen Problem geworden – oder
wie man den vielen Menschen in den ländlichen Räumen
dass sie die Initiative ergriffen hat. Sie wird mit Sicher- helfen kann, die bald nicht mehr die Kosten für die Au-
heit Erfolg haben, wenn wir im Laufe dieses Jahres bzw. tofahrt zu ihrem Arbeitsplatz aufbringen können, weil
Anfang nächsten Jahres in die Diskussion eintreten wer- die Rohölpreise ständig steigen? Wir haben keine Ant-
den. worten gehört.
Herzlichen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sie haben nur über Strom geredet, nicht aber über Heiz-
neten der SPD) oder Treibstoffe.
Oder die steigenden Strompreise: Alle wissen – die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern –, dass der
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege durch die Energiekonzerne verhinderte Wettbewerb die
(B) Hans-Josef Fell. Strompreise ständig weiter nach oben treibt. (D)

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sowie bei Abgeordneten der FDP)
Herren! Herr Staatssekretär Müller, Sie wollen die He- Sie sind auch hier Antworten schuldig geblieben und ha-
rausforderungen Klimaschutz und Versorgungssicherheit ben weiterhin Konzernpolitik gemacht.
in den Mittelpunkt stellen; das ist richtig. Aber bislang
reden Sie nur davon. Haben Sie noch nicht gemerkt, dass Oder wo geben Sie Antworten, wenn es um die stei-
Sie in der Regierung sind, dass Sie Antworten liefern genden Ausgaben und die fehlenden Einnahmen im
müssen und nicht nur Fragen stellen können? Bundeshaushalt geht? Wir haben nichts von Ihnen dazu
gehört, wie Sie die Kohlesubventionen reduzieren wol-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) len, um den Haushalt zu sanieren.
Warum haben Sie die zentralen Fragen, die Sie zu Recht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
gestellt haben, nicht in den Mittelpunkt des Energiegip- sowie bei Abgeordneten der FDP)
fels gestellt? Das ist Ihr Versäumnis.
Wir haben von Ihnen nicht gehört, dass Sie endlich öko-
(Parl. Staatssekretär Hartmut Schauerte: Haben wir logisch schädliche Subventionen abbauen wollen. Wo
doch! Sie waren doch gar nicht dabei!) sind denn Ihre Antworten auf die Fragen nach einer
Flugbenzinbesteuerung, einer Schiffdieselbesteuerung
Wir müssen Antworten geben, und zwar andere als
und einer Besteuerung der Rückstellungen für die Atom-
die auf dem Energiegipfel. Stattdessen schieben Sie uns,
kraftwerke? Wenn Sie über fehlende Haushaltseinnah-
den Grünen, die wir in der letzten Wahlperiode eine er-
men sprechen, dann schlagen Sie plötzlich eine Besteue-
folgreiche Energiepolitik gemacht haben, noch etwas in
rung der Biokraftstoffe vor. Dabei sind diese Kraftstoffe
die Schuhe, was nichts anderes als eine falsche Behaup-
eine der großen Zukunftshoffnungen auf bezahlbare
tung ist. Sie sagen, wir hätten die Effizienz nicht gestei-
Energiepreise für die Bürger und Gewährleistung der
gert. Wer hat denn die von uns ständig gestellten
Versorgungssicherheit durch heimische Energieträger.
Anträge auf Erhöhung der Mittel für das Altbausanie-
rungsprogramm sowohl im Haushaltsausschuss als auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
im Plenum des Bundestages abgelehnt? Sie von der
SPD. Mit der von Ihnen geplanten Mehrwertsteuererhöhung
werden Sie stattdessen den Bürger mit etwa 120 Euro für
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Strom, Heizung und Treibstoffe pro Haushalt stärker
2642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Hans-Josef Fell
(A) belasten. Meine Damen und Herren von der großen Ko- Rolf Hempelmann (SPD): (C)
alition, das sind keine Antworten auf die gestiegenen Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe
Energiepreise. Kollegen! Herr Fell, man muss irgendetwas haben, wo-
gegen man kämpfen kann. Deswegen haben Sie jetzt die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mär von den neuen Atomkraftwerken erfunden. Aber
Außerdem sind Sie eine Antwort auf den Atomstreit wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Weder
schuldig geblieben. Kanzlerin Merkel hat ihn einfach die CDU/CSU noch die SPD hat ein solches Ziel formu-
weitertreiben lassen, obwohl im Koalitionsvertrag alles liert. Es steht auch nicht auf einer „hidden agenda“. Sie
klar festgelegt ist. Das ist ein großes Problem; denn können sich gerne politische Gegner suchen. Aber je-
diese Hängepartie beim Atomausstieg wird weitergehen. denfalls an dieser Stelle ist das fehl am Platz.
Sie wird ein Investitionshemmnis sein. Wir werden nach (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
2009 möglicherweise noch immer nicht wissen, wie es
weitergeht, ob die Branche der erneuerbaren Energien Meine Damen und Herren, die Grünen haben diese
ihr Versprechen halten kann, in den nächsten 15 Jahren Aktuelle Stunde zum Energiegipfel gefordert. Sie haben
200 Milliarden Euro zu investieren. – das ist aus den Wortbeiträgen deutlich geworden –
große Erwartungen an diesen Gipfel geknüpft, die jetzt
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- offenbar enttäuscht worden sind. Wir dürfen diese gro-
SES 90/DIE GRÜNEN) ßen Erwartungen als Kompliment empfinden. Wir selbst
Denn wenn Sie an der Atomenergie festhalten und es zu- haben so große Erwartungen, dass nämlich sofort, auf ei-
lassen, dass neue fossile Kraftwerke gebaut werden, nen Schlag und an einem Tag Lösungen präsentiert wer-
dann wird das Volumen für den Ausbau der erneuerbaren den, nie gehabt.
Energien und die Nutzung von Effizienzmöglichkeiten (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
verringert. Dann wird zu viel Strom auf dem Markt sein GRÜNEN]: Ich gestehe, wir haben uns ge-
und Chancen für die Schaffung von Arbeitsplätzen und täuscht!)
für Investitionen werden nicht mehr gegeben sein.
Das war eine eher naive und insofern – ich unterstelle Ih-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen ja nicht Naivität – vorgeschobene Erwartung.
Dagegen hängen Sie sich an die uralten Versprechun- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
gen der Stromwirtschaft, die da 20 Milliarden Euro in GRÜNEN]: Ihnen etwas zuzutrauen, ist in der
fossile Kraftwerke zu investieren verspricht. Das hatte Tat naiv!)
sie schon lange versprochen. Auch die 10 Milliarden
(B) Euro für die Netze sind nichts Neues. Es geht darum, einen Auftakt zu organisieren – das ist (D)
gelungen –, einen Prozess hin zu einem Energiepro-
Kommen wir zum Schluss noch zur Forschung. gramm. Man muss eingestehen: Das haben wir beide zu-
2 Milliarden Euro mehr wollen Sie für die Energiefor- sammen jedenfalls nicht zustande gebracht.
schung ausgeben. Ich bin gespannt, ob Sie dieses (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Versprechen zwischen der ersten Beratung des Bundes-
haushaltes und der zweiten Beratung durch Änderungs- Dieser Auftakt ist gelungen.
anträge von Ihnen in den Ausschüssen und im Plenum
Eben ist behauptet worden, es seien nur die Energie-
einhalten. Wenn nicht, dann wäre das ein leeres Verspre-
versorgungsunternehmen eingeladen worden. Das ist na-
chen. Denn was jetzt im Haushalt steht, das wissen wir.
türlich völliger Unsinn. Genauso sind auch die energie-
Wenn die 2 Milliarden Euro neues Geld sein sollen, dann
verbrauchende Seite, die Wissenschaft und eigentlich
müssen sie auch auftauchen. Dabei müssen wir auch
alle, die mit Energiewirtschaft oder -verbrauch oder
wissen, wofür das Geld ausgegeben wird.
überhaupt mit der breiten Verbraucherschaft zu tun ha-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben, eingeladen worden. Ich glaube, das kann man
durchaus an den Ergebnissen und an den Diskussions-
Heute wird in der „FAZ“ Bundesministerin Schavan themen ablesen.
zitiert. Sie hat angekündigt, dass im Atombereich nicht
nur für Sicherheits- und Endlagerforschung bezahlt wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
den soll, sondern auch für die Erforschung notwendiger Es ist eben nicht nur über Versorgungssicherheit gespro-
Energiegewinnung aus Kernkraftwerken. Damit ist die chen worden. Es ist auch über Umweltverträglichkeit
Katze aus dem Sack: Sie wollen neue Atomkraftwerke in und über Preiswürdigkeit gesprochen worden – wie ge-
diesem Staat. Das werden wir zu verhindern wissen. sagt, nicht mit unmittelbaren Ergebnissen bei allen The-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie men.
des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD]) Unsere Fraktion begrüßt die Investitionsankündigun-
gen sowohl für den konventionellen Kraftwerkspark als
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch für die erneuerbaren Energien und für die Netze.
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann, SPD- Ich diffamiere das nicht, wie es einige Redner getan ha-
Fraktion. ben. Es ist auch Unsinn, wenn Sie, Herr Fell, behaupten,
dass Investitionen in konventionelle Kraftwerke dazu
(Beifall bei der SPD) führten, dass Investitionen in erneuerbare Energien un-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2643
Rolf Hempelmann
(A) terblieben. Immerhin sind für beide Bereiche Ankündi- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C)
gungen auf dem Gipfel erfolgt. Sie werden nicht behaup-
ten, dass die Ankündigungen der Unternehmen im Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bereich erneuerbarer Energien unseriös gewesen seien. Als Nächstes spricht Katherina Reiche, CDU/CSU-
(Beifall der Abg. Dr. Maria Flachsbarth [CDU/ Fraktion.
CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Diese Investitionsankündigungen sind schon deshalb zu der SPD)
begrüßen, weil sie die Knappheit im Energie- und gerade
auch im Stromangebot verringern werden. In erster Linie Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU):
Knappheit verursacht hohe Preise und nichts anderes. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Energiegipfel hat die Bundesregierung den
Jenseits dieser Investitionsankündigungen ist es not- Startschuss zur Erarbeitung eines energiepolitischen Ge-
wendig, dass der Prozess hin zu einem Energiepro- samtkonzepts gegeben. Das Ziel ist, eine bezahlbare,
gramm jetzt auch unter Beteiligung der Fraktionen orga- eine sichere, eine wettbewerbsfähige und eine umwelt-
nisiert wird. Es wird Zeit, dass wir sozusagen mit an freundliche Energieversorgung bis zum Jahr 2020 si-
Bord kommen. Außerdem ist wichtig, dass die Politik cherzustellen.
die notwendigen Rahmenbedingungen schafft, damit
diese Investitionen keine Ankündigungen bleiben, son- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
dern tatsächlich stattfinden. GRÜNEN]: Das kann ja dauern! Jetzt wird
bald mit der Erarbeitung begonnen! Der Be-
Wir brauchen sehr bald ein Planungsbeschleuni- ginn der Erarbeitung steht kurz bevor!)
gungsgesetz – es ist in Arbeit und wir werden es auch
vorlegen –, das diesen Namen verdient. Die Betonung liegt auf „bis zum Jahr 2020“. Das heißt,
wir planen weit über diese Legislaturperiode hinaus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU) In meinen Augen war der Energiegipfel ein Erfolg;
denn es ist gelungen, in einen sachlichen Dialog über die
Wir brauchen zügig die Einigung zum NAP II – das ist Energiepolitik in unserem Land einzusteigen.
auch ein Stück weit Appell an die beiden Ministerien –,
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das tut uns
damit wir als Parlament unseren Beitrag leisten können.
gut!)
Nach der Sommerpause brauchen wir natürlich auch die
Verordnung zur Anreizregulierung; denn nur über mehr Herr Fell, das ist das Gegenteil von dem, was zu Zeiten
(B) Wettbewerb – das ist das Ziel der Anreizregulierung – Ihrer Regierungsbeteiligung passiert ist. (D)
werden wir letztlich das Ziel erreichen, zu sinkenden
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Strom- und Energiepreisen zu kommen.
Alte Grabenkämpfe, also das Ausspielen eines Ener-
Es ist wunderbar, ein Feindbild zu haben. Es ist wun- gieträgers gegen den anderen, das Ausspielen von Um-
derbar, immer auf den großen Unternehmen herumzuha- welt gegen Wirtschaft, von Erzeuger gegen Verbraucher,
cken. Zum Teil haben sich diese Unternehmen die Kritik haben bei diesem Gipfel Gott sei Dank keine Rolle ge-
ehrlich erarbeitet. Manchmal trifft man durchaus die spielt. Ich finde, das ist ein gutes Zeichen und es ist eine
richtigen dabei. Aber es ist eine grobe Vereinfachung, so gute Grundlage für die weitere Arbeit.
zu tun, als wenn allein die Beschimpfung der Großen
oder der eine oder der andere Nadelstich an der einen (Beifall bei der CDU/CSU)
oder an der anderen Stelle die Realität hoher Energie- Die Investitionszusagen, die auf dem Energiegipfel
preise verändern würde. Wir werden sie nur durch mehr gemacht wurden, finde ich sehr begrüßenswert. Wie wir
Wettbewerb verändern. wissen, reichen Zusagen allein nicht aus. Diese Zusagen
(Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ implizieren natürlich auch die Pflicht, Investitionen fol-
CSU]) gen zu lassen. Wir haben einen Investitionsstau zu ver-
zeichnen, sowohl im Kraftwerksbereich als auch bei den
Da sind insbesondere die von uns gegründete Bundes- Netzen. Der Kraftwerkspark in Deutschland ist ein we-
netzagentur und natürlich auch die Politik in Form des nig in die Jahre gekommen. Er muss modernisiert wer-
Verordnungsgebers Bundesregierung – die Federführung den. Wenn wir tatsächlich die effizientesten und
liegt beim Wirtschaftsministerium – gefordert. modernsten Kraftwerke entwickeln wollen, dann ist der
Ich bin optimistisch, dass wir die notwendigen anstehende Erneuerungsbedarf nicht zu übersehen.
Schritte gehen. Ich verstehe die Ungeduld der Grünen, Aber es geht nicht nur darum, alte Kraftwerke zu er-
die daraus resultiert, dass sie schnelle Ergebnisse wün- setzen, sondern auch darum, neue zu bauen. Wir brau-
schen. Aber auch wir haben eine gewisse Zeit für das chen zusätzliche Stromkapazitäten im Markt, damit die
Energiewirtschaftsgesetz und für die Installation dieser Preise bezahlbar bleiben und damit der dringend not-
Behörde gebraucht. Jetzt sollten wir in der Lage sein, so wendige Wettbewerb gestärkt wird.
viele Monate zu warten, wie gebraucht werden, um
Wettbewerb zur Realität zu machen. Das Ganze ist aber keine Einbahnstraße. Wenn wir
von der Wirtschaft erwarten, dass sie investiert, dann er-
Vielen Dank. wartet die Wirtschaft von uns zu Recht Verlässlichkeit,
2644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Katherina Reiche (Potsdam)


(A) also eine Energiepolitik, die es ihr gestattet, wettbe- den Kernkraftwerken, um Effizienzsteigerung, um Ener- (C)
werbsfähig zu bleiben. gieforschung und um erneuerbare Energien.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Von Henry Ford soll der Ausspruch stammen: Zusam-
neten der SPD) menkunft ist ein Anfang, Zusammenhalt ist ein Fort-
schritt und Zusammenarbeit ist der Erfolg. – Das möchte
Ich freue mich, dass auf dem Energiegipfel Investi- die Koalition. Das wird diese Bundesregierung unter Be-
tionszusagen für die erneuerbaren Energien gemacht weis stellen.
wurden. Das ist ein ganz wichtiges Signal dafür, dass
sich die Förderung der erneuerbaren Energien für den Vielen Dank.
Wirtschaftsstandort Deutschland auszahlt. Bei den er- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
neuerbaren Energien liegt – das ist heute mehrfach be-
tont worden – ein enormes Innovations-, Wachstums-
und Beschäftigungspotenzial. Sie werden uns mit Si- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
cherheit helfen, unsere Importabhängigkeit langfristig zu Als Nächstes hat das Wort der Kollege Frank
verringern. Sie leisten einen positiven Beitrag zum Kli- Schwabe, SPD-Fraktion.
maschutz. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marie-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Luise Dött [CDU/CSU])
der SPD)
Frank Schwabe (SPD):
Richtig ist aber auch, dass es noch weiterer Anstren- Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!
gungen und technischer Fortschritte bedarf, weil die er- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ausstoß des
neuerbaren Energien momentan noch nicht ohne Förde- Treibhausgases Kohlendioxid ist im letzten Jahr in
rung am Markt bestehen können. Deshalb müssen wir in Deutschland leicht zurückgegangen. Das ist gut so.
Forschung und Entwicklung mehr tun. Weltweit befindet sich die CO2-Konzentration aber auf
Herr Kollege Fell, es ist eine bemerkenswerte Zusage einem Rekordniveau. Nur 1987 und 1998 gab es einen
der Bundesregierung, finde ich, in den Bereichen For- höheren Anstieg der CO2-Emissionen.
schung und Innovation sowie Energieforschung 30 Pro- Das war vor dem Energiegipfel so. Das ist leider auch
zent mehr auszugeben. nach dem Energiegipfel so. Dass es aber nicht so bleibt,
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- war eines der Ziele des Energiegipfels. Deswegen ist es
NEN]: Wir wollen mal sehen, ob das realisiert gut, dass es den Energiegipfel gegeben hat.
(B) wird! – Gegenruf von der SPD: Und für was!) (Beifall bei der SPD) (D)

Wir reden hier immerhin von 2 Milliarden Euro bis Dass die Grünen natürlich relativ krabitzig Kritik
2009. Wenn das kein wichtiges und deutliches Signal ist, üben, kann ich nachvollziehen; dass sie versuchen, im-
Herr Kollege Fell, dann weiß ich nicht. In Ihrer Regie- mer wieder einen Keil zwischen die Regierungsfraktio-
rungszeit zumindest haben wir auf solche Zusagen war- nen zu treiben, ist auch nachvollziehbar.
ten müssen.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) GRÜNEN]: Wir sitzen als Keil dazwischen! –
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Wir müssen in der Sicherheitsforschung und bei der NEN]: Gut, dass Sie es noch mal ansprechen!)
Energieeffizienz vorankommen. Wir müssen Ressourcen
und Energie intelligenter nutzen. Aber glauben Sie mir: Das werden wir mit einer gewis-
sen Gelassenheit hinnehmen, weil wir wissen, für wel-
Herr Kollege Fell, ich möchte Sie noch ein weiteres che Energiepolitik wir eigentlich stehen. Wir werden
Mal ansprechen. Sie haben gesagt: Angela Merkel hat auch dafür sorgen, dass ein großer Teil dieser Energiepo-
den Streit über das Thema Kernkraft beiseite gelassen litik umgesetzt wird.
und hat dieses Thema nicht aufgenommen. – Das ist
falsch. Sie hat sehr wohl darauf hingewiesen, dass das, Die Bundesregierung will bis Ende 2007 ein energie-
was im Koalitionsvertrag steht, gilt, nämlich dass es ei- politisches Konzept für die Zeit bis 2020 vorlegen, das
nen Dissens gibt. – das ist schon gesagt worden – Versorgungssicherheit,
wettbewerbsfähige Energiepreise und wirksamen Klima-
Erlauben Sie mir den folgenden Hinweis: Wenn der schutz miteinander verknüpft.
Kernenergieanteil an der Stromversorgung derzeit
30 Prozent beträgt, dann kann man schlechterdings nicht Im internationalen Klimaschutz gilt für Deutschland
ausblenden, dass es so ist, wie es ist, weil wir – da wie- – die Notwendigkeit hat der Herr Staatssekretär vorhin
derhole ich, was ich am Anfang meiner Rede schon ge- schon eindrucksvoll geschildert –, aber auch für die an-
sagt habe – über die nächsten 25 Jahre reden müssen. deren großen Kiotoländer: Wenn wir wollen, dass die an-
deren folgen, müssen wir weiterhin mit gutem Beispiel
Wenn man die Strategie, die die Bundesregierung ver- vorangehen. Insbesondere für Deutschland gilt hierbei:
folgt, auf wenige Worte zusammendampfen müsste, Wenn wir unserer Vorreiterrolle im internationalen Kli-
dann würde sie lauten: Es geht im Kern um fünf Dinge: maschutz gerecht werden wollen, dann müssen wir uns
um Energiemärkte und Wettbewerb, um Erneuerung bei ehrgeizige Ziele setzen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2645
Frank Schwabe
(A) (Beifall bei der SPD) so effizient sein, dass wir das Kiotoziel der CO2-Sen- (C)
kung bis 2012 um 21 Prozent erreichen. Es bleibt im
Deshalb haben sich CDU, CSU und SPD bereits im Rahmen des Emissionshandels ein dauerhaftes Ärgernis,
Koalitionsvertrag dazu verpflichtet, eine Reduktion der dass der Emissionshandel dazu dient bzw. dazu genutzt
CO2-Emissionen um mehr als 30 Prozent bis 2020 anzu- wird, dass die großen Energieversorger sich zulasten von
streben, wenn sich denn die EU insgesamt zu einer Re- Bürgerinnen und Bürgern sowie der Industrie die Ta-
duzierung um 30 Prozent verpflichtet. Dabei sollte uns schen füllen. Das marktwirtschaftliche Instrument des
die von der Energie-Enquete-Kommission des Bundesta- Emissionshandels muss im Bereich der Monopolstruktur
ges in der letzten Legislaturperiode geforderte Reduzie- der großen Energieversorger eigentlich zwangsläufig
rung um 40 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis versagen. Es bleibt also unser Auftrag, den Emissions-
2050 als Wegmarke dienen. handel mittelfristig so zu gestalten, dass er dem Klima-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) schutz dient und Mitnahmeeffekte der großen Energie-
versorger vermeidet.
Auf dem Weg dahin brauchen wir einen Energiemix,
der klimaschonend, sicher und eben auch bezahlbar ist. (Beifall bei der SPD)
Dazu gehören erneuerbare Energien, eine höhere Ener- Verehrte Damen und Herren, beim Energiegipfel ging
gieeffizienz, eine stärkere Unabhängigkeit von Ener-
es um den zukünftigen Energiemix. Dabei ist die Ge-
gieimporten, aber für eine bestimmte Zeit – Sie müssen schichte der erneuerbaren Energien eine besondere Er-
sonst die Frage beantworten, wie das anders gehen soll –
folgsgeschichte. Das wird besonders deutlich, wenn man
eben auch eine möglichst effiziente Nutzung der heimi-
– ich habe gestern im Umweltausschuss die Gelegenheit
schen Stein- und Braunkohle. genutzt – noch einmal in den Protokollen von vor
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der 20 Jahren nachliest, was damals bezüglich der Entwick-
Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]) lung der erneuerbaren Energien prognostiziert wurde. Da
haben nämlich viele gesagt, sie würden niemals
Dabei ist die geplante Erneuerung des Kraftwerksparks Marktreife erlangen. Jetzt sind wir nicht weit davon ent-
sowohl wirtschaftlich als auch klimapolitisch sinnvoll. fernt.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dasselbe allerdings – da fand ich die Bemerkung in
CDU/CSU) Richtung der Grünen richtig – muss uns auch bei der
Allerdings muss die Errichtung solcher neuen Kraft- Energieeffizienz gelingen. Auch das muss eine Erfolgs-
werke zwingend im Rahmen einer allgemeinen Effizi- geschichte der Bundesrepublik Deutschland werden.
enz- und Einsparstrategie erfolgen. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katherina
(B) (D)
Es ist, wie es ist. Die Atomenergie ist aus unserer Reiche [Potsdam] [CDU/CSU] – Beifall beim
Sicht nicht notwendiger Teil eines modernen Energie- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
mixes und sie wird auch nicht Teil des zukünftigen Ener- Das ist nicht nur klimapolitisch, sondern in hohem Maße
giemixes sein, solange Sozialdemokratinnen und Sozial- auch wettbewerbspolitisch geboten. Ein Mehr an Ener-
demokraten Regierungsverantwortung tragen. Da kann gieeffizienz macht uns günstiger, unabhängiger und in-
ich die Grünen beruhigen. novativer. Gut, dass das jetzt eines der Schwerpunktthe-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men auf der Arbeitsebene ist.
der CDU/CSU) Zusammengefasst: Der Energiegipfel war besser, als
Allein schon wegen der notwendigen Erneuerung des manche erwartet haben, auch wenn sich einige ärgern.
Kraftwerksparks macht der vereinbarte Ausstiegsfahr- Nun kommt es auf eine intensive Arbeit in den kommen-
plan Sinn, weltweit gesehen erst recht. Ich finde es gera- den Monaten an. Die Voraussetzungen dafür sind jetzt
dezu rührend, wie die Chefs der großen Energieversor- geschaffen.
ger, vermeintlich aus Sorge um den Strompreis und den Vielen Dank.
Klimaschutz, für eine Verlängerung der Nutzung der
Atomenergie eintreten, wohl wissend, dass sie bei bei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den Themen ganz andere Schlüssel in der Hand halten. der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia
Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Philipp
Angesichts des minimalen Anteils der Atomenergie am Mißfelder das Wort.
weltweiten Energieaufkommen wird klar, dass die
Atomenergie jedenfalls die Klimaproblematik nicht ein- (Beifall bei der CDU/CSU)
mal im Ansatz lösen wird.
Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
(Dr. Karl Addicks [FDP]: Steinkohle aber erst
recht nicht!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Der Energiegipfel ist in zweierlei Hin-
Apropos Strompreis – dazu ist gerade auch schon et- sicht ein großer Erfolg gewesen. Darauf möchte ich in
was gesagt worden –: In diesem Jahr wird uns der Emis- meinen weiteren Ausführungen eingehen. Zunächst
sionshandel in besonderer Weise beschäftigen. Er muss möchte ich allerdings den Grünen ganz herzlich danken,
2646 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Philipp Mißfelder
(A) dass wir diese Erfolge am heutigen Tage hier deutlich – Herr Tauss, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie dazwi- (C)
machen können. Vielen Dank, dass Sie diese Aktuelle schenrufen; denn genau an dieser Stelle hatte ich Ihren
Stunde beantragt haben Zwischenruf in meiner Rede eingeplant.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Ulrich Kelber [SPD]: Aber wer hat denn die
Dr. Rainer Tabillion [SPD]) Studie in Auftrag gegeben?)

und sie nutzen, damit Sie lernen, wie wir die Energiepo- – Der Fernsehsender N24 hat eine Emnid-Umfrage in
litik der Zukunft gestalten wollen. Auftrag gegeben. Aber unabhängig von den politischen
Konsequenzen, die man daraus ziehen kann, sieht man
Der Energiegipfel ist nicht nur deshalb ein Erfolg, an diesen Umfragewerten eindeutig, dass sich im Be-
weil er, wie von meinen Vorrednern ausgeführt, tatsäch- wusstsein der Bevölkerung etwas verändert hat. Deswe-
liche Ergebnisse für die zukünftige Energiepolitik bringt, gen muss die Politik Antworten auf diese wichtigen Fra-
sondern auch, weil er sozusagen den Anfang vom Ende gen finden.
einer ideologiegeprägten Energiepolitik in unserem (Beifall bei der CDU/CSU)
Land darstellt. Das war am Montag der Fall.
Die Ursachen für die steigenden Energiepreise in
(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Josef Fell Deutschland – darüber haben wir schon diskutiert – sind
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hier von in erster Linie die schwindenden Reserven an herkömm-
Ideologie redet, hat keine Antwort auf Fra- lichen Energieträgern wie Öl, Kohle oder Gas.
gen!)
(Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die Entscheidung, einen Energiegipfel an den Beginn NEN]: Und Uran!)
der Legislaturperiode zu stellen, war richtig; denn es war
Deswegen ist es richtig, dass wir versuchen, auf Dauer
überfällig, der Energiepolitik in Deutschland wieder eine
ausgerichtete Antworten auf die drängenden Fragen zu
verlässliche Basis zu geben und sich damit einer entideo-
finden. Eine Frage ist, wie wir auf den Energiehunger
logisierten Diskussion zu stellen, die wirklich sinnvoll
der aufstrebenden Wirtschaftsmächte China, Indien und
ist. Denn tatsächlich ist es das allgemeine Anliegen des
Brasilien in Zukunft reagieren wollen und wie wir Ener-
Hauses, auch in Zukunft Energiesicherheit zu gewähr-
giesicherheit für die nächsten Jahrzehnte gewährleisten
leisten. Wir sind unserer Bundeskanzlerin Angela
können. Dabei können und wollen wir uns aber auf
Merkel dankbar, dass sie als eine ihrer ersten Maßnah-
Dauer keinen deutschen Sonderweg leisten. Deswegen
men diesen Energiegipfel einberufen hat. Mit dieser Ini-
ist es richtig, dass der Energiegipfel Perspektiven bietet,
tiative hat die Bundeskanzlerin bereits am Beginn ihrer
wie in Zukunft die Energiepolitik aussehen soll.
(B) Amtszeit klar gemacht, dass die Energiepolitik eines der (D)
Hauptthemen der großen Koalition ist. (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wenn er sie denn geboten hätte!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Am Ende jahrelanger ideologiebelasteter Diskussion
Das entspricht im Übrigen auch der Lebenswirklichkeit um Energiepolitik– vor allen Dingen die Grünen haben
der Privathaushalte und der deutschen Wirtschaft. Des- sich auf diesem Feld betätigt – wird ein schlüssiges Kon-
wegen war es so wichtig, dieses Thema auf die Tages- zept stehen, das dazu führen wird, dass auch die Indus-
ordnung zu setzen. trie in unserem Land endlich verlässlichere Rahmenbe-
dingungen vorfinden wird.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Sie fragen in dem Titel der Aktuellen Stunde nach
dem Beitrag des Gipfels zur Energieversorgungssicher-
Mit dem Energiegipfel wurde der Grundstein für ein heit. Diese Frage möchte ich Ihnen an dieser Stelle gerne
energiepolitisches Gesamtkonzept gelegt. Ein Ergebnis beantworten. Die Bundesregierung wird als Ergebnis des
des Energiegipfels ist die Einrichtung von Arbeitsgrup- Energiegipfels die Mittel für die Energieforschung deut-
pen; der Herr Staatssekretär hat es vorhin ausgeführt. lich aufstocken. So werden wir im Zeitraum von 2006
bis 2009 etwa 2 Milliarden Euro in neue Energietechno-
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich in logien investieren.
Deutschland die Stimmungslage der Bevölkerung verän-
dert. Die Sensibilität für das Thema Energiepolitik (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
wächst. Dies ist in erster Linie auf das Steigen der Ener- Die erneuerbaren Energien auch in Zukunft wirtschaft-
giepreise zurückzuführen und zeigt sich in den Diskus- lich sinnvoll zu stärken, ist einer der wichtigsten Punkte,
sionen über dieses Thema innerhalb der Familien. die wir sehen.
Dass sich etwas an der Stimmungslage verändert hat, (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/
sieht man an den aktuellen Umfragen. Am Dienstag mel- CSU])
dete dpa, dass die Mehrheit der Deutschen inzwischen
eine Verlängerung der Laufzeiten für deutsche Kern- Der Energiegipfel war ein großer Erfolg. Die Arbeits-
kraftwerke befürwortet. gruppen werden jetzt ihre Arbeit aufnehmen. Wir sind
mit dem Ergebnis vom Montag zufrieden und freuen
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. uns, dass wir heute so ausführlich darüber sprechen
Jörg Tauss [SPD]) konnten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2647
Philipp Mißfelder
(A) Vielen Dank. Stadtwerke und andere Akteure. Man kann sie nicht aus- (C)
schließen. Sie sind wichtig, wenn wir uns energiepoli-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tisch auf internationaler Ebene bewegen wollen und
neten der SPD)
dafür sorgen wollen, dass energie- und unternehmenspo-
litische Entscheidungen noch in Deutschland fallen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deshalb sollten wir sie nicht als Gegner sehen, sondern
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Tabillion, SPD- sie mit ins Boot nehmen. Wir sollten aber darauf achten
Fraktion. und sie dazu zwingen, dass sie die Dinge, die sie tun,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) transparent machen und dass sie sich ihrer gesellschafts-
politischen Verantwortung klar werden.
Dr. Rainer Tabillion (SPD): (Beifall bei der SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Das Wichtigste ist Effizienz; das ist heute schon oft
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Diese Ak- gesagt worden. Es ist falsch, den Leuten vorzumachen,
tuelle Stunde ist ein guter Auftakt für die Beschäftigung die Preise für Energie könnten sinken. Das werden wir in
des Deutschen Bundestages mit energiepolitischen The- den kommenden Jahren nicht erleben. Dazu sind die
men im Vorfeld der Erstellung eines energiepolitischen Rohstoffpreise zu hoch. Sie werden sich deutlich nach
Programms, das bis 2015 – oder besser noch: mindestens oben entwickeln. Es sind nicht nur die Wettbewerbs-
20 Jahre – gelten soll. strukturen hier im Land, die dazu beitragen, dass die
Das Parlament war in den Gipfel nicht eingebunden. Energie teurer wird. Insbesondere die Rohstoffpreise
Umso größer sollte unser Ehrgeiz sein, uns jetzt in die sind dafür verantwortlich. Deshalb werden wir die Ent-
Diskussion der kommenden Wochen einzubringen. Je- wicklung nicht stoppen können. Effizienz ist umso wich-
der, der hier vorgetragen und seine Vorstellungen entwi- tiger, als wir über Effizienz dafür sorgen können, dass
ckelt hat, ist eingeladen, das auszugestalten, was auf unsere Kosten, obwohl die Preise steigen, dadurch, dass
dem Gipfeltreffen angekündigt worden ist. wir aus den Energieträgern mehr herausholen und weni-
ger in die Luft blasen, stabil bleiben oder sogar sinken.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Ich glaube, dass es in diesem Haus eine ausreichende
Grundübereinstimmung bei den energiepolitischen The- Deutschland ist Vorreiter beim Klimaschutz und bei
men gibt, die in den nächsten vier Jahren im Zentrum der der Entwicklung und Vermarktung der Technologie der
Beschäftigung des Deutschen Bundestages stehen wer- erneuerbaren Energien. Wir sind auch Vorbild beim Ein-
satz dieser Energiearten in unserem Land. Das wollen
(B) den. Das gilt insbesondere dafür, dass wir energiepoliti- (D)
sche Rahmenbedingungen schaffen müssen, die weit wir auch bleiben.
über die Legislaturperiode und weit über das, was wir
Es ist in dem anstehenden Diskurs allerdings eine He-
politisch mit der CDU/CSU vereinbart haben, hinausge-
rausforderung für uns, dafür zu sorgen, dass die volks-
hen. Das gilt insbesondere auch für die angekündigten
wirtschaftlichen Kosten, die dabei entstehen, begrenzt
Milliardeninvestitionen in die Kraftwerks- und die Netz-
werden. Wir müssen im Rahmen der jetzt zu führenden
infrastruktur. Diese Investitionen, auf die wir alle schon
energiepolitischen Debatte die Instrumente hinterfragen,
lange warten, werden nur dann fließen, wenn es keine
mit denen wir fördern, und die Technologien, die wir
Hintertür für kurzfristige und ebenso kurzsichtige Profite
fördern. Das kann nicht ausbleiben; das muss man im-
ohne Investitionen gibt.
mer kritisch sehen, etwa die Frage, welche Lehren aus
In diesem Zusammenhang war es wichtig, dass Bun- dem bisherigen Verlauf des Emissionshandels zu ziehen
deskanzlerin Merkel auf dem Gipfel deutlich gemacht sind. Auch das muss man hinterfragen, wenn man eine
hat, dass sie zur Vereinbarung zum Ausstieg aus der neue Phase beginnt.
Atomenergie steht.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD – Ulrich Kelber [SPD]:
Eine realistische Beurteilung der Potenziale ist
Im Gegensatz zu Herrn Mißfelder!)
ebenso wichtig wie eine Risikostreuung im Energiemix.
Ich möchte in Richtung der Grünen deutlich machen: Es Wenn wir bis 2020 das ambitionierte Ziel, 25 Prozent
gibt überhaupt keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass des Strombedarfs regenerativ zu decken – und bis 2050
die SPD nicht am Ausstieg aus der Atomenergie festhält. sogar 50 Prozent oder mehr –, erreichen wollen, dann
Sie sollten das Lager derjenigen, die die Atomenergie können wir die konventionell bereitgestellten Energiear-
ablehnen, nicht durch derartige Reden, wie sie heute ge- ten nicht ausblenden. Denn dann müssen wir noch im-
halten worden sind, versuchen zu spalten. mer 50 Prozent der Energie konventionell erzeugen.
Deshalb ist es völlig unrealistisch, gleichzeitig aus der
(Beifall bei der SPD)
Atomenergie und der Kohle auszusteigen.
Lassen Sie mich einige Anmerkungen zu dem Prozess
(Beifall des Abg. Franz Obermeier [CDU/
machen, der jetzt beginnt und bis ins nächste Jahr andau-
CSU])
ern wird. Ich glaube, dieses Projekt kann nur gelingen,
wenn wir diejenigen, die mit uns gehen sollen, als Part- Da ich aus einem Kohleland komme und mich intensiv
ner betrachten. Die großen Energieversorgungsunterneh- und lange mit diesen Fragen befasst habe und weiß, dass
men gehören ebenso dazu wie die Regionalversorger, die keine andere Subvention für eine Energieart so sehr ge-
2648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Rainer Tabillion


(A) kürzt worden ist wie die für die Kohle, muss ich Ihnen Botschaften verkünden dürfen, möchte ich natürlich (C)
sagen, dass wir in Zukunft an dem Bodenschatz, den wir nicht zurückstehen.
unter unseren Füßen haben und der nach meiner Ein-
(Heiterkeit bei der SPD)
schätzung in den kommenden Jahrzehnten deutlich wert-
voller werden wird, in einer bestimmten Größenord- Zunächst hat die Koalition all diejenigen enttäuscht,
nung, die wir vereinbaren müssen, festhalten müssen. die gehofft hatten, der Streit über die Atomenergie
würde den Gipfel überschatten. Ganz im Gegenteil: Ein
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gipfelteilnehmer kam sogar zu dem Schluss, SPD und
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. CDU hätten beim Thema Atomenergie Einigkeit de-
monstriert. So weit würde ich vielleicht nicht gehen. Am
Montag sind aber vor allem die Themen diskutiert wor-
Dr. Rainer Tabillion (SPD): den, die aus unserer Sicht für die Zukunft der Energie-
Ich glaube, Energieerzeugung aus Kohle in Verbin- versorgung in Deutschland entscheidend sind. Für uns
dung mit der Technik, die Kohle klimaunschädlich zu heißt das: Energieeffizienz, erneuerbare Energien, Er-
verarbeiten und umzuwandeln – sie ist inzwischen vor- neuerung der Kraftwerke und Emissionshandel.
handen –, ist verantwortbar.
Es gibt aber noch eine weitere positive Botschaft. Auf
ausdrückliche Nachfrage von Bundesumweltminister
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gabriel haben die Energieversorgungsunternehmen ihre
Herr Kollege! Vertragstreue im Bereich des Atomausstiegs unterstri-
chen. Sie werden auch dann mit der Bundesregierung
Dr. Rainer Tabillion (SPD): zusammenarbeiten, wenn es beim Atomausstieg bleibt.
Deshalb möchte ich darum bitten, dass wir die Kohle Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ankündi-
in Zukunft als Teil des Energiemixes betrachten, über gung ausdrücklich. Zukünftiges Handeln werden wir an
dessen Definition wir uns jetzt unterhalten. Das wäre ein dieser Zusage messen.
guter Einstieg dieses Hauses in die energiepolitische Für die SPD-Bundestagsfraktion ist klar: Eine Über-
Diskussion. Wir sollten uns daran beteiligen – tragung von Reststrommengen von neuen Atomkraft-
werken auf alte Atomkraftwerke lehnen wir ab.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Herr Kollege, Ihr letzter Satz geht jetzt schon über
der LINKEN)
fast zwei Minuten.
Eine solche Übertragung widerspricht dem Geist des
(B) (D)
Dr. Rainer Tabillion (SPD): Atomkonsenses. Sie widerspricht auch dem Geist des
– und unser Wissen und unser Engagement einbrin- Koalitionsvertrages, der dem sicheren Betrieb der Atom-
gen, damit es ein gutes Programm wird. kraftwerke absolute Priorität einräumt.

Herzlichen Dank. Worum geht es bei der Forderung nach Verlängerung


der Restlaufzeiten? Ein Artikel in der „Financial Times
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschland“ hat das am Montag ganz freimütig auf den
der CDU/CSU) Punkt gebracht:
Für die Antragsteller geht es um Milliarden. Die
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Meiler sind längst abgeschrieben, die Betriebskos-
Das Wort hat der Kollege Christoph Pries, SPD-Frak- ten gering, und die Gewinnmargen wären sensa-
tion. tionell, wenn die Reaktoren länger laufen dürften.
(Beifall bei der SPD) Das Ziel von Unternehmen ist es, Gewinne zu machen.
Das ist legitim. Schön wäre es allerdings, wenn die Ener-
Christoph Pries (SPD): gieversorger es in diesem Fall auch offen zugeben wür-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! den.
Die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Aktuelle Stunde beantragt. Als zuständiger Bericht-
erstatter der SPD-Fraktion beschäftige ich mich mit Ihrer Die Diskussion über die Laufzeiten der Atomkraft-
Frage nach dem Beitrag des Energiegipfels zur Verringe- werke hat leider noch eine andere Folge. Sie vergiftet
rung der Gefahren durch Atomkraft. das Klima für dringend benötigte Zukunftsinvestitionen
im Energiesektor.
Die Atomenergie ist noch genauso gefährlich bzw.
genauso sicher wie vor dem Gipfel. Die Positionen der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Beteiligten zur Atomenergie haben sich nicht verändert. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Vereinbarung zum Atomausstieg gilt weiterhin. Wer
(Beifall bei der SPD) – so hieß es gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ –
Jetzt könnte ich schon zum Schluss kommen. Aber da wagt schon im großen Stil neue Kraftwerke, wenn
alle Kolleginnen und Kollegen der Koalition heute frohe er nicht weiß, wie viele der riesigen Reaktoren am
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2649
Christoph Pries
(A) Ende des Jahrzehnts noch billige Konkurrenz ma- ist ein Fremdkörper unter den Ausschüssen des Deut- (C)
chen oder nicht? schen Bundestages. Es wird für diesen Beirat auch in der
aktuellen Wahlperiode nicht einfach werden, die Anlie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gen einer nachhaltigen Entwicklung, der Generationen-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gerechtigkeit und der politischen Zukunftsverantwor-
Es wäre geradezu ein Befreiungsschlag für die Ener- tung erfolgreich in das eingespielte Räderwerk des
giepolitik in Deutschland, wenn die Betreiber unserer Parlamentsbetriebes einzuspeisen. Nicht von ungefähr
Atomkraftwerke endlich aufhörten, ständig auf die hatten wir uns als Unionsfraktion vor etwas mehr als
nächste Bundestagswahl zu starren. Erweisen Sie sich, zwei Jahren einen Zukunftsausschuss als Alternative zu
erweisen Sie uns und erweisen Sie vor allem unserem diesem Beirat vorstellen können. Dieser seinerzeitige
Land einen Dienst. Begreifen Sie endlich – in parlamen- Vorschlag und der Nachhaltigkeitsbeirat, den wir heute
tarischen Demokratien verhält es sich wie im Fußball –: einsetzen wollen, haben allerdings ihre zentrale Aufga-
Egal, wie die Bundestagswahl 2009 ausgeht. Nach der benstellung gemeinsam: Sie schaffen ein Gremium im
Wahl ist vor der Wahl. Deutschen Bundestag, das sich explizit als Frühwarnein-
richtung für politische Fehlentwicklungen versteht, das
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
die Interessen künftiger Generationen im Blick behält
(Beifall bei der SPD) und notfalls auch gegen die Interessen der jetzt Leben-
den verteidigt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Der Bundestag hat über 20 Ausschüsse und zehn Un-
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: terausschüsse. Die Mitglieder der allermeisten von ihnen
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ verstehen sich natürlich auch als eine politische Lobby
CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- für ihr jeweiliges Themenfeld, für ihr Interessengebiet.
SES 90/DIE GRÜNEN Allein den künftigen Generationen fehlt ein solcher
parlamentarischer Fürsprecher.
Einsetzung eines Parlamentarischen Beirats
für nachhaltige Entwicklung Die Zukunft ist jedenfalls ohne eine institutionali-
sierte Lobby im Parlament. Auf diesen Missstand wies
– Drucksache 16/1131 – bereits vor einem Vierteljahrhundert der deutsch-ameri-
b) Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen- kanische Philosoph Hans Jonas hin. Der in meiner Hei-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung matstadt Mönchengladbach gebürtige Jonas schrieb in
(B) seinem Epoche machenden Werk „Das Prinzip Verant- (D)
Bericht des Parlamentarischen Beirats für wortung“ schon 1979:
nachhaltige Entwicklung
Die „Zukunft“ aber ist in keinem Gremium vertre-
(Berichtszeitraum: 11. März 2004 bis 29. Juni ten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waag-
2005) schale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine
– Drucksache 15/5942 – Lobby und die Ungeborenen sind machtlos. Somit
Überweisungsvorschlag: hat die ihnen geschuldete Rechenschaft vorerst
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) noch keine politische Realität im gegenwärtigen
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Entscheidungsprozess hinter sich, und wenn sie sie
Verbraucherschutz einfordern können, sind wir, die Schuldigen, nicht
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
mehr da.
Technikfolgenabschätzung Das Neue am Thema Nachhaltigkeit ist demnach die
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung Forderung nach Gerechtigkeit für kommende Generatio-
nen, also für Menschen, die noch gar nicht existieren.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierfür eine
Dreiviertelstunde Debatte vorzusehen. – Ich höre dazu Natürlich vermag ein parlamentarischer Beirat die
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Gesetzmäßigkeiten der demokratischen Repräsentation
nicht außer Kraft zu setzen. Mit dem Nachhaltigkeitsbei-
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort rat erhalten wir indes ein Instrument, mit dem wir die in-
der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Fraktion. zwischen weithin anerkannten Ideen der Generationen-
(Beifall der Abg. Katherina Reiche [Potsdam] gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit in den politischen
[CDU/CSU]) Entscheidungsprozess wirksam einbringen können. Die
Arbeit des Nachhaltigkeitsbeirats ist – um noch einmal
mit Hans Jonas zu sprechen – damit zugleich ein Testfall
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
für die „Kraft der Ideen im politischen Körper“.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Dieses Haus will heute ein parlamen- Es wird uns aber nur gelingen, die Lücke der fehlen-
tarisches Gremium aus der 15. Wahlperiode erneut ein- den Vertretung der Zukunft und der künftigen Generatio-
setzen, das den Titel „Parlamentarischer Beirat für nach- nen in der Politik zu schließen, wenn wir die Themen des
haltige Entwicklung“ tragen soll. Dieses Gremium – das Beirates nicht zu eng verstehen. Das hat bereits früh eine
sollten wir zu Beginn der Debatte freimütig bekennen – von der UN-Vollversammlung eingesetzte Kommission,
2650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Günter Krings


(A) die so genannte Brundtland-Kommission, deutlich ge- Um die Sinnhaftigkeit dieses Beirats zu begreifen, ist (C)
macht. Laut ihrem Abschlussbericht aus dem Jahre 1987 es wichtig, festzuhalten, dass unsere Staatsschulden kei-
ist eine Entwicklung dauerhaft bzw. nachhaltig, wenn neswegs gegen die Interessen der Bürger unseres Landes
sie, wie es in dem Bericht heißt, die Bedürfnisse der Ge- gemacht worden sind. Der überwiegende Teil rührt aus
genwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Ge- einer Politik sozialer Transferleistungen, die mit der Be-
nerationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen tonung des Sozialstaatsprinzips zugleich einseitig die In-
können. teressen der jetzt Lebenden favorisiert hat. Nachhaltige
Politik verlangt im Zweifel den Mut zu unpopulärer
Es geht hiernach primär also nicht um die Bedürfnisse Politik. Wer die Interessen nachrückender Generationen
der Natur, sondern um die Bedürfnisse der Menschen, schützen will, muss im Einzelfall bereit sein, Gegen-
die, genau wie wir heute, auch in 30 oder 60 Jahren ihren wartsinteressen zurückzustellen.
Lebensstil wählen möchten und nicht die bloßen Objekte
kurzsichtiger Entscheidungen von heute werden dürfen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Nachhaltigkeit berührt ganz wesentlich auch ökologi- FDP)
sche Fragestellungen. Fehlen den nachkommenden Ge- Ein ernstes Hindernis für generationengerechte und
nerationen schon die natürlichen Ressourcen, so sind nachhaltige Politik stellen heute nicht nur die 1,4 Billio-
ihnen dadurch wesentliche Entfaltungsmöglichkeiten nen Euro direkte Staatsschulden dar. Nach sehr vorsich-
unwiderruflich genommen. tigen Schätzungen kommt mindestens der doppelte
Betrag hinzu, der als implizite Staatsschuld in unseren
Nachhaltigkeit bedeutet aber nicht nur, dass unser sozialen Sicherungssystemen schlummert. Eine Renten-
ökologisches Kapital nicht zulasten künftiger Generatio- und eine Pflegeversicherung, die jeden Tag Ansprüche
nen aufgezehrt werden darf, sondern verlangt ebenso begründen, die innerhalb des lohnabhängigen Umlage-
den Erhalt des wirtschaftlichen und sozialen Kapitals. systems niemals befriedigt werden können, sind daher
Der Begriff Nachhaltigkeit hat seit seiner Entstehung kein Beispiel für Nachhaltigkeit. Die Politik hat sich bis
– übrigens in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts – vor wenigen Jahren kaum darum gekümmert, wie Ar-
eine erhebliche Erweiterung erfahren. Moderne Defini- beitnehmer und Arbeitgeber mit diesen Ansprüchen in
tionen schließen eine stabile wirtschaftliche Entwick- Zukunft zurechtkommen. Auch damit wurde das Gegen-
lung und eine generationengerechte Verteilung der Le- teil von Generationengerechtigkeit praktiziert. Genera-
benschancen ausdrücklich in seine Anwendungsbereiche tionengerecht und nachhaltig ist eine Sozialpolitik nur
ein. So ist es längst Allgemeingut der Nachhaltigkeitsde- dann, wenn sie auch für zukünftige Generationen soziale
batte geworden, dass die Leistungsfähigkeit unserer Ge- Sicherheit gewährleistet.
sellschaft auch in Zukunft auf ein solides Wirtschafts-
(B) wachstum angewiesen ist. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der (D)
FDP)
Von diesem dreidimensionalen Begriff der Nachhal- Auch hier wartet also eine sehr wichtige Aufgabe auf
tigkeit muss sich auch der Parlamentarische Beirat für den Nachhaltigkeitsbeirat. Hätte es ihn bereits in den
nachhaltige Entwicklung bei seiner Arbeit leiten lassen. 90er-Jahren gegeben, wären die Chancen auf eine soli-
Die wirtschaftliche, die soziale und die ökologische Di- dere Finanzierung der damals neu eingeführten Pflege-
mension der Nachhaltigkeit gilt es miteinander in Ein- versicherung aus meiner Sicht deutlich größer gewesen.
klang zu bringen. Für den Beirat ist das eine ebenso am- Die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung zur
bitionierte wie spannende Aufgabe, der wir uns gerne schrittweisen Hebung des Renteneintrittsalters, aber
stellen. auch zur Förderung junger Familien weisen den Weg in
die richtige Richtung.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Der entscheidende Prüfstein für eine generationenge-
rechte und damit nachhaltige Politik ist die Sanierung Sie werden auch den Mitgliedern des Nachhaltigkeits-
unserer maroden Staatshaushalte. Angesichts dramatisch beirats Mut machen, dass wir dem Ziel einer nachhalti-
schrumpfender Geburtenjahrgänge war die Schulden- gen und generationengerechten Politik im Schulter-
politik der letzten Jahre und Jahrzehnte nicht länger nur schluss zwischen Parlament und Regierung Schritt für
finanzpolitisch unsolide, sondern hat zwischenzeitlich Schritt näher kommen.
auch den Charakter eines moralischen Problems erhal- Eines, liebe Kolleginnen und Kollegen, will ich zum
ten. Mit welchem Recht machen die vergleichsweise Abschluss betonen: Es muss im gemeinsamen Interesse
vielen von heute Schulden zulasten der wenigen von unseres Hauses liegen, die Vorsorge für künftige Genera-
morgen? Wer die Zukunft offen und gestaltbar halten tionen als zentrale Politikaufgabe nirgendwo anders als
will, darf es nicht hinnehmen, dass der auf 1,4 Billionen hier im Deutschen Bundestag zu verankern. So wie die
Euro angewachsene Berg der Staatsschulden weiter Parlamente im 19. Jahrhundert das Budgetrecht gegen
wächst. Die neue Koalition unter Kanzlerin Angela die Exekutive erkämpft haben, müssen sie jetzt, im
Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück hat endlich 21. Jahrhundert, dafür Sorge tragen, dass in Fragen der
ein Umdenken eingeleitet. Dessen Fortgang und seine vorsorgenden Umwelt-, Sozial- und Haushaltspolitik die
Ergebnisse wird der Nachhaltigkeitsbeirat des Deut- entscheidenden Maßstäbe im Parlament gesetzt werden.
schen Bundestages sehr sorgfältig beobachten und be- Nur die direkt gewählte Vertretung unseres Volkes be-
einflussen. sitzt die notwendige Legitimationskraft, um von den
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2651
Dr. Günter Krings
(A) jetzt Lebenden den Verzicht auf Konsum zugunsten haltigkeitschecks in der Gesetzesfolgenabschätzung. Wir (C)
nachrückender Generationen verlangen zu können. haben in der vergangenen Wahlperiode darüber geredet.
In dieser Wahlperiode kommt es darauf an, die Dinge im
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Detail so voranzutreiben, dass wir sie hier im Parlament
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. umsetzen können.
Aufgrund der Vorarbeiten, die in der letzten Wahl-
Dr. Günter Krings (CDU/CSU): periode geleistet wurden, kann sich der Beirat nun direkt
Frau Präsidentin, ich wollte gerade meinen letzten dort an die Arbeit machen, wo der letzte Beirat mit sei-
Satz beginnen. – Es ist daher sinnvoll und richtig, dass ner Arbeit aufhören musste, nämlich bei den geplanten
es mit dem heute einzusetzenden Nachhaltigkeitsbeirat Anhörungen zu den Auswirkungen des demografischen
nun endlich in der Mitte unseres Parlaments eine Lobby Wandels auf die Infrastruktur und zum Thema Generati-
für künftige Generationen geben wird. onenbilanzen.
Danke schön. Denn was bedeutet eine immer älter werdende und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zugleich regional unterschiedlich schrumpfende Bevöl-
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- kerung für die künftige Infrastruktur? Welche Straßen
SES 90/DIE GRÜNEN) und welche öffentlichen Gebäude werden zukünftig
noch oder anders gebraucht? Welche Wohnformen brau-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen wir? Was muss sich qualitativ in der Verkehrspla-
nung ändern? Es stellt sich auch die Frage, ob bei Strom
Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Michael
oder Abwasser weiter flächendeckend in eine Netzinfra-
Kauch.
struktur investiert werden soll oder ob regional dezen-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) trale Lösungen möglicherweise eine sinnvolle Alterna-
tive sind. Darauf wollen wir mit den Experten in den An-
Michael Kauch (FDP): hörungen Antworten finden und dann dem Parlament
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach- Lösungen vorschlagen.
haltigkeit braucht eine institutionelle Verankerung in Wir brauchen regelmäßige offizielle Generationen-
diesem Parlament. Deshalb hat die FDP bereits in der bilanzen für Deutschland, um ein besseres Bewusstsein
vergangenen Wahlperiode gemeinsam mit SPD und für die Auswirkungen des täglichen Handelns und lang-
Bündnis 90/Die Grünen die Einrichtung eines solchen
fristiger Politik für kommende Generationen zu schaf-
Parlamentarischen Beirats – damals gegen den Wider-
(B) stand der Union – durchgesetzt. Wir begrüßen, dass die fen. Generationenbilanzen verdeutlichen diese Auswir- (D)
kungen, indem sie auf der einen Seite die Leistungen
Union ihre Haltung geändert hat und nun auch zu den
und auf der anderen Seite die Belastungen, die heutige
Antragstellern gehört.
Politik kommenden Generationen hinterlässt, ausweisen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wir wollen von den Experten hören, wie solche Genera-
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE tionenbilanzen konkret aussehen können und wer sie er-
GRÜNEN) stellen soll.
Der Parlamentarische Beirat hat trotz seiner einge- (Beifall bei der FDP)
schränkten parlamentarischen Rechte in der vergange-
nen Wahlperiode sehr erfolgreich und konstruktiv ge- Diese Themen sind essenzielle Zukunftsfragen und
arbeitet. Wir konnten uns fraktionsübergreifend – auch haben auch in der neuen Wahlperiode nicht an Bedeu-
über die Grenzen von Opposition und Regierung tung verloren. Die Bundesregierung wird noch in diesem
hinweg – auf gemeinsame Ziele für die Zukunft einigen. Jahr ihren Fortschrittsbericht 2006 zur Nachhaltigkeits-
Das ist wichtig, weil die entscheidenden Zukunftsfragen strategie vorlegen. Vier Jahre nach Verabschiedung der
einen Zeithorizont haben, der weit über den üblichen ersten Nachhaltigkeitsstrategie müssen einige Dinge
Wechsel der Regierungen in einer parlamentarischen grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden, zum
Demokratie hinausreicht. Beispiel die Indikatoren für die Zielerreichung.
Einen Grundkonsens herauszuarbeiten, ohne die Un- Ein Beispiel: Der Indikator für die Zielerreichung bei
terschiede im Detail zu verwischen, das war die Stärke der Inanspruchnahme von Flächen zu Siedlungs- und
des Nachhaltigkeitsbeirates in der vergangenen Wahlpe- Verkehrszwecken konzentriert sich momentan, auf ganz
riode. Ich möchte an dieser Stelle den Kolleginnen und Deutschland berechnet, auf ein 30-Hektar-Reduktions-
Kollegen aus dem letzten Beirat für die gute Zusammen- ziel. Das stellt aber nicht auf die tatsächlich genutzte
arbeit ganz herzlich danken. Fläche ab, sondern auf die beplante Fläche. Das bedeu-
(Beifall bei der FDP) tet, dass man bei der Renaturierung einer Industriebra-
che den gemessenen Flächenverbrauch in keiner Weise
Ich erinnere an die gemeinsame Stellungnahme zum senkt, wenn nicht auch der Bebauungsplan geändert
Fortschrittsbericht 2004 der Bundesregierung. Hier wird. Ob das unter Gesichtspunkten ökologischer Nach-
wurde vieles im Konsens beschlossen, so die gemein- haltigkeit sinnvoll ist, wage ich zu bezweifeln.
same Forderung nach einer regelmäßigen Erstellung von
Generationenbilanzen und die Einführung eines Nach- (Beifall bei der FDP)
2652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Michael Kauch
(A) Deshalb müssen wir die Indikatoren auf ihre Zielsicher- nun fast alle der Meinung sind, dass die Einrichtung des (C)
heit überprüfen. Dabei müssen beispielsweise der Flä- Parlamentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung
chenverbrauch, die Zerschneidung von Landschaft, die wichtig ist.
Versiegelung von Böden und die regionale Verteilung
Mit der Bildung dieses Parlamentarischen Beirats set-
der Flächeninanspruchnahme zugrunde gelegt werden.
zen wir einen Weg fort, der von der alten Bundesregie-
Nehmen wir das Beispiel Kriminalität: Die Nachhal- rung begonnen worden ist. Bereits im Jahre 1992 hat
tigkeitsstrategie misst die Kriminalität in Deutschland sich die internationale Staatengemeinschaft auf der Kon-
heute anhand der Zahl der Wohnungseinbrüche. Ich erin- ferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro zum
nere mich nicht daran, dass wir in diesem Parlament in Leitbild der nachhaltigen Entwicklung bekannt. Im
der letzten Zeit sehr viel über Wohnungseinbrüche dis- Jahr 2002 hat die rot-grüne Bundesregierung unter dem
kutiert haben. Wir haben aber beispielsweise sehr viel Titel „Perspektiven für Deutschland“ die nationale Stra-
über Jugendgewalt diskutiert. Warum also soll dieser In- tegie für eine nachhaltige Entwicklung beschlossen.
dikator nicht im Hinblick auf diesen zentralen Bereich Auch der Koalitionsvertrag zwischen SPD, CDU und
des Zusammenhalts unserer Gesellschaft verändert wer- CSU sieht als Ziel und Maßstab des Regierungshandelns
den? Diesen Fragen müssen wir uns gemeinsam stellen. die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf natio-
naler, europäischer und internationaler Ebene vor.
Kollege Krings hat es angesprochen: Die maroden
Staatsfinanzen sind einer der größten Angriffe auf die An der breiten Unterstützung für die Einrichtung des
Generationengerechtigkeit. Die letzte Bundesregierung Parlamentarischen Beirats wird deutlich, dass wir ein ge-
hat es abgelehnt, die Staatsfinanzen zu einem Schwer- meinsames Ziel verfolgen. Ich glaube, das, was meine
punkt der Nachhaltigkeitsstrategie zu machen. Ich bin Vorredner betont haben, ist richtig: Aus dieser Gemein-
gespannt, ob Sie mit dem Fortschrittsbericht 2006 um- samkeit ergeben sich für dieses Gremium Chancen, so-
steuern und die finanzielle Nachhaltigkeit entsprechend wohl was die Form der Zusammenarbeit als auch was
den Ankündigungen des Kollegen Krings tatsächlich zu den Inhalt betrifft.
einem Schwerpunkt machen. Das wäre den kommenden
Generationen zu wünschen. Wir sitzen alle im selben Boot. Nun haben wir die
Möglichkeit, in diesem Gremium unabhängig von der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Alltagspolitik mittel- und langfristige Politikansätze zu
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE entwickeln. Diesen gemeinschaftlichen Ansatz sollten
GRÜNEN) wir in den Mittelpunkt der Arbeit rücken. Bei dieser Ar-
beit dürfen wir nicht – Herr Kauch hat das zu Recht an-
Deutschland muss zukunftsfähiger und generationen-
gesprochen – auf bevorstehende Wahlen schielen.
gerechter werden. Dazu gehört der verantwortungsvolle
(B) Ebenso darf sie nicht von plötzlichen Ereignissen ge- (D)
Umgang mit den natürlichen Ressourcen, aber auch mit
prägt sein, auf die die Politik immer nur reagiert. Wir
den finanziellen Ressourcen, also mit unseren Staats-
müssen in diesem Beirat vielmehr in eine aktive Rolle
finanzen und Sozialsystemen. Wir brauchen ein Ver-
kommen.
ständnis von Wohlstand und Lebensqualität, das sich an
langen Zeiträumen und nicht an Legislaturperioden von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
vier Jahren orientiert. der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
In diesem Sinne freut sich die FDP-Bundestagsfrak- GRÜNEN)
tion auf die Debatten im Parlamentarischen Beirat für Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Arbeit muss
nachhaltige Entwicklung. Wir hoffen, dass seine Aussa- so angelegt sein, dass sie auch unter anderen Koalitions-
gen und Empfehlungen auch in der tatsächlichen Gesetz- bedingungen fortgesetzt werden kann und nicht von
gebung ihren Nachhall finden. knappen Mehrheiten abhängig ist; das ist zumindest un-
Vielen Dank. ser Ziel. Deshalb muss unsere Arbeit darauf gerichtet
sein, die Beschlüsse nach Möglichkeit gemeinsam zu
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fällen. Gleichzeitig darf der Begriff der Nachhaltigkeit
der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- nicht zur Worthülse gelangen – wie in manchem Werbe-
SES 90/DIE GRÜNEN) slogan heute. Der Beirat ist insbesondere Anwalt nach-
folgender Generationen. Herr Kollege Krings, ich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: stimme Ihnen voll zu: Dieser Beirat muss auch unbe-
Als Nächster erhält das Wort der Kollege Dr. Matthias quem sein, er muss die nachfolgenden Generationen im
Miersch, SPD-Fraktion. Blick haben und kann sich nicht nur an gegenwärtigen
Interessen orientieren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Dr. Matthias Miersch (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einsetzung des Parlamentarischen Beirates
Es ist, glaube ich, ein sehr positives Signal, dass wir im Januar 2004 hat der Deutsche Bundestag erstmals ak-
nach den teilweise hitzigen Debatten, die wir heute Mor- tiv in diesen Dialog eingegriffen. Ich möchte mich im
gen über die Rente und die Energiepolitik – und somit Namen der SPD-Fraktion an dieser Stelle ganz herzlich
auch über Fragen der Nachhaltigkeit – geführt haben, bei den Mitgliedern des letzten Beirates für ihre Arbeit
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2653
Dr. Matthias Miersch
(A) bedanken. Diese Arbeit hat den Boden bereitet, auf dem unser Wachstum darstellen und Ökologie, Ökonomie und (C)
wir jetzt aufbauen können. Im Bericht des Beirates vom Soziales keine Gegensätze sind. In allen drei Bereichen
7. September 2005 wird eine positive Bilanz gezogen, liegen Bausteine für eine zukunftsfähige Entwicklung un-
aber gleichzeitig werden auch Schwächen benannt: zum seres Staates. Auf dieser Grundlage sollten wir die Arbeit
Beispiel die fehlende formale Beteiligung am Gesetzge- aufnehmen. Viel Arbeit liegt vor uns – wir freuen uns da-
bungsverfahren oder die geringe Anzahl der Beiratsmit- rauf.
glieder. Die Anzahl der Beiratsmitglieder ist erhöht wor-
Vielen Dank.
den, sodass der Aufbau eines Berichterstattersystems
möglich ist. Die Stellung des Beirats hat sich dagegen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
nicht wesentlich verändert. Ich meine, dass wir alle hier und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gefordert sind: Der Beirat darf keine Alibiveranstaltung
werden. Die Verzahnung mit den Fachausschüssen ist Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
vorhanden. Es wird an uns als handelnden Personen lie- Als Nächster hat das Wort der Kollege Lutz
gen, welche faktische Stellung der Beirat erhält.
Heilmann, Fraktion Die Linke.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Ich habe die Hoffnung, dass die große Bedeutung der
Nachhaltigkeit in diesem Haus allgemein anerkannt wird Lutz Heilmann (DIE LINKE):
und wir keine formale Absicherung dafür brauchen, da- Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
mit wir tatsächlich Gehör finden. Über Nachhaltigkeit wird in diesem Haus viel gespro-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ chen. Selbst die Bundesregierung behauptet ständig,
CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND- dass ihre Politik nachhaltig ist.
NISSES 90/DIE GRÜNEN) Was aber ist Nachhaltigkeit? Nachhaltigkeit ist ein
Leitbild, eine regulative Idee. Daraus ergibt sich für un-
Der letzte Beirat hatte sich vor der Ankündigung der
ser Handeln eine prinzipielle Anweisung, dieses so zu
Neuwahlen vorgenommen, wichtige Themen vorzube-
organisieren, dass wir nicht auf Kosten der Natur, ande-
reiten bzw. anzugehen, zum Beispiel die demografische
rer Menschen, anderer Regionen oder anderer Genera-
Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Infrastruk-
tionen leben.
tur oder auch die Frage der Generationengerechtigkeit.
Die Vorbereitungen sind gemacht. Wir sind aufgerufen, (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Dann
diese Themen nun aufzugreifen und ihre Behandlung müsst ihr mal das eigene Wahlprogramm
(B) fortzusetzen. durchlesen!) (D)
Vier Aspekte sollten aus meiner Sicht Säulen unserer Es geht also um eine faire Abwägung der ökologischen
zukünftigen Arbeit sein. Erstens: der interdisziplinäre Anforderungen und der sozialen Gerechtigkeit mit den
Ansatz. Wir haben in diesem Beirat die Chance, fächer- wirtschaftlichen Erfordernissen und deren gleichberech-
übergreifend Nachhaltigkeitsprinzipien zu entwickeln tigte Berücksichtigung. Dazu gehört auch, die Teilhabe
und zu vertreten. Gleichzeitig kann dadurch ein aus- von Bürgerinnen und Bürgern auszubauen. Die Demo-
schussübergreifender Einfluss geltend gemacht werden; kratisierung alltäglicher politischer Entscheidung ist un-
Grenzen einzelner Ressorts können überwunden werden. trennbar mit einer nachhaltigen Entwicklung verbunden.
Zweitens. Wir können über den Tellerrand hinausbli- Erfüllt die Mehrheit dieses Hauses mit ihrer Politik
cken und mit den Ländern und den Kommunen und auch diesen Anspruch? Ich meine: Wohl kaum. Liebe Kolle-
mit den Parlamenten anderer Staaten zusammenarbeiten. ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, der SPD, der
Wir alle wissen: Zur Lösung elementarer Probleme sind FDP und dem Bündnis 90/Die Grünen, Sie richten sich
heute häufig globale Strategien gefragt, nicht nur im Um- mit Ihrer Politik einseitig an den Interessen der Wirt-
weltbereich. Die Arbeit des letzten Beirats hat gezeigt, schaft aus. Ökologische und soziale Belange bleiben zu-
dass man voneinander lernen kann. So verweist der Beirat meist auf der Strecke.
zum Beispiel auf Schweden und Finnland, wo mit Gene-
(Beifall bei der LINKEN)
rationenbilanzen – Herr Kauch hat es angesprochen – die
Belastungen und Leistungen für nachfolgende Genera- Deswegen ist die Bundesrepublik Deutschland interna-
tionen politikübergreifend dargestellt werden können und tional schon lange kein Vorreiter im Umweltschutz mehr
so ein Nachhaltigkeitscheck eingeführt werden kann. und nimmt die soziale Spaltung der Gesellschaft stetig
zu. Ich nenne einige Beispiele:
Dritte Säule: Teilhabe- und Kommunikationsplatt-
form. Der Dialog mit gesellschaftlichen und politischen Die geplante Aufweichung des Kündigungsschutzes
Initiativen außerhalb des Parlaments ist meines Erach- führt dazu, dass immer mehr Menschen die Zukunft un-
tens eine weitere wichtige Säule, die wir nutzen sollten. sicherer erleben werden. Durch die Agenda 2010 – ins-
besondere Hartz IV – werden noch mehr Menschen in
Viertens. Letztlich gilt es die Chancen der Nachhaltig-
Armut gebracht.
keitsstrategie zu betonen. Es wird an uns liegen, immer
wieder darauf hinzuweisen, dass in einer Nachhaltigkeits- (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Jetzt ha-
strategie enorme Chancen liegen, dass Umweltvorsorge ben wir es geschafft: Wir sind jetzt wieder bei
und soziale Gerechtigkeit wichtige Voraussetzungen für Hartz IV!)
2654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Lutz Heilmann
(A) Durch die Kürzung der Renten – wir haben es heute Vor- Im Übrigen finde ich es bedauerlich, dass Sie mein- (C)
mittag diskutiert – wird vielen Menschen ein würdiges ten, den vorliegenden Antrag ohne uns einbringen zu
Leben im Alter genommen. Der ohnehin windelweiche müssen. Dies ist umso enttäuschender, weil es doch das
Atomausstieg wird ständig infrage gestellt, obwohl die Prinzip einer nachhaltigen Entwicklung ist, gemeinsam
Gefahren der Atomkraft nicht beherrschbar sind. Zur Er- und im Konsens aller Beteiligten nach Lösungen zu su-
innerung: In diesen Tagen jährt sich die Katastrophe von chen. Diese gemeinsame Suche haben Sie bereits vor
Tschernobyl zum 20. Mal. Ich frage Sie, liebe Kollegin- Beginn unserer Arbeit schwer belastet. Trotz seiner be-
nen und Kollegen von der CDU/CSU: Übernehmen Sie schränkten Rechte unterstützen wir die Schaffung eines
die politische Verantwortung, wenn es in der Bundesre- parlamentarischen Gremiums, das sich über die nachhal-
publik Deutschland zu einem GAU kommt? Herr tige Entwicklung Gedanken macht.
Mißfelder, Ihre Einlassung von eben schreibe ich ganz
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wie gütig!
einfach Ihrem jugendlichen Alter zu. Mit 22 Jahren un-
Immerhin!)
terlag auch ich noch solchen Irrtümern.
Daher müssen Sie damit rechnen, dass auch die
(Jörg Tauss [SPD]: Lesen Sie mal vernünftig „Schweinebande“, wie uns kürzlich der Kollege Grindel
nach! – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Er ist von der CDU/CSU nannte, dem Antrag zustimmen wird.
26 Jahre alt! – Dr. Andreas Scheuer [CDU/
CSU]: Er hat keinen Schülerausweis mehr!) (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Da ha-
ben Sie etwas verwechselt! – Jörg Tauss
Durch die Föderalismusreform wird im Umwelt- [SPD]: Das müssen wir aber mal richtig stel-
recht ein Kompetenzwirrwarr geschaffen, durch den der len!)
Umweltschutz auf das Abstellgleis abgeschoben wird.
Der Naturschutz wird de facto auf dem Altar der Wirt- Das ersparen wir Ihnen nicht.
schaft geopfert. Anstatt die Beteiligungsrechte auszu- Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
bauen, sollen diese durch das Planungsbeschleunigungs-
gesetz systematisch abgebaut werden. Die Bürgerinnen (Beifall bei der LINKEN)
und Bürger sowie die Verbände sind in ihren Augen an-
scheinend lästige Querulanten, die die Arbeit der Behör- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
den behindern. Das Wort für Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege
Winfried Hermann.
Das alles geschieht für die Steigerung der Unterneh-
mensgewinne, insbesondere der der großen Konzerne.
Die Linke wird daher auch in Zukunft für eine Politik Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(B) stehen, die die Bezeichnung „nachhaltig“ verdient. Auch Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (D)
im Beirat für nachhaltige Entwicklung werden wir ein Herren! Ganz persönlich und für meine Fraktion möchte
Garant dafür sein, dass die soziale und die ökologische ich sagen, dass wir uns freuen, heute den Parlamentari-
Frage nicht wie so oft hinten herunterfallen. schen Beirat zum zweiten Mal im Deutschen Bundestag
fraktionsübergreifend einzurichten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
In Sonntagsreden einer nachhaltigen Entwicklung das bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Ab-
Wort zu reden und im Plenumsalltag das Gegenteil zu geordneten der FDP)
tun, geht nicht zusammen. Darauf werde ich und wird
Ich will mich ausdrücklich bei denen in der Koalition
unsere Fraktion die Menschen aufmerksam machen.
bedanken, die sich dafür eingesetzt haben; denn es war
Zum Beirat der letzten Legislaturperiode will ich nur nicht selbstverständlich, dass dem Wunsch des Beirates
anmerken, dass der neue Beirat sowohl aufgrund der aus der letzten Legislaturperiode nach Fortsetzung seiner
zahlenmäßigen Aufstockung als auch durch das Aus- Arbeit von der neuen Koalition Rechnung getragen wird
scheiden der bisherigen Vorsitzenden wirklich ein völlig und sich dafür wieder eine Mehrheit findet. Ich weiß,
neuer Beirat sein wird. Wir können aber nicht einfach da dass einige von Ihnen in Ihren Fraktionen und insbeson-
weitermachen, wo Sie in der letzten Legislaturperiode dere bei Ihren Geschäftsführern dafür kämpfen mussten.
aufgehört haben. Ohne alles infrage stellen zu wollen, Es war gut, dass Sie das getan haben; darüber freuen wir
beansprucht unsere Fraktion ein Mitspracherecht bei der uns. Ich sage das ganz ohne Häme, weil ich weiß, dass
Auswahl der künftig zu behandelnden Themen. wir in den zwei Legislaturperioden zuvor auch mit unse-
rer rot-grünen Mehrheit durchaus Schwierigkeiten hat-
Die Rechte, die Sie dem Beirat zugestehen wollen, ten, einen solchen Beirat einzurichten.
reichen nicht aus. Ich befürchte, dass der Beirat erneut
nur ein zahnloser Tiger sein wird. Einen neuen Debat- Warum eigentlich? Der Kollege Krings hat gesagt, ein
tierklub ohne politischen Einfluss braucht dieses Land solcher Beirat sei in diesem Parlament ein Fremdkörper.
allerdings nicht. Ich möchte ihn gerne leicht korrigieren und erklären: Er
wird von manchen Geschäftsführern und anderen tradi-
(Beifall der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE tionellen Parlamentariern als ein Fremdkörper empfun-
LINKE]) den.
Unser Anspruch ist es, die Politik des Bundes zu beein- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Unver-
flussen, damit sie wirklich nachhaltig wird. schämte Unterstellung!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2655
Winfried Hermann
(A) Das ist der Fehler. Auch im Parlament muss ein Be- Zu den neuen Themen. Wir haben vorgeschlagen (C)
wusstsein dafür entstehen, dass wir im parlamentari- – das ist von verschiedenen Rednern und Rednerinnen
schen Verfahren neue institutionelle Formen brauchen, aufgegriffen worden –, das Thema demografischer
um die neuen großen Herausforderungen und Quer- Wandel und Infrastruktur aufzugreifen, aber eben
schnittsaufgaben neu und anders anzugehen. nicht in klassischer Form, sondern im Sinne von Genera-
tionenbilanzen, also eines sehr grundlegenden Ansatzes.
(Beifall des Abg. Dr. Matthias Miersch [SPD])
Wenn Kollege Krings feststellt, die Parlamente hätten
– Danke schön. bisher in der Haushalts- und Finanzpolitik zu selten an
die nachfolgenden Generationen gedacht, dann muss
(Heiterkeit bei der SPD) man auch fragen, ob bei der Infrastrukturplanung
Das haben wir hiermit angestrebt und erreicht. richtig und grundlegend nachgedacht wurde. Zum Bei-
spiel stellt sich die Frage, ob die Infrastruktur, die wir
Es wäre allerdings schön gewesen, wenn dem uns leisten, auch in zehn oder 20 Jahren noch bezahlbar
Wunsch entsprochen worden wäre, dem Beirat mehr und zukunftsfähig ist. Auch solche Fragen werden wir
Kompetenzen zu geben. Gerade die Vertreter der Jungen aufgreifen müssen.
Union haben sich für eine Art Zukunftsausschuss mit
erweiterten Kompetenzen stark gemacht, sodass man Das gilt auch für die Indikatoren. Es gibt eine Reihe
auch die Gesetzgebung der anderen Ausschüsse hätte von Indikatoren, die sehr traditionell sind und wenig
kommentieren können. Bedauerlicherweise hat der Ge- über die Zukunftsfähigkeit unserer Politik aussagen. Ich
schäftsführer der CDU/CSU dies verhindert, sodass dies halte es für notwendig, an dieser Stelle weiter zu diffe-
nicht durchgesetzt werden konnte. Wir werden aber ge- renzieren und zu debattieren.
meinsam mit Ihnen dranbleiben; denn auf Dauer muss Das richte ich auch bewusst an den Kollegen der
dieser Beirat mehr sein und erweiterte Kompetenzen er- Linkspartei, mit dem ich die Auffassung teile, dass man,
halten. wenn man einen neuen diskursiven Politikansatz wagt,
nicht eine Fraktion ausgrenzen darf. Das muss mit dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
heutigen Tag beendet sein. Was den Antrag angeht, ha-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
ben wir das noch durchgehen lassen. Ab heute sind Sie
CDU/CSU und der FDP)
aber in der Debatte mit dabei.
Der Beirat hat in der letzten Legislaturperiode – er Dann ist allerdings die Erwartung an Sie angemessen,
hatte nur knapp zwei Jahre Zeit – gezeigt, dass ein parla- dass Sie auch Ihre eigene Politik einem Nachhaltigkeits-
(B) mentarischer Ort zur Beteiligung an der nationalen check unterziehen und nachfragen, ob Ihre Sozialpolitik (D)
Nachhaltigkeitsstrategie dringend notwendig ist. Zwar nachhaltigkeitstauglich ist. Auch das muss angegangen
heißt es gemeinhin, dass sich alle Ausschüsse mit Nach- werden.
haltigkeit beschäftigen, und es wird gefragt, warum es
überhaupt noch einen Beirat geben muss. – Es hat sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
jedoch gezeigt: Wenn es keine institutionelle Veranke- und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
rung dieses Themas gibt, dann ist die Gefahr groß, dass SPD)
es unter den Tisch fällt.
Sie sehen, es gibt eine Menge zu tun.
Wir haben dafür gesorgt, dass in die Nachhaltigkeits-
strategie weitere Themen aufgenommen worden sind, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zum Beispiel die Energieversorgungsstruktur – das ha-
ben wir vorher debattiert –, neue Kraftstoffe, neue An- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
triebssysteme. All das sind Initiativen des Beirats zur
Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Ein ande- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
res Thema – das wurde lange unterschätzt – sind die Wir haben uns einiges vorgenommen. Wir haben Vor-
Potenziale älterer Menschen. Aber auch dieses Thema schläge zu einem neuen Beirat vorgelegt. Die Grünen
ist in die Nachhaltigkeitsstrategie aufgenommen wor- werden sich konstruktiv an diesem Dialog beteiligen.
den. Dies war ebenfalls ein Impuls aus dem Beirat. Darüber hinaus muss aber auch klar sein, dass auf diesen
Dialog eine praktische Politik folgt und dass in diesem
Wir haben also tatsächlich auf eine ganze Reihe von Hause verstärkt nachhaltige Politik gemacht wird.
inhaltlichen Punkten aufmerksam machen können. Was
mir auch wichtig ist: Wir haben gezeigt, dass es im Par- Vielen Dank.
lament möglich ist, einen inhaltlichen Diskurs zu führen
und sogar hart in der Sache zu streiten, ohne sich ständig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
persönlich zu beleidigen. Wir haben darüber hinaus klar bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
gemacht, dass man bei Zukunftsfragen in einem frak-
tionsübergreifenden Konsens zu gemeinsamen Positio- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
nen kommen kann. Kollege Kauch, Sie haben es gesagt: Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege
Dabei kann man an der einen oder anderen Stelle auch Dr. Andreas Scheuer, CDU/CSU-Fraktion.
deutlich machen, dass es Unterschiede gibt. Das soll im
Beirat nicht vertuscht werden. (Beifall bei der CDU/CSU)
2656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Der zweite Punkt ist: Nach dem Zweiten Weltkrieg (C)
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- hat Ludwig Erhard die Entscheidung für die soziale
gen! Ich freue mich, dass ich es erleben darf, dass der Marktwirtschaft getroffen. Sie hat unser Land und un-
Kollege Hermann die Junge Union für einen Vorstoß seren Standort geprägt. Nun steht vielleicht eine neue
lobt. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Auszeich- Ausrichtung der sozialen Marktwirtschaft an. Die Union
nung in diesem Hohen Haus. hat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet schon sehr
viel parteiprogrammatische Arbeit geleistet. Vielleicht
Sie haben mir aber auch eine Steilvorlage für die können wir die neue Ausgestaltung der sozialen Markt-
Fraktion Die Linke gegeben, Kollege Hermann. Bei der wirtschaft auch im Parlamentarischen Beirat thematisie-
Ausgrenzung kommt es ganz darauf an: Wenn sich die ren.
Linke bei den Themen selbst ausgrenzt – das wurde bei
dieser Rede deutlich –, dann hoffen meine Kolleginnen Der dritte Punkt ist: Unter der Führung von Helmut
und Kollegen von CDU und CSU alle zusammen, dass Kohl wurde die Entscheidung für ein vereintes
die Linksfraktion keine nachhaltige Erscheinung in die- Deutschland getroffen. Das hat ebenfalls unser Land
sem Hause sein wird. Es wird sich zeigen, ob Sie in die- geprägt.
sem Beirat konstruktiv mitarbeiten werden. Nun stehen wir an einer Wegscheide. Die Auswahl
(Beifall bei der CDU/CSU) der Themen im Parlamentarischen Beirat wird für die
Gestaltung der Zukunft durch politische Entscheidungen
Ein Vorwurf an uns Politiker lautet immer wieder, wesentlich sein. Ich denke, es handelt sich hierbei um
dass wir nur in Legislaturperioden bzw. in Vierjahres- eine Querschnittsaufgabe. Wir, die Mitglieder des Par-
zeiträumen denken können. Ich denke, die Einsetzung lamentarischen Beirats, müssen uns die Frage stellen, wo
des Parlamentarischen Beirates ist ein Beweis dafür, Schnittmengen bestehen. Das sollten wir in den ersten
dass wir langfristig denken und über den Tellerrand hi- Sitzungen analysieren. Die Vorleistungen in der letzten
nausschauen. In der nächsten Legislaturperiode wird Legislaturperiode haben dazu schon einiges beigetragen.
sich die Wichtigkeit dieses Beirats dadurch erweisen, ob Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar Beispiele
plötzlich alle Kollegen bei der Besetzung der Aus- nennen. Wir müssen uns – das wurde heute noch nicht
schüsse und Beiräte als erste Priorität diesem für die vertieft; ich schließe mich grundsätzlich den Plänen, der
nachhaltige Entwicklung so wichtigen Gremium beitre- Themenauswahl und den Analysen an – mit der gesell-
ten wollen. Ich denke, wir können in diesem Hohen schaftspolitischen Frage nach der Abwanderung junger
Haus zeigen, dass wir zukunftsfähige und zukunftsfeste Menschen in verschiedenen Regionen unseres Landes,
Politik machen. vor allem in den neuen Bundesländern, und mit der
(B) Frage nach der Chancengerechtigkeit für junge Men- (D)
Ich schließe mich der Formulierung der Jungen schen beschäftigen. Wie muss das Leben ausgestaltet
Gruppe der CDU/CSU-Fraktion an, die den Beirat als werden, wenn sich die Gesellschaft in den betroffenen
Zukunftsausschuss bezeichnet hat. Herr Kollege Kauch, Regionen aufgrund der Tatsache verändert, dass nur
wir haben uns letztes Mal deswegen nicht beteiligen noch Ältere da sind?
können, weil wir einen anderen Weg wählen wollten. In-
sofern halte ich an dem Begriff „Zukunftsausschuss“ In diesem Zusammenhang geht es auch um Innovatio-
fest. nen im medizinischen Hochtechnologiebereich. Wie
muss in Zukunft die Betreuung älterer Menschen ausse-
Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist häufig strapaziert hen, wenn es nicht mehr genügend junge Menschen
worden. Ich kann zwar mit dem philosophischen Ansatz gibt? Können wir die Abwanderung stoppen? Unsere
meines Kollegen Krings nicht mithalten, Aufgabe sollte sein, das zu analysieren. Es gibt sehr
viele Sozialraumgutachten, die wir dabei verwenden
(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Dorothee Bär können.
[CDU/CSU]: Das geht uns ähnlich!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
rufe aber trotzdem in Erinnerung, dass der Begriff der
Nachhaltigkeit 1713 von Carl von Carlowitz bezogen Es werden auch einige Verkehrspolitiker Mitglieder
auf den Waldbau und die Landwirtschaft eingeführt des Beirates sein. Für sie sind insbesondere Fragen nach
wurde. der Infrastruktur und der Mobilität von Bedeutung.
Sicherlich werden wir andere Schwerpunkte setzen als
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Grünen. Wir brauchen aber eine Themenpalette, mit
NEN]: Inzwischen gab es schon eine Diskus- der alle leben können. Ich pflichte dem Kollegen von
sion! Es hat sich weiterentwickelt!) den Grünen bei, dass wir im Beirat die Themen frak-
tionsübergreifend erörtern sollten. Ich hoffe, dass wir
Ich erinnere aber auch daran, dass in der Folgezeit in entsprechende Beschlüsse fassen werden.
der Vergangenheit unseres Landes viele nachhaltige po-
litische Entscheidungen getroffen wurden. Ich darf drei Bildung, Forschung und Innovation sind Punkte, die
Beispiele nennen. An erster Stelle ist die Nachhaltigkeit mir besonders am Herzen liegen. Wer sich – wie ich ges-
der politischen Entscheidungen unter Bismarck mit der tern – das T-Com-Einfamilienhaus in der Leipziger
Einführung der Sozialsysteme zu nennen. Wir sind Straße, das komplett auf Hightech umgestellt wurde, an-
jetzt gefordert, die Sozialsysteme so zu reformieren, dass schaut, der weiß, welche Fragen sich in diesem Bereich
sie zukunftsfest werden. stellen. Wie sehen die neuen Lebensformen und die Ver-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2657
Dr. Andreas Scheuer
(A) netzungen aus? Man wird sich auch fragen müssen, vor (Beifall bei der SPD) (C)
welchen neuen Herausforderungen man im Bereich
Bauen und Wohnen steht. Hier wartet sehr viel Arbeit In diesem Sinne wird dieser Beirat Stellung beziehen.
auf uns. Er wird beraten, anregen, nachhaltige Entwicklung för-
dern und vorantreiben. Wir brauchen den Erfahrungs-
Ein weiterer Punkt sind die Fragen betreffend die austausch mit anderen Ländern und Volkswirtschaften.
Integration. Hier werden die Differenzen zwischen den Wir sollen und müssen Menschen und Organisationen
Fraktionen am größten sein. Wir werden uns anschauen mitnehmen, die sich über die Politik hinaus für die nach-
müssen, welche Fehler gemacht wurden. Wir werden haltige Entwicklung engagieren. Der Beirat wird einen
uns sicherlich mit den Grünen über das Scheitern der wichtigen Beitrag dazu leisten, nachhaltige Ziele im par-
Multikultigesellschaft streiten. Aber ich bin überzeugt, lamentarischen Geschehen zu verankern.
dass wir zu Ergebnissen kommen werden, die sich sehen
lassen können. Dabei ist der Beirat selbst, streng genommen, weniger
nachhaltig; denn wenn er erfolgreich arbeitet, wenn sich
Ich appelliere: Wir sollten fraktionsübergreifend ver- also Politik grundsätzlich an den Leitlinien der nachhal-
suchen, die Themen fein säuberlich zu gliedern und die tigen Entwicklung ausrichtet, dann macht er sich – ich
Kollegen aus den einzelnen Fachbereichen mit guten Ar- sage es einmal positiv – selbst überflüssig. Aber ich
gumenten zu versorgen. Ich freue mich jedenfalls auf die denke, das wird noch eine Zeit lang dauern, bis wir so
Arbeit. weit sind.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Oftmals steht beim Thema „nachhaltige Entwick-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der lung“ das Ökologische noch im Vordergrund. Aber wir
FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- haben es heute schon mehrfach gehört: Nachhaltige Ent-
SES 90/DIE GRÜNEN) wicklung geht weit über Ökologie hinaus. Es geht um
gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Belange.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Es geht auch um Bildung – das haben Sie gesagt, Herr
Zum Abschluss dieser Debatte hat das Wort der Kol- Scheuer – und um die Verbesserung unseres Schulsys-
lege Heinz Schmitt, SPD-Fraktion. tems. Es geht darum, mehr Arbeitsplätze für Jugendliche
zu schaffen. Es geht um eine erstklassige Forschung und
(Beifall bei der SPD) Lehre an Hochschulen, lebenslanges Lernen und die
Qualifizierung von älteren Arbeitnehmern. Es geht um
Heinz Schmitt (Landau) (SPD): Soziales und Familie. Es geht in einer Gesellschaft, die
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und immer älter wird, um eine gute Gesundheits- und Alters- (D)
(B)
Kollegen! Es ist natürlich nicht ganz einfach, als letzter vorsorge. Es geht darum, junge Familien, die Kinder
Redner einer Debatte, in der durchweg Konsens besteht, wünschen, zu unterstützen. Es geht um Gleichberechti-
etwas Neues zu sagen. Ich freue mich genauso wie gung und vor allen Dingen auch – ein aktuelles Thema –
meine Vorredner darüber, dass es uns auch in der um Integration.
16. Legislaturperiode gelungen ist, den Parlamentari-
schen Beirat für nachhaltige Entwicklung einzurichten. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es geht um Innovation in der Technik, um neue Arbeits-
plätze, um erneuerbare Energien. Es geht auch um die
Lieber Kollege Scheuer, ich möchte die Debatte und hohen Zuwachsraten bei nachhaltigen Produkten wie
die Arbeit ohne Vorbehalte gegen die Linken und die etwa in der Landwirtschaft.
Grünen beginnen. Wir sollten uns an der Sache orientie-
ren, bar jeglicher Ideologien und Blicke zurück. Es sollte Es geht um globale Verantwortung. Es geht um
ausschließlich um die Inhalte gehen. Egal wer sich kon- Schonung der Ressourcen, von Energie, aber auch von
struktiv beteiligt, wir sollten von vornherein die Zusam- anderen Rohstoffen, die zunehmend knapp werden. Es
menarbeit und nicht die Abgrenzung zum Ziel haben. geht um den Erhalt der biologischen Vielfalt. Unser
Sie alle haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Blick muss auch in andere Länder gehen, die andere,
Nachhaltigkeit mehr als Ökologie und mehr als Klima- aber keineswegs schlechtere Wege für die eigene Ent-
politik ist. Sie haben darauf hingewiesen, dass nachhal- wicklung finden müssen. Denn wollte die ganze Welt so
tige Entwicklung im globalen Dorf wie auch hier bei uns leben, wie wir es heute in den Industriestaaten tun,
in Deutschland unverzichtbar ist. Es gibt heute keine Po- bräuchten wir vermutlich mehr als zwei Erden, um den
litikbereiche mehr – wenn es überhaupt jemals welche Bedarf zu decken.
gab –, in denen man alleine vor sich hin wursteln konnte. Es geht also auch darum, Alternativen zu unserer der-
Die Aufgaben heißen Vernetzung, Abschätzung der Fol- zeitigen Lebens- und Wirtschaftsweise zu finden und zu
gen und Visionen für die Zukunft. Das alles gehört in ei- entwickeln. Nachhaltige Entwicklung ist also auch heute
ner verantwortungsvollen, also in einer nachhaltigen Po- schon eine pure Notwendigkeit, wenn wir nicht sehen-
litik zusammen. Im Bereich der Medizin spricht man den Auges in große Probleme geraten wollen.
sehr oft von ganzheitlicher Betrachtung. Wir brauchen
eine ganzheitliche Betrachtung der Erde und unserer Wir müssen heute die Weichen dafür stellen, wie wir
Aufgaben im Zusammenhang dessen, was wir zu beraten in Zukunft leben wollen. Noch können wir auf vielen
und zu beschließen haben. Gebieten beeinflussen, welches Gleis wir dabei befahren
2658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Heinz Schmitt (Landau)


(A) wollen. Darin liegt der eigentliche Reiz unserer Arbeit, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C)
der Arbeit des Beirates für nachhaltige Entwicklung. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Es geht also um große Chancen: wirtschaftliche
Chancen, gesellschaftliche Chancen, vielleicht auch kul- Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der
turelle Chancen. Denn mancher ist zurzeit auf der Suche Kollegin Dorothee Bär, CDU/CSU-Fraktion.
nach neuen Werten, nach einer neuen Leitkultur. Nach-
haltigkeit im kulturellen Bereich bietet vielleicht große (Beifall bei der CDU/CSU)
Chancen und große Perspektiven.
Dorothee Bär (CDU/CSU):
Nachhaltige Entwicklung muss – das habe ich vorhin Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
gesagt – natürlich über Parteigrenzen hinweg eine Ant- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
wort geben. Deshalb greife ich die Einrichtung des Bei- mich zu Beginn meiner Rede bei allen beteiligten Aus-
rates in dieser Legislaturperiode als ein erfreuliches, ein schüssen und bei allen Fraktionen für die sehr gute Zu-
positives Signal auf, ein Signal, bei dem wir uns in die- sammenarbeit bei der Änderung des Buchpreisbindungs-
sem Hause grundsätzlich einig sind. gesetzes bedanken.
Ich freue mich auf Ihre Impulse, auf konstruktive An- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg
regungen, auf viel Arbeit mit den anderen parlamentari- Tauss [SPD]: Das ist nett!)
schen Gremien. Es wird an uns liegen, welches Gewicht
der Parlamentarische Beirat in Zukunft haben wird. Ich – Ich möchte mich auch beim Kollegen Tauss persönlich
hoffe, wir bekommen diese Stimme – unsere Stimme – bedanken. Auch wenn er nicht ganz so involviert war,
oft zu hören. Ich hoffe auf offene Ohren bei allen Kolle- hat er sich persönlich angesprochen gefühlt. Herr Tauss,
ginnen und Kollegen des Bundestages. Ich hoffe darauf, also auch Ihnen herzlichen Dank!
dass wir alle noch skeptische Kolleginnen und Kollegen
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
mit unserer Arbeit in der Zukunft überzeugen können.
CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss [SPD]:
Herzlichen Dank. Ich war unglaublich involviert!)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Die große Einigkeit in unserem Haus bei diesem
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Thema zeigt, wie wichtig und wie wertvoll uns allen eine
hochwertige Ausbildung unserer Kinder ist. Hochwertig
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und wertvoll sollen dabei weiterhin die Lehrmittel, in
diesem Fall die Bücher, sein. Dazu waren Änderungen
Damit ist die Aussprache beendet.
(B) am bestehenden Buchpreisbindungsgesetz notwendig, (D)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der nachdem in einigen Bundesländern das Büchergeld ein-
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des geführt worden war.
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/1131 zur
Die Fraktionen stimmen darin überein, dass eine Neu-
Einsetzung eines Parlamentarischen Beirats für nachhal-
regelung sinnvoll ist und vor allem möglichst schnell
tige Entwicklung. Wer stimmt für diesen Antrag? – Ge-
umgesetzt werden muss. Das ist vor allem deswegen
genstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Antrag ist damit
notwendig, weil das neue Schuljahr in einigen Bundes-
einstimmig angenommen.
ländern bereits Mitte August beginnt und die Sammel-
Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird die rabatte zum Schuljahresbeginn unabhängig von der Fi-
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 15/5942 an nanzierungsart gewährleistet werden sollen.
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
Ich halte unsere Änderungen des Buchpreisbindungs-
schlagen. – Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.
gesetzes für beispielgebend, weil durch die Änderung
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
des Gesetzes aufgrund des Büchergeldes einzelne Fra-
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: gen geregelt werden, die in der Praxis zu Problemen
oder zu Auslegungsschwierigkeiten geführt haben.
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Auf der Regierungsbank ist es etwas unruhig.
derung des Buchpreisbindungsgesetzes
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das liegt aber
– Drucksache 16/238 – nur an Herrn Gabriel! – Peter Hintze, Parl.
Staatssekretär: Es war so spannend!)
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
– Drucksache 16/1118 – Wir dachten uns, dass es so spannend war. Aber viel-
Berichterstattung: leicht können Sie diese Spannung noch ein bisschen für
Abgeordnete Dorothee Bär sich behalten.
Monika Griefahn
Christoph Waitz Dorothee Bär (CDU/CSU):
Dr. Lukrezia Jochimsen Ich glaube, dass die Regierung auch beim Buchpreis-
Katrin Göring-Eckardt bindungsgesetz noch etwas lernen kann.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2659
Dorothee Bär
(A) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ihr aber recht schnell. – Dass wir das so schnell hinbe- (C)
CDU/CSU, der SPD und der FDP) kommen haben, war auf jeden Fall der großen Einigkeit
geschuldet, die ich mir in diesem Hohen Hause öfter
Wir haben dem Gesetzentwurf aus der ersten Lesung wünschen würde.
drei zentrale Punkte hinzugefügt: erstens die Verhinde-
rung des Missbrauchs bei rabattiertem Verkauf von Män- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg
gelexemplaren, zweitens die ungerechtfertigte Rabattie- Tauss [SPD]: Das hätten Sie schon früher ha-
rung von Neuauflagen und drittens die Erweiterung der ben können! – Monika Griefahn [SPD]: Bei
Nachlassregelung für Schulbücher von Privatschulen. der Buchpreisbindung waren wir uns auch
Besonders auf den letzten Punkt wird meine Kollegin schon beim letzten Mal einig!)
Rita Pawelski nachher noch ausführlich eingehen.
– Herr Tauss, Sie hätten es auch schon früher haben kön-
(Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Da nen. Aber jetzt ist es ja gut. Besser spät als nie.
freuen wir uns schon!)
(Beifall bei der CDU/CSU – Monika Griefahn
Insbesondere die Neuregelungen bei Rabatten auf [SPD]: Bei der Buchpreisbindung waren wir
Neuauflagen und bei Mängelexemplaren halte ich für uns auch schon beim letzten Mal einig!)
sehr wichtig, weil dadurch vor allem kleine Buchhand-
– Da waren Sie sich auch schon einig; okay.
lungen geschützt werden, die sich nicht an großen Ra-
battaktionen beteiligen können. Schutz von Literatur und erschwingliche Schulbücher
für unsere Kinder liegen uns allen am Herzen. Deshalb
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg
möchte ich Sie alle ganz herzlich um die Zustimmung zu
Tauss [SPD]: Sehen Sie! Das war unsere ge-
diesem Gesetzentwurf bitten und darf mit einem Wort
meinsame Idee!)
Gerhart Hauptmanns schließen:
– Genau, Herr Tauss: Das war unsere Idee. Das haben Die Kultur der Menschheit besitzt nichts Ehrwürdi-
wir gemeinsam großartig zustande gebracht. geres als das Buch, nichts Wunderbareres und
(Jörg Tauss [SPD]: Loben wir uns doch ein- nichts, das wichtiger wäre.
mal!) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Es ist ganz besonders wichtig, die kleinen Buchhand- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
lungen zu schützen. Sie garantieren uns doch eine Viel- FDP sowie der Abg. Priska Hinz [Herborn]
falt und eine besondere Auswahl an Büchern, die die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
breit gefächerte Literaturszene in Deutschland ausmacht.
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Wert des Lesens und der Wert von Büchern, in Für die FDP-Fraktion spricht der Kollege Christoph
diesem Fall besonders von Schulbüchern, wird – auch Waitz.
wenn ich es persönlich für schade halte – von einigen je- (Jörg Tauss [SPD]: Aber jetzt keine Schärfe,
doch erst dann erkannt, wenn sie dafür selbst zahlen Herr Waitz!)
müssen. Diesem Verfall von Werten müssen wir gerade
in den Schulen entgegenwirken, in denen das Lesen von
Christoph Waitz (FDP):
Büchern nicht zur alltäglichen Arbeit gehört. Das zeigt
Schauen wir mal!
nicht nur die aktuelle Diskussion über die Rütli-Schule
hier in Berlin, sondern das ist auch in sehr vielen vorhe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
rigen Diskussionen erkennbar gewesen. Wir wollen die- und Herren! Rechtzeitig vor dem kommenden Schuljahr
ses Problem aber auf keinen Fall hinnehmen, sondern soll die Änderung des Buchpreisbindungsgesetzes vom
setzen uns damit auseinander, weil es uns wichtig ist, Bundestag beschlossen werden. Hintergrund dieser Eile
dass das Lesen als Wert in unserer Gesellschaft mehr an- ist die Sorge einzelner Bundesländer, dass die Vorausset-
erkannt wird und besser geschützt werden kann. zungen für einen gesetzlichen Rabatt beim Kauf von
Schulbüchern nicht mehr vorliegen könnten. Ursache
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dafür ist, dass in Bundesländern wie Bayern, Hamburg,
neten der SPD und der Abg. Priska Hinz [Her-
Niedersachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt Eltern
born] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
zukünftig einen Anteil an dem Kaufpreis der Schulbü-
Dies gilt ganz besonders unter dem Aspekt, dass cher leisten sollen, der den öffentlichen Anteil über-
Deutschland auch weiterhin, wie wir es ja wohl wollen, steigt.
als das Land der Dichter und Denker assoziiert wird.
(Jörg Tauss [SPD], zur CDU/CSU gewandt:
Deshalb schützen wir die Autoren und die Verlage durch
Lauter schwarze Länder! Da müssen wir was
die Buchpreisbindung und aktualisieren gemeinsam und
tun!)
stetig dieses Gesetz.
– Herr Tauss, da haben Sie eine schöne Aufgabe.
Die Änderungen am Buchpreisbindungsgesetz sind
wieder ein Beispiel für das unkomplizierte und pragma- Dazu ist nicht viel zu sagen. Allein, es bleibt festzu-
tische Vorgehen. Ein Kollege hat vorhin gesagt: Die stellen, dass die schleichende Aushöhlung der Lernmit-
zweite und dritte Lesung finden jetzt schon statt. Da wart telfreiheit in diesen Bundesländern fortschreitet. Trotzdem
2660 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Christoph Waitz
(A) sehen wir von der FDP-Fraktion keinen Anlass, der vor- nicht, wie damit die Motive der Bundesregierung, näm- (C)
gelegten Gesetzesänderung in diesem Punkt unsere lich Stärkung des Kulturgutes Buch und Erhaltung der
Zustimmung zu versagen. Die desolate Lage vieler Län- Vielfalt der Verlags- und Buchhandelslandschaft, umge-
derhaushalte ist vielmehr Grund genug, dieser Gesetzes- setzt werden sollen.
änderung zuzustimmen, damit mit dem gesetzlichen Ra-
batt öffentliche Gelder eingespart und hoffentlich besser Aber wir begrüßen die Einführung der Kennzeich-
investiert werden können. nungspflicht für Mängelexemplare; denn der bislang
geltende Wortlaut ermöglichte Spielräume zur Umge-
(Beifall bei der FDP) hung der Buchpreisbindung. Die neue Regelung dient
dazu, Missbrauch der Mängelexemplarregelung zu un-
Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf wurden jetzt
terbinden.
auch die freien Träger allgemein bildender Schulen in
die Rabattklausel aufgenommen. Ich begrüße das aus- (Jörg Tauss [SPD]: Richtig!)
drücklich; denn freie Schulen erfüllen in Deutschland
eine ganz wesentliche Funktion: Sie ergänzen das Bil- Wir begrüßen die Einführung einer Räumungsver-
dungsangebot unseres öffentlichen Schulwesens. Aktuell kaufsklausel, die die Liquidation einer Buchhandlung
besuchen rund 800 000 Schüler freie Schulen, davon erleichtert. Der noch vorhandene Lagerbestand kann so
390 000 Schüler eine Einrichtung in konfessioneller Trä- auf einfache Art und Weise verkauft werden.
gerschaft. Freie Schulen sind daher auch Ausdruck eines (Beifall bei der FDP)
Wahlrechts unserer Bürger. Sie können ihre Kinder mit
einem anderen inhaltlichen Schwerpunkt oder nach ei- Zukünftig sollen nach dem Gesetzentwurf Bücher
nem anderen pädagogischen Konzept unterrichten las- von der Buchpreisbindung ausgenommen werden dür-
sen. Damit stellt das Angebot der freien Schulen auch fen, deren Erscheinen länger als 18 Monate zurückliegt.
den notwendigen Wettbewerb her, der der Qualitätsver- Es handelt sich hier um eine Kannregelung. Damit wer-
besserung unserer öffentlichen Schulen nur förderlich den Situation vermieden, in denen sowohl eine preisge-
sein kann. bundene als auch eine nicht preisgebundene Auflage ei-
nes Buches auf dem Markt erhältlich sein kann.
Ein weiterer Grund ist in den letzten Jahren für die El-
tern hinzugekommen. Viele Eltern wollen ihre Kinder in Wir hoffen, dass mit dem geänderten Gesetzestext die
Wohnortnähe einschulen und unterrichten lassen. Die Arbeit in der Praxis einfacher wird – auch wenn wir da-
immer kleiner werdende Anzahl von Kindern in unserem mit das Kulturgut Buch vermutlich nicht stärken werden.
Land führt dazu, dass sich insbesondere die Flächenstaa-
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
ten aus der flächendeckenden Versorgung mit Schulen
(B) verabschieden. Dies betrifft aktuell mehr Länder im Os- (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Wir (D)
ten Deutschlands, aber eine vergleichbare Entwicklung wollen es stärken!)
ist auch in den westlichen Bundesländern absehbar. Das
bedeutet für die betroffenen Eltern, dass sie ihre Kinder Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
zum Teil über beträchtliche Entfernungen in die nächste
Als Nächste hat die Kollegin Monika Griefahn, SPD-
Schule bringen müssen oder ihren Kindern mit dem
Fraktion, das Wort.
Schulbus einen zeitlich erheblich längeren Schulweg zu-
muten müssen. Selbst wenn das Bildungsangebot an die-
sen Mittelpunktschulen nicht notwendigerweise schlech- Monika Griefahn (SPD):
ter sein muss, so ergeben sich doch weitere Nachteile Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
durch erhöhte Schülerzahlen pro Klasse und eine gerin- legen! Ich denke, wir in Deutschland können stolz sein,
gere soziale Kontrolle in den Schulen. dass es uns in der Kultur- und Medienpolitik in den letz-
ten Jahren immer wieder gelungen ist, starke Pfosten für
Freie Träger für die von der Schließung bedrohten die Kulturförderung einzuschlagen. Das Buchpreisbin-
Schulen sind eine realistische Alternative, die nur daran dungsgesetz 2002 ist dabei ein wichtiger Baustein – Frau
krankt, dass die regionalen Schulämter diese Konkur- Bär, wir hatten damals dieses Gesetz bereits einstimmig
renz fürchten und daher bei der Zulassung der Schulen in hier im Bundestag verabschiedet –; denn wir haben da-
freier Trägerschaft ausgesprochen zurückhaltend sind. mit eine einzigartige Vielfalt von Büchern und eine
(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE große Zahl von Buchhandlungen bewahrt. Das gibt es in
GRÜNEN]: Die Länder machen die Gesetze vielen Ländern nicht.
dafür!)
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne
– Sie kommen gleich dran. – Für mich ist es daher ein Kastner)
schönes Zeichen, wenn in dem neuen Buchpreisbin-
In dem Film „E-Mail für Dich“ wurde – wer ihn gesehen
dungsgesetz öffentliche Schulen und Schulen in freier
hat, weiß das – der Verdrängungskampf großer Buch-
Trägerschaft gleichberechtigt nebeneinander genannt
handlungsketten in den USA gegenüber kleinen, gedie-
werden. Hoffentlich wird diese nötige Gleichbehandlung
genen Buchhandlungen, in denen man noch beraten
der freien Schulen auch auf Länderebene durch die Regi-
wird, sehr deutlich. Ich fand immer, der Film war eine
onalschulämter umgesetzt.
gute Empfehlung, wenn man deutlich machen wollte,
Vier weitere Änderungen des Buchpreisbindungsge- warum es sich lohnt, für das Buchpreisbindungsgesetz
setzes werden vorgeschlagen. Auch jetzt weiß ich noch einzutreten; man kann ihn noch heute empfehlen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2661
Monika Griefahn
(A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dungsgesetz gibt. Da bekommen Sie zwar unter Umstän- (C)
den preiswerte Taschenbücher – im Paperbackformat,
Frau Bär sagte es schon: Wenn wir uns als Volk der billig gedruckt –, aber es gibt keine aufwendig ausgestat-
Dichter und Denker bezeichnen lassen wollen, dann ist teten Bücher und – auch das muss man bedenken – keine
es nur konsequent, kulturpolitisch auch die Vorausset- wissenschaftlichen Bücher zu erschwinglichen Preisen.
zungen dafür zu schaffen. Ich glaube anders als Sie, Herr Diese Bücher können Sie unter Umständen in Amerika
Waitz, dass wir mit dem Buchpreisbindungsgesetz tat- von Universitätsverlagen nur zu einem sehr hohen Preis
sächlich einen Teil dazu beitragen, das Buch als Kultur- kaufen. Die Quersubventionierung geht nur bei Buch-
gut zu schützen. Das Buch kann als sinnlich wahrnehm- preisbindung. Auch deswegen ist sie so wichtig.
bares, erlebbares Element, als haptischer Gegenstand
durch ein E-Buch nicht ersetzt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] und des CDU/CSU)
Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/ Wir wollen in kleinen und mittleren Orten in der Pro-
CSU]) vinz die Buchhandlungen erhalten. Auch dafür braucht
Ein Buch zum Beispiel im Zug in die Hand zu nehmen man die Buchpreisbindung. Wir wollen außerdem – auch
und zu lesen, vermittelt etwas anderes, als dies ein E- das wurde noch nicht gesagt – eine angemessene Vergü-
Buch könnte. tung für die Urheber, für die Autorinnen und Autoren
sowie die Übersetzer. Das geht aber nur, wenn man mit
Auch eine Buchhandlung auf dem Lande, wo ich einem Buch einen bestimmten Preis erzielt.
wohne, hat eine besondere Bedeutung.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stimmt!)
Im anderen Fall würden die Honorare immer weiter sin-
Das ist auch ein Treffpunkt. Dort gibt es Lesungen, da ken.
treffen sich Leute, da wird nebenbei auch beraten, die
Verkäuferinnen und Verkäufer geben die neuesten Emp- Das Schöne an der Buchpreisbindung ist, dass sie von
fehlungen. Das gibt es nur in den flächendeckend ver- allen Seiten Zustimmung findet. Die Verleger, die Auto-
teilten kleinen Buchhandlungen und nicht in den Kauf- ren und die Buchhändler sind der Ansicht, dass es richtig
hausketten in den großen Städten oder bei einer ist, Bücher nicht mit üblichen Handelswaren gleichzu-
Bestellung über E-Bay oder Amazon. Deswegen sind sie setzen, sondern sie als Kulturgut zu schützen. Ich
wichtig. glaube, auf diesen wichtigen Punkt müssen wir hinwei-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP sen.
(B) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
Ich möchte in diesem Zusammenhang ebenfalls da-
Zum ersten Mal kam die Buchpreisbindung auf den rauf hinweisen, dass wir in der Koalitionsvereinbarung
Prüfstand der Europäischen Kommission, nachdem der den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent für
österreichische Handelskonzern Libro ein Beschwerde- Bücher festgeschrieben haben.
verfahren angestrengt hatte. Er war nämlich von einigen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU –
deutschen Verlagen nicht mehr beliefert worden, nach- Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
dem er Bücher im Internet 20 Prozent unter dem offiziel- Ein guter Vorschlag des Staatsministers!)
len Preis angeboten hatte. Ich glaube, wir müssen uns an
diese Geschichte noch einmal erinnern, damit deutlich Ich glaube, auch dieser Hinweis ist wichtig. Denn viele
wird, warum es sich lohnt, für das Buchpreisbindungsge- wissen nicht, dass Kultur und Medien für diese Regie-
setz zu kämpfen. rung eine wichtige Rolle spielen.
Wir haben das Buchpreisbindungsgesetz deshalb Für die Schulbuchfinanzierung ist wichtig, dass die
2002 wie Frankreich, Österreich und die Schweiz verab- Schulbücher gemeinsam angeschafft werden, damit wei-
schiedet. Wichtig ist, dass unter dieses Gesetz neben Bü- terhin Rabatt gewährt werden kann. Bisher hieß es, dass
chern auch Musiknoten, kartografische Produkte und Sammelrabatt für Schulbücher gewährt wird, wenn die
Produkte, die mit Büchern kombiniert sind, wie zum Schulbücher „überwiegend von der öffentlichen Hand
Beispiel CD-ROMs und Lernkassetten, fallen. Das wis- finanziert werden“. Jetzt soll es möglich sein, dass die
sen viele Leute nicht; aber auch das ist ein notwendiges ermäßigten Preise auch für die Eltern, die die Bücher
Element, gerade im Unterricht. selber bezahlen müssen, gewährleistet sind. Diese wich-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wolfgang tige Information, dass wir heute dieses Gesetz verab-
Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]) schieden, sollten die Kolleginnen und Kollegen in ihren
Wahlkreisen weitergeben, damit in den Schulen die Bü-
Mein Kollege Tauss hat in der ersten Lesung auf die cher gemeinsam bestellt werden und so die Rabatte in
wichtigen Ziele hingewiesen. Er hat mit eindrucksvollen Anspruch genommen werden können.
Zahlen unterstrichen, wie wichtig das Erreichen dieser
Ziele ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg
Tauss [SPD]: Da sollten wir noch ein Rund-
Wir wollen die große Vielfalt und die hohe Qualität schreiben machen!)
des Buchangebots in Deutschland sichern. Schauen Sie
einmal in andere Länder, in denen es kein Buchpreisbin- – Genau, das machen wir heute auch noch.
2662 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Monika Griefahn
(A) Die Privatschulen, die nach den Schulgesetzen den Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (C)
Status staatlicher Ersatzschulen haben, sollen diese Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
Möglichkeit ebenfalls haben. Das finde ich wichtig, legen! Es scheint im Moment die Stunde der gegenseiti-
sonst wäre es nicht sinnvoll, dass sie staatlich anerkannt gen Belobigungen zu sein.
sind.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Wir haben die Kennzeichnungspflicht bei Mängel- Weitermachen! Nicht aufhören! – Rita
exemplaren dahin gehend geändert, dass nur nicht ein- Pawelski [CDU/CSU]: Loben Sie uns mal!
wandfreie Bücher als Mängelexemplare mit Rabatt ver- Machen Sie das mal!)
kauft werden können. Auch das ist ein Schutz für die Die Fraktionen arbeiten wunderbar. Der Wert des Lesens
kleineren Buchhandlungen. Damit stellen wir eine flä- wird gewürdigt. Die kleinen Buchhandlungen werden
chendeckende Versorgung sicher, was ebenfalls sehr geschützt und gefördert. Es wird Sie nicht verwundern:
wichtig ist. In diesem Zusammenhang kommt natürlich sofort auch
ein Bekenntnis unserer Fraktion dazu, dass wir die
Im Räumungsverkauf ältere Titel anbieten zu können,
Buchpreisbindung für ein unverzichtbares Instrument
ist auch ein wichtiger Punkt. Häufig gab es die Situation,
halten, um das Kulturgut Buch allen zugänglich zu ma-
dass für eine unveränderte Neuauflage die Buchpreisbin-
chen.
dung galt, während die Exemplare der alten Auflage ver-
ramscht wurden. Das kann nicht angehen. Wenn eine (Beifall bei der LINKEN)
Auflage unverändert bleibt, dann fallen auch die alten
Bücher unter die Buchpreisbindung. Auch das ist ein Im Wissen um den Wert der Bücher für die Bildung und
wichtiger Punkt, um einen Missbrauch zu verhindern. die Entwicklung eines jeden Menschen und vor allem
der Heranwachsenden haben wir uns stets dafür einge-
Dass die Buchpreisbindung für Ausgaben aufgehoben setzt, Bücher aus der Logik des Marktradikalismus und
wird, deren erstes Erscheinen länger als 18 Monate zu- der Profitmaximierung herauszuhalten.
rückliegt, ist wichtig, damit die Buchhändler weiter pla- (Beifall bei der LINKEN)
nen können, wenn die Verleger ihre Bücher nicht mehr
zurücknehmen. Damit wird das Kulturgut Buch nicht ge- Nun diskutieren wir heute im Grunde gar nicht über
fährdet. Aber es eröffnet die Möglichkeit, neue Titel auf- den Wert und die Bedeutung der Buchpreisbindung,
zunehmen. Das alles sind wichtige Elemente. auch wenn wir uns formalrechtlich mit einer Änderung
des Buchpreisbindungsgesetzes befassen. Wir haben uns
Ich glaube, dass die Handelsketten, die einen starken vielmehr mit einem bildungspolitischen Thema von
Verdrängungswettbewerb aufgrund der Masse der ver- höchster Problematik auseinander zu setzen. Das ist bei
(B) (D)
kauften Bücher ausüben, immer wieder darauf hingewie- Ihnen nur in Nebensätzen erwähnt worden. Die Kollegin
sen werden müssen, dass die Buchhandlungen in der von der CSU sprach nur allgemein von der Bücherrege-
Fläche wichtig sind und dass der Wettbewerb nicht zu lung und beschrieb gar nicht, was damit gemeint ist.
einer Verdrängung dieser kleinen Buchhandlungen füh-
ren darf. Wir werden diese Entwicklung weiterhin be- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
gleiten. Wenn Änderungen notwendig sind, werden wir Oh doch, das hat sie gesagt! Sie haben nur
sie durchführen. nicht zugehört! – Rita Pawelski [CDU/CSU]:
Das hat sie doch gemacht!)
Wir wollen die breite Vielfalt. Eine Buchhandlung, in Es geht um die um sich greifende Abschaffung der
der man sich trifft, in der man miteinander spricht und in Lernmittelfreiheit in unserem Land.
der man beim Bestellen eines Schulbuchs nebenbei noch
ein Buch für die Kinder kauft, stellt einen wichtigen kul- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
turellen Beitrag dar, der vor Ort geleistet wird. Deswe- Ich weiß, dass das in der Verantwortung der Länder
gen kämpfe ich dafür, dass jede Buchhandlung in der liegt. Bereits fünf Bundesländer haben die Regelung ein-
Fläche erhalten bleibt, geführt, wonach sich die Schüler bzw. die Eltern an der
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Bezahlung der Schulbücher in einem Umfang von mehr
Wir auch!) als 50 Prozent beteiligen müssen. Dadurch ist die Sam-
melrabattklausel gefährdet und nur deswegen müssen
genauso wie eine Bäckerei oder ein Lebensmittel- wir uns heute im Grunde genommen formalrechtlich mit
geschäft. der Buchpreisbindungsproblematik befassen. Den Nach-
lass von 8 bis 15 Prozent für Schulbücher, die nun nicht
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – mehr überwiegend von der öffentlichen Hand finanziert
Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Sehr gute werden, wollen wir für Eltern und Schüler erhalten und
Rede, Frau Griefahn!) retten. Das ist richtig und deswegen setzen wir uns
mehrheitlich für den vorliegenden Gesetzentwurf ein.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir müssen aber auch darauf hinweisen, dass mit den
Das Wort hat die Kollegin Dr. Jochimsen, Fraktion insgesamt für den Kauf von Schulbüchern zur Verfügung
Die Linke. stehenden Mitteln in Zukunft immer weniger Bücher an-
geschafft werden können; es sei denn, die Eltern und die
(Beifall bei der LINKEN) Schüler steigen finanziell ein. Wir werden zwar der Ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2663
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) setzesänderung zustimmen, damit der Preisnachlass bei entwurf und auch heute ein großer Konsens darüber, (C)
Schulbüchern ungeachtet der Höhe und des Umfangs der welche Korrekturen notwendig sind, und über die Rege-
privaten Mitfinanzierung erhalten bleibt. Den Eltern und lungen, die getroffen werden sollen. Auch im federfüh-
den Schülern wird jetzt ein geringer Sammelrabatt ge- renden Kulturausschuss wurde den vom Bundesrat vor-
währt. Aber die Frage ist: Werden sie in Zukunft nicht geschlagenen und von der Bundesregierung ergänzten
verstärkt an der Finanzierung der Bücher beteiligt wer- Änderungen in großer Einigkeit zugestimmt.
den? Werden sie nicht verstärkt die Bücher selbst kaufen
müssen? Die Entwicklung, die diese Gesetzesänderung Heute ist wieder deutlich geworden, dass ein ausge-
notwendig macht, ist aus unserer Sicht hoch problema- prägtes Bewusstsein für Sinn und Zweck des Buchpreis-
tisch, weswegen sich einige Mitglieder unserer Fraktion bindungsgesetzes besteht. Frau Jochimsen, es geht auch
bei diesem Gesetzesvorhaben enthalten werden. darum, die einzigartige Vielfalt der Verlags- und Buch-
handlungslandschaft in Deutschland zu erhalten und
Wenn heute bereits in fünf Bundesländern die Eltern das Buchangebot für eine breite Öffentlichkeit zugäng-
bzw. volljährige Schüler einen Teil der Kosten für die lich zu halten.
Schulbücher selbst tragen müssen, dann hat das natürlich
Folgen. Diese Folgen sind: noch größere soziale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Ungleichheiten beim Zugang zur Bildung. Da kann bei der CDU/CSU und der SPD)
man dann noch so schöne Worte über den Wert des Bu- Auch wir, die Grünen, bekennen uns ausdrücklich zu
ches und des Lesens verlieren. Dies heißt letztlich: eine der dem Buchpreisbindungsgesetz zugrunde liegenden
noch größere soziale Ungleichheit beim Zugang zur Bil- Idee, wonach das Buch in erster Linie nicht Wirtschafts-
dung. Das ist schon heute das Hauptproblem unseres gut, sondern Kulturgut ist und wonach der Zugang zu
Bildungssystems. In allen internationalen Vergleichsstu- diesem Medium insbesondere auch in ländlichen Gebie-
dien werden wir davor gewarnt, den Weg der sozialen ten durch entsprechende Buchhandlungen gewährleistet
Ungleichheit beim Zugang zur Bildung und zu Büchern werden muss.
fortzusetzen.
(Christoph Waitz [FDP]: Aber darum geht es
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Es wird keiner doch gar nicht!)
sozial benachteiligt! Es gibt eine Dritte-Kind-
Regelung! Das stimmt alles nicht, was Sie sa- Frau Griefahn, sogar in Großstädten besteht das Pro-
gen!) blem, dass große Buchhandlungen kleine Buchhandlun-
gen verdrängen. Der Wettbewerb ist in vollem Gange.
– Die internationalen Studien zeigen auf, dass die Ver- Mit dem Buchpreisbindungsgesetz schaffen wir es im-
hältnisse in unserem Land auseinander gehen. Soziale merhin, dass in ländlichen Regionen noch ein vielfälti-
(B) Bildungsdeterminanten sind dabei sehr wichtig. ges Angebot vorherrscht. Wir wollen das beibehalten. (D)
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Keiner muss unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
sozialer Ungleichbehandlung leiden!) Zuruf von der Linken: Ihr wollt doch Wettbe-
werb!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
In diesem Sinne gilt es, den gleichberechtigten und brei-
Frau Kollegin Jochimsen, ich würde auf diese Zurufe
ten Zugang zu kultureller Bildung zu erhalten und damit
jetzt nicht reagieren; denn Sie haben Ihre Redezeit über-
Leseförderung zu betreiben.
schritten und müssen zum Ende kommen.
Ich halte es für richtig, deutlich zu machen, wie wich-
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): tig Bücher sind, gerade weil sie Kinder ansprechen.
Ich komme zum Schluss. – Eine sozial gerechte Bil- Wenn man daran denkt, wie Kinder Bilderbücher in die
dung kann nur bei umfassender und ausreichender Fi- Hand nehmen, dann erkennt man, dass ein Computer
nanzierung durch die öffentliche Hand gewährleistet – Gott sei Dank – nicht mithalten kann. Deswegen ist es
werden. Die Privatisierung der Bildungskosten – mit notwendig, dass wir dieses Gesetz beibehalten.
Sammelrabatt oder ohne – führt genau in die falsche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Richtung. bei der CDU/CSU und der SPD)
Danke sehr. Allerdings werden nun Änderungen vorgenommen,
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Uwe Küster damit Rabatte bei Sammelbestellungen von Schul-
[SPD]: Ausrufezeichen!) büchern auch dann möglich sind, wenn mehr als
50 Prozent der Schulbuchkosten von Eltern oder volljäh-
rigen Schülern übernommen werden. Es ist leider Tatsa-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
che, dass in vielen Bundesländern eine Eigenbeteiligung
Das Wort hat die Kollegin Priska Hinz, Bündnis 90/ eingeführt wird. Frau Jochimsen, wir im Bundestag kön-
Die Grünen. nen – so bedauerlich das auch ist – nichts daran ändern.
Unabhängig von Ihrer politischen Haltung dazu sind
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch wir der Meinung, dass die Lehr- und Lernmittel-
NEN): freiheit ein hohes Gut ist. Wir sollten es deshalb den El-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tern vonseiten des Bundes nicht noch schwerer machen,
herrschte schon bei der ersten Debatte über den Gesetz- sondern ihnen das Leben erleichtern, indem wir diese
2664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Priska Hinz (Herborn)


(A) Rabattregelung ermöglichen. Deswegen stimmen wir Die zahlreichen Verlage und Buchhandlungen in un- (C)
diesem Gesetzentwurf zu. serem Land werden von diesen Maßnahmen profitieren.
Der missbräuchliche Handel mit Büchern wird erschwert
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und der Buchmarkt weiter gestärkt. Das ist gut so. Noch
bei der CDU/CSU und der SPD – Wolfgang besser ist, dass der Gesetzgeber schnell gehandelt hat,
Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Vernünftig!) um Fehlentwicklungen abzuwehren. Besonders wichtig
Bliebe die alte Regelung bestehen, könnten mit der glei- ist aber: Mit dem Gesetz werden auch die Voraussetzun-
chen Geldsumme noch weniger Bücher angeschafft wer- gen der Rabattpflicht bei Sammelbestellungen preisge-
den. bundener Schulbücher geändert; das ist § 7 des Buch-
preisbindungsgesetzes. Das wurde notwendig, weil sich
Wir halten es auch für richtig, dass die Privatschulen einige Bundesländer aus finanziellen Gründen von der
in die neue Nachlassregelung einbezogen werden sollen, Lernmittelfreiheit verabschieden mussten; übrigens,
weil die Kinder nicht mehr und nicht weniger als Kinder Frau Jochimsen, Berlin auch. Rot-Rot hat die Lernmit-
an staatlichen Schulen wert sind. telfreiheit abgeschafft; auch hier in Berlin müssen Eltern
Wir halten auch jene Punkte, die die Bundesregierung etwas zuzahlen.
in Ergänzung eingebracht hat, für richtig: die Einführung (Beifall bei der CDU/CSU – Wolfgang
einer Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare, den Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Eine zutref-
Einbau einer Räumungsverkaufsklausel und die Klar- fende Bemerkung!)
stellung hinsichtlich der Buchpreisbindungsregel bei un-
verändertem Nachdruck eines Buches. Herr Tauss, auf Ihren Zwischenruf, falls er denn kom-
men sollte – er hat sich vorhin schon angedeutet –,
Wenn der Bundesrat und die Bundesregierung einmal möchte ich sagen:
sinnvolle Vorschläge machen, dann stimmen wir als Op-
position gerne zu. (Heiterkeit)
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Ich würde mit Ihnen gern über die niedersächsische
GRÜNEN]: Das ist ja selten genug!) Schulpolitik diskutieren, nicht über die Schulpolitik die-
ser, der CDU-geführten Landesregierung, sondern die
Es wird wahrscheinlich nicht so oft vorkommen, aber der vorhergehenden Regierung.
heute stimmen wir gerne zu.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Herzlichen Dank. Gehen Sie in die Offensive!)
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Mein Kronzeuge, der ehemalige Ministerpräsident, sitzt (D)
bei der CDU/CSU und der SPD) ja hier auf der Regierungsbank. Er wird bestätigen kön-
nen, was in diesem Bereich damals alles schief gelaufen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rita Pawelski,
CDU/CSU-Fraktion. (Monika Grütters [CDU/CSU]: Der hört nur
leider nicht zu!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Durch die wegfallenden Rabatte wären Eltern – das
wurde eben schon sehr gut gesagt – zusätzlich belastet
Rita Pawelski (CDU/CSU): worden, und das schon ab dem nächsten Schuljahr. Wir
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben das verhindert und das ist prima.
Meine Damen und Herren! Bücher verursachen viele
Wirkungen: Sie bilden, sie regen zum Träumen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Nachdenken an, sie polarisieren und stacheln auf, sie neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
können aber auch verbinden: Jung und Alt, Mann und GRÜNEN)
Frau, Ost und West und neuerdings auch Koalition und Neu ist: In den Genuss der Rabatte kommen jetzt
Opposition. auch die allgemein bildenden Privatschulen, wenn sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Status staatlich genehmigter Ersatzschulen besitzen.
neten der SPD – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
[CDU/CSU]: Kluge Rede!) Das ist auch gerecht so!)
Das haben die Beratungen des vorliegenden Gesetzent- Auch ihnen müssen die Verkäufer Rabatte bei Sammel-
wurfes gezeigt. In seltener Harmonie und Einigkeit bestellungen gewähren; in der Regel sind das zwischen
haben wir uns auf das Wichtigste und Wesentlichste 8 und 15 Prozent. Der Bundesverband Deutscher Privat-
geeinigt. Das Buchpreisbindungsgesetz wird den verän- schulen ist erfreut über die fraktionsübergreifende
derten Rahmenbedingungen angepasst. Es wird eine ge- Zustimmung – endlich Politiker, die schnell agieren und
setzliche Kennzeichnungspflicht für Mängelexemplare zupacken. Das herzliche Dankeschön gebe ich an Sie
geben; es wird eine spezielle Räumungsverkaufsklausel alle hiermit weiter.
eingeführt und es wird die Regelung zur Aufhebung der
Preisbindung klargestellt. Meine Kollegin Dorothee Bär (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
hat darüber schon ausführlich berichtet. neten der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2665
Rita Pawelski
(A) Meine Damen und Herren, unsere Schulen in freier Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: (C)
Trägerschaft leisten qualitativ hochwertige Arbeit und
sorgen für pädagogische Vielfalt und für Wettbewerb. Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sie sind bei den Eltern und, wie ich höre, auch bei den Dr. Reinhard Loske, Hans-Josef Fell, Sylvia
Schülern sehr beliebt. Das zeigen die steigenden Schü- Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der
lerzahlen. Es ist schon bemerkenswert, dass sie nach Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
dem Pisaschock deutlich nach oben gegangen sind: Um Nie wieder Tschernobyl – Zukunftssichere
11 Prozent sind die Schülerzahlen bei den Privatschulen Energieversorgung ohne Atomkraft
gestiegen.
– Drucksache 16/860 –
Was sind Privatschulen? Oft wird gesagt: Das sind Überweisungsvorschlag:
Eliteschulen nur für Reiche. Das stimmt nicht. Es gibt Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)
207 Hauptschulen in diesem Bereich, an denen über Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
25 000 Jugendliche unterrichtet werden. An diesen Ausschuss für Bildung, Forschung und
Schulen – wir haben gerade in den letzten Tagen erfah- Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ren, wie schlimm die Situation an manchen Hauptschu-
len ist – wird eine sehr gute, auch sehr gute integrative Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Arbeit geleistet. Privatschulen sind integrierte Gesamt- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
schulen; das sind Abendgymnasien, Kollegs; das sind keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
aber auch Waldorfschulen. An insgesamt 180 Waldorf-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
schulen werden 75 000 Schülerinnen und Schüler unter-
gin Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
richtet. Und: Privatschulen sind auch Konfessionsschu-
len, die eine sehr, sehr gute Arbeit leisten.
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
neten der SPD, der FDP und des BÜNDNIS- Gestern hat sich der Umweltausschuss in einer öffentli-
SES 90/DIE GRÜNEN) chen Sitzung mit dem GAU in Tschernobyl vor 20 Jah-
Sie alle profitieren von der neuen Regelung und erhalten ren befasst. Gäste waren Wissenschaftler, Botschafter
Schulbücher künftig mit Rabatt. und die ersten Vorsitzenden des damals installierten
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
Ich freue mich, dass wir diese Änderungen gemein- sicherheit.
sam und einvernehmlich durchgesetzt haben, und ich
hoffe, dass diese Einigkeit in diesem Hause kein einma- Wissenschaftler differieren trotz ihrer Faktenbezo-
(B)
liger Vorgang ist, sondern dass wir an anderen wichtigen genheit in ihren Aussagen und Einschätzungen genauso (D)
Stellen genauso gemeinsam arbeiten. wie wir Politiker. So zelebrierten sie für uns gestern eine
Auseinandersetzung über die Frage, von wie vielen
Vielen herzlichen Dank. Toten man infolge des GAUs tatsächlich reden könnte.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ich will heute als Erstes sagen, dass ich diesen Streit der
der Abg. Angelika Brunkhorst [FDP] und der Statistiker müßig und für die politische Bewertung über-
Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/ flüssig finde.
DIE GRÜNEN]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Ich schließe die Aussprache. Die Dimension dessen, was dort passiert ist, macht sich
nicht an der faktischen Anzahl der Toten fest. Für die
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent- politische Bewertung ist auch nicht relevant, ob die
wurf des Bundesrates zur Änderung des Buchpreisbin- Menschen an den direkten Folgen der Strahlung gestor-
dungsgesetzes auf Drucksache 16/238. Der Ausschuss ben sind, ob eine Krankheit, die sie sowieso schon hatten
für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschluss- oder bekommen hätten, durch die Strahlung intensiviert
empfehlung auf Drucksache 16/1118, den Gesetzentwurf wurde, oder ob sie Selbstmord begangen haben, weil sie
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- die persönlichen oder gesellschaftlichen Veränderungen
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- nicht verkraften konnten. All diesen Menschen wurde
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe! – ihr Recht auf Leben durch eine von niemandem ge-
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter wollte, aber dennoch von Menschen gemachte Katastro-
Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- phe gravierend beschnitten. Die gesellschaftliche Di-
men. mension des Unfalls ist bis heute nicht fassbar. Der
Wirtschaftsattaché der deutschen Botschaft in Minsk,
Dritte Beratung
Wolfgang Faust, hat dazu gestern gesagt, dass dort eine
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- ganze soziokulturelle Tradition verschwunden ist.
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegen-
Die für uns entscheidende Frage ist, welche Konse-
probe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den
quenzen wir aus dem Unfall von Tschernobyl ziehen.
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Hieran scheiden sich die Geister in Wissenschaft wie
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Politik. Für manche lautet die Konsequenz, gute
2666 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Sylvia Kotting-Uhl
(A) deutsche Technologie so weit wie möglich zu exportie- Der Weg zur zukunftsfähigen Energieversorgung sind (C)
ren. Wir Grünen ziehen bekanntermaßen eine andere die erneuerbaren Energien und Effizienz. Das funktio-
Konsequenz. Wir halten es für richtig, dass mit Deutsch- niert, schafft Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze,
land ein hoch industrialisiertes Land zeigt, dass man auf ist auf Dauer billiger als jede andere Form der Energie-
eine hoch entwickelte Technologie verzichten kann, erzeugung und verringert globale Konfliktpotenziale.
wenn man das ihr immanente Restrisiko für nicht hin- Und es ist der Auftrag, den uns Tschernobyl gibt.
nehmbar hält.
Lassen Sie uns diesen Auftrag in diesem Hohen Haus
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemeinsam weiterführen. Ihr Kummer darüber, liebe
sowie bei Abgeordneten der SPD) Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dass Sie unse-
rem Antrag heute nicht zustimmen dürfen, ist bekannt.
Das Restrisiko bleibt, auch wenn uns Wissenschaft- Bleiben Sie in der Frage des Atomausstiegs standhaft,
ler heute erzählen, dass die nächste zu entwickelnde Ge- dann sehen wir Ihnen das heute nach.
neration von Atomkraftwerken – Zitat von gestern – „ka-
tastrophenfrei“ laufen kann. Es sind nicht unbedingt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
dieselben Wissenschaftler wie die, die uns vor 20 Jahren sowie bei Abgeordneten der SPD – Ulrich
etwas von der Sicherheit der Anlagen außerhalb der da- Kelber [SPD]: So wie bisher!)
maligen Sowjetunion erzählt haben, aber es sind diesel-
ben Botschaften. Dagegen steht: Harrisburg 1979, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Tokaimura 1999, Paks 2003, Sellafield 2005. Auch bei Nächster Redner ist der Kollege Philipp Mißfelder,
uns gab es eine Reihe gravierender Störfälle, bei denen CDU/CSU-Fraktion.
ein klein bisschen mehr menschliches Versagen zu gra-
vierenden Folgen hätte führen können. (Beifall bei der CDU/CSU)

Die Sicherheitslage hat sich seit 1986 nicht entschärft. Philipp Mißfelder (CDU/CSU):
Der 11. September 2001 hat eine zusätzliche Dimension Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
eröffnet, die Proliferationsgefahr hat sich vergrößert. Wenn wir in diesen Tagen an den Unfall im sowjetischen
Den Kollegen, die an dieser Stelle gern sagen, dann hät- Kernkraftwerk Tschernobyl erinnern, so wollen wir zu-
ten wir doch den Sofortausstieg fordern müssen – weil nächst einmal allen Opfern dieses Unfalls unser Mitge-
sie wissen, dass wir dann gar keinen Ausstieg hätten –, fühl aussprechen.
sage ich: Lieber verantworten wir, dass das Restrisiko
Schritt für Schritt verringert wird, als ein endloses Ver- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
harren im Risiko. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
(B) geordneten der FDP) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD) Gestern im Ausschuss und heute in der Debatte wür-
digen wir gleichzeitig das umfangreiche bürgerschaft-
Tschernobyl markiert auch 20 Jahre danach den wich- liche Engagement, das es gerade auch in Deutschland
tigsten Grund für den Ausstieg aus der Atomkraft. Er gibt. Es ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten sehr
ist nicht zu entkräften. Entkräften kann man dagegen alle viel geleistet worden, um den Betroffenen dieses Unfalls
vermeintlich guten Gründe für die weitere Nutzung der Hilfe zu leisten und den Menschen bei der Bewältigung
Atomkraft. Weder ist Atomstrom billig – ohne die bis der Folgen zur Seite zu stehen. Dafür gebührt all denje-
heute auf über 100 Milliarden Euro angewachsenen Sub- nigen Vereinen und Institutionen, die sich in diesem Be-
ventionen wäre er unbezahlbar – noch kann er das Mittel reich verdient gemacht haben, unser tiefer Dank. Des-
der Wahl gegen den Klimawandel sein. Bei 2,5 Prozent halb sage ich an dieser Stelle, dass unsere Fraktion an
Anteil am weltweiten Endenergieverbrauch müssten der Seite derjenigen steht, die sich besonders in diesem
Tausende neue AKW gebaut werden, um einen spürba- Bereich engagiert haben.
ren Effekt zu erzielen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) neten der SPD)
So viel Begeisterung und Kapital für AKWs kann man Besonders stark ist das Engagement aus Deutschland.
wirklich nicht erwarten. Nach wie vor werden Jahr für Jahr 10 000 Kinder vor al-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lem aus Weißrussland von Gastfamilien zur Erholung
sowie bei Abgeordneten der SPD) nach Deutschland eingeladen. Bundesweit existieren fast
1 000 Initiativen, die den Menschen in den betroffenen
Die Länder, die auf einen Energiemix mit viel Atom- Gebieten bei der Minderung der Unfallfolgen helfen.
strom setzen, führen uns vor, dass durch den atom- Seitens meiner Fraktion hebe ich dieses Engagement
stromimmanenten Anreiz zur Stromverschwendung noch einmal hervor.
Treibhausgase gar keine Chance haben, verringert zu
werden. Angesichts des Leids der Opfer, aber auch des En-
gagements, das viele Menschen in unserem Land zeigen,
Zum letzten beliebten Argument: der Versorgungs- möchte ich allerdings meine Verwunderung darüber aus-
sicherheit. Auch Uran ist endlich. Wirtschaftlich abbau- sprechen – diese entstand, als ich den Antrag der Grünen
bar steht es der Welt nicht länger zur Verfügung als gelesen habe, und auch, als ich Ihre Rede, Frau Kollegin,
Erdöl und Erdgas. gerade gehört habe –, dass Sie den Jahrestag des Tscher-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2667
Philipp Mißfelder
(A) nobylunfalls zu einer aktuellen politischen Debatte nut- den Gleichgültigkeit gegenüber den Leiden der Bewoh- (C)
zen. Das finde ich nicht in Ordnung. ner der Städte und Dörfer um den Unglücksreaktor he-
rum.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Sylvia
Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In den Wochen nach dem Unglück schrieben die sow-
Das ist sehr verwunderlich!) jetischen Zeitungen von feindlichen Machenschaften,
antisowjetischer Hetze und provokatorischen Gerüchten,
Denn am heutigen Tag haben wir im Zusammenhang mit die die Feinde der Sowjetunion verbreiten würden. In
den Ergebnissen des Energiegipfels bereits über das dieser Situation wurden Schulklassen aus der DDR, also
Thema Atomenergie gesprochen. Insofern sollte man aus Deutschland, nach Kiew geschickt, um die leer ste-
Gedenktage wirklich Gedenktage sein lassen und sie henden Devisenhotels der ukrainischen Hauptstadt zu
nicht politisch – schon gar nicht parteipolitisch – instru- füllen. Ich muss wirklich sagen: Das war absolut verant-
mentalisieren. Das finde ich nicht in Ordnung. wortungslos.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist am Thema vorbei!)
NEN)
An einem solchen Gedenktag muss man sich auch damit
Der Antrag beschreibt in wenigen Sätzen die Kata- beschäftigen, was das sowjetische Unrechtssystem vie-
strophe, um anschließend seitenweise die längst bekann- len Menschen, auch aus Deutschland, zugemutet hat, ge-
ten Positionen Ihrer Partei zu formulieren. rade in den Tagen des Tschernobylunglücks.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sylvia
NEN]: So lange, bis Sie sie begreifen!) Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Beschäftigen Sie sich an einem Gedenktag doch bitte mit Harrisburg lag nicht in der Sowjetunion!)
dem Thema und arbeiten Sie nicht am Thema vorbei. Die Behörden waren vom Ausmaß des Unfalls völlig
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überrascht. Ein großer Fehler war, dass die Hilfsmaß-
nahmen zentral aus Moskau gesteuert wurden. Sie wie-
Schon allein dieses Vorgehen macht es uns als Fraktion sen aus Unkenntnis der konkreten Gegebenheiten, aber
nicht möglich, Ihrem Antrag zuzustimmen. auch aus Ignoranz große Unzulänglichkeiten auf. Erst
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE 36 Stunden nach der Explosion – das haben wir gestern
GRÜNEN]: Aha! – Weiterer Zuruf vom gehört – wurde als erste Maßnahme die Stadt Pripjat ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Da gibt es ja räumt; die übrige 30-Kilometer-Zone folgte erst nach
(B) auch noch andere Gründe!) mehr als einer Woche. Für die Bekämpfung des Brandes (D)
waren zunächst nur die 100 Betriebsfeuerwehrleute des
– Allein das ist es. Kernkraftwerkes sowie örtliche Feuerwehren vorgese-
Wir haben uns gestern im Ausschuss besonders enga- hen, sonst zunächst niemand.
giert. Sie haben gesehen, wie engagiert die Kollegen Festzuhalten sind auch die eklatanten Mängel bei den
meiner Fraktion in der Diskussion waren. Gestern haben eingeleiteten Rettungsmaßnahmen. So wurden unge-
wir zu dem Thema deutlich Stellung bezogen und das eignete Brandlöscher wie Blei von Hubschraubern in
Gedenken gewahrt, das ich, wie gesagt, bei Ihnen so den brennenden Reaktor geworfen. Kurz nach dem Un-
nicht sehe. fall in Tschernobyl schrieb der weißrussische Schriftstel-
Ich möchte auf Ihre Argumente eingehen. Zahlreiche ler Adamowitsch einen Brief an Michail Gorbatschow;
internationale Studien haben bis heute nachgewiesen, von Gesprächen mit ähnlichem Inhalt wurde uns gestern
dass es neben eindeutigen Mängeln an der Konstruktion auch im Ausschuss berichtet. Darin forderte er den sow-
des Reaktors selbst in hohem Maße auch am Betriebs- jetischen Parteichef auf, endlich dafür zu sorgen, dass
personal gelegen hat, das unzureichend über die Schwä- hinreichende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung
chen des Reaktortyps informiert war. ergriffen werden. Adamowitsch schrieb in seinem dama-
ligen Brief: Es ist hier nicht bloß eine Anlage explodiert,
Hinzu kam das mangelnde Sicherheitsbewusstsein sondern der gesamte Komplex an Verantwortungslosig-
der Betriebsmannschaften. Sie hielten sich nicht an die keit, Disziplinlosigkeit und Bürokratismus. – Auch die-
bewährte betriebliche und sicherheitsorientierte Verfah- ses Problem ist direkt nach dem Unglück entstanden.
rensweise und wussten nicht, welches tatsächliche Risi-
kopotenzial vorhanden war. Zu den Auswirkungen des Unfalls liegt seit Septem-
ber letzten Jahres eine ausführliche Studie von mehr als
Angesichts des Schicksals der Opfer möchte ich auch 100 Wissenschaftlern vor, die gemeinsam von der Inter-
auf die Bedingungen unter der sowjetischen Diktatur nationalen Atomenergie-Organisation, der Weltgesund-
hinweisen. Dieser Aspekt spielt für die Bewältigung der heitsorganisation und dem Entwicklungsprogramm der
Folgen dieser Katastrophe eine ganz entscheidende Vereinten Nationen erarbeitet wurde. Die Zahl der To-
Rolle. Jüngst hat ein Abgeordneter des weißrussischen desfälle könnte sich demnach auf bis zu 4 000 belaufen.
Parlaments die Tage nach dem Unfall aus Sicht eines di- Bis Mitte 2005 konnten jedoch nur weniger als 50 Todesfälle
rekt Betroffenen geschildert. Die Politik der sowjeti- direkt auf die Strahlung zurückgeführt werden. Bei ih-
schen Führer in Moskau, Kiew und Minsk ist voller nen handelt es sich vor allem um Rettungsarbeiter, die
Feigheit gewesen, gepaart mit einer menschenverachten- besonders hoher Strahlung ausgesetzt waren. Viele von
2668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Philipp Mißfelder
(A) ihnen starben innerhalb weniger Monate nach dem Un- Zum anderen muss in Zukunft die Sicherheit bei der (C)
fall. Kernkraft Vorrang haben. Deshalb ist es richtig, dass
Deutschland sich daran beteiligt, auch zukünftig sichere
Besonders aufschlussreich an dieser Studie ist, dass Kernkraftwerke weltweit zu garantieren. Es ist richtig,
Fehlauffassungen und Mythen hinsichtlich der Strah- dass die Bundesrepublik Deutschland trotz Atomaus-
lungsgefahr auch 20 Jahre nach dem Unfall bei der Be- stieg bei Euratom mitmacht und sich an der Forschung
völkerung einen lähmenden Fatalismus verursachen. beteiligt, damit die Kernenergie weltweit noch sicherer
Noch immer wissen die Menschen in den betroffenen wird. Dabei hat Deutschland technologisch immer eine
Gebieten zu wenig über die Konsequenzen des Unfalls. Vorreiterrolle eingenommen und sollte dies auch zukünf-
Das zu ändern ist eine besondere Aufgabe Deutschlands tig tun.
und der internationalen Staatengemeinschaft.
Vielen Dank.
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Was ist denn mit Ihrer Gesund- (Beifall bei der CDU/CSU)
heitspolitik? Ich denke, wer krank ist, ist selbst
schuld!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
20 Jahre nach dem Unfall scheint es grundsätzlich an- Nächste Rednerin ist die Kollegin Angelika
gebracht, die Sicht auf die betroffene Region zu ändern. Brunkhorst, FDP-Fraktion.
Wir sollten ihre Bewohner nicht länger nur als Opfer be- (Beifall bei der FDP)
trachten, sondern ihnen die Möglichkeit aufzeigen, zu
Unabhängigkeit und Eigenständigkeit zu gelangen. Das Angelika Brunkhorst (FDP):
betrifft auch politische Debatten, die wir in anderen Zu- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
sammenhängen führen. gestern zu diesem Thema durchgeführten Sonderveran-
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE staltung im Umweltausschuss kamen Experten aus den
GRÜNEN]: Ja, ja!) Bereichen der Medizin, der Strahlenforschung, der
Kerntechnik, der nicht staatlichen Hilfsorganisationen
Wie sind die Folgen der Tschernobylkatastrophe und der IAEA in der Beurteilung des Status quo, der zu-
für Deutschland zu bewerten? Festzuhalten ist, dass künftigen Folgen und der noch bestehenden Risiken des
eine radioaktive Wolke Substanzen bis nach Süd- und Unfalls in Tschernobyl zu überraschend unterschiedli-
Ostdeutschland verteilte. Allerdings wurden die zulässi- chen Auffassungen und Bewertungen. Dazu muss ich sa-
gen Grenzwerte laut Aussage der Strahlenschutzkom- gen: Die Diskussion über die Anzahl der Opfer führt
mission – auch das haben wir gestern gehört – hierzu- politisch nicht weiter: Denn jedes Opfer ist eines zu viel.
(B) lande selbst im ersten Jahr nach dem Unfall nicht (D)
überschritten. Seitdem nehmen sie kontinuierlich ab. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
Das muss man ebenfalls zur Kenntnis nehmen; denn das DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
sind die Fakten. CDU/CSU und der SPD)

(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Der Antrag von Bündnis 90/Grüne stellt die Unfallur-
GRÜNEN]: Ja, genau! Alles ist ganz harmlos! sachen der Katastrophe von Tschernobyl klar dar: dass
Her mit dem nächsten GAU!) es sich um einen ganz speziellen sowjetischen Reaktor-
typ handelte, den RBMK-Reaktor. Was der Antrag aller-
Aus dem Unglück von Tschernobyl müssen Deutsch- dings nicht transportiert, ist, dass die in der EU gängigen
land und die internationale Staatengemeinschaft zwei Schwerwasserreaktoren und Leichtwasserreaktoren über
wesentliche Lehren ziehen – das Entscheidende an die- eine ganz andere Sicherheitstechnik verfügen. Hier
ser Debatte ist nämlich, nicht Ideologie zu betreiben und sollte man Tschernobyl nicht dazu missbrauchen, ein un-
Angst zu machen, sondern konsequent daran zu arbeiten, realistisches Angstszenario aufzubauen.
die richtigen Lehren zu ziehen –: Zum einen können wir
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
anderen Ländern nicht vorschreiben, ob sie die Kern-
der CDU/CSU)
energie nutzen wollen oder nicht. Das ist eben so; daran
kann man nichts ändern, auch nicht, indem wir es hier Aus der der FDP-Fraktion am gestrigen Tag zugelei-
beschließen. Deshalb sollten Sie sich in dieser Frage Ihr teten Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine
unangebrachtes Gefühl moralischer Überlegenheit abge- Anfrage „Bewertung und Auswirkungen des Reaktorun-
wöhnen; für pragmatisch ausgerichtete Politik bringt das falls von Tschernobyl“ kann ich an dieser Stelle nur we-
nichts. Weil wir anderen Staaten hinsichtlich der Nut- nige Antworten der Bundesregierung wiedergeben. Da
zung der Kernenergie nichts vorschreiben können, müs- heißt es unter anderem:
sen wir von denjenigen Staaten, die die Kernenergie
friedlich nutzen wollen, eine unabhängige und rechts- Diese Reaktoren verfügen über zahlreiche Ausle-
staatliche Aufsicht der Anlagen einfordern. Dafür gibt gungsmerkmale, die mit westeuropäischen Techno-
es Organisationen wie die IAEO, an die der Friedensno- logie- und Sicherheitsstandards nicht vergleichbar
belpreis zu Recht gegangen ist. sind.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/ Die für den Unfall in Tschernobyl ursächlichen
DIE GRÜNEN]: Das fanden nicht alle toll!) Schwächen in der Auslegung des Reaktors und die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2669
Angelika Brunkhorst
(A) in der Vorgehensweise der Betriebsmannschaft of- und Kanada haben die Laufzeiten auf 60 Jahre erhöht. (C)
fenbar gewordene mangelhafte Sicherheitskultur Weltweit werden derzeit 444 Kernkraftwerke in 31 Län-
sind mit deutschen Standards nicht vergleichbar. dern betrieben.
… (Ulrich Kelber [SPD]: Dann haben über
140 Länder keine Kernkraftwerke!)
In den in Russland und Litauen in Betrieb befindli-
chen Kernkraftwerken mit RBMK-Reaktoren wur- 23 Anlagen werden derzeit in zehn Ländern gebaut. Bis
den zahlreiche sicherheitsverbessernde Maßnah- 2020 sind 38 neue Kraftwerke in Planung. Hören Sie
men realisiert … jetzt bitte gut zu: Sogar in der Ukraine und in Weißruss-
land erwägen die Regierungen, Kernkraftreaktoren zu
… bauen.
Die Bundesregierung misst der Sicherheit der
(René Röspel [SPD]: Weißrussland ist ein gu-
Atomkraftwerke in Deutschland höchste Priorität
ter Zeuge! – Ulrich Kelber [SPD]: Seit
bei. Im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung
25 Jahren sind es immer die gleichen Planun-
wird dafür Sorge getragen, dass die deutschen
gen!)
Atomkraftwerke auf dem höchstmöglichen Sicher-
heitsniveau betrieben werden. Nehme ich den Auftrag, für Reaktorsicherheit zu
sorgen, auf, dann ist es im Hinblick auf die internatio-
Da sind wir ganz auf einer Linie.
nale Situation wichtig – das ist der FDP ein besonderes
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Anliegen –, dass wir in Deutschland in Zukunft wieder
der CDU/CSU) möglichst viele Kernphysiker und Ingenieure ausbilden,
die dieses sicherheitstechnische Know-how zur Verfü-
Der Antrag der Grünen kommt über die Bekundung gung stellen können.
der Betroffenheit anlässlich Tschernobyls zum eigentli-
chen Hauptmotiv: die Gefährlichkeit der Kernenergie zu (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
beschwören, so zu tun, als ob hinsichtlich der sicher- GRÜNEN]: Wenn Sie so weise wären wie
heitstechnischen Modernisierung bestehender Anlagen Professor Traube, hätten wir nichts dagegen!)
überhaupt nichts getan worden wäre. Das ist unverant-
Ich will jetzt hier noch auf einige Ihrer Argumente
wortlich und erfolgt wider besseres Wissen. Die friedli-
eingehen. Sie bestreiten die Wirtschaftlichkeit der Kern-
che Verwendung mittel- und hochangereicherten Urans
kraft.
mit der Anhäufung waffenfähigen Plutoniums in einen
Topf zu werfen und daraufhin neue, unüberschaubare
(B) Gefahrenpotenziale zu beschwören, ist nicht seriös. Es Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D)
ist Ideologie in Reinform! Frau Kollegin, Sie können höchstens noch auf ein Ar-
gument eingehen; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.
(Beifall bei der FDP)
Sie scheuen weder eine Attacke auf die Internationale Angelika Brunkhorst (FDP):
Atomenergiebehörde – immerhin Inhaberin des Frie- Ja, das tue ich. – Dann komme ich gleich zum Schluss
densnobelpreises – noch, das Horrorszenario der furcht- und sage, was wir für wichtig halten.
baren Anschläge des 11. September 2001 für Ihre Zwe-
cke zu missbrauchen. Das ist Agitation. Es ist wichtig, die Reaktorsicherheit zu garantieren.
Wir müssen die Menschen informieren und dürfen keine
(Beifall bei der FDP) Angst schüren. Wir wollen für alle Energieträger eine
Stellen wir uns doch vielmehr den Realitäten. Welt- Option einräumen und wir meinen, dass gerade Ihre Be-
weit wird die deutsche Reaktortechnik als die sicherste denken ein Ausbremsen der Forschung im Sicherheits-
überhaupt eingeschätzt. Unbenommen, dass andere bereich zur Folge hatten. Damit haben Sie genau das ge-
Kraftwerkstechnologien und auch die Technologien im fährdet, was Sie eigentlich wollen, nämlich nie wieder
Hinblick auf die erneuerbaren Energien Potenziale ha- Tschernobyl.
ben und sich ihre Anteile am Energiemix erobern müs- (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE
sen und sie auch erhalten werden, so muss man hier doch GRÜNEN]: Ja, wahrscheinlich sind wir am
einmal die Fakten benennen dürfen. GAU schuld!)
Also bitte!
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
Kollegin Kotting-Uhl? Niemand will eine Mauer errichten!)

Angelika Brunkhorst (FDP): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:


Nein. Das Wort hat der Minister für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit, Sigmar Gabriel.
Mit dem Atomausstiegsgesetz steht Deutschland al-
lein in der Welt. Selbst Schweden und die Niederlande (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sind aus ihrem Ausstieg wieder ausgestiegen. Schweden der CDU/CSU)
2670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- tastrophe im Raum, sondern auch eine aktuelle Gefähr- (C)
schutz und Reaktorsicherheit: dung von Menschen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Kollege Mißfelder hat gefragt, was man aus Tschernobyl (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
lernen könne. Ich glaube, eines kann man lernen, dass BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
uns nämlich eine Technologie Schwierigkeiten macht, Das müssen wir bedenken. Die Bundesrepublik
bei der die Technik und der Mensch immer funktionieren Deutschland hat sich mit 60 Millionen Euro an der Si-
müssen und bei der Fehler vor allen Dingen nicht bei cherung beteiligt. Die Gesamtkosten liegen bei 800 Mil-
beiden – bei Technik und Mensch – zum gleichen Zeit- lionen Euro, aktuell bei über 400 Millionen Euro. Die
punkt auftreten dürfen. Auftragsvergabe für Maßnahmen zur Ummantelung des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sarkophags – das sind wichtige Schritte – verläuft
der CDU/CSU) schleppend. Es sind Risse aufgetreten. Aus meiner Sicht
wird hier politisch hoch gepokert. Ich finde, der Deut-
Herr Mißfelder, ich glaube schon, dass man diese Erfah- sche Bundestag und die Bundesregierung müssen ein In-
rung aus Tschernobyl ziehen darf. teresse daran haben, nicht nur Mittel bereitzustellen,
Vielleicht mache ich mir bei meiner eigenen Fraktion sondern auch dafür zu sorgen, dass die internationalen
jetzt nur wenige Freunde, aber ich denke, dass es das Verabredungen eingehalten werden, und zwar sowohl
auch schon war, was man für die innerdeutsche von der Ukraine wie von der Russischen Föderation. Das
Debatte über Atomenergie aus Tschernobyl lernen muss unsere Position sein. Das ist der aktuelle Umgang
kann. Ich glaube nämlich nicht, dass wir viel weiter mit Tschernobyl.
kommen, wenn wir immer nur versuchen, unsere eigene (Beifall bei der CDU/CSU)
Energiepolitik anhand eines Reaktorunglücks, das vor
20 Jahren stattgefunden hat, zu definieren. Das wird im- Die Sicherung verläuft nicht so gut, wie wir uns das
mer nur dazu führen, dass sich jeder die Argumente aus- vorstellen. Meine Bitte ist, dass wir darauf in der Diskus-
sucht, die ihm gerade in den Kram passen, und wird je- sion über die Beschlussfassung im Deutschen Bundestag
denfalls nicht dazu führen, dass wir einen Schritt weiter das Schwergewicht legen. Schließlich wollen wir die
kommen. Menschen dort nicht für die innerdeutsche Debatte miss-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- brauchen, sondern wir wollen die Situation für die Men-
neten der FDP) schen vor Ort verbessern. Das ist das humanitäre und
politische Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
Deswegen bin ich sehr dafür, dass man diese prinzi- Darauf – das ist mein Vorschlag – sollten wir Wert legen.
(B) pielle Lehre beachtet. Herr Kollege Mißfelder, diese (D)
Lehre hat auf der linken Seite der Koalition eine prakti- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
sche Konsequenz. Auf Ihrer Seite hat sie nicht diese Wir haben genug Möglichkeiten, über Kernenergie im
praktische Konsequenz. Ich glaube aber, dass uns die Zusammenhang mit anderen Symbolthemen zu streiten.
Vorsicht, die man bei einem zu starken Sich-Verlassen Aber hier müssen wir unsere Zusagen einlösen, nämlich
auf die Technik, den Menschen und vor allen Dingen auf die Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Sicherung
das Zusammenwirken beider haben sollte, vielleicht der Lebenssituation.
doch zueinander bringen wird. Ansonsten halte ich eine
Menge davon, dass wir uns mit Tschernobyl im Zum anderen möchte ich die heutige Diskussion nut-
Jahre 2006 auseinander setzen. Ich finde, das wäre der zen, um für die Bundesregierung zu erklären, dass wir
angemessene Umgang gewesen, den ich in Ihrem Rede- uns für die fast tausend Initiativen in Deutschland bedan-
beitrag, Frau Kollegin Kotting-Uhl, ein wenig vermisst ken.
habe.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
GRÜNEN]: Wir müssen Ihnen ja was übrig NISSES 90/DIE GRÜNEN)
lassen!)
Bis auf den heutigen Tag haben Tausende von Menschen
Man könnte den Eindruck haben, es ginge bei Tscher- in Deutschland Patenschaften für Schulen und Kinder-
nobyl nur um die Frage, wie wir damit in der deutschen gärten in der Region übernommen, um ihnen zu helfen
Diskussion umgehen. In Wahrheit gibt es dort ein massi- und ihnen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Men-
ves Problem. Meine Bitte ist, dass Regierung und Bun- schen, die zum Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe in
destagsfraktionen in den Ausschussberatungen gemein- Tschernobyl noch nicht geboren waren, haben Kinder in
sam überlegen, was unser Beitrag dazu sein kann, die den Urlaub eingeladen und für medizinische Hilfe vor
schleppende Umsetzung der Sicherung des Sarko- Ort gesorgt. All das zeigt: Dieses Land ist bereit, über
phages in Tschernobyl zu beschleunigen. 20 Jahre ein gewaltiges ehrenamtliches Engagement auf
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie die Beine zu stellen, das in seiner Wirkung noch viel
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE größer ist als die Summe, die wir aus Steuergeldern be-
GRÜNEN) reitgestellt haben. Für diese Initiativen bedankt sich die
Bundesregierung ausdrücklich.
Das ist ein ernsthaftes Problem. Es steht nicht nur eine
frühere Gefährdung von Menschen durch die Reaktorka- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2671
Bundesminister Sigmar Gabriel
(A) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum viel zi- (C)
FDP) tierten IAEO-Bericht. Das Dokument erschien unter
dem Titel „Tschernobyl – Das wahre Ausmaß des Un-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: falls“. Als ich das Papier gelesen habe, war ich verblüfft
und zornig darüber, wie es die Atomlobby wieder einmal
Das Wort hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter,
geschafft hat, die Wahrheit zu verbiegen. Hauptaussage
Fraktion Die Linke.
– vielleicht auch Motivation – des Berichts ist sinnge-
(Beifall bei der LINKEN) mäß: Es war alles nicht so schlimm und wenn doch et-
was passiert ist, dann lag es an der dramatisierenden
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Darstellung durch die Medien. Die habe nämlich zu ei-
ner psychischen Belastung der Bevölkerung vor Ort ge-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
führt, so die seltsame Logik.
Der Name des ukrainischen Ortes Tschernobyl steht für
vieles. Er steht für die größte Reaktorkatastrophe der Die Autoren meinen tatsächlich, Armut, Lifestyle-
Geschichte. Er ist gleichzeitig ein Symbol für den An- krankheiten und psychische Probleme seien eine viel
fang des weltweiten Widerstands gegen die Atom- größere Bedrohung für die betroffenen Gemeinden als
kraft. die Langzeitverstrahlung.
Tschernobyl symbolisiert aber auch die kritiklose (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das hat
Technikgläubigkeit und die Vertuschungen, die nicht nur man Ihnen doch gestern im Ausschuss schon
für die Sowjetunion, sondern für den gesamten Ostblock erklärt! Aber Sie haben es immer noch nicht
charakteristisch waren. Dass nicht sein sollte, was nicht verstanden!)
sein darf, war jedoch nicht nur im Kreml und im SED-
Zentralkomitee die Maxime. Auch bei bestimmten lin- – Hören Sie bitte zu! – Zudem zählt das Papier
ken Organisationen im Westen, den Bruderparteien, war 4 000 Tote als Folge der Katastrophe. Der Bericht ist an
dies die Richtschnur. Insofern mussten sich in den ver- dieser Stelle eine freche Manipulation. Denn warum
gangenen Jahren viele Mitglieder von PDS und Links- sollte der ukrainische Staat sonst an die Angehörigen
partei, darunter auch ich, kritische Fragen stellen. Die von mehr als 17 000 verstorbenen Aufräumarbeitern
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU müssten Entschädigung zahlen? Es geht dabei durchaus um Zah-
dies aber auch tun; denn ich kann mich noch sehr gut er- len. Ich finde das sehr interessant.
innern, wie damals auch bei uns vieles verschwiegen
wurde. Ich denke, das wird auch heute noch der Fall (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
sein. Die stellvertretende Ministerin der Ukraine für Kata- (D)
(B)
(Beifall bei der LINKEN) strophenschutz, Tetyana Amosova, erklärte dementspre-
chend: „Wir können nicht verstehen, was das für Daten
Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht. Die Linke sind.“ Lügen, Halbwahrheiten, Verdrehung von Tatsa-
hat aus den grundsätzlichen und unverantwortlichen Ri- chen und Unterschlagung von Informationen – das ist
siken der Atomwirtschaft die einzig mögliche Konse- der Stoff, mit dem die Atommafia gearbeitet hat und im-
quenz gezogen: Wir fordern den schnellstmöglichen mer noch arbeitet.
Ausstieg aus der Atomenergie.
Ich komme zum Schluss. Wir fahren Sonntag nach
(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber Tschernobyl. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass gerade
[SPD]: Wir auch!) die Partei, die das „C“ im Namen führt, sieht, was dort
Die Zukunft muss ökologisch und sozial beherrschbaren passiert ist. Leider haben Sie sich nicht durchringen kön-
Energieformen gehören. Das sind Sonne, Wind, Wasser, nen, den Umweltausschuss zu begleiten. Ich werde per-
Biomasse und Geothermie statt Uran und Plutonium. sönlich den Kolleginnen und Kollegen und den Atom-
opfern vor Ort das Mitgefühl des Herrn Mißfelder
Die Argumente, die gegen die Atomkraft sprechen, mitteilen.
sind im Antrag der Grünen noch einmal aufgeführt. Bei-
spielsweise wird darauf hingewiesen, dass der Brenn- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das können Sie
stoff der AKWs nur noch 40 bis 60 Jahre reicht, dass die sich ersparen! Nehmen Sie Geld mit! Machen
Atomkraft nur einen sehr geringen Beitrag zum Klima- Sie Wiedergutmachung! Das andere können
schutz leistet und dass kein einziges deutsches AKW ei- Sie sich sparen! – Weiterer Zuruf von der
nem Terroranschlag wie dem auf die New Yorker Twin CDU/CSU: Unterlassen Sie das bitte!)
Towers standhalten würde. Ich muss Sie von den Grünen
Sie lernen nämlich nichts aus solchen Unfällen.
in diesem Zusammenhang fragen, welche Verantwor-
tung Sie haben. Es ist merkwürdig, dass die Grünen in (Beifall bei der LINKEN)
ihrem Antrag die Restlaufzeiten in Deutschland von über
20 Jahren als angemessen darstellen. Das ist für mich
sehr widersprüchlich. Sind wir nun gefährdet – dann Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
müssen die Atomkraftwerke schnell abgeschaltet wer- Das Wort hat der Kollege Christoph Pries, SPD-Frak-
den – oder nicht? tion.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD)
2672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Christoph Pries (SPD): weit höheren Opferzahlen aus. Sie kritisieren den Be- (C)
Frau Präsidentin! Herr Minister Gabriel – lieber richt als Verharmlosung.
Sigmar –, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
mit einer kleinen Geschichte beginnen. Nikolai Kalugin
lebte mit seiner Familie in Pripjat unweit des Unglücks- Und sonst? Welche Bedeutung hat Tschernobyl sonst
reaktors von Tschernobyl. Kurz nach der Katastrophe noch für uns? Ganz konkret ist die Bundesrepublik
wird die Familie evakuiert. Sie darf nichts mitnehmen. Deutschland einer der größten Geldgeber bei der Sanie-
Doch eine Sache kann Nikolai Kalugin nicht zurücklas- rung des baufälligen Sarkophags um den havarierten
sen: die Haustür seiner Wohnung. Es ist die Tür, auf der Reaktorblock. Dessen Sanierung wird mehr als
nach alter Tradition die Toten aufgebahrt werden und auf 1 Milliarde US-Dollar verschlingen. Ganz konkret gibt
der seit Generationen Jahr für Jahr das Wachstum der das Bundesministerium für Umwelt Jahr für Jahr
Kinder mit einer Einkerbung dokumentiert wird. 70 000 Euro aus, um Wildbret anzukaufen, welches mit
Cäsium 137 kontaminiert ist. Tschernobyl ist das Sym-
Nikolai Kalugin hat es geschafft. Mit Hilfe seines bol für die Folgen der Technologiegläubigkeit des
Nachbarn hat er seine Tür an den Sicherheitskontrollen 20. Jahrhunderts.
vorbei aus der Stadt gebracht. Nikolai Kalugin hat seine
Tür noch gebraucht. Einkerbungen musste er nicht mehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
machen. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich kenne weder Nikolai Kalugin, noch weiß ich, ob
Tschernobyl ist das Symbol für die Folgen einer Techno-
der Krebs, der seine sechsjährige Tochter getötet hat, mit
logie, bei der es trotz der Einhaltung höchster Sicher-
Sicherheit auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
heitsstandards keine Garantie für ihre Beherrschbarkeit
zurückzuführen ist. Für den Vater Nikolai Kalugin be-
gibt.
steht daran kein Zweifel. Mir persönlich reicht das.
Wir Sozialdemokraten haben daraus die Konsequen-
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte zen gezogen. Die Arbeitsgruppe „Umwelt“ der SPD-
den Opfern der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl Bundestagsfraktion hat diese Konsequenzen in ihrer
im Namen der SPD-Bundestagsfraktion unser Mitgefühl Tschernobylresolution nochmals bekräftigt. Wir setzen
aussprechen. auf zukunftsfähige und sichere Technologien. Wir set-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zen auf den Ausbau der erneuerbaren Energien.
der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- (Beifall bei der SPD)
(B) NISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
Wir setzen auf Energieeffizienz und Energieeinspa-
Gleichzeitig möchte ich von dieser Stelle auch den rung. Atomenergie ist für uns – ebenso wie für die
weltweiten Einsatz zahlloser Organisationen und Initiati- Mehrheit der Bevölkerung – ein Auslaufmodell.
ven für die Opfer von Tschernobyl würdigen. Dieses
selbstlose Engagement seit nunmehr 20 Jahren verdient Abschließend möchte ich noch den Fachkolleginnen
unsere höchste Anerkennung. und Fachkollegen von der Union für die sachliche Zu-
sammenarbeit in den letzten Wochen danken.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der CDU/CSU)
bei Abgeordneten der LINKEN und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir standen kurz davor, nach 20 Jahren erstmals einen
gemeinsamen Antrag zur Reaktorkatastrophe von
Welche Bedeutung hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auf den Weg zu bringen. Dass es nicht dazu
Tschernobyl heute noch? Sie hat noch immer gravie- gekommen ist, bedauern wir sehr. Dass Ihrer Fraktions-
rende Auswirkungen für die unmittelbar betroffenen spitze letztlich der Mut gefehlt hat, unterstreicht nur
Staaten, die Ukraine und Weißrussland. Im September allzu deutlich, welche Bedeutung Tschernobyl heute
2005 haben die Vereinten Nationen einen Bericht über noch hat, und zwar gerade für Sie.
die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl vorgelegt.
Der Bericht entstand unter der Federführung der Inter- Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
nationalen Atomenergieorganisation. Er dürfte daher (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
selbst für glühende Befürworter der Atomenergie akzep- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
tabel sein. Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass
man mit insgesamt 4 000 Todesopfern rechnen muss,
dass bisher 4 000 Kinder an Schilddrüsenkrebs erkrankt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
sind, dass 350 000 Menschen infolge der Katastrophe Ich schließe die Aussprache.
ihre Heimat verloren haben, dass eine Fläche von mehr Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
als 200 000 Quadratkilometern kontaminiert wurde und Drucksache 16/860 an die in der Tagesordnung aufge-
dass sich der Gesamtschaden der Katastrophe auf meh- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
rere Hundert Milliarden US-Dollar beläuft. Dies sind verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
wohlgemerkt die Zahlen der Internationalen Atomener- so beschlossen.
gieorganisation. Umweltorganisationen, Experten und
Hilfsorganisationen gehen bei ihren Schätzungen von Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2673
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
(A) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Schauen wir also erst einmal nach innen. Die Deut- (C)
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes sche Bibliothek, die wir künftig Deutsche Nationalbi-
über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG) bliothek nennen, ist das Depot des deutschen Schrift-
tums. Sie ist die zentrale Archivbibliothek und das
– Drucksache 16/322 – nationalbi-bliografische Informationszentrum der Bun-
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- desrepublik Deutschland. Ihre Vorläufer aus Leipzig und
ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss) Frankfurt wurden im Zuge der Wiedervereinigung zu-
sammengeführt. Sie alleine hat das Pflichtexemplarrecht
– Drucksache 16/896 – für ganz Deutschland und ist im Übrigen mit fast
Berichterstattung: 22 Millionen Einheiten die größte Universalbibliothek
Abgeordnete Monika Grütters Deutschlands, die darüber hinaus ein vielfältiges Dienst-
Jörg Tauss leistungsangebot bereithält.
Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Vorbehalte aus dem Bundesrat, der auf Antrag von
Dr. Lukrezia Jochimsen Bayern und Berlin gegen den Gesetzentwurf votierte,
Katrin Göring-Eckardt gründen sich auf die Loyalität dieser Länder mit ihren
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die großartigen und altehrwürdigen Bibliotheken. Selbstver-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre ständlich anerkennen auch wir im Bundestag die Leis-
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. tungen der Bayerischen und der Preußischen Staats-
bibliothek, die auf ihre Bestände von vor 1913, als die
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Deutsche Bibliothek gegründet wurde, und auf die Er-
gin Professor Monika Grütters, CDU/CSU-Fraktion. werbung der Literatur des Auslands verweisen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Monika Grütters (CDU/CSU): Die ehemalige Preußische Staatsbibliothek in Berlin,
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! schon 1661 gegründet, zeichnet sich vor allem durch
Friedrich Schiller, unser großer Dichter, Stolz eines gan- ihre Autografensammlung aus. Dort liegen zum Beispiel
zen Volkes, beschwor dieses einst mit den Worten: Mozarts „Zauberflöte“ und Beethovens „Neunte“. Die
noch früher – 1558 – gegründete Bayerische Staatsbi-
Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche,
bliothek verfügt über eine beispiellose Handschriften-
vergebens.
sammlung und ist nach der British Library die zweit-
Deutschland ist eben zuallererst Kultur- und dann erst größte Zeitschriftensammlung der ganzen Welt.
(B) (D)
eine politische Nation. Friedrich Schiller und Johann Eine Analogie zum Sammelauftrag der künftigen
Wolfgang von Goethe, die Begründer dieser Art Kultur- Deutschen Nationalbibliothek lässt sich bei allem Re-
nation, bezogen sich darauf, dass Deutschland damals spekt vor der Professionalität und jeweiligen Einzigar-
eben keine einige Nation war, sondern seine verschiede- tigkeit der Sammlungstraditionen in Bayern und Berlin
nen Stämme nur durch die Kultur als einem einigenden allerdings nicht begründen. Die Deutsche Nationalbi-
Band zusammengehalten wurden. Deutschland ist bis bliothek ist die einzige, die mit der vollständigen Publi-
heute in besonderer Weise ein Land der Kultur. Wir sa- kation in und über Deutschland und übrigens der Her-
gen nicht ohne Grund: das Land der Dichter und Denker. ausgabe der Nationalbibliografie Kernaufgaben einer
Wie können wir Heutigen das schöner und treffender Nationalbibliothek erfüllt. Wir sind der Meinung, sie gilt
ausdrücken als durch die Benennung einer National- es daher auch den internationalen Partnern gegenüber
bibliothek? Denn der Gesetzentwurf über die Deutsche mit Namen kenntlich zu machen.
Nationalbibliothek hat durchaus grundsätzlichen Cha- Mit der Benennung zweier Parlamentarier für den
rakter, der über die pragmatische Ausweitung des Sam- Verwaltungsrat haben wir im Kulturausschuss übrigens
melauftrags der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am dafür gesorgt, dass der Charakter der Bibliothek als na-
Main und Leipzig hinausweist. tionaler Einrichtung auch symbolhaft unterstrichen wird.
Hauptzweck der konstitutiven Neufassung des Geset- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
zes über die Deutsche Bibliothek aus dem Jahre 1969 ist
die Ausweitung dieses Sammelauftrages auf digitale Pu- Finanziert wird die durch den erweiterten Sammel-
blikationen. Das ist unstrittig und im Übrigen längst auftrag notwendige Budgeterhöhung übrigens durch
überfällig. Umschichtungen im Kulturhaushalt. Auch das, finde ich,
ist ein gutes Zeichen.
Widerspruch aber hat sich in einigen Reihen der Op-
position nur bei der Änderung des Namens der Deut- Ob auf Papier oder im Netz, Bücher sind ein unver-
schen Bibliothek in Deutsche Nationalbibliothek geregt. zichtbarer Bestandteil unserer kulturellen Identität.
Ich frage vor allem Sie von der FDP, wovor Sie da ei- Bibliotheken sind weit mehr als bloße Büchersammel-
stellen. Sie sind vielmehr elementare Einrichtungen für
gentlich Angst haben: vor der Frage nach der Nation, vor
Information und Wissen. Sie sind ein zentraler Baustein
der Frage nach unserem Selbstverständnis, das darin
für Demokratie, weil sie den Zugang zur Literatur er-
zum Ausdruck kommt, oder vor der Konkurrenz einer
möglichen.
Deutschen Nationalbibliothek mit ihren großen Schwes-
tern im In- und Ausland? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
2674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Monika Grütters
(A) Der Begriff der Kulturnation erinnert uns gerade hier weltweit sammelt, das nationale Schrifttum seit Beginn (C)
an ein kostbares Erbe. Er fordert uns darüber hinaus zu komplett sammelt, archiviert, bibliografiert und die alle
eigener Kreativität heraus. Mit der Deutschen National- wesentlichen bibliothekspolitischen Aufgaben für das je-
bibliothek setzt die Kulturnation Deutschland ein schö- weilige Land durchführt.
nes und würdiges Zeichen.
Alle Nationalbibliotheken des Auslands – die Öster-
Ich danke Ihnen. reichische, die Italienische oder Japanische –, also alle
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bibliotheken, die den Namen Nationalbibliothek tragen,
kommen dieser Aufgabenstellung uneingeschränkt nach.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Auf der anderen Seite gibt es bedeutende Bibliothe-
Das Wort hat der Kollege Christoph Waitz, FDP- ken wie die British Library oder die Library of Congress,
Fraktion. die das Attribut national überhaupt nicht nötig haben und
trotzdem sehr gut arbeiten. Ich frage Sie, meine Damen
(Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Dass
und Herren von der Koalition: Warum sollen gerade wir
nur einer von euch über Bücher reden kann, ist
Deutschen bei unserer föderalen Verfasstheit die Deut-
ja unglaublich! Das fällt richtig auf!)
sche Bibliothek, die hervorragend arbeitet, in Deutsche
Nationalbibliothek umbenennen, wenn sie diese Aufga-
Christoph Waitz (FDP): ben gar nicht erfüllt?
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Symbolpolitik ist das (Beifall bei der FDP)
Schlagwort, mit dem sich die ersten Monate der Arbeit
der Bundesregierung am besten charakterisieren lassen. Die Aufwertung einer Bibliothek widerspricht zudem
Es ist eine Politik, die vor allem auf ihre äußere und öf- der gerade im digitalen Zeitalter zunehmenden Entwick-
fentliche Wirkung setzt, die Probleme aber nicht wirk- lung, dass viele Institutionen in ihrer Vernetzung ein gro-
lich grundlegend angeht. Es ist eine Politik, die im bes- ßes funktionsfähiges Ganzes bilden. In der Computer-
ten Falle verändert, aber keine dauerhafte Verbesserung welt ist man längst abgekehrt von monströsen
schafft. Großrechnern und man erreicht dort eine wesentlich hö-
here Kapazität durch viele vernetzte dezentrale Rechner.
Auch der vorliegende Entwurf eines Gesetzes über In seiner Stellungnahme spricht der Bundesrat genau
die Deutsche Nationalbibliothek fällt in die Rubrik Sym- diesen Punkt an – Frau Professor Grütters, Sie haben das
bolpolitik. vielleicht gelesen –, wenn er darauf hinweist, dass die
Deutsche Bibliothek gemeinsam mit der Bayerischen
(Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen
(B) Staatsbibliothek und der Staatsbibliothek zu Berlin zu ei- (D)
[Bönstrup] [CDU/CSU]: Das sehen wir ganz
ner virtuellen Nationalbibliothek zusammengeschlossen
anders! – Jörg Tauss [SPD]: Na, na!)
werden kann.
Das ist es, was die Bundesländer, die gesamte Presse-
landschaft, Herr Tauss, und vor allem die Bibliotheken Durch die Umbenennung erhebt die Deutsche Biblio-
– auf die sollten wir hören – fast einhellig kritisieren. thek zudem einen durch sie allein nicht einlösbaren An-
Dabei fällt ein wenig unter den Tisch, dass der Gesetz- spruch und beschränkt gleichzeitig die Sichtbarkeit der
entwurf ansonsten sehr viel Sinnvolles enthält. faktisch durch die Staatsbibliotheken in Berlin und Mün-
chen wahrgenommenen nationalbibliothekarischen Auf-
(Beifall der Abg. Monika Grütters [CDU/ gaben.
CSU])
Wir sollten die von allen Seiten geäußerte Kritik nicht
Bei der Erweiterung des Sammlungsauftrages darf unberücksichtigt lassen. Die Namensänderung wird die
man sich allerdings fragen, warum die Anpassung an das bisher gute Zusammenarbeit mit den bereits genannten
digitale Zeitalter erst in den Jahren 2005 und 2006 erfol- Staatsbibliotheken in München und Berlin zwangsläufig
gen kann. Dieser eigentliche Bestandteil, die Substanz erschweren.
dieses Gesetzentwurfs, ist zwischen den Fraktionen auch
nicht mehr streitig. Ich möchte mich aber auf das kon- (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt häng das doch mal
zentrieren, was wir als das entscheidende Problem dieses tiefer, mein Gott!)
Gesetzentwurfs ansehen: Die Deutsche Bibliothek ist
– bei aller Wertschätzung der unter diesem Namen ver- Die Umbenennung provoziert doch geradezu Abgren-
einten Institutionen – nicht die Deutsche Nationalbiblio- zungsaktivitäten der großen Staatsbibliotheken in Mün-
thek. chen und Berlin, die um ein Vielfaches größer und älter
sind als die Deutsche Bücherei Leipzig und die Deutsche
(Zuruf von der CDU/CSU: Doch!) Bibliothek Frankfurt am Main. Was soll also eine solche
Wir Deutschen haben keine Nationalbibliothek. Umbenennung, wenn keiner davon profitiert – sie produ-
ziert keinen Mehrwert –, noch nicht einmal die Deutsche
Frau Professor Grütters, damit komme ich auf Ihre Bibliothek selbst?
Frage zu sprechen. Nach den Kriterien der UNESCO
setzt der Begriff Nationalbibliothek voraus, dass es sich (Monika Grütters [CDU/CSU]: Sehen Sie in
um die führende Groß- und Universalbibliothek eines einem kulturpolitischen Signal keinen Mehr-
Landes handelt, die das wissenschaftliche Schrifttum wert?)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2675
Christoph Waitz
(A) Ich bin der festen Überzeugung, Frau Professor thek und damit über etwas, was wir bisher in Frankfurt (C)
Grütters, dass wir der Deutschen Bibliothek mit der hatten; es geht aber darüber hinaus.
nicht zu tragenden Bürde, von nun an Nationalbibliothek
zu heißen, keinen Gefallen tun. Die Bibliothek in Frankfurt, lieber Kollege Pries, hat
als Nationalbibliothek fungiert und die Aufgaben wahr-
(Christoph Pries [SPD]: Ach was!) genommen, die andere Nationalbibliotheken ebenfalls
wahrnehmen.
Daher appelliere ich an Ihre Vernunft, Frau Professor
Grütters, Herr Staatsminister Neumann: Lassen Sie die- (Christoph Pries [SPD]: Genau!)
sen Gesetzentwurf so nicht passieren! Stellen Sie nicht
die Fraktions- und Regierungsdisziplin über die Erkennt- Sie wurde beauftragt, körperliche Medienwerke wie
nis, dass die Umbenennung der Deutschen Bibliothek Bücher und Tonträger – übrigens seit 1913 – zu sam-
widersinnig und nachteilig für die Bibliotheken in meln, zu erschließen, zu bewahren und für die Allge-
Deutschland ist. meinheit nutzbar zu machen. Für digitale Publikatio-
nen allerdings fehlte ein solcher Auftrag. Es fehlt also
Haben Sie recht herzlichen Dank. eine systematische Erschließung, Archivierung und
Nutzbarmachung von Veröffentlichungen, die als Netz-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
publikationen – anders als das beim Buch der Fall ist –
der LINKEN)
keinen körperlichen Träger haben. Es setzt die Bedeu-
tung des Buches in keiner Weise herab, wenn wir sagen:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wir brauchen natürlich auch ein Archiv der Gesellschaft
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss, SPD- für Veröffentlichungen, die keinen körperlichen Träger
Fraktion. haben. In der Regel ist Papier der körperliche Träger. In
der Antike war es Papyrus oder wie auch immer. Das ist
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
heute noch in Museen, auch hier in Berlin, in einer faszi-
nierenden Vielfalt zu besichtigen.
Jörg Tauss (SPD):
So viel Vorfreude hat es früher nicht gegeben; aber Aber im Gegensatz zur Archivierung auf Papyrus ist
das ist ja okay. die Archivierung von digitalen Daten bisher nichts, was
über Jahrhunderte und Jahrtausende hält; diese Daten
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- sind schon nach wenigen Jahren und Jahrzehnten nicht
gen! Lieber Kollege Waitz, Sie haben sich hier richtig mehr abrufbar. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass
um das Namensthema bemüht. Ich möchte sagen: Rüs- wir in unserer Wissens- und Informationsgesellschaft
(B) ten Sie jetzt einmal ein bisschen ab! Sie können davon – Frau Präsidentin, wir sprechen immer von der Entfal- (D)
ausgehen: Die deutschen Bibliotheken sind nicht so tung einer Wissens- und Informationsgesellschaft – in-
kleinkariert, wie Sie es ihnen unterstellen; sie werden formationelle Kontinuität gewährleisten. Heute reden
kooperieren. wir darüber, dass der Auftrag der Bibliothek, wie gesagt,
in diesen Bereich hinein ausgedehnt wird.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Nun haben Sie seitens der FDP kritisiert, dass dies re-
Zu dem Namensthema wird mein Kollege Pries eini-
lativ spät kommt. Ich stimme Ihnen in einem Punkt zu:
ges sagen. Ich möchte mich dem zweiten Kapitel zuwen-
Es gab Leute, die schon einige Jahre früher dafür einge-
den, das bei Ihnen nur nebenbei angesprochen wurde,
treten sind. Als ich 1994 in den Bundestag kam, habe ich
zunächst einmal aber meiner Freude Ausdruck verlei-
mit dem Kollegen Thierse zusammen einen Antrag auf
hen: Bücher haben heute einen tollen Stellenwert in die-
den Weg gebracht – daran erinnere ich mich gut –, in
sem Parlament.
dem wir genau diese Themen angesprochen haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Monika Griefahn [SPD]: Das ist doch wunder-
Sehr weitsichtig!)
bar!)
Nach der Buchpreisbindung haben wir jetzt zum zweiten Wer hat das damals unter Hohn und Gelächter abge-
Mal ein Thema, bei dem es um Bücher geht, und das al- lehnt? Unter anderem die Bundesregierung, die von Ih-
les zu repräsentativen Zeiten und nicht zu nachtschlafen- nen mit getragen worden ist. Damals hat die FDP ihr
der Zeit. Herz für die digitalen Medien noch nicht so recht ent-
deckt gehabt. Es ist ja okay, wenn dies heute anders ist.
(Beifall der Abg. Katherina Reiche [Potsdam]
[CDU/CSU]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns nicht
streiten, sondern diesen Gesetzentwurf gemeinsam be-
Ich freue mich sehr, dass wir es als Koalition ge- schließen! Es ist nicht so – wie gesagt wird –, dass sich
schafft haben, an das Werk der letzten Legislaturperiode die Bibliotheken kollektiv aufregen. Es gibt natürlich
anzuknüpfen. Wir diskutieren ja nicht erst seit gestern eine Debatte über diese Frage, aber die gesamte Fach-
über das Thema, das Gegenstand des Gesetzentwurfs ist. welt sagt, dass der Gesetzentwurf, den wir heute in zwei-
Es geht nicht um ein Gesetz zur Änderung des Namens ter und dritter Lesung verabschieden wollen, ein Gesetz-
– über die Namensgebung ist nur in diesem Zusammen- entwurf ist, der der Deutschen Bibliothek, wie sie bisher
hang diskutiert worden –, sondern es geht um den Ent- heißt, und in Zukunft der Deutschen Nationalbibliothek
wurf eines Gesetzes über die Deutsche Nationalbiblio- Zukunftschancen einräumt, wie wir es wollen, wie es in
2676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Jörg Tauss
(A) anderen Staaten der Fall ist und wie es die UNESCO Ich halte das für eine irreführend großmäulige Bezeich- (C)
auch gefordert hat. Aus diesem Grunde können und soll- nung im Jahre 2006, eine völlig sinnlose Zumutung.
ten wir alle heute zustimmen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Christoph Waitz [FDP] – Dorothee Bär [CDU/
CSU]: Sinnlos ist Ihre Rede!)
Das ist kein kampfentscheidender Gesetzentwurf, aber
er gewährleistet ein Stück Zukunft für die Bibliothek Soll damit vielleicht so etwas wie eine deutschnationale
und für die Erhaltung des kollektiven digitalen Gedächt- Leitkulturdebatte angestoßen werden?
nisses. Es geht um das gesamte archivarische Gedächtnis
(Beifall bei der LINKEN)
unserer Gesellschaft.
In der Rede von Frau Professor Grütters wurde genau
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
das sehr stark an den Anfang dieser Debatte gestellt.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Monika Grütters [CDU/CSU]: Wovor haben
Sie Angst? Stellen Sie sich der Debatte doch
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mal!)
Das Wort hat die Kollegin Dr. Lukrezia Jochimsen,
Seit der Einheit erfüllt die Deutsche Bibliothek – ich
Fraktion Die Linke.
sage das noch einmal: nicht die Frankfurter oder die
(Beifall bei der LINKEN) Leipziger, sondern die Deutsche Bibliothek –
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Durch Wiederholung wird das nicht besser!)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ihren Auftrag für das ganze Land, zusammen mit der
Wir hätten heute über einen guten Gesetzentwurf end-
Preußischen und der Bayerischen Staatsbibliothek. Wa-
gültig beraten können: den Ausbau der Bundesanstalt
rum also jetzt diese Umbenennung? Weder die Nutzer
„Die Deutsche Bibliothek“ zu einer digitalen Biblio-
noch die Mitarbeiter haben das gefordert.
thek der Zukunft. Denn es ist unbestreitbar wichtig und
notwendig, neben dem großen Fundus der Bücher und (Monika Grütters [CDU/CSU]: Das muss man
Tonträger seit 1913, der in Frankfurt am Main und in manchmal auch unabhängig davon machen!)
Leipzig gesammelt wird, nun auch digitales Kulturgut zu
bewahren und nutzbar zu machen. So weit, so gut. Das wird jetzt gemacht, weil die Idee in der vergangenen
Legislaturperiode aufkam und nun umgesetzt werden
(B) (Jörg Tauss [SPD]: Da sind wir einig!) soll, ohne überzeugende Begründung. Hier ist keine ein- (D)
zige überzeugende Begründung gefallen.
Aber leider wird diese notwendige Zukunftsinvesti-
tion im Haushalt des Beauftragten der Bundesregierung (Christoph Waitz [FDP]: Sehr richtig!)
für Kultur und Medien nicht zusätzlich finanziert, wie
sich das für eine neue, vorher nicht zu leistende Aufgabe Die Hinweise auf den internationalen Gebrauch stim-
gehört, men schlicht und ergreifend nicht. Denn die Namen der
großen internationalen Bibliotheken sind – der Kollege
(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist sehr de- von der FDP hat das ja gesagt – entsprechend ihrer Ge-
struktiv!) schichte und ihrer Tradition ganz und gar unterschied-
lich. Was also sollen die deutschnationalen Bücher?
sondern durch Einsparungen, wie es ausdrücklich im
Gesetzentwurf heißt, oder durch Umschichtungen, wie Dass dann im Gegensatz zum pompösen nationalen Ti-
uns bei der Beratung im Ausschuss für Kultur und Me- tel im Verwaltungsrat wenig nationale parlamentarische
dien versichert wurde. Einsparungen oder Umschichtun- Repräsentanz aufscheint, ist ein weiterer kritischer Punkt.
gen – was ist da der Unterschied? Was genau wird umge- Von 13 Mitgliedern werden gerade zwei Personen vom
schichtet? Wo wird eingespart? Deutschen Bundestag entsandt – eine recht schlechte
Quote.
Wir vertreten den Standpunkt: Wenn Kultur Investi-
tion in die Zukunft ist, dann muss ein Kulturetat auch zu- (Jörg Tauss [SPD]: Wieso eine schlechte
sätzliche Mittel für wichtige Zukunftsaufgaben haben. Quote? Von null auf zwei ist prozentual be-
achtlich!)
(Beifall bei der LINKEN)
Ja, es hätte ein gutes Gesetz werden können: Die Um-
So weit, so schlecht. stellung auf das digitale Zeitalter der Bibliothek ist zu
Aber es kommt noch schlechter. Im Zuge ausgerech- begrüßen. Sie hätte es auch verdient, als wirkliche Zu-
net dieser Modernisierung bekommt die Bundesanstalt kunftsinvestition finanziert zu werden. Sie hätte bei ih-
„Die Deutsche Bibliothek“ nun den altmodischen, pom- rem guten, eingeführten und durchaus der nationalen
pösen Namen „Deutsche Nationalbibliothek“. Aufgabe verpflichteten Namen bleiben und in ihrem
Verwaltungsrat mehr Parlamentarier vertragen können.
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Nun ist aus diesen letzten drei Punkten leider nichts ge-
Das ist doch sehr gut! Was ist gegen Deutsch- worden. Das ist schade und der Grund, warum die Frak-
land zu sagen?) tion Die Linke den Gesetzentwurf ablehnen wird.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2677
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Damit müssen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber vor (C)
wir leben!) allen Dingen auch für die breite Öffentlichkeit bewahrt.
Danke schön. Gleichwohl sollten wir darauf achten, dass das traditio-
nelle Buch unter diesem erweiterten Auftrag der Biblio-
(Beifall bei der LINKEN) thek nicht leidet. Das Buch ist nach wie vor ein wichtiges
Medium. Das Publikumsinteresse bei den Buchmessen,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die Verkaufszahlen im deutschen Buchhandel und die
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/ Nutzungszahlen der vielen kleinen Bibliotheken in
Die Grünen. Deutschland beweisen das.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kai Boris Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Außerdem ist uns Grünen wichtig, dass die zuneh-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
mende Digitalisierung des Kulturerbes von Maßnahmen
Zunächst einmal möchte ich mich bei den Kolleginnen
begleitet wird, welche die Medienkompetenz der Men-
und Kollegen der großen Koalition dafür bedanken, dass
schen erweitert. Gerade ältere Menschen müssen an
sie den rot-grünen Gesetzentwurf zur Einrichtung der
Computertechniken oft erst herangeführt werden. Damit
Deutschen Nationalbibliothek so gut wie unverändert
es einen gleichberechtigten Zugang zu Wissen und Kul-
eingebracht haben.
tur gibt, ist die systematische Förderung der Medien-
Frau Jochimsen, was Sie hier heute wieder geäußert kompetenz hier besonders wichtig.
haben, finde ich wirklich sehr abenteuerlich. Dazu hat
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
meine Kollegin in der ersten Lesung eigentlich schon al-
Jörg Tauss [SPD]: Vorsicht, die Älteren haben
les gesagt. Der Begriff Deutsche Nationalbibliothek hat
den Computer erfunden! – Gegenruf des Abg.
nichts mit Großmäuligkeit und Nationalismus zu tun,
Christoph Waitz [FDP]: Aber sie können ihn
sondern ist ein angemessener Begriff und eine Weiter-
nicht bedienen!)
entwicklung der Deutschen Bibliothek.
– Aber die Jungen werden damit groß.
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Eine
Weiterentwicklung?) Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu den organisa-
torischen und finanziellen Aspekten der Deutschen Na-
Auch bei der Bezeichnung deutsche Fußballnational- tionalbibliothek sagen. Wir finden es erfreulich, dass der
mannschaft denkt doch niemand an Nationalismus. Der Bundestag nun doch im Verwaltungsrat mit vertreten
Begriff Deutsche Nationalbibliothek wird sich in den sein soll.
(B) nächsten Jahren mit Sicherheit einbürgern. (D)
(Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der CDU/CSU und der SPD – Jörg Tauss Wie bei vielen anderen Gremienbesetzungen werden
[SPD]: Das Argument hat sie abschließend aber sicherlich nur wieder die beiden großen Fraktionen
überzeugt!) dort vertreten sein.
Die Deutsche Bibliothek ist – das steht außer Frage – (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Qualität setzt sich
die zentrale Archivbibliothek in Deutschland. Auch der durch!)
Einwand der FDP in der ersten Lesung – und auch heute
Wir wünschen uns für die Zukunft, dass auch die kleine-
wieder –, die Bibliothek habe den neuen Namen Deut-
ren Fraktionen hier mehr beachtet werden.
sche Nationalbibliothek deswegen nicht verdient, weil
ihre Bestände im Unterschied zu anderen Nationalbiblio- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
theken in Europa nur bis 1913 reichen, kommt mir da
doch reichlich kleinkariert vor. Was die Finanzierung der durch den erweiterten
Sammelauftrag der Deutschen Nationalbibliothek entste-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN henden Mehrausgaben angeht, werden wir als Grüne na-
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und türlich ganz genau hinschauen, wo die angekündigten
der SPD) Einsparungen zur Gegenfinanzierung im Haushalt des
Beauftragten für Kultur und Medien vorgenommen wer-
Die im heute zu beschließenden Gesetz vorgesehene
den.
Erweiterung des Auftrags der Deutschen Bibliothek auf
die Bewahrung und Nutzung des digitalen Kulturerbes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
für Literatur, Wissenschaft und Praxis ist mehr als über-
fällig. Wir werden es in den Haushaltsberatungen für 2007
jedenfalls nicht akzeptieren, wenn im Gegenzug bei
(Monika Griefahn [SPD]: Ja!) wichtigen Kulturförderungen gekürzt wird. Wir erwarten
hier ein klares Wort von der Bundesregierung, woher ge-
Wir leben im digitalen Zeitalter. Es wäre eine kulturpoli- nau das Geld dafür kommen soll.
tische Katastrophe, wenn bedeutsame digital im Netz
publizierte Dokumente der Nachwelt nicht erhalten blie- (Monika Grütters [CDU/CSU]: Das wird
ben. Es ist zu begrüßen, wenn hier systematisch ein digi- durch Umschichtung des Kulturhaushaltes ge-
tales Archiv entsteht, das unser kulturelles Gedächtnis macht! Das ist immer klar gesagt worden!)
2678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Kai Boris Gehring


(A) – Nein, es ist noch nicht klar gesagt worden, woher das Zeitalter, wenn wir die technischen Möglichkeiten, die (C)
Geld für 2007 ganz konkret kommen soll. vorhanden sind, tatsächlich nutzen, darauf hinwirken,
unsere kulturelle Identität zu berücksichtigen und zu er-
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Doch!)
halten.
So wichtig und sinnvoll die Einrichtung der Deut-
Das Wissen des digitalen Zeitalters müssen wir ver-
schen Nationalbibliothek ist: Wir sollten trotzdem und
fügbar halten. Gleichzeitig müssen wir zur Kenntnis
gerade deshalb die kleinen Bibliotheken in den Kom-
nehmen, dass sich zukünftig die Publikationsflut und die
munen nicht vergessen. Ihr Erhalt ist wichtig im Sinne
Flüchtigkeit von Informationen erhöhen werden. Des-
eines gleichberechtigten Zugangs zu kultureller Bildung.
halb ist die Frage der Medienkompetenz ein entschei-
Dass trotz steigender Nutzerzahlen mehrere Hundert Bi-
dender Schlüssel, um den Zugang und die Teilhabe an
bliotheken in diesem Land jährlich schließen müssen,
der Wissensgesellschaft zu gewährleisten.
finden wir äußerst besorgniserregend.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
neten der SPD)
Bevor es zu spät ist, brauchen wir dringend eine kon-
zertierte Aktion von Bund, Ländern und Kommunen für Dazu wird die digitale Bibliothek ihren Beitrag leisten.
die Zukunft unserer Bibliothekslandschaft und ihre Kollege Tauss hat am 19. Januar dieses Jahres in der
wichtige Rolle für die kulturelle Bildung. Ich fordere die ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes bereits darauf hin-
Bundesregierung auf, hier endlich aktiv zu werden. gewiesen: Jeder kennt die Frage – und stellt sie sich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN selbst –, wie das enorme Wissen, das tagtäglich von Uni-
sowie bei Abgeordneten der SPD) versitäten, Akademien, Verlagen oder auch von Privat-
personen in die digitalen Netze gestellt wird, auch für
die nachfolgenden Generationen verfügbar gehalten
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: werden kann. Deswegen ist der Gesetzentwurf vollkom-
Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder, CDU/ men richtig.
CSU-Fraktion.
Eine Innovation von Speichermedien folgt auf die an-
(Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: dere. Systeme ändern sich; die Entwicklung auf diesem
Doch nicht schon wieder! Dreimal hinterei- Gebiet bleibt rasant. Viele wichtige Erkenntnisse und
nander! Habt ihr keine anderen Redner?) wissenschaftliche Publikationen werden ohnehin nur
noch digital und gar nicht mehr in Buchform veröffent-
Philipp Mißfelder (CDU/CSU): licht. Ich glaube trotzdem – wir haben vorhin eine Dis-
(B) Kollege Tauss, Sie kommen in meiner Rede auf jeden kussion darüber geführt –, dass das Buch und der Druck (D)
Fall vor. an sich auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wer-
den. Es muss daher keinerlei Besorgnis, wie ich dies in
Ich möchte mit einer ernsthaften Bemerkung in Rich- manchen Veröffentlichungen lese, geben, dass das Buch
tung Linkspartei beginnen. Frau Jochimsen, mich wun- durch die Digitalisierung in den Bibliotheksbereichen in
dert nicht, dass Sie Probleme mit dem Begriff Nation ha- Zukunft infrage gestellt wird. Dies wird es nicht. Die Di-
ben. Denn die Linkspartei und die WASG haben bisher gitalisierung soll ausdrücklich nur eine ergänzende Funk-
noch nie den Eindruck gemacht, als ob sie mit Deutsch- tion haben, um den Zugang von jedem Ort dauerhaft
land oder mit unserer Nation auch nur im Geringsten et- möglich zu machen. Das ist der entscheidende Vorteil.
was zu tun haben möchten. Die Bibliothek muss einen Beitrag dazu leisten, dass von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fast jedem Ort aus die Verfügbarkeit über eine Informa-
neten der SPD) tion möglich ist.
Aber das ist nicht Gegenstand meiner Rede. Vorhin hatte ich die Frage der in diesem Zusammen-
hang gebotenen Europäisierung angesprochen. In
Ich bin, wie Herr Kollege Tauss vorhin schon richti- Frankreich werden Initiativen ergriffen, den Bestrebun-
gerweise ausführte, für die Fragen der technischen Neue- gen einer von mir schon genannten Internetfirma entge-
rungen, die in dem Gesetzentwurf in erster Linie behan- genzutreten. Denn niemand weiß, wie sehr bei allem Op-
delt werden, zuständig und spreche auch dazu. timismus, den ich der Internetwirtschaft gegenüber habe,
Ich bin mir sicher, dass dieser Gesetzentwurf – Kol- die kulturelle Identität in Mitleidenschaft gezogen wird,
lege Gehring hat gerade richtigerweise gesagt, dass die- wenn der Staat sich aus diesem Bereich komplett verab-
ses Anliegen schon vorher auf den Weg gebracht worden schiedet.
ist – ein wichtiger Beitrag dazu ist, im digitalen Wettbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
werb aufzuholen. Wir sehen, was sich dort im privat- der SPD)
wirtschaftlichen Bereich tut – ich nenne das Stichwort
Google – und welche neuen technologischen Planungen Deshalb glaube ich, dass unser Gesetzentwurf ein ent-
auf die Internetwelt zukommen. Dies muss unsererseits, scheidender Beitrag sein kann, diesem Problem entge-
seitens des Staates begleitet werden und auch im euro- genzuwirken und diese Fragestellungen zu bearbeiten.
päischen Rahmen Berücksichtigung finden. Dazu sollte Wir sollten uns um dieses Thema und nicht mehr um die
die Bundesrepublik Deutschland einen Beitrag leisten, Frage der Umbenennung kümmern. Dies ist gleich nach
und zwar aus folgendem Grund: Wir sollten im digitalen der Abstimmung ohnehin entschieden und deswegen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2679
Philipp Mißfelder
(A) können wir uns getrost auf das konzentrieren, was tat- den Charakter einer Nationalbibliothek. Warum sollte ihr (C)
sächlich wichtig ist, nämlich die neuen technologischen dann ein entsprechender Name verwehrt bleiben?
Herausforderungen anzunehmen.
Die Eingabe von Herrn Bernhardi wurde damals ab-
Vielen Dank. schlägig beschieden. Der Gutachter kam zu dem
Schluss:
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wozu die übervollständige Anhäufung des Mittel-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mäßigen und Schlechten?
Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries, Mit dieser Frage leitete er die Ablehnung der Eingabe
SPD-Fraktion. durch die Akademie ein.
(Jörg Tauss [SPD]: Jetzt kommt die Sachauf- Übrigens, Herr Waitz: Die Wurzeln Ihrer Partei lie-
klärung!) gen, wie Sie und Ihre Fraktionskollegen gern betonen, in
genau dieser Zeit. Der spätere Nationalliberale
Christoph Pries (SPD): Bernhardi jedenfalls wusste sehr genau, dass eine Ein-
Frau Präsidentin! Sehr geehrter Staatsminister richtung, die die Aufgaben einer Nationalbibliothek er-
Neumann! Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich füllt, den entsprechenden Namen tragen sollte. 132 Jahre
sehr, dass wir heute gemäß dem Motto „Was lange nach dessen Tod sind die Fakten, die dafür sprechen,
währt, wird endlich gut“ einen Schlussstrich unter die dem Kind einen Namen zu geben, größer denn je. Ich
Debatte ziehen können, die nicht erst seit Einbringung möchte an dieser Stelle nicht die Argumente, die ich be-
des Entwurfes eines Gesetzes über die Deutsche Natio- reits bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs vorge-
nalbibliothek in den Deutschen Bundestag, sondern be- stellt habe, wiederholen. Vielmehr möchte ich auf einige
reits seit über 150 Jahren Geist und Gemüt bewegt. andere Aspekte eingehen, die Ihnen verdeutlichen sol-
len, dass die Umbenennung in „Deutsche Nationalbi-
Die Bibliothekswissenschaft hat zahlreiche vergebli- bliothek“ richtig ist.
che Anläufe dokumentiert, eine Nationalbibliothek in
Deutschland zu etablieren. Ein Beispiel: Karl Christian Betrachten wir einmal den jetzigen Namen: Die
Sigismund Bernhardi war 1843, fünf Jahre bevor er als Deutsche Bibliothek. Dieser Name wirft einige Fragen
Abgeordneter in die Frankfurter Nationalversammlung auf: Was soll der Artikel „die“ überhaupt aussagen? Soll
gewählt wurde, als Bibliothekar in Kassel beschäftigt. In jene Bezeichnung vielleicht darauf hinweisen, dass es
diesem Jahr kam es zu der Eingabe des Herrn Bernhardi sich bei dem Institut in Frankfurt quasi um die Biblio-
an die Preußische Akademie der Wissenschaften, diese thek aller Bibliotheken in unserem Land handelt? Wenn
(B) möge sich engagieren, den König von Preußen für den ja, würde dies stärker zu dem vom Bundesrat befürchte- (D)
Gedanken einer Deutschen Nationalbibliothek zu gewin- ten Verlust der Bedeutung der Staatsbibliotheken in Ber-
nen. lin und München beitragen, als es die Bezeichnung
„Deutsche Nationalbibliothek“ jemals könnte.
Der Buchhandel solle je ein Exemplar eines jeden in
Deutschland erscheinenden Buchwerks dieser Biblio- Betrachten Sie einmal die Protokolle der ersten Lesung
thek übergeben. Darauf aufbauend sollte die Bibliogra- zu diesem Gesetzentwurf. Sie werden feststellen, dass
fie von Deutschland erstellt werden. kaum eine Rednerin und kaum ein Redner den richtigen
Namen der Einrichtung in Frankfurt benutzt hat. Das
Die Vollständigkeit der Sammlung war Bernhardi be- „die“ wurde allzu gern weggelassen. Auch jene Abgeord-
sonders wichtig. In seiner Eingabe heißt es: nete, welche sich gegen eine Umbenennung ausgespro-
Wenn nämlich auch in Deutschland, wie dieß in chen haben, mussten erkennen, dass sich die korrekte
Frankreich Gesetz ist, Ein Exemplar von Allem, Namenswiedergabe nur schwerlich in einen rhetorisch
was gedruckt wird, ohne Ausnahme an eine deut- einwandfreien Sprachgebrauch einpflegen lässt.
sche Nationalbibliothek eingeliefert werden müßte, (Johann-Henrich Krummacher [CDU/CSU]:
so wäre das der Ort, wo jeder Gelehrte eine voll- Das ist richtig!)
ständige Ergänzung der Bibliotheken finden
könnte, welche ihm in seiner nächsten Umgebung In meinen Augen macht die bisherige Bezeichnung
zugänglich sind. keinen Sinn und ist zudem irreführend. Lassen Sie uns
also internationalen Gepflogenheiten folgen und der Bi-
Schauen Sie nach Frankfurt! Dort sehen Sie genau bliothek den Namen geben, der nicht nur ihrer Funktion,
das, was sich Herr Bernhardi bereits vor 160 Jahren er- sondern auch ihrer Bedeutung und internationalen Be-
träumte: eine Bibliothek, welche die Ansprüche erfüllt, trachtung entspricht.
die an eine Nationalbibliothek zu stellen sind. Hier wer-
den sämtliche Publikationen aus und über Deutschland, (Christoph Waitz [FDP]: Deutsche Biblio-
alle in Deutschland veröffentlichten ausländischen Pu- thek!)
blikationen sowie sämtliche deutschsprachige Literatur
Ich begrüße im Übrigen ausdrücklich die Beschluss-
des Auslands gesammelt. Auch erscheint hier mit der
empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien.
Nationalbibliografie ein Verzeichnis, dem es vergönnt
Zukünftig entsendet der Bundestag zwei Mitglieder in
ist, einen Namen zu tragen, der die Funktion bestens um-
den Aufsichtsrat der Deutschen Nationalbibliothek.
schreibt. Die Einrichtung in Frankfurt, unter deren Dach
die Nationalbibliografie erscheint, hat die Funktion und (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
2680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Christoph Pries
(A) Das unterstreicht den Charakter der Bibliothek als un- Überweisungsvorschlag: (C)
sere Nationalbibliothek. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss
Im Grunde haben wir bereits eine Nationalbibliothek. Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Lassen Sie uns endlich diese auch so bezeichnen! Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Danke schön. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Entwicklung
Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
die Deutsche Nationalbibliothek, Drucksache 16/322. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in sei- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/896, den gin Gudrun Kopp.
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- (Beifall bei der FDP)
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf Gudrun Kopp (FDP):
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD, Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU bei Ge- Damen! Wir brauchen in Deutschland endlich eine
genstimmen der FDP und der Fraktion der Linken ange- Renaissance der Ordnungspolitik im Energiebereich.
nommen. Wir führen jetzt zum zweiten Mal eine Energiedebatte an
Dritte Beratung diesem Tag.

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (Rolf Hempelmann [SPD]: Dann können Sie
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ihre Rede zu Protokoll geben!)
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Das mag die Bedeutung der Energiepolitik auch noch
wurf ist mit denselben Mehrheiten wie in zweiter Bera- einmal unterstreichen. Wenn ich mehr Ordnungspolitik
(B) tung auch in dritter Beratung angenommen. im Energiebereich fordere, dann heißt das, dass im (D)
Rückblick in den letzten acht Jahren – das wurde zwar
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
schon von Rot-Grün begonnen, wird aber leider von der
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun rot-schwarzen Koalition fortgesetzt – der Pfad des Diri-
Kopp, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, wei- gismus und der Staatsgläubigkeit beschritten wurde und
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP weiter beschritten wird. Dagegen sprechen wir uns dezi-
diert aus.
Ordnungspolitischer Kompass für die deut-
sche Energiepolitik (Beifall bei der FDP)

– Drucksache 16/589 – Beim Energiegipfel haben wir es gesehen: Die wich-


tigen Fragen werden ausgespart: Wie sieht der künftige
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Energiemix aus? Inwieweit wollen wir mehr Wettbe-
Auswärtiger Ausschuss werb und Markt verwirklichen? Wie wird sich der Emis-
Finanzausschuss sionshandel gestalten? Es ist ja vorgesehen, dass etwa
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und 10 Prozent der Zertifikate versteigert werden sollen. Wir
Verbraucherschutz stellen uns vor, dass der Versteigerungserlös zum Bei-
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung spiel zur Senkung der Stromsteuer eingesetzt werden
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit könnte, damit die Bürger und unsere Wirtschaft entlastet
Ausschuss für Bildung, Forschung und werden. Wir fordern, dass auf diesem Weg der hohe
Technikfolgenabschätzung staatliche Anteil an den Strompreisen endlich gesenkt
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
wird. Er beträgt – das wissen Sie alle; wir haben übri-
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union gens die zweithöchsten Strompreise in der EU – 40 Pro-
zent. Der Staat muss sich an der Stelle zugunsten von
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- mehr Markt und Wettbewerb zurücknehmen.
Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-
Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der FDP)
der LINKEN Wir haben in dem Antrag, den wir Ihnen heute vorle-
Die zukünftige Energieversorgung sozial und gen und von dem wir hoffen, dass er auch für Sie die
ökologisch gestalten Leitlinien einer künftigen Energiepolitik beschreibt, drei
Grundsätze niedergelegt, die wir Ihnen besonders mit
– Drucksache 16/1082 – auf den Weg geben wollen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2681
Gudrun Kopp
(A) Der erste Grundsatz lautet: Die soziale Marktwirt- All das ist notwendig, um den Standort Deutschland (C)
schaft, also die Bestimmung von Preisen, Verbrauch und zu versorgen. Energiepolitik ist Standortpolitik. Das
Investitionen durch Markt und Wettbewerb, soll auch in kann man gar nicht oft genug wiederholen. Sie ist die
der Energiepolitik endlich eine stärkere Bedeutung er- Lebensader unserer Wirtschaft.
halten.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP)
Zweiter Grundsatz: Die Eingriffe des Staates müssen
auf das notwendige Maß begrenzt und marktkonform Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
ausgestaltet werden. Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
Dritter Grundsatz: Subventionen dürfen nur aus-
nahmsweise gewährt werden; sie müssen zeitlich eng be- (Beifall bei der CDU/CSU)
fristet und degressiv sowie marktwirtschaftlich ausge-
staltet sein. Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Von alldem, meine lieben Kollegen und Kolleginnen,
Herren! Liebe Kollegin Kopp, die FDP startet stark mit
ist derzeit nichts zu spüren, im Gegenteil. Ich erwähne es
ihrem Antrag, in dem sie einen ordnungspolitischen
noch einmal ausdrücklich: Wenn wir Klimaschutz, Ver-
Kompass fordert und mit dem sie marktwirtschaftliche
sorgungssicherheit, Bezahlbarkeit von Energie trotz des
Rahmenbedingungen schaffen will. Das finde ich gut.
immer weiter steigenden Energiehungers in der Welt ge-
Das kann ich nachhaltig unterstreichen.
währleisten wollen, dann brauchen wir auch in Zukunft
einen breiten Energiemix. Insbesondere an die CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
CSU-Fraktion gerichtet möchte ich sagen: Sorgen Sie da-
für, dass der Streit in der Koalition um die künftige Nut- Sie klagen zu Recht an, dass wir die Gleichgewichtigkeit
zung der Kernenergie endlich beendet wird! Ermögli- der Ziele Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit,
chen Sie eine Verlängerung der Laufzeiten der Klimaschutz sowie Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbs-
Kernkraftwerke! Denn auf diese Weise können wir für fähigkeit in der Vergangenheit zu sehr aus den Augen
Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit verloren, dass wir diese Bereiche nicht richtig austariert
von Energie sorgen. hätten. Auch darin stimme ich Ihnen zu.
(Ulrich Kelber [SPD]: 1998!)
(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]:
Und für die Verlängerung der Subventionie- In Ihrem Antrag sind aus meiner Sicht aber leider (D)
(B)
rung!) keine konkreten Handlungsansätze erkennbar. Sie verlie-
ren sich am Schluss Ihres Antrages leider in Allgemein-
Denken Sie daran, dass auch in dem Statusbericht plätzen. Er endet mehr oder weniger – das muss ich Ih-
der Bundesregierung mit Blick auf die Zukunft davon nen schon sagen – als inhaltliche Nullnummer:
ausgegangen wird, dass, neben den erneuerbaren Ener-
gien, Gas und Kohle vermehrt genutzt werden müssen. Sie fordern, dass wir
Beim Gas soll sich der Bedarf in Zukunft sogar mehr als die Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft, also
verdoppeln. die Bestimmung von Preisen, Verbrauch und Inves-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sagt wer?) titionen durch Markt und Wettbewerb …
erhalten, dass sich
– Das steht im Statusbericht der Bundesregierung.
Schauen Sie nach. staatliche Vorgaben … auf einen Ordnungsrahmen
für energiewirtschaftliches Handeln beschränken,
(Ulrich Kelber [SPD]: Aber doch nicht das aber das Handeln anderen überlassen.
Doppelte von der Gesamtmenge, sondern das
Doppelte in dem Sektor! Das müssen Sie doch (Gudrun Kopp [FDP]: Genau das fehlt, Herr
einmal unterscheiden lernen!) Kollege!)
Das heißt, dass Sie den Klimaschutz und die Versor- Das sind Allgemeinplätze, denen wir alle hier im Haus
gungssicherheit hintanstellen und die Importabhängig- – vielleicht mit Ausnahme der Kollegen von ganz links –
keit unseres Landes – denken Sie an Gasprom, an Russ- zustimmen. Wir sind – das will ich gleich hinzufügen –
land – steigt. auf dem Weg, diese Forderungen umzusetzen. Mit dem
Energiegipfel haben wir in dieser Woche den Startschuss
Das wollen wir nicht. Wir möchten bei den Kohle- dazu gegeben.
kraftwerken neueste Technologien einsetzen und bei den
erneuerbaren Energien verstärkt in Forschung investie- Der zweite Antrag wurde von der Fraktion DIE
ren. Wir möchten, dass die Stromerzeugung aus Kern- LINKE vorgelegt. Er geht nicht nur haarscharf an den
energie durch eine Verlängerung der Laufzeiten der Realitäten vorbei, sondern meilenweit. Sie sprechen da-
Kernkraftwerke möglich bleibt. von, dass unsere Energiepolitik internationale Konflikte
schürt. Im Gegensatz zur FDP schlagen Sie immerhin
(Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Mit Instrumente vor. Sie sind aus meiner Sicht allerdings
Subventionen oder ohne Subventionen?) abstrus. Sie fordern die Verstaatlichung der Netze, so
2682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Joachim Pfeiffer


(A) genannte Bürgerenergienetze und andere Dinge mehr. sollten und so einen wichtigen Beitrag für die energiein- (C)
All das sind Instrumente aus der sozialistischen Motten- tensiven Unternehmen leisten.
kiste, die in der Vergangenheit nirgendwo auf der Welt
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
funk-tioniert haben. Deshalb brauchen wir uns mit die-
sem Antrag nicht weiter zu beschäftigen. Das alles sind Punkte, die ganz konkret nacheinander ab-
gearbeitet werden und dem Ziel der Förderung der Wett-
Was sind die Herausforderungen und wie wollen wir
bewerbsfähigkeit bzw. der Wiederherstellung der Wett-
sie angehen? In der Tat hat unsere Wirtschaft, und zwar
bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft dienen.
nicht nur die energieintensive Wirtschaft, Wettbewerbs-
fähigkeit eingebüßt. Diese Wettbewerbsfähigkeit müs- Was aber sind die langfristigen Herausforderungen?
sen wir dringend wieder erlangen. Das bedeutet, wir Sie sind in der Tat nicht nur kurz- oder mittelfristiger
müssen kurz- und mittelfristig handeln. Kurzfristige Natur. Wir brauchen ein energiepolitisches Gesamtkon-
Maßnahmen haben wir mit dem Energiewirtschaftsge- zept – das fordern wir schon lange ein; leider gab es das
setz eingeleitet. Frau Kopp, dieses Gesetz haben wir im sowohl in den letzten sieben Jahren unter Rot-Grün als
Vermittlungsausschuss zusammen mit der SPD und den auch in den 90er-Jahren unter Schwarz-Gelb nicht –, das
Grünen – auch das muss man einmal sagen – auf den die Ziele Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit, Um-
Weg gebracht. Mit der zurzeit in Entwicklung befindli- weltschutz und Klimaverträglichkeit aufeinander ab-
chen Anreizregulierung werden wir einen Beitrag dazu stimmt. Was sind die Herausforderungen? Auf der einen
leisten, dass die vorhandenen Potenziale bei den Seite müssen wir alles für die Energieeinsparung und die
Netzentgelten gehoben werden. Diese Preissenkung ge- Erhöhung der Energieeffizienz tun. Ich glaube, da sind
reicht den energieintensiven Unternehmen zum Vorteil. wir uns alle hier im Hause einig.
(Gudrun Kopp [FDP]: Guter Anfang!) Das EU-Grünbuch sieht hier ein Potenzial von bis zu
20 Prozent, was monetär betrachtet europaweit immer-
Darüber hinaus sind Ausnahmen bei der energieintensi- hin 60 bis 65 Milliarden Euro pro Jahr bedeutet, die wir
ven Industrie möglich. in diesem Bereich einsparen könnten, wenn wir über alle
Es gibt hier die ersten Antragsteller. In diesem Zu- Sektoren hinweg konsequent wären. Wir wollen dies und
sammenhang wurden die Netznutzungsentgelte schon setzen das mit dem Gebäudesanierungsprogramm – das
zwischen 30 und 50 Prozent reduziert. Hier wurde ein ist ein Feld, über das in der Vergangenheit sehr viel gere-
konkreter Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit erreicht. det wurde, Herr Fell, auf dem aber viel zu wenig getan
wurde – in diesem Jahr erstmalig um, und zwar mit einer
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ein sehr gutes hervorragenden finanziellen Ausstattung und mit weite-
Gesetz aus der letzten Legislaturperiode!) ren Anreizen, die nicht nur zinsverbilligend wirken, son-
(B) (D)
– Herr Kelber, dank unserer Vermittlungsbemühungen dern die direkt im Zuschussbereich, also auch im Eigen-
ist es Ende Juni letzten Jahres in der Tat ein gutes Gesetz tumsbereich, ihre Wirkung entfalten. Dies wird mit
geworden. weiteren Instrumenten ergänzt.

(Gudrun Kopp [FDP]: Immer großzügig sein!) Mit all diesen Bemühungen – der Steigerung der
Energieeffizienz und den Einsparungen – werden wir,
Ein weiterer Punkt: die Härtefallregelung im Erneuer- wenn es optimal läuft, um 20 Prozent reduzieren kön-
bare-Energien-Gesetz. Im Koalitionsvertrag wurde die nen. Das heißt, wir haben natürlich immer noch den Be-
Aufhebung der Deckelung bei 10 Prozent verabredet. darf an Strom, Energie und Wärme. Auch im Kraftstoff-
Das wird jetzt umgesetzt. Sie bringt der energieintensi- und im Mobilitätsbereich, die selbstverständlich auch zu
ven Industrie für 2006 immerhin 80 Millionen Euro und einem gesamtpolitischen Energiekonzept zählen, gibt es
verbessert die Wettbewerbsfähigkeit direkt und nachhal- weitere Herausforderungen. Wir brauchen einen nach-
tig. haltigen Energiemix. Dieser Energiemix – davon bin ich
zutiefst überzeugt – wird allen Energieträgen mit ihren
Ein weiteres Instrument, mit dem wir kurzfristig han-
spezifischen Vor- und Nachteilen in Zukunft einen Platz
deln, ist das Energiesteuergesetz. Einige Branchen wer-
bieten.
den weiterhin bzw. neu von der Stromsteuer und Mine-
ralölsteuer befreit. Auch das zielt direkt auf die (Gudrun Kopp [FDP]: Hört! Hört!)
Wettbewerbsfähigkeit dieser Unternehmen ab.
Das betrifft die fossilen Brennstoffe, also zum Bei-
Ein letzter und ganz entscheidender Punkt, mit dem spiel die Braunkohle und die Steinkohle. Ich nenne die
wir uns in den nächsten Wochen mit Sicherheit auch hier Stichworte CO2-Reduktion und CO2-freies Kraftwerk,
im Parlament und in den Ausschüssen befassen werden, das nun von der Vision in die Realisierungsphase ge-
wenngleich der NAP II Aufgabe der Regierung ist, ist langt. Das betrifft auch den Gasbereich. Ich will nicht
der Emissionshandel. Nicht umsonst haben wir den EU- verkennen, dass ich froh bin, dass wir jetzt von dem Weg
Kommissar für Umwelt eingeladen, im Mai zu einer ge- Abstand nehmen, der von den Grünen, insbesondere von
meinsamen Sitzung des Wirtschafts- und des Umwelt- Herrn Trittin, in der letzten Legislaturperiode eingeleitet
ausschusses zu kommen. Der Emmissionshandel muss wurde. Es schien der vermeintlich einfachste Weg, In-
zukünftig so ausgerichtet sein, dass die energieintensi- vestitionen zu generieren und gleichzeitig eine Reduk-
ven Unternehmen im Wettbewerb nicht mehr benachtei- tion des CO2-Ausstoßes zu erreichen. Das funktionierte
ligt werden, dass wir die Einpreisung der Windfall-Pro- aber nicht so. Es wird nötig sein, auch die Kernenergie
fits zukünftig verhindern bzw. rückgängig machen im Energiemix zu behalten,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2683
Dr. Joachim Pfeiffer
(A) (Gudrun Kopp [FDP]: Aha!) Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): (C)
ob wir dies in Deutschland wollen oder nicht. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Lieber Herr Kollege Pfeiffer, wenn etwas
Es ist sicher: Die Kernenergie wird für den Energie- abstrus ist, dann ist es Ihr unbedingtes Festhalten an der
mix in Deutschland auch in Zukunft eine Rolle spielen. Atomindustrie und den gefährlichen Meilern, die es bei
Ich sage Ihnen auch, warum: Wenn wir einen europäi- uns gibt. Das ist wirklich abstrus.
schen Markt, beim Gas den Ausbau der Grenzüber-
gangsstellen, den Ausbau der Kuppelstellen und auf dem (Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim
Strommarkt eine Preisbildung auf europäischer Ebene Pfeiffer [CDU/CSU]: Hätten Sie mir doch nur
haben wollen, wird der Verbraucher in Deutschland – ob zugehört!)
Endverbraucher oder Wirtschaft – zukünftig frei ent- Die jetzige Energiepolitik der Bundesregierung ist
scheiden können, woher er welchen Strom bezieht. unsozial und den globalen Herausforderungen nicht ge-
Selbst dann, wenn wir uns, was ich nicht glaube, dafür wachsen. Bundesregierung und Energiekonzerne glau-
entscheiden würden, in Deutschland langfristig auf die ben, man könne den nötigen Umbau ohne viel Bewe-
Kernenergie zu verzichten, würde sie über diesen Um- gung bewältigen. Das ist ein Irrtum. Die Aufgabe einer
weg für den Strommix in Deutschland auf jeden Fall nachhaltigen Energieversorgung ist kein Wunschkon-
eine Rolle spielen. zert der Energiebosse. Es ist zwingend nötig, die Ener-
Insofern wird die Diskussion der nächsten Wochen giepolitik den veränderten Bedingungen anzupassen.
und Monate, wenn wir sie denn ernsthaft, rational und Anhand von fünf Thesen möchte ich das verdeutli-
sachlich führen – mein Eindruck ist, dass wir das zum chen:
ersten Mal seit Jahren, beginnend mit dem Energiegip-
fel, schaffen können –, dazu führen, dass wir die Realitä- Erstens. Klimawandel und Ressourcenverfügbar-
ten zur Kenntnis nehmen und uns an ihnen orientieren keit geben den Ton an. Deutschland ist zu drei Vierteln
und dass wir uns bei der Stromerzeugung um eine breite vom Import fossiler und atomarer Energie abhängig. Der
Diversifikation bemühen. Zu den Hebungen und den Po- Hunger nach diesen Rohstoffen wächst. Die Folge:
tenzialen konnte ich leider nichts mehr sagen. Schon in 15 Jahren wird das knappe Öl über 100 Dollar
je Barrel kosten. Herr Pfeiffer, dann werden wir es mit
Verteilungskämpfen zu tun haben. Warten wir einmal ab,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
was dann geschehen wird.
Herr Kollege.
(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Sagen Sie etwa,
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): wir schüren internationale Konflikte?)
(B) (D)
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. Auch auf Kohle allein können wir nicht setzen. Denn der
Klimawandel ist in vollem Gange. Seine Hauptursache
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ist der massenhafte Verbrauch von Kohle und Öl. Die
Ich bitte darum. Folgen für Mensch und Umwelt erreichen uns schneller
und in stärkerem Maße als bisher angenommen. Wir
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): müssen beim Klimaschutz einfach mehr tun.
Dabei geht es um die KWK und hinsichtlich der Zweitens. Der Energieverbrauch muss halbiert wer-
Kraftstoffe und der Mobilität um eine Strategie zur Er- den. Allein die Industrie kann den Stromverbrauch um
setzung der bisherigen Kraftstoffe durch alternative 30 Prozent senken. Die Heizkosten im Gebäudebestand
Kraftstoffe. könnten um bis zu 80 Prozent reduziert werden.
Deshalb sehe ich mit Freude den Diskussionen der (Ulrich Kelber [SPD]: Hier machen wir doch etwas!
nächsten Wochen und Monate entgegen, – Das müssen Sie jetzt aber zugeben!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Bei einer Halbierung des Energieverbrauchs können
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. wir sicherlich das Potenzial der erneuerbaren Energien
nutzen, um die drängenden Ziele beim Klimaschutz zu
erreichen. Das wird nur mit einem klaren Ordnungsrecht
Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU): gelingen. Dazu gehören das Verbot von Stand-by-Gerä-
– in denen mancher die Realitäten der Zeit erkennen ten, die Pflicht zum Energiemanagement in der Industrie
wird. Ich komme für heute gerne zum Schluss, Frau Prä- und klare Verbrauchsobergrenzen, die auch für die Auto-
sidentin. mobilindustrie gelten müssen.
Vielen Dank. Drittens. Energie muss bezahlbar bleiben. Die
(Beifall bei der CDU/CSU) aktuelle Preissteigerung ist nur teilweise den hohen
Rohstoffkosten geschuldet. Sie ist auch auf Börsenspe-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
kulationen und die Profitgier der Konzerne zurückzufüh-
ren. Neben der Energieeinsparung ist der Ausbau der er-
Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill, Fraktion
neuerbaren Energien der einzige Garant für stabile
Die Linke.
Preise. Ihre Kosten sinken, während sich die Preisspirale
(Beifall bei der LINKEN) bei Gas und Öl nach oben dreht. In wenigen Jahren
2684 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Hans-Kurt Hill
(A) werden Wind, Sonne und Biomasse zum Teil billiger (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C)
sein als die fossilen Energien. SES 90/DIE GRÜNEN – Hans-Josef Fell
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haha!)
Viertens. Die Netze gehören in öffentliche Hand; das
ist eigentlich nichts Neues. denn Rot-Schwarz – oder Schwarz-Rot – betreibt eine
Energiepolitik, die mindestens so grün ist wie die Ener-
(Beifall bei der LINKEN) giepolitik der sieben Jahre zuvor.
Wir haben mit der Bundesnetzagentur ein geeignetes (Zuruf von der FDP: Und genauso wenig
Instrument, wir müssen es nur entsprechend ausstatten, zielführend!)
dann wird es auch funktionieren. Die Netze müssen der
Allgemeinheit dienen und nicht dem Profit weniger. Das führt bei den Grünen natürlich zu ein wenig Nervo-
sität.
Meine Damen und Herren von der FDP, 40 Prozent
der Stromrechnung der privaten Haushalte sind so ge- Auf der anderen Seite haben wir eine Fraktion, die ein
nannte Netznutzungsentgelte. bisschen die Rolle einnimmt, die man früher den Grünen
zugeschrieben hat. Wir haben gerade Herrn Hill gehört,
(Gudrun Kopp [FDP]: Was?) der meint, dass es ohne fossile und ohne Kernenergie
Die erneuerbaren Energien schlagen nur mit 2 Prozent geht, mit anderen Worten: Strom gibt es, wenn der Wind
zu Buche. weht. Auch das kann der Weg nicht sein.

(Gudrun Kopp [FDP]: Stimmt nicht! Das ist Unser Koalitionspartner schließlich hat sich mit uns
falsch!) gemeinsam auf den Weg gemacht, eine Energiepolitik zu
formulieren, die zukunftsfähig ist und unser Land wei-
Fünftens. Die fossil-atomare Energiewirtschaft hat terbringen wird. Lieber Kollege Pfeiffer, ich hätte gerne
keine Zukunft. Atomkraft senkt nicht die Preise, aus- am Ende Ihrer Rede applaudiert, aber wir gewöhnen uns
schließlich Spitzenlastkraftwerke bestimmen den Markt- ja alle noch ein bisschen aneinander.
preis. Der Klimaschutzeffekt ist null. Laufen Atommeiler
länger, dürfen die Kohleblöcke mehr CO2 produzieren; (Heiterkeit des Abg. Dr. Joachim Pfeiffer
das macht der Emissionshandel möglich. Atomkraft [CDU/CSU])
kann keine Brücke zur Einführung neuer Technologien Deswegen sei Ihnen verziehen, dass Sie am Ende doch
sein. Clean-Coal-Kraftwerke und Fusionsreaktoren sind noch einen kleinen Ausrutscher hatten, als Sie sozusagen
nur teure Theorien. – Es tut mir Leid, meine Stimme „zum Kern“ gekommen sind, auf den Sie immer wieder
macht nicht mehr mit. gerne zurückkommen. Sie hatten halt das Pech, bei der (D)
(B)
Tschernobyldebatte nicht dabei gewesen zu sein; mögli-
Ich bedanke mich bei Ihnen.
cherweise hätten Sie sich sonst die Bemerkung zu die-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- sem Thema verkniffen.
NIS 90/DIE GRÜNEN)
Die FDP hat einen Antrag gestellt

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Gudrun Kopp [FDP]: Guter Antrag!)


Herr Kollege, alles Gute für Ihre Stimme, damit Sie und bittet um einen ordnungspolitischen Kompass.
demnächst wieder reden können. Dann gibt es offenbar eine gewisse Orientierungslosig-
keit in Ihren Reihen.
Nächster Redner ist der Kollege Rolf Hempelmann,
SPD-Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf
von der FDP: Bei der Regierung!)
Rolf Hempelmann (SPD): Sie bitten uns, Ihnen da ein bisschen weiterzuhelfen und
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Orientierung zu geben. Dazu sind wir natürlich gerne be-
Das ist nun heute schon die vierte Debatte, die sich auf reit.
die eine oder andere Art und Weise mit der Energiepoli-
tik beschäftigt. Wir haben offenbar einen Tag der Ener- (Gudrun Kopp [FDP]: Das kann schief gehen!)
giepolitik, ja eigentlich sogar – wenn man an den Beginn Die Linken wollen Energieversorgung sozial und
der Woche, an den Energiegipfel denkt – eine Woche der ökologisch gestalten. Ich habe immer gedacht: Das ist
Energiepolitik. Das ist gut so; es zeigt nur den Stellen- genau das, was wir jahrelang gemacht haben. Wir waren
wert des Politikfeldes, mit dem wir uns beschäftigen. für das Soziale und für das Ökologische gemeinsam zu-
Am Ende eines solchen Debattentages – den haben ständig und sind dafür gelegentlich von allen Seiten
wir ja, was die Energiepolitik angeht, fast erreicht – kann – oder fast allen – gelobt worden.
man eine ganz interessante Feststellung treffen: Die Wie dem auch sei, am Montag fand der Energiegipfel
Situation ist schon etwas seltsam. Auf der einen Seite statt; wir haben heute darüber gesprochen. Ich denke,
haben wir die Grünen, die initiativ wurden und eine dass hier durchaus ein Beitrag geleistet worden ist und in
Aktuelle Stunde zum Thema Energiepolitik verlangten den nächsten Monaten geleistet werden wird,
und im Grunde genommen feststellen müssen, dass sie
fast überflüssig werden; (Gudrun Kopp [FDP]: Welche Versprechung!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2685
Rolf Hempelmann
(A) der dem Verlangen nach Orientierung bis ins Jahr 2020 treiben. Das heißt, wir müssen Wege finden, dass die (C)
tatsächlich nachkommt: mit einem Energiekonzept oder Unternehmen durch die Einpreisung der Zertifikate nicht
Energieprogramm, das im Jahre 2007 das Ergebnis die- geradezu erdrosselt werden, wie es bisher geschehen ist.
ses Gipfelprozesses sein soll. Hier ist die Energiewirtschaft aufgefordert, an Lösungen
mitzuarbeiten. Einfache Lösungen gibt es jedenfalls
Wir haben heute Morgen gehört, dass bei den Gesprä-
nicht.
chen auf diesem Gipfel insbesondere die Aspekte
Versorgungssicherheit, Preiswürdigkeit und Umweltver- Im FDP-Antrag gibt es etwas, das bei mir ein Déjà-
träglichkeit eine Rolle gespielt haben und dass die Er- vu-Erlebnis ausgelöst hat. Wir haben ja bei vielen Podi-
gebnisse – insbesondere die zugesagten Investitionen – umsdiskussionen zum Thema Energiepolitik zusammen-
genau dieser Zieltrias entsprechen. Das ist gut so; das gesessen, bei denen immer wieder gesagt wurde: Von
wird von uns begrüßt. Als Parlamentarier sind wir aber den staatlich induzierten Mehrkosten von 40 Prozent
gebrannte Kinder und wollen mehr als diese Zusagen. müssen wir runter. – Ich will ein für allemal sagen, dass
Wir möchten von den zuständigen Ministerien schwarz über 34 Prozent dieser Kosten überhaupt nicht geredet
auf weiß sehen, was im Einzelnen vereinbart worden ist, werden kann. Das wissen Sie genauso gut wie jeder an-
um die Belastbarkeit der Zusagen selber einschätzen zu dere hier im Hause. Das sind nämlich Kosten, die Sie
können. selbst anderswo ebenfalls vertreten. Für die Konzessi-
onsabgaben beispielsweise, die an die Kommunen ge-
(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) zahlt werden, werden Sie in Ihren Kommunen genauso
Es lohnt sich durchaus, nicht nur einen Blick nach streiten – jedenfalls werden Sie den Eindruck erwecken,
vorne, sondern auch einen Blick zurück zu werfen; denn dass Sie dafür streiten –, wie wir uns hier dafür einset-
ich glaube, dass mit der Energiepolitik der letzten Jahre zen. Diese Gelder sind für Leistungen, die die Kommu-
die Kriterien erfüllt wurden, deren Realisierung uns nen erbringen und auf die sie einen Anspruch haben. Es
heute in diesen beiden Anträgen abverlangt wird. Zum kann doch keiner ernsthaft erwarten, dass wir, was die
einen haben wir im letzten Jahr eine Ordnungspolitik Umsatzsteuer angeht, bei der Energie eine Ausnahme
auf den Weg gebracht, die man durchaus mit dem Be- machen.
griff Paradigmenwechsel umschreiben kann, und zwar (Gudrun Kopp [FDP]: Sie wollen sie noch
durch Einsatz der SPD, der CDU/CSU und der FDP. erhöhen!)
Nachdem zunächst der Bundestag entschieden hatte, ha-
ben wir letztlich im Bundesrat eine Einigung über einen Ich denke, dass die Stromsteuer im Grundsatz nicht
neuen Ordnungsrahmen und ein neues Energie- wirklich umstritten ist.
wirtschaftsgesetz erzielt, durch das eine Regulierungs- (Gudrun Kopp [FDP]: Doch!)
(B) behörde, nämlich die Bundesnetzagentur, beauftragt (D)
worden ist, für mehr Wettbewerb bei den leitungsgebun- Es geht also um die relativ geringen Kosten, die durch
denen Energien, also bei Strom und Gas, zu sorgen. Ich das Erneuerbare-Energien-Gesetz verursacht werden.
denke, das war ein wichtiger Schritt. Wir sollten ihn Da streiten wir am Ende über Nuancen; denn auch das
nicht kleinreden, aber auch nicht so tun, als müssten wir Erneuerbare-Energien-Gesetz wird jedenfalls verbaliter
heute damit beginnen, die Ordnungspolitik auf einen von allen Fraktionen unterstützt.
neuen Weg zu bringen. (Gudrun Kopp [FDP]: Nein!)
Richtig ist, dass die Bundesnetzagentur ihre Arbeit Deswegen hören Sie auf mit der Mär von den staatlich
gerade erst aufgenommen hat, sodass man sie noch nicht induzierten Kosten. Wir müssen mehr Wettbewerb in das
beurteilen kann. Sie muss auch noch eine Anreizregulie- Energiegeschäft einziehen lassen. Das ist der beste Weg,
rung konzipieren, die in eine entsprechende Verordnung um die Kosten zu senken und zu niedrigeren Preisen zu
zu gießen ist und erst dann wirken kann. Wir alle erhof- kommen. Diesen Weg werden wir weiter beschreiten.
fen uns davon mehr Wettbewerb. Das ist in der Tat die
beste Möglichkeit, um zu sinkenden Netzentgelten und Vielen Dank.
auch zu sinkenden Energiepreisen, Strompreisen alle- (Beifall bei der SPD – Martin Zeil [FDP]: Weit
mal, zu kommen. weg von einfachen Menschen!)
Wir haben in der letzten Legislaturperiode ein weite-
res wichtiges Projekt auf den Weg gebracht, nämlich den Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nationalen Allokationsplan. Dem folgt jetzt für die Zum Schluss dieses Tagesordnungspunktes hat das
zweite Handelsperiode der Nationale Allokationsplan II. Wort der Kollege Hans-Josef Fell, Bündnis 90/Die Grü-
Es ist wichtig – das habe ich heute Morgen schon nen.
betont –, dass sich die Häuser schnell einigen, damit wir
als Parlament diesen Prozess entsprechend begleiten (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt der
können. Wir müssen verschiedene Ziele gemeinsam er- Experte!)
reichen; das ist keine einfache Geschichte. Auf der einen
Seite wollen wir, dass es zu Investitionen in die Kraft- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
werke kommt. Dazu muss es im Allokationsplan be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der De-
stimmte Rahmenbedingungen geben. Auf der anderen batte liegen zwei Anträge zugrunde, einer von der FDP
Seite wollen wir, dass die Industrie nicht derart mit Kos- und einer von der Linken. Lassen Sie mich mit dem
ten belastet wird, dass wir sie letztlich aus dem Lande FDP-Antrag anfangen.
2686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Hans-Josef Fell
(A) Frau Kopp, nicht nur aufgebraucht, sondern ins Gegenteil verkehrt (C)
wurde. Von der Konzentration auf dem Energiemarkt
(Gudrun Kopp [FDP]: Ja?)
durch die Erlaubnis der Fusion von Eon und Ruhrgas
Sie formulieren in Ihrem Antrag Leitlinien, die wir will ich einmal schweigen. Bauen Sie hier bitte keinen
durchaus für richtig halten. Beispielsweise schreiben Sie Popanz auf, den es so gar nicht gibt.
in Ihrem Antrag:
Der Wettbewerb ist vor Absprachen, Kartellen und Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung zu Frau Kollegin Kopp, Sie haben sicherlich gehört, dass
schützen. ich von 40 Jahren Regierungsbeteiligung der FDP und
dem jahrzehntelangen Aufbau dieser Strukturen gespro-
Wo waren Sie denn in den 40 Jahren Regierungsbeteili- chen habe.
gung, in denen Sie stets die Wirtschaftsminister gestellt
haben und in denen sich in diesem Land im Energiesek- (Gudrun Kopp [FDP]: Da habe ich noch gar
tor eine Struktur aufbauen konnte, die von Monopolen, nicht gelebt!)
Oligopolen, Absprachen, Kartellen und von marktbe- Ich will gerne zugestehen, dass am Ende mit der Libera-
herrschenden Stellungen dominiert ist? lisierung ein vernünftiger Versuch unternommen wurde.
(Gudrun Kopp [FDP]: Was?) Aber weil Sie über Jahrzehnte hinweg eine Monopol-
struktur im Energiebereich zugelassen und nicht dage-
Ihre Wirtschaftspolitik hat doch dazu geführt, dass wir gen gekämpft haben, ist es Rot-Grün schwer gefallen,
genau das haben, was Sie in Ihrem Antrag ablehnen. die Liberalisierung zu Ende zu führen. Das Ergebnis Ih-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rer jahrzehntelangen verfehlten Wirtschaftspolitik ist
eine starke Monopolisierung und Oligopolisierung.
Ich will die zweite Leitlinie Ihres Antrags zitieren:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Eingriffe des Staates – etwa zum Erreichen von
ökonomischen oder ökologischen Zielen – müssen Lassen Sie mich auf Ihren Antrag im Detail eingehen.
marktkonform sein … Sie wollen eine effiziente, marktkonforme und erfolgrei-
che Förderung auch von erneuerbaren Energien. Da-
(Gudrun Kopp [FDP]: Sagen Sie doch mal rüber freuen wir uns; das ist ein richtiger Ansatz. Aber
etwas zu Eon und Ruhrgas!) ich frage Sie: Warum bekämpfen Sie, wie in diesem An-
Das unterstützen wir. Auch von Anreizen für ein wirt- trag, die effizienten Instrumente? Nur ein Beispiel: Die
schaftlich vernünftiges Verhalten ist in Ihrem Antrag die Windenergie hat in Großbritannien in den letzten Jahren
(B) Rede; das unterstützen wir ebenfalls. Externe Kosten un- ein Volumen von etwa 1 Gigawatt erreicht; in Deutsch- (D)
ternehmerischen Handelns, auch solche, die in der Zu- land beträgt dieses Volumen 20 Gigawatt. Wissen Sie,
kunft anfallen, sind zu internalisieren, heißt es hier. Die warum? In Großbritannien sind die Instrumente, die Sie
Instrumente müssen wettbewerbsorientiert und effizient für richtig halten – Quoten und Zertifikate –, angewandt
sein. worden. Dadurch wurde diese Energieform ineffizient
und in dem windreichen Land Großbritannien wurden
Die rot-grüne Bundesregierung hat seinerzeit damit nur wenige Windanlagen gebaut. In Deutschland hinge-
begonnen, die Monopole, die Sie geschaffen haben, ab- gen konnten auf diesem Markt neue Akteure Fuß fassen.
zubauen, und zwar mit dem Erneuerbare-Energien-Ge-
setz, das neuen Akteuren überhaupt eine Chance gibt, (Gudrun Kopp [FDP]: Koste es, was es wolle!)
mit dem KWK-Gesetz und mit der Ökosteuer. Genau – Genau, kommen wir zu den Kosten. In Großbritannien
diese Instrumente wollen Sie jedoch verhindern. Das ist kostet die Kilowattstunde Windenergie etwa 13 Cent, in
letztendlich der Grundgedanke Ihres Antrages. Deutschland im Durchschnitt etwa 8 Cent. Im Vergleich
Ich möchte das noch im Detail ausführen. Aber ich ist das Instrument in Deutschland eindeutig kostengüns-
sehe, Sie möchten eine Zwischenfrage stellen, Frau tiger.
Kopp, die ich gerne zulasse.
Sie beklagen auch, dass die Strompreise insgesamt zu
hoch seien, und schieben dies den erneuerbaren Ener-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gien, der KWK und der Ökosteuer in die Schuhe. Dabei
Frau Kollegin Kopp. verschweigen Sie, dass die EEG-Mehrkosten nur
3 Prozent des Strompreises ausmachen.
Gudrun Kopp (FDP): (Axel E. Fischer [Karlruhe-Land] [CDU/CSU]:
Herr Fell, herzlichen Dank, dass Sie die Frage zulas- Die Rechnung möchte ich mal sehen!)
sen. – Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
Die stromintensive Industrie ist von diesen Mehrkos-
(Dr. Rainer Wend [SPD]: Vorsicht!) ten sogar weitgehend entlastet.
dass es der frühere Bundeswirtschaftsminister Rexrodt (Martin Zeil [FDP]: Die armen Bürger müssen
war, der mit der Liberalisierung des Strommarktes be- es zahlen!)
gonnen hat? Bis 1998 konnte durch diese Liberalisierung
ein Gewinn von 7,5 Milliarden Euro erwirtschaftet wer- Insofern können Sie nicht von der falschen Behauptung
den, der kurz danach durch Ihre Regierungsbeteiligung ausgehen, dass 600 000 Arbeitsplätze gefährdet seien.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2687
Hans-Josef Fell
(A) Wie sieht es denn wirklich mit der Ökosteuer aus? Die Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen (C)
Unternehmen werden durch die Ökosteuer beim Arbeit- auf den Drucksachen 16/589 und 16/1082 an die in der
geberanteil an den Rentenversicherungsbeiträgen und Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
bei den höheren Energiekosten entlastet. Die strominten- gen. – Ich stelle fest, Sie sind damit einverstanden. Dann
sive Industrie hat durch die Ökosteuer keinen Nachteil sind die Überweisungen so beschlossen.
– wie Sie behaupten –, sondern einen Vorteil. Das ist
Wirtschaftsförderung, wie wir sie für richtig halten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Ich gestehe Ihnen zu, dass die stromintensive Indus- Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
trie durch die steigenden Energiepreise gefährdet ist. Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung von
Aber das liegt, wie auch Sie festgestellt haben, an dem Werkunternehmeransprüchen und zur ver-
Festhalten am Energiemix. Die Erdgas-, Erdöl-, Kohle- besserten Durchsetzung von Forderungen
und Uranpreise steigen weltweit an. Wenn wir bei die- (Forderungssicherungsgesetz – FoSiG)
sem Energiemix bleiben, werden wir diese Arbeitsplätze – Drucksache 16/511 –
gefährden. Wir müssen also so bald wie möglich aus den
Überweisungsvorschlag:
fossilen und atomaren Energien aussteigen, damit die Rechtsausschuss (f)
Arbeitsplätze gesichert werden. Das ist das Entschei- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
dende. Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Axel Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
E. Fischer [Karlruhe-Land] [CDU/CSU]: Das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
glauben Sie selber nicht, was Sie erzählen!) dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Sie haben gesagt, dass Sie andere Wettbewerbsinstru- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
mente anstreben, beispielsweise um den Klimaschutz zu der Kollege Dr. Peter Danckert für die SPD-Fraktion.
verbessern. Lassen Sie uns einen Vergleich anstellen.
Die CO2-Vermeidungskosten durch die Windenergie lie- Dr. Peter Danckert (SPD):
gen bei 52 Euro pro Tonne CO2. Durch den Emissions- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
handel betragen die CO2-Vermeidungskosten 1 160 Euro Wir unternehmen heute gemeinsam mit dem Bundesrat
je Tonne – und Sie sagen, wir müssten uns für dieses In- einen erneuten Versuch, im Interesse der Bauhandwerker
strument stärker einsetzen. Helfen Sie lieber mit, dass und Bauunternehmer die Zahlungsmoral zu verbessern.
die Industrie endlich bei der Versteigerung der Zertifi- Ich darf an das Bauhandwerkersicherungsgesetz aus dem (D)
(B) kate im Emissionshandel mitmacht, damit die Kosten
Jahr 1993 und das Gesetz zur Beschleunigung fälliger
gesenkt werden, Zahlungen aus dem Jahr 2000 erinnern. Zwischenzeit-
(Gudrun Kopp [FDP]: Das haben wir eben ge- lich gab es eine Reihe von Gesetzentwürfen, die aber
sagt!) nicht realisiert wurden. Heute unternehmen wir einen
weiteren Versuch.
statt Ihre Denkansätze weiterzuverfolgen.
Sie werden sehen, dass es auch in meiner Fraktion
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zu den Lin- durchaus unterschiedliche Auffassungen bei der Frage
ken. Sie fordern sozial gerechtere Strukturen auch in der gibt – ich verweise auf meinen Kollegen Dirk
Energiewirtschaft. Das ist notwendig; das will ich gerne Manzewski, der noch reden wird –, ob das Gesetz geeig-
zugestehen. Aber wenn die Einnahmen aus der Öko- net ist, dem Notstand abzuhelfen. Ich meine: Ja. Andere
steuer mehrheitlich in die erneuerbaren Energien und in meinen: Nein. Ich bin der Meinung, dass wir es zumin-
die Energieeinsparung gelenkt würden, wie Sie es wol- dest versuchen sollten, an dieser Stelle etwas im Inte-
len, bedeutete das im Klartext – das steht zwar nicht in resse der Unternehmer zu erreichen. Es ist nicht zu leug-
Ihrem Antrag, aber das wäre die Folge – eine Anhebung nen, dass es vielfach aufgrund unterschiedlicher Vor-
der Rentenversicherungsbeiträge für alle Bürgerinnen gänge zu Zahlungsausfällen kommt. Ob wir dies letzt-
und Bürger, die in Arbeit sind. lich durch das Gesetz beseitigen können, kann man
bezweifeln. Aber ich finde, jeder Versuch ist lohnens-
(Widerspruch bei der LINKEN) wert.
Wie Sie das als sozial verträglich begründen wollen, Wir haben zwar schon ein breites Instrumentarium;
müssen Sie mir einmal erklären. Lesen Sie Ihren Antrag! das wird Herr Staatsminister Mackenroth sicherlich be-
Darin ist noch vieles zu verbessern. In der vorliegenden stätigen. Allerdings wird von diesem nur wenig Ge-
Fassung können wir ihn sicherlich nicht mittragen. Ich brauch gemacht. Das liegt an den unterschiedlichen Po-
bin auf die Debatte in den Ausschüssen gespannt. sitionen von Auftraggeber und Auftragnehmer. Die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- Möglichkeiten, die unsere gesetzlichen Regelungen vor-
ruf von der CDU/CSU: Schlechter Beitrag!) sehen, werden nicht genutzt, um überhaupt einen Auf-
trag zu bekommen. Das eigentliche Problem ist also,
dass hier wirtschaftliche Ungleichheit herrscht und dass
Präsident Dr. Norbert Lammert: viele Handwerker die gesetzlichen Möglichkeiten nicht
Ich schließe die Aussprache. nutzen.
2688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Peter Danckert


(A) Der Kollege Manzewski wird sicherlich andere zum ersten Mal darüber. Bereits in der 14. und der (C)
Punkte ansprechen. Ich glaube aber, dass im Mittelpunkt 15. Wahlperiode verfielen entsprechende Gesetzent-
des Gesetzgebungsverfahrens – es handelt sich ja um ein würfe der Diskontinuität. Das war nicht unbedingt Zu-
Artikelgesetz – die Änderung im Bereich der ZPO steht, fall, sondern lag an den vielen Bedenken, die in den De-
die vorläufige Zahlungsanordnung. Sie soll es dem batten überdeutlich geworden sind.
Kläger in einer bestimmten Prozesssituation ermögli-
chen, auf Antrag einen Titel zu erlangen, mit dem er die Das Bundesjustizministerium macht sich nun einen
Vollstreckung betreiben kann. Das ist in § 302 a des Ge- Gesetzentwurf zu Eigen, der von den unionsregierten
setzentwurfs sehr fein ziseliert. Es bedarf eines Antra- Bundesländern eingebracht wurde, und propagiert in ei-
ges, einer mündlichen Verhandlung und einer Einschät- ner Pressemitteilung von heute „Schneller Geld für
zungsentscheidung durch das erkennende Gericht. Mit Handwerker“. Ich hätte eigentlich erwartet, dass die
hoher Wahrscheinlichkeit wird es in den meisten Fällen Bundesregierung ein eigenes Forderungssicherungsge-
zu einem für den Kläger positiven Endurteil kommen. setz vorlegt,
Der Beschluss muss kurz begründet werden. (Beifall bei der FDP)
Es gibt Hinweise darauf, dass die Gerichte möglicher- nachdem wir mehrmals darüber debattiert und die Pro-
weise zusätzlich belastet werden, weil Anwälte massen- bleme genau aufgezeigt haben.
haft von diesem Antragsrecht Gebrauch machen, um
Schadenersatzansprüchen ihrer Auftraggeber sozusagen (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist ja ein
vorzubeugen. Ich sehe diese Gefahr nicht. Ich glaube, Bund-Länder-Projekt, Frau Kollegin!)
dass es sich um ein sehr pragmatisches Instrument han- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD,
delt, von dem man in einer bestimmten Verfahrenssitua- erinnern Sie sich nicht mehr an Ihre Kritik aus der letz-
tion, wenn der Prozess beispielsweise durch die beklagte ten Wahlperiode? Was hat sich eigentlich seitdem geän-
Seite verschleppt wird, Gebrauch macht. Dadurch wird dert,
das Gericht in die Lage versetzt, eine vorläufige Ent-
scheidung zu treffen. Ich halte das für vernünftig und (Dr. Peter Danckert [SPD]: Wir haben ge-
sachgerecht. wählt! Der Bürger hat einen neuen Auftrag er-
teilt!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
außer dass Sie jetzt in einer großen Koalition mit der
Ob es alle Probleme löst, wird man erst sehen, wenn es CDU/CSU sind? Für die FDP-Bundestagsfraktion beste-
in der Praxis ausprobiert wird. Ich finde, wir sollten die- hen die Bedenken aus der letzten Legislaturperiode nach
sen Versuch gemeinsam wagen. wie vor. Eine Gesetzesänderung erreicht nämlich nur
(B)
Heute ist die erste Lesung. Wir werden sehen, ob wir dann ihr Ziel, wenn sie wirtschaftlich sinnvoll, rechtlich (D)
im Rahmen der weiteren Beratungen möglicherweise zu möglich und zielführend ist.
einzelnen Verbesserungen kommen. Ich bescheinige (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das trifft hier alles
dem Bundesrat auf jeden Fall, dass sein Vorschlag eine zu!)
vernünftige Gesetzesgrundlage im Interesse der Bau-
unternehmer bietet. Der heute vorliegende Entwurf darf nicht nur als Beruhi-
gungspille für Handwerker dienen.
Vielen Dank.
Beispielhaft eingehen möchte ich heute auf die Ein-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) führung der so genannten vorläufigen Zahlungsanord-
nung; Sie haben sie schon erwähnt, Herr Kollege. Hier
Präsident Dr. Norbert Lammert: soll ein neues Rechtsinstitut geschaffen werden, das
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Dyckmans, nicht nur für Bauforderungen, sondern ganz allgemein
FDP-Fraktion. gelten soll.
(Beifall bei der FDP) Ihr Anwendungsbereich umfasst
– ich zitiere aus der Gesetzesbegründung –
Mechthild Dyckmans (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der deut- alle Zahlungsansprüche einschließlich etwaiger Ne-
sche Mittelstand und insbesondere die deutschen Hand- benforderungen, soweit nicht – wie etwa bei Unter-
werker haben mit vielen Problemen zu kämpfen. Eines haltsansprüchen … – Sonderregelungen eingreifen.
davon ist die mangelnde Zahlungsmoral. Diese ist nicht
Dieses Institut soll also im Bereich der Arzthaftung, bei
nur bei privaten Auftraggebern anzutreffen. Auch die öf-
Schadensersatzansprüchen nach Unfällen sowie bei Mie-
fentliche Hand geht hier häufig nicht mit gutem Beispiel
ten und vielem anderen gelten. Abgesehen davon, dass
voran.
eine Praxisbefragung durch die einbringenden Landesre-
Wir debattieren heute über den Entwurf eines Forde- gierungen gerade nicht stattgefunden hat und die Sach-
rungssicherungsgesetzes. Bereits der Titel weckt die verständigenanhörung im erweiterten Berichterstatterge-
Hoffnung, dass aufgrund der in diesem Entwurf vorgese- spräch in der letzten Legislaturperiode große Bedenken
henen Gesetzesänderungen Unternehmer ihre Ansprüche an der Praxistauglichkeit dieser Regelung aufgezeigt hat,
sichern und ihre Forderungen leichter und besser durch- es also sehr zweifelhaft ist, ob dieses Institut in der prak-
setzen. Wie Sie aber wissen, debattieren wir heute nicht tischen Umsetzung halten kann, was es verspricht,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2689
Mechthild Dyckmans
(A) scheint mir ein Gesetz zur Sicherung von Werkunterneh- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
meransprüchen nicht der geeignete Ort für die Einfüh- Das Wort hat nun der Justizminister des Freistaates
rung eines völlig neuen Rechtsinstituts in die ZPO zu Sachsen, Geert Mackenroth.
sein.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Geert Mackenroth, Staatsminister (Sachsen):
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf, den Sie heute in
Für den Erlass einer solchen Anordnung ist unter an-
erster Lesung erörtern, wird bei manchen von Ihnen
derem notwendig – auch darauf haben Sie schon hinge-
– davon war eben schon die Rede – einen Déjà-vu-Ef-
wiesen, Herr Kollege –, dass der zuständige Richter eine
fekt hervorrufen. In der Psychologie wird dieser Effekt
Erfolgsprognose über die Klage „nach bisherigem Sach-
auf eine Sinnestäuschung im Zustand großer Erschöp-
und Streitstand“ abgibt. Im Gesetzentwurf ist von einer
fung, im Traum oder gar am Beginn einer Neurose zu-
„hohen Aussicht auf Erfolg“ die Rede. Hier wird eine
rückgeführt. Ich darf die Betroffenen beruhigen: Um
neue Begrifflichkeit eingeführt, die der ZPO bisher
eine Sinnestäuschung handelt es sich nicht. Das Forde-
fremd ist. In der Begründung ist zu lesen – das muss ich
rungssicherungsgesetz, das maßgeblich auf eine Initia-
Ihnen einfach vorlesen –,
tive Sachsens zurückgeht, nimmt heute bereits den drit-
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wir kennen die ten Anlauf in diesem Hohen Hause. Frau Abgeordnete
Begründung!) Dyckmans hat auf die Geschichte hingewiesen.

was unter „hoher Aussicht auf Erfolg“ zu verstehen ist: Die hinter diesem Entwurf stehende Forderung nach
Maßnahmen zur Verbesserung der Zahlungsmoral insbe-
Das soll der Fall sein, wenn das Gericht sich zu den sondere zur Verbesserung der Situation von Bauhand-
einschlägigen tatsächlichen Fragen zwar noch keine werkern ist sogar noch viel älter und reicht weit ins
dem Beweismaß des § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO ge- letzte Jahrhundert zurück. Ich bin der Koalition und der
nügende Überzeugung gebildet hat, aber auf der neuen Bundesregierung dafür dankbar, dass sie dieses
Grundlage eines fundierten Zwischenergebnisses wichtige Vorhaben in guter Zusammenarbeit, sozusagen
bereits eine Prognose über den Verfahrensausgang im Team mit dem Bundesrat, unterstützt haben. Ich
treffen kann. Dieser Prognose hat das Gericht seine werbe dafür, dass auch Sie ihm Ihre Zustimmung geben.
Einschätzung zur Entscheidungserheblichkeit die-
ser Fragen, zum Maß der verbleibenden Unklarheit Im Laufe seiner langen Entstehungsgeschichte hat der
und gegebenenfalls zum Beweiswert noch nicht Entwurf zahlreiche Änderungen erfahren, die vor allem
(B) ausgeschöpfter Beweisangebote zu Grunde zu le- auf die Arbeit einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter (D)
gen. In diesem Sinne liegt eine „hohe Aussicht auf Federführung des BMJ zurückgehen. In seiner aktuellen
Erfolg“ vor, wenn die Klage nach der geschilderten Fassung enthält der Entwurf zunächst einmal kleine,
prognostischen Würdigung Erfolg haben wird. aber durchaus wirksame Nachjustierungen am geltenden
Werkvertragsrecht. Beispielsweise schreiben wir im
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP – Dr. Peter Gesetz fest, dass der Unternehmer auch nach Abnahme
Danckert [SPD]: Das ist doch hervorragend! – des Werks Sicherheit für seine Vergütung verlangen
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kann. Wir stellen klar, dass die Sicherheit auch dann zu
Lyrik ist das!) leisten ist, wenn der Besteller Mängel rügt. Anders als
bislang soll die Stellung einer Sicherheit einklagbar sein.
Die Praxis wird mit diesem Gesetz sehr großen Erfolg Damit kann der Bauhandwerker in jedem Stadium der
haben. Die Auslegungsschwierigkeiten sind schon pro- Vertragsabwicklung schnell und effektiv Schutz vor ei-
grammiert. nem Zahlungsausfall seines Auftraggebers erlangen.
(Beifall bei der FDP) Des Weiteren soll künftig der Generalunternehmer
Zusammenfassend möchte ich sagen: Die FDP unter- den Subunternehmer nicht nur bezahlen müssen, wenn
stützt jede Regelung, die nicht nur Hoffnung für die be- der Generalunternehmer selbst Geld vom Bauherrn be-
troffenen Handwerker weckt, sondern wirkliche Hilfe kommen hat, sondern auch, wenn der Bauherr das Werk
darstellt. Denn Hilfe ist dringend geboten; das sehen des Subunternehmers abgenommen hat. Wenn der GU
auch wir von der FDP. den Subunternehmer trotz dessen Bitte um Auskunft
nicht über die Abnahme informiert, wird der Werklohn
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Dann müssen Sie künftig trotzdem fällig.
dem Gesetzentwurf zustimmen! – Andrea
Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Wo sind Ihre Ein weiterer Punkt. Was bei VOB-Verträgen längst
Vorschläge?) üblich ist, sollen nunmehr auch die BGB-Werkverträge
vorsehen, nämlich einen Anspruch des Bauhandwerkers
Diese Regelungen aber scheinen nur ein Hoffnungs- auf Abschlagszahlungen. Damit wird sein Vorleistungs-
schimmer am Horizont zu sein. Sie bewirken nur, dass risiko deutlich verringert.
die Ernüchterung bei dem Versuch, sie wirksam anzu-
wenden, umso größer sein wird. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Abschlagszahlungen gibt es doch
(Beifall bei der FDP) schon längst!)
2690 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Staatsminister Geert Mackenroth (Sachsen)


(A) All dies sind Maßnahmen, die dazu beitragen, die In- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (C)
teressen beider Vertragspartner wieder mehr ins Gleich-
gewicht zu bringen. Jedenfalls erhält der Handwerker damit die realistische
Chance, bereits vor Prozessende Geld für die Arbeiten
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. zu erhalten, die er ordnungsgemäß ausgeführt hat, Geld,
Dr. Peter Danckert [SPD]) welches er womöglich für die Sicherung der Existenz
seines Betriebes und der damit verbundenen Arbeits-
Kernstück des Entwurfs ist die Einführung einer
plätze dringend benötigt.
vorläufigen Zahlungsanordnung. Schon im bereits an-
gesprochenen Beschluss vom 17. März 2000 hat der Ich bin überzeugt davon, dass sich die vorläufige
Bundesrat ein prozessuales Instrument gefordert, wel- Zahlungsanordnung in der Praxis bewähren und von
ches dem Richter ermöglicht, „Handwerkern vorab ei- den beteiligten Kreisen wie auch von der Justiz ange-
nen Teil der eingeklagten Forderung trotz vorgebrachter nommen werden wird. Die positiven Erfahrungen eini-
Mängelrügen zuzusprechen“. ger unserer Nachbarn – Frankreich, England – mit ver-
Immer wieder müssen wir gerade bei Verträgen zwi- gleichbaren Regelungen geben zu dieser Überzeugung
schen General- und Subunternehmern beobachten, dass begründeten Anlass.
und wie Auftraggeber auf den so genannten Justizkredit Obwohl die schwierige Lage der Bauhandwerker
spekulieren, um Zeit zu gewinnen oder nachträglich eine Ausgangspunkt für diese Regelung war, dient sie doch
geringere Vergütung durchzusetzen. Sie wenden gegen nicht einseitig den Interessen der Bauunternehmer, son-
die Vergütungsklage des Unternehmers Mängel ein, die dern kommt auch Verbrauchern zugute. Auf alle Zah-
gar nicht oder nicht in diesem Umfang bestehen. Da- lungsklagen anwendbar, kann sie zum Beispiel auch Un-
durch verzögert sich der Prozess; denn das Gericht muss fallopfern in langwierigen Prozessen gegen die
diesem Vorbringen wegen der Verpflichtung zur Er- Versicherung des Schädigers schneller zu Schadenser-
schöpfung des Sach- und Streitstoffes und zur Erschöp- satz oder Schmerzensgeld verhelfen. Das ist, wie ich
fung der Beweisanträge in jedem Detail nachgehen. Das finde, ein umfassender und guter Lösungsansatz.
kann sich – nicht zuletzt wegen der erforderlichen Sach-
verständigengutachten – über Monate, teilweise über (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Jahre hinziehen; auch Richterinnen und Richter fürchten neten der SPD)
diese so genannten Punktesachen sehr.
Dem Entwurf des Bundesrates ist noch in der vergan-
Kleinere Unternehmen mit geringer Eigenkapitalde- genen Legislaturperiode vorgeworfen worden, an den ei-
ckung können gerade bei umfangreichen Gesamtforde- gentlichen Ursachen der mangelnden Zahlungsmoral
(B) rungen einen solchen Prozess oft nicht durchstehen. Um vorbeizugehen. Die tatsächlichen Probleme, so hieß es (D)
überhaupt Geld zu bekommen, willigen sie trotz berech- und heißt es teilweise noch, seien vielmehr in der unzu-
tigter Ansprüche vielfach zähneknirschend in einen Ver- reichenden Richterausstattung bei den Ländern und in
gleich ein, der deutlich geringere Zahlungen vorsieht. der Unkenntnis der Handwerker um ihre rechtlichen
Schlimmstenfalls müssen sie Insolvenz anmelden, weil Möglichkeiten oder deren marktbedingte Nichtausnut-
ihr Betrieb das Ausbleiben der einkalkulierten Zahlung zung zu sehen. Wer so argumentiert, macht es sich,
nicht verkraftet. glaube ich, zu einfach. An der Erkenntnis, dass derzeit
kein effektiver Schutz vor Prozessverschleppung be-
Um eine solche Prozessverschleppung zu verhindern
steht, führt meines Erachtens kein Weg vorbei; der Ab-
oder sie zumindest zu begrenzen, wird dem Kläger auf-
geordnete Dr. Danckert hat darauf hingewiesen. Dies ist
grund dieses Gesetzes eine zusätzliche prozessuale
auch einhellige Auffassung der Experten in der genann-
Waffe in die Hand gegeben: die Möglichkeit, noch wäh-
ten Bund-Länder-Arbeitsgruppe gewesen.
rend des Prozesses die richterliche Anordnung einer vor-
läufigen Zahlung oder einer Teilzahlung zu erwirken, Dass die Richterschaft, wie ebenfalls angeführt wurde,
wenn die Klage oder einzelne Teile davon hohe Aussicht vom Erlass vorläufiger Anordnungen absehen wird, weil
auf Erfolg haben und die Zahlungsanordnung nach Ab- sie sich ohne ein ausführliches Sachverständigengutach-
wägung der beiderseitigen Interessen zur Abwendung ten eine Einschätzung der Rechtslage nicht zutraut, be-
besonderer Nachteile für den Kläger gerechtfertigt ist. fürchte ich ebenfalls nicht. Ich traue den Richterinnen
Dieser Begriff „hohe Aussicht auf Erfolg“ ist kein und Richtern zu, in einem solchen Fall – ebenso wie
dem Gesetz fremder Begriff. Wir haben ihn bei der Pro- sonst im vorläufigen oder einstweiligen Rechtsschutz –
zesskostenhilfe implementiert und er ist jeden Tag von (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge-
den Gerichten anzuwenden. nau!)
(Mechthild Dyckmans [FDP]: Hinreichende auch ohne ein gerichtliches Gutachten eine solche Ent-
Aussicht auf Erfolg!) scheidung treffen zu können. Das ist Standard auf den
– Ob es nun hinreichende oder hohe Aussicht auf Erfolg Gerichten und begegnet keinen Schwierigkeiten.
heißt, wird die Gerichte nicht umwerfen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Mechthild Dyckmans [FDP]: Das ist ein Un-
terschied!) Allein der Ruf nach immer mehr Richtern hilft auch
hier nicht weiter, wenn ansonsten das bestehende prozes-
Das werden sie schon schaffen. suale Verzögerungspotenzial unangetastet bleibt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2691
Staatsminister Geert Mackenroth (Sachsen)
(A) Richtig ist allerdings – das gilt auch heute –, dass sich werden als erster Auslöser für Unternehmenspleiten ge- (C)
Sachsen ebenso wie der Zentralverband des Deutschen nannt. Dies gilt vor allem für kleinere, aber auch mittlere
Handwerks für seine kleinen und mittelständischen Be- Betriebe, die nicht über genügend Eigenkapital verfügen,
triebe in Teilbereichen noch weiter gehende Lösungen um eventuelle Zahlungsverzögerungen und -ausfälle zu
gewünscht hätte. Noch im ersten Entwurf aus dem verkraften.
Jahr 2002 waren der verlängerte Eigentumsvorbehalt an
Aber nicht nur 2005, sondern bereits 2002 gab es ähn-
eingebauten Sachen oder die Ausschreibung des Schuld-
liche Initiativen. Jedes Mal sind sie dann leider im Wahl-
ners zur Fahndung enthalten.
jahr untergegangen. Dabei ist das ein Problem von äu-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ßerster Brisanz. Allein in den letzten zwei Jahren gab es
Dirk Manzewski [SPD]: Das ist von den Sach- in Deutschland 77 000 Unternehmensinsolvenzen und
verständigen verrissen worden, ohne Ende! – damit verbunden einen entsprechenden Arbeitsplatzver-
Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist nun beson- lust.
ders schwierig!)
Gerade weil das Problem eine solche Brisanz hat,
Wir hatten und haben jedoch zu akzeptieren, dass jen- muss jeder Vorschlag sorgfältig geprüft werden, ob da-
seits von allen juristisch-dogmatischen Fragen diese For- mit wirklich Abhilfe geschaffen werden kann. Da muss
derungen nicht durchsetzbar waren und auch derzeit of- man leider sagen: Es ist zu befürchten, dass dieser Ge-
fenbar nicht ohne weiteres durchsetzbar sind. Mit dem setzentwurf sowohl in seiner Reichweite wie in seinen
Kompromiss jetzt kann ich leben. praktischen Konsequenzen unzureichend ist.
Umso wichtiger ist es daher, ein Forderungssiche- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fürch-
rungsgesetz, wie es der Koalitionsvertrag fordert, alsbald ten Sie sich nicht so!)
zu verabschieden und alles zu unterlassen, was die Um- Das Hauptproblem für das einheimische Handwerk
setzung des Verabredeten gefährden könnte. bleibt die lahmende Binnenkonjunktur. Hier gibt es we-
Natürlich muss auch die jetzt vorgesehene Regelung nig Hoffnung auf Besserung, wenn Sie an Ihrer Politik
zu gegebener Zeit evaluiert, wieder überarbeitet und da- der Haushaltskonsolidierung in dieser Form festhalten.
raufhin überprüft werden, ob sie in der Realität im Ziel- (Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-
konflikt zwischen Verbraucher- und Handwerkerinteres- Brömer [CDU/CSU]: Bloß keine Haushalts-
sen die adäquaten und richtigen Lösungen bietet. Auch konsolidierung!)
in dieser Zielsetzung weiß ich mich mit unseren sächsi-
schen Handwerken – aber nicht nur mit diesen – einig. Sie, meine Damen und Herren von Union und SPD,
wollen hier ein Gesetz auf den Weg bringen, das bezüg- (D)
(B) Deutschland kann es sich in seiner jetzigen wirt- lich eines dringenden Problems Abhilfe schaffen soll,
schaftlichen Lage nicht leisten, dass Arbeitsplätze im das Sie eigentlich selbst zu verantworten haben. Mehr
Handwerk und bei den mittelständischen Betrieben ver- als jeder dritte Handwerksbetrieb attestiert seinen öffent-
nichtet werden, nur deshalb, weil zahlungsunwillige lichen Abnehmern eine Verschlechterung des Zahlungs-
Auftraggeber ihren Verpflichtungen nicht nachkommen. verhaltens. Das hat eine Erhebung des Zentralverbandes
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- des Deutschen Handwerks gezeigt. Die Ursache für die
neten der SPD und der FDP) schlechte Zahlungsmoral der öffentlichen Hand ist
klar: Mit Steuersenkungen für das Großkapital hat die
Das Forderungssicherungsgesetz, das FoSiG, kann mit- alte rot-grüne Bundesregierung die öffentlichen Haus-
helfen, einige der jährlich etwa 38 000 Insolvenzen ab- halte ruiniert und das müssen nun die kleinen Hand-
zuwenden und dringend benötigte Arbeitsplätze zu er- werksbetriebe ausbaden.
halten. Es wird auch dazu beitragen, dass wir verloren
gegangenes Vertrauen in unseren Rechtsstaat zurückge- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl Addicks
winnen. Ich bitte Sie deswegen, den Gesetzentwurf des [FDP]: Ist das ein Unsinn!)
Bundesrates im Fortgang der Beratungen tatkräftig vo- Die Praxis zeigt doch, dass nur die wenigsten Hand-
ranzutreiben. werker sich trauen, zur Einforderung der Zahlung den
Vielen Dank. Rechtsweg zu beschreiten, sei es weil die Zeit oder das
Geld fehlt oder weil sie befürchten, dass sie in Zukunft
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Auftraggeber verlieren werden. Angesichts der
neten der SPD) Rolle, die die öffentliche Hand spielt, wundert es nicht,
welche Methoden manche gewerblichen Auftraggeber
Präsident Dr. Norbert Lammert: praktizieren, indem Handwerksbetrieben zustehende
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine Zahlungen verspätet oder mit Abschlägen geleistet wer-
Zimmermann, Fraktion Die Linke. den.
Das Problem besteht doch darin, dass es darum gehen
Sabine Zimmermann (DIE LINKE): muss, kleine Betriebe mit wenig Eigenkapital vor Gene-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ralunternehmern oder großen Bauträgern zu schützen,
Meine Damen und Herren! Wir begrüßen die Initiative, die vom Auftraggeber Geld erhalten haben, dieses aber
sich der Frage der Zahlungsmoral anzunehmen. Verspä- dem Subunternehmen nicht weiterreichen. Das ist ein of-
tete oder ausbleibende Zahlungen an Handwerksbetriebe fenes Geheimnis; aber es wird nichts getan.
2692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Sabine Zimmermann
(A) In diesem Zusammenhang komme ich zur Frage des zessverschleppung, der zu begegnen sei –, ist, wie ich (C)
Verbraucherschutzes. Der Regierung sollte die Kritik finde, völlig falsch. Mit diesen Vorschlägen wollen Sie
der Verbraucherzentrale eigentlich bekannt sein. Trotz- das wohltemperierte Verhältnis im Werkvertragsrecht
dem sieht sie hier keinen Handlungsbedarf, sodass der zulasten der einen Seite, nämlich zulasten der Verbrau-
Verbraucherschutz bei den Neuregelungen auf der Stre- cher, verschieben.
cke bleiben wird. Aber der private Häuslebauer hat ein
Anrecht darauf, entsprechende Mängel an Leistungen (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist doch wohl
geltend zu machen. Wir fürchten, mit diesem Gesetz nicht Ihr Ernst!)
wird sich an der schlechten Zahlungsmoral nicht viel Die Werkunternehmer sind eben zu einer Vorleistung
verändern; aber der Verbraucherschutz wird unter die verpflichtet. Erst nach einer mängelfreien Ablieferung
Räder kommen. ihrer Leistung ist der Werklohn zu zahlen. Nach Ihren
(Dr. Peter Danckert [SPD]: Wo ist denn da der Vorschlägen wird es dazu kommen, dass Verbraucher
Zusammenhang?) keinen Rechtsschutz mehr gegen Pfusch am Bau haben
werden. Im Übrigen: Als ich das letzte Mal zu diesem
Sie könnten die privaten Verbraucher von den Rege- Thema hier eine Rede gehalten habe, hat mir der Kollege
lungen des Gesetzes ausnehmen. Bevor die alte Regie- Stünker an dieser Stelle aufrichtig Beifall gezollt.
rung von Rot-Grün sich der Überarbeitung angenommen
hat, war das so vorgesehen gewesen. Ist die Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
gierung nicht nur an einer öffentlichkeitswirksamen Ak- Joachim Stünker [SPD]: Was habe ich ge-
tion, sondern ernsthaft an einer Verbesserung der Lage macht? – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: So än-
der kleinen Unternehmen und dem Schutz der Verbrau- dern sich die Zeiten!)
cher interessiert, kann sie nicht bei ihrer bisherigen Posi- Wir müssen uns nun den Gesetzentwurf einmal näher
tion bleiben. Wir fordern Sie auf, einen Kurswechsel anschauen. Der Vorschlag, § 641 Abs. 2 BGB in dieser
vorzunehmen; sonst bleibt dieses Gesetz Makulatur. Weise zu ändern, um den Subunternehmer besser zu stel-
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. len, ist brauchbar und richtig.
(Beifall bei der LINKEN) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Gott sei Dank!)
Der Vorschlag, § 632 a BGB in dieser Weise zu ändern,
Präsident Dr. Norbert Lammert: ist absolut unbrauchbar. Das zeigt sich schon daran, dass
Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat gesagt wird, es gebe das Recht auf Abschlagszahlung
nun der Kollege Montag das Wort. nicht und es müsse hier neu eingeführt werden. Das ist
(B) doch falsch. Natürlich gibt es die Möglichkeit der Ab- (D)
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schlagszahlung. Aber aus guten Gründen handelt es sich
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Forde- um eine Abschlagszahlung für abtrennbare und klar defi-
rungssicherungsgesetz 2002, Forderungssicherungsge- nierte Teile des Werks. Sie wollen aber immer dann eine
setz 2004, Forderungssicherungsgesetz 2006: Herr Teilleistung annehmen, wenn ein bestimmter Leistungs-
Staatsminister Mackenroth, dies ist keine Fata Morgana. teil in einer nicht mehr entziehbaren Art und Weise über-
Für mich ist das ein Zeichen der Unbelehrbarkeit derje- geben worden ist.
nigen, die zum dritten Mal versuchen, mit untauglichen
Methoden ein tatsächlich vorhandenes Problem in den (Dr. Peter Danckert [SPD]: Da kann man se-
Griff zu bekommen. hen, auf welcher Seite Sie stehen!)

(Dr. Peter Danckert [SPD]: Das wird sich erst Das führt zu absurden Ergebnissen. Sie sollten sich das
erweisen, Herr Montag!) noch einmal unter rechtlichen Gesichtspunkten überle-
gen.
Auch der dritte Entwurf bietet wenig Brauchbares, eini-
ges Unnützes und viel Schädliches, Herr Kollege Unbrauchbar ist schließlich auch die Einfügung des
Danckert. § 302 a ZPO. Es wird so gut wie keinen Richter geben,
der vor Entscheidungsreife eine solche Entscheidung
Wir hatten zum identischen Gesetzentwurf schon in trifft. Wenn eine Entscheidungsreife gegeben ist, dann
der vorletzten Legislaturperiode eine Sachverständigen- gibt es ein Urteil und nicht irgendeine Zwischenent-
anhörung mit einem vernichtenden Ergebnis durchge- scheidung.
führt. Beim letzten Mal haben wir es gar nicht mehr zu
einer Sachverständigenanhörung kommen lassen. Im (Dr. Peter Danckert [SPD]: Woher wissen Sie
Rahmen eines erweiterten Berichterstattergesprächs ha- das?)
ben wir einige Fachleute gehört. Das Ergebnis hinsicht-
Wenn Sie die Stellungnahme der Bundesregierung zu
lich der gemachten Vorschläge war ebenfalls vernich-
dem vorliegenden Gesetz lesen, die im Übrigen wort-
tend.
gleich ist zu der Stellungnahme zu dem Gesetz vor zwei
Die Beschreibung der Situation, dass es in der Bauin- Jahren, dann werden Sie feststellen, dass die Bundesre-
dustrie in einem großen Umfang Probleme gibt, ist rich- gierung selbst davon gesprochen hat, dass die Schwie-
tig. Aber die Schuldzuweisung, die Sie treffen, indem rigkeiten mit diesem Gesetz nicht zu beheben sind und
Sie von fehlender Moral sprechen – Herr Staatsminister dass es keinen Anlass gibt, an der Unzulänglichkeit der
Mackenroth sprach heute sogar von massenhafter Pro- zivilrechtlichen Vorschriften zu zweifeln.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2693
Jerzy Montag
(A) Deswegen meine dringende Bitte an Sie, meine Da- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C)
men und Herren von der großen Koalition: Kein Pfusch GRÜNEN]: Ja!)
an der ZPO! Kein Pfusch am BGB!
Mir persönlich fehlen nämlich immer noch gesicherte
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Und kein Erkenntnisse darüber, warum genau die so genannte
Pfusch am Bau!) Fertigstellungsbescheinigung, der zentrale Punkt des
damaligen Gesetzes, in der Praxis nicht den erhofften
Legen Sie endlich ein Bauvertragsgesetz vor, in dem
Erfolg gebracht hat. Stattdessen werden dann einfach
auch, wie Sie es in Ihrer Koalitionsvereinbarung festge-
wieder einmal das BGB und die ZPO geändert, als wenn
legt haben, Verbraucherschutzelemente berücksichtigt
das nichts wäre.
werden.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch – auch das muss
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
man deutlich sagen –, dass, wenn nicht gezahlt wird,
dies nicht immer etwas mit fehlender Zahlungsmoral zu
Präsident Dr. Norbert Lammert: tun hat. Gerade im Bau ist das Thema „Pfusch am Bau“
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden. Die
Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion. Gründe hierfür sind leider vielfältig.
Das Gesetz hat aber weitere Schwächen. Das Kern-
Dirk Manzewski (SPD):
stück des Gesetzentwurfes ist die vorläufige Zahlungs-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debat- anordnung.
tieren am heutigen Tag über den Entwurf des so genann-
ten Forderungssicherungsgesetzes des Bundesrates, mit
dem dieser meint, das Problem der Zahlungsmoral in Präsident Dr. Norbert Lammert:
Deutschland wirksam bekämpfen zu können. Um es Herr Kollege Manzewski, gestatten Sie eine Zwi-
gleich deutlich zu sagen: Ich teile diese Auffassung ganz schenfrage?
und gar nicht. Ich habe mich im letzten Jahr – es war un-
gefähr zur gleichen Jahreszeit – mit verschiedenen Un- Dirk Manzewski (SPD):
ternehmern getroffen, knapp über 30 Fälle konkret auf- Ja, gerne.
gearbeitet und überprüft, inwieweit in diesen Fällen das
Gesetz weitergeholfen hätte. In keinem einzigen dieser Präsident Dr. Norbert Lammert:
Fälle wäre durch das hier diskutierte Gesetz geholfen Bitte schön.
worden.
(B) Man muss mit der Materie ehrlich umgehen: Was Christoph Strässer (SPD): (D)
kann ein Gesetz ausrichten, wenn den Betroffenen noch Herr Kollege Manzewski, nach all dem, was hier auch
nicht einmal die bislang bestehenden rechtlichen Mög- vom Kollegen Danckert geäußert worden ist, habe ich
lichkeiten bekannt sind oder wenn sie diese nicht geltend die Frage, ob Sie uns mitteilen können, ob Sie die Auf-
machen, weil sie zum Beispiel auf Folgeaufträge hoffen? fassung des Kollegen Danckert teilen, dass die vorläu-
Das sind die tatsächlichen Probleme, die hinter dem Pro- fige Zahlungsanordnung ein wichtiges und den Hand-
blem der Zahlungsmoral stehen. Was kann ein Gesetz werkern hilfreiches Instrument darstellen kann.
ausrichten, wenn sich die Betroffenen – auch der Staats-
minister hat dieses Beispiel erwähnt – auf Nachverhand- Dirk Manzewski (SPD):
lungen einlassen und in diesem Zusammenhang auf ei-
Lieber Kollege Strässer, ich habe damit meine Pro-
nen Großteil ihrer Forderungen verzichten? Auf die
bleme.
Justiz und den Gesetzgeber lässt sich dann zwar trefflich
im Nachhinein schimpfen; aber gleichwohl hat es sich (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
hierbei trotz gegebenenfalls wirtschaftlicher Zwänge SES 90/DIE GRÜNEN)
letztendlich um einen freiwilligen Akt gehandelt.
Denn ich muss ganz deutlich sagen: Es ist festgelegt
Mich ärgert, dass offensichtlich wieder einmal – das worden, dass das Gericht aufgrund einer fundierten Pro-
ist ja nicht das erste Gesetz, das wir zu diesem Thema gnose schon vor Eintritt der Entscheidungsreife – darauf
verabschieden sollen – keine praxisorientierte Analyse wurde schon hingewiesen – einen Zahlungsanspruch ti-
der Situation gemacht worden ist. Ob nun Handwerker- tulieren soll. Das ist vor allem für die Fälle angedacht, in
frauen vor dem Brandenburger Tor oder die zahlreichen denen zum Beispiel durch eine noch notwendige Be-
Briefe von Betroffenen an uns: Man sollte sich einfach weisaufnahme kein Ende des Verfahrens abzusehen ist.
einmal die Zeit nehmen, sich konkret mit diesen Fällen Der Herr Staatsminister hat auch diesen Fall angespro-
zu beschäftigen und zu überprüfen, inwieweit durch Ge- chen.
setze wie dem vorliegenden tatsächlich hätte weiterge-
Man muss deutlich sagen: Das klingt zunächst einmal
holfen werden können. Ich habe da, wie gesagt, meine
nicht schlecht. Nur, was sollen das für Fälle sein, in de-
Zweifel.
nen einerseits noch keine Entscheidungsreife vorliegt,
Ich hätte es auch für sinnvoll gehalten, wenn man un- wohl aber andererseits eine hohe Erfolgsaussicht beste-
ser letztes Gesetzgebungsverfahren zum Thema Zah- hen soll? Welcher Richter wird eine hohe Erfolgsaus-
lungsmoral, das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zah- sicht bei einer noch ausstehenden Beweisaufnahme beja-
lungen, zuvor gründlich evaluiert hätte. hen? Gerade weil sich der Richter unsicher fühlt, wird
2694 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dirk Manzewski
(A) auswärtiger Sachverstand durch einen Gutachter einge- Dort heißt es nämlich, dass die Bundesregierung die (C)
holt. Der Bundesrat meint nun, als Hilfestellung für eine weitere Befassung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die
solch hohe Erfolgsaussicht könne zum Beispiel ein so sich bereits in der vergangenen Legislaturperiode mit
genanntes qualifiziertes Privatgutachten dienen, wenn dem Forderungssicherungsgesetz befasst hat, „mit dem
ein renommierter Wissenschaftler dieses Privatgutachten Zweck einer weitergehenden Überprüfung des Bauver-
gefertigt habe. tragsrechts“ unterstützt. Das heißt, all das, was wir jetzt
hier beschließen, ist für das BMJ offensichtlich schon
(Abg. Christoph Strässer [SPD] möchte wieder Makulatur. Ich glaube, mehr braucht man dazu nicht zu
Platz nehmen) sagen.
– Ich bin noch nicht fertig.
Ich danke Ihnen.
Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Beifall
Herr Kollege, ich mache nur darauf aufmerksam, dass beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der
bei einem ausgeschlafenen Präsidenten auf diese Weise Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])
keine beliebige Verlängerungen der Redezeiten zu erwir-
ken sind. Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ich schließe die Aussprache.
bei Abgeordneten der SPD) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf der Drucksache 16/511 an die in der Tagesord-
Dirk Manzewski (SPD): nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Ehrlich gesagt: Ich möchte den Richter sehen, der dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
sich davon beeindrucken lässt und nur deshalb eine Ent- ist das so beschlossen.
scheidung fällt. Wir alle wissen doch, wie problematisch Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 11:
der Umgang mit Privatgutachten ist.
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Eine hohe Erfolgsaussicht soll auch dann bestehen,
Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Werner
wenn zwar ein gerichtliches Gutachten vorliegt, aber
Dreibus, Petra Pau und der Fraktion der LINKEN
vielleicht gerade deshalb noch die Einholung eines wei-
teren Gutachtens notwendig ist. Lieber Herr Macken- Gegen die Schließung von 45 Standorten bei
roth, gerade wenn ein Richter die Einholung eines weite- der Deutschen Telekom AG
ren Gutachtens für notwendig erachtet, wird er kaum
(B) eine fundierte Prognose für eine vorläufige Zahlungsan- – Drucksache 16/845 – (D)
ordnung treffen. Wie auch! Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Wir haben – Kollege Montag hat es angesprochen – in Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
der letzten Legislaturperiode ein erweitertes Bericht- Ausschuss für Arbeit und Soziales
erstattergespräch geführt. Wir haben den Deutschen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll auch
Richterbund, den Deutschen Anwaltverein, den Deut- diese Debatte 30 Minuten dauern. – Dazu höre ich kei-
schen Sparkassen- und Giroverband und renommierte nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wissenschaftler, die sich mit dem Thema Baurecht be-
schäftigen, eingeladen. Seinerzeit haben alle unisono Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kol-
dieses Gesetz abgelehnt. Es wurde sogar die Auffassung legin Petra Pau für die Fraktion Die Linke.
vertreten, dass die Anwaltschaft, insbesondere, um nicht
in Regress genommen zu werden, regelmäßig eine vor- (Beifall bei der LINKEN)
läufige Zahlungsanordnung begehren wird. Dies würde
sich sogar kontraproduktiv auswirken, weil dann näm- Petra Pau (DIE LINKE):
lich alle Verfahren länger laufen würden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über geplante Betriebsschließungen, über dro-
Ich äußere mich heute so kritisch, weil mich der Ge-
hende Entlassungen, über einen weiteren Arbeitsplatz-
setzentwurf nicht überzeugt und ich die Befürchtung
abbau. Überwiegend geht es um ohnehin strukturschwa-
habe, dass wir uns nach seiner Verabschiedung noch in
che Regionen. Vor allem wären Frauen davon besonders
dieser Legislaturperiode über den nächsten Gesetzent-
betroffen. Es geht um Pläne eines Konzerns, der noch
wurf zum gleichen Thema unterhalten müssen.
vor kurzem ein öffentliches Unternehmen war. Es geht
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE um ein Unternehmen, bei dem die Bundesregierung
GRÜNEN]: Rücknahme des Gesetzes!) noch immer ein beträchtliches Mitspracherecht hat. Wir
reden über die Deutsche Telekom AG.
Dass diese Befürchtung nicht völlig unbegründet ist, er-
gibt sich bereits aus der Stellungnahme des Bundesjus- Der Konzern hat satte Gewinne erzielt. Trotzdem will
tizministeriums zum hier debattierten Gesetzgebungs- die Konzernführung 32 000 Stellen streichen und bun-
verfahren. desweit 45 Standorte schließen. Die Fraktion Die Linke
ist der Meinung: Das ist ein Fall für den Bundestag;
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Richtig!) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2695
Petra Pau
(A) es ist sogar ein dringender Fall. Deshalb haben wir einen Es gibt aktuelle Beispiele, die belegen, wohin das (C)
Antrag, der sich gegen die Schließung der 45 Standorte führen kann. In Berlin wurden noch zu Zeiten der großen
richtet, gestellt. Koalition unter Federführung der CDU die Wasserbe-
triebe teilprivatisiert. Das war ein Geschäft, das spürbar
Die Beschäftigten kämpfen verzweifelt um ihre Ar- zulasten der Bürgerinnen und Bürger ging. In Dresden
beitsplätze, um ihre Existenz und um ihre Zukunft. Ich wurde jüngst der gesamte kommunale Wohnungsbestand
war bereits vor Wochen auf einer Kundgebung von Tele- verkauft. Dazu gibt es eine Kontroverse auch in meiner
kom-Beschäftigten aus Brandenburg und Mecklenburg- Partei.
Vorpommern hier in Berlin. Es geht aber nicht nur um
den Nordosten oder um Berlin. Betroffen sind die Stand- (Dr. Karl Addicks [FDP]: Zu Zeiten der SED
orte Lübeck, Flensburg, Stade, Bremerhaven, Heide, war der ganze Staat pleite!)
Cottbus, Erfurt, Angermünde, Perleberg, Donauwörth,
Inzwischen planen weitere Städte – auch solche, in de-
Bamberg, Bayreuth, Hof, Ingolstadt, Landshut, Freising,
nen andere Parteien das Sagen haben – Ähnliches, um
Erlangen, Deggendorf, Regensburg, Rosenheim, Gar-
den kommunalen Haushalt zu sanieren. Ich halte das für
misch-Partenkirchen, Berlin, Aschaffenburg, Braun-
kurzsichtig – das sage ich durchaus auch den Kollegin-
schweig, Göttingen, Oldenburg, Bad Kreuznach, Darm-
nen und Kollegen meiner Partei, die sich daran beteiligt
stadt, Limburg, Hanau, Reutlingen, Kaiserslautern,
haben –; denn damit geben diese Kommunen zugleich
Offenburg, Weingarten, Calw, Schwäbisch Hall, Duis-
ihren Einfluss, zum Beispiel auf die soziale Stadtent-
burg, Iserlohn und Wuppertal.
wicklung, preis.
In den Medien nennt man so etwas einen Flächen- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
brand. Ich finde, die Mitglieder des Bundestages, die aus NIS 90/DIE GRÜNEN)
den Regionen dieser 36 Standorte kommen, dürfen das
nicht einfach hinnehmen. Ich finde, die Politik hat eine soziale Verantwortung.
Um dieser gerecht zu werden, bedarf es öffentlicher Be-
(Beifall bei der LINKEN) triebe, die auch durch die Politik bestärkt werden.
Wir sollten parteiübergreifend intervenieren und dafür Danke.
kämpfen, dass nicht noch mehr Beschäftigte und vor al-
lem Frauen ins berufliche Aus getrieben werden. (Beifall bei der LINKEN)

Der zweite Teil unseres Antrages ist grundsätzlicher. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Er wendet sich dagegen, dass immer mehr öffentliche
Nächster Redner ist der Kollege Jochen-Konrad
(B) Unternehmen privatisiert werden; denn dadurch verliert Fromme, CDU/CSU-Fraktion. (D)
die Politik, verlieren die Parlamente an Einfluss. Parla-
mente ohne Einfluss bedeuten immer auch eine Schwä-
chung der Demokratie. Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Dieser
Natürlich muss die öffentliche Hand nicht alles be- Antrag ist ausgesprochen populistisch.
wirtschaften, was nur irgend möglich ist. Das Land Ber-
lin zum Beispiel hat sich von der Königlichen Porzellan- (Widerspruch bei der LINKEN)
Manufaktur getrennt. Ich finde, das war vernünftig; denn Natürlich ist jeder Arbeitsplatz, der in Deutschland ver-
keiner Bürgerin und keinem Bürger kann plausibel er- schwindet, einer zu viel. Deshalb verdient dieser Vor-
klärt werden, warum seine Steuern dafür herhalten müs- gang auch große Aufmerksamkeit und wir müssen uns
sen, teure Edelprodukte zu subventionieren. darum kümmern. Aber so, wie der Antrag gestellt ist, ist
Es gibt aber auch lebenswichtige Grundbedürfnisse, er völlig falsch angelegt, und zwar in beiden Teilen.
die man nicht dem freien Markt oder dem spekulativen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Spiel der Börsen überlassen darf; der SPD)
(Beifall bei der LINKEN) Der zweite Teil ist eigentlich noch entlarvender und
schlimmer als der erste Teil.
denn der freie Markt ohne Regeln ist sozial taub und die
Börse ist sozial blind. Zunächst einmal muss man sich mit dem Unterneh-
men Telekom beschäftigen. Es ist eine Binsenweisheit,
(Dr. Karl Addicks [FDP]: Das stimmt doch gar dass die Telekommunikationsbranche eine Branche
nicht!) ist, in der der Umbruch praktisch stündlich stattfindet
Zu diesen Grundbedürfnissen gehören zum Beispiel Bil- und in der stündlich Entwicklungen stattfinden, die eine
dung, Gesundheit, Wohnen, Mobilität und eben auch die Anpassung der Betriebe erfordern.
Kommunikation. Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, als wir
(Beifall bei der LINKEN) die staatliche Post mit dem „Dampftelefon“ hatten, wo
man für jede Telefondose einen eigenen Antrag stellen
Weil das so ist, darf die Politik ihren Einfluss bei diesen und Gebühren zahlen musste. Nach der Privatisierung ist
Grundbedürfnissen nicht verkaufen und den Aktionären Belebung in die Landschaft gekommen und diese Bran-
überlassen. che hat Arbeitsplätze aufgebaut.
2696 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Jochen-Konrad Fromme
(A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Ich sage es noch einmal: Umstrukturierung ist ein (C)
GRÜNEN]: Haben Sie schon einmal bei der notwendiger Prozess. Wer sich der Umstrukturierung
Telekom einen Telefonantrag gestellt? Wissen verschließt, hat am Ende gar nichts mehr.
Sie, wie lange das dauert?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
– Herr Ströbele, Sie haben auch noch nicht dazugelernt, der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜND-
das ist doch völlig klar. – NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht zulasten
der Verbraucher!)
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Ich habe die Erfahrung gemacht!) Dass Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
nichts hinzugelernt haben, zeigt der zweite Teil Ihres
Wenn es dann wegen des harten Wettbewerbs besonderer Antrages. Es ist doch völlig klar: Gewinne spiegeln die
Anpassungen bedarf – man muss natürlich wissen, dass Situation von gestern wider und bilden über die Schaf-
die Telekom Altlasten mitschleppt und vieles mit auf den fung von Kapital die Basis für die Arbeitsplätze von
Weg bekommen hat, was Wettbewerber nicht haben –, morgen; denn ohne Kapital gibt es keine Arbeitsplätze.
dann muss die Telekom in der Lage sein, sich anzupas- Natürlich ärgert es uns, wenn Betriebe Personal über das
sen. wirtschaftlich gebotene Maß abbauen.
Es ist richtig, dass in den nächsten drei Jahren Ar- An dieser Stelle aber können wir nicht eingreifen. Die
beitsplätze umgebaut werden sollen. Das ist eine be- Telekom ist ein privatisiertes Unternehmen. Die Ver-
trübliche Entwicklung, weil wir dabei auch Arbeits- antwortung für das operative Geschäft liegt beim Vor-
plätze verlieren. Man muss dabei aber zweierlei sehen: stand. Dem Vorstand, auch einzelnen Vorstandsmitglie-
dern, können wir keine Weisungen erteilen. Deshalb ist
Erstens. Es ist mit den Betriebsräten vereinbart. Wa- Ihr Antrag zum einen rechtlich unzulässig und zum an-
rum ist es mit den Betriebsräten vereinbart? – Weil die deren wirtschaftlich unsinnig, weil er zur Totalzerstö-
doch auch wissen, dass, wenn man einen Betrieb so lau- rung führen würde.
fen lässt, dass er nicht wettbewerbsfähig ist, am Ende
nichts mehr überbleibt. Da stellt sich doch die Frage, ob (Günter Baumann [CDU/CSU]: So ist das! –
es besser ist, wenn man sich anpasst und einige Arbeits- Martin Zeil [FDP]: Sehr richtig!)
plätze verliert, oder ob es besser ist, wenn man sich nicht
Sie haben ja viel Erfahrung darin, wie man mit staat-
anpasst und alle verliert.
lich gesteuerten Betrieben umgeht. Das haben Sie eben
(Beifall bei der CDU/CSU) populistisch dargestellt. Wir brauchen nur ein wenig in
Richtung Osten schauen, um zu sehen, wohin das führt.
(B) Nach der Betriebsvereinbarung der Telekom erfolgen bis Die Diskussion, die heute in der Presse geführt wird, (D)
2008 keine betriebsbedingten Kündigungen. Das heißt, zeigt doch, wie verwoben die Linkspartei mit dem alten
dass die Umstellung sozialverträglich, im Einvernehmen System ist, wie viele von damals Sie heute immer noch
mit den Betriebsräten erfolgt. in Ihren Reihen haben. Daran wird auch die vierte Na-
mensänderung nichts ändern. Sie bleiben unterwandert
Es werden Arbeitsplätze abgebaut, weil man die Call-
und infiltriert. Sie bleiben vom falschen Gedankengut
center – sie sind eigentlich eine Erfolgsgeschichte der
beseelt.
Telekommunikation; hier wurden in den letzten Jahr-
zehnten viele neue Arbeitsplätze geschaffen – anders (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE
führen muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Wenn die LINKE]: Das ist nicht Populismus, das ist
Wettbewerber größere, wirtschaftlichere Einheiten bil- Stammtisch! – Weitere Zurufe von der
den, dann muss die Telekom nachziehen, weil sie sonst LINKEN)
keine Aufträge mehr bekommt. So einfach ist das. Au-
ßerdem geht es darum, die Qualität der Dienstleistungen – Auch ein Stammtisch hat manchmal Recht; denn die
für die Kunden zu verbessern. Menschen haben ein gesundes Gespür dafür, was falsch
und was richtig ist.
(Lachen bei der LINKEN – Volker Schneider
(Zuruf von der LINKEN: Wir aber auch!)
[Saarbrücken] [DIE LINKE]: Die Qualität ver-
bessern? Das ist der Gipfel!) Die Menschen begreifen, dass es besser ist, Arbeits-
plätze abzusichern.
Den Mitarbeitern werden im Übrigen andere Arbeits-
plätze angeboten. Einige Unternehmen haben diesen Innovationspro-
zess nicht erfolgreich bestanden und befinden sich des-
(Zurufe von der LINKEN) halb in einer gefährlichen Schieflage. Schauen wir uns
– Natürlich ist es einfach, zu sagen, die dürfen nichts doch einmal Teile der Automobilindustrie an. Wer die
verändern. Das kann sich aber nur eine Partei leisten, die Anpassung nicht rechtzeitig geschafft hat, hat jetzt unter
keine Verantwortung für die Arbeitsplätze von morgen Kostengesichtspunkten große Schwierigkeiten. Am Ende
übernehmen muss. bedeutet das möglicherweise, dass ganze Marken und
damit Tausende von Arbeitsplätzen verschwinden, die
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nicht hätten verschwinden müssen, wenn man sich recht-
GRÜNEN]: Die sollen kundenfreundlicher zeitig umgestellt, wenn man sich rechtzeitig wettbe-
werden!) werbsfähig aufgestellt hätte. Das ist der Punkt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2697
Jochen-Konrad Fromme
(A) Im zweiten Teil Ihres Antrages zeigen Sie – dieser Martin Zeil (FDP): (C)
Teil ist entlarvend –, dass Sie wieder in die Staatswirt- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
schaft zurück wollen. Ich wiederhole, damit es auch der Damen und Herren! Lassen Sie mich vorneweg eines sa-
Letzte begreift: Sie haben schon einmal einen großen gen: Von den beabsichtigten Schließungen sind auch
Teil dieses Landes in die Katastrophe geführt. Die armen 16 Standorte in meiner bayerischen Heimat betroffen.
Menschen mussten das ausbaden. Ein Teil der Probleme, Wir haben deshalb volles Verständnis für die Situation
die wir heute haben, sind doch dadurch bedingt, dass wir der betroffenen Mitarbeiter. Verlagerungen von Arbeits-
uns jetzt damit befassen müssen, das Erbe von fast plätzen gerade aus strukturschwachen Gebieten können
50 Jahren Sozialismus aufzuräumen. niemanden gleichgültig lassen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Der hier vorliegende Antrag ist aber leider typisch,
bei Abgeordneten der SPD – Zuruf von der Frau Kollegin Pau, für die Politik der PDS-Linken hier
LINKEN: 40 Jahre waren es! – Weitere Zurufe im Hause. Er strotzt vor Halbwahrheiten, bietet keine
von der LINKEN) durchführbaren Lösungen und – das ist vielleicht das
Das ist das Problem. Warum mussten wir denn fast die Schlimmste – er instrumentalisiert die Sorgen und Nöte
ganze ehemalige DDR unter dem Gesichtspunkt des der Menschen für eine kurzfristige Effekthascherei.
Umweltschutzes sanieren? Weil Sie eine falsche, men- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
schenfeindliche Wirtschaftspolitik betrieben haben. Das der SPD)
ist doch die Wahrheit.
Sie verschweigen zudem die Angebote der Telekom
(Dr. Karl Addicks [FDP]: Da sitzen sie, die Altlas- an die betroffenen Mitarbeiter, Sie unterschlagen, dass
ten! – Lachen und Zurufe von der LINKEN) sich die Firma mit den Betriebsräten vor kurzem auf die
– Die Tatsache, dass Sie so reagieren, zeigt doch auch, künftigen Standorte abschließend geeinigt hat, und Sie
dass ich offensichtlich getroffen habe. Wenn Sie sich lassen natürlich jegliche Auseinandersetzungen mit den
nämlich nicht so getroffen fühlen würden, dann würden wirtschaftlichen Argumenten vermissen.
Sie doch eine nüchterne Auseinandersetzung führen und
(Petra Pau [DIE LINKE]: Ja, ja, ja!)
Argumente vorbringen, anstatt dazwischenzubrüllen. Sie
wollen vernebeln, was Sie angerichtet haben. Aber das wäre vielleicht von patentierten Marxisten zu
Ich sage es noch einmal: Ihr Antrag ist in beiden viel verlangt.
Punkten abzulehnen. (Beifall bei der FDP)
(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)
(B) Präsident Dr. Norbert Lammert: (D)
Ihre Politik ist rückwärts gewandt, Sie haben aus den Er-
Herr Kollege Zeil, darf die Kollegin Pau Ihnen eine
fahrungen der Geschichte leider nichts gelernt. Frakti-
Zwischenfrage stellen?
onsstärke haben Ihnen die Unzufriedenen beschert, die
Sie auf populistische Art und Weise eingesammelt ha-
ben. Leider haben die nicht genau hingesehen. Sie wer- Martin Zeil (FDP):
den ganz schnell merken, was sie an Ihnen haben. Des- Aber selbstverständlich.
halb werden Sie nicht weiter zum Zuge kommen und bei
der nächsten Wahl die Quittung dafür erhalten. Petra Pau (DIE LINKE):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege, wollen Sie ernsthaft behaupten, dass
das Angebot an allein erziehende Frauen an den von
Wir müssen uns marktwirtschaftlich so aufstellen, Schließung betroffenen oder bedrohten Standorten, ei-
dass unsere Unternehmen auf Dauer wettbewerbsfähig nen 200 Kilometer oder auch nur 150 Kilometer vom
sind. Nur dann gibt es überhaupt Arbeitsplätze und kön- bisherigen Standort entfernten Arbeitsplatz aufzuneh-
nen diese in ausreichendem Maße erhalten bleiben. Wir men, ein ernstes und faires Angebot ist, welches es den
müssen daran arbeiten, dass das besser wird; denn in den Frauen ermöglicht, sowohl ihren Pflichten in der Familie
letzten Jahren sind wir zu weit abgerutscht. Mit einer so nachzukommen als auch ihren Arbeitsplatz zu behalten?
rückwärts gewandten Politik, wie sie in Ihrem Antrag
ausgedrückt wird, werden wir den heutigen Erfordernis-
sen – das ist der Hauptpunkt – nicht gerecht. Martin Zeil (FDP):
Frau Kollegin, ich will gar nicht bestreiten, dass es
(Widerspruch bei der LINKEN) hier im Einzelfall zu Härten kommen kann. Das ist gar
Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. keine Frage. Aber insgesamt ist es so, dass durch diesen
Umstrukturierungsprozess möglicherweise Arbeitsplätze
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- an anderer Stelle genau für diesen Personenkreis gesi-
neten der SPD) chert werden können. Sie müssen sich vielleicht noch
mental daran gewöhnen, dass es sich hier um ein privati-
Präsident Dr. Norbert Lammert: siertes Unternehmen und nicht mehr um ein Staatsunter-
Das Wort hat nun der Kollege Martin Zeil für die nehmen handelt.
FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP – Petra Pau [DIE
(Beifall bei der FDP) LINKE]: Das gehört zum Problem!)
2698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Martin Zeil
(A) Ihr Antrag gibt über den konkreten Anlass hinaus Ge- Helmut Schmidt hat einmal gesagt: „Märkte sind wie (C)
legenheit, über grundlegende Fragen zu diskutieren. Fallschirme: Sie funktionieren nur, wenn sie offen sind.“
Wollen wir soziale Marktwirtschaft oder wollen wir So einfach ist das. Die Rückkehr zur Staatswirtschaft,
Planwirtschaft? Sind Politiker oder Verwaltungen die die so viel Unheil angerichtet hat, lehnen wir Liberale
besseren Unternehmer? Wollen wir entscheiden, was der ebenso ab wie Ihren Antrag.
bessere Standort, der beste Tarif und das beste neue Pro-
dukt sind? Da sagen wir als Liberale: Wer die soziale (Beifall bei der FDP)
Marktwirtschaft will, kann die letzte Frage nur ganz klar
mit Nein beantworten. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Martin Dörmann ist der nächste Redner für die SPD-
(Beifall bei der FDP) Fraktion.
Unsere Aufgabe ist es hingegen, Rahmenbedingun- (Beifall bei der SPD)
gen zu setzen, Frau Kollegin, die es den Unternehmen
ermöglichen, Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu
schaffen. Die Rahmenbedingungen müssen, zum Bei- Martin Dörmann (SPD):
spiel durch mehr Wettbewerb, auch dem Wohl der Ver- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
braucher dienen. Hier vertreten wir als Fraktion nach ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke die Bundes-
wie vor den klaren Kurs einer umfassenden marktwirt- regierung auf, ihre Strategie zur Privatisierung öffentli-
schaftlichen Erneuerung. cher Unternehmen zu revidieren. Bevor ich auf das kon-
krete Thema dieser Debatte, die Telekom, zu sprechen
Diesem Kurs entspricht es auch, die Privatisierung im komme, möchte ich zunächst auf diesen allgemeineren
Telekommunikationsbereich, die insgesamt, vor allem Punkt etwas näher eingehen. Er dokumentiert nämlich,
aber auch aus der Sicht der Verbraucher, positiv zu be- dass die PDS wirtschaftspolitisch einen rückwärts ge-
werten ist, fortzusetzen. Vergegenwärtigen Sie sich ein- wandten Kurs fährt. Wir sollten das Thema Privatisie-
mal, insbesondere aus der Sicht der Verbraucher, dass rung differenziert und nicht ideologisch diskutieren.
ein nationales Ferngespräch, für das die Post Mitte der
90er-Jahre 30 Cent pro Minute kassiert hat, heute beim Es gibt Bereiche der Daseinsvorsorge, insbesondere
billigsten Anbieter gerade einmal 1 Cent pro Minute auf kommunaler Ebene, in denen es unter vielerlei Ge-
kostet. Bei den zehn wichtigsten Auslandszielen betra- sichtspunkten richtig sein kann, an öffentlichen Unter-
gen die Entgelte nur noch 3 Prozent des Betrages, den nehmen festzuhalten,
das damalige Staatsunternehmen berechnet hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(B) In diesem Zusammenhang ist auch Folgendes wich- etwa wenn es um die sichere Versorgung mit Wasser, die (D)
tig: Ein Blick auf die Erwerbstätigenstatistik zeigt, Organisation der Müllabfuhr, die Stärkung des öffentli-
dass es 1995, in dem Jahr der Privatisierung der Tele- chen Personennahverkehrs oder eine sozial orientierte
kom, in der IT-Branche 630 000 Beschäftigte gab. Im Wohnungsversorgung vor Ort geht. Auf diesen Feldern
Jahr 2005 lag diese Zahl bei 750 000. Das ist eine Zu- geht es um Güter und Dienstleistungen, für deren unmit-
nahme um knapp 20 Prozent. Deswegen ist es falsch, telbares Zur-Verfügung-Stellen die öffentliche Hand in
sich immer nur auf ein Unternehmen zu fokussieren. einer besonderen Verantwortung steht und bei denen die
Hier muss man eine Gesamtbetrachtung anstellen. kommunale Selbstverwaltung gefragt ist. Hier handelt es
(Beifall bei der FDP) sich um örtlich begrenzte Bereiche, die sich einem inter-
nationalen Wettbewerb nicht stellen müssen.
Diese Fakten sprechen aus unserer Sicht für sich. Sie
Prinzipiell anders sieht es jedoch bei einigen Unter-
sprechen aber auch dafür, dass wir grundsätzlich unsere
nehmen aus, die sich bisher noch ganz oder teilweise im
Linie fortsetzen müssen: Der Staat muss sich dort, wo er
Eigentum des Bundes befinden und die in einem interna-
keine zwingenden öffentlichen Aufgaben zu erfüllen hat,
tionalen, heutzutage sogar oft in einem globalen Wettbe-
aus der Wirtschaft zurückziehen und darf ihr keine Kon-
werb stehen. Hier muss sich der Staat in besonderer
kurrenz machen.
Weise fragen, welche Aufgaben besser von ihm selbst
(Zuruf von der FDP: Völlig richtig!) und welche besser von einem privatwirtschaftlich orga-
nisierten Unternehmen erfüllt werden können.
Das heißt aber auch: Wenn ein Unternehmen privati-
siert und ein Markt liberalisiert wird, muss das konse- Die Bundesregierung verfolgt seit vielen Jahren, un-
quent geschehen. Dann darf es keine Ausnahmen und terstützt von unterschiedlichen Koalitionen im Parla-
keine halben Sachen geben. Dann muss wirklich für ment, eine konsequente Privatisierungspolitik. Sie ori-
Wettbewerb gesorgt werden. Deshalb werden wir Libe- entiert sich dabei an folgenden grundlegenden Zielen:
rale darauf drängen, dass die Umsatzsteuerbefreiung und erstens einer effizienten Aufgabenverteilung zwischen
das Briefmonopol der Deutschen Post fallen und dass Staat und Wirtschaft, zweitens der besseren Kapitalaus-
wir mehr Wettbewerb auf der Schiene bekommen. stattung der Unternehmen, drittens – damit verbunden –
den größeren Möglichkeiten für zukunftsweisende In-
(Zuruf des Abg. Klaus Barthel [SPD]) vestitionen und viertens der Schaffung von mehr Markt-
orientierung und mehr Wettbewerbsfähigkeit.
– Herr Barthel, hören Sie gut zu; ich möchte abschlie-
ßend Helmut Schmidt zitieren. Dieser Weg war erfolgreich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2699
Martin Dörmann
(A) (Beifall des Abg. Dieter Grasedieck [SPD]) schäftigtenzahl ist. Der technische Fortschritt ist jedoch (C)
noch rasanter gewesen als erwartet, sodass weniger
Ehemalige Bundesunternehmen sind heute an in- und
Menschen für die neue Vielfalt von Diensten und Pro-
ausländischen Börsen notiert und behaupten sich auf den
dukten benötigt werden als angenommen. Zum Ende des
Weltmärkten. Dazu zählen neben der Deutschen Tele-
Jahres 2004 waren im Telekommunikationsdienste-
kom insbesondere Volkswagen, die Lufthansa, Eon und
markt 225 000 Personen beschäftigt und damit nur un-
die Deutsche Post AG. Es gibt heute wohl kaum noch je-
wesentlich mehr als 1998. Die Erwartung, dass die Tele-
manden – von der PDS abgesehen –, der behaupten
kom selbst bei Verlust von Marktanteilen eher mehr
würde, die Privatisierung dieser Unternehmen sei falsch
Arbeitskräfte braucht, hat sich leider nicht bewahrheitet.
gewesen. Vielmehr haben diese Unternehmen von der
Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen Pläne der Te-
Privatisierung profitiert und stehen heute im Markt alles
lekom zu einem Personalabbau zu diskutieren. Es ist
in allem sehr gut da. Und genau darum geht es: die Be-
grundsätzlich problematisch, wenn man einzelne unter-
dürfnisse des Marktes und der Verbraucherinnen und
nehmerische Entscheidungen kommentiert. Dennoch
Verbraucher im Auge zu behalten – und nicht in erster
möchte ich für die SPD-Fraktion ausdrücklich zum Aus-
Linie die des Staatsapparates.
druck bringen, dass wir hoffen und erwarten, dass sich
Durch die Privatisierungspolitik profitiert gleichzeitig Konzernleitung und Gesamtbetriebsrat im Rahmen des
der Bundeshaushalt, insbesondere durch die Platzierung geplanten Personalabbaus auf ein sozialverträgliches
von Aktien auf dem Kapitalmarkt. Dieser Privatisie- Konzept einigen werden.
rungskurs ist deshalb ordnungspolitisch richtig, wirt-
schaftlich sinnvoll und bringt haushaltspolitisch Entlas- Nun zu der konkret angesprochenen Entscheidung der
tung. Angemerkt sei, dass hierdurch letztendlich Telekom, Callcenterstandorte zu schließen. Ich möchte
zusätzliche Investitionen des Bundes ermöglicht werden, zunächst einmal hervorheben, dass das Aktienrecht der
beispielsweise in Bildung, in Forschung und Entwick- Bundesregierung keine Möglichkeit gibt, eine Einzel-
lung oder auch zum sozialen Ausgleich. Klar ist: Wer maßnahme des Unternehmensvorstandes direkt zu be-
diesen Weg der Privatisierung geht, muss dafür in Kauf einflussen – auch wenn der Bund Minderheitsanteile an
nehmen, dass er den Einfluss auf unternehmerisches der Deutschen Telekom hält; von daher läuft die kon-
Handeln verliert. Wenn die Unternehmen erfolgreich krete Forderung im Antrag der Linken ins Leere. Auch
sind – was bei den bisherigen Privatisierungen der Fall aus diesem Grund wird die SPD-Fraktion ihn ablehnen.
ist –, muss dies jedoch kein Nachteil sein. Worum geht es in der Sache? Die Telekom verfolgt ein
Konzept der Zusammenlegung von Callcenterstandorten
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nun zu und damit eine stärkere Zentralisierung dieses Berei-
der im Antrag konkret angesprochenen Deutschen ches, in dem insgesamt 15 000 Beschäftigte tätig sind.
(B) Telekom AG. Die Privatisierung der Telekom ist zu Durch größere Belegschaften sollen Effizienzgewinne (D)
Recht mit einer Marktöffnung im Bereich der Tele- und höhere Qualitätsstandards gesichert werden, wie es
kommunikation verbunden gewesen; ihre Monopolstel- bei Konkurrenten zum Teil schon gemacht worden ist.
lung wurde bewusst beseitigt. Inzwischen werden die Die von der Verlagerung ihres Standortes betroffenen
Arbeit der Regulierungsbehörde und die Erfolge dieser Beschäftigten erhalten allerdings das Angebot, an einem
Marktöffnung allgemein anerkannt. Seit der Liberalisie- anderen Standort weiterbeschäftigt zu werden. Das ist
rung sind beispielsweise die Telefonkosten drastisch ge- natürlich insbesondere in ländlichen Gegenden proble-
sunken: Heute kann man bei bestimmten Anbietern für matisch, in denen die Entfernung zum nächsten Standort
1 Cent die Minute ein Ferngespräch führen oder – gegen 200 Kilometer oder sogar mehr beträgt; denn es sind ins-
einen gewissen Aufpreis, im Rahmen einer Flatrate – besondere viele Frauen mit Kindern betroffen, die wo-
ohne Verbindungskosten telefonieren oder im Internet möglich auch noch in Teilzeit arbeiten. Ihnen ist ein
surfen. Das freut die Verbraucherinnen und Verbraucher, Ortswechsel mit der Familie oft faktisch nicht möglich.
die für weniger Geld mehr Leistung erhalten.
Aus diesem Grunde war das Callcenterkonzept der
Konkurrenz und sinkende Preise haben für das betrof- Telekom zwischen der Konzernführung und dem Ge-
fene Unternehmen nicht nur Vorteile. Gerade die Tele- samtbetriebsrat hoch umstritten. In der letzten Woche
kom hat sich einem besonders harten internationalen konnte aber – das haben Sie unterschlagen – eine Eini-
Wettbewerb zu stellen. Ein Unternehmen, das zuvor eine gung zwischen beiden erzielt werden. Wie wir bereits
Monopolstellung hatte, verliert bei einer Marktöffnung gehört haben, ist danach nicht mehr, wie ursprünglich
zunächst zwangsläufig Marktanteile. Bis zu einem ge- geplant, die Schließung von 45 Callcenterstandorten,
wissen Grad ist das auch erwünscht, um Wettbewerb erst sondern eben nur noch von 36 vorgesehen; 60 Standorte
zu ermöglichen. Dies lässt sich in den Berichten der bleiben erhalten. Ich sage deutlich: Unter den gegebenen
Bundesnetzagentur eindrucksvoll nachlesen: So hatte die Umständen ist das gut für die Beschäftigten und sicher
Telekom an den Gesprächsminuten in Deutschland 1998 auch ein Erfolg der Verhandlungen des Gesamtbetriebs-
noch einen Anteil von 94 Prozent. 2005 waren es nur rates und von Verdi.
noch 48 Prozent.
(Beifall bei der SPD)
An dieser Stelle will ich auch ein Problem offen an-
sprechen, das zu Beginn der Privatisierung unterschätzt Ich begrüße das ausdrücklich auch im Namen vieler
worden ist: Seinerzeit sind die meisten Experten davon meiner Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Bundes-
ausgegangen, dass der Telekommunikationsmarkt eine tagsfraktion, die sich um die Sorgen der Beschäftigten,
dauerhafte Jobmaschine mit ständig wachsender Be- die ja berechtigt sind, gekümmert und viele Gespräche
2700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Martin Dörmann
(A) geführt haben. Unter den gegebenen Umständen sind wir Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen (C)
froh, dass eine Einigung erfolgt ist. Sie ist im Interesse Bundestages:
der Beschäftigten und des Unternehmens, sie stärkt die Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Konkurrenzfähigkeit der Telekom und sichert damit Ar- Damen und Herren! Dem Plenum liegt heute der noch
beitsplätze langfristig. Wir nehmen dies als ein positives von meinem Amtsvorgänger Willfried Penner erstellte
Signal auch für zukünftige Verhandlungsrunden der Ta- Jahresbericht für das Jahr 2004 zur abschließenden Be-
rifpartner. ratung vor. Wie wir alle wissen, wurde der Bericht in-
zwischen fortgeschrieben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu-
sammenfassen: Die SPD-Fraktion steht zum erfolgrei- Vor wenigen Wochen habe ich dem Präsidenten des
chen Weg der Privatisierung. Weder Parlament noch Re- Deutschen Bundestages den Bericht für das zurücklie-
gierung können direkt in die Unternehmensstrategie gende Jahr, also für das Jahr 2005, vorgelegt. Daraus zu
privatisierter Unternehmen eingreifen und sollten das schließen, der heute zu beratende Bericht für das
auch nicht. Dennoch gilt: Einen konstruktiven Weg un- Jahr 2004 sei bereits überholt, wäre allerdings verfehlt.
terstützen wir gerne auch politisch. Deutschland braucht Die Rahmenbedingungen für die Bundeswehr haben sich
Wettbewerb und eine starke Telekom als unseren globa- keineswegs verändert. Sie kennen alle wesentlichen
len Player im Bereich der Telekommunikation und die Stichworte in diesem Zusammenhang. Um nur die wich-
Telekom braucht marktgerechte Lösungen, mit denen tigsten zu nennen: Transformation, Einsatzbelastung und
gleichzeitig die Belange der Beschäftigten angemessen Unterfinanzierung.
berücksichtigt werden.
Auch wenn die Beratungen des Haushalts für das lau-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. fende und das kommende Jahr noch nicht abgeschlossen
sind, lässt sich schon jetzt sagen: Der Verteidigungsetat
(Beifall bei der SPD)
wird auf keinen Fall erhöht. Alle Probleme, die sich da-
raus für die Soldatinnen und Soldaten ergeben, sind im
Präsident Dr. Norbert Lammert: Jahresbericht 2004 angesprochen worden. Ich nenne
Der Kollege Matthias Berninger gibt seine Rede zu noch einmal die wichtigsten: Unmut über ausbleibende
Protokoll1). Ich schließe die Aussprache. Beförderungen wegen fehlender Planstellen; Enttäu-
schung der altgedienten Portepeeunteroffiziere über ihre
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Benachteiligung im Hinblick auf das Attraktivitätspro-
Drucksache 16/845 an die in der Tagesordnung aufge- gramm; Kritik an unzureichender Einsatzvorbereitung
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu besteht of- wegen fehlenden Ausbildungsmaterials; kurzfristige
(B) fenkundig Einvernehmen. Dann ist die Überweisung so Veränderungen bei der Einsatzplanung; Defizite in der (D)
beschlossen. persönlichen Ausstattung, auch mit Blick auf die Ein-
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 12: sätze; Infrastrukturmängel in den Kasernen, besonders in
den alten Bundesländern; Belastungen des Sanitätsdiens-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- tes durch Einsatzabstellungen und Handlungsbedarf im
richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- Hinblick auf eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und
schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe- Familie.
auftragten
Diese Probleme sind nach wie vor aktuell. Sie waren
Jahresbericht 2004 (46. Bericht) im Jahr 2004 aktuell, sie sind im Jahre 2005 aktuell ge-
wesen und sie sind auch jetzt aktuell. Sie finden sich na-
– Drucksachen 15/5000, 16/909 – turgemäß deshalb auch in dem jüngsten Bericht, dem
Berichterstattung: Jahresbericht 2005, wieder. Dahinter stehen in der Regel
Abgeordnete Anita Schäfer (Saalstadt) ganz konkrete Sorgen und Nöte Einzelner, die von mir
Hedi Wegener sorgfältig geprüft werden, und zwar mit dem Ziel, Lö-
Elke Hoff sungen für die angesprochenen Probleme zu finden. Was
Paul Schäfer (Köln) die Bundeswehr zunehmend belastet, geht aber über den
Winfried Nachtwei konkreten Einzelfall hinaus. Es ist die Summe der von
den Rahmenbedingungen geprägten Mängel und Defi-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die zite, die bei den Soldatinnen und Soldaten Unzufrieden-
Aussprache eine halbe Stunde dauern. – Ich höre dazu heit und auch Enttäuschung hervorrufen.
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Aus der Sicht der Soldaten klaffen seit der Neuaus-
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst richtung der Streitkräfte Anspruch und Wirklichkeit in
der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, der Bundeswehr manchmal weit auseinander, beispiels-
Reinhold Robbe. weise dann, wenn die Notwendigkeit der Beteiligung an
internationalen Einsätzen beschworen, der Truppe das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dafür notwendige Personal und Material aber nicht im-
der SPD und des Abg. Jochen-Konrad mer in ausreichendem Umfang zur Verfügung gestellt
Fromme [CDU/CSU]) wird, oder wenn die Leistungen der Soldatinnen und
Soldaten vor dem Hintergrund der Transformation und
1) Anlage 2 der Einsätze in höchsten Tönen gelobt werden, dieselben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2701
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
(A) Soldatinnen und Soldaten aber immer weniger Geld im desregierung und auch das deutsche Parlament aus mei- (C)
Portemonnaie haben und auch 15 Jahre nach der Wieder- ner Sicht verstärkt zuwenden müssen.
vereinigung die Armee der Einheit keineswegs einheit-
lich besoldet wird. Das wird mit der Aufforderung an die Bundesregie-
rung zur Prüfung, Erwägung und Beachtung der im Jah-
(Beifall des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]) resbericht des Wehrbeauftragten enthaltenen Empfeh-
lungen allein natürlich nicht zu schaffen sein. Dazu
Anspruch und Wirklichkeit stehen schließlich auch dort braucht es weiter gehende Anstrengungen. Eines ist aber
nicht miteinander im Einklang, wo Soldaten über Rah- sicher: Von dem Erfolg dieser Bemühungen werden die
menbedingungen und Ziele möglicher neuer Einsätze im Einsatzbereitschaft und die Motivation der Soldatinnen
Unklaren gelassen werden. und Soldaten künftig entscheidend abhängen.
In der so genannten Zentralen Dienstvorschrift 10/1
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
der Bundeswehr heißt es dazu in klaren Worten: Zu den
Zielen der inneren Führung gehört es – ich zitiere –, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
unter Berücksichtigung ethischer Aspekte politi-
bei Abgeordneten der LINKEN)
sche und rechtliche Begründungen für den soldati-
schen Dienst zu vermitteln und den Sinn des militä-
rischen Auftrags einsichtig und verständlich zu Präsident Dr. Norbert Lammert:
machen. Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich gerne – sicherlich auch in Ihren aller
An diesem Grundsatz müssen sich militärische und
Namen – dem Wehrbeauftragten und allen Mitarbeiterin-
politische Führung messen lassen. Aus Sicht vieler Sol-
nen und Mitarbeitern der Behörde für die Vorlage des
daten werden sie diesem Anspruch aber nicht immer ge-
Berichts und insbesondere für die damit verbundene Ar-
recht. Die Soldaten fragen stattdessen mich, welchen
beit herzlich danken.
Sinn beispielsweise ein Einsatz im Kongo macht oder
was von einer demokratischen Erneuerung Afghanistans (Beifall)
zu halten ist, wenn dort Bürger wegen ihres Glaubensbe-
kenntnisses mit der Todesstrafe bedroht werden. Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff, FDP-Frak-
tion.
Ich verkenne nicht, dass über diese aktuellen und an-
dere Fragen auch hier im Deutschen Bundestag durchaus (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
konträr diskutiert wird. Aber findet diese Diskussion
(B) auch in der Truppe statt? Werden den Soldaten Antwor- Elke Hoff (FDP): (D)
ten auf ihre berechtigten Fragen gegeben? Wenn ich Vor- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
gesetzte darauf anspreche, erklären sie mir häufig, es nen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter!
fehle an offiziellen Stellungnahmen des Dienstherrn. Die Wir sprechen heute abschließend über den Jahresbericht
Kritik ist berechtigt. Auf der anderen Seite: Kann ein 2004 des Wehrbeauftragten. Der nächste Bericht liegt
Kompaniechef oder ein Kommandeur seinen Soldatin- bereits vor. Es ist gut, sehr geehrter Herr Robbe, dass Sie
nen und Soldaten nur Rede und Antwort stehen, wenn er in Ihrem ersten Bericht die klare und deutliche Art Ihres
sich hinter einer offiziellen Stellungnahme seines Vorgängers fortsetzen.
Dienstherrn zurückziehen kann? Oder fehlt es an der ge-
nerellen Bereitschaft, Diskussionen anzunehmen, auch Die Institution des Wehrbeauftragten hat auch im
wenn sie in der Sache nicht leicht zu führen sind? 50. Jahr ihres Bestehens nicht an Bedeutung verloren.
Im Gegenteil: Der Anstieg des Eingabeaufkommens von
Bedeutung und Stellenwert der politischen Bildung 20 Prozent in den ersten Monaten des Jahres 2006 ist ein
und des lebenskundlichen Unterrichts für das Leitbild Alarmsignal, dass bei unserer Bundeswehr weiterhin ei-
vom Staatsbürger in Uniform sind unstreitig. Neufassun- niges im Argen liegt. Die Kenntnis des neuen Berichts
gen der Zentralen Dienstvorschrift 12/1 – das betrifft die erlaubt es bereits heute, sich weiterentwickelnde Fehl-
politische Bildung und den lebenskundlichen Unterricht – entwicklungen festzustellen.
stehen nach langer Vorarbeit kurz vor ihrem Erlass.
Gleichwohl kommen interne Erhebungen des Führungs- Viele Punkte im Jahresbericht 2004 entwickeln sich
stabes der Streitkräfte zu dem Schluss, dass die politi- zu bedauernswerten Klassikern. Als Beispiel hierfür
sche Bildung und der lebenskundliche Unterricht vor möchte ich den Beförderungsstau, das Ausufern büro-
dem Hintergrund der Auftragsdichte oftmals viel zu kurz kratischer Einsatzhindernisse, den baulichen Zustand der
kommen. Das deckt sich beispielsweise mit Aussagen Kasernen und die Auswirkungen der permanenten Un-
von Einheitsführern, die mir berichten, dass ihre ur- terfinanzierung der Streitkräfte, die der Wehrbeauftragte
sprünglich auf zwei Tage angesetzte politische Weiter- sehr treffend als ein permanentes Verwalten des Mangels
bildung in Berlin mangels Zeit und ausreichender Mittel kritisiert, benennen.
auf einen Tag zusammengestrichen wurde. So darf es
– das finde ich jedenfalls – nicht sein. In den Eingaben der Soldatinnen und Soldaten drückt
sich der ganze Unmut über eineinhalb Jahrzehnte Trans-
Anspruch und Wirklichkeit: Darum geht es. Sie wie- formation aus. Die Transformation lebt aber von der
der miteinander in Einklang zu bringen – finanziell wie Akzeptanz derjenigen, die sie tagtäglich zu vollziehen
ideell –, das ist die zentrale Aufgabe, der sich die Bun- haben. Wenn dieser Begriff mehr und mehr negativ
2702 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Elke Hoff
(A) besetzt wird, kann man ihn irgendwann vergessen. Es die Bundeswehr durch die bestehenden Einsatzverpflich- (C)
geht hier auch um Menschen und nicht nur um Planziele. tungen sind. Dabei ist das größte Problem, dass häufig
die gleichen Soldatinnen und Soldaten in den Einsatz
So sympathisch der Wunsch nach einer Atempause müssen, weil unsere Streitkräfte einfach zu wenige ein-
im Transformationsprozess, wie er von Herrn Robbe ge- satzfähige Soldaten haben. Allmählich sollten die Leh-
äußert wurde, auch ist: Er ist unrealistisch. Wenn die ren aus diesem Missstand gezogen werden, bevor über
Bundeswehr bis 2010 auch nur annähernd das von ihr weitere Einsätze außerhalb der Bundesrepublik Deutsch-
angestrebte Personalstrukturmodell mit der neuen Auf- land nachgedacht wird.
gabenverteilung einführen möchte, wird der Transforma-
tionsdruck eher noch zunehmen. Ich komme zum Ende. Wir haben keinen Grund, un-
sere Bundeswehr schlecht zu reden. Wir alle können auf
Deshalb ist die Einsicht des Bundesverteidigungsmi- die täglichen Leistungen unserer Soldatinnen und Solda-
nisters erfreulich, dass die Besonderheiten des Soldaten- ten stolz sein.
berufs auch ein eigenes Besoldungsrecht erfordern. Die
FDP fordert dies seit Jahren. Der Minister hat offenbar (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
erkannt, dass es einen Unterschied macht, ob der Soldat SPD sowie des Abg. Winfried Nachtwei
in Faizabad oder in der Brüsseler EU-Bürokratie seinen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dienst versieht.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Wenn Sie hoffentlich in Kürze damit beginnen, das
Besoldungsrecht in Ordnung zu bringen, dann sollten Das wäre eigentlich ein schöner Schlusssatz gewesen,
Sie auch die Besoldungsunterschiede in Ost und West Frau Kollegin.
auflösen. Die Integration einer betrieblichen Alterssiche- (Heiterkeit)
rung insbesondere für die Soldaten auf Zeit würde eben-
falls zu diesen Reformanstrengungen passen. Ich bin mir Elke Hoff (FDP):
sicher, dass Sie hierfür eine breite parlamentarische Sehr richtig. Aber Sie wissen, die Frauen haben im-
Mehrheit finden werden. mer das letzte Wort.
Bemerkenswert ist, wie deutlich sich der neue Wehr- (Heiterkeit)
beauftragte in den letzten Wochen zu den zunehmenden
Belastungen durch neue Auslandseinsätze der Bundes- Wir müssen gemeinsam darauf achten, dass der Be-
wehr geäußert hat. Er sprach von einer Bundeswehr, die richt des Wehrbeauftragten zu einer Blaupause oder
bis zur Oberkante ausgelastet sei. Im Hinblick auf einen – um einen Begriff des Generalinspekteurs zu gebrau-
(B) möglichen Einsatz deutscher Soldaten im Kongo könne chen – zu einem Living Document der Transformation (D)
er sich einen Einsatz, der über eine beobachtende Funk- wird.
tion und den Einsatz von wenigen Spezialisten hinaus- Ich danke für die Aufmerksamkeit.
gehe, nicht vorstellen. Die Bundeswehr könne nicht alles
und sie sei auch nur sehr beschränkt über ihr derzeitiges (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Engagement hinaus einsetzbar. Auch seien die Soldatin- der CDU/CSU)
nen und Soldaten nur schwer davon zu überzeugen, dass
ein solcher Einsatz notwendig ist. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich freue mich, dass Sie diese deutlichen Worte ge- Das Wort hat nun die Kollegin Anita Schäfer, CDU/
funden haben, auch wenn ich der Ansicht bin, dass es CSU-Fraktion.
hierbei weniger um die Frage geht, ob die Bundeswehr (Beifall bei der CDU/CSU)
aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten einen Einsatz
im Kongo bewerkstelligen kann. Vielmehr geht es da-
Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU):
rum, dass die Bundesregierung bis heute nicht plausibel
begründet hat, wodurch und inwiefern ein viermonatiger Meine Damen und Herren! In diesem Jahr blicken wir
Einsatz von 500 Soldaten im Kongo zu einer dauerhaf- auf 50 Jahre Wehrbeauftragter zurück. Diese Institution
ten Stabilisierung Zentralafrikas führen wird. In einer hat sich zum Schutz der Grundrechte der Soldaten voll-
SWP-Studie vom Februar dieses Jahres werden die Wah- auf bewährt. Sie gewinnt im Zeichen der Transformation
len aus Sicht der zur Wahl stehenden Präsidentschafts- als Frühwarnsystem an Bedeutung. Herr Wehrbeauftrag-
kandidaten als „Fortsetzung des Krieges mit anderen ter, Sie haben vor kurzem Ihren ersten Jahresbericht vor-
Mitteln“ bezeichnet. Gibt eine solche Einschätzung An- gelegt. Wie schon bei Ihrem Vorgänger zeichnet sich der
lass zu den allgemeinen Beschwichtigungsversuchen Bericht durch Offenheit, Klarheit und Sachkenntnis aus.
nach dem Motto „Alles wird gut“? Ihnen und Ihren Mitarbeitern danke ich im Namen mei-
ner Fraktion für Ihre wichtige Arbeit. Sie können auf un-
Unsere Soldatinnen und Soldaten haben sowohl bei sere Unterstützung zählen.
bestehenden Einsatzverpflichtungen als auch bei künfti-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
gen einen Anspruch auf ein plausibles Gesamtkonzept
der Abg. Elke Hoff [FDP])
mit einer belastbaren Exitstrategie. Fehlt es an einem
solchen Konzept, ist ein Einsatz nicht vertretbar. Sowohl Der Umbau der Bundeswehr zu einer Einsatzarmee
in dem vorliegenden Bericht als auch in dem für das Jahr ist zwar sicherheitspolitisch begründet, aber mit einem
2005 wird sehr deutlich, wie groß die Belastungen für enormen Veränderungsdruck verbunden. Umstrukturie-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2703
Anita Schäfer (Saalstadt)
(A) rung, Umstationierung und Neuausrichtung der Ausbil- Mittlerweile liegen die Schätzungen der Kosten für (C)
dung vollziehen sich gleichzeitig zu Planung, Vorberei- den geplanten Kongoeinsatz bei über 60 Millionen Euro.
tung und Durchführung internationaler Kriseneinsätze, Für mich als Mitglied des Verteidigungsausschusses ist
sozusagen eine Reparatur am laufenden Motor. Bislang nicht einsichtig, diese Lasten einseitig dem Einzel-
haben unsere Soldaten diesen Spagat gemeistert. Aber plan 14 aufzubürden.
der Bericht des Wehrbeauftragten 2004 enthält deutliche
Warnsignale. Wir müssen die Risiken der Transforma- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tion klar identifizieren und bei Bedarf korrigierend ein- Man kann als Außen- oder Entwicklungspolitiker nicht
greifen. Einsätze der Bundeswehr in Afrika fordern, die finan-
zielle Bewältigung aber dem Verteidigungsminister
Begründung, Planung und Durchführung von Aus-
überlassen. Hier müssen wir zu einer fairen Lastentei-
landseinsätzen erfordern das besondere Augenmerk von
lung zwischen den Ressorts kommen.
uns Parlamentariern. Es wäre fatal, wenn internationale
Kriseneinsätze der Bundeswehr als Routineangelegen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
heit wahrgenommen würden. Bundespräsident Horst wie des Abg. Martin Zeil [FDP])
Köhler hat ein „freundliches Desinteresse“ der Gesell-
schaft an unseren Streitkräften konstatiert. Das ist ein Eine einseitige Inanspruchnahme des Einzelplans 14
bedenklicher Vorgang, der mit dem Prinzip einer Parla- schadet der Planungssicherheit der Truppe. Denn diese
mentsarmee unvereinbar ist. Zu Recht erwarten die Sol- Gelder fehlen für verteidigungsinvestive Ausgaben. Wir
daten von uns Klarheit über den Sinn von Einsätzen. Sie brauchen sie dringend für eine optimale Einsatzausstat-
haben es angesprochen, Herr Wehrbeauftragter. Nur tung der Bundeswehr.
wenn ausreichend Klarheit besteht, ist eine breite Zu- Meine Damen und Herren, das Gros der laufenden
stimmung im Parlament möglich. Diese ist für die Legi- Bundeswehreinsätze sind Stabilisierungsmissionen. Sie
timation von Auslandseinsätzen unverzichtbar. werden auch in Zukunft das Einsatzprofil der Truppe
entscheidend prägen. Doch schon jetzt ist absehbar, dass
Im Mai steht die Abstimmung über einen Kongoein-
der Bundeswehr die Spezialisten ausgehen. Ich zitiere
satz deutscher Soldaten an. Leider ist es in der politischen
aus dem Bericht des Wehrbeauftragten 2004:
Debatte noch nicht gelungen, den Sinn dieses Einsatzes
hinlänglich klarzumachen. Wir müssen die deutschen In- Immer wieder und verstärkt wiesen Soldaten darauf
teressen an einem verstärkten Afrikaengagement klar de- hin, dass die Möglichkeiten der Spezialisten, na-
finieren. Für mich kommt es auf folgende Punkte an: mentlich der Fernmelder, des Sanitätspersonals, der
Pioniere und auch von Logistikern erschöpft
Erstens. Der Staatenzerfall in Afrika ist ein gravieren- seien …
(B) des sicherheitspolitisches Problem. Neue Rückzugs- (D)
räume für Terroristen können entstehen. Der Migrations- Dieser Trend bestätigt sich auch im Bericht des Wehrbe-
druck nach Europa verschärft sich weiter. Ein Einsatz, auftragten 2005. Hier werden explizit die Bereiche ope-
der zur Stabilisierung im Kongo beitragen kann, ist des- rative Information, Sanitätsdienst und Heeresflieger an-
wegen auch im deutschen Sicherheitsinteresse. geführt.
Zweitens. Afrika ist als Nachbarkontinent Europas Wenn das gegenwärtige Einsatzniveau gehalten wer-
ein wichtiger Rohstofflieferant und künftiger Markt. Die den soll, muss die Personalkonzeption der Bundeswehr
Ölzentren in Zentral- und Westafrika, die an die Demo- entschieden gegensteuern. Hier zeigt sich im Übrigen,
kratische Republik Kongo angrenzen, werden für die wie unverzichtbar die Wehrpflicht für eine nachhaltige
strategische Rohölversorgung des Westens zunehmend Personalplanung der Streitkräfte bleibt. Doch müssen
wichtig. Das betrifft natürlich auch uns als wichtige eu- wir zusätzlich kreativ in eine gezielte Nachwuchswer-
ropäische Industrienation. bung und attraktive Karriereplanung investieren. Die ge-
nannten Spezialisten sind das Rückgrat globaler Frie-
Drittens. Ein gesamteuropäisches Kontingent trägt denssicherungseinsätze.
unter dem Gesichtspunkt des Multilateralismus zur Stär-
kung der Vereinten Nationen bei. Wir unterstützen durch Meine Damen und Herren, gerade in Auslandseinsät-
diese Politik die Transformation der EU auf dem Weg zu zen beginnt oft ein Nachdenken der Soldaten über Werte,
einem globalen Akteur. über Sinn und Zweck des Lebens. Umso mehr benötigen
sie ein ethisch reflektiertes Berufsverständnis, das ih-
Nur wenn deutsche Interessen klar und einsichtig for- nen in schwierigen Entscheidungssituationen weiterhilft.
muliert sind, nur wenn ein breiter sicherheitspolitischer Wichtige Wegbegleiter im Einsatz sind die Militärseel-
Konsens im Parlament besteht, können unsere Soldaten sorger, dies nicht nur im Einsatzgebiet selbst, sondern
mit innerer Überzeugung in einen Einsatz gehen. auch in der Heimat, wo sie den Familien mit Rat und Tat
zur Seite stehen. Die Militärseelsorge muss deswegen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Auslandseinsätze auch künftig elementarer Bestandteil der Einsatzplanung
sind teuer. Allein im Haushaltsjahr 2005 schlugen sie im sein.
Verteidigungsetat mit rund 884 Millionen Euro zu Bu-
che. Das Ungleichgewicht zwischen Auftrags- und Mit- Die katholische Bischofskonferenz hat jüngst in ihrer
tellage der Bundeswehr ist längst nicht behoben. Umso Denkschrift „Soldaten als Diener des Friedens“ die Be-
mehr brauchen wir endlich einen fairen Finanzierungs- deutung der inneren Führung für Auslandseinsätze he-
schlüssel für Auslandseinsätze. rausgestellt:
2704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Anita Schäfer (Saalstadt)


(A) Die lebendige Weiterentwicklung des Konzepts der Die Zeit, die sich das Parlament für die Behandlung (C)
Inneren Führung ist eine der entscheidenden Vo- der inneren Verfasstheit der Bundeswehr nimmt, steht
raussetzungen für die friedensethische Legitimität hingegen in keinem Verhältnis zur gegenwärtig formu-
der Streitkräfte. lierten Anforderung an die Bundeswehr.
Dies müsse, so betonen die Bischöfe zu Recht, auch un- (Beifall bei der LINKEN)
ter multinationalen Einsatzbedingungen Geltung haben. Das 50-jährige Bestehen des Verfassungsinstitutes
Eine Erosion der inneren Führung in Konkurrenz zu Wehrbeauftragter findet leider nicht in angemessener
anderen militärischen Führungskulturen wäre für das Weise Würdigung.
moralische und politische Selbstverständnis der Bundes-
wehr ein gravierender Bruch. Hier stehen der Wehrbe- Warum sage ich das? Nur Deutschland verfügt über
auftragte und wir Parlamentarier in einer besonderen die Institution Wehrbeauftragter. Darauf wurde mit Stolz
Sorgfalts- und Beobachtungspflicht. bereits in der Debatte im Januar hingewiesen. Aber vor-
gezogene Neuwahlen ließen den Bericht von 2004 in den
Unsere Gesellschaft muss sich darüber im Klaren Hintergrund geraten, obwohl Handlungsbedarf besteht.
sein, dass – wie der langjährige Generalinspekteur Klaus Die Zahl der von Soldatinnen und Soldaten gemachten
Naumann formuliert hat – „der Soldat in letzter Konse- Eingaben stieg trotz sinkender Truppenstärke. Die Pa-
quenz ein Kämpfer ist“. Diese Eigenschaft unterscheidet lette der aufgeführten Vergehen reicht von schlechter
ihn von allen anderen Berufen und schließt die Bereit- Bezahlung über Missbrauch der Befehlsgewalt bis hin zu
schaft ein, sein eigenes Leben für den Dienst an seinem Rechtsextremismus und Diskriminierung. Diese Verge-
Land einzusetzen. Das verpflichtet uns nicht nur, ele- hen sind keine Einzelfälle und sie sollten uns zu der Er-
mentare Rechte und Schutzbedürfnisse unserer Soldaten kenntnis bringen, dass es eben nicht ausreicht, jährlich
zu beachten. Es erfordert auch ein ehrendes Andenken einen Mängelbericht entgegenzunehmen.
an diejenigen, die ihr Leben im Einsatz lassen mussten.
Wichtig sind die Konsequenzen, die daraus gezogen
Ich begrüße sehr, dass Verteidigungsminister Dr. Jung werden müssen. Wir fordern ein Management, welches
die Idee eines zentralen Denkmals in Berlin konsequent kontinuierlich, schnell und wirksam agiert. Versäum-
verfolgt. nisse können nicht nachträglich geregelt werden, Prä-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie vention muss im Vordergrund stehen.
des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP]) (Beifall bei der LINKEN)
Ich sehe darin einen wichtigen Beitrag, die gesellschaft- Der Bundestag muss seine Kontrolle noch effektiver
liche Diskussion über den Sinn von Streitkräften und die und umfassender ausüben. Die Möglichkeit der unange-
(B) Bedeutung militärischer Friedenssicherung aktiv zu füh- (D)
meldeten Besuche vor Ort wird viel zu wenig genutzt.
ren. Das sind wir unseren Soldaten schuldig; denn sie Gerade der Verteidigungsausschuss sollte die Arbeit des
sind es, die stellvertretend für uns alle die Risiken künf- Wehrbeauftragten unterstützen. Wir fordern ihn auch
tiger Gefahrenabwehr tragen müssen. dazu auf, mehr zu tun. Wir wollen ihn mehr in die Pflicht
nehmen, mehrere Berichte mit den nötigen Schlussfolge-
Vielen Dank.
rungen vorzulegen. Eine Aufzählung von Problemen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- oder Eingaben reicht uns nicht aus. Dies haben wir auch
neten der SPD und des Abg. Heinz-Peter bei den Beratungen dieses Berichtes im Verteidigungs-
Haustein [FDP]) ausschuss klargestellt. So manche Anmerkung im vorlie-
genden Bericht und in der Beschlussempfehlung könnte
Präsident Dr. Norbert Lammert: schon etwas zackiger formuliert werden. Mir sei folgen-
der Vergleich erlaubt – ich sitze in einem kommunalen
Das Wort hat nun die Kollegin Katrin Kunert, der ich,
Parlament –: In kommunalen Vertretungen wird mit
bevor sie das Wort erhält, gerne zu ihrem heutigen Ge-
Rechnungsprüfungsberichten verbindlicher umgegan-
burtstag gratulieren möchte. Alles Gute!
gen, als es meinem Eindruck nach hier geschieht.
(Beifall) Sehr geehrter Herr Robbe, Sie wissen, unsere Frak-
tion hat eigene Vorstellungen zur Bundeswehr. Wir sind
Katrin Kunert (DIE LINKE): für die Abschaffung der Wehrpflicht. Wir sind für die
Danke schön, Herr Präsident. Das Alter lassen wir Reduzierung der Truppenstärke auf 100 000 Soldatinnen
weg. Das würde sowieso niemand glauben. – Sehr ge- und Soldaten
ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hatten wir
Sehr geehrte Gäste! Die Bundeswehr ist heute an elf schon einmal!)
Standorten im Auslandseinsatz. Die Soldatinnen und
Soldaten leisten unter schwierigsten Bedingungen ihren und wir sind gegen Auslandseinsätze.
Dienst und sie machen ihn gut. Derzeit werden wieder
(Beifall bei der LINKEN)
Deiche gebaut und gesichert. Die Bundeswehr soll in
den Kongo geschickt werden und nach Auffassung des Aber gehen Sie einmal davon aus, dass wir bei der
Verteidigungsministers bei der Fußballweltmeister- Umsetzung des Soldatenbeteiligungsgesetzes genau
schaft zum Einsatz kommen. Ich könnte die Palette fort- hinschauen werden. Unserer Unterstützung, Herr Robbe,
führen. können Sie sich dabei sicher sein.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2705
Katrin Kunert
(A) (Beifall bei der LINKEN) kommission, die sich mit dieser Problematik intensiv (C)
befasste. Nach Vorlage des Berichts der Radarkommis-
Ich finde es im Übrigen ungünstig, dass Sie alle heute
sion sagte die Bundeswehr zu, die Empfehlungen der
da in der letzten Reihe sitzen.
Kommission eins zu eins umzusetzen. Dieses Vorgehen
Die Rechte der Soldatinnen und Soldaten stehen wurde vom Verteidigungsausschuss im September 2003
für uns im Mittelpunkt. Für uns verbietet sich jede Un- befürwortet.
gleichbehandlung. Wir erwarten von Ihnen, Herr Robbe,
dass Sie endlich die systematische Verletzung der ge- An dieser Stelle möchte ich mich insbesondere bei
setzlichen Vorgaben zur Wahrung der Wehrgerechtigkeit dem damaligen Parlamentarischen Staatssekretär Walter
aufgreifen. Im letzten Jahr haben nur weniger als Kolbow und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
60 000 Wehrpflichtige ihren Grundwehrdienst geleistet. für das außerordentliche Engagement bedanken. Der
Die Tendenz ist sinkend. Aber fast doppelt so viele leis- gleiche Dank gilt den Angehörigen des Bundes zur Un-
teten einen Ersatzdienst, der damit längst zum Regel- terstützung Radargeschädigter, ohne deren Mitwirken
dienst geworden ist. wir nicht so weit gekommen wären.

Herr Robbe, Sie nehmen heute zum zweiten Mal Kri- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
tiken und Hinweise für einen Bericht entgegen, den Sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nicht selbst geschrieben haben. Auch der Bericht 2005 Insgesamt haben 2 633 Soldaten und Beamte aus der
– das wurde schon gesagt – liegt vor. Die vielen Pro- Bundeswehr und der NVA einen Antrag auf Anerken-
bleme ziehen sich wie ein roter Faden durch diese Be- nung einer Wehrdienstbeschädigung gestellt, von denen
richte. Ich habe es auch schon im Ausschuss gesagt: Wer inzwischen 575 positiv beschieden wurden.
von dieser Armee viel verlangt, der muss sie bei den
Entscheidungen mitnehmen und muss sie verdammt Nachdem es aus Sicht des Bundes zur Unterstützung
noch mal auch sehr gut vorbereiten. Radargeschädigter bei der Bearbeitung von Versor-
gungsfällen aufgrund unterschiedlicher Interpretationen
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) zu unverständlichen Entscheidungen gekommen war,
Wir werden Sie sehr unterstützen. Wir erwarten von vereinbarten das Verteidigungsministerium und der
Ihnen aber auch mehr Eigeninitiative. Die Überprüfung Bund zur Unterstützung Radargeschädigter, solche Pro-
des Ausbildungssystems und die kritische Überprüfung bleme an einem runden Tisch zu beraten. Der runde
der Militärgerichtsbarkeit sind von Ihren Vorgängern Tisch nahm seine Arbeit im Dezember 2004 auf. Dieses
bisher stiefmütterlich behandelt worden. Lassen Sie uns für die Bundesrepublik bisher einmalige Dialogverfah-
mit diesen Themen beginnen! Ich wünsche uns eine gute ren ist positiv zu bewerten und hat in mehr als 17 Fällen
(B) und konstruktive Zusammenarbeit. zum Erfolg geführt. (D)
Herzlichen Dank. Viele der negativ beschiedenen Antragsteller haben
inzwischen von ihrem Recht Gebrauch gemacht und den
(Beifall bei der LINKEN) Klageweg beschritten.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Das Sozialgericht in Landshut bezieht sich in der
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Rolf Kramer Würdigung einer Klage wegen der Radarstrahlenproble-
für die SPD-Fraktion. matik ausdrücklich auf die Empfehlungen der Radar-
kommission und schlägt deshalb einen Vergleich vor. In
einer Stellungnahme vom 9. Februar dieses Jahres führt
Rolf Kramer (SPD): die Wehrbereichsverwaltung West dazu aus:
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von dieser Die 17 Mitglieder der (Radar-) Kommission gehör-
Stelle an Frau Kunert noch einmal die herzlichsten ten entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen
Glückwünsche zum Geburtstag! Allerdings muss ich Ih- an.
nen sagen, Frau Kollegin: Angesichts der deutschen Ge-
schichte und der deutschen Militärgeschichte bin ich Sie ahnen, was jetzt kommt.
froh darüber, dass wir keine zackige Armee mehr haben Ein Jurist war nicht beteiligt, so dass die Verfah-
und auch keinen zackigen Wehrbeauftragten haben. rensvorschläge demnach nur für den technischen
Auch in diesem Bericht geht der Wehrbeauftragte auf und medizinischen Fachbereich erfolgten.
die gesundheitliche Beeinträchtigung jener ehemaligen Es kommt aber noch besser. In einer Schlussfolgerung
Soldaten und Beamten der Bundeswehr und der Natio- kommt die Wehrbereichsverwaltung zu dem Ergebnis:
nalen Volksarmee ein, die während ihrer Tätigkeit ioni-
sierender Strahlung ausgesetzt waren. Ich will den Der (Radar-) Bericht hat keine rechtliche Verbind-
Schwerpunkt auf diesen Aspekt legen. lichkeit.
Bei vielen Betroffenen haben sich aufgrund der Strah- Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine glatte
leneinwirkung Krebserkrankungen entwickelt. Eine Umkehr der bisherigen Verfahrensweise. Dem Leiden
große Anzahl der Erkrankten ist inzwischen verstorben. der Betroffenen wird man damit in keiner Weise gerecht.
Der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundesta- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
ges beschloss im Juni 2002 die Einsetzung der Radar- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
2706 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Rolf Kramer
(A) Zu fragen ist auch, ob die gemeinsame Erklärung des blems zu finden sind, wo deutlich wird, dass es nicht um (C)
Bundes zur Unterstützung Radargeschädigter und des Einzelfälle geht und dass es eine erhebliche Dunkelziffer
Verteidigungsministeriums sowie der eindeutige gibt. Das ist hilfreich, um die Vorkommnisse entspre-
Wunsch des Verteidigungsausschusses hier nicht in ihr chend einordnen zu können. Insgesamt muss ich sagen,
Gegenteil verkehrt werden. dass sich das, was im Vorjahr schon beunruhigend war,
jetzt verschärft hat.
(Walter Kolbow [SPD]: Richtig!)
In diesem Jahr wird das Amt des Wehrbeauftragten
Auch die eindeutige Position des Bundesgesund- 50 Jahre alt. Wir können feststellen, dass dieses Amt für
heitsministeriums im Rundschreiben vom 20. Oktober die Streitkräfte in Rechtsstaat und Demokratie ein
2003 wird in ihr Gegenteil verkehrt. In dem Rundschrei- Leuchtturm ist und für gelebte innere Führung
ben heißt es:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Da in Folge der besonderen Sachlage die Exposi-
bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
tion (z. B. konkrete Strahlendosis) im Einzelfall
nicht mehr ermittelbar ist, unterstellt das Bundes- sowie angemessene und menschenwürdige Arbeitsbe-
ministerium der Verteidigung … die Wahrschein- dingungen der Bundeswehrangehörigen unverzichtbar
lichkeit des ursächlichen Zusammenhangs ist. Deshalb mein Dank nicht nur an diese Institution ins-
zwischen Strahlenexposition und bösartiger Erkran- gesamt, sondern auch an diejenigen Frauen und Männer,
kung. Die Frage einer Kannversorgung stellt sich die dieses Amt immer sehr lebendig ausgefüllt haben
deshalb in diesen Fällen nicht. und heute ausfüllen.
Es muss also versorgt werden. So weit und so eindeutig. Einige Mängel waren in dem Bericht 2004 sehr deut-
lich angesprochen worden. Sie existieren, zum Teil ver-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann im Inte-
stärkt, ebenso im Bericht des Jahres 2005. Dabei geht es
resse der Betroffenen nur hoffen, dass wir es hier mit
auch um Mängel, die von oberen Ebenen verursacht
dem Übereifer von wenigen Beschäftigten der Wehrbe-
sind, also nicht einfach nur um Fehlverhalten von Ein-
reichsverwaltung zu tun haben und nicht mit einer
zelnen. Ich möchte einige Mängel schlaglichtartig
Kehrtwendung in der Angelegenheit insgesamt. Die Ver-
ansprechen: die Situation der Infrastruktur, der Unter-
antwortlichen bleiben aufgefordert, schnellstens zu der
künfte; immer wieder werden unhygienische Verhält-
ursprünglichen Verfahrensweise zurückzukehren.
nisse angesprochen. Immer wieder gibt es auch Klagen
Noch ein weiterer Aspekt verdient in diesem Zusam- von Grundwehrdienstleistenden, dass sie die Erfahrung
menhang Erwähnung. Wie der Wehrbeauftragte bin auch machen, dass sie praktisch nicht gebraucht werden. Das
(B) ich der Meinung, dass man die Frage der Einrichtung ist verwunderlich angesichts der Tatsache, dass nur noch (D)
einer Stiftung noch einmal intensiv prüfen sollte – ob 10 Prozent der Wehrpflichtigen eines Jahrgangs ihren
speziell für die Strahlenopfer oder für Härtefälle im Be- Grundwehrdienst ableisten – man muss sich einmal vor-
reich des Verteidigungsministeriums allgemein, ist eine stellen, dass es für diese nicht genug zu tun gibt –, und
Frage der Zweckmäßigkeit. Ich denke, die Sachlage ist angesichts der Tatsache, dass die große Koalition die of-
es wert, geprüft zu werden. fensichtliche Fiktion von der Wehrpflicht durch voll-
mundige Bekenntnisse zu dieser zu verklären versucht.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Vorsitz: Vizepräsident Wolfgang Thierse)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Das dritte Dauerproblem ist schließlich die seit vielen
Präsident Dr. Norbert Lammert: Jahren völlig unzureichend umgesetzte Soldatenbeteili-
gung.
Das Wort erhält nun der Kollege Winfried Nachtwei,
Bündnis 90/Die Grünen. Es werden im Bericht vier Hauptsorgen genannt: stei-
gende Belastung durch Einsätze und Bereitschaften,
Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): erhebliche Verunsicherung durch den Transformations-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der prozess, reale Besoldungskürzungen und abnehmendes
Bericht des Wehrbeauftragten für das Jahr 2004 ist von öffentliches Interesse.
uns äußerst spät auf die Tagesordnung gesetzt worden. Auf zwei Punkte möchte ich noch kurz eingehen.
Ich will die Gelegenheit nutzen, nach der Vorgabe des
neuen Wehrbeauftragten auch den Jahresbericht 2005 Es ist regelrecht alarmierend, dass ältere Unteroffi-
gebührend zu berücksichtigen. ziere mit Portepee im so genannten Beförderungsstau
stecken. Es wird berichtet, dass die Verbitterung sehr
Es ist schon festgestellt worden, dass dieser Bericht groß ist.
– dieser Feststellung kann ich mich sehr anschließen;
das war auch ein Merkmal des vorherigen Wehrbeauf- Der Wehrbeauftragte unterstützt die Forderung des
tragten und wird bei dem neuen noch deutlicher – eine Bundespräsidenten, dass die überfällige, breit angelegte
sehr klare, deutliche und ungeschminkte Sprache enthält, Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik der
die wir gerade bei dieser Institution sehr gebrauchen Bundesrepublik inklusive Bundeswehr endlich begon-
können. Hilfreich ist auch, dass im Jahresbericht 2005 an nen wird. Diese Forderung ist sehr richtig und verdient
einzelnen Stellen Anmerkungen zur Dimension des Pro- unser aller Unterstützung.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2707
Winfried Nachtwei
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN also bei den Personen, die bei der Erziehung der Solda- (C)
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten eigentlich Vorbild sein sollten.
der SPD)
2004 gab es in der Bundeswehr 44 Todesfälle mit
Wir müssen aber feststellen, dass diese Forderung Verdacht auf Selbsttötung. In den Jahren davor gab es
zwar schon seit Jahren erhoben wird, dass sie aber fol- ähnlich hohe Zahlen. Erfreuliches meldet der Jahresbe-
genlos geblieben ist. Warum ist das so? Die Betroffen- richt 2005, über den wir noch zu reden haben. Das Wort
heit nimmt ab; das liegt auf der Hand. Daneben gibt es „Selbsttötung“ kommt darin nicht vor. Entweder gab es
Berührungsängste, die bewirken, dass manches heiße keine – was im Vergleich zu den Vorjahren ungewöhn-
Eisen nicht angefasst wird. Außerdem ist die Neigung lich wäre – oder die Zahlen wurden uns schlicht vorent-
zur Konsenspolitik gerade in Sachen Bundeswehr sehr halten. Hierzu wird es sicherlich weitere Information ge-
stark. Schließlich gibt es bei der Exekutive gerade in Be- ben.
zug auf die internationale Politik – ich will Ihnen, Herr
Minister, das jetzt gar nicht unterstellen; ich kenne das Bei der Ost- bzw. der Westbesoldung wird in beiden
aus eigener rot-grüner Erfahrung – ein sehr großes Inte- Berichten mit fast den gleichen Worten festgestellt, dass
resse an Handlungsfreiheit. Das alles wirkt einer solchen die Soldaten, die in den neuen Bundesländern eingesetzt
Grundsatzdebatte entgegen. werden, nur 92,5 Prozent der Bezüge ihrer Kameraden
aus den alten Ländern erhalten. Eine ungleiche Besol-
Herr Minister, Sie haben angekündigt, dass vor der dung in Ost und West ist ungerecht. Das ist politisch zu
Sommerpause das Weißbuch vom Kabinett verabschie- lösen.
det werden und dass es danach eine breite Debatte geben
soll. Ich meine, dies ist eine Illusion. Denn vor der Som- Der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe, dem ich für
merpause gibt es ein paar Tage eine Medienreaktion auf seinen Bericht danke, hat im Vorwort des Berichtes 2005
die Veröffentlichung des Weißbuchs und dann versandet in beachtlicher Offenheit darüber geschrieben, dass ein
die Diskussion. Es wird so laufen wie 2003 bei der De- Oberstleutnant in Kabul im November 2005 sein Leben
batte über die Verteidigungspolitischen Richtlinien und bei einem heimtückischen Anschlag verloren hat. Herr
wie 2000 bei der Debatte über die Vorschläge der Robbe kannte den Mann persönlich als fachkundigen
Weizsäcker-Kommission. und engagierten Menschen. Sein Tod führte ihm vor Au-
gen, welche Gefahren und Risiken die Auslandseinsätze
Mein Vorschlag ist daher: Bringen Sie das Weißbuch für Angehörige der Bundeswehr bergen.
vor der Sommerpause sozusagen in erster Lesung durch
das Kabinett. Mir selbst führte dieser tragische Tod vor Augen, wel-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) chen zukünftigen Gefahren und Risiken die Bundes-
(B) wehrsoldaten bei den kommenden Auslandseinsätzen (D)
Das wäre dann Ihr Aufschlag. So könnte man mit der ausgesetzt sind. Es darf niemals Normalität werden, dass
Debatte fortfahren. Bundeswehrsoldaten in Auslandskriegseinsätze ge-
schickt werden.
Die Voraussetzungen für eine gründliche Debatte sind
heutzutage so gut wie nie zuvor. Denn die Fraktionen (Beifall bei der LINKEN)
sind insgesamt sehr gut aufgestellt. Es wäre im Sinne der
Bundeswehrangehörigen, der interessierten Öffentlich- Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben klar-
keit, des Bundespräsidenten und des Wehrbeauftragten, gestellt, dass die Bundeswehr eine Verteidigungsarmee
wenn dieses Ansinnen von allen Fraktionen gebührend ist. Seit Anfang der 90er-Jahre wird Verteidigung so aus-
unterstützt würde. gelegt, dass Bundeswehrsoldaten global-strategische In-
teressen bedienen. Dies halte ich für verfassungswidrig.
Ich danke Ihnen. Minister Jung fordert eine Änderung des Grundgesetzes,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN damit die Bundeswehr noch leichter für Profitinteressen
sowie bei Abgeordneten der SPD) eingesetzt werden darf. Man darf aber nicht die Verfas-
sung der Realität anpassen, wie er es fordert. Vielmehr
hat sich die Realität nach der Verfassung zu richten.
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Diese Bundesregierung täte gut daran, sich an der Ini-
Winkelmeier. tiative Bill Clintons zu beteiligen und den Menschen-
rechtsorganisationen bei der Lösung von weltweiten
Gert Winkelmeier (fraktionslos): Konflikten Vorrang zu geben. Deutschland sollte öfter
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- seine zivile Visitenkarte abgeben und die militärische
ren! Da der Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten be- nicht zum Aushängeschild machen.
reits vorliegt, erlaube ich mir, einige Parallelen zu zie- (Beifall bei der LINKEN)
hen.
In dem Jahresbericht 2005 des Wehrbeauftragten ist Dann werden wir auch keine Toten mehr bei Auslands-
zu lesen, dass es 147 Fälle von Rechtsextremismus in einsätzen zu beklagen haben.
der Truppe gab. Das ist ein Anstieg um 10 Prozent ge- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
genüber 2004. Die Vorkommnisse gab es in allen Berei-
chen. 5 Prozent der Fälle geschahen in Offizierskreisen, (Beifall bei der LINKEN)
2708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Bildung begleitet die Soldaten vor dem Einsatz, während (C)
Ich erteile das Wort Kollegin Hedi Wegener, SPD- des Einsatzes und im letzten Schritt nach dem Einsatz,
Fraktion. um die Differenzen, die es gegeben hat, aufzudecken.
(Beifall bei der SPD) Ich habe schon im Januar gesagt – ich möchte es noch
einmal betonen –, dass die Bundeszentrale für politische
Bildung mit der Bundeswehr kooperiert und es deshalb
Hedi Wegener (SPD):
in dem Bereich eigentlich überhaupt keine Kürzungen
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch geben darf. Es geht darum, dass der Beitrag, den die Sol-
wenn der 2005er-Bericht schon mehrfach erwähnt datinnen und Soldaten zur Sicherung von Frieden und
wurde: Wir diskutieren heute über den Bericht von 2004. Freiheit leisten, auch der Bevölkerung nahe gebracht
Herr Minister und Herr Wehrbeauftragter, es tut mir wird, dass er gewürdigt und publiziert wird. Das heißt,
Leid: Sie müssen sich Ihre Lorbeeren erst noch verdie- politische Bildung wirkt in zwei Richtungen: zum einen
nen. Wir werden die Arbeit des neuen Wehrbeauftragten im Inneren der Bundeswehr, zum anderen nach außen, in
im Zusammenhang mit dem Bericht 2005 auf den Prüf- der Gesamtbevölkerung.
stand stellen.
Vorhin haben viele Jugendliche auf der Tribüne Platz
Heute geht es um den Bericht von 2004. Ich will mich genommen. Inzwischen hat das Publikum gewechselt.
in meinem Beitrag auf einen Punkt beschränken. Das ist Ich empfehle Ihnen, falls Sie mehr über das Thema wis-
die Frage der Sinnhaftigkeit der Einsätze, die sich die sen wollen, unter www.wehrbeauftragter.de nachzu-
Soldatinnen und Soldaten immer wieder stellen. Immer schauen.
wieder geht es – auch gerade jetzt bei einem möglichen
Einsatz im Kongo – um den Sinn der Auslandseinsätze. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Im Bericht des Wehrbeauftragten wird darauf hingewie- Grund [CDU/CSU])
sen, dass diese Frage in den Reihen der Bundeswehr im-
mer stärker diskutiert wird. Wir haben im Moment Vizepräsident Wolfgang Thierse:
7 416 Soldatinnen und Soldaten in Auslandseinsätzen. Ich schließe die Aussprache.
Das bedeutet, dass rund 30 000 Soldatinnen und Solda-
ten vorbereitet, nachbereitet und ausgebildet werden. Sie Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
sind in Afghanistan, im Kosovo, in Bosnien, im Sudan, gungsausschusses zum Jahresbericht 2004 des Wehrbe-
in Äthiopien, am Horn von Afrika und in Georgien im auftragten, Drucksachen 15/5000 und 16/909. Wer
Einsatz. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Stimmenthaltungen? – Die Beschlussemp-
(B) Im Bericht des Wehrbeauftragten wird darauf hinge- fehlung ist damit einstimmig angenommen. (D)
wiesen, dass vonseiten der Soldatinnen und Soldaten im-
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
mer häufiger die Frage nach dem Sinn ihres Tuns gestellt
wird. Auch in der Stellungnahme des BMVg wird darauf Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
hingewiesen, dass sich die Frage anders darstellt als in Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald
früheren Zeiten. Was heißt jetzt „anders“? Viele Solda- Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
ten fragen sich: Stimmt mein Einsatzauftrag mit dem, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
was ich hier tue, eigentlich überein? Bei einem wieder-
holten Einsatz – möglicherweise im gleichen Land – Dem Solidarsystem eine stabile Grundlage ge-
stellen sie sich die Frage: Hat sich eigentlich etwas ver- ben – für eine nachhaltige Finanzierungsre-
ändert? Hat es eigentlich etwas gebracht, dass ich hier form der Krankenversicherung
war? Hat unser Einsatz dem Land eigentlich einen Fort- – Drucksache 16/950 –
schritt gebracht? Haben die Menschen eigentlich etwas Überweisungsvorschlag:
von dem Einsatz? Ausschuss für Gesundheit (f)
Innenausschuss
Das Prinzip der inneren Führung will den selbststän- Rechtsausschuss
dig denkenden Staatsbürger in Uniform. Mitdenken kann Finanzausschuss
er aber nur, wenn er die Rahmenbedingungen seines Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auftrages kennt. Die politische Bildung in der Bundes- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
wehr ist verstärkt worden und passt sich den heutigen Si- Haushaltsausschuss
tuationen an. Das neue Aufgabenspektrum unserer
Streitkräfte stellt auch die politische Bildung vor neue Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Herausforderungen. Ich habe heute wieder von Ihnen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
vernommen, dass die Überarbeitung der Zentralen keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Dienstvorschrift ZDv 12/1 wirklich bald abgeschlossen Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kol-
sein soll. legin Birgitt Bender, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Ich habe einen Hinweis an die Haushälter, die jetzt
hier zuhören: Es kann doch nicht sein, dass die Mittel für Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
die politische Bildung gestrichen werden und wir gleich- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege
zeitig, gerade von der Bundeszentrale für politische Bil- Struck hat das Schicksal der großen Koalition an das Zu-
dung, ein Mehr an Aktivität verlangen. Die politische standekommen einer Gesundheitsreform geknüpft. Da
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2709
Birgitt Bender
(A) mag er Recht haben. Es ist in der Tat ein Test auf Ihre lich zur Stabilität des Systems bei. Da kann ich nur sa- (C)
Politikfähigkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen von gen: Er hat in der Sache Unrecht. Wenn die privat
der großen Koalition, ich sage Ihnen: Ein guter Anfang Versicherten mit ihren höheren Arzthonoraren zu etwas
ist nicht gemacht. Was hören wir nämlich heute? Wenn beitragen, dann ist das – das hat jüngst eine Studie ge-
du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis! zeigt – vielleicht die Überversorgung am Starnberger
Das ist das Motto, dem Sie jetzt folgen. See, aber nicht das Bedürfnis der Kranken etwa in der
Uckermark oder in den Problemzonen der Großstädte.
(Beifall des Abg. Markus Kurth [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN] – Elke Ferner [SPD]: Deswegen brauchen wir eine regelhafte und transpa-
Das ist billig, Frau Bender!) rente Einbeziehung der privaten Krankenversicherung
in den Solidarausgleich, und zwar so, dass das Geld bei
Was hört man sonst noch? Es gebe bereits ein biss-
den Menschen ankommt, die die Versorgung brauchen.
chen Einigkeit. Auch das lässt nichts Gutes hoffen; denn
Das ist eine der Mindestanforderungen, die wir Ihnen
die Einigungslinie, die sich abzeichnet, ist offenbar:
heute mit unserem Antrag mit auf den Weg geben.
Mehr Geld muss her! Deswegen gibt es geradezu einen
Überbietungswettbewerb in Sachen Geldquellen: Die ei- (Elke Ferner [SPD]: Das ist aber nett!)
nen sprechen von einer Steuererhöhung namens Gesund-
heitssoli, die anderen wollen eine Kopfpauschale auf die Bitte denken Sie daran: Eine Gesundheitsreform, die
Beiträge der Versicherten draufsatteln. nicht rationalen Erwägungen, sondern nur denen der po-
litischen Gesichtswahrung folgt, ist auch dann geschei-
Wieso sehen wir bereits im nächsten Jahr ein größeres tert, wenn sie zustande kommt.
Defizit in der GKV vor uns? Schauen wir es uns einmal
an. Das Defizit ist im Wesentlichen hausgemacht. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
große Koalition hat beschlossen, den Steuerzuschuss für
versicherungsfremde Leistungen in Höhe von mehr als Vizepräsident Wolfgang Thierse:
4 Milliarden Euro, den wir einmal gemeinsam – Rot- Ich erteile das Wort dem Kollegen Karl Lauterbach,
Grün mit der Union – beschlossen hatten, aufzuheben. SPD-Fraktion.
Außerdem belasten Sie die gesetzliche Krankenversiche-
rung mit einer höheren Mehrwertsteuer auf Arzneimittel.
Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Schließlich haben Sie beschlossen, die Krankenversiche-
rungsbeiträge für Arbeitslose herabzusetzen. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Ich darf mich zunächst einmal für die ein-
Das alles macht ein Defizit von mehr als 5 Milliarden leitenden Ausführungen von Frau Bender ganz herzlich
Euro aus. Ich nenne das ein „steinbrücksches Raubritter- bedanken. Ihr Beitrag erweckt den Eindruck, es ginge in (D)
(B)
tum“ zulasten der gesetzlich Versicherten. Das gehört der Gesundheitspolitik ohne die Mithilfe der Grünen
sich nicht. nicht mehr weiter.
(Beifall bei der FDP und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bei der Gesundheitsreform geht es auch nicht um fri- Ich glaube, dass es an uns ist, den gegenteiligen Ein-
sches Geld, wenngleich ich weiß, dass sich viele Leis- druck zu erwecken und in den nächsten Monaten den
tungserbringer darüber freuen würden. Es geht um nach- Beweis dafür zu erbringen, dass dieser Eindruck nicht
haltige Finanzierung. Wir alle wissen doch, dass eine täuscht, Frau Bender.
Gesundheitsversorgung, die in ihrer Finanzierung allein
auf den Arbeitseinkommen aufbaut, in die Zukunft hi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf
nein nicht tragfähig ist. Deswegen brauchen wir Beiträge von der FDP: Das sind aber hoch gesteckte
auch auf andere Einkommen, deren volkswirtschaftliche Ziele!)
Bedeutung zunimmt. Trotzdem muss ich mit einem Lob starten. Es ist in
Eine ernsthafte Reform muss auch einen einheitlichen der Tat richtig: Der Antrag bringt die Probleme des Sys-
Versicherungsmarkt und einen echten Wettbewerb zwi- tems auf den Punkt. Es werden vier Problemkreise aus-
schen den Krankenkassen – seien sie gesetzlich oder pri- gemacht, die ohne Wenn und Aber die dominierenden
vat – schaffen. Ich erinnere daran, dass die Niederländer Probleme des Systems sind.
diese Trennung, die sie auch noch hatten, jüngst abge-
Erstens. Die Finanzierungsbasis ist ungerecht. Ein
schafft haben. Wir drohen also zu den letzten Mohika-
Solidarsystem, an dem sich ausgerechnet die Einkom-
nern in Europa zu werden; das sollten wir uns nicht leis-
mensstärksten, diejenigen mit einem sicheren Arbeits-
ten.
platz, die Beamten, die gut verdienen, viele Kollegen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hier im Haus, nicht beteiligen, verdient den Namen „So-
lidarsystem“ nicht. Das Finanzierungssystem ist somit
Aber wenn es denn so ist, meine Damen und Herren ungerecht.
von der großen Koalition, dass die CDU/CSU das nicht
mitmacht, dann sollte es jedenfalls eine Beteiligung der Zweitens. Die Finanzierung ist nicht nachhaltig; auch
privat Versicherten am Solidarausgleich geben. Nun hat das ist richtig. Die Beiträge sind an Löhne und Gehälter
der Kollege Pofalla von der CDU dieser Tage ebendies gekoppelt. Löhne und Gehälter finanzieren das System
abgelehnt mit der Begründung, die höheren Rechnun- ausschließlich und wachsen nicht so schell wie das Brut-
gen, die die privat Versicherten beglichen, trügen erheb- toinlandsprodukt. Somit hinkt die Finanzierungsbasis
2710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Karl Lauterbach


(A) der Ausgabenentwicklung hinterher. Das führt zu stetig (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
steigenden Beitragssätzen. NEN]: Sollen wir der Regierung jetzt alle Ar-
beit abnehmen?)
Drittens. Dieses nicht nachhaltige System ist auch
noch schädlich für den Arbeitsmarkt. Weil die Finanzie- – Nein, aber Sie müssen doch ein bisschen über das hi-
rungsbasis nicht so schnell wächst wie die Ausgaben, nausgehen, was wir schon hatten. Ich sehe keine An-
müssen die Beitragssätze ständig steigen. Das belastet sätze.
den Arbeitsmarkt. Insbesondere in den neuen Bundes-
ländern fallen dadurch Arbeitsplätze weg. (Beifall bei der SPD)

Viertens. Wir haben zu wenig Wettbewerb. Wir haben Beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich
zu wenig Wettbewerb im System der privaten Kranken- sind wir schon weiter. Das Bundesministerium für Ge-
versicherung, im System der gesetzlichen Krankenversi- sundheit hat einen ganz konkreten Gruber-Vorschlag un-
cherung und auch zwischen den beiden Systemen. terbreitet, wie der Morbi-RSA funktionieren kann.
Alle vier Probleme sind somit korrekt benannt. Als (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das alte
Lösungsvorschlag wird hier im Großen und Ganzen das rot-grüne vielleicht, aber das neue nicht!)
Modell der Bürgerversicherung vorgeschlagen, so wie
Dazu finde ich in Ihrem Antrag keine Äußerung.
die SPD es entwickelt hat. Es gibt zwar einige Abwei-
chungen. Im Großen und Ganzen ist es aber identisch Neu in Ihrem Antrag ist lediglich Ihr Vorschlag – es
mit dem SPD-Modell. ist wenig Neues zu entdecken –, dass die Ehefrauen, die
Ich gehe den Vorschlag einmal durch: Es wird vorge- keine Kinder erziehen und nicht pflegen, nicht weiter
schlagen, andere Einkommensarten einzubeziehen. Das beitragsfrei mitversichert werden sollen. Ich bitte, noch
ist kein schlechter Vorschlag. Die privaten Krankenver- einmal darüber nachzudenken, ob das wirklich sozial ist.
sicherungen sollen in den Risikostrukturausgleich einbe- Viele dieser Ehefrauen haben früher Kinder erzogen
zogen werden. Auch das ist ein alter SPD-Vorschlag. oder gepflegt. Es gibt heutzutage nur wenige junge Ehe-
Der Morbi-RSA soll eingeführt werden. Dazu haben wir frauen, die, im Sinne einer Luxusehefrau, keine Kinder
schon einen konkreten Umsetzungsvorschlag entwickelt. erziehen und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung ste-
Die Mitversicherung der Kinder soll nicht strittig gestellt hen. Wir müssen also vorsichtig sein, dass wir nicht die-
werden. Das schlägt derzeit niemand vor. Es wird vorge- jenigen bestrafen, die früher in Familie investiert haben.
schlagen, mehr Wahlmöglichkeiten im System zu schaf- Der einzige neue Aspekt, den ich in Ihrem Vorschlag er-
fen. Auch das ist kein schlechter Vorschlag. Ich muss kennen kann, ist, zumindest in dieser undifferenzierten
aber feststellen: Es kommen keine neuen brauchbaren Form, nicht umsetzbar.
(B) (D)
Vorschläge hinzu. Mein Eindruck ist, dass den Grünen, Ich komme zu den Wahlmöglichkeiten. Sie wollen
seit wir nicht mehr zusammenarbeiten, keine neuen Vor- mehr Wahlfreiheiten und mehr Wettbewerb. Das kann
schläge zur Gesundheitspolitik eingefallen sind. ins Auge gehen, wenn man nicht vorsichtig ist. Wenn
(Beifall bei der SPD – Markus Kurth [BÜND- man darunter versteht – so wird es von der FDP oft vor-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil die so gut sind, geschlagen –, dass die Gesunden Leistungen, die sie
dass man sie erst einmal umsetzen muss!) nicht brauchen, abwählen können, werden diese Leistun-
gen für die Kranken nur umso teurer. Das ist ein Schritt
– Dass die Vorschläge gut sind, bestreite ich nicht. Ich in die falsche Richtung. Das ist eine Abwahl von Solida-
sage nur, es sind unsere guten Vorschläge, nicht Ihre. rität. Auf diese Wahlmöglichkeiten können und sollten
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir jederzeit verzichten.

Wie soll es weitergehen? Das reicht für einen ernst zu (Beifall bei der SPD)
nehmenden Antrag bei weitem nicht aus. Die Frage ist Ich glaube, ich kann zu diesem Antrag Stellung neh-
doch nicht, ob beispielsweise die anderen Einkommens- men, ohne meine Redezeit voll auszuschöpfen.
arten mit herangezogen werden sollen, sondern wie das
geschehen soll. Dazu sagt der Antrag nichts aus. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Nein, tu das
nicht! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- GRÜNEN]: Sie haben so wenig zu sagen?)
NEN]: Sagen Sie etwas dazu!)
In der Summe kann man sagen, dass die Aspekte, die aus
Wir stehen in der Entwicklung einer historischen Ge-
dem alten Solidarmodell der Bürgerversicherung aufge-
sundheitsreform. Frau Bender, Ihr Antrag bringt aber
griffen wurden, zu belobigen sind; neue Ideen sind Ihnen
noch nicht einmal einen kritisierbaren Vorschlag dazu,
aber nicht gekommen. Ich bin ganz sicher, dass wir ge-
wie die anderen Einkommensarten berücksichtigt wer-
meinsam mit der Union, in der großen Koalition, unbü-
den sollen.
rokratische Vorschläge zur konkreten Gestaltung eines
Es wird vorgeschlagen, die privaten Krankenversi- nachhaltigen, gerechten und solidarischen Gesundheits-
cherungen in den Risikostrukturausgleich einzubezie- systems erarbeiten werden, die wir Ihnen in Kürze unter-
hen. Das ist ein nobler Vorschlag. Sie machen aber keine breiten können. Diese Vorschläge werden die folgenden
Angaben dazu, wie das passieren soll. Geht es um die Fragen beantworten: Wie kann in unserem Gesundheits-
Versicherungen selbst oder sollen sich die Versicherten system Wettbewerb praktiziert werden? Wie kann es
am Risikostrukturausgleich beteiligen? Solidarität stärken? Wie kann dieses System nachhaltig
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2711
Dr. Karl Lauterbach
(A) finanziert werden, ohne dass es den Arbeitsmarkt belas- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
tet? NEN]: Wollen Sie sie abschaffen? – Elke
Ferner [SPD]: Sie waren bei Lahnstein gar
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. nicht dabei, oder wie?)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
– Sie haben doch die umfangreichsten Kostendämp-
der CDU/CSU)
fungsgesetze gemacht. Ich will aber gar nicht behaupten,
dass Schwarz-Gelb nicht auch einmal Fehler gemacht
Vizepräsident Wolfgang Thierse: hat. Das letzte, das Arzneimittelspargesetz, war auch
Kollege Lauterbach, das war Ihre erste Rede im Ple- nichts anderes als ein Kostendämpfungsgesetz.
num des Deutschen Bundestages. Herzliche Gratulation
und alles Gute für Ihre weitere Arbeit! Das heißt, wir wissen, dass uns die Beitragseinnah-
men fehlen. Wir wollen das Problem lösen, indem wir
(Beifall) versuchen, aus dem System heraus noch Wirtschaftlich-
Nun erteile ich das Wort Kollegen Daniel Bahr, FDP- keitsreserven zu erschließen, bzw. indem wir mit Budge-
Fraktion. tierung und Rationierungsentscheidungen immer weiter
auf die untere Ebene gehen. Deswegen kann man nicht
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) sagen, dass die gesetzliche Krankenversicherung bei den
Herausforderungen, vor denen sie steht, ein im Grund-
Daniel Bahr (Münster) (FDP): satz leistungsfähiges System ist.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine liebe Kollegin- Die erste Forderung muss doch sein: Wir brauchen
nen und Kollegen! Herr Professor Lauterbach, auch ich eine Finanzierung des Gesundheitswesens abgekoppelt
gratuliere Ihnen im Namen der FDP zu Ihrer ersten vom Lohn, damit wir endlich einen Beitrag für den Ar-
Rede. Wir freuen uns, dass wir nun die inhaltliche Aus- beitsmarkt leisten, aber eben nicht mit weiter steigenden
einandersetzung über den richtigen Weg, der in Deutsch- Krankenkassenbeiträgen oder Kostendämpfungsgeset-
land in der Gesundheitspolitik eingeschlagen werden zen. Wir müssen eine andere Finanzierung finden, die
muss, als Politikerkollegen im Plenum des Deutschen von der alleinigen Finanzierung über den Lohn losgelöst
Bundestages führen. ist.
Vor welchen Problemen stehen wir in der Gesund- Die Bürgerversicherung löst diese Probleme auch
heitspolitik? Die Finanzierung des Gesundheitswesens nicht. Die Bürgerversicherung wird nur kurzfristig
ist an den Lohn gekoppelt. Steigende Gesundheitsausga- Mehreinnahmen bringen, weil zusätzliche Geldquellen
ben führen zu steigenden Krankenkassenbeiträgen, was erschlossen werden. Wenn Sie auf Sparzinsen und Kapi- (D)
(B)
die Arbeitsmarktlage wiederum erheblich verschlechtert talerträge Beiträge erheben, haben Sie kurzfristig ein
und so zu steigender Arbeitslosigkeit führt. Das wie- bisschen mehr Geld. Aber das bedeutet, dass das Finanz-
derum verteuert die Ausgaben im Gesundheitswesen und amt den Krankenkassenbeitrag einzieht, dass das Fi-
führt zu Beitragsverlusten, sodass wir in eine Spirale ge- nanzamt sich darum kümmert, wie die Gelder für die
raten. Wir erleben, wie die Kopplung an den Lohn dazu Krankenkassen zusammen kommen. Wollen wir, dass
führt, dass sowohl der Arbeitsmarkt belastet wird als das Finanzamt sich darum kümmert, dass die Gelder die
auch das Geld in der gesetzlichen Krankenversicherung Krankenkassen erreichen? Es ist ja richtig: Wir müssen
fehlt. die Lohngebundenheit abschaffen. Und es ist richtig,
Das zweite Problem, vor dem wir stehen, ist die de- dass wir einen Solidarausgleich zwischen den Einkom-
mografische Entwicklung, die wir heute allerdings mensstarken zugunsten der Einkommensschwachen
noch nicht spüren. Das Hauptproblem der gesetzlichen brauchen.
Krankenversicherung ist zurzeit die massive Arbeitslo- (Elke Ferner [SPD]: Aha!)
sigkeit, die die Beitragseinnahmen der gesetzlichen
Krankenversicherungen mindert. Das große Problem der Aber diesen Solidarausgleich organisieren wir doch
alternden Bevölkerung – immer mehr Ältere gegenüber am besten über das Steuer- und Transfersystem.
immer weniger Jüngeren – steht uns noch bevor. Dafür (Elke Ferner [SPD]: Aha! Welche Steuer wol-
müssen wir endlich eine Lösung finden. Für beide Pro- len Sie denn erhöhen? – Iris Gleicke [SPD]:
bleme, sowohl für das Problem des Arbeitsmarktes als Die FDP, die Steuererhöhungspartei!)
auch für das demografische Problem, bietet die Bürger-
versicherung, wie sie die Grünen hier vorschlagen, keine Denn da wird jeder nach seiner Leistungsfähigkeit und
Lösung. seinen Einkommensarten herangezogen. Das ist besser
als das, was Sie mit der Bürgerversicherung machen
(Beifall bei der FDP) wollen. Denn den Solidarausgleich stoppen Sie letztlich
Wenn Sie, liebe Frau Bender, in Ihrem Antrag sagen, bei der Beitragsbemessungsgrenze.
dass die GKV ein „im Grundsatz leistungsfähiges und in (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Annette
der Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem“ ist, Widmann-Mauz [CDU/CSU])
dann kann ich Ihnen nur entgegnen, dass wir die gesetz-
liche Krankenversicherung seit Jahren nur dadurch am Das heißt, wenn ein Solidarausgleich unter Einkom-
Leben erhalten, dass ein Kostendämpfungsgesetz das an- mensarten stattfinden muss, dann wäre er über das
dere jagt. Steuer- und Transfersystem am zielgenauesten. Dann
2712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Daniel Bahr (Münster)


(A) werden die Einkommensstarken zugunsten derer, die Vizepräsident Wolfgang Thierse: (C)
einkommensschwach sind, herangezogen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Koschorrek,
CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das zweite Problem betrifft den Solidarausgleich. Es
heißt in Ihrem Antrag: Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU):
Gut Verdienende, deren Erwerbseinkommen über Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
der Versicherungspflichtgrenze liegt, können sich Kollegen! Der Antrag, den die Fraktion des
für die private Krankenversicherung … entschei- Bündnisses 90/Die Grünen heute einbringt, macht wie-
den, die keinen Solidarausgleich kennt. der einmal deutlich: Sie sind wirklich nicht mehr auf der
Höhe der Zeit, sondern holen Ihre alten Konzepte her-
Das muss man schon differenzierter sehen. Denn auch vor, die schon während Ihrer Regierungszeit nicht durch-
die private Krankenversicherung kennt natürlich, wie setzbar waren.
jede Versicherung, ein Solidarprinzip, nämlich das Soli- (Beifall bei der CDU/CSU)
darprinzip zwischen Gesunden und Kranken, zwischen
Jungen und Alten. Hier kommen wir genau zum Pro- So brachten Sie Ende Dezember letzten Jahres den Ent-
blem. Die Bürgerversicherung kennt, weil sie auf die wurf Ihres Antidiskriminierungsgesetzes textgleich in
Umlage aufbaut, eben keine Solidarität. Die Bürgerver- den Bundestag ein.
sicherung ist ein zutiefst unsolidarisches System, wenn (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir uns einmal die mangelnde Solidarität zwischen Jun- NEN]: Wo ist denn Ihr Vorschlag dazu?)
gen und Alten vor Augen halten. Die Bürgerversiche-
rung gibt die Lasten an die kommende Generation wei- Heute machen Sie dasselbe mit Ihrem Antrag zur Ein-
ter. Man kann alle Kritik an dem heutigen PKV-System führung einer Bürgerversicherung.
nennen – dass Altersrückstellungen nicht mitgenommen (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
werden können und andere Kritikpunkte –, NEN]: Haben Sie unseren Antrag eigentlich
(Elke Ferner [SPD]: Reichen denn die Rück- gelesen?)
stellungen aus?) – Ja. – Welches Konzept und welche Idee, die Sie in der
rot-grünen Regierung nicht gegen die Mehrheit der SPD
aber ein Prinzip wahrt die private Krankenversicherung, durchsetzen konnten, holen Sie eigentlich als Nächstes
Frau Ferner: Sie betreibt Vorsorge für kommende Gene- aus der Schublade?
(B) rationen. (D)
Ihr Antrag zur Reform der Finanzierung der Kranken-
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist doch nicht wahr!) versicherung, den Sie heute vorlegen, enthält weder kon-
krete noch brauchbare Vorschläge zur Lösung unserer
Sie bürdet die Last eben nicht kommenden Generationen Probleme.
auf und verfährt nicht nach dem Prinzip: Mir ist egal,
was nach mir geschieht. Sie betreibt vielmehr Vorsorge (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
für kommende Generationen, indem Altersrückstellun- Offensichtlich soll er vor allem eine Wirkung haben:
gen aufgebaut werden. Ihre Fraktion soll hier im Bundestag wieder einmal ein
(Beifall bei der CDU/CSU) Lebenszeichen von sich geben.
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ja, ge-
Von der CDU/CSU war ich positiv überrascht, da sie nau!)
bei den Reden von Herrn Lauterbach und Frau Bender
überhaupt nicht geklatscht hat. Als Frau Bender gespro- Und tatsächlich: Indem Sie diesen Antrag zur Ge-
chen hat, habe ich das erwartet. Aber bei der Rede von sundheitsreform zum jetzigen Zeitpunkt einbringen, ge-
Herrn Lauterbach, der ja der Partei Ihres Koalitionspart- ben Sie der Öffentlichkeit zu verstehen, dass die aktuel-
ners angehört, hätte ich schon damit gerechnet, dass Sie len Entwicklungen an den Politikern von Bündnis 90/
das eine oder andere Mal klatschen. Man kann sich also, Die Grünen relativ spurlos vorbeigegangen sind. Statt ei-
was die CDU/CSU betrifft, noch Hoffnung machen. nen konstruktiven Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion
zu leisten, packen Sie unbeirrt Ihr altes Konzept einer so
Gehen Sie nicht an die Altersrückstellungen der pri- genannten Bürgerversicherung wieder aus. In Ihrem
vaten Krankenversicherungen heran! Sie dürfen ein Antrag schreiben Sie, es seien „zumindest erste Reform-
funktionierendes, stabiles System nicht zugunsten eines schritte für eine verlässliche und nachhaltige Finanzie-
Systems schröpfen, das sich nicht trägt und selbst drin- rung der GKV erforderlich“. Warum diese Bescheiden-
gend reformbedürftig ist. Wir brauchen weniger Umla- heit? Warum nur „erste Reformschritte“? Hier sind wir
gefinanzierung und mehr Kapitaldeckung. in der Zwischenzeit deutlich weiter.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten NEN]: Oh, oh! Dann legen Sie doch auch mal
der CDU/CSU) etwas vor!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2713
Dr. Rolf Koschorrek
(A) An anderer Stelle heißt es in Ihrem Antrag: „Gräben cherungen äußerst beispielhaft. Sie können sogar als (C)
innerhalb des Regierungslagers dürfen aber nicht zum Vorbild dienen, weil sie dadurch, dass sie schon heute
Reformstillstand führen.“ Ich kann Ihnen versichern, Altersrückstellungen bilden, die Gerechtigkeit zwischen
dass diese Sorge unbegründet ist. Die unionsgeführte den Generationen garantieren.
Bundesregierung beendet gerade den von Ihnen zu ver-
antwortenden Reformstillstand in Deutschland. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der CDU/CSU – Birgitt Bender NEN]: Und was ist mit dem Wettbewerb?)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Im Ar-
beitskreis!) Zum Zweiten: Richtig ist, dass die Versicherten der
privaten Krankenversicherungen vielfach ein höheres
Die Bundesregierung realisiert ein neues Gesund- Einkommen haben als die der GKV. Richtig ist aber
heitssystem. Sie schafft ein grundlegend neues, auch, dass ein erheblicher Teil der 10 Prozent privat Ver-
zukunftssicheres System der gesetzlichen Kranken- sicherten in Deutschland ganz normale Beamte sind, und
versicherung, das eine qualitativ hochwertige Gesund- zwar nicht Beamte der hohen und höchsten Gehaltsgrup-
heitsversorgung für alle, unabhängig von ihrem Alter pen, sondern vor allem Polizisten und Lehrer; sie gehö-
und Einkommen, gewährleistet. Es wird ein solide, ge- ren bekanntlich nicht zu den Beziehern der höchsten
recht und nachhaltig finanziertes Gesundheitssystem Einkommen.
sein. Wenn man bedenkt, wie lange Sie schon mit Ihrer
Idee, zur Finanzierung unseres Gesundheitswesens eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Bürgerversicherung einzuführen, schwanger gehen, er- der FDP)
staunt es doch sehr, dass Sie in Ihrem Antrag so unkon- Die Selbstständigen sind eine weitere große Gruppe
kret bleiben. Er ist weder schlüssig noch ausgegoren. unter den privat Versicherten. Auch die Einbeziehung
In Ihrem Antrag stimmen Sie ein Loblied auf die von Selbstständigen wäre für die GKV nicht besonders
GKV an: Sie sei „ein im Grundsatz leistungsfähiges und attraktiv; denn Selbstständige werden in der GKV oft
in der Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem“. nur mit Mindestbeiträgen veranlagt. Für die gesetzlichen
Des Weiteren schreiben Sie: „Insbesondere der einkom- Krankenversicherungen ist es offensichtlich schon jetzt
mensabhängige Solidarausgleich trifft in der Bevölke- zu aufwendig, die genauen Einkommen von Selbststän-
rung auf hohe Zustimmung.“ digen zu ermitteln. Das wird dem System des Risiko-
strukturausgleichs überantwortet; darüber kann man
(Zuruf von der LINKEN: Das ist auch so!) durchaus auch diskutieren.
Wenige Zeilen später stellen Sie aber fest, dass es „mas- Würden die privaten Krankenversicherungen in ihrer
(B) sive Gerechtigkeitsdefizite bei den Prinzipien der Bei- heutigen Form zerschlagen, so hätten die gesetzlich Ver- (D)
tragserhebung“ gibt. sicherten davon keinerlei Vorteil. Die Einbeziehung der
privat Versicherten in die GKV bringt der GKV über-
An erster Stelle stehen dabei für Sie die privaten haupt keine Entlastung.
Krankenversicherungen und ihre Versicherten. Ihnen
werfen Sie vor, sich der Solidarität zu entziehen und so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der GKV und den GKV-Versicherten zu schaden. der FDP)
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das stimmt ja Als eine weitere Gerechtigkeitslücke nennen Sie die
auch!) beitragsfreie Mitversicherung von Ehegatten in der
GKV. Sie bezeichnen sie als einen sozialrechtlichen
In diesem Zusammenhang stellen Sie zwei populisti- Anachronismus und fordern, dass nicht erwerbstätige
sche, aber eben auch falsche Behauptungen in den Ehegatten auch einen Beitrag in die GKV einzahlen sol-
Raum: Erstens sagen Sie, die PKV kenne keinen Solidar- len
ausgleich. Zweitens führen Sie aus, ausgerechnet die
einkommensstärksten und im Durchschnitt auch gesün- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
desten 10 Prozent der Bevölkerung beteiligten sich nicht NEN]: Wenn sie nicht pflegen oder Kinder er-
an der Finanzierung der GKV. ziehen!)
Das muss endlich einmal richtig gestellt werden. – Soweit sie nicht Kinder erziehen oder Pflegeleistungen
in der Familie erbringen.
Zum Ersten: Die privaten Krankenversicherungen
kennen, wie alle anderen Versicherungen auch, sehr Eine Aussage, wie hoch ihr Beitrag sein soll und wie
wohl ein Prinzip der Solidarität; in diesem Fall geht es teuer die erforderlichen bürokratischen Kontrollmecha-
um die Solidarität der gesunden mit den kranken Privat- nismen sein sollen, finde ich in Ihrem Antrag nicht.
versicherten.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das kann ich Ihnen erklären!)
NEN]: Die werden doch gar nicht aufgenom-
men!) Erfreulicherweise haben Sie das grundlegende Pro-
blem der GKV zutreffend erkannt: Der stetige Anstieg des
Für junge Privatversicherte werden Altersrückstellungen Beitrags zur GKV hat wesentlich dazu beigetragen, die
angelegt, um Vorsorge für höhere Krankheitskosten im Arbeitskosten zu erhöhen. Sie haben auch richtig erkannt,
Alter zu treffen. Somit sind die privaten Krankenversi- dass die Einnahmen der GKV zu konjunkturabhängig sind.
2714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Rolf Koschorrek


(A) Sie wollen die erkannten Mängel, insbesondere die aus- zum Beispiel ganz unvermittelt behauptet, durch die vor- (C)
gemachten Gerechtigkeitslücken, beheben durch die Auf- geschlagenen Maßnahmen würde ein wesentlicher Bei-
hebung der Versicherungspflichtgrenze, die Ausweitung trag zur wettbewerblichen Weiterentwicklung des Kran-
des Versichertenkreises auf alle Bürgerinnen und Bürger, kenkassensystems geleistet.
die Ausweitung der Beitragspflicht auf alle Einkommens-
arten, also auch auf Mieten, Zinsen und sonstige Kapi- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da ist kein
taleinkünfte. Doch wie hoch die Krankenkassenbeiträge Wettbewerb! – Weiterer Zuruf von der FDP:
darauf sein sollen und wie sie erhoben werden sollen, sa- Da lachen wir uns ja tot!)
gen Sie nicht. Das hätten Sie wenigstens einmal durch- Wer da mit wem in Wettbewerb tritt und wie das funktio-
rechnen können! nieren soll, bleibt allerdings völlig offen; Sie verlieren
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- darüber kein Wort. Unerwähnt bleibt auch, ob und wie
NEN]: Haben wir!) die bislang paritätische Finanzierung – durch Arbeitge-
ber und Arbeitnehmer – fortgeführt werden soll.
– In Ihrem Antrag steht nichts dazu.
Ihr Antrag bleibt ein Fragment: Wesentliche Aspekte
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bleiben unberücksichtigt, zentrale Aussagen fehlen. Sie
NEN]: Schauen Sie mal auf unsere Home- verfolgen aus meiner Sicht nur ein einziges Ziel: den
page! Gehen Sie ins Internet!) Bürgern noch mehr Geld für die GKV aus der Tasche zu
ziehen.
– Wir diskutieren nicht, was auf Ihrer Homepage steht,
sondern Ihren Antrag. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da kursierten
in der letzten Zeit noch weitere solche Vor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schläge!)
Bündnis 90 fordert zwar die Entkopplung der Kran-
Das reicht aber bei weitem nicht, um die Krankenkassen
kenkosten von den Lohnkosten,
finanziell auf eine solide Grundlage zu stellen. Dazu
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Machen sie brauchen wir im Gesundheitssystem nicht immer mehr
aber nicht!) Geld, wir brauchen vor allem mehr Effizienz und weni-
ger Bürokratie als heute.
mit den im Antrag geforderten Schritten findet gerade
dies aber nicht statt. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir brauchen mehr Wettbewerb unter den Kassen, aber
(B) der FDP) auch unter den Leistungserbringern. CDU und CSU wol- (D)
len ein neues, zukunftsfähiges System der gesetzlichen
Vielmehr würden die Krankenkassen weiter an jeder Krankenversicherungen. Um zusammen mit unserem
Lohn- und Rentenerhöhung teilhaben; der Unterschied Koalitionspartner eine von der großen Mehrheit unserer
zwischen Brutto- und Nettoeinkommen würde sich wei- Koalition getragene Reform zu verwirklichen, entwi-
terhin stetig vergrößern. Ein gigantischer Verwaltungs- ckeln wir, ausgehend von unseren jeweiligen eigenen
und Kontrollaufwand wäre nötig, um alle Einkünfte lü- Konzepten, ein neues, gemeinsames, tragfähiges Kon-
ckenlos zu erfassen. Die Einbeziehung aller Bürger in zept.
die gesetzliche Krankenversicherung wäre zudem
– das wissen Sie – aus verfassungsrechtlichen Gründen Folgende Ziele stehen für uns dabei im Zentrum: eine
kaum zu realisieren; denn die privaten Versicherungen möglichst weitgehende Abkopplung der Gesundheits-
und die Ansprüche der privat Versicherten genießen kosten von den Lohnkosten und zugleich die Stabilisie-
durchaus Bestandsschutz. rung der Einnahmen im Gesundheitsbereich sowie ein
plurales System mit Kassenvielfalt, freier Arztwahl und
Die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zielen alle nur Therapiefreiheit. Für uns steht fest, dass es auch künftig
darauf ab, von einer größtmöglichen Zahl von Bürgern einen sozialen Ausgleich zwischen gesunden und kran-
zusätzliches Geld für die Krankenkassen einzutreiben. ken Menschen, zwischen den Beziehern höherer und
Es wird kein Gedanke und kein Wort darauf verwendet, niedrigerer Einkommen sowie zwischen Alleinstehen-
dass den so erzielten höheren Einnahmen auch entspre- den und Familien geben muss.
chend höhere Ausgaben gegenüberstehen. Es wird kein
Gedanke darauf verwendet, dass dies sogar zu steigen- Wir wollen eine Gesundheitsfinanzierung, durch die
den Beiträgen führen kann: wenn Ältere und Kranke, die die großen Chancen des Gesundheitssektors durch Wett-
bislang privat versichert waren, von dem Recht zur bewerb, Transparenz und Abkopplung von den Lohn-
Rückkehr zur GKV Gebrauch machen würden. kosten genutzt werden. Hier sind bereits heute
4,2 Millionen Beschäftigte tätig und es gibt zweifellos
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch ein beachtliches Wachstumspotenzial im Hinblick
NEN]: Die müssen nur ihre Altersrückstellun- auf neue und zusätzliche Arbeitsplätze.
gen mitbringen!)
Danke schön.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen lässt weitere
wesentliche Fragen offen, die für ein funktionierendes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Gesundheitssystem zweifellos wichtig sind: So wird neten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2715

(A) Vizepräsident Wolfgang Thierse: für zu machen, wie die vorwiegend davon betroffenen (C)
Ich erteile das Wort Kollegen Frank Spieth, Fraktion Millionen Ehefrauen ohne Arbeit und ohne eigenes Ein-
Die Linke. kommen zukünftig abgesichert werden sollen, hat das im
Grunde genommen die Wirkung, dass diese Menschen
(Beifall bei der LINKEN) ins soziale Abseits gedrängt werden. Die Ausgrenzung
aus der beitragsfreien Mitversicherung wird dazu führen,
Frank Spieth (DIE LINKE): dass von den Menschen, die jetzt schon nicht wissen,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! wie sie ihren täglichen Lebensunterhalt gewährleisten
sollen, ein zusätzlicher Krankenversicherungsbeitrag zu
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt kommt
erbringen ist. Ich meine, das müssen wir offen miteinan-
die Gesundheitsteuer!)
der diskutieren. Das ist keine Emanzipation, das ist so-
– Nein, Herr Bahr, seien Sie nicht so aufgeregt. Man ziale Ausgrenzung.
kann Ihre Vorstellungen ja kommentieren, das hatte ich
jetzt aber nicht vor. Ich möchte mich hier heute mit dem (Beifall bei der LINKEN)
Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auseinander setzen. Gleiches gilt für die nach meiner Auffassung unsäg-
Seien Sie versichert: Anderes tun wir an anderer Stelle. liche Debatte über die Lohnnebenkosten. Wer die Ar-
Dennoch möchte ich vorab eine Bemerkung zu der beitgeberbeiträge weiter senken will, reduziert – das ist
heutigen Pressekonferenz von Gesundheitsministerin die Schlussfolgerung – Leistungen oder verlangt von den
Schmidt und Unionsfraktionsvize Herrn Zöller in diesem Versicherten höhere Beiträge.
Hause machen. Dort wurde ziemlich klar zum Ausdruck (Elke Ferner [SPD]: Wer hat das denn gefor-
gebracht, dass mit der beabsichtigten Gesundheitsreform dert?)
erneut eines mit Sicherheit geschieht: Den gesetzlich
Krankenversicherten soll wieder ins Portemonnaie ge- Dies ist doch jahrelange Praxis. Ich kann Ihnen sagen:
griffen werden. Der Patient wird am Ende dieser Veran- Dieser Vorschlag wird auf unseren entschiedenen Wider-
staltung ganz offenkundig mehr zahlen und weniger aus stand stoßen.
der Krankenversicherung für das erhalten, was er mehr
(Beifall bei der LINKEN)
zahlen muss.
(Elke Ferner [SPD]: Wir können ja mal eine Wir sind wie die Grünen – das haben sie in ihrem An-
Wette abschließen!) trag geschrieben – für die Aufhebung der Versicherungs-
pflichtgrenze und die Ausweitung des Versichertenkrei-
– Wir werden eine Wette abschließen. ses. Wir wollen, dass alle hier lebenden Menschen in die
Krankenversicherung einbezogen werden. Ich meine,
(B) Alle in den letzten Wochen in den Medien lancierten (D)
dass in Ihrem Antrag noch eine Menge Fragen offen
Reformvorstellungen haben im Kern immer wieder eines sind. Wir wollen Sie bei diesem Antrag unterstützen, um
gemeinsam: Die Arbeitgeber werden entlastet. Das gilt eine vernünftige, solidarische und soziale Krankenversi-
für die Wahlmöglichkeiten, die nichts anderes als Teil- cherung zu realisieren.
kaskotarife sein werden, genauso wie für die Steuerfi-
nanzierung der Versicherung von bisher beitragsfrei mit- (Dr. Rolf Koschorrek [CDU/CSU]: Hört!
versicherten Kindern. Hört!)
Ich habe in diesem Hohen Hause in den letzten Wo- Lassen Sie uns deshalb Ihren Antrag um die notwendi-
chen – auch bei der Auseinandersetzung über den Haus- gen sozialen Aspekte erweitern! Dann werden Sie uns
halt der Bundesgesundheitsministerin in der vergange- bei dieser Reform an Ihrer Seite haben.
nen Woche – mehrfach darauf hingewiesen – Frau
Bender sagte dies bereits zu Recht –, dass wir ein massi- (Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr
ves Finanzproblem in der gesetzlichen Krankenversiche- [Münster] [FDP]: Das ist Sozialismus, Herr
rung haben und dass alle Fachleute für das kommende Spieth! – Zuruf von der SPD: Das ist ein ver-
Jahr von einem Defizit von circa 10 Milliarden Euro giftetes Geschenk!)
ausgehen. Die Probleme werden mit Sicherheit noch
deutlich größer. Deshalb müssen Reformvorschläge auf Vizepräsident Wolfgang Thierse:
den Tisch, durch die eine solidarische und soziale Kran- Ich schließe die Aussprache.
kenversicherung mit einem umfassenden Sachleistungs-
katalog gewährleistet wird. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/950 an die in der Tagesordnung aufge-
Mit ihrem Antrag zur Bürgerversicherung geht die führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen deshalb in wichti- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
gen Teilen in die richtige Richtung. Ich will aber auch so beschlossen.
dazu sagen – Herr Kollege Lauterbach hat zu Recht da-
rauf hingewiesen –: Einige Aspekte Ihres Antrags sind Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf:
durchaus kritisch zu sehen und daher nachzuarbeiten.
Erste Beratung des von der Bundesregierung
Es mag ja sein, dass es ein sozialrechtlicher Anachro- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neu-
nismus ist, die beitragsfreie Ehegattenversicherung regelung der Besteuerung von Energieerzeug-
erhalten zu wollen. Frau Bender, wenn Sie diese aller- nissen und zur Änderung des Stromsteuerge-
dings abschaffen wollen, ohne Alternativvorschläge da- setzes
2716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Vizepräsident Wolfgang Thierse


(A) – Drucksache 16/1172 – das weitgehend unberücksichtigt bleiben. Übrig bleiben (C)
Überweisungsvorschlag: kleinindustrielle Prozesse und der Hausbrand. Noch im-
Finanzausschuss (f) mer werden etwa 540 000 Haushalte in Deutschland mit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Kohlefeuerungsanlagen beheizt, die nach diesem Vor-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
schlag geringfügig besteuert werden; maximal sind das
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit etwa 11 Euro auf 50 Quadratmeter Wohnfläche. Trotz-
Ausschuss für Bildung, Forschung und dem muss man sich das noch einmal ganz genau anse-
Technikfolgenabschätzung hen.
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die CSU])
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das werden wir auch einvernehmlich tun.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Es gibt in diesem Gesetz eine alte Frage, die alle, die
Kollegen Reinhard Schultz, SPD-Fraktion. schon länger dabei sind, öfter beschäftigt hat: Wieso be-
steuern wir Erdgas als Kraftstoff und befreien es bis zum
Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): Jahr 2020 von der Steuer – das ist für die meisten von
uns außerhalb der politischen Reichweite –, behandeln
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
Flüssiggas aber völlig anders? Es gibt sicherlich Signale
war gerade sicherlich verwirrend, dass ich von der rech-
von den Fachleuten aus der Koalition, dass wir – anders
ten Seite dieses Hauses kam. Aber diese Koalition hat es
als es derzeit im Gesetzentwurf vorgesehen ist – in die-
so an sich, dass man völlig unbefangen miteinander
sem Punkt eine Gleichbehandlung herstellen werden.
kommuniziert. Das ist so schlecht nicht.
Das haben wir verabredet und ich denke, dass der Bran-
(Iris Gleicke [SPD]: Wir wissen aber, dass du che dieses Signal gegeben werden muss.
bei der Staatssekretärin warst!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
– Nein, aber ich stand dort gerade. CDU/CSU)
Es geht heute um die erste Lesung eines Gesetzent- Der zweite wichtige Punkt betrifft den Einstieg in die
wurfes mit zwei wesentlichen Inhalten. Der erste Punkt Besteuerung von Biokraftstoffen. Als wir die Biokraft-
ist die Umsetzung der Energiesteuerrichtlinie der EU in stoffe steuerfrei gestellt haben, haben wir einen Beihilfe-
nationales Recht. Dabei geht es um eine Harmonisierung tatbestand geschaffen. Wir sind gegenüber der EU
von Steuersätzen auf Energieprodukte innerhalb der ge- verpflichtet, regelmäßig eine Überprüfung auf Überför-
(B) samten EU. Für die Bürger ändert sich bei den meisten derung vorzunehmen. Wir können Biokraftstoffe nicht (D)
üblichen Steuersätzen nichts, weil Deutschland bei den beliebig subventionieren, sondern allenfalls die Kosten-
Sätzen für die Mineralölsteuer und andere Steuern schon nachteile bei ihrer Herstellung oder Nutzung durch eine
immer in einem vernünftigen Korridor gelegen hat. steuerliche Regelung ausgleichen. Wir dürfen nicht die
Einkommen der Biokraftstoffhersteller oder des -ver-
Einige neue Gesichtspunkte sind wichtig. Eine grund-
triebs individuell subventionieren; wir können nur für ei-
sätzliche Entscheidung ist, dass Primärenergie, die zum
nen Preisabstand sorgen, der die Wettbewerbsfähigkeit
Beispiel für die Stromerzeugung eingesetzt wird,
gewährleistet.
grundsätzlich steuerfrei gestellt wird. Die Alternative
wäre gewesen, alle Energieformen einschließlich der Dazu liegt ein Bericht des Finanzministers für die
Kohle zu besteuern. Das wiederum würde auf die Strom- Jahre 2004 und 2005 vor, in dem eindeutig festgestellt
kunden abgewälzt und würde die Industrie belasten. Da- wird, dass eine Überförderung gegeben ist. Die vorge-
von hat die Bundesregierung Abstand genommen. Ich schlagenen Steuersätze von 10 Cent je Liter für reinen
denke, die Koalition unterstützt das ausdrücklich. Biodiesel, 15 Cent für beigemischten Biodiesel und
15 Cent für reines Pflanzenöl sind aus einer Berechnung
Es gibt einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt, der
abgeleitet, die eine Überförderung ergeben hat. Das wird
in der Vergangenheit immer für Streit gesorgt und ein
ohne Frage noch zu Diskussionen führen. Ich halte die
Gefühl von Ungerechtigkeit bei den Betroffenen ausge-
Ableitung aber für plausibel. Beweise, dass es sich an-
löst hat, nämlich: Wie gehen wir mit Prozessen um, bei
ders verhält, sind nicht erbracht worden.
denen ein Stoff mithilfe des Einsatzes von Energie in ei-
nen anderen Zustand versetzt wird? Solche Umwand- Dass die Nutzer und Vertreiber mit uns Politikern
lungsprozesse werden künftig energiesteuerfrei gestellt. über jeden Cent verhandeln, ist völlig verständlich, weil
Das ist eine auch industriepolitisch wichtige Weichen- es dabei um ihr Einkommen geht. Ich wäre enttäuscht,
stellung. wenn sie es nicht versuchen würden. Wir müssen nur
darauf achten, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Pro-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
dukte gewährleistet ist, und von der Subventionierung
Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU])
einzelner Einkommen Abstand halten.
Bei einigen Problembereichen müssen wir noch mit-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
einander reden und im weiteren Verfahren diskutieren.
Aufgrund der Vorgaben der EU ist Kohle grundsätzlich Viel spannender als die Frage der Steuersätze ist – das
zu besteuern. Weil sie überwiegend in der Krafterzeu- haben sowohl die SPD als auch die CDU/CSU erklärt –,
gung in industriellen Prozessen eingesetzt wird, kann wie wir die Koalitionsvereinbarung umsetzen können,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2717
Reinhard Schultz (Everswinkel)
(A) die eine Abkehr von der steuerlichen Förderung von Ich bin überzeugt davon, dass der von uns eingeleitete (C)
Biokraftstoffen vorsieht. Diese soll durch ein Ordnungs- Prozess im Hinblick auf eine moderne und ökologische
instrument – nämlich das Beimischungsgebot – ersetzt Verkehrs- und Mobilitätspolitik gar nicht hoch genug
werden. „Beimischungsgebot“ ist ein untechnischer Be- eingeschätzt werden kann. Sowohl im Hinblick auf die
griff. Man kann zwar die Hersteller zwingen, dem Diesel von der EU vorgegebene Biomasse- und Biokaft-
oder Ottokraftstoff Biokraftstoff beizumischen, das stoffstrategie als auch im Hinblick auf die international
würde aber eine Absage an reine Biokraftstoffe bedeu- gebotene CO2-Minderung müssen wir neben den mine-
ten. Da wir das nicht wollen, schwebt uns eher die Ein- ralölhaltigen Kraftstoffen die Chancen nutzen, die uns
führung einer unternehmensbezogenen Quote für die die Biokraftstoffe der ersten und der zweiten Generation
Mineralölunternehmen vor. Das heißt, im Verhältnis zum bieten. Wir müssen heute das Tor zu einer vernünftigen
Mineralölumsatz müssen sie einen bestimmten – an- Zukunft sowohl für die Umwelt als auch für unsere Wirt-
spruchsvollen – Prozentsatz an Biokraftstoffen in den schaft aufstoßen.
Verkehr bringen, ob nun als Beimischung oder in Rein-
Vielen Dank.
stoffform.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
In diesem Zusammenhang besteht die Sorge, dass die der CDU/CSU)
ganze Branche, die sich aufgrund der alten steuerlichen
Regelungen darauf verlassen hat, dass sie zumindest in
einer Übergangssituation bis zum Jahr 2009 steuerlich Vizepräsident Wolfgang Thierse:
gefördert wird, sozusagen über die Kante kippen könnte. Ich erteile das Wort Kollegen Hermann Otto Solms,
Wir werden gemeinsam mit der Bundesregierung sicher- FDP-Fraktion.
stellen, dass ein Modell gewählt wird, das ohne steuer- (Beifall bei der FDP)
liche Förderung auskommt, aber mit dem eine Als-ob-
Situation geschaffen wird. Das heißt, die Hersteller von
Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Biokraftstoffen und die gesamte daran hängende Pro-
Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
duktionskette würden einen Mindestpreis in der Höhe er-
men und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
zielen, als ob die Steuervergünstigung bis 2009 noch ge-
ist schon interessant. Die schwarz-rote Koalition, die erst
geben wäre.
vor wenigen Tagen einen groß inszenierten Energiegip-
Das ist ein sehr faires Angebot, denke ich. Aber damit fel abgehalten hat, konnte sich bislang nicht auf eine ge-
ist auch die Verpflichtung des Gesetzgebers, Vertrauens- meinsame energiepolitische Strategie einigen und hat
schutz zu gewährleisten, zunächst einmal erfüllt. viele Arbeitsgruppen eingesetzt. Es liegt also noch gar
kein klarer Plan vor. Aber bevor Sie wissen, was Sie tun (D)
(B) Wie kann es danach weitergehen?, fragt sich die wollen, langen Sie als Steuergesetzgeber schon einmal
Branche; denn bis 2009 ist es nicht mehr lange hin. Wir zu. Es wird behauptet, dies erfordere die Umsetzung der
müssen einen großen Biokraftstoffmarkt schaffen. Wir europäischen Energiesteuerrichtlinie. Tatsächlich ist eine
wollen, dass die Quoten in diesem Bereich höher sind als solche Besteuerung nicht erforderlich. Auch der 1. Au-
die der Beimischungen, damit auch ein großes Markt- gust 2006 ist als Termin nicht vorgegeben. Das alles ist
segment für reine Kraftstoffe erhalten bleibt. Das kann nur ein Vorwand, um so schnell wie möglich Kasse zu
gegebenenfalls auch durch Aufspaltung der Quote in machen.
eine für Dieselkraftstoffersatz und eine für Ottokraft-
stoffersatz erfolgen, wenn sich das als notwendig erwei- (Beifall bei der FDP)
sen sollte. Eine Politik ohne Strategie macht aber keinen Sinn.
(Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen verwundert es mich nicht, dass der Kollege
Schultz gesagt hat, ihm „schwebe“ etwas vor. Sie wissen
Wir wollen keine nationale Kraftstoffstrategie, die so- offensichtlich noch nicht genau, was Sie machen wollen,
zusagen von der Apotheke lebt. Die Zeiten, als der alte weil Sie natürlich die Empörung der Betroffenen zur
Benz sein erstes Auto an der Apotheke betankt hat, sind Kenntnis genommen haben. Tatsächlich ist es ein Ver-
vorbei. Mit einem einzigen Ölkännchen moderne ökolo- trauensbruch von Ihrer Seite, meine Damen und Herren
gische Mobilität erzeugen zu wollen, ist ebenfalls ein von der SPD; denn Sie haben zu Zeiten der rot-grünen
aberwitziger Gedanke. Wir wollen industrielle Prozesse Regierung zugesagt, dass die Biokraftstoffe bis 2009
mit industrieller Logistik. Aber wir wollen die mittel- unversteuert bleiben.
ständischen Hersteller mitnehmen und die Wertschöp-
fung so weit wie möglich im Lande lassen. Das bezieht (Ulrich Kelber [SPD]: Warten Sie es ab!)
sich insbesondere auf die landwirtschaftlichen Herstel- Dieser Vertrauensbruch hat natürlich Auswirkungen.
ler. Ich bin sicher, dass wir im Gesetzgebungsverfahren Als die Landwirte sich an ihre letzte Winterbestellung
eine Anschlusslösung finden werden, die einen großen gemacht haben – diese Regierung war damals noch gar
Markt eröffnet und gleichzeitig die Interessen der mittel- nicht zusammengetreten –, wussten sie ja nicht, dass die
ständischen Unternehmer an einer Wertschöpfung im ei- Ernte hinterher besteuert werden soll. Diejenigen, die in
genen Land genauso berücksichtigt wie die Interessen Raps- und Ölmühlen investiert haben, sind natürlich da-
der Mineralölindustrie, die ebenfalls zuverlässige Rah- von ausgegangen, dass sie bis 2009 einen relativ siche-
menbedingungen erwartet. ren Preisvorteil des Biodiesels haben würden.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])
2718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Hermann Otto Solms


(A) – Sie als Partei haben das zugesagt. Sie missbrauchen Vizepräsident Wolfgang Thierse: (C)
nun das Vertrauen der Betroffenen. Ich erteile das Wort Kollegen Norbert Schindler,
CDU/CSU-Fraktion.
(Ulrich Kelber [SPD]: Ja, wo denn?)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Sie ändern Ihre zugesagte Strategie, indem Sie eine Be- neten der SPD – Reinhard Schultz [Everswin-
steuerung auf den Weg bringen. kel] [SPD]: Das Vertragsverletzungsverfahren
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans- nicht vergessen! – Abg. Norbert Schindler
Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – [CDU/CSU] trinkt einen Schluck Wasser –
Ulrich Kelber [SPD]: Warten Sie doch mal den Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist nur Was-
endgültigen Beschluss ab! Das sollten Sie als ser!)
Parlamentarier schon tun!)
Norbert Schindler (CDU/CSU):
Die von Ihnen geplanten Steuersätze sind zu hoch. Ich hätte jetzt lieber einen gescheiten Rotwein getrun-
Das sagen alle Experten. Der Preisvorteil von Rapsöl ken; aber das ist in diesem Parlament nicht erlaubt.
und anderen Ölen, der notwendig ist, um sie in Verkehr
zu bringen – sie werden in erster Linie von Transport-
unternehmen genutzt –, muss aber bestehen bleiben, Vizepräsident Wolfgang Thierse:
weil die Infrastruktur dafür nicht so ausgebaut ist wie bei So weit sind wir noch nicht.
herkömmlichen Mineralölen. Die Biokraftstoffbranche
lebt nun in der Angst, dass sie einen großen Rückschlag Norbert Schindler (CDU/CSU):
erleiden wird. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
(Beifall bei der FDP) Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Worum geht es heute
überhaupt? Draußen in den Regionen gibt es bewegte
Schließlich führt die unterschiedliche Besteuerung je Diskussionen über die Zukunft der Besteuerung von
nach Verwendung zu einem erheblichen Kontrollauf- Biokraftstoffen. Es gibt da große Empfindlichkeiten; der
wand. Land- und Forstwirte sollen nach Ihren Plänen un- Vertrauensschutz ist, wie in den Diskussionen angespro-
versteuerten Biodiesel einsetzen können, während das chen wurde, heftig infrage gestellt.
Speditionsgewerbe nur versteuerten Biodiesel verwen-
Es geht aber nicht nur um diesen wichtigen Teilbe-
den darf. Da die Gefahr des Missbrauchs besteht, müs-
reich, über den vor allem in den ländlichen Regionen
sen Sie für entsprechende Kontrollen sorgen.
diskutiert wird. Vielmehr geht es um die Umstellung der
(B) (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das Besteuerung von Strom, Gas, Steinkohle und Braun- (D)
machen wir doch jetzt schon! Beim Agrar- kohle sowie Koks und es geht um die Einführung einer
diesel!) Besteuerung neuer Energieträger, die unabhängig von
der Stromerzeugung als Ersatz fossiler Energieträger
Sie müssen also eine neue Bürokratie aufbauen, bevor eingesetzt werden.
Sie ein durchgängiges Konzept entwickelt haben. Das
macht doch keinen Sinn. Wir haben 2003 im Bundestag parteiübergreifend und
einstimmig eine Steuerbefreiung alternativer Energie-
Nehmen Sie das Gesetz zurück! Es ist nicht zu Ende träger beschlossen. Sie hat einen sehr starken Sog er-
gedacht. zeugt. Das brachte uns in der EU den Vorwurf ein, der
deutsche Gesetzgeber habe bewusst durch Überkompen-
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-Josef sation Vorteile geschaffen. Jetzt befürchtet der Bundes-
Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) finanzminister mit Recht, dass das Ausweichen der Spe-
Es passt insbesondere nicht mit dem geplanten Bei- diteure, der Omnibushersteller, der Städte und der
mischungszwang zusammen, der ein halbes Jahr später übrigen Wirtschaft auf alternative Kraftstoffe zulasten
in Kraft gesetzt werden soll. Machen Sie stattdessen ein der Staatseinnahmen geht und ein Loch von 1,4 bis
Gesamtkonzept, das in sich stimmig ist, das das Ver- 1,7 Milliarden Euro aufreißt. Das ist der Hintergrund.
trauen der Betroffenen – der Bürger, der Landwirte, der Diese Koalition ist angetreten, die defizitäre Lage des
Forstwirte, aber auch der Speditionsunternehmen – er- Bundeshaushaltes in der nächsten Zeit in Ordnung zu
hält und aufbaut und das – was das Entscheidende ist – bringen. Steuerausfälle unberechenbarer Art dürfen da
einen neuen Markt in Deutschland schafft, durch den die nicht passieren.
Menschen auf dem Lande wieder die Arbeits- und Pro- In diesem ersten Gesetzgebungsverfahren müssen wir
duktionsmöglichkeiten erhalten, die sie nach und nach besondere Ziele verfolgen. Herr Solms, Sie sagen, man
verloren haben. Das ist eine große Chance. Es macht könne mit der Umsetzung der EG-Richtlinie noch war-
wirklich keinen Sinn, diese Chance um einen Silberling ten. Uns droht unter Umständen ein Verfahren. Das wis-
zu vertun. Diese voreilige Besteuerung zum 1. August sen auch Sie. Es ist schon interessant, wie die FDP heute
dieses Jahres ist falsch. Ziehen Sie den Gesetzentwurf redet. Ich denke an die Diskussion über die Zucker-
zurück! marktordnung vor einem Jahr, als es hieß, der Welt-
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. marktpreis müsse zum Maßstab genommen werden. Der
Ansatz der FDP in der Frage der Biokraftstoffbesteue-
(Beifall bei der FDP) rung in Bezug auf diesen Gesetzentwurf entspricht nicht
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2719
Norbert Schindler
(A) ihrem Credo. Das muss ich in Erinnerung rufen, obwohl Finanzausschuss wieder damit befassen. Danach wird (C)
ich in der Sache keinen Streit anfangen will. dieser Gesetzentwurf abschließend im Plenum beraten.
Natürlich werden auch die Einwände des Bundesrates
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
gehört werden. Ich sage hier aber deutlich: Für den Bun-
Das In-Kraft-Treten der EG-Richtlinie am 31. Okto- desrat ist es leicht, Gesetzentwürfe dieser Art zu be-
ber 2003 hat dieses Gesetzgebungsverfahren erforderlich schließen, solange es sich – wie bei der Mineralölsteuer –
gemacht. Mittlerweile sind wir spät dran. Deswegen um eine Bundesangelegenheit handelt. Es macht sich na-
können wir leider Gottes nicht mehr warten. Es ist aber türlich gut, im Lande kraftvoll zu verkünden, was man in
unser erklärtes Ziel – das darf ich für beide Koalitions- Berlin alles fordert, wenn man keine Verantwortung für
fraktionen sagen –, über das Gesetz über einen Beimi- den Bundeshaushalt hat.
schungszwang, das zum 1. Januar 2007 wirksam werden
soll, und über die jetzige Regelung zur Behebung der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Überkompensation in der Sache gemeinsam zu diskutie- Der jetzige Referentenentwurf – er stammt vom
ren. 16. März dieses Jahres – ist Grundlage der Debatte. Mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dem Selbstverständnis eines Abgeordneten sage ich:
Was die Regierung vorgibt, ist noch lange nicht Gesetz.
Es kann nicht sein – das verstünde draußen keine Haus-
frau –, dass wir heute die eine Diskussion führen und im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
August die andere anfangen. Es geht auch um Planungs- Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist das
sicherheit für Investoren. Wir verstehen das als einen ge- strucksche Gesetz!)
meinsamen Auftrag und wir werden ihn erledigen. Wir
Wir sind die Volksvertreter, die das Gesetz gegenüber
werden dafür sorgen, dass die rechte Hand weiß, was die
der Bevölkerung zu verantworten haben. Wir werden die
linke Hand tut, und umgekehrt.
Expertenanhörung abwarten.
(Beifall des Abg. Reinhard Schultz [Everswin-
kel] [SPD] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Auch was diese Diskussion angeht, rate ich dringend
Das ist gut, Norbert!) dazu, nicht morgens, mittags und nachmittags Wasser-
standsmeldungen zu diesem Thema abzugeben. Das irri-
Der Finanzminister hat zu Recht festgestellt, dass es tiert die Kundschaft, den deutschen Verbraucher, weil er
eine Überförderung gibt. Mir als praktizierendem Land- befürchten muss, dass es zu einer Erhöhung der Mineral-
wirt und Mitglied des Finanzausschusses tut es schon ein ölsteuer kommt. Das ist absolut nicht vorgesehen. Au-
bisschen weh, anerkennen zu müssen: Bei den Spediteu- ßerdem irritieren solche Meldungen die Investoren und
ren hat sich in der letzten Zeit ein Sog in Bezug auf un- die Mineralölwirtschaft insgesamt. Die Kombination (D)
(B)
sere Rapsmühlen entwickelt. Aus betriebswirtschaftli- dieser beiden Gesetze ist schon eine große Sache. Wir
chen Gründen ist dieser Sog natürlich berechtigt. Wenn müssen sehen: Der Vertrauensschutz für die ländliche
die Umstellungskosten durch Vorteile pro Liter – ich Bevölkerung bei den Investitionen ist eine unserer Vor-
spreche ganz vorsichtig von einer Größenordnung jen- gaben für 2009.
seits von 10 Cent – bei Leistungen von 800 000 Kilome-
tern bis 1 Million Kilometern relativ schnell gedeckt Es muss aber auch berücksichtigt werden, was wir im
werden können und man diesen Markt verstärkt nutzt, Hinblick auf die europäische bioenergetische Produk-
dann ist das betriebswirtschaftlich absolut in Ordnung. tion in Zukunft beachten müssen. Auch ich sehe die Ge-
Dennoch sagt Herr Steinbrück: Auch mein Haushalt fahr – die sehen wir alle –, dass das europäische Preis-
muss in Ordnung bleiben. niveau durch Kampfpreisangebote an den Häfen
unterlaufen wird. Ich verweise auf den Energiegipfel bei
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Kanzlerin in dieser Woche, Herr Solms. Natürlich
NEN]: Was sagst du?) wollen wir die Wertschöpfung innerhalb Europas und
Die EU wirft uns vor: Ihr lasst hier einen besonderen vor allem im ländlichen Raum auf Dauer sicherstellen.
Subventionstatbestand zu. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist ein absolut wichtiges Ziel.
der SPD)
Der Kollege Schultz hat schon ausgeführt, inwieweit
Was die Biokraftstoffbesteuerung angeht, müssen
wir Erdgas und Flüssiggas unterschiedlich zu behandeln
wir über die verschiedenen Elemente reden. Die damit
und zu bewerten haben. Man muss offen über Zeiträume
verbundenen Fragen müssen bis 2007 geklärt werden.
reden. Ich persönlich füge hinzu: Schifffahrt und Luft-
Bei der Bioerzeugung geht es nicht nur um tierische
fahrt sind derzeit außen vor. Aber bezüglich des Themas
Fette und nicht nur um Raps, ob kaltgepresst oder ver-
Flugbenzin hat die EU dringendst ihre Hausaufgaben zu
edelt – Stichwort RME, Rapsmethylester –, sondern
machen; in diesem Bereich muss es EU-weit Gleichheit
auch um ETBE; das ist die veredelte Form von Ethanol.
geben. Anderenfalls könnte der Fall eintreten, dass an
Wir haben jetzt Zeit, darüber gemeinsam zu diskutie- der Donau Austauschbarkeit besteht, weswegen Schiffe
ren. Am 17. Mai findet die erste Anhörung im Finanz- über den Rhein-Donau-Kanal bis nach Rotterdam fah-
ausschuss statt. Über Ostern werden wir genug Informa- ren, ohne dass Deutschland davon profitiert. Ein EU-
tionen bekommen, um die gesamte Palette durcharbeiten Wirtschaftsraum muss auch insofern Steuergleichheit
zu können. Nach der Anhörung am 17. Mai wird sich der bringen.
2720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Norbert Schindler
(A) Das Gleiche sage ich für die Landwirtschaft. Die Der muss kommen, getrennt für Ethanol, Kraftstoffe für (C)
Mineralölsteuervergütung, die wir jetzt noch haben, den Ottomotor und Gasölbeimischung bei Raps- oder
die in diesem Gesetz auch angesprochen wird, bleibt. Dieselöl.
Basta! Da mache ich es wie der Altkanzler.
Danke schön.
(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
CSU])
Wenn wir über EU-weite Angleichung reden, muss die- Vizepräsident Wolfgang Thierse:
ses Thema nicht mehr Gegenstand der Debatte werden. Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Kurt Hill, Frak-
Das ist Gott sei Dank bei den Ministern, jedenfalls der- tion Die Linke.
zeit, außen vor.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Vorzüge von Biokraftstoffen, die ich vorhin ge- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE):
nannt habe, müssen wir gesetzlich und ordnungspoli- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
tisch natürlich neu regeln. nen und Kollegen! Der Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zur Energiebesteuerung zementiert endgültig den
Mit Bezug auf die EU wird uns vorgeworfen, die an- Stillstand in der Energiepolitik. Mit Klimaschutz und
deren seien kostengünstiger. Herr Solms, das sind die Energieeinsparung hat das nun gar nichts zu tun. Herrn
Argumente, die von der Mineralölwirtschaft kommen Steinbrück scheint nur eines wichtig zu sein: Kasse zu
und die sich zum Teil auch im Text wiederfinden. Wir im machen, koste es, was es wolle.
Parlament formulieren das Gesetz und nicht internatio-
nale Lobbyisten, die bei uns tätig sind, die viel Geld ver- Auf ein Beispiel möchte natürlich auch ich eingehen:
dienen, die ihren Profit durch erhöhte Importpreise er- die Biokraftstoffe. Biodiesel, das am Markt gut geht, soll
zielen mit 10 Cent besteuert werden, Pflanzenöl als Kraftstoff
– das für die Umwelt völlig unbedenkliche Grundpro-
(Ulrich Kelber [SPD]: Das ist ganz was dukt – mit 15 Cent. Viele kleine Betriebe haben hohe In-
Neues!) vestitionen in Anlagen, Vertrieb und Motoren getätigt.
Gerade der ländliche Raum setzt auf die Nutzung von
und uns vorjammern, wie schlecht es ihnen geht. Rapsöl als Kraftstoff. Nun werden diese Strukturen zer-
Es geht um die Wertschöpfung unserer ländlichen Re- schlagen, indem Sie willkürlich Steuern darauf erheben.
gionen unter Berücksichtigung von Kioto und unter Be- Herr Schindler, ich erinnere Sie daran, dass Sie vor (D)
(B) rücksichtigung des CO2-Eintrags. Wir haben genug Zeit,
kurzem im ländlichen Raum, nämlich in Zweibrücken,
über alles – das geht von den Steuersätzen bis zu den eine Ölmühle eröffnet haben.
Kalkulationszahlen von Rapsmühlen oder Fetterzeugern;
alles das finden wir in diesem Bereich vor – mit Gelas- (Norbert Schindler [CDU/CSU]: Jawohl!)
senheit zu diskutieren. Dann werden wir zum Schluss Die trifft es genauso hart.
auf die Energiefragen von Europa wieder die entschei-
denden Antworten geben, wie das auch bei der Einfüh- Biodiesel hat sich am Markt erfreulich etabliert. Der
rung des Katalysators war, und die anderen werden Preis dieses Kraftstoffes hat sich an die steigende Preis-
schnell nachziehen. Ein 80-Millionen-Volk hat damit kurve des Mineralöldiesels angeschmiegt. Da gab es Ge-
wieder eine Leitbildfunktion für die anderen. winnmitnahmen. Natürlich macht es Sinn, dieses Pro-
dukt langsam an die Besteuerung heranzuführen. Jetzt
(Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE 10 bzw. 15 Cent auf Biodiesel und in der nächsten
GRÜNEN]: Oje!) Runde der Beimischungszwang bei Vollbesteuerung, das
Deswegen mahne ich Gelassenheit bei der Frage an. macht die junge Branche allerdings kaputt. So etwas
dient nur dem Oligopol der Mineralölindustrie.
Nun zum Vorwurf, die ländlichen Räume würden un-
tergebuttert werden. Wer mich kennt und wer Reinhard Die Folge: Kleine und mittelständische Hersteller von
Schultz kennt, der weiß: Das wird nicht passieren. Rapsöl- und Biodiesel werden so zu Zulieferern degra-
diert. Rapsöl und Bioethanol haben als reine Kraftstoffe
Lassen Sie uns dafür streiten! Das Ergebnis im Juni keine Chance. Auf der Strecke bleiben Arbeitsplätze im
wird sich vorzeigen lassen. ländlichen Raum und der Klimaschutz.
Die Autoindustrie reibt sich schon einmal die Hände,
Vizepräsident Wolfgang Thierse: kann sie doch ihre Selbstverpflichtung zur Senkung der
Herr Kollege, seien Sie doch so freundlich, zum Ende Klimagase abschütteln. Mit 5 Prozent zwangsbeige-
zu kommen. mischtem Biodiesel schafft VW sein laxes Klimaziel
auch so.
Norbert Schindler (CDU/CSU): Die Linke fordert eine fachliche und differenzierte
Das gilt auch im Hinblick auf die Folgewirkung be- Bewertung der einzelnen Biokraftstoffprodukte.
treffend den gesetzlichen Beimischungszwang ab 2007.
Biodiesel kann ab dem kommenden Jahr mit 5 Cent je
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Liter besteuert werden. Die weitere Besteuerung muss
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2721
Hans-Kurt Hill
(A) davon abhängen, ob es gelingt, die mineralischen An- Ich habe mir gerade bei Ihnen in Rheinland-Pfalz im (C)
teile durch biogenes Ethanol zu ersetzen. Pflanzenöl als Zusammenhang mit der Wahl einiges angesehen, zum
Kraftstoff muss bis 2010 ohne Besteuerung bleiben. Beispiel eine Ölmühle in Polch. Die Leute haben sich
darauf verlassen, dass das, was die Politik im Deutschen
(Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- Bundestag einstimmig verabschiedet hat, nämlich die
NIS 90/DIE GRÜNEN]) steuerliche Begünstigung bis 2009, auch gilt. Das war
Die Motorenentwicklung ist stärker zu fördern. die Grundlage ihrer Investitionsrechnung. Wenn Sie jetzt
an dieser Schraube drehen, dann werden Sie nicht nur
Bei Bioethanol muss der Steuersatz bis 2010 eben- wortbrüchig, sondern zerstören auch Planungssicherheit
falls 0 Cent betragen. Als E85 kann es sofort auf den und reale Investitionen. Insofern ist das kein Akt zu-
Markt kommen. Dazu müssen die Mineralölkonzerne ih- gunsten des ländlichen Raums, sondern gegen den länd-
ren 100-Oktan-Sprit, der ohnehin nur ein Werbegag ist lichen Raum. Das wollen wir doch einmal festhalten.
und den Verbraucherinnen und Verbrauchern das Geld
aus der Tasche zieht, nur durch Bioethanol ersetzen. Der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hat übrigens 104 Oktan und entlastet die Umwelt mess- und bei der FDP)
bar. Die Biokraftstoffe der zweiten Generation sind ge-
Ansonsten – ich komme gleich zu dem Bioenergie-
rade im Aufbau. Ob als Biodiesel oder Bioethanol: BTL
thema – sprechen wir ja heute über die Umsetzung der
muss mindestens bis 2010 steuerfrei bleiben. Einen Bei-
EU-Energiesteuer-Richtlinie. Ich will auch einmal sa-
mischungszwang braucht die Branche nun gar nicht. Der
gen, was an dem Gesetzentwurf, den Sie jetzt vorlegen,
Beimischungsmarkt macht beim Biodiesel bereits
gut ist. Gut ist, dass in der Stromerzeugung bei den fossi-
40 Prozent aus und funktioniert auch so. Und wenn Sie
len Energien eine steuerliche Gleichbehandlung vor-
den Klimaschutz ernst nehmen, muss der öffentliche
gesehen ist. Bis jetzt ist es nämlich so, dass Uran und
Nahverkehr bei der Verwendung von Biokraftstoffen
Kohle in der Stromerzeugung nicht besteuert werden,
ebenfalls steuerfrei bleiben.
aber Gas. Die Kollegen von der SPD erinnern sich: Wir
(Beifall bei der LINKEN) haben da manchen Kampf gefochten. Die SPD war im-
mer dagegen, das Gas gleich zu behandeln. Jetzt kommt
Wenn ich die Auswirkungen des Gesetzentwurfes auf die Anweisung von der EU-Seite. Da kann ich nur sa-
die Staatsfinanzen sehe, muss ich mir die Augen reiben. gen: Gut so!
Einnahmen durch klimafreundliche Biokraftstoffe:
361 Millionen Euro. Steuerausfälle durch die Subventio- Ich finde es auch gut, dass das, was das Finanzminis-
nierung der klimaschädlichen Flug- und Schiffsver- terium ursprünglich vorhatte, nämlich die Kraft-
kehre: 32 Millionen Euro. Bei der Mehrwertsteuer gilt Wärme-Kopplung bei der Strom- und der Erdgassteuer
(B) das Gleiche, wie Sie wissen. richtig an die Kandare zu nehmen und kräftig zu besteu- (D)
ern, jetzt wegfällt. Das ist unter anderem auf den öffent-
Fazit: Verkehrte Welt in der Klimaschutzpolitik. Mit lichen Protest der Kommunen, aber auch auf unseren
freundlichen Grüßen, Ihr Umwelt- und Ihr Finanzminis- Protest und den Protest der Umweltverbände zurückzu-
ter. führen. Da kann man nur sagen, es hat sich gelohnt, ge-
Vielen Dank. Ich hoffe, meine Stimme wird wieder gen diese geplante Besteuerung dezentraler Energiever-
besser. sorgungsstrukturen anzugehen.

(Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –


Ulrich Kelber [SPD]: Das habe ich gar nicht
mitbekommen!)
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Das wünschen wir Ihnen von Herzen, lieber Kollege. – Dann müssen Sie zuhören, Herr Kollege Kelber.
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Reinhard Die Einführung einer Steuer auf Kohle zu Heizzwe-
Loske, Bündnis 90/Die Grünen. cken ist aus der Sicht des Klimaschutzes vernünftig und
überfällig, auch wenn das ein kleines, randständiges Pro-
Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- blem ist. Das ist aber quasi nichts anderes als die Erfül-
NEN): lung der Aufgaben eines Pflichtenheftes.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei den wirklich grundlegenden Dingen versagen Sie
Herr Schindler und Herr Schultz haben sich eben als oder lassen einfach etwas aus. Die Bioenergien habe ich
Freunde des ländlichen Raums geoutet. gerade schon angesprochen. Da herrscht – das muss man
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Waren wir doch sehen – in Ihrem Lager ganz klar kein Einverneh-
schon immer!) men. Auf der einen Seite gibt es die Fiskalisten, die
mehr Geld eintreiben wollen, und auf der anderen Seite
Das wussten wir ja schon. Aber der Punkt ist: Wenn Sie diejenigen, die wirklich etwas für den ländlichen Raum
wirklich Freunde des ländlichen Raums sein wollen, tun wollen, die regionale Wertschöpfungsketten und Er-
dann müssen Sie einen anderen Gesetzentwurf vorlegen. werbsalternativen für die Landwirtschaft schaffen wol-
len, ohne dauerhafte Subventionen vorzusehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Ilja Man wundert sich: Hier wird ein Gesetzentwurf von
Seifert [DIE LINKE]) der Regierung vorgelegt und alle Kolleginnen und
2722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Reinhard Loske


(A) Kollegen von der CDU/CSU und von der SPD sagen Danke schön. (C)
– mindestens zwischen Mund und Nase –, so werde das
auf keinen Fall gemacht. Da hätten Sie besser von An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
fang an etwas Vernünftiges vorgelegt; dann wäre die
Verunsicherung in der Branche nicht so groß gewesen. Vizepräsident Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der FDP) Ich schließe die Aussprache.

Es ist doch vollkommen klar und gar keine Frage: Wo es Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
Mitnahmeeffekte gibt, da muss man abschöpfen. wurfs auf Drucksache 16/1172 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Hinsichtlich der reinen Pflanzenöle, Herr Schindler, dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
möchte ich Sie bitten, Folgendes zu beachten. Dies ist Dann ist die Überweisung so beschlossen.
ein klassischer Fall dezentraler Technologien, bei deren
Anwendung die Wertschöpfung in der Region verbleibt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Auch fiskalisch gesehen fällt nichts weg. Ich bitte Sie
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
heute darum, dass Sie wenigstens davon die Hände las-
Pieper, Uwe Barth, Miriam Gruß, weiterer Abge-
sen. Wir werden das jedenfalls im Rahmen des parla-
ordneter und der Fraktion der FDP
mentarischen Verfahrens beantragen.
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Warten Sie es Voraussetzungen für Entwicklung, Bau und
doch ab!) Betrieb einer Europäischen Spallations-Neu-
tronenquelle in Deutschland schaffen – Deut-
Ich will noch einige Punkte ansprechen, die Sie ein- sche Bewerbung vorantreiben
fach weggelassen haben. Sie haben zum Beispiel die
Sonderregelung für die Energiebesteuerung im Rahmen – Drucksache 16/386 –
der ökologischen Steuerreform nicht angesprochen, Überweisungsvorschlag:
obwohl Sie wissen, dass diese Ausnahmen von der EU- Ausschuss für Bildung, Forschung und
Kommission nur bis zum 31. Dezember 2006 genehmigt Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
wurden. Wir brauchen im Rahmen der Ökosteuer ein Haushaltsausschuss
stimmiges Konzept, mit dem die vielen Ausnahmetatbe-
stände entweder abgeschafft – das wäre das Beste – oder Die Kollegen Axel Fischer (Karlsruhe-Land),
zumindest an ökologische Gegenleistungen geknüpft Thomas Oppermann, Cornelia Pieper, Petra Sitte1) und
werden. Krista Sager haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2)
(B) Ich schließe also die Aussprache. (D)
Wir müssen – auch das ist ein heißes Eisen, das Sie
nicht angepackt haben – im Bereich der Flugbenzin- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
besteuerung endlich erste Schritte gehen. Drucksache 16/386 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das habe ich einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
gesagt!) sung so beschlossen.
Es kann doch nicht wahr sein, dass die Bahn, wie wir
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:
erst vorgestern wieder gelernt haben, die Energiesteuer
in voller Höhe zahlt und dass auf Tickets die volle Mehr- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
wertsteuer erhoben wird, aber der Luftverkehr in beiden gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur
Bereichen privilegiert wird. Das ist eine eklatante Wett- Änderung des Urheberrechtsgesetzes
bewerbsverzerrung zulasten der Bahn. Wir fordern Sie
auf – zumal die Energiesteuer-Richtlinie diese Möglich- – Drucksache 16/1107 –
keit hergibt –, endlich mit dem Einstieg in die Besteue- Überweisungsvorschlag:
rung von Flugbenzin zu beginnen. Die rechtlichen Mög- Rechtsausschuss (f)
lichkeiten haben Sie dazu. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verbraucherschutz
sowie bei Abgeordneten der SPD) Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ich fasse zusammen, Herr Präsident. Was Sie vorle- Ausschuss für Kultur und Medien
gen, ist ein umfangreiches Gesetz mit vielen Details. Es Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
enthält praktisch keine positiven Elemente mit Aus- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
nahme der Dinge, die Sie vonseiten der EU-Kommission keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
machen mussten. Es ist also ein reines und obendrein un-
zureichendes Pflichtprogramm ohne ambitionierte Kli- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen-
maschutzziele und ohne politischen Gestaltungswillen. tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort.
Sie geben keine steuerlichen Anreize für Strukturent-
scheidungen zugunsten des Klimaschutzes und der CO2- 1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor und wird zu einem
Einsparungen. Das werden wir im parlamentarischen späteren Zeitpunkt abgedruckt.
Verfahren thematisieren. 2) Anlage 3
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2723

(A) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Vizepräsident Wolfgang Thierse: (C)
desministerin der Justiz: Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Leutheusser-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Schnarrenberger, FDP-Fraktion.
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute
um ein Gesetz, mit dem wir europäische Vorgaben zum (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Folgerecht umsetzen. Folgerecht bedeutet, dass bildende
Künstler nicht leer ausgehen, wenn ein Werk, das sie Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP):
einmal für wenig Geld verkauft haben, später im Kunst- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
handel hohe Preise erzielt. gen! Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht gesagt, dass
Die Richtlinie ist ein gutes Beispiel dafür, wie uns die es beim geltenden Recht Wettbewerbsverzerrungen ge-
europäische Einigung zugute kommt: Mit der Umset- geben hat und die Folgerechtsrichtlinie hier wirken
zung der Richtlinie schaffen wir vergleichbare Bedin- muss. Deren Umsetzung steht natürlich schon lange an.
gungen für bildende Künstler und auch für den Kunst- Also ist es richtig, dass der vorliegende Gesetzentwurf
handel in Europa. Denn anders als Deutschland, wo es nicht nur eingebracht wird, sondern auch zügig beraten
ein Folgerecht seit 1956 gibt, gilt dieses Recht in ande- werden muss.
ren Mitgliedstaaten bisher nicht. Diese unterschiedliche Die FDP hat es von Anfang an, auch schon in der ver-
Rechtslage ist in mehrfacher Hinsicht nachteilig: zum ei- gangenen Legislaturperiode, sehr begrüßt, dass diese
nen natürlich für die Künstler, zum anderen auch für den Folgerechtsrichtlinie zu einer Harmonisierung führen
Kunsthandel. So kann zum Beispiel ein Kunsthändler in wird. Denn das ist im Interesse aller Beteiligten: im Inte-
Berlin weniger Erlös als sein Kollege in London erzie- resse des Kunsthandels und der Urheber. Auf nationaler
len. Das ist ein Wettbewerbsnachteil. Die europäische Ebene muss jetzt der Versuch unternommen werden, ei-
Richtlinie schafft hier gleiche Verhältnisse. nen Ausgleich zwischen diesen beiden Interessen zu fin-
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf passen wir den. Das wird mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf
unser Recht den Anforderungen der Richtlinie an. Die versucht.
Vergütung wird nach der Höhe des Verkaufspreises ge-
Die Folgerechtsrichtlinie ist das Ergebnis einer sehr
staffelt und beträgt im Höchstfalle 12 500 Euro pro Wei-
langwierigen Diskussion. Es war bis zum Schluss sehr
terveräußerung.
ungewiss, ob sie überhaupt zustande kommt. Das Ergeb-
Es gibt zwei Punkte, bei denen die Richtlinie den Mit- nis ist ein Kompromiss, der natürlich nicht in jeder Hin-
gliedstaaten einen Gestaltungsspielraum lässt. Zum sicht das urheberrechtliche Optimum sein mag. Das gilt
einen können als Mindestbetrag Werte zwischen 0 und für die Staffelung der Vergütung und die Begrenzung der
(B) 3 000 Euro bestimmt werden, ab dem Veräußerungen Gesamtvergütung auf 12 500 Euro. Es ist aber müßig, (D)
dem Folgerecht unterliegen. Der Entwurf, den wir vorle- die Debatte zu wiederholen, die der Folgerechtsrichtlinie
gen, sieht einen Mindestbetrag von 1 000 Euro vor. Zum vorausgegangen ist.
anderen können die Mitgliedstaaten die Höhe des An-
spruchs für Veräußerungen bis zu 50 000 Euro auf 4 oder Die von der Folgerechtsrichtlinie vorgegebene neue
5 Prozent des Verkaufspreises festlegen. Wir haben uns Vergütungsstruktur kann in Deutschland einerseits zu
dazu entschieden, für diese so genannte erste Tranche ei- einem insgesamt niedrigeren Vergütungsaufkommen
nen Vergütungssatz in Höhe von 4 Prozent vorzusehen. führen. Aber im Zusammenspiel mit den entsprechenden
Bestimmungen der übrigen Mitgliedstaaten kann sie an-
Natürlich sind unsere Künstlerinnen und Künstler da- dererseits einen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland
rüber enttäuscht; ich kann das auch verstehen. Sie müssen für den internationalen Kunsthandel attraktiver wird und
aber wissen, dass sie umgekehrt nunmehr auch im Aus- den deutschen Urhebern dadurch neue Vergütungsquel-
land, zum Beispiel in Österreich, einen Anspruch geltend len auf anderen Kunstmärkten eröffnet werden.
machen können, wenn zum Beispiel ein Werk mit einem
Preis von über 3 000 Euro weiterveräußert wird. Auch den Urhebern ist nicht damit gedient, dass der
Kunsthandel an Deutschland vorbeigeht, weil die Rah-
Eines darf man nicht vergessen: Es wird ihnen eine menbedingungen nicht stimmen. Natürlich dürfen wir
neue Einnahmequelle erschlossen, wenn sie, wie ich dabei die Grundlagen des Urheberrechts nicht infrage
eben sagte, in anderen Mitgliedstaaten veräußern. Auch stellen. Denn das Urheberrecht ist und bleibt ein Eigen-
unsere Kunsthändler haben hier weitere Vorteile. Da wir tumsrecht. Deshalb muss natürlich im Zusammenhang
uns den in Großbritannien, einem bedeutenden Kunst- mit der Beratung des Regierungsentwurfes immer auch
markt, geltenden Regelungen angeschlossen haben, be- gefragt werden: Sind die Spielräume, die die Richtlinie
finden wir uns in guter Gesellschaft. im Sinne dieser Prämisse eröffnet, auch sachgerecht ge-
nutzt worden?
Ich denke also, dass wir mit diesem Entwurf eine aus-
gewogene und angemessene Grundlage für die weitere Ich denke, der Entwurf geht in die richtige Richtung,
Beratung präsentiert haben, und freue mich, meinem diese unterschiedlichen Interessen miteinander zu ver-
Kollegen Manzewski eine Minute Redezeit schenken zu einbaren. Wir werden im Ausschuss gerade vor dem
können. Hintergrund der Stellungnahme des Bundesrates über
Vielen Dank. die einzelnen Punkte, über die Anhebung des Eingangs-
satzes, den Beteiligungssatz und die Vergütungsstruktur,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zu diskutieren haben.
2724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) Der Bundesrat hat vorgeschlagen, die Bestimmungen über ein nationales Folgerecht verfügen, am weltweiten (C)
zum Schwellenwert und zum Beteiligungssatz der ersten Kunsthandel bei 6 Prozent. Im Gegensatz dazu konnte
Stufe bis 2009 zu befristen, um ihre tatsächlichen Aus- sich allein Großbritannien einen Anteil von sage und
wirkungen auf das Vergütungsaufkommen zu beobach- schreibe 24 Prozent am Weltkunsthandel sichern; das
ten und gegebenenfalls zu korrigieren. Die Bundesregie- Handelsvolumen ist damit viermal größer als in allen
rung hat in ihrer Stellungnahme diesen Vorschlag EU-Staaten mit Folgerecht zusammen.
zurückgewiesen. Ich denke, wir sollten es uns nicht so
Die EU-Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten in einzel-
einfach machen.
nen Punkten zwar einen Umsetzungsspielraum; vor dem
Die FDP-Bundestagsfraktion plädiert dafür, im Hintergrund der bisherigen Erfahrungen mit unter-
Rechtsausschuss den Ansatz des Bundesrates noch ein- schiedlich ausgestalteten Folgerechtsregelungen muss
mal ausführlich zu erörtern und zu prüfen, inwieweit er der Gesetzgeber aber bei der nationalen Ausgestaltung
zum notwendigen Interessenausgleich zwischen Urhe- das Ziel haben, möglichst einen Mittelweg zu finden,
bern und Kunsthandel beitragen kann. Wir sollten dabei dem sich auch die anderen Länder anschließen können.
bedenken, dass die Richtlinie selbst eine fortlaufende
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ist es gelungen,
Kontrolle der Auswirkungen des neuen Folgerechtes
eine Regelung zu finden, die in den wichtigsten Punkten
vorsieht. Was ist besser dazu angetan, mit Nachdruck für
auf der Linie der englischen Umsetzung der Richtlinie
eine Umsetzung dieser Kontrolle zu sorgen, als eine Be-
liegt. Der deutsche Kunstmarkt wird so attraktiver und
fristung dieser Regelung im Gesetz vorzusehen, sodass
kann verloren gegangenes Terrain wieder gutmachen.
der Gesetzgeber gezwungen ist, sie nach einigen Jahren
Der Gesetzentwurf ist damit ein starkes Signal für die
auf den Prüfstand zu stellen? Aus unserer Sicht gibt es
Förderung des Kunsthandels in Deutschland.
bei diesem Punkt sehr wohl Erörterungs- und Diskus-
sionsbedarf im Rechtsausschuss. Ich denke, wir sind auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Sabine
dem Weg, einen angemessenen Interessenausgleich zwi- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP])
schen Kunsthandel und Urheberrechtsschutz zu errei-
chen. Eine zentrale Bestimmung der Gesetzesvorlage ist die
Anhebung des Schwellenwertes für die Anwendbarkeit
Recht herzlichen Dank. des Folgerechts beim Verkaufspreis von früher 50 Euro
auf 1 000 Euro. Hierdurch wird gewährleistet, dass keine
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Joachim Kleinstbeträge von wenigen Euro mehr ausgezahlt zu
Stünker [SPD]) werden brauchen, bei denen der Verwaltungsaufwand
den Ertrag zu überwiegen droht.
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
(B) Wahrscheinlich werden wir gleich noch ein paar kriti- (D)
Ich erteile das Wort Kollegen Günter Krings, CDU/
sche Worte zu diesem Aspekt hören. Natürlich erkennt
CSU-Fraktion.
man bei oberflächlicher Betrachtung wenigstens zwei
Probleme.
Dr. Günter Krings (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Der Entwurf bleibt mit dem Schwellenwert von
Herren! Der beste Ort, um deutsche Kunst zu verkaufen, 1 000 Euro deutlich unterhalb des von der Richtlinie zu-
ist London. Mit diesem Werbespruch ging einst das Lon- gelassenen Maximalschwellenwerts von 3 000 Euro.
doner Auktionshaus Christie’s auf Kundenfang. Kein an- Auf den ersten Blick sieht es dennoch so aus, dass rei-
derer Ausspruch könnte wohl die Situation auf dem henweise Künstler von den Segnungen des Folgerechts
deutschen Kunstmarkt besser beschreiben. In London ausgeschlossen werden könnten. Die Zahlen der eben zi-
werden mehr Bilder der klassischen deutschen Moderne tierten Studie der European Fine Art Foundation spre-
als im gesamten Bundesgebiet zusammen versteigert. So chen aber eine ganz andere Sprache. Diese Studie
macht derzeit nicht zuletzt das deutsche Urheberfolge- kommt zu dem Ergebnis, dass über 90 Prozent der welt-
recht deutsche Kunst zum Exportschlager wider Willen. weiten Kunstverkäufe – jedenfalls im Bereich der mo-
dernen und zeitgenössischen Kunst – in die Preiskatego-
Der eigentliche Erfolg, den es hier und heute zu ver- rie von 3 000 bis 50 000 Euro fallen.
melden gibt, ist nicht im vorliegenden Gesetzentwurf,
sondern in der Harmonisierung des Folgerechts in der Dass wir den möglichen Schwellenwert von
Europäischen Union zu erblicken. Bislang haben die un- 3 000 Euro dennoch nicht voll ausgeschöpft haben, ist
terschiedlichen Regelungen in Europa zu einer Wettbe- ebenso richtig. Bei einem derartigen Schwellenwert hät-
werbsverzerrung geführt. Deutsche Galerien haben es ten es nämlich vor allen Dingen Fotografien zu schwer
schwer, gegen eine internationale Konkurrenz zu beste- gehabt, von einer Folgerechtsvergütung überhaupt zu
hen, die eben nicht 5 Prozent vom Erlös eines weiterver- profitieren. Es ist aber ein deutlicher Fortschritt gegen-
kauften Bildes auf den Kaufpreis aufschlagen muss. Be- über der bestehenden Regelung, dass nun auch Fotogra-
sonders die Engländer haben diesen Vorteil konsequent fien in den Vergütungstatbestand mit aufgenommen wer-
für sich zu nutzen gewusst und stellen heute neben den den. Diese Regelung bringt Rechtssicherheit und trägt
USA und der Schweiz den weltweit wichtigsten Kunst- dem Umstand Rechnung, dass Fotografien in verstärk-
markt. tem Maß als Kunstobjekte angesehen und auch behan-
delt werden. Eine Ungleichbehandlung im Vergleich zur
Nach einer Studie der European Fine Art Foundation klassischen bildenden Kunst ist daher nicht mehr zu
lag im Jahr 2003 der Anteil der EU-Mitgliedstaaten, die rechtfertigen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2725
Dr. Günter Krings
(A) Gegen den höheren Schwellenwert von 1 000 Euro Das Folgerecht hat danach aber immer noch seine Be- (C)
wird ferner eingewandt, er sei ein Nachteil für junge rechtigung. Selten gelingt einem Maler oder einer Male-
Künstler, die noch nicht so hohe Preise für ihre Werke rin auf Anhieb der Durchbruch. In der Regel erzielen
erzielen können. Betrachtet man hier wiederum ganz Bilder erst einige Jahre nach dem Erstverkauf einen hö-
nüchtern die Zahlen, dann lässt sich aber schon nach der heren Marktwert, an dem die Künstler dann nicht mehr
jetzigen Rechtslage feststellen, dass der Großteil der le- beteiligt sind. Damit stellt sich natürlich schon die Frage,
benden Künstler von der Folgerechtsabgabe ohnehin warum alle von einer Gewinnsteigerung des Werkes pro-
nicht profitiert. Kaum 10 Prozent der Künstler, die ihre fitieren sollen – mit Ausnahme desjenigen, der die Ursa-
Ansprüche aus dem Folgerecht über die VG Bild-Kunst che für die Wertsteigerung gesetzt hat.
wahrnehmen lassen, kommen in den Genuss einer Aus- Hierin liegt auch der grundsätzliche Unterschied zum
zahlung. 2004 waren es – um es einmal in den relativ be- Buch oder zur Musik. In diesen beiden Fällen erhält der
scheidenen Zahlen auszudrücken – gerade einmal Urheber nämlich üblicherweise eine erfolgsabhängige
314 lebende Künstler, denen 256 Erben gegenüber stan- Vergütung: Je mehr Bücher verkauft werden, desto hö-
den. Von diesen insgesamt 570 Personen sind übrigens her fallen seine Einnahmen aus; je mehr CDs verkauft
knapp die Hälfte ausländische Künstler. werden oder je öfter seine Musik im Radio gespielt wird,
Lässt das Verhältnis zwischen lebenden Künstlern und desto höher fällt seine Beteiligung aus. Der bildende
Künstler kann hingegen nicht auf eine Erfolgsbeteili-
den Erben zunächst wenigstens noch ein kleines Überge-
gung hoffen.
wicht zugunsten der lebenden Künstler vermuten, zeigt
eine wirtschaftliche Betrachtung der Sache schon ein Ob sich junge Künstler am Markt etablieren, dürfte
ganz anderes Bild. Für das Jahr 2003 hat der Arbeitskreis aber kaum vom Folgerecht abhängen; denn das hieße,
Deutscher Kunsthandelsverbände vorgerechnet, dass die die Bedeutung der rechtlichen Regelung über die der äs-
Erben deutscher Künstler gut 2,4 Millionen Euro aus der thetischen Aussage eines Kunstwerkes zu stellen. Letz-
Folgerechtsvergütung erhalten haben, während den in tere aber gibt zum Glück den entscheidenden Ausschlag
Deutschland lebenden Künstlern zusammen lediglich ein für die Durchsetzung eines noch unbekannten talentier-
Betrag von etwas mehr als 340 000 Euro ausgezahlt ten Künstlers. Nicht zuletzt die Erfolge der jungen deut-
wurde. Also: knapp zweieinhalb Millionen Euro für Er- schen Künstler, die unter dem Begriff „Neue Leipziger
ben und 340 000 Euro für lebende Künstler. Das zeigt Schule“ zusammengefasst werden, zeigen das Potenzial
mehr als deutlich, dass das Folgerecht in erster Linie ein auf, das in den Künstlern unseres Landes liegt. Selten
Erbenrecht ist und schon nach der heutigen Rechtslage war deutsche zeitgenössische Kunst international so ge-
jungen Künstlern kaum dient. fragt wie heute.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der internationale Durchbruch gelang diesen deut-
(B) schen Künstlern aber nicht in Deutschland, sondern in (D)
Trotz der vergleichsweise bescheidenen Beträge erster Linie auf Kunstmessen in den Vereinigten Staaten.
bleibt das Folgerecht ein sensibles Thema. Das zeigen Dieser Tatsache sollten wir als deutsche Rechts- und
insbesondere die Reaktionen in England seitens der Kulturpolitiker nicht ganz gleichgültig gegenüber ste-
Künstler. David Hockney lehnte mit weiteren britischen hen. Wir sollten vielmehr die nötigen Rahmenbedingun-
Künstlern in einem Artikel der „Times“ die Regelung gen schaffen, damit nicht nur die deutsche Kunst, son-
gerade deshalb ab, weil sie keine Förderung junger dern auch der deutsche Kunsthandel international wieder
Künstler mit sich bringen würde, sondern diesen eher eine Spitzenposition einnehmen kann.
schade. Kunsthändler würden angesichts der Abgabe lie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ber auf Nummer sicher gehen und sich an etablierte neten der SPD)
Künstler halten.
Mit der EU-Richtlinie zur Harmonisierung des Folge-
Obwohl die deutsche Regelung bereits seit 1965 exis- rechts und mit unserem Umsetzungsgesetz tun wir einen
tiert, ist das Folgerecht auch bei uns durchaus umstritten. entscheidenden Schritt zur Schaffung dieses Rahmens.
Renommierte Künstler wie Gerhard Richter oder Georg Wenn wir dadurch den Kunsthandel in Deutschland stär-
Baselitz haben sich bereits vor geraumer Zeit kritisch ken, so stärken wir mittelbar auch die bildende Kunst
dazu geäußert. Es würden eben nur die Stars der Branche und die Künstler in unserem Lande.
davon profitieren und jungen Künstlern – da sind sie
Vielen Dank.
ganz der Meinung ihrer englischen Kollegen – bereite
die ganze Sache eher Schwierigkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!)
Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Die Bedenken der etablierten Künstler in dieser Frage Ich erteile das Wort Kollegin Lukrezia Jochimsen,
sollte man nicht einfach beiseite legen. Trotzdem ist die Fraktion Die Linke.
These, das Folgerecht schade jungen Künstlern, viel- (Beifall bei der LINKEN)
leicht doch etwas voreilig. Der Erstverkauf eines Bildes
ist und bleibt vergütungsfrei. Die Eintrittskarte von
Nachwuchskünstlern in den Kunstmarkt wird vom Fol- Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
gerecht also gar nicht betroffen. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
fürchte, man kann die Welt sehr unterschiedlich betrach-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ten. Welche Bedeutung haben die schön klingenden
2726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) Bekenntnisse zur Kulturnation Deutschland in die- Man komme uns nicht mit dem Argument, hier müsse (C)
sem Hohen Haus? Davon können wir uns in dieser De- eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und Rates
batte ein Bild machen. Wie heißt es im Koalitionsvertrag umgesetzt werden. Die europäische Richtlinie schreibt
von CDU/CSU und SPD? weder die Anhebung des Eingangssatzes auf 1 000 Euro
noch die Absenkung des bisherigen Prozentsatzes von
Im Mittelpunkt der Kulturpolitik steht die Förde- 5 auf 4 Prozent vor. Dieses Märchen wollen wir uns bitte
rung von Kunst und Künstlern. gar nicht erst auftischen lassen.
Nun legt uns die Bundesregierung einen Gesetzentwurf (Beifall bei der LINKEN)
vor, der kalt und brutal 40 Prozent der bildenden Künst-
ler und Künstlerinnen in diesem Land um ihren gesetzli- Die Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten großen
chen Anspruch auf einen Anteil am Erlös aus Weiterver- Gestaltungsspielraum bei der Frage, wo der Folge-
äußerungen ihrer Werke bringt – knallhart und einfach rechtsanspruch beginnt: bei 50 Euro, wie bisher bei uns,
so. bei 300, 500 oder 1 000 Euro. Er muss nur bei maximal
3 000 Euro festgesetzt werden. Wir sind also frei in der
Wenn ein Kunsthändler heute eine Grafik, ein Litho Entscheidung, ob wir unseren bildenden Künstlern und
oder ein Foto für 200 Euro kauft und für 900 Euro ver- Künstlerinnen eine angemessene Vergütung am Weiter-
kauft, erhält der Künstler 5 Prozent dieser Weiterver- verkauf ihrer Werke garantieren oder nicht, ob wir sie
kaufssumme, also 45 Euro. Das ist nicht viel Geld. Für kalt enteignen oder nicht. Die Linksfraktion lehnt den
Künstler und Künstlerinnen in Deutschland, die zum Gesetzentwurf daher entschieden ab.
großen Teil mehr oder wenig an oder unterhalb der Ar-
mutsgrenze leben, ist dieses Geld aber unverzichtbar. Gestatten Sie mir zum Schluss ein Plädoyer: Wer
Das gilt nicht für die Millionäre Baselitz und Neo Kunst und Kultur fördern und schützen will – das wollen
Rauch. wir angeblich alle –, der kann diesen Gesetzentwurf in
dieser Form nicht passieren lassen.
Im neuen Gesetzentwurf heißt es:
Danke.
Der Schwellenwert für die Folgerechtspflichtigkeit
wird auf 1 000 Euro festgelegt. (Beifall bei der LINKEN)

Das heißt, nur die Künstler und Künstlerinnen, deren Vizepräsident Wolfgang Thierse:
Werke für 1 000 Euro oder mehr weiterverkauft werden, Kollege Jerzy Montag hat seine Rede zu Protokoll
haben überhaupt einen Anspruch auf Folgerechtsvergü- gegeben.1)
tung. Bisher bestand ein Anspruch ab 50 Euro. Der An-
(B) stieg auf das 20-fache enteignet auf einen Schlag und (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist (D)
ohne Not gerade die jungen Künstler und Künstlerinnen, schade!)
die am Anfang ihres kreativen Wirkens stehen, aber auch
Deswegen erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen
die älteren Künstler und Künstlerinnen, die am Ende ih-
Dirk Manzewski, SPD-Fraktion.
res Schaffensprozesses froh sind, wenn sie ihren Lebens-
unterhalt in Würde durch Weiterverkaufserlöse entspre- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
chend ihrem bisherigen gesetzlichen Anspruch ein
bisschen aufstocken können. Dirk Manzewski (SPD):
Es gibt viele Künstler und Künstlerinnen in diesem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Fol-
Land, deren Arbeiten die Preiskategorie von 1 000 Euro gerecht gibt dem Urheber eines Werkes der bildenden
und mehr nie erreichen. Ich spreche nicht von Bildern, Künste einen Anspruch auf wirtschaftliche Beteiligung
sondern von Grafiken, Lithos, Aquarellen und Fotos. am Erlös aus der Weiterveräußerung seines Werkes, so-
Weiß man im Bundesministerium, weiß man in der Re- weit Kunsthändler oder Versteigerer daran beteiligt wa-
gierung nicht um die wirtschaftliche Situation von ren. In Deutschland – das ist hier schon gesagt worden –
Künstlerinnen und Künstlern? Doch, man weiß darum gibt es diesen grundsätzlichen Anspruch schon seit lan-
genau. Man weiß, dass 40 Prozent der Künstler und gem. Seit 1973 liegt er bei etwa 5 Prozent des Veräuße-
Künstlerinnen nach In-Kraft-Treten dieses Gesetz nicht rungserlöses.
mehr in den Genuss des Folgerechtes kommen, dass die Innerhalb der EU sah dies bis vor kurzem jedoch noch
Neuregelung also einer Enteignung eines Großteils der völlig anders aus. In einigen Ländern gab es kein so ge-
bildenden Künstler und Künstlerinnen gleichkommt und nanntes Folgerecht, in anderen gab es unterschiedliche
damit für diesen Personenkreis eine weitere Verarmung Regelungen. Dies führte – das hat Kollege Krings richtig
bedeutet. gesagt – zu erheblichen Wettbewerbsverzerrungen
Damit nicht genug. Auch der Prozentsatz für Ver- und Handelsverlagerungen. Deshalb fand etwa 80 Pro-
käufe bis 50 000 Euro soll in Zukunft von 5 auf 4 Pro- zent, Herr Kollege Krings, des gesamten Kunsthandels
zent gesenkt werden. Diese Absenkung wiederum innerhalb Europas in der Vergangenheit in London statt.
bedeutet eine massive Schlechterstellung der folge- Dort gab es – Sie alle können sich das denken – kein
rechtsberechtigten Künstler und Künstlerinnen, die ihre Folgerecht. Deswegen, Frau Kollegin Jochimsen, lief die
Werke zu guten oder sehr guten Preisen verkaufen kön- 5-Prozent-Regelung, an der Sie sich gerade so schön ori-
nen. Das betrifft 20 Prozent der renommierten, für
Deutschlands Kunst besonders wichtigen Kreativen. 1) Anlage 4
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2727
Dirk Manzewski
(A) entiert haben, bei uns relativ leer. Denn aufgrund dieser Kunsthändler oder Versteigerer beteiligt sind. Ich weiß (C)
Regelung fand hier quasi kein Kunsthandel statt. Das nicht, ob dies tatsächlich der EU-Richtlinie entspricht.
heißt, die Künstler hatten von der 5-Prozent-Regel rela- Diese differenziert nämlich zum Beispiel in der Begriff-
tiv wenig. lichkeit ausdrücklich zwischen Kunsthändlern und
Kunstgalerien. Vielleicht sollten wir, wie es auch in der
Das wird sich nun hoffentlich ändern. Grund für die EU-Richtlinie getan wird, lieber allgemein von „Vertre-
heutige Debatte und die Änderungen am bestehenden
tern des Kunstmarktes“ sprechen, um Folgerechtsan-
Gesetz ist die EU-Richtlinie, die das Folgerecht inner- sprüche tatsächlich umfassend zu gewährleisten. An-
halb der EU harmonisieren wird. Zukünftig wird der Ur- sonsten, finde ich, ist der Gesetzentwurf gelungen.
heber der bildenden Künste überall in der EU vom Wei-
terverkauf seiner Bilder profitieren, auch wenn – das Ich danke Ihnen.
wurde schon gesagt – den Ländern bei einzelnen Punk-
ten Handlungsspielräume eingeräumt wurden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Auch wir hatten unsere bestehenden Gesetze zu bear- Vizepräsident Wolfgang Thierse:
beiten und der Richtlinie anzupassen. Neu dabei ist, dass Ich schließe die Aussprache.
die Vergütungsbeteiligung nun nicht mehr pauschal,
sondern in einer degressiven Staffelung in fünf Schritten Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
erfolgt. Dies ist durch die Richtlinie zwingend vorgege- wurfs auf Drucksache 16/1107 an die in der Tagesord-
ben. Die Staffelung beginnt bei uns mit 4 Prozent bei nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Inzwi-
Verkaufserlösen bis 50 000 Euro und endet bei 0,25 Pro- schen liegt auch die Gegenäußerung der
zent bei Verkaufserlösen von mehr als 500 000 Euro. Bei Bundesregierung auf Drucksache 16/1173 vor, die an
einem Verkaufserlös von unter 1 000 Euro greift das Fol- dieselben Ausschüsse überwiesen werden soll. Gibt es
gerecht nicht. Diese Bagatellgrenze – auch das wurde dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
schon gesagt – ist geschaffen worden, weil in diesem Be- Dann ist die Überweisung so beschlossen.
reich zwischen dem Nutzen des Urhebers und dem Ver-
waltungsaufwand kein vernünftiges Verhältnis mehr be- Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 6
stand. Ich teile Ihre Auffassung nicht, Frau Leutheusser- auf:
Schnarrenberger, dass man diese Grenze hätte höher set- 17 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
zen können. Denn ich meine – das muss man deutlich sa- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
gen –, dann hätten die Urheber deutlich weniger davon schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten
profitiert. Jedenfalls habe ich Sie so verstanden. Dr. Norman Paech, Wolfgang Gehrcke, Monika
Wir haben es allerdings auch abgelehnt, einen höhe- Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
(B) der LINKEN (D)
ren Mindestbetrag festzulegen – das hätte die Richtlinie
erlaubt –, weil dies nach unserer Auffassung den An- Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz gegen
wendungsbereich des Folgerechts zu weit eingeschränkt den Iran
hätte. Neu ist auch, dass der zu erzielende Gesamtbetrag
der Folgerechtsvergütung aus einer Weiterveräußerung – Drucksachen 16/452, 16/962 –
allenfalls 12 500 Euro betragen darf. Auch hier mussten Berichterstattung:
wir – das muss man deutlich sagen – der EU-Richtlinie Abgeordnete Karl-Theodor Freiherr zu
folgen. Guttenberg
Es ist sicherlich richtig, dass der Urheber nach der al- Dr. Rolf Mützenich
ten 5-Prozent-Regelung vermeintlich besser dastand. Dr. Werner Hoyer
Aber abgesehen davon, dass wir aufgrund der EU-Richt- Dr. Norman Paech
linie kaum Spielraum hatten, erscheint dies eben nur auf Marieluise Beck (Bremen)
den ersten Blick so. Es sei noch einmal darauf hingewie- ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
sen – das ist sehr wichtig –, dass die Urheber kaum et- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus-
was von dieser Regelung hatten, da der Anspruch, wie schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
gesagt, bislang relativ leer lief. Das ist nun anders und Trittin, Winfried Nachtwei, Thilo Hoppe, weite-
kompensiert dies meiner Auffassung nach bei weitem, rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND-
zum einen, weil die Urheber nun in der gesamten EU ei- NISSES 90/DIE GRÜNEN
nen Folgerechtsanspruch erhalten, und zum anderen,
weil davon auszugehen ist, dass der Kunsthandel nun Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über
auch wieder mehr in Deutschland stattfinden wird. das iranische Atomprogramm – Demokrati-
sche Entwicklung unterstützen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie meiner
Rede entnehmen können, halte ich den hier debattierten – Drucksachen 16/651, 16/1157 –
Entwurf für gelungen, auch wenn ich durchaus bereit
Berichterstattung:
bin, mich noch über die eine oder andere Einzelheit zu
Abgeordnete Joachim Hörster
unterhalten.
Dr. Rolf Mützenich
Herr Staatssekretär, eines bitte ich allerdings zu über- Dr. Werner Hoyer
prüfen: Im Gesetzentwurf ist festlegt, dass das Folge- Wolfgang Gehrcke
recht nur gelten soll, wenn bei der Weiterveräußerung Jürgen Trittin
2728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Vizepräsident Wolfgang Thierse


(A) Die Kollegen Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. (C)
Rolf Mützenich, Harald Leibrecht, Norman Paech und Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jürgen Trittin haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b so-
Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des wie Zusatzpunkt 7 auf:
Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 16/962 zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Wei- 19 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
ter verhandeln – kein Militäreinsatz gegen den Iran“. Höhn, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Undine
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- Kurth (Quedlinburg) und der Fraktion des
sache 16/452 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Verbot der Käfighaltung für Legehennen
hält sich? – Mir ist nicht klar, was die FDP-Fraktion zu ab 2007 beibehalten
tun gedenkt.
– Drucksache 16/839 –
(Zurufe von der FDP – Heiterkeit)
Überweisungsvorschlag:
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Stimmen der Fraktion Die Linke bei Ratlosigkeit der Ausschuss für Gesundheit
FDP-Fraktion angenommen.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
(Heiterkeit und Beifall) Bulling-Schröter, Dr. Kirsten Tackmann,
Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Auswärti- Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
gen Ausschusses auf Drucksache 16/1157 zu dem An- der Fraktion der LINKEN
trag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit Arbeitsplätze durch artgerechte Legehennen-
dem Titel „Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt über haltung in Deutschland sichern – Verbot der
das iranische Atomprogramm – Demokratische Ent- Käfighaltung ab 2007 durchsetzen
wicklung unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 16/651 abzulehnen. Wer stimmt – Drucksache 16/1128 –
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Überweisungsvorschlag:
Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen Verbraucherschutz (f)
(B) von Bündnis 90/Die Grünen und bei einigen Gegenstim-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
(D)
men der Fraktion Die Linke, bei Stimmenthaltung der
FDP und einigen Enthaltungen der Fraktion Die Linke ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
angenommen. richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
Nun kommen wir zu Tagesordnungspunkt 18: schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hans-Michael
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan,
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne-
rung der Europäischen Genossenschaft und ter und der Fraktion der FDP
zur Änderung des Genossenschaftsrechts
Keine Wettbewerbsverzerrungen für Land-
– Drucksache 16/1025 – wirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie
Überweisungsvorschlag: zur Haltung von Nutztieren in nationales
Rechtsausschuss (f) Recht
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksachen 16/590, 16/1142 –
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Berichterstattung:
Ausschuss für Arbeit und Soziales Abgeordnete Dr. Peter Jahr
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Dr. Wilhelm Priesmeier
Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re- Hans-Michael Goldmann
den zu Protokoll gegeben: Georg Fahrenschon, Klaus Dr. Kirsten Tackmann
Uwe Benneter, Mechthild Dyckmans, Ulla Lötzer und Bärbel Höhn
Margareta Wolf (Frankfurt) sowie der Parlamentarische
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Staatssekretär Alfred Hartenbach.2)
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
wurfs auf Drucksache 16/1025 an die in der Tagesord-
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Bärbel Höhn, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen,
das Wort.
1) Anlage 5
2) Anlage 6 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2729

(A) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ob daneben auch weitere artgemäße Bedürfnisse (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollegin- wie insbesondere das Scharren und Picken, die un-
nen und Kollegen! Wir beraten heute über ein Thema, gestörte und geschützte Eiablage, die Eigenkörper-
das die Gemüter in dieser Republik über Jahre stark er- pflege, zu der auch das Sandbaden gehört, oder das
hitzt hat. Wir beraten heute darüber, weil morgen eine erhöhte Sitzen auf Stangen durch die in § 2
wichtige Entscheidung im Bundesrat ansteht. Dort wird Abs. 1 und 2 HHVO getroffenen Regelungen über
darüber entschieden, wie die Legehennen in Zukunft ge- die Käfighaltung unangemessen zurückgedrängt
halten werden, ob sie weiter in viel zu kleinen Käfigen werden, kann offen bleiben.
gehalten werden dürfen oder ob diese Art von Batterie-
Das heißt, das Urteil sagt darüber sinnigerweise nichts
käfighaltung in Deutschland endlich ein Ende hat; des-
aus. Es ist in dem Zusammenhang zwar wünschenswert,
halb der Antrag.
dass all diese Dinge umgesetzt werden, aber eine kon-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – krete Aussage wird dort nicht getroffen. Stimmen Sie
Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE mir da zu?
GRÜNEN]: Es wird Zeit!)
Die Diskussion darüber hat auch damit zu tun, dass es Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1999 Herr Priesmeier, Sie haben eben sehr schön dargelegt,
gibt, in dem sehr deutlich und klar gesagt worden ist, was alles möglich sein muss, nämlich das Scharren, das
dass die Batteriekäfighaltung in Deutschland dem Tier- Picken usw. Aber auch die Größe der Käfige muss artge-
schutzgesetz widerspricht. Es geht darum, genau dieses recht sein.
Urteil umzusetzen. (Zuruf von der CDU/CSU: Bei uns können die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hühner scharren und picken!)
Dass ich heute hier stehe, hat auch etwas damit zu Das, was Sie morgen auch mit den Stimmen der SPD im
tun, dass die Klägerin, die damals dieses Urteil erwirkt Bundesrat beschließen wollen, ist nicht tierschutzge-
hat, den Namen Bärbel Höhn trägt. Ich habe damals im recht, Herr Priesmeier; das ist eindeutig.
Namen der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
genau dieses Urteil erwirkt. Ich muss sagen, ich finde es sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
gut, dass die Verfassungsrichter damals dieses Urteil ge-
fällt haben. Es war notwendig, dass in einem Land wie Es geht zum einen um die Fläche, aber es geht zum an-
Deutschland mehr für den Tierschutz getan wird, gerade deren auch um das Flattern. Wie soll denn eine Henne
auch für die Legehennen. flattern können, wenn sie in einem Käfig ist, der 45 bis
(B) 50 Zentimeter hoch ist, wie sich das Ihre SPD-Kollegen (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) aus Mecklenburg-Vorpommern und Herr Backhaus vor-
Dieses Gerichtsurteil ist sehr detailliert. Es besagt ein- stellen? Da bringt es auch nichts, vielleicht noch
deutig, dass die Hennen verhaltensgerecht untergebracht 10 Zentimeter dazuzugeben, wie es Herr Seehofer will.
werden müssen: Sie müssen scharren können, sie müs- Bei einer Höhe von 45, 50 oder 60 Zentimetern kann
sen picken können, sie müssen eine Stange haben, auf man nicht von einer Kleinvoliere sprechen.
der sie sitzen können, sie müssen ein Nest zur Eiablage Woher kommt denn der Begriff Voliere? Das kommt
haben und sie müssen flattern und sich aufbäumen kön- aus dem Französischen und bedeutet „fliegen“. Wie will
nen. man denn bei 60 Zentimetern Platz fliegen, Herr
Genau das wird mit dem Vorschlag, der morgen im Priesmeier? Können Sie mir diese Frage einmal beant-
Bundesrat zur Abstimmung steht, nicht erreicht. Früher, worten? Das können Sie eben nicht. Trotzdem wollen
bei der Batteriekäfighaltung, stand einer Henne eine Flä- Sie morgen zustimmen.
che zu, die kleiner war als ein DIN-A4-Blatt. Nach dem, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
was Sie erreichen wollen und was morgen zur Abstim-
mung steht, soll eine Henne nun eine Fläche bekommen, Herr Priesmeier, ich bin hier wirklich sehr involviert.
die etwas größer ist als ein DIN-A4-Blatt. Von etwas we- Sie wissen, dass morgen darüber abgestimmt wird, ob die
niger als einem DIN-A4-Blatt zu etwas mehr als einem Frist für die Batteriekäfighaltung, die Sie wahrscheinlich
DIN-A4-Blatt, das ist zu wenig, meine Damen und Her- genauso verurteilen wie ich – ich hoffe, dass Sie das tun –,
ren; das ist nicht artgerecht. Ende dieses Jahres ausläuft oder ob sie um zwei Jahre
verlängert wird. Herr Priesmeier, was sagen Sie dazu?
Vizepräsident Wolfgang Thierse: Das ist das Gegenteil von artgerecht und das Gegenteil
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des dessen, was wir hier eigentlich beschließen sollten.
Kollegen Priesmeier von der SPD? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): LINKE])
Bitte schön, Herr Priesmeier. Ich sage das auch deshalb, weil es in Niedersachsen,
diesem schönen Bundesland, in dem ich lange gewohnt
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): habe, mit dem Einsatz von Nikotin bei der Massentier-
Frau Kollegin Höhn, ich zitiere aus dem Urteil: haltung gerade wieder einen echten Skandal gibt. Wenn
2730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Bärbel Höhn
(A) es so ist, dass es Anfang dieses Jahres eine anonyme An- siert. Frau Höhn, Sie sollten mit den Unterstellungen, die (C)
zeige gegeben hat, in der darauf hingedeutet wurde, dass Sie immer wieder machen, sehr vorsichtig sein.
das Nikotin schon im letzten Jahr eingesetzt worden ist,
und die Behörden das seit Anfang dieses Jahres wussten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
dann frage ich mich, warum sie zweieinhalb Monate mit Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
den Untersuchungen gewartet haben, bei denen sie dann Das sind keine Unterstellungen!)
immer noch Nikotin gefunden haben. Die Botschaft, die in diesen Aussagen steckt, ist ein-
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto fach: Ein großer Hennenhaltungsbetrieb mit einem ho-
Solms) hen Technisierungsgrad ist schlecht, Freiland- und Bo-
denhaltungsbetriebe mit wenig Technik sind gut. Meine
Wenn man davon ausgeht, dass es dort über 1 Million Damen und Herren von Grün und von Links, wachen Sie
Hennen gibt und jede dieser Hennen ein Ei pro Tag legt, endlich aus Ihrer Agrarromantik auf!
dann wurden in zweieinhalb Monaten 100 Millionen bis
150 Millionen nikotinbelastete Eier gelegt, die, wenn (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
wir Pech haben, auch in den Handel gekommen sind. NEN]: Seien Sie vorsichtig! Wir können jetzt
Diese Art von Käfighaltung wollen Sie aufrechterhalten, mit Eiern schmeißen!)
Herr Priesmeier? Das kann doch wohl nicht Sinn der Sa- Wir leben nicht auf einer Insel der Glückseligen, wo es
che sein. Wir sind dagegen. ausreicht, ein paar lustig gackernden Hühnern morgens
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Eier aus dem Nest zu holen.
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Das wissen
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. wir! – Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!)
Dieses Thema ist wichtig, aber es gibt noch ein anderes
Genug der Ironie; denn Ihre Anträge sind alles andere
Thema. Wir reden bei diesem Thema ja auch über das
als lustig. Wenn wir Ihre Forderungen umsetzten, wür-
Essen. Deshalb habe ich Ihnen etwas mitgebracht. Eier
den auf einen Schlag – hören Sie jetzt bitte genau zu –
haben ja auch etwas mit Ostern zu tun.
etwa 40 000 Arbeitsplätze verloren gehen.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bekomme
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ich die?)
NEN]: Das ist geltende Gesetzeslage! Das hat
– Sie bekommen auch welche. Seit der Ausschusssit- der Bundestag beschlossen!)
zung sind Sie ja mein spezieller Freund. – Stellvertre-
Es geht um 40 000 betroffene Familien. Frau Höhn, Sie
(B) tend für Sie alle – für die Fraktionen habe ich auch noch haben Recht: Sie sind tatsächlich das Schicksal der deut- (D)
einige Eierpäckchen – überreiche ich dem Bundestagsvi-
zepräsidenten einen Karton Eier, damit er weiß, wie Eier schen Hühnerhalter.
von glücklichen Hühnern schmecken. Vor welcher Ausgangslage stehen wir? Die Globali-
Vielen Dank fürs Zuhören. sierung macht auch vor der Agrarwirtschaft nicht Halt.
Die Wettbewerber unserer Geflügelproduzenten stehen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN direkt vor unserer Tür.
sowie bei Abgeordneten der LINKEN –
Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und wir?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Schauen Sie nach Polen oder in die Tschechei! Ich habe
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: mich erst kürzlich mit Gänsehaltern getroffen. Viele die-
Ich hoffe, das wird meinen Cholesterinspiegel nicht ser Betriebe haben fürchterliche Probleme; darüber ha-
erhöhen. ben wir heute im Ausschuss gesprochen. Einige stehen
kurz vor dem Aus. Der deutsche Verbraucher kauft eben
Als nächster Redner hat der Kollege Franz-Josef lieber die polnische Gans. Warum? Sie ist einfach billi-
Holzenkamp von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ger.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Herr Kollege Holzenkamp, erlauben Sie eine Zwi-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten schenfrage der Kollegin Höfken?
Damen und Herren! Der Präsident des Deutschen Tier-
schutzbundes hat in einem Vortrag im Jahre 2004 das Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
Bestandsgefälle zwischen den großen Legehennenhal-
Selbstverständlich, Frau Höfken.
tern und den kleinen und mittleren Betrieben als drama-
tisch bezeichnet. Allein mit seiner kurzen Bestandsbe-
schreibung betritt er ein ideologisches Minenfeld, auf Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
dem sich auch die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Herr Holzenkamp, Sie haben gerade eine Schmährede
Grünen und der Linken bewegen. in Bezug auf Frau Höhn und die Grünen gehalten.
Im Übrigen: Wir Landwirte, die jeden Tag mit den (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Er ist doch noch
Tieren arbeiten, sind nachhaltig an Tierschutz interes- gar nicht fertig!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2731
Ulrike Höfken
(A) Ist Ihnen bekannt, dass das, was sich im Antrag der Grü- netwegen vom Käfig. Für uns ist das eine moderne, (C)
nen widerspiegelt, die geltende Gesetzeslage ist, der im nachhaltige und zukunftsträchtige Kleinvoliere.
Übrigen die unionsgeführten Länder im Bundesrat zuge-
stimmt haben? Deswegen kann dies mitnichten die Fol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gen haben, die Sie hier vollmundig beschreiben, etwa neten der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/
den Wegfall von 40 000 Arbeitsplätzen. DIE GRÜNEN)
Warum sage ich das? Die Studien der Tierärztlichen
Ist Ihnen auch bekannt, dass sich ein Großteil der Ver-
Hochschule Hannover sprechen eine sehr deutliche
braucher inzwischen auf Boden- und Freilandeier um-
Sprache. Zusammengefasst lautet das Ergebnis, dass die
gestellt hat? Bei der Warenhauskette Real zum Beispiel
Kleinvoliere in Bezug auf Tiergesundheit, das Verhalten
konnte der Absatz an Boden- und Freilandeiern von
der Tiere, Umweltbelastung, Tierbetreuung, Arbeits-
30 Prozent dauerhaft auf 70 Prozent gesteigert werden.
platzqualität, Produktqualität und Produktionskosten den
Ist Ihnen darüber hinaus bekannt, dass ein großer An- übrigen Haltungsformen deutlich überlegen ist.
teil der Boden- und Freilandeier, deren Absatz sich in (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Deutschland verdoppelt hat, aus den Niederlanden und NEN]: So ein Quatsch!)
Frankreich kommt und Sie mit Ihrer dummen Politik
verhindern, dass sich die deutschen Betriebe auf diese Denken Sie nur an unser aktuelles Problem: die
Marktlücke einstellen und somit ein Hemmnis in der Vogelgrippe. Dabei wird deutlich, dass im Sinne des
Entwicklung zu einer tiergerechten Produktion darstel- Tier- und Verbraucherschutzes die Stallhaltung unver-
len? zichtbar ist.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): bei Abgeordneten der SPD – Bärbel Höhn
Erst einmal vielen Dank, Frau Höfken, für die Frage. – [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch
Erstens, zur rechtlichen Situation. Verfolgen Sie meine wirklich Unsinn!)
weiteren Ausführungen; denn ich werde darauf einge-
hen. Zweitens, zum Markt. Glauben Sie mir, ich habe je- Es gibt sogar Altersheime, die auf Eier aus Bodenhal-
den Tag mit dem Markt zu tun. Ich weiß, was Markt ist. tung verzichten.
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das machen
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken
sie, um zu sparen, nicht um den alten Leuten
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber
etwas Gutes zu tun!)
eine schwache Antwort! – Irmingard Schewe-
(B) Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er- Die Ergebnisse der Forschungsinstitute belegen, dass (D)
tappt! Ertappt!) die Kleinvoliere nicht nur die Tierschutzkriterien der
EU-Richtlinie erfüllt; sie geht sogar weit darüber hinaus.
Gegen diese Marktmacht aus Größe und extrem nied-
rigen Produktionskosten können wir nur bestehen, in-
dem wir auch in Deutschland kostengünstig produzieren. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das hat eine ganze Menge mit der Größe einer Betriebs- Herr Holzenkamp, erlauben Sie noch eine Zwischen-
einheit zu tun. Aber wir sind uns in einem Punkt voll- frage der Kollegin Höhn?
kommen einig: Die Ökonomie darf natürlich nicht auf
Kosten des Tierschutzes gehen. Die Herausforderung an Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
die moderne Landwirtschaft liegt gerade darin, mit einer Ich möchte meine Ausführungen jetzt gerne zu Ende
wettbewerbsfähigen Produktion in einer globalisierten bringen.
Konkurrenzsituation zu bestehen, ohne gleichzeitig die
berechtigten Ansprüche des Tierschutzes, des Verbrau- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
cherschutzes und des Umweltschutzes zu vernachlässi- der SPD)
gen.
Die Tierschutzkriterien, die die Kleinvoliere erfüllt,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gehen weit über die Tierschutzkriterien der EU-Richtli-
neten der FDP) nie hinaus.
Dieser Herausforderung hat sich die Geflügelwirt- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
schaft definitiv gestellt. Basierend auf dem Beschluss NEN]: Das ist ja wohl ein Gerücht!)
des Bundesverfassungsgerichts hat sie unter Federfüh- Deutschland nimmt bei der Kleinvolierenhaltung welt-
rung der Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft in weit eine Vorreiterrolle im Tierschutz ein. Vor diesem
Celle und der Tierärztlichen Hochschule Hannover über Hintergrund erscheinen mir die Anträge der Fraktionen
mehrere Jahre ein wissenschaftlich fundiertes Haltungs- Die Linke und des Bündnisses 90/Die Grünen obsolet.
verfahren, die so genannte Kleinvoliere, entwickelt. An Das ist auch wissenschaftlich bewiesen.
dieser Stelle möchte ich ein Dankeschön an unseren Ko-
alitionspartner richten, dass die Kleinvoliere jetzt (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
kommt. Ich sage ganz ehrlich, dass ich mir ein bisschen Ach! – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE
mehr gewünscht habe. Ein Wort zu den Grünen: Wenn GRÜNEN]: Sie machen doch nur Lobbypoli-
Sie weiter vom Käfig reden wollen, dann reden Sie mei- tik!)
2732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Franz-Josef Holzenkamp
(A) Erlauben Sie mir, auf einen weiteren Punkt aus dem gen, wird es noch lange nicht richtig. Betrachten wir (C)
Antrag der Linken einzugehen. Sie stellen darin die Be- doch einmal die Schweizer Realität: Der Marktanteil in-
hauptung auf, dass tiergerechte Legehennenhaltung von ländischer Eier kann nur über massive Subventionierung
den Verbrauchern honoriert werde. Ich entkleide Ihre aufrechterhalten werden. Dort, wo die eidgenössischen
Worte einmal des ideologischen Mäntelchens und for- planwirtschaftlichen Gängelungen nicht greifen, näm-
muliere sie anders: Ihrer Meinung nach bevorzugt der lich bei Eiprodukten, sind die Importe in die Schweiz
Verbraucher bei seinem Kauf die teureren Eier aus Frei- stark angestiegen.
land- und Bodenhaltung. Das ist – meinetwegen auch
Ein anderes Beispiel ist Schweden. Schweden prakti-
leider – schlichtweg falsch. Ich zitiere noch einmal
zierte bekanntlich für einige Jahre das Verbot der Käfig-
Herrn Apel:
haltung. In der Boden- und Freilandhaltung nahmen die
Es gibt nicht den Verbraucher. Aber es fällt auf, Probleme von Kannibalismus und hoher Tiersterblich-
dass sich viele Verbraucher vor dem Supermarkt für keit derart überhand, dass Schweden das Verbot der Kä-
den Tierschutz aussprechen und im Supermarkt fighaltung rückgängig gemacht und den modifizierten
dann eindeutig ins falsche Regal greifen. Käfig wieder eingeführt hat. Wohlgemerkt, die neue
schwedische Käfighaltung fällt in Sachen artgerechte
Ich denke, Herr Apel hat damit zwar grundsätzlich
Haltung hinter unsere deutsche Kleinvoliere zurück.
Recht, zieht aber genau wie Sie die falschen Schlüsse.
Die Menschen wollen zwar Tierschutz, aber er muss be-
zahlbar bleiben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Kommen Sie bitte zum Schluss.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
Für uns heißt das: Wir müssen in unseren Betrieben die In wissenschaftlichen Untersuchungen wird davon
bestmöglichen Tierschutzstandards implementieren und ausgegangen, dass dann, wenn Ihre Anträge Realität
weiterentwickeln und gleichzeitig allen Verbrauchern werden, der Selbstversorgungsgrad mit Eiern in
Produkte zu marktfähigen Preisen anbieten. Deutschland von derzeit 70 auf 35 Prozent zurückgehen
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird.
NEN]: Deshalb kommen ja auch so viele Eier
aus Holland und Frankreich!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Holzenkamp!
Ich will Betriebsformen und -größen nicht werten. Al-
les hat seine Daseinsberechtigung. Aber die Daseinsbe-
(B) Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): (D)
rechtigung wird letztlich am Markt entschieden.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir expor-
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tieren dann unsere Arbeitsplätze und importieren
NEN]: Den machen Sie ja kaputt!) schlechtere Produkte, die wir selber viel besser herstel-
Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, mit dem len können. Gleichzeitig sinken die Tierschutzstandards.
planwirtschaftlichen Vorschreiben der Betriebsform Ar- Abschließend möchte ich noch Folgendes wiederho-
beitsplätze zu erhalten, geschweige denn, welche schaf- len.
fen zu können. Doch genau das tun Sie in Ihren Anträ-
gen, meine Damen und Herren von den Grünen und den
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Linken, frei nach dem Motto: „Weg mit den Großen, her
mit den Kleinen“. Nein, bitte nichts mehr wiederholen, Herr
Holzenkamp.
Liebe Genossinnen und Genossen – wie ich Sie an
dieser Stelle einmal anreden möchte –, Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es geht um 40 000 Existenzen und um Wirtschaftsin-
vestitionen. Stürzen Sie die Menschen nicht ins Un-
das ist wirklich hohe marxsche Ökonomie. Wir alle wis- glück!
sen, dass das in der Vergangenheit schon nicht funktio-
niert hat. So funktioniert Wirtschaft auch nicht. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Sie glauben, in dem Modell der Schweiz, die die Kä- Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
fighaltung seit 1991 verboten hat, den Heilsbringer ge- Goldmann von der FDP-Fraktion.
funden zu haben.
(Beifall bei der FDP)
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das war der Bundesrat! 2001!)
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Das würde die deutsche Geflügelwirtschaft nicht nur si- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
chern, sondern sogar erweitern helfen. Von Frau Höhn Kollegen! Wir behandeln zu später Stunde auch den An-
war heute in der „Frankfurter Rundschau“ die gleiche trag der FDP „Keine Wettbewerbsverzerrungen für
Aussage zu lesen. Aber nur, weil zwei das Gleiche sa- Landwirte durch die Umsetzung der EU-Richtlinie zur
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2733
Hans-Michael Goldmann
(A) Haltung von Nutztieren in nationales Recht“. Damit man Hans-Michael Goldmann (FDP): (C)
weiß, worüber wir reden, eine kleine Erklärung: Ge- Ja, gerne.
meint ist die Haltung von Tieren jeder Art, wie
Schweine, Geflügel und Rinder. Es geht um Tierschutz, (Zuruf von der CDU/CSU: Julia, mach ihn
nieder!)
Wettbewerb und Arbeitsplätze.
– Sie brauchen sie nicht aufzufordern, mich niederzuma-
Als wir in den Bundestagswahlkampf hineingingen, chen. Ich glaube, Sie haben das Thema des heutigen
haben wir, die FDP, und die CDU/CSU das nationale Abends nicht ganz verstanden.
Überziehen von Frau Künast massiv kritisiert. Ich habe
Veranstaltungen erlebt, auf denen Frau Künast nicht zu
Wort gekommen ist, weil die Landwirte sie so sehr be- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
drängten und forderten: Das darf nur eins zu eins in na- Bitte schön, Frau Klöckner.
tionales Recht umgesetzt werden. Die Oberkämpfer für
diese Linie waren die Freunde von der CDU/CSU. Aber Julia Klöckner (CDU/CSU):
was ist von euch geblieben? Morgen werden zwei Ver- Lieber Herr Kollege Goldmann, stimmen Sie mir zu,
ordnungen, mit denen europäisches Recht in nationales dass morgen im Bundesrat auch FDP-mitregierte Bun-
umgesetzt wird, beschlossen, die weit über die europäi- desländer diesem Antrag zustimmen und auch Sie betei-
sche Vorgabe hinausgehen. ligt sind?

(Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU


sowie bei der SPD)
– Geschätzte Frau Kollegin Wolff, dass Sie klatschen,
kann ich verstehen. Aber ich bin froh darüber, dass ich Hans-Michael Goldmann (FDP):
zumindest Betroffenheit bei den Kolleginnen und Kolle- Geschätzte Frau Kollegin, wie Sie wissen, haben wir
gen der CDU/CSU auslöse. in keinem der Länder, in denen wir mitregieren, die Re-
gierungsverantwortung.
Herr Schirmbeck, ob Sie es mir glauben oder nicht, es
geht mir an die Nieren, dass vor der Bundestagswahl und (Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem
in einer Regierungserklärung von Frau Merkel etwas BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hartmut
versprochen wird, dass aber dann auf Veranlassung von Koschyk [CDU/CSU]: Was macht ihr denn
Herrn Minister Seehofer und Frau Merkel im Bundesrat da?)
etwas völlig anderes beschlossen wird. Mir geht es an
– Warum lachen Sie so? Wissen Sie nicht, dass der Mi-
die Nieren, dass auf unsere landwirtschaftlichen Be-
(B) triebe bei der Schweinehaltungsverordnung eine zu- nisterpräsident, der hier eine entscheidende Rolle spielt, (D)
der niedersächsische Ministerpräsident Wulff ist?
sätzliche Belastung in Höhe von durchschnittlich
65 000 Euro zukommt, und das vor dem Hintergrund der (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
Schweinepest, eines absoluten Stillstands in Nordrhein- GRÜNEN]: Und warum sind Sie in der Regie-
Westfalen. Das geht mir ans Herz. – Herr Holzenkamp, rung, wenn Sie nichts zu sagen haben?)
Sie sollten bitte zuhören. Ich wundere mich, dass die
Wissen Sie nicht, dass der Ministerpräsident aus Baden-
Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU lachen;
Württemberg hier eine ganz entscheidende Rolle spielt?
denn Sie werden bestimmt zur Kenntnis genommen ha-
ben, dass Sie morgen eine Legehennenverordnung be- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Und da habt
schließen, die dazu beiträgt, Mecklenburg-Vorpommern ihr gar nichts zu melden?)
von jeder Form der Legehennenhaltung zu befreien. Um
Wissen Sie nicht – das zum Thema Mitregieren –, dass
das ganz klar zu sagen: Ihre Altanlagenregelung wird
wir uns heute Abend mit dem niedersächsischen Wirt-
dazu führen, dass die Produktion nicht mehr in Mecklen-
schaftsminister treffen, um zu retten, was in dieser Frage
burg-Vorpommern stattfindet, sondern in unmittelbarer
zu retten ist? Wissen Sie nicht, dass wir aus Südolden-
Nachbarschaft, in Polen. Das bedeutet Arbeitsplatzver-
burg, aus dem Emsland, aus der Region, aus der Herr
luste in Deutschland. Holzenkamp kommt, in Massen von Mails aufgefordert
(Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk werden, das zu verhindern, was Sie morgen im Bundes-
[CDU/CSU]: Warum stimmen dann auch Län- rat beschließen?
der mit FDP-Beteiligung zu?) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sie auch! –
Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ihre antragsgebundene Verlängerung steht in krassem
NEN]: Sie auch!)
Widerspruch zu Ihren Aussagen zum Bürokratieabbau.
Sie werden ein Bürokratiemonster erschaffen, das sei- – Warten wir das erst einmal ab! – Wissen Sie nicht, dass
nesgleichen sucht. in der letzten Woche im Agrarausschuss eine Regelung
getroffen wurde, die wir mitgetragen haben? Wissen Sie
(Beifall bei der FDP) nicht, dass Herr Minister Seehofer diese Regelung um
zwei Jahre vorgezogen hat und dass dies dazu führen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wird,
Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine Zwischen- (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Darf ich mich
frage der Kollegin Klöckner? setzen?)
2734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Hans-Michael Goldmann
(A) dass wir Arbeitsmarktprobleme bekommen werden und Hans-Michael Goldmann (FDP): (C)
der Tierschutz ins Ausland verlagert wird? Da können Sie sicher sein.
(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Kollege Goldmann, haben Sie die Frage der Frau
Klöckner beantwortet? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte.
Hans-Michael Goldmann (FDP):
Ich habe die Frage der Frau Klöckner relativ einfach Julia Klöckner (CDU/CSU):
beantwortet. Ich muss sagen, ich bin etwas irritiert. Zuerst haben
(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem Sie, Herr Kollege Goldmann, gesagt, Sie hätten die
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Julia Frage einfach beantwortet, und dann wollten Sie sie be-
Klöckner [CDU/CSU] nimmt Platz) antworten, weil sie noch nicht beantwortet war. Das irri-
tiert etwas.
Es war doch nicht so schwer zu verstehen, dass wir Re-
gierungsbeteiligungen haben, Frau Kollegin Klöckner, (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr
und dass Sie – – Problem!)

(Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU] erhebt sich Eine kurze Nachfrage: Gehe ich recht in der An-
wieder) nahme, dass Ihre Aussage dahin geht, dass in einer Ko-
alition von zwei Partnern der Juniorpartner nicht in Re-
– Frau Klöckner, Sie brauchen sich jetzt nicht so zu be- gierungsverantwortung steht, sondern nur der große
nehmen. Partner?
(Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! – Abg. Hans-Michael Goldmann (FDP):
Julia Klöckner [CDU/CSU] nimmt wieder Wir gehen davon aus, dass wir in Regierungsmitver-
Platz und meldet sich zu einer weiteren Zwi- antwortung stehen. Das reicht uns.
schenfrage) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe
Sie sind ja sonst sehr angriffsfreudig. von der CDU/CSU: Ah! – Mechthild Rawert
[SPD]: Sonst wäre es doch Wahlbetrug!)
(B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Aber, liebe Frau Klöckner, wir sind hier, wie Sie wissen, (D)
Herr Kollege Goldmann, erlauben Sie eine weitere nicht im Bundesrat, sondern im Bundestag. Es ist schon
Zwischenfrage der Kollegin Klöckner? sehr interessant, wie Sie nachher abstimmen werden.
Wir haben einen Antrag eingebracht. – Frau Klöckner,
Hans-Michael Goldmann (FDP): hören Sie doch wenigstens zu! Sonst haben Sie es wieder
nicht verstanden.
Ja, gerne. Aber ich will erst einmal die erste Frage be-
antworten. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ich habe es ver-
standen, Sie nicht!)
(Lachen bei der CDU/CSU, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn Sie unseren Antrag gelesen haben – ich nehme an,
Sie haben ihn gelesen; er ist ja nicht sehr lang –, werden
Würden Sie, geschätzte Frau Kollegin Klöckner, in Sie festgestellt haben, dass darin steht: europäische Vor-
einer solchen Situation, zum Beispiel beim Weinabkom- gabe eins zu eins in nationales Recht umsetzen. Sie ha-
men, die Koalitionskarte ziehen? Haben nicht auch Sie ben bei mindestens fünfzig Wahlveranstaltungen vor der
beim Weinabkommen, das Rheinland-Pfalz nicht unbe- Bundestagswahl gesagt,
dingt nach vorne bringt – als ehemalige Weinkönigin
werden Sie das wissen –, dafür plädiert, dass wir eine (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war nicht
europäische Regelung bekommen, die der Interessenlage die Frage!)
Ihres Landes und dem internationalen Wettbewerb Rech-
dass Sie für eine Eins-zu-eins-Umsetzung sind.
nung trägt?
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das war eine
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kurze Antwort!)
Also keine Eins-zu-eins-Umsetzung?)
Deswegen sage ich hier ganz klar: Sie haben in dieser
Sie sollten hier nicht die Verantwortung abschieben. Sie Frage Wahlbetrug begangen und sonst überhaupt nichts.
haben „eins zu eins“ versprochen und Sie machen mor-
gen ganz eindeutig nicht „eins zu eins“. Das ist Wahlbe- (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der
trug und das wissen Sie ganz genau. CDU/CSU und der SPD)
Es gibt in dieser Regelung, die möglicherweise mor-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen im Bundesrat zum Tragen kommt, einen Punkt, den
Frau Klöckner, bitte schön. Aber ich bitte jetzt um Sie, liebe Frau Höhn, nicht so kritisch sehen sollten, wie
eine kurze Frage und auch um eine kurze Antwort. Sie es getan haben. Dabei geht es um die Kleinvoliere.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2735
Hans-Michael Goldmann
(A) Wir sind mit Ihnen völlig einer Meinung: Der alte Käfig ter Umständen nicht oder nicht in diesem Maße betrie- (C)
muss verschwinden; das ist überhaupt keine Frage. ben wird, überhaupt nichts.
(Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Bärbel (Beifall des Abg. Dr. Gerhard Botz [SPD])
Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Er nützt auch dem Konsumenten nichts.
– Frau Höhn, das haben wir immer gesagt. Wir haben hier lange Zeit darüber diskutiert. Eine
(Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- meiner ersten Reden in diesem Hohen Hause hatte die
NEN]: Und warum sind Sie dann für eine Ver- Hennenhaltung zum Thema. Das zeigt, wie lange wir
längerung?) uns damit schon beschäftigen. Mittlerweile haben einige
historische Ereignisse stattgefunden, zum Beispiel der
– Wenn Sie eine Zwischenfrage stellen möchten, dann Osnabrücker Hühnerfrieden,
sollten Sie sich dazu melden. Ansonsten müssen Sie sich
noch eine Minute das anhören, was ich sagen möchte. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jawohl!
Historisch!)
Ich habe schon Ihrer Kollegin, Frau Künast, gesagt:
der nicht gehalten hat. Der Bundesrat hat am
Käfig ist nicht gleich Käfig. Mit einer solchen Aussage
19. Dezember 2004 einen Beschluss gefasst, der genau
blamieren Sie sich im Grunde genommen. Sie wissen
das beinhaltet, was morgen im Bundesrat mit einiger
ganz genau, dass es auf die Ausgestaltung der Haltung
Wahrscheinlichkeit wiederum beschlossen werden wird.
ankommt. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ge-
Den damaligen Gesetzentwurf hat Ministerin Künast
sagt, dass Käfige verboten sind. Das Bundesverfassungs-
nicht unterschrieben. Man kann sich darüber streiten, ob
gericht hat gesagt: Man muss eine tierartgerechte Hal-
wir zwei Jahre verloren haben. Ich glaube, ja. Man hätte
tungsform finden. – Sie haben das Aufständern, das
diesen Schritt schon vor zwei Jahren vollziehen können.
Scharrvermögen und die Eiablage angesprochen. Wenn
die Käfigform den Kriterien der tierartgerechten Haltung Wenn man einen Vergleich zieht zwischen dem aus-
entspricht, dann ist artgerechte Haltung möglich. Was gestalteten Käfig, der Voliere, der Hühner-WG – wie
die Kleinvoliere angeht, machen wir uns auf den Weg zu auch immer man das nennen mag; ich will das jetzt nicht
mehr artgerechter Haltung. verniedlichen –, und dem, was 1999/2000 in diesem Be-
reich Standard war, der erkennt sehr wohl, dass erhebli-
(Beifall bei der FDP) che Fortschritte gemacht worden sind. Jedes der zurzeit
Sie wissen ganz genau, dass die Werte 60 Zentimeter existierenden Hennenhaltungssysteme ist durch Inten-
Höhe – was die Kleinvoliere angeht, wird morgen mög- sität gekennzeichnet und mit Vor- und Nachteilen verse-
hen. Jedes solche System bringt spezifische Probleme (D)
(B) licherweise ein entsprechender Beschluss gefasst – und
800 Quadratzentimeter Bodenfläche fachwissenschaft- mit sich. Ein System hat zwar den Nachteil, dass die
lich als artgerecht gelten. Deswegen sollten Sie hier mei- Hühner einen eingeschränkten Bewegungsraum haben
ner Meinung nach keinen Nebenkriegsschauplatz eröff- und auf Gitterdraht gehalten werden, dafür aber den Vor-
nen. Vielmehr sollten Sie schlicht und ergreifend sagen: teil, dass bestimmte Standards im Bereich Hygiene
Das, was morgen beschlossen wird, ist zwar mit Sicher- – Stichwort „Keimfreiheit“ und „Schutz vor bestimmten
heit keine Eins-zu-eins-Umsetzung, aber es ist weiß Gott Krankheiten“ – eingehalten werden können. Ein anderes
eine Weiterentwicklung der bisherigen Käfigbedingun- System, das der Boden- und Freilandhaltung, ist dem
gen. Dies bedeutet einen verbesserten Tierschutz. Problem der Koprophagie ausgesetzt: Hühner neigen
dazu, ihre Ausscheidungen zu fressen, und dadurch gibt
(Beifall bei der FDP – Peter Bleser [CDU/ es ganz bestimmte Erkrankungen und Krankheitssymp-
CSU]: Was haben wir denn gesagt?) tome.
Wir haben zur wissenschaftlich exakten Beurteilung
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: solcher Systeme keine Kriterien, mit denen man das
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Wilhelm Wohlbefinden und das Wohlverhalten von Hühnern im
Priesmeier von der SPD-Fraktion. Käfig messen kann.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Also müssen wir uns an Kriterien orientieren, die ob-
CDU/CSU) jektivierbar sind. Das sind zum einen die Mortalität und
zum anderen der Gesundheitszustand. Insofern gibt es
Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): bei der bisherigen Freiland- oder auch Bodenhaltung
Vorteile, aber auch noch erhebliche Probleme. Das gilt
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
es gegeneinander abzuwägen. Es gilt auch, eine vernünf-
und Kollegen! Man kann die Problematik der Hennen-
tige Entscheidung dazu zu treffen, wohin man sich in
haltung unter den verschiedensten Aspekten diskutieren.
Zukunft bewegen möchte.
Ein wichtiger Aspekt sind natürlich ethische Vorgaben
für die Nutztierhaltung. Der Tierschutz ist dabei ein ho- Wir wollen demnächst – im Augenblick sind von etwa
hes Gut. Es kommt aber auch darauf an, die unterschied- 38 Millionen Hühnern noch 30 Millionen in Systemen
lichen Interessen gegeneinander abzuwägen. Unseren mit eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit – zumindest
Nutztieren nutzt letztendlich nur der hohe Tierschutz- 50 Prozent in die Boden- und oder Freilandhaltung
standard, den wir in Deutschland haben. Uns nützt der bekommen – mit all den Schwierigkeiten, die in dem Zu-
Tierschutz in anderen europäischen Ländern, wo er un- sammenhang noch zu bewältigen sind; denn an sich müssen
2736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) alle drei Systeme weiterentwickelt werden. Sie bedürfen denn Tiere, die nicht artgerecht gehalten werden, liefern, (C)
bei ihrer Entwicklung einer erheblichen wissenschaftli- ökonomisch gesehen, natürlich nicht die entsprechenden
chen und auch wirtschaftlichen Unterstützung. Produkte und Ergebnisse.
Es kommt auch darauf an – das habe ich letzte Woche Wir kommen schon wesentlich weiter, wenn es uns
von der großen Tierschutzkonferenz der Kommission in gelingt, unter dem Aspekt der artgerechten Tierhaltung
Brüssel mitgenommen –, dass wir in Europa an vorders- entsprechende Kennzeichnungen für den Verbraucher
ter Stelle stehen, dass wir diese Standards, die erheblich vorzunehmen. Aber es hilft nicht viel weiter, hier erregte
über dem liegen, was im Jahr 2012 auf der EU-Ebene Diskussionen zu führen und uns vorzustellen, dass spä-
verpflichtend sein wird, weiter ausbauen und im Rah- testens am 31. Dezember 2006 30 Millionen Hennen ab-
men des Aktionsplans Tierschutz versuchen – das rege geschlachtet werden müssen. Wenn das der Fall wäre,
ich gegenüber der Bundesregierung an –, diese Stan- müssten alle Geflügelschlachthöfe in Deutschland wahr-
dards auf der europäischen Ebene zu etablieren, damit es scheinlich wochenlang im Dreischichtbetrieb Überstun-
dort nicht zu Wettbewerbsverzerrungen kommt. den fahren. Das können wir nicht leisten und das wird
auch niemand verlangen.
Fakt ist, dass wir die Nachfrage von Verbrauchern
– dabei geht es um die Schaleneier, die im Laden ver- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
kauft werden – aus Freiland- oder Bodenhaltung befrie- NEN]: Das ist Quatsch!)
digen können. Dass wir aus den anderen EU-Ländern Aber auch, wenn unser Selbstversorgungsgrad we-
oder aus dem sonstigen Ausland Eier aus Boden- oder sentlich sinkt, wird die Nachfrage nach Eiern in Europa
Freilandhaltung importieren, liegt häufig daran, dass un- nicht plötzlich um das Doppelte ansteigen. Das hat Aus-
sere Preise von Anbietern aus diesen Ländern unterboten wirkungen auf den Markt, auf das Preisgefälle, auf die
werden. Es gibt natürlich die Möglichkeit, Eier zu im- Arbeitsplätze, auf den vor- und nachgelagerten Bereich.
portieren; das ist ja ein ganz normaler Markt. Das Argument, dass Bodenhaltung oder Freilandhaltung
arbeitsintensiver ist, trifft zu. Aber dafür werden durch
Es geht auch um den Bereich der Verarbeitung von die Produktion im vor- und nachgelagerten Bereich we-
Schaleneiern zu Eiprodukten. Diesen Bereich gibt es in sentlich mehr Arbeitsplätze gesichert als in dem primä-
der Schweiz nicht mehr. In der Schweiz liegen ganz be- ren Bereich allein.
sondere Konstellationen vor. Deshalb kann man die
Schweiz in der Geflügelhaltung nicht zum Modell für Der Bereich ist sehr differenziert zu sehen, auch hin-
Deutschland machen, auch nicht zum Modell für die sichtlich der Größenordnung. Ich glaube, jeder, der sich
Niederlande oder für Belgien. in Zukunft engagieren möchte, hat eine Chance. Dazu
werden entsprechende Programme aufgelegt, zum einen
(B) Mit dem, was wir morgen hoffentlich als Beschluss finanziert aus dem Haushalt 2006, zum anderen aber (D)
des Bundesrates bekommen werden, werden wir zu- auch über die Rentenbank oder die GhK, sodass Be-
nächst einmal ein System etablieren, was nicht statisch triebe, die auf Bodenhaltung umsteigen wollen, finan-
ist, was also nicht dauerhaft festgeschrieben wird, son- zielle Unterstützung finden und entsprechende Perspek-
dern mit dem wir das umsetzen, was wir im Koalitions- tiven im Markt erwarten können. Aber es kommt auch
vertrag vereinbart haben und was uns Sozialdemokraten darauf an, die Standards letztendlich nicht zu zementie-
natürlich sehr am Herzen liegt, nämlich den Tierschutz- ren, sondern weiterzuentwickeln.
TÜV, also eine Prüfung von industriell hergestellten
In diesem Sinne, meine lieben Kolleginnen und Kol-
Haltungssystemen nach entsprechenden Kriterien unter
legen, lassen Sie uns gemeinsam an der Verbesserung
Beteiligung von Tierschützern, Ethologen, Beteiligten
des Tierschutzstandards in Deutschland arbeiten. Da
aus der Produktion und Herstellern. Es wird eine Syste-
sind weder die Hennenhaltung noch andere Bereiche
matik etabliert, wie sie die Schweiz schon hat und wie ausgeschlossen.
sie demnächst auch Österreich haben wird; in Österreich
gibt es nämlich ein neues Tierschutzgesetz, in dem das Danke schön.
ebenfalls geregelt wird. Da befinden wir uns, glaube ich, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
auf einem ganz guten Weg.
Es geht darum, die Entwicklung von Haltungssyste- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
men nicht aus einer emotionalen Ebene heraus zu be- Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
trachten, sondern zu versuchen, das anhand von wissen- von der Fraktion Die Linke.
schaftlichen Kriterien fassbar zu machen. Es nützt uns
wenig, wenn wir in dieser Gesellschaft im Einzelfall aus (Beifall bei der LINKEN)
der Kuscheltierperspektive darüber diskutieren, was
denn – vermeintlich – die Bedürfnisse von Tieren sind. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Die Hühner, die heute gehalten werden, sind nicht mehr Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
mit dem Bankivahuhn zu vergleichen, das vor Leider zu später Stunde soll über das Schicksal von
1 000 oder 2 000 Jahren irgendwo in Indien mal am 39 Millionen Legehennen diskutiert werden.
Waldrand gesessen hat. Heute haben wir hoch gezüch-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Die sitzen
tete Rassen, die unter bestimmten Bedingungen an
schon lange auf der Stange!)
bestimmte Verhältnisse adaptiert sind, die aber selbstver-
ständlich einen großen Teil ihrer normalen Verhaltens- Inzwischen ist die Frage, ob Legehennen in Käfigen le-
weisen behalten. Darauf muss man Rücksicht nehmen; ben sollen und wie groß diese dann sein sollen, zu einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2737
Eva Bulling-Schröter
(A) Glaubensfrage hochstilisiert worden. Es ist aber keine Andererseits importiert Deutschland inzwischen Millio- (C)
Glaubensfrage. Schließlich hat sich das Bundesverfas- nen von Eiern aus artgerechter Haltung aus Ländern wie
sungsgericht dazu schon im Jahre 1999 – das ist sieben den Niederlanden.
Jahre her, meine Damen und Herren – eindeutig geäußert:
Eine artgerechte Unterbringung muss den grundlegenden Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Verhaltensbedürfnissen von Hühnern entsprechen. Frau Kollegin Bulling-Schröter, erlauben Sie eine
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das hat Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck?
doch Herr Priesmeier schon widerlegt! Haben
Sie das nicht gehört?) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
Ja.
Das heißt – es wurde schon zitiert –: scharren, picken,
sandbaden sowie erhöht auf Stangen sitzen, ungestörte
und geschützte Eiablage, sich aufbäumen. Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Verehrte Frau Kollegin, Sie haben gerade Karl Marx
Ich verstehe nicht, meine Damen und Herren, warum zitiert. Stimmen Sie mir zu, dass es ein Ergebnis der mo-
Sie sich da jetzt so aufregen und was daran missver- dernen Landwirtschaft, die Sie kritisieren, ist, dass sich
ständlich ist. Ich verstehe erst recht nicht, warum gerade heute alle Arbeiter in Deutschland täglich ein Früh-
dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts immer wie- stücksei und regelmäßig ein Stück Fleisch leisten kön-
der in Zweifel gezogen wird. nen? Das ist etwas, wovon man zu Zeiten von Karl Marx
gar nicht zu träumen gewagt hätte.
(Beifall bei der LINKEN)
Bei anderen Urteilen tun Sie das nicht; die nehmen Sie Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE):
so hin. Ich stimme Ihnen zu, dass sich Arbeiterinnen und Ar-
beiter Eier und Fleisch leisten können. Aber unabhängig
Damals bei der Anhörung im Bundestag – ich war da-
davon denke ich, dass diese Menschen Eier und Fleisch
bei – wurden genau die gleichen Argumente vorgetra-
aus tiergerechter Haltung wollen.
gen. Daran hat sich nichts geändert. Aber sie werden
nicht richtiger, wenn sie immer wieder neu hervorge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
kramt werden. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]:
Immer wieder wird das Festhalten an den Hühnerkäfi- Aber zum selben Preis! – Julia Klöckner
gen mit der notwendigen Wettbewerbsfähigkeit be- [CDU/CSU]: Wenn sie das bezahlen können!)
gründet; sonst würde die Eierproduktion ins Ausland
(B) wandern. Solche Argumente höre ich zu jedem x-belie- Die Holländer haben die Zeichen der Zeit erkannt und (D)
bigen Thema, zum Beispiel AEG: Wenn ihr nicht billi- eben schon eher umgestellt. Denn sie wissen, dass im-
ger werdet, verlagern wir die Produktion ins Ausland. mer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher genau hin-
sehen, wie die Lebensmittel, die sie kaufen, produziert
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE werden.
LINKE] – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist
doch leider schon lange Fakt!) Ich frage die Befürworter der Batteriehaltung: Se-
hen Sie nicht eine Chance, hier Marktanteile zurückzu-
Herr Holzenkamp hat sich dieses Arguments wieder be- gewinnen, indem genau die Lebensmittel produziert
dient. Er hat sogar Karl Marx zitiert. werden, die die Mehrheit der Verbraucherinnen und Ver-
(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) braucher wünscht?
Wir reden jetzt einmal über Preise. Sachverständige
Herr Holzenkamp, ich kann Ihnen nur sagen: Zu Karl
haben uns die Preisdifferenz genannt: Ein Ei aus tierge-
Marxens Zeiten gab es noch keine Hühnerlegebatterien,
rechter Haltung ist, wenn alles gut läuft, um 0,4 Cent
der konnte sich nicht geäußert haben.
teurer. Ich bitte Sie! Wir reden also nur über 0,4 Cent.
(Beifall bei der LINKEN – Peter Bleser [CDU/ Natürlich nimmt gerade unsere Fraktion die Angst vor
CSU]: Die Kommunisten haben die schlimms- dem Verlust von Arbeitsplätzen sehr ernst.
ten Hühnerkäfige!) (Zuruf von der CDU/CSU: Aha! – Peter
Natürlich werden Eier im Ausland billiger produziert. Bleser [CDU/CSU]: Aber?)
Aber den Wettbewerb um das billigste Ei werden wir so- Aber wir müssen auch mittel- und langfristig denken:
wieso verlieren. Wir können auch noch einmal über den Eine artgerechte Haltung von Legehennen schafft mehr
Mindestlohn in Europa diskutieren; Arbeitsplätze und bessere Arbeitsbedingungen.
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hat damit (Beifall bei der LINKEN)
gar nichts zu tun!)
Sie bietet die Möglichkeit zu einer regionalen Vermark-
er ist dringend notwendig. Wenn in großen Hühnerlege- tung.
batterien in Niederbayern den Leuten die Löhne gekürzt
werden, dann ist das eine Sauerei. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Die Eier
sind dann so teuer, dass sich die Arbeiter keine
(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Dann zahlen Sie mehr leisten können! – Weitere Zurufe von der
doch für ein Ei 3 Euro!) CDU/CSU)
2738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Eva Bulling-Schröter
(A) – Es gibt dazu sogar ein Programm der CSU. Warum re- rungsverfahren bedürfen einer Rechtsgrund- (C)
gen Sie sich also darüber auf? – Auch wir wollen diese lage
regionale Vermarktung.
– Drucksache 16/577 –
(Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Um dies zu unterstützen fordern wir in unserem An- Sportausschuss
trag, die vom Bundestag beschlossene Förderung der Rechtsausschuss
tiergerechten Geflügelhaltung ohne Einschränkung bei- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
zubehalten. Gerade in den neuen Bundesländern wurden Ausschuss für Arbeit und Soziales
im Geflügelbereich schon in den 90er-Jahren Investitio- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
nen getätigt. Wir möchten nicht, dass diese Firmen durch Stokar von Neuforn, Volker Beck (Köln), Monika
die Umstellung in Existenzschwierigkeiten geraten. Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Auch sie sollen die Möglichkeit erhalten, über Sonder- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
kreditprogramme die Haltung der Tiere auf artgerechte
Haltungssysteme umzustellen. Das bedeutet für uns eben Kein Generalverdacht bei den Sicherheits-
nicht Kleinvolieren. überprüfungen zur Fußballweltmeisterschaft
2006
Mein Kollege Wunderlich – er ist Jurist – hat es ein-
mal ausgerechnet. Ein Huhn mit einem Gewicht von – Drucksache 16/686 –
2 Kilo soll auf 800 Quadratzentimetern leben.
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sportausschuss
Rechtsausschuss
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Alle Reden sollen zu Protokoll genommen werden1).
Das bedeutet für einen Mann mit einem Gewicht von Es handelt sich um die Wortmeldungen der Kollegin
90 Kilogramm, dass ihm, wenn Sie so entscheiden, in Beatrix Philipp von der CDU/CSU, des Kollegen
Zukunft 3,6 Quadratmeter zum Wohnen zustehen. Wolfgang Gunkel von der SPD, der Kollegin Gisela
Piltz von der FDP, der Kollegin Ulla Jelpke von der Lin-
(Beifall bei der LINKEN – Julia Klöckner ken und der Kollegin Silke Stokar von Neuforn vom
[CDU/CSU]: Aber er legt keine Eier!) Bündnis 90/Die Grünen.
(B) (D)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/577 und 16/686 an die in der Tages-
Ich schließe die Aussprache.
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind
den Drucksachen 16/839 und 16/1128 an die in der Ta- die Überweisungen so beschlossen.
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck
Zusatzpunkt 7. Es geht um die Beschlussempfehlung
(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-
des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
braucherschutz auf Drucksache 16/1142 zu dem Antrag
der Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Wettbewerbs- Kinderrechte in Deutschland vorbehaltlos um-
verzerrungen für Landwirte durch die Umsetzung der setzen – Erklärung zur UN-Kinderrechtskon-
EU-Richtlinie zur Haltung von Nutztieren in nationales vention zurücknehmen
Recht“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 16/590 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- – Drucksache 16/1064 –
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Überweisungsvorschlag:
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
alitionsfraktionen, der Fraktion des Bündnisses 90/Die Innenausschuss
Grünen sowie der Fraktion Die Linke mit einer Enthal- Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
tung und gegen die Stimmen der FDP angenommen. Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: Technikfolgenabschätzung
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Piltz, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weite- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicherheits-
überprüfungen im Rahmen von Akkreditie- 1) Anlage 7
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2739
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ßerdem soll keine Abschiebehaft mehr für minderjährige (C)
ner das Wort dem Kollegen Josef Winkler vom Bünd- Flüchtlinge verhängt werden dürfen.
nis 90/Die Grünen.
Deswegen halte ich es für anachronistisch, dass die
Bundesregierung so wie die Vorgängerregierung – damit
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie nicht wieder dazwischenrufen müssen – unverändert
NEN): den Standpunkt vertritt, dass eine Rücknahme des so ge-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nannten Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention le-
Herren! Der Deutsche Bundestag hat bereits mehrfach diglich symbolischen Charakter hätte und von daher
die Rücknahme der Erklärung zum Übereinkommen nicht notwendig sei.
über die Rechte des Kindes, der so genannten UN-Kin-
derrechtskonvention, gefordert, welche die damalige Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bundesregierung bei der Ratifizierung 1992 hinterlegt Kollege Winkler, erlauben Sie eine Zwischenfrage
hat. Diese Beschlüsse des Deutschen Bundestages sind der Kollegin Lenke?
bislang von der Regierung nicht umgesetzt worden.
(Ina Lenke [FDP]: Auch nicht von der rot-grü- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
nen!) NEN):
Ja, gerne.
– Das ist richtig, Frau Lenke.
(Ina Lenke [FDP]: Genau!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön.
Gestern jährte sich der Tag des In-Kraft-Tretens der
Kinderrechtskonvention zum 14. Mal. Die Bundesregie-
rung muss diesen längst überfälligen Schritt endlich Ina Lenke (FDP):
vollziehen. Dies ist das Anliegen des von meiner Frak- Herr Kollege, Sie haben sehr schamhaft verschwie-
tion vorgelegten Antrags. gen, dass es in den letzten sieben Jahren eine rot-grüne
Bundesregierung gab.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/
Im Interesse des Wohls aller hier lebenden Kinder so- DIE GRÜNEN]: Das weiß ja keiner! – Krista
wie um einer glaubwürdigen Kinderpolitik willen ist Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
die Aufrechterhaltung der Vorbehaltserklärung nicht ver- war kein Geheimnis!)
(B) tretbar. Auch die außenpolitische Glaubwürdigkeit der (D)
Bundesrepublik im Hinblick auf die konsequente Umset- Ich würde gerne von Ihnen wissen, warum Ihre Fraktion,
zung von Kinderrechten ist durch die Erklärung erheb- die den Außenminister gestellt hat, in dieser Koalition
lich beeinträchtigt. bei zwei Koalitionsverträgen, die Sie geschlossen haben,
nicht die Kraft hatte, dies durchzusetzen. Jetzt sind Sie in
(Ina Lenke [FDP]: Da war doch der Fischer! der Opposition. Wieso konnte das nicht geschehen, als
Sie hatten doch einen Außenminister!) Ihre Fraktion und damit Sie persönlich an der Bildung
der Bundesregierung beteiligt waren?
– Frau Lenke, das können Sie doch gar nicht bestreiten.
Regen Sie sich nicht so auf! Stellen Sie mir eine Zwi-
schenfrage! Dann habe ich ein bisschen mehr Redezeit. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Vier Minuten sind kurz. NEN):
Das ist eine sehr interessante Frage, die Sie da auf-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Josef, net werfen, Frau Kollegin.
hudle!)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Um welche konkreten Rechte geht es denn hier? Die
Ich freue mich, darauf antworten zu können. Die Tatsa-
Handlungsfähigkeit im Asylverfahren soll mit 18 Jah-
che, dass der Außenminister von unserer Partei gestellt
ren und nicht wie bisher mit 16 Jahren beginnen. Als
wurde, ist sicherlich richtig. Das hat auch eine nachhal-
Folgewirkung daraus würden unbegleitete minderjährige
tige Wirkung hinterlassen.
Flüchtlinge in diesem Alter aus dem Flughafenverfahren
herausfallen, nicht mehr in Sammelunterkünfte mit ih- (Ina Lenke [FDP]: Bei mir nicht!)
nen völlig unbekannten, anderen, fremden Flüchtlingen
untergebracht werden und würde die Drittstaatenrege- Wir waren in der Regierungsverantwortung. Im Gegen-
lung auf sie keine Anwendung finden. Sie würden statt- satz zu dem, was Herr Goldmann eben gesagt hat, stelle
dessen einer Jugendhilfeeinrichtung als Clearingstelle ich fest: Wenn wir in der Regierung sind, stehen wir für
zugeführt werden. alle Ressorts nicht nur in der Mitverantwortung, sondern
auch in der Gesamtverantwortung.
Minderjährige Flüchtlinge sollen Anspruch auf die
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!
Gewährung von Kinder- und Jugendhilfe haben, und
Mutig! Du bist ein Bekenner!)
zwar unabhängig von ihrem Status. Das betrifft vor al-
lem Kindersoldaten und traumatisierte Flüchtlinge, eine Ich habe gesagt: Das Parlament war sich einig, und zwar
Gruppe, die uns besonders am Herzen liegen muss. Au- fraktionsübergreifend.
2740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Josef Philip Winkler


(A) Den Innenminister haben wir leider nicht gestellt, wo- Katharina Landgraf (CDU/CSU): (C)
bei das „leider“ nicht von allen geteilt wird. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-
ehrte Damen und Herren der Fraktion der Grünen, gleich
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: An Schily
zu Beginn ein offenes Wort an Sie: Bei der Erarbeitung
habt ihr euch die Zähne ausgebissen! Das ist
des vorliegenden Antrages haben Sie sich offenbar in der
wahr!)
Schublade vertan. Bereits der gewählte Titel „Kinder-
Das Innenministerium hat sich auf die Rechtsposition, rechte in Deutschland vorbehaltlos umsetzen – Erklä-
dass es hier um eine Vereinbarung, die man mit den Län- rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurücknehmen“
dern abgeschlossen habe, gehe, zurückgezogen: Man ist in höchstem Maße irreführend.
stünde dort im Wort und könne es deshalb nicht zurück-
(Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
nehmen. Wenn ein Minister wie Schily meint, er stünde
im Wort, dann kann man sich als Fraktion auf den Kopf Letztlich wird damit im Umkehrschluss behauptet, dass
stellen, selbst wenn es Kabinettsmitglieder gibt, die viel- die Kinderrechte in Deutschland nicht oder nicht vorbe-
leicht körperlich nicht in der Lage sind, dies auch zu tun. haltlos umgesetzt werden.
(Heiterkeit) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Trotzdem kann man es dann nicht durchsetzen. Ich NEN]: Logisch! – Dr. Ilja Seifert [DIE
denke, damit ist die Frage – hoffentlich zufriedenstel- LINKE]: Stimmt ja auch!)
lend – beantwortet. Mit diesem Antrag stellen Sie die Bundesregierung,
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stellen Sie Deutschland in eine Ecke, wo sie – die Bun-
NEN]: Herr Schily war halt näher bei Herrn desregierung und unser Vaterland – gar keinen Platz ha-
Beckstein!) ben und auch nicht haben wollen.

Meine Fraktion teilt den Standpunkt, den die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU)
regierung unverändert einnimmt, jedenfalls nicht. Wir Sie sollten etwas vorsichtiger und bedachter mit knackig
stellen uns an die Seite der Kinderrechtsverbände und klingenden Titeln von Anträgen umgehen. Die Forde-
-organisationen, die seit langem – seit 14 Jahren – vehe- rung, Kinderrechte „vorbehaltlos“ umzusetzen, klingt im
ment die Rücknahme der Vorbehaltserklärung einfor- ersten Moment echt gut, fast wie „bedingungslos“. Hof-
dern. fentlich ist nicht „verantwortungslos“ gemeint. „Vorbe-
Es ist wirklich peinlich, wenn uns die Vereinten Na- haltlos“ verbindet sich schnell mit „unkritisch bedin-
tionen – die Staatenkonferenz – bereits zum zweiten Mal gungslos“.
(B) eine Abmahnung erteilen und sagen: In Deutschland Wenn es um Kinderrechte und deren Einhaltung geht, (D)
haben nicht alle Kinder einheitliche Rechte; deutschen können wir eigentlich nur verantwortungsvoll handeln.
Kindern werden andere Rechte als ausländischen Flücht- Das tun wir auch. Die Erklärung ist Ausdruck der Ver-
lingskindern gewährt. Das ist ein unhaltbarer Zustand. antwortung, die Deutschland bei der Anwendung der
Das muss unbedingt geändert werden! UN-Kinderrechtskonvention übernimmt. Dass die Bun-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie desregierung damals im Konsens mit den Bundesländern
des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) die Erklärung abgegeben hat, war gut so, denn dadurch
wurden Fehlinterpretationen der Gesetze verhindert.
Meine Damen und Herren von der großen Koalition
– ich spreche jetzt einmal beide Regierungsfraktionen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
an, muss allerdings angesichts der neuen Situation ein GRÜNEN]: Das kann ich wirklich nicht tei-
bisschen mit dem Kopf wackeln –, der von Ihnen ange- len!)
nommene Nationale Aktionsplan „Für ein kinderge- Ein Vergleich der Regelungen der UN-Kinderrechtskon-
rechtes Deutschland“ schließt bisher die Flüchtlingskin- vention mit der derzeitigen Gesetzeslage ergibt, dass die
der von der dort angepeilten Kinderfreundlichkeit aus. Vorbehalte aufrechterhalten bleiben müssen, um Fehl-
Meine Fraktion hinterfragt deshalb sehr ernsthaft, ob Sie interpretationen tatsächlich zu verhindern.
es mit diesem Nationalen Aktionsplan wirklich ernst
meinen. Die UN-Kinderrechtskonvention bezieht innerstaatli-
che Bereiche ein, für die ausschließlich die Bundeslän-
Ich meine, wir dürfen nicht länger zwischen Kindern, der zuständig sind.
die Flüchtlinge sind, und deutschen Kindern unterschei-
den. Wir fordern Sie auf: Nehmen Sie endlich die Vorbe- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!)
halte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurück. Das ist doch wohl der springende Punkt. Demnach sind
Herzlichen Dank. die Haltung und die faktische Betroffenheit der Bundes-
länder für die Aktionsmöglichkeiten der Bundesregie-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung von ausschlaggebender Bedeutung. Ohne Bundes-
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) länder geht es hier nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Katharina Landgraf Auch deshalb sollten wir deren Bedenken sehr ernst
von der CDU/CSU-Fraktion. nehmen, um endgültig Klarheit in der Frage der richti-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2741
Katharina Landgraf
(A) gen Anwendung der UN-Kinderrechtskonvention zu er- in der Vorbehaltserklärung enthaltenen Einschränkungen (C)
reichen. die völkerrechtliche Grundlage hierfür geboten haben.
Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Vorbehaltserklä- Ich fasse zusammen: Die Forderungen der Fraktion
rung sachgerecht ist, dass die Konvention keine unmit- des Bündnisses 90/Die Grünen basieren auf der fehler-
telbar einklagbaren Rechte der Kinder enthält, sondern haften Auffassung, Kinder hätten weltweit einen An-
ausschließlich eine völkerrechtliche Verpflichtung der spruch auf Einreise und Aufenthalt, so auch in Deutsch-
Vertragsstaaten darstellt. land. Nochmals sei betont: Bei den Erklärungen, die
Deutschland vor 14 Jahren anlässlich der Ratifizierung
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ist der UN-Kinderrechtskonvention abgegeben hat, handelt
es!) es sich nicht um Vorbehalte im völkerrechtlichen Sinne,
Die Innenminister von Bund und Ländern sind sich ei- sondern um Interpretationserklärungen.
nig, dass in Deutschland die Vorgaben aus der UN-Kin- Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Frak-
derrechtskonvention vollständig erfüllt sind. Mit dem tion des Bündnisses 90/Die Grünen, Sie haben in Ihrem
am 1. Juli 1998 in Kraft getretenen Gesetz zur Reform Antrag interessanterweise selbst vermerkt, dass vier der
des Kindschaftsrechtes wurde eine Regelung geschaffen, fünf Punkte aus der Vorbehaltserklärung durch entspre-
die dem Wohl der Kinder besser gerecht wird. Zusätzlich chende Gesetzesänderungen inzwischen geregelt sind:
möchte ich hier hervorheben, dass in Deutschland das
Kindeswohl an erster Stelle steht und wir das gemein- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Aha! –
same Sorgerecht der Eltern festgeschrieben haben. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: So ehrlich sind wir!)
Eine offizielle Rücknahme der Erklärung könnte
fälschlicherweise als Signal verstanden werden, die durch Änderungen im Kindschaftsrecht, durch eine
Bundesregierung würde von ihrer Position abweichen. kind- und jugendgerechte Auslegung des Jugendstraf-
Das hieße auch, dass einzelnen Bestimmungen der Kon- rechts sowie durch die Ratifizierung des Fakultativproto-
vention nunmehr größere Bedeutung, wenn nicht gar un- kolls zur Beteiligung von Kindern an bewaffneten Kon-
mittelbare innerstaatliche Wirkung zukäme. Dies könnte flikten. Jetzt wollen Sie sozusagen auf der Zielgerade
zu einer Rechtsunsicherheit bei der Anwendung beste- des jahrelangen Marathons diese Erklärung zurückholen
hender Vorschriften des Ausländer- und Asylrechts füh- lassen, und das, nachdem Sie selbst als Akteur aus dem
ren. Erschwernisse bei der Durchsetzung der Ausreise- Marathon ausgestiegen sind, also keine Regierungsver-
pflicht Minderjähriger wären die Konsequenz. Aber antwortung mehr tragen – auch in dieser Sache nicht.
auch dem zunehmenden Missbrauch durch Personen, die (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
ohne Vorlage von Dokumenten vortragen, minderjährig NEN]: Das bedauern Sie offenbar!)
(B) zu sein, würde Tür und Tor geöffnet. (D)
Das hat den Eindruck eines Scheingefechts.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber im Rest der Welt ist das Der übrig gebliebene Punkt berührt in hohem Maße
scheinbar nicht der Fall!) die Hoheit der Bundesländer. Hier sollten Bund und
Länder gemeinsam im Rahmen der Evaluierung des Zu-
Minderjährigkeit allein kann weder nach nationalem wanderungsgesetzes nach Lösungen suchen, die den In-
noch nach internationalem Recht ein Einreiserecht be- teressenlagen der Länder und des Bundes entsprechen.
gründen oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigen- Wir sind auf Bundesebene gut beraten, mit klugen Rat-
schaft rechtfertigen. schlägen und Vorgaben zurückhaltend zu sein. Ein fairer
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sehr klar Dialog innerhalb des Bundestages mit der Bundesregie-
dargestellt!) rung und den Ländern könnte eine Lösung der gesamten
Problematik herbeiführen.
Anders als bei der UN-Kinderrechtskonvention wird
im deutschen Recht zwischen Kindern und Jugendli- (Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip
chen differenziert. Im Hinblick auf die Problematik der Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingskinder könnte Kommt gar nicht in Frage! Es ist Aufgabe des
dies zur Folge haben, dass auf eine Differenzierung zwi- Parlaments, die Regierung zu kontrollieren!)
schen Rechten für Kinder und Rechten für Jugendliche Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
verzichtet würde. wenn Sie sich tatsächlich und wirksam für die Umset-
zung von Kinderrechten in Deutschland engagieren wol-
Der Vorbehalt schließt einen unmittelbaren innerstaat-
len, habe ich eine kleine Anregung:
lichen Individualanspruch aus. Ein Wegfall des Vorbe-
halts wäre daher mit dem Risiko verbunden, dass Kosten (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
bei der Unterbringung der minderjährigen unbegleiteten NEN]: Das machen wir schon lange!)
Flüchtlinge in der Altersgruppe der 16- bis 18-Jährigen
entstehen würden. Dafür gibt es weder eine sachliche Unterstützen Sie die Vorschläge und Aktivitäten für eine
Notwendigkeit noch Finanzierungsvoraussetzungen; gute Kinderpolitik unserer neuen Familienministerin,
(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip
(Beifall bei der CDU/CSU)
Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo-
denn die Abschiebung Unter-18-Jähriger ist von der bei sie einen guten Staatssekretär hat! Herr
Rechtsprechung nur deshalb getragen worden, weil die Kues ist wirklich geeignet für den Job!)
2742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Katharina Landgraf
(A) zum Beispiel bei den Mehrgenerationenhäusern, bei den muss selbst Vorbild sein und darf keine Vorbehalte ge- (C)
Früherkennungsuntersuchungen oder den Regelungen genüber UN-Konventionen haben.
zum Unterhaltsrecht zugunsten der Kinder. Das ist der
(Beifall bei der FDP)
beste und einfachste Weg, Kindern wirksam zu helfen
und sie auf dem Weg ins Leben zu begleiten. Darüber So lange wir nicht mit gutem Beispiel vorangehen, be-
können wir uns zu gegebener Zeit im Familienausschuss stehen Zweifel am Willen Deutschlands zur Umsetzung
unterhalten. der Konvention. Die Folge: Die Bundesregierung wird
auf internationalem Parkett nicht ernst genommen, wenn
Vielen Dank.
sie sich für eine schnelle Ratifizierung anderer Proto-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) kolle zur Wahrung der Menschenrechte einsetzten will.
(Beifall bei der FDP)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Landgraf, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung durch die Bun-
ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen desregierung ist deshalb mehr als überfällig. Zumindest
Glückwunsch! darüber sind wir uns einig.

(Beifall) Umso unglaublicher ist es, dass die Vorbehaltserklä-


rung noch immer Gültigkeit besitzt, obwohl sich der
Das Wort hat jetzt die Kollegin Miriam Gruß von der Deutsche Bundestag, der Petitionsausschuss und die
FDP-Fraktion. Kinderkommission schon mehrmals für die Rücknahme
ausgesprochen haben. Das Votum des deutschen Parla-
(Beifall bei der FDP)
ments wurde von der Bundesregierung – sei sie rot-grün
oder rot-schwarz – bislang schlichtweg ignoriert.
Miriam Gruß (FDP):
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Zu Beginn der Legislaturperiode fragte ich Familien-
nen und Kollegen! Dass der Deutsche Bundestag heute ministerin von der Leyen, was die jetzige Bundesregie-
zum wiederholten Male über die Rücknahme der Vorbe- rung unternehmen wolle, um vor allem den unbegleiteten
haltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention disku- minderjährigen Flüchtlingskindern in Deutschland
tiert, ist an sich schon eine Farce. Noch viel erstaunlicher die Rechte einzuräumen, die ihnen zustehen. Frau von
ist allerdings, dass der Antrag, den wir heute beraten, der Leyen antwortete mir, es fehle noch die Zustimmung
von der Fraktion der Grünen kommt. der Länder.

(Ina Lenke [FDP]: Das kann man nicht oft ge- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(B) NEN]: Da hat sie aber Recht! Auch die der (D)
nug sagen! – Wolfgang Wieland [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Folgerichtig!) FDP-mitregierten Länder!)

– Meine Damen und Herren der Bündnisgrünen, hören Dieses fadenscheinige Argument ist so alt wie die Dis-
Sie mir bitte zu. Sie hatten, wie meine Kollegin Frau kussion um die Rücknahme der Erklärung.
Lenke gerade gesagt hat, sieben Jahre Zeit, die Vorbe- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der CDU/
haltserklärung zurückzunehmen. CSU)
(Beifall bei der FDP) – Warum regen Sie sich denn eigentlich über meine
Ein grüner Außenminister hat es sieben Jahre lang nicht Sätze auf? – Aus falschem Respekt gegenüber den Bun-
für nötig gehalten, ein völkerrechtliches Signal zu setzen desländern werden Kinderrechte missachtet!
und das Übereinkommen der Vereinten Nationen über (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
die Rechte des Kindes endlich vollständig umzusetzen.
Nach meinem Verständnis ist dies eine falsche Show, in
(Beifall bei der FDP – Ina Lenke [FDP]: der sich alle Beteiligten vor Verantwortung drücken,
Genauso ist das!) Entscheidungen hinauszögern und dafür Menschen-
rechte zurückstellen. Ist das das Bild, das wir national,
Man darf sich schon sehr darüber wundern, dass Sie sich
aber auch international vermitteln wollen?
nun, aus der Opposition heraus, für die Flüchtlingskinder
in Deutschland stark machen wollen. Meine Aufforderung gilt heute der Bundesregierung:
Haben Sie endlich den Mut, für die Rechte junger Men-
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
schen geradezustehen! Verstecken Sie sich nicht hinter
GRÜNEN]: Wir haben es sieben Jahre ver-
schwachen Ausreden!
sucht, Sie haben es 16 Jahre versucht!)
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
Warum waren Sie nicht vorher so konsequent? Verfah-
GRÜNEN]: Folgen Sie endlich meinem An-
renstechnisch – das kann ich leider nicht anders sagen –
trag!)
ist dieser Antrag gründlich misslungen.
Es ist eine Schande für Deutschland, dass wir gerade in
Doch kommen wir zu einem viel wichtigeren Part, punkto Kinderrechte so rückständig sind. Der Zeitpunkt,
dem Inhalt. Selbstverständlich wird die FDP-Bundes-
dies zu ändern, ist längst gekommen.
tagsfraktion diesem Antrag zustimmen. Wer wie
Deutschland die Menschenrechte weltweit einklagt, (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2743

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wir einen Bruch und lassen die Kindheit mit 16 Jahren (C)
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marlene Rupprecht aufhören. Deshalb geht es immer noch um eben diese
von der SPD-Fraktion. Gruppe der 16- bis 18-jährigen Flüchtlinge, die nach
Deutschland kommen. Davon sind pro Jahr in der Bun-
Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): desrepublik – ich sage das, damit wir wissen, worüber
wir reden, und überlegen, ob es wert ist, dass bei uns die
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Xenophobie ausbricht – circa 300 Kinder betroffen.
Vielen Dank dafür, dass Sie heute Abend noch anwesend
sind. Deshalb lohnt es sich eigentlich nicht, dass wir dafür
einen Konflikt auftun. Weltweit sagt jeder: Warum
(Zuruf von der CDU/CSU: So sind wir!) macht ihr das? Warum beseitigt ihr das nicht endlich?
Das finde ich wunderschön. Beim zweiten Staatenbericht, den das Ministerium 2004
vorgelegt hat, hat uns die Berichterstatterin der Verein-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Für uns sind die ten Nationen gesagt: Ihr spielt, was Kinder anbelangt,
Kinder wichtig!) weltweit in der ersten Liga. Ihr steht ganz vorn. – Ich
– Ja, für mich auch. denke, das kann man mit Recht sagen. Es wird für Kin-
der in der Bundesrepublik viel gemacht. Bei allem Ge-
Ich denke, ich beginne einmal so: Keine der Parteien, jammere: Unsere Kinder leben hier nicht schlecht.
die hier durch Fraktionen vertreten sind, hat sich in der
Vergangenheit beim Thema Rücknahme der Vorbehalts- Wie wir gehört haben, hat der Bundestag die Regie-
erklärung besonders mit Ruhm bekleckert, weder die rung – egal welche – bereits mehrfach aufgefordert, sie
FDP, noch die Grünen, noch die SPD, noch die CDU/ möge die Vorbehaltserklärungen zur Kinderrechtskon-
CSU. Wir alle sind aber lernfähig und deshalb versuche vention zurücknehmen. Vertreter der Ministerien haben
ich es heute Abend noch einmal mit einem ganz sachli- uns in der Kinderkommission erklärt, dass sie eigentlich
chen Umgang mit diesem Thema. völlig überflüssig sind, weil durch sie nichts verhindert,
aber auch nichts verbessert wird. Wenn wir sie zurück-
Ich denke, ich darf mich als alte Häsin bezeichnen, nehmen würden, würde sich also nichts ändern. Trotz-
und ich sehe hier etliche alte Häsinnen und Hasen sitzen; dem möchte ich den Versuch, darauf hinzuwirken, dass
wir haben ja auch bald Ostern. Deshalb würde ich gern dies geschieht, heute erneut unternehmen. Vielleicht
noch einmal auf die Entstehung der Kinderrechte ein- schaffen wir es, dieses Vorhaben gemeinsam anzugehen.
gehen. Gestern vor 14 Jahren – Kollege Winkler hat da- Ich würde mir sehr wünschen, dass uns das gelingt.
rauf hingewiesen – hat die Bundesrepublik die UN-Kin-
derrechtskonvention mit der Ratifizierungsurkunde, die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(B) sie bei den Vereinten Nationen hinterlegt hat, in deut- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert (D)
sches Recht umgesetzt. Am 20. November 1989 haben [DIE LINKE])
die Vereinten Nationen die Kinderrechte gemeinsam be- Auch in unserer Koalitionsvereinbarung ist das Ziel
schlossen. Das ist die meist gezeichnete Konvention der der Umsetzung des Nationalen Aktionsplans erwähnt.
Vereinten Nationen. Ich finde, wir können stolz darauf Aber vielleicht – das meine ich jetzt nicht hämisch –
sein, dass wir das geschafft haben. habe auch ich nicht alle Punkte, die wir beschlossen ha-
ben, im Kopf. Deshalb wiederhole ich: Dort heißt es,
(Beifall bei der CDU/CSU)
dass wir uns vorgenommen haben, für die Rücknahme
Zum damaligen Zeitpunkt hat man geglaubt, man der Vorbehaltserklärungen einzutreten. Geben wir uns
müsste zu einigen der Artikel Erklärungen abgeben, zum also einen Ruck! Das wäre ein gutes Zeichen für unser
Teil deshalb, weil Dinge angeführt wurden, die wir im Land. Daran würde deutlich, dass wir Erwachsene lern-
nationalen Recht noch nicht so geregelt hatten, wie es fähig sind; das erwarten wir schließlich auch von den Ju-
die Konvention vorschreibt. Ich will einfach noch ein- gendlichen. Wir sollten dafür sorgen, dass man in allen
mal die entsprechenden Stichworte nennen; vielleicht Bereichen bis zum Alter von 18 Jahren als Kind gilt. Ich
fällt es uns dann leichter, manche Gräben aufzubrechen, glaube, dass wir das gemeinsam schaffen können.
manchen Ballast abzuwerfen und das Ganze neu zu be-
(Beifall bei der SPD, der FDP und dem
trachten: Umgangs- und Sorgerecht, Rechtsbeistand bei
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg.
minderschweren Fällen, Adoptionsrecht, Kinder in be-
Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
waffneten Konflikten. All das haben wir geregelt.
Herr Singhammer, ich weiß, dass auch Sie einmal
Jetzt steht noch ein Punkt aus, durch den bei vielen Mitglied der Kinderkommission waren.
offensichtlich eine Xenophobie – ich finde das Wort so
schön; übersetzt: Angst vor dem Fremden – ausbricht. (Ina Lenke [FDP]: Jetzt ist Herr Singhammer
Es wäre schön, wenn wir diese ablegen und weiter nüch- im Familienausschuss! Da wird er noch viel
tern an das Thema herangehen würden. Warum also ha- besser!)
ben wir gegen diesen Artikel immer noch einen Vorbe-
An diese Zeit möchte ich Sie erinnern. Es wäre doch ge-
halt? Die Vereinten Nationen – dies sage ich für die
lacht, wenn wir das nicht gemeinsam schaffen.
jugendlichen Zuhörer – kennen nicht den Begriff der Ju-
gendlichen; die Kindheit reicht somit von 0 bis 18 Jah- Ich würde gern im Juni nach Stockholm fahren und
ren. Das akzeptieren wir im Allgemeinen auch, nur in beim Europarat sagen können, dass wir unser Ziel ge-
diesem einen Fall, bei der Konvention, nicht. Hier haben meinsam erreicht haben und jetzt wirklich in der ersten
2744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

Marlene Rupprecht (Tuchenbach)


(A) Liga spielen. Vielleicht erreichen wir im Fußball nicht Für die Kinder werden wir aber Verantwortung überneh- (C)
den ersten Platz. Aber wenn es um Kinder geht, können men müssen.
wir es weltweit auf den ersten Platz schaffen.
Ich bitte Sie alle, das nicht zu verhindern, weder auf-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Josef grund von falschen Rücksichtnahmen noch weil der eine
Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder andere Bedenken hat. Das können wir heute Abend
NEN]: Genau! Bei Frauen und bei Kindern gemeinsam schaffen. Wenn Sie von den Grünen dann
schaffen wir das!) mit Ihrem Antrag dazu beigetragen haben, begrüße ich
das sehr. Sie hätten auch den gleichen Antrag wie beim
Das ist für mich in diesem Sommer das Wichtigste. letzten oder vorletzten Mal einbringen können; das wäre
Dann können wir uns auf unser eigentliches Geschäft egal gewesen. Sie haben diese Diskussion in Gang ge-
besinnen: die gute Kinderpolitik in Deutschland gemein- bracht. Dafür ist Ihnen ganz herzlich zu danken. Wir alle
sam fortzusetzen. Trotz aller Differenzen, die wir haben, sollten über dieses Vorhaben noch einmal nachdenken.
sind wir uns in diesem Punkt einig. Nun müssen wir die Herr Singhammer, wir gehen miteinander einen Kaffee
Grundlagen dafür schaffen. Diese Diskussion sollten wir trinken; vielleicht können wir uns dann einigen.
nicht so führen, dass sie niemand mehr nachvollziehen (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
kann. Deshalb habe ich Ihnen aufgezeigt, worum es ei-
gentlich geht: Wenn man schon in den Ministerien der
Ansicht ist, dass sich durch die Rücknahme der Vorbe- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
haltserklärungen nichts ändern wird, dann sollte das Par- Die Rede der Kollegin Ulla Jelpke nehmen wir zu
lament endlich einen gemeinsamen Antrag auf den Weg Protokoll.1) Damit schließe ich die Aussprache.
bringen und dieses Werk vollenden. Wenn wir das noch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
in diesem Jahr schaffen würden, wäre das sehr schön. Drucksache 16/1064 an die in der Tagesordnung aufge-
Wir müssen natürlich auch darüber nachdenken, was führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
es bedeutet, Kind zu sein. Dabei geht es zum Beispiel verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
um die Frage: Sind Kinder bis 18 Jahre keine Auslän- so beschlossen.
der? In der UN-Kinderrechtskonvention heißt es näm- Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
lich: Kinder bedürfen unseres besonderen Schutzes, ordnung.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- destages auf morgen, Freitag, den 7. April 2006, 9 Uhr,
NEN sowie bei Abgeordneten der FDP) ein.
(B) (D)
ob sie Inländer oder Ausländer sind. Von jedem Erwach- Die Sitzung ist geschlossen.
senen erwarte ich, dass er für sich selbst sorgt. Wenn ich
ihn unter Wasser drücke, kann er nicht atmen; das ist lo- (Schluss: 22.14 Uhr)
gisch. Aber unter normalen Bedingungen muss ich für
einen Erwachsenen keine Verantwortung übernehmen. 1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2745

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Antrags: Gegen die Schließung
von 45 Standorten der Deutschen Telekom AG
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich (Tagesordnungspunkt 11)

Arnold, Rainer SPD 06.04.2006 Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):


Die Einführung von Wettbewerb bei der Telekommuni-
kation hat die Voraussetzung für das Entstehen von Hun-
Bülow, Marco SPD 06.04.2006 derttausenden neuen Arbeitsplätzen im Bereich der In-
formations- und Kommunikationsdienstleistungen, der
Glos, Michael CDU/CSU 06.04.2006 neuen Medien und des E-Commerce geschaffen. Wir un-
terstützen diesen Prozess und fordern faire Wettbewerbs-
Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 06.04.2006 bedingungen für große und kleine Unternehmen.
Wer wie die PDS Staatsunternehmen erhalten will,
Griese, Kerstin SPD 06.04.2006 der verwehrt kleinen und mittleren Unternehmen den
Marktzugang und verhindert so das Entstehen wettbe-
Heinen, Ursula CDU/CSU 06.04.2006 werbsfähiger Arbeitsplätze.
Die Deutsche Telekom AG als früheres Monopolun-
Heller, Uda Carmen CDU/CSU 06.04.2006 ternehmen hat einen schwierigen Anpassungsprozess zu
Freia meistern. Sie muss unter Wettbewerbsbedingungen be-
stehen und sich auf neuen Märkten positionieren. Natur-
Hilsberg, Stephan SPD 06.04.2006 gemäß muss sie Marktanteile an neue Wettbewerber
abgeben. Per saldo sind bei den Telekommunikationsun-
ternehmen seit der Liberalisierung 1998 neue Arbeits-
Homburger, Birgit FDP 06.04.2006
plätze entstanden.
(B) (D)
Kortmann, Karin SPD 06.04.2006 Der Bund sollte seine Anteile kontinuierlich verkau-
fen und die Mittel aus dieser Privatisierung in Bildung
und Forschung investieren. Nur so können für die Zu-
Leutert, Michael DIE LINKE 06.04.2006
kunft Arbeitsplätze in Deutschland gehalten werden. Die
PDS will an Staatsunternehmen festhalten und meint,
Michelbach, Hans CDU/CSU 06.04.2006 mit Staatsunternehmen die Probleme strukturschwacher
Regionen lösen zu können. Diese Versuche sind bereits
Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 06.04.2006 sehr oft gescheitert. Wir wollen strukturschwache Regio-
DIE GRÜNEN nen mit Zukunftsinvestitionen und nicht mit Staatsunter-
nehmen unterstützen.
Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 06.04.2006 Unter anderem durch schwere Versäumnisse und Feh-
ler des Managements ist es der Deutschen Telekom AG
Otto (Frankfurt), Hans- FDP 06.04.2006 nicht gelungen, sich so auf dem Markt zu behaupten,
Joachim dass sie ohne Personalabbau auskommt. Wer aber will,
dass auch bei der Telekommunikation Wettbewerb
Parr, Detlef FDP 06.04.2006 greift, der kann nicht ausschließen, dass auch bei frühe-
ren Monopolunternehmen Personal abgebaut werden
muss. Andernfalls könnte auch bei den Wettbewerbern
Schäffler, Frank FDP 06.04.2006 kein Personal aufgebaut werden. Der Antrag der PDS
hat mit der Realität nichts zu tun. Der Bund hält nur
Schummer, Uwe CDU/CSU 06.04.2006 noch eine Minderheitsbeteiligung an der Deutschen Te-
lekom. Richtig ist, dass die Deutsche Telekom AG im
Steenblock, Rainder BÜNDNIS 90/ 06.04.2006* Einvernehmen mit dem Betriebsrat die Zahl der Callcen-
DIE GRÜNEN ter von 91 auf 58 reduziert. Die Mitarbeiter in den zu
schließenden Callcentern erhalten Angebote, in anderen
Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 06.04.2006 Callcentern zu arbeiten. Es gibt keine betriebsbedingten
Kündigungen. Wir fordern die DTAG auf, für Härtefälle
soziale Lösungen zu suchen. Wir fordern die Deutsche
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Telekom auf, wo immer möglich durch Qualifizierung
sammlung des Europarates und Umschulung neue Perspektiven für Mitarbeiterinnen
2746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) und Mitarbeiter zu schaffen, deren Beschäftigung weg- Hier haben sich bereits nach wenigen Monaten die (C)
fällt. Netto werden im Konzern 19 000 Stellen abgebaut, ersten Erfolge eingestellt. Es ist eine gute Entwicklung,
dabei werden 27 000 Stellen abgebaut, während 8 000 dass die Entsorgung spaltbaren Materials durch die
Stellen neu aufgebaut werden. jüngsten Gerichtsurteile neue Perspektiven erhalten hat.
Wenn die Verfahren zur Nutzung von Gorleben und des
Wir halten auch nichts davon, der Deutschen Telekom Schachtes Konrad jetzt zügig weiter vorangetrieben wer-
AG in neuen Bereichen Monopolstellungen zu gewäh- den, haben wir demnächst einen sicheren Entsorgungs-
ren. Bisweilen erweckt die DTAG ja den Eindruck, dann weg für unser spaltbares Material. Damit war der Kampf
auf Arbeitsplatzabbau verzichten zu können. Der Abbau unseres geschätzten ehemaligen Kollegen Kurt-Dieter
von Arbeitsplätzen bei Wettbewerbern wäre das Ergeb- Grill erfolgreich – auch wenn das manchem hier nicht
nis. EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes hat in schmecken mag.
einem Brief an die Bundesregierung festgestellt, das der
Entwurf zur Novelle des Telekommunikationsgesetzes Wir von der Union bekennen uns klar zu Forschung
nicht mit dem europäischen Telekommunikationsrecht und technologischer Entwicklung und wollen eine kon-
übereinstimmt und ein Vertragsverletzungsverfahren sistente innovationsförderliche Politik auch und gerade
nach sich ziehen wird. Die Bundesregierung will die im Bereich der Kerntechnik betreiben. Deshalb hat die
DTAG für den Aufbau des VDSL-Breitbandes von der neue unionsgeführte Bundesregierung, haben Bundes-
Zugangs- und Preisregulierung durch die Bundesnetz- kanzlerin Dr. Angela Merkel und Bundesforschungsmi-
agentur ausnehmen. Das würde der Deutschen Telekom nisterin wichtige und klare Akzente im Forschungsbe-
AG gestatten, ihre marktbeherrschende Stellung in einen reich gesetzt. Das neu aufgelegte Investitionsprogramm
weiteren Bereich auszudehnen, denn Wettbewerber hät- stärkt die Spitzentechnologie und gibt eine Perspektive
ten nicht die Möglichkeit, diese innovativen Dienste an- – endlich – für eine angemessene und verlässliche Fi-
zubieten. Der Regulierungsverzicht erhöht die Preise für nanzierung unserer zukunftsweisenden Forschungsein-
Verbraucherinnen und Verbraucher, innovative Anbieter richtungen.
von Diensten und erschwert den Marktzugang für Wett-
bewerber. Durch dieses Vorgehen werden Unternehmen Im Bereich der Kernforschung geht es in der Tat da-
wie zum Beispiel Arcor oder iesy benachteiligt, um rum, wesentliche Versäumnisse der Vergangenheit aus-
Marktchancen bei im neu entstehenden Triple-Play- zugleichen. Deutschland muss auf diesem wichtigen
Markt – Fernsehen, Internet und Telefonie über eine Lei- Forschungsfeld verlorene Kompetenzen wiedergewin-
tung – beraubt. nen. Wir wollen in der Kernforschung unseren Beitrag
für einen fruchtbaren und ertragreichen gemeinsamen
Wir sind für faire Wettbewerbsbedingungen für alle europäischen Forschungsraum leisten. Es ist doch offen-
(B) Unternehmen. Wir treten für soziale Schutzrechte für die sichtlich, dass ohne starken Beitrag Deutschlands (D)
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein, die in allen Europa im Wettlauf mit anderen dynamisch aufstreben-
Unternehmen gleichermaßen gelten. den Regionen nur schwer bzw. nicht mithalten kann, wie
Staatssekretär Rachel zu Recht unterstrichen hat.

Anlage 3 Die Ergebnisse dieser Forschung müssen für die hei-


mische Anwendung und den wissenschaftlichen Aus-
Zu Protokoll gegebene Reden tausch ebenso wie für einen nutzbringenden Export von
Gütern und Dienstleistungen genutzt werden. Hierauf
zur Beratung des Antrags: Voraussetzungen für
haben Staatssekretärin Dagmar Wöhrl und unser Wirt-
Entwicklung, Bau und Betrieb einer Europäi-
schaftsexperte Laurenz Meyer immer wieder hingewie-
schen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch-
sen. Das derzeit im deutschen Forschungsbereich vor-
land schaffen – Deutsche Bewerbung vorantrei-
ben (Tagesordnungspunkt 15) handene Wissen muss erhalten werden. Die Weitergabe
des Know-hows an die folgende Generation von Wissen-
schaftlern ist zu garantieren.
Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Wir
alle wissen: Deutschland hat das Zeug, technologische Insofern begrüße ich ausdrücklich den Geist, der hin-
Spitzenleistungen in der wissensbasierten Wirtschaft zu ter dem Antrag der FDP-Fraktion zum Betrieb einer
erbringen. Deshalb fangen wir jetzt damit an, ideolo- Europäischen Spallations-Neutronenquelle in Deutsch-
gischen Ballast von sieben Jahren rot-grüner Bundesre- land steht. Wir müssen unsere Kräfte nutzen, ideologi-
gierung abzuwerfen. Die Entwicklung der letzten Mo- schen Ballast abwerfen, wo er uns unnötig bremst, und
nate unter kompetenter Führung der erfolgreichen auch die Kernforschung so ausrichten, dass sie uns zu-
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel macht mir Mut, künftig möglichst gut nutzbare Ergebnisse bringt.
dass es gelingen wird, viele Dinge in Deutschland wie- Perspektivisch erwähne ich die zukunftsträchtigen Be-
der vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das betrifft insbe- reiche der Kernfusion und der Transmutation im Bereich
sondere auch die Haltung der Bundesregierung zur der Energieforschung ebenso wie den Bereich der Neu-
Kernenergie bzw. zur Kernforschung, wo es gilt, sieben tronenforschung und der Schwerionenforschung. Wir
Jahre Stillstand und Rückschritt wieder wettzumachen. sind uns doch einig: Hier werden die Grundlagen gelegt
Unsere hoch geschätzte Bundesforschungsministerin und die Technologien entwickelt, die in der Zukunft eine
Dr. Annette Schavan hat hierzu Perspektiven aufgezeigt sichere, wirtschaftliche, kostengünstige und umweltver-
und schnell und kompetent gehandelt. trägliche Energieversorgung garantieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2747

(A) Angesichts dieser Vielfalt an Forschungsfeldern und insgesamt eine Multi-Megawatt-Spallationsquelle, die (C)
Forschungsanlagen stellt sich die Frage, in welchem Be- international führend ist, nicht eine kleinere Anlage.
reich die Forschungsinfrastruktur sinnvoll weiterentwi-
ckelt werden kann und soll. Wir können das Geld nur Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfra-
einmal ausgeben. Begrenzte Mittel sollen dabei einen strukturen ESFRI arbeitet derzeit an einer europäischen
möglichst großen Nutzen erbringen. Roadmap für Forschungsinfrastrukturen. ESFRI hat
auch eine Expertengruppe für die Forschung mit Neutro-
Jetzt steht – mit dem Antrag der FDP – die Frage im nen eingesetzt. In diese Expertengruppe ist auch der Vor-
Raum: Brauchen wir derzeit eine neue Spallationsquelle schlag aus Sachsen-Anhalt eingebracht worden. ESFRI
in Deutschland? Der Wissenschaftsrat hat diese Frage wird sich aber ausdrücklich nicht mit Standortfragen be-
geprüft mit dem Ergebnis, dass wir sie nicht dringlich fassen, sondern Projekte nach wissenschaftlichen und
brauchen. In der Tat ist die Versorgung der Forschung technischen Kriterien beurteilen. Außerdem werden in
mit Neutronen in Deutschland im Moment gut und er- ESFRI keine Entscheidungen zu Großgeräten getroffen
heblich besser als in anderen europäischen Ländern. Erst und keine Budgets verteilt. Dies ist Aufgabe der interes-
2004 ist in Garching eine neue Neutronenquelle in Be- sierten Regierungen. Durch die Pläne der EU, sich im
trieb genommen worden. 7. Rahmenprogramm an der Finanzierung des Baus
Der Wissenschaft in Deutschland stehen Forschungs- neuer und des Ausbaus existierender Großgeräte zu
reaktoren zur Verfügung in Grenoble mit der weltweit beteiligen, sind viele Erwartungen geweckt worden.
intensivsten Neutronenquelle am ILL, an dem Deutsch- Derzeit wird eine etwaige Beteiligung der EU an den
land zu einem Drittel beteiligt ist, in München die zweit- Baukosten neuer Großgeräte von maximal 20 Prozent
stärkste Quelle FRM II mit der modernsten Instrumen- diskutiert. Angesichts des begrenzten Budgets wird auch
tierung, die seit 2005 im Nutzerbetrieb ist, in Berlin, der dies nur in wenigen Fällen erreichbar sein. Es sind keine
BER 2 am Hahn-Meitner-Institut, HMI, in Geesthacht Absichten der Kommission bekannt, sich in besonderem
der FRG-1 bei der GKSS. Außerdem gibt es noch For- Maße an der Finanzierung einer ESS zu beteiligen. Eine
schungsmöglichkeiten am internationalen VIK in Beteiligung der EU an den bereits beschlossenen Groß-
Dubna, Russland, und an anderen europäischen Anla- geräten XFEL und FAIR ist vorrangig.
gen. Die Finanzierung der ESS wird – wie bei den anderen
Der Wissenschaftsrat sah zum Beispiel für die Struk- Großgeräten der naturwissenschaftlichen Grundlagen-
turforschung ein größeres wissenschaftliches Potenzial forschung – zwischen den interessierten Ländern ausge-
in der Synchrotronstrahlung und der neuen, innovativen handelt, wobei vom Sitzland ein besonderer Beitrag er-
Technik des Freie-Elektronen-Lasers FEL. Mit FEL wartet wird. Bei einem Standort der ESS in Deutschland
(B) kann zum Beispiel eine enorme Verbesserung der Quali- mit seiner großen Nutzergemeinde sind dies wohl min- (D)
tät von Röntgenstrahlung erreicht werden. Wir öffnen destens 50 Prozent. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart,
damit das Fenster zu völlig neuen Forschungsgebieten. den Bau der beschlossenen Großgeräte XFEL und FAIR
Dieses Projekt soll jetzt in Hamburg als europäische Ein- auf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Ein weiteres
richtung verwirklicht werden. Großgerät würde einen erheblichen Zusatzbedarf im
Haushalt des BMBF bedeuten.
Was wir derzeit bei der Neutronenforschung als Deut-
sche dringlicher brauchen als neue Quellen, sind moder- Auch der Standort wird nicht von der EU entschieden,
nere Instrumente, um vorhandene Neutronenquellen im sondern zwischen den an der ESS interessierten Ländern
Dienste der Wissenschaft für Untersuchungen besser zu verhandelt. Eine Standortbewerbung bei der Kommis-
nutzen. Hier sind wir auf einem guten Weg: Das For- sion ist daher gegenstandslos. Für XFEL und FAIR mit
schungszentrum Jülich errichtet an der Spallationsquelle Standorten in Deutschland erwarten wir bereits eine Be-
SNS in den USA ein Instrument, zu dem deutsche For- teiligung unserer europäischen Partner von über
scher Zugang erhalten werden. Der neue Forschungs- 600 Millionen Euro. Es ist daher nicht wahrscheinlich,
reaktor FRM II in München mit einer Außenstelle des dass sich diese Länder für ein weiteres Großgerät mit ei-
Forschungszentrums Jülich und Instrumenten anderer nem Standort in Deutschland einsetzen würden, insbe-
HGF-Einrichtungen wird eine sehr moderne Instrumen- sondere wenn es eigene Standortinteressen gibt. Es ist
tierung bieten, sodass es möglich sein wird, nach dem vielmehr damit zu rechnen, dass sie das BMBF auf eine
Reaktor in Jülich 2006 auch den Reaktor in Geesthacht Beteiligung an ihren Projekten ansprechen werden.
bis Ende des Jahrzehnts außer Betrieb zu nehmen. Selbst
Der Antrag der FDP suggeriert, dass die EU eine we-
wenn keine neue Neutronenquelle gebaut würde, stün-
sentliche Rolle bei der Finanzierung und der Standort-
den nach 2020 deutschen Forschern zumindest der
entscheidung einer ESS spielen wird. Dies ist jedoch
FRM II und aus derzeitiger Sicht auch noch der Reaktor
nicht der Fall. Der Standort muss unter den interessierten
in Grenoble zur Verfügung.
Partnern verhandelt werden. Das Sitzland wird einen
Aus Sicht unserer europäischen Partner stellt sich die wesentlichen Finanzierungsanteil tragen müssen. Ein
Situation anders dar. Als bedeutende nationale Quellen weiterer deutscher Standortvorschlag würde erhebliche
existieren sonst nur noch der Forschungsreaktor LLB in zusätzliche Mittel im BMBF-Haushält erfordern und
Frankreich und eine kleinere Spallationsquelle ISIS in wahrscheinlich auch nicht von unseren europäischen
Großbritannien. Daher gibt es derzeit in mehreren euro- Partnern unterstützt. Der Wissenschaftsrat hat 2002 die
päischen Ländern Bemühungen um den Bau von Spalla- ESS nicht befürwortet und andere Prioritäten gesetzt.
tionsquellen. Die Vision der Neutronenforscher ist Den Wissenschaftsrat mit einer erneuten Begutachtung
2748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) zu beauftragen, sollte nur erwogen werden, wenn es Fi- Wissenschaftsrat die ESS in die dritte Gruppe eingrup- (C)
nanzierungschancen für diesen Vorschlag gibt. Zum jet- piert, das heißt sie zur Förderung nicht empfohlen und
zigen Zeitpunkt wird davon abgeraten. die Möglichkeit einer erneuten Vorlage zur Begutach-
tung eröffnet. Der Wissenschaftsrat sah für die Struktur-
Vor diesem Hintergrund sollten wir nach 2010 eine forschung ein größeres wissenschaftliches Potenzial in
Strategie für die langfristige Versorgung der Forschung der Synchrotronstrahlung und der neuen, innovativen
mit Neutronen entwickeln. Deutschland ist bisher seiner Technik der Freie-Elektronen-Laser. Mit dieser Technik
Verantwortung für die Weiterentwicklung der Neutro- kann eine enorme Verbesserung der Qualität von Rönt-
nenforschung nachgekommen und wird es auch zukünf- genstrahlung erreicht und damit das Fenster zu völlig
tig. Deshalb müssen wir in fünf Jahren mit dem Anlauf neuen Forschungsgebieten aufgestoßen werden. Die
für den nächsten Quantensprung für die Forschung nach Bundesregierung hat sich dieser Empfehlung ange-
2020 in der Spallationsforschung beginnen. Dann – und schlossen und 2003 den Bau des Röntgenlasers XFEL in
nicht heute – könnten wir beim Bau einer Spallations- Hamburg als europäische Einrichtung beschlossen.
quelle der nächsten Generation auf die Erfahrungen aus
den USA und aus Japan bei der Lösung der schwierigen Nach 2020 werden den deutschen Neutronenfor-
technischen Aufgaben zurückgreifen. Erst dann stellt schern zumindest der FRM II und aus derzeitiger Sicht
sich auch die Standortfrage, wobei wir innerhalb auch noch der Reaktor am ILL zur Verfügung stehen.
Deutschlands auf reichhaltige Erfahrungen an vielfälti- Wegen der langen Vorlaufzeit muss aus deutscher Sicht
gen kerntechnischen Forschungsstandorten, wie zum aber nach 2010 eine europäische Strategie für die lang-
Beispiel Darmstadt, Hamburg, Berlin, Garching, Greifs- fristige Versorgung der Forschung mit Neutronen entwi-
wald, Jülich oder Karlsruhe zurückgreifen können. Frau ckelt werden. Zu dieser Zeit könnte beim Bau einer
Pieper ist mit ihren Kollegen herzlich eingeladen, sich in Spallationsquelle der nächsten Generation auf die Erfah-
die Entwicklung dieser Strategie einzubringen. rungen aus den USA und aus Japan bei der Lösung der
schwierigen technischen Aufgaben zurückgegriffen wer-
Thomas Oppermann (SPD): Wie im FDP-Antrag den.
zutreffend ausgeführt wird, stellte der Bericht des Me- Das Europäische Strategieforum für Forschungsinfra-
gascience-Forum der OECD von 1999 über die Zukunft strukturen arbeitet derzeit an einer europäischen
der Neutronenquellen fest, dass in einer globalen Sicht Roadmap für Forschungsinfrastrukturen. ESFRI hat
die zum damaligen Zeitpunkt installierte Kapazität an auch eine Expertengruppe für die Forschung mit Neutro-
Neutronenquellen zwischen 2010 und 2020 auf ein Drit- nen eingesetzt. In diese Expertengruppe ist auch der Vor-
tel abnehmen werde. Die Arbeitsgruppe empfahl daher, schlag aus Sachsen-Anhalt eingebracht worden. ESFRI
in jeder der drei Weltregionen Asien/Pazifik, Nordame- wird sich aber ausdrücklich nicht mit Standortfragen be- (D)
(B) rika und Europa innerhalb von 20 Jahren fortgeschrittene
fassen, sondern Projekte nach wissenschaftlichen und
Neutronenquellen zu installieren. Die USA und Japan technischen Kriterien beurteilen. Außerdem werden in
haben aufgrund ihres Bedarfs an neuen Quellen bereits ESFRI keine Entscheidungen zu Großgeräten getroffen
mit dem Bau von Spallations-Neutronenquellen begon- und keine Budgets verteilt. Dies ist Aufgabe der interes-
nen. sierten Regierungen.
Aus deutscher Sicht gibt es jedoch einen anderen
Derzeit sind im Übrigen keine Absichten der Kom-
Zeithorizont, da die Versorgung der Forschung mit Neu-
mission bekannt, sich in besonderem Maße an der Finan-
tronen in Deutschland erheblich besser ist als in allen an-
zierung einer ESS zu beteiligen. Für das BMBF ist zu-
deren europäischen Ländern. Erst 2004 ist mit dem
dem eine Beteiligung der EU an den bereits
FRM II eine neue Neutronenquelle in Betrieb genom-
beschlossenen Großgeräten XFEL und FAIR vorrangig.
men worden. Der Wissenschaft in Deutschland steht
Die Finanzierung der ESS wird – wie bei den anderen
heute eine Vielzahl an Forschungsreaktoren zur Verfü-
Großgeräten der naturwissenschaftlichen Grundlagen-
gung. So in Grenoble am ILL, an dem Deutschland zu
forschung – zwischen den interessierten Ländern ausge-
einem Drittel beteiligt ist; in München mit der Quelle
handelt, wobei vom Sitzland ein besonderer Beitrag er-
FRM II, die „frisch“ im Nutzerbetrieb ist; immer noch in
wartet wird. Bei einem Standort der ESS in Deutschland
Berlin mit dem BER 2 am Hahn-Meitner-Institut und
mit seiner großen Nutzergemeinde sind dies wohl min-
auch noch in Geesthacht mit dem FRG-1 bei der GKSS.
destens 50 Prozent. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart,
Der neue Forschungsreaktor FRM II in München mit den Bau der beschlossenen Großgeräte XFEL und FAIR
einer Außenstelle des Forschungszentrums Jülich und auf eine sichere finanzielle Basis zu stellen. Ein weiteres
Instrumenten anderer HGF-Einrichtungen wird eine sehr Großgerät würde einen erheblichen Zusatzbedarf im
moderne Instrumentierung bieten, sodass es möglich Haushalt des BMBF bedeuten.
sein wird, nach dem Reaktor in Jülich 2006 auch den Re-
aktor in Geesthacht bis Ende des Jahrzehnts außer Be- Auch der Standort wird nicht von der EU entschieden,
trieb zu nehmen. sondern zwischen den an der ESS interessierten Ländern
verhandelt. Eine Standortbewerbung bei der Kommis-
Den Vorschlag zum Bau einer ESS hatte das BMBF sion ist daher sinnlos. Für XFEL und FAIR mit Standor-
zusammen mit acht weiteren Vorschlägen der Wissen- ten in Deutschland erwarten wir bereits eine Beteiligung
schaft für neue Großgeräte der naturwissenschaftlichen unserer europäischen Partner von über 600 Millionen
Grundlagenforschung dem Wissenschaftsrat vorgelegt. Euro. Es ist daher nicht wahrscheinlich, dass sich diese
In seinen Empfehlungen vom November 2002 hat der Länder für ein weiteres Großgerät mit einem Standort in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2749

(A) Deutschland einsetzen würden, insbesondere wenn es ei- und 2013 in Europa neue Forschungsinfrastrukturen ge- (C)
gene Standortinteressen gibt. Es ist vielmehr damit zu schaffen werden. Das Europäische Strategieforum für
rechnen, dass sie das BMBF auf eine Beteiligung an ih- Forschungsinfrastrukturen, ESFRI, hat der Kommission
ren Projekten ansprechen werden. bereits eine Liste der Möglichkeiten für benötigte neue,
großmaßstäbliche Infrastrukturen vorgeschlagen, in die
Unter diesen Voraussetzungen erscheint eine Mitför- auch die ESS an sechster Stelle aufgeführt ist.
derung durch die europäischen Partner der ESS an einem
deutschen Standort, egal ob West oder Ost, derzeit nicht Die ESS ist sicher nicht das einzige Projekt, was in
sehr realistisch. Deshalb stellt sich die Frage, ob sich die Deutschland auf der Grundlage der Empfehlungen des
Mühe lohnt, ein derartiges Ziel anzustreben. Darüber Wissenschaftsrats mit europäischen und nationalen Mit-
können wir im Ausschuss aber gern ausführlich diskutie- teln gefördert und gebaut wird. Die ESS könnte aber das
ren und sorgfältig beraten. erste Großgerät sein, das auch eine nennenswerte Inves-
tition in den neuen Bundesländern bedeutet. Bislang
Cornelia Pieper (FDP): Das Thema ist nicht neu wurden hier nur 24,5 Millionen Euro für das Hochmag-
und doch hoch aktuell, hoch aktuell, weil es darum geht, netfeldlabor in Rossendorf bereitgestellt. Ein Linsenge-
auf der einen Seite ein Versprechen der Bundesregierung richt im Vergleich zu den langfristigen Investitionen für
einzulösen, und eine Großforschungseinrichtung mit in- die anderen Großgeräte in Hamburg, Darmstadt und
ternationaler Strahlkraft in den neuen Bundesländern an- Köln in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro.
zusiedeln – bislang konnten wir noch nicht in Erfahrung Der mitteldeutsche Raum verfügt zusammen mit Ber-
bringen, woran die Bundesregierung dabei denkt – und lin durchaus über das wissenschaftliche Potenzial, diese
auf der anderen Seite, um im Zentrum Europas den For- Aufgaben auch zu stemmen. Im Hahn-Meitner-Institut
schern eine leistungsfähige Neutronenquelle zur Verfü- und an den Universitäten Berlin, Leipzig und Halle ar-
gung zu stellen, die Deutschland zugleich interessant für beiten exzellente Wissenschaftler, die durchaus willens
die Weltelite der Wissenschaft macht. und in der Lage sind, ihr Wissen und ihre Erfahrungen
Das sieht allerdings nicht nur die FDP-Bundestags- bei der Projektentwicklung und später auch beim Bau
fraktion so. Die OECD begründete die Notwendigkeit und Betrieb einzubringen. Nicht zuletzt werden auch die
des Baus und Betriebs von Neutronenquellen im Mega- Bundesländer Sachsen- Anhalt und Sachsen einen nen-
watt-Bereich in den drei Weltregionen Asien, Nordame- nenswerten Beitrag leisten. Die erforderlichen Flächen
rika und Europa schon 1998. Deutschland hat sich 1999 sind bereits reserviert. Und noch etwas: Natürlich muss
dieser Auffassung angeschlossen. der wissenschaftliche Antrag durch das ESS-Council
überarbeitet werden. Der Wissenschaftsrat jedenfalls hat
(B) Die USA sind dem Vorschlag bereits gefolgt, und seine Bereitschaft erklärt, einen neuen Antrag zu bear- (D)
– wen wundert’s – deutsche Forscher haben bereits ei- beiten und zu bewerten. Einer Neuevaluation steht also
gene Geräte zur Nutzung dieser leistungsfähigen Neutro- nichts im Wege.
nenquelle entwickelt und gebaut. Sie werden künftig ein
Strahlungsrohr und Strahlungszeiten für ihre wissen- Ich appelliere an Sie und die Bundesregierung: Neh-
schaftlichen Experimente an der SNS in Oak Ridge, men Sie das Thema nicht auf die leichte Schulter. Setzen
USA, nutzen können. Sie in Brüssel ein Signal, das der stärksten Wirtschafts-
macht in Europa Ehre macht.
Die deutsche Position zu einer Europäischen Neutro-
nen-Spallationsquelle hat uns Frau Bundesministerin
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
Schavan gestern im Ausschuss mit glockenheller
stimmen sicher darin überein, dass Hochschulen und
Stimme verkündet: Wenn Brüssel das Projekt in das
Forschungseinrichtungen wichtige Kristallisationspunkte
7. EU-Forschungsrahmenprogramm aufnimmt, erfolgt
für die Regionalentwicklung und damit auch ein Hoff-
auch ein deutscher Beitrag! Welcher das ist, blieb ihr Ge-
nungsträger für Wirtschaft und Beschäftigung gerade in
heimnis.
den neuen Bundesländern sind. Dafür gibt es schon
Wir sind jedoch nicht allein in Europa. Ich weiß, dass heute viele positive Beispiele. Diese Cluster zu stärken,
inzwischen Tony Blair, Großbritannien, den Auftrag er- sollte weiterhin eine gemeinsame Strategie sein. Ich
teilt hat, eine Standortbewerbung Englands zu prüfen. warne aber davor, aus parteipolitischen Gründen falsche
Aus Jülich ist unter vorgehaltener Hand zu hören, dass Erwartungen zu wecken, gerade in den neuen Bundes-
man eine Standortbewerbung Englands sogar unterstüt- ländern.
zen solle. Zu den weiteren Bewerbern zählen neben
Schweden übrigens auch Ungarn und Spanien. Es macht keinen Sinn, bisherige nationale Entschei-
dungen über Forschungsprioritäten zu ignorieren oder so
Dieses Katz-und-Maus-Spiel muss ein Ende haben. zu tun, als hätten sie keine Konsequenzen für weitere
Deutschland sollte sich um den Standort für die ESS be- Entwicklungen.
werben. In Europa wird derzeit über 20 förderwürdige
Großforschungseinrichtungen bzw. Großgeräte verhan- Eine Entscheidung, die man zwar bedauern mag, aber
delt. Insgesamt sieben sollen über das 7. EU-FRP geför- nicht ausblenden kann, ist es gewesen, mit dem For-
dert werden. Ob die ESS dabei ist, ist noch unklar. schungsreaktor FRM II 2004 eine neue Neutronenquelle
in Deutschland in Betrieb zu nehmen. Uns Grünen wäre
Im Rahmen des spezifischen Programms „Kapazitä- eine Spallationsquelle als Neutronenquelle natürlich lie-
ten“ des 7. EU-FRP sollen in der Zeit zwischen 2007 ber gewesen als ein Forschungsreaktor, vor allen Dingen
2750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) wenn man sieht, wie die Folgen der Kernforschung uns mel weit genug aufkrempelt. Sonst ist der weitere Ver- (C)
heute teuer zu stehen kommen und Handlungsspiel- lauf leicht absehbar. Entweder Sie müssen behaupten,
räume für die Zukunft beschneiden. die Regierung habe auf der europäische Ebene zu wenig
erreicht, weil zu wenig geschüttelt, oder Sie müssten be-
Eine andere Entscheidung, zu der man aber heute ste-
haupten, die EU-Bürokraten seien mal wieder nicht ein-
hen sollte, ist die Entscheidung des Wissenschaftsrats
sichtig genug gewesen. Beides trägt nicht dazu bei, den
2002 über Großforschungsprojekte: Der Wissenschafts-
Blick für den realen Mehrwert einer gemeinsamen euro-
rat hat eindeutig das größere Potenzial für die internatio-
päischen Politik auch in den neuen Bundesländern zu
nale und europäische Forschungsgemeinschaft im so ge-
schärfen. Dass die Parteipolitik manchmal dazu neigt,
nannten TESLA-Projekt gesehen. Das heißt zum einen
auf Kosten Europas zu Hause falsche Erwartungen zu
in der Synchrotronstrahlung und dem Linear-Collider-
wecken, das gibt am Ende erfahrungsgemäß niemand
Projekt und zum anderen im Freie-Elektronen-Röntgen-
gerne zu.
laser. Die Spallations-Neutronenquelle wurde nicht zur
Förderung vorgeschlagen. Dass mich als Hamburgerin
und ehemalige Wissenschaftssenatorin diese Entschei-
Anlage 4
dung sehr gefreut hat, liegt auf der Hand. Diese Prioritä-
tensetzung hat uns aber auch in der internationalen For- Zu Protokoll gegebene Rede
schungsgemeinschaft weit nach vorn gebracht und sich
dadurch als richtig herausgestellt. Dass Projekt Röntgen- zur Beratung des Entwurfs eines Fünften Geset-
laser XFEL ist heute bereits ein europäisches Projekt mit zes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes
vielen europäischen Partnern und in der Vorbereitung (Tagesordnungspunkt 16)
weit fortgeschritten. Ohne die Entscheidung und das na-
tionale Engagement der damaligen Bundesregierung Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
wäre dies nicht möglich gewesen. Der Linear-Collider dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die EU-Richtlinie
rangiert auf der europäischen Strategieebene inzwischen über das Folgerecht des Urhebers des Originals eines
unter den globalen Projekten. Es geht also um eine Infra- Kunstwerkes umgesetzt werden. Grundsätzlich unter-
struktur für eine weltweite Forschungsgemeinschaft. stützen wir selbstverständlich Maßnahmen zur Binnen-
marktharmonisierung. Dennoch stellt sich uns die Frage,
Es trifft zu, dass eine europäische Spallations-Neutro-
ob die Regierung mit dem vorliegenden Entwurf ihre
nenquelle inzwischen vom europäischen Strategieforum
Gestaltungsmöglichkeiten zugunsten der Künstlerinnen
für Forschungsinfrastruktur in eine Möglichkeitsliste
und Künstler bei der Umsetzung tatsächlich ausschöpft.
von 23 Projekten aufgenommen worden ist. Dies sind
Projekte, für die eine Unterstützung nicht nur, aber auch Natürlich ist es gut, Künstler auch in Zukunft an den (D)
(B)
aus dem 7. Forschungsrahmenprogramm gegebenenfalls Wertsteigerungen ihrer Werke zu beteiligen, wenn diese
in Betracht kommen könnte. Eine Absichtserklärung ist auf dem Kunstmarkt mit Gewinn weiterverkauft werden.
dies nicht. Bestenfalls könnte daraus die Möglichkeit für De facto bedeutet die nun vorgesehene Regelung aller-
die jeweiligen Projektbetreiber erwachsen, leichter an dings eine Verschlechterung für die Künstler: Der bisher
Darlehen heranzukommen. Klar ist aber, das Geld einheitliche Anspruch von 5 Prozent wird nun abhängig
müsste im Wesentlichen woanders herkommen. vom Kaufpreis degressiv gestaffelt – von 0,25 bis
4 Prozent bei einem Höchstbetrag von 12 500 Euro.
Mit dem Röntgenlaser XFEL und mit FAIR haben wir
Auch im niedrigen Bereich von 1 000 bis 50 000 Euro
zwei Großforschungsprojekte von europäischer Dimen-
entstehen durch die Absenkung auf 4 Prozent spürbare
sion, die in Deutschland realisiert werden sollen. Wir
Einkommenseinbußen. Zudem wird der Schwellenwert
können aber nicht erwarten, dass alle Großforschungsin-
von bisher 50 auf 1 000 Euro hoch gesetzt. Junge und
frastrukturprojekte unabhängig von ihrem nationalen
noch nicht arrivierte Künstler, die darauf angewiesen
Realisierungsgrad in Deutschland angesiedelt werden.
sind, viele kleine Arbeiten – zum Beispiel kostengüns-
Sinn einer gemeinsamen europäischen Roadmap für tige Editionen – zu verkaufen, werden somit in Zukunft
Forschungsinfrastruktur ist doch gerade eine sinnvolle seltener oder gar nicht mehr an den Weiterveräußerun-
Kooperations- und Arbeitsteilung. Dann müssen wir gen ihrer Werke beteiligt sein. Auch viele Drucke, Foto-
aber auch zur Kenntnis nehmen, dass in anderen Län- grafien bzw. Lichtbildwerke werden mit dem neuen
dern die Vorhaben für eine europäische Spallations-Neu- Schwellenwert vom Folgerecht ausgeschlossen.
tronenquelle deutlich stärker vorangeschritten sind, was
Die durch die geplante Gesetzesänderung entstehen-
die Einbindung europäischer Partner und das nationale
den Einkommenseinbußen der Künstlerinnen und Künst-
Engagement angeht. Für Deutschland, aber nicht nur für
ler stehen in deutlichem Widerspruch zum Koalitions-
Deutschland gilt, dass nationale Anstrengungen auf eu-
vertrag der großen Koalition. Dort heißt es wörtlich: „Im
ropäischer Ebene Früchte tragen, aber das die europäi-
Mittelpunkt der Kulturpolitik steht die Förderung von
sche Ebene nicht der Weg ist, nationale Prioritäten aus-
Kunst und Künstlern.“ Die durch das geplante Gesetz
zuhebeln oder im Nachhinein zu korrigieren.
entstehende problematische Situation für viele Künstler
Wir sollten dafür werben, dass alle mit einer europäi- kaschiert die Bundesregierung mit optimistischen Pro-
schen Forschungsinfrastrukturpolitik am Ende mehr er- gnosen im Erläuterungsteil des Gesetzentwurfes. Dort
reichen als jeder für sich. Wir sollten nicht so tun, als wird beschwichtigend behauptet, die Einkommenseinbu-
könne man vom europäischen Wunderbaum alles Mögli- ßen durch die neue Regelung könnten dadurch aufgefan-
che herunterschütteln, wenn man nur die politischen Är- gen werden, dass deutsche Künstler nach der Harmoni-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2751

(A) sierung Einkünfte durch das Folgerecht in Ländern schlägen. Ein außerordentlich hilfreicher Ansatz, der in (C)
erzielen könnten, die bisher kein Folgerecht kannten. letzter Konsequenz die Glaubwürdigkeit der internatio-
Außerdem werde Deutschland nun für den Kunsthandel nalen Gemeinschaft bezüglich ihrer Verhandlungsbereit-
attraktiver, da bisher bestehende Wettbewerbsverzerrun- schaft untergräbt. De facto erleben wir doch gerade ein
gen wegfielen. vorbildliches multilaterales Vorgehen gegenüber dem
Iran im Rahmen der Vereinten Nationen.
Dabei handelt es sich wohl um nicht viel mehr als
vage Hoffnungen, Wir fragen deshalb die Bundesregie- Daneben existieren Resolutionen der IAEO, denen
rung: Auf welcher Datengrundlage und auf welcher der Iran nicht nachgekommen ist. Offenbar reichte die
Analyse des internationalen Kunstmarkts beruhen diese Kreativität der Verfasser der Anträge nicht aus, die mul-
Voraussagen? Schließlich handelt es sich beim Kunst- tilateralen Prozesse, die ansonsten nicht vehement genug
markt um einen der kompliziertesten Märkte überhaupt. eingefordert werden können, als logisch notwendige
Deshalb wäre es redlich, in der Kunstszene keine fal- Textbausteine einzubauen. Als intellektueller Zwischen-
schen Erwartungen zu wecken. Im Übrigen möchte ich schritt wäre wenigstens die Kenntnisnahme, im besten
darauf hinweisen, dass die USA mit New York als wich- Falle die Anerkennung dieser Vorgehensweisen zu be-
tigstem Ort des internationalen Kunsthandels nach wie grüßen. Auch würde es der Substanz der Anträge nicht
vor kein Folgerecht haben. Es ist also schon mal nicht schaden, die Forderungen der IAEO und damit die Re-
davon auszugehen, dass Deutschland für US-amerikani- alität zu akzeptieren, wonach es im Kern um ein Fehl-
sche Händler attraktiver wird. In Europa fehlt bisher nur verhalten des Iran geht. Der Boden der Tatsachen ver-
in den Niederlanden, in Portugal, England und Öster- mag in der Regel mehr Stabilität zu verleihen als das
reich ein Folgerecht. Glauben Sie denn wirklich, dass die schwankende Fundament hypothetischer Vorwürfe.
massiven Einkommenseinbußen in Deutschland durch Es liegt nun am Iran, zu beweisen, dass er ebenfalls
die rechtliche Harmonisierung in diesen Ländern ausge- an einer friedlichen und diplomatischen Lösung des Nu-
glichen werden können? Damit ist wohl kaum zu rech- klearkonflikts interessiert ist und die Situation, wie in
nen! Wir wünschen uns für die weiteren Beratungen die- den letzten Monaten wiederholt geschehen, nicht erneut
ses Gesetzentwurfes, dass mit solideren und seriöseren eskalieren lässt. Lediglich zur Klarstellung: Es ist der
Prognosen gearbeitet wird. Die vielen bildenden Künst- Iran, der bisher die Krise immer und immer wieder wei-
lerinnen und Künstler in unserem Land haben das ver- ter verschärft hat. Es ist demzufolge verantwortungslos,
dient – nicht zuletzt, weil sich viele von ihnen schon andere als das iranische Regime als das eigentliche Pro-
jetzt in einem permanenten ökonomischen Überlebens- blem in der Krise auszumachen. Die Linke sowie be-
kampf befinden. stimmte Teile der Grünen sollten zur Kenntnis nehmen,
dass die Bedrohung nicht von den Vereinigten Staaten,
(B) sondern von den nuklearen Aktivitäten Teherans aus- (D)
Anlage 5 geht. Die USA unterstützen seit über einem Jahr den di-
plomatischen Ansatz der EU 3, wohingegen der Iran im
zu Protokoll gegebene Reden vergangenen August noch nicht einmal bereit war, über
zur Beratung der Anträge: das EU-3-Angebot überhaupt Gespräche zu führen.
– Weiter verhandeln – kein Militäreinsatz ge- Wir müssen uns nunmehr darauf konzentrieren, Tehe-
gen den Iran ran zur Einhaltung seiner Vertragsverpflichtungen unter
dem UN-Regime des Nichtverbreitungsvertrages zu be-
– Für ein friedliches Vorgehen im Konflikt wegen, statt gebetsmühlenartig populistisch vor Militär-
über das iranische Atomprogramm – Demo- schlägen zu warnen. Wer die Vorzeichen der Bedrohung
kratische Entwicklung unterstützen umkehrt, verharmlost die Gefahr, die von iranischen Nu-
(Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs- klearwaffen auch für unsere Sicherheit ausgehen würde.
punkt 6) Diese Gefahr wird von der Linken kaum zur Kenntnis
genommen. Ich glaube, Die Linke will nicht den Ein-
druck erwecken, dass Ihr die iranischen Interessen näher
Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/
lägen als unsere eigene Sicherheit.
CSU): Die derzeitige Geschlossenheit der Sechs ist ein
klares Zeichen an den Iran, seinen Verpflichtungen ge- Niemand bestreitet, dass der Iran laut Nichtverbrei-
genüber der internationalen Gemeinschaft endlich nach- tungsvertrag das Recht hat, die Nuklearenergie friedlich
zukommen. Es unterstreicht ihren Willen, den Konflikt zu nutzen. Andererseits hat die IAEO – wohlgemerkt:
auf diplomatischem Wege lösen zu wollen. Unserem In- ein multilaterales Organ der Vereinten Nationen, was der
teresse an einer friedlichen Lösung dieser Krise ist nur Linken wohl erst zu verdeutlichen ist – wiederholt fest-
mit tatsächlicher und anhaltender Einigkeit gedient, die stellen müssen, dass der Iran die Zweifel, die die interna-
in Ergänzung zu der präsidentiellen Erklärung des UN- tionale Gemeinschaft bezüglich des rein friedlichen Cha-
Sicherheitsrats zu sehen ist. Es liegt nun einzig an Tehe- rakters des iranischen Nuklearprogramms auf der Basis
ran, weiterführende Schritte abzuwenden. verschiedener Berichte der IAEO berechtigterweise hat,
Welches Ziel verfolgen nun die vorliegenden An- aufgrund seiner unzureichenden Kooperation nie ausge-
träge? Die sechs Außenminister haben vergangene Wo- räumt hat. Im Gegenteil: Iran hat durch das Überschrei-
che deutlich gemacht, dass sie den Iran an den Verhand- ten diverser roter Linien in den vergangenen Monaten,
lungstisch zurückholen wollen – gleichzeitig spricht nicht zuletzt mit der Wiederaufnahme der Urananreiche-
insbesondere Die Linke fast ausschließlich von Militär- rung – trotz des Pariser Abkommens –, unsere Sorge
2752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) bezüglich eines militärischen iranischen Nuklearpro- litärschlägen gegen den Iran zu rechnen sei. Er wieder- (C)
gramms wachsen lassen, nicht zu sprechen von den wei- holte auch den Vorwurf, dass die Bundesregierung in ih-
terhin unerträglichen und aggressiven Äußerungen des rer Haltung gegenüber der iranischen Atomkrise
iranischen Präsidenten gegenüber Israel. zerstritten sei. Beide Mutmaßungen waren nichts als
haltlose Unterstellungen natürlich weil sie vorwiegend
Um es noch einmal zu verdeutlichen: Das iranische innenpolitisch motiviert waren. Das zeigt auch, wie Sie
Atomprogramm erfüllt uns deshalb mit berechtigter mit dem Thema umgehen: Sie verunsichern die Men-
Sorge, da das gesamte Programm bis 2002 geheim ge- schen, Sie senden missverständliche Signale an die Ver-
halten wurde. Die IAEO hat darüber hinaus seither wie- antwortlichen im Iran und Sie schwächen die gemein-
derholt feststellen müssen, dass der Iran nicht ausrei- same Haltung in der iranischen Atomkrise. Und dann
chend kooperiert. Hätte der Iran nichts zu verbergen, kündigen Sie auch noch an, demnächst in den Iran reisen
was dem Geist des NW, auf den sich die Linke so gern zu wollen, um dort zu vermitteln.
beruft, widersprechen würde, wäre es mit Sicherheit
nicht zu den Äußerungen der IAEO gekommen. Zudem: Vorweg: Jede Diskussion mit den politischen Ent-
Würde der Iran die Nuklearenergie lediglich zivil nutzen scheidungsträgern im Iran ist sinnvoll. Der Dialog ist
wollen, hätte er dies offen und transparent tun können, eine Bedingung, um die Krise friedlich zu lösen. Aller-
nachdem der NW ihm genau dies zugesteht. Dann aber dings ist es genauso wichtig, entschieden und unmiss-
ist zu fragen, weshalb Teheran das Programm solange verständlich aufzutreten. Deshalb stellen Sie bitte in Te-
verheimlicht hat und weiterhin nicht zufriedenstellend heran klar:
mit der IAEO bzw. den Vereinten Nationen kooperiert.
Erstens. Die Internationale Atomenergiebehörde kann
Die internationale Gemeinschaft und wir alle – was noch immer nicht bestätigen, dass die iranischen Aktivi-
eigentlich auch alle Parteien in diesem Hause mit ein- täten allein nicht militärischen Zielen dienen. Iran muss
schließen sollte – müssen weiterhin geschlossen verdeut- endlich intensiv und offen mit den Inspekteuren zusam-
lichen, dass wir eine nukleare Bewaffnung des irani- menarbeiten.
schen Regimes nicht hinnehmen werden. Es liegt
nunmehr an Teheran, weiterführende Schritte, wie etwa Zweitens. Voraussetzung der Vertrauensbildung ist
wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen, abzuwenden. Die die Suspendierung der Urananreicherung zum jetzigen
Befassung des Sicherheitsrats mit dem iranischen Nukle- Zeitpunkt.
arprogramm bedeutet nicht das Ende der Diplomatie, Drittens. Die ständige Leugnung des Holocausts, die
sondern zeigt im Gegenteil, dass die internationale Ge- Infragestellung des Existenzrechts Israels und die militä-
meinschaft weiter auf diesen Weg setzt. Das iranische rischen Drohungen gegen das Land sind inakzeptabel
(B) Regime sollte demzufolge die Entschlossenheit der in- und zutiefst inhuman. Das sollten Sie als Vertreter des (D)
ternationalen Gemeinschaft nicht herausfordern. Die deutschen Parlaments in Teheran deutlich machen.
russische und chinesische Bereitschaft, sich weiter eng
mit den EU 3 und den USA abzustimmen, demonstriert, Was ist seit unserer letzten Debatte geschehen? Das
dass auch Moskau und Peking die nukleare Bewaffnung herausragende Ereignis ist die einstimmige Feststellung
Irans nicht zulassen werden. des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, dass der Iran
zu einer konstruktiven Zusammenarbeit zurückkehren
Erfüllt der Iran innerhalb der gesetzten Frist die von und vertrauensbildende Schritte unternehmen muss.
der IAEO geforderten Maßnahmen, sollten auch die Gleichzeitig unterstreicht dieser das Recht der friedli-
USA eine aktivere Rolle im Verhandlungsprozeß einneh- chen Nutzung der Kernenergie. Dieser Beschluss ist
men. Washington sollte signalisieren, dass es zu einer wichtig und richtig. Er ist ein Kompromiss, was denn
Verbesserung der diplomatischen und wirtschaftlichen sonst? Aber er wurde von dem Gremium entwickelt und
Beziehungen zum Iran bereit ist, falls Teheran sich dem entschieden, dass für den internationalen Frieden eine
friedlichen Charakter seines Nuklearprogramms nach- besondere Verantwortung trägt. Es ist gelungen – trotz
weislich und dauerhaft voll verpflichtet fühlt. unterschiedlicher Interessen –, durch Kooperation und
Äußerungen, wie die von Oskar Lafontaine, die Iran- Kompromisse das gemeinsame und übergeordnete Ziel
Atompolitik des Westens sei völlig verlogen, unterwan- der internationalen Gemeinschaft nicht aus den Augen
dern offensichtlich zielgerichtet die Bemühungen der in- zu verlieren: die friedliche Lösung der iranischen
ternationalen Gemeinschaft zu einer friedlichen Lösung Atomkrise. Deutschland hat dabei eine wichtige und
auf dem Verhandlungsweg. Darüber hinaus sind derar- erfolgreiche Rolle gespielt. Dass dies ohne formellen
tige Verlautbarungen weder von Stilempfinden geprägt Status gelungen ist, unterstreicht die neuen Verhaltens-
noch im Hinblick auf diplomatische Umgangsformen möglichkeiten in der internationalen Politik.
unter wesentlicher Beachtung der Kinderstube zustanden Klar ist: In den kommenden Wochen muss Überzeu-
gekommen. Die Linke ist dringend aufgerufen, sich in- gungsarbeit geleistet werden, gegenüber dem Iran, aber
tellektuell und in der Opposition selbst zu ordnen, bevor auch gegenüber anderen wichtigen Akteuren. Dazu ge-
sie sich der Weltordnung zuwendet. hören in erster Linie die USA. Wir Sozialdemokraten
teilen die Hoffnung des deutschen Außenministers, dass
Dr. Rolf Mützenich (SPD): Als wir vor wenigen auch die Verantwortlichen in Washington ihre Ge-
Wochen über die beiden vorliegenden Anträge hier de- sprächskanäle gegenüber dem Iran für die Beilegung der
battierten, erweckte der Redner der Fraktion Die Linke, Atomkrise nutzen. Ohne die Anerkennung der irani-
Herr Lafontaine, den Eindruck, dass demnächst mit Mi- schen Sicherheitsinteressen, ohne die Herstellung gere-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2753

(A) gelter Beziehungen und die Wiederaufnahme wirtschaft- Was wir jetzt dringend benötigen, sind positive Signale (C)
licher Kontakte wird es keine langfristige und belastbare aus Teheran. Die wiederholten Hasstiraden des irani-
Lösung geben. schen Präsidenten gegen das israelische Volk müssen wir
ernst nehmen.
Kollegen aus der CDU und CSU, Herr von und zu
Guttenberg und Herr Polenz, sowie Vertreter aus der Was passiert denn, wenn der Iran tatsächlich sein mi-
SPD, unser früherer Kollege Dietmar Nietan und ich, litärisches Engagement verstärkt und den unsäglichen
hatten bereits vor mehr als zwei Jahren eine Initiative Drohungen seines Präsidenten gegenüber Israel Taten
mit Repräsentanten des US-Kongresses und wissen- folgen lässt? In solch einem Fall müssen wir handlungs-
schaftlichen Einrichtungen in Washington begonnen, um fähig sein. Mit ihrem derzeitigen Militärmanöver und
ein amerikanisches Engagement für die Lösung des Iran- den Tests von Tarnkappenraketen, die inzwischen eine
konflikts zu initiieren. Damals verstärkte sich für mich Reichweite von bis zu 2 000 Kilometern haben, macht
der Eindruck, dass die amerikanische Regierung über die iranische Führung deutlich, dass ihre Waffenpro-
keine schlüssige Iranpolitik verfügt. Diese ist vielmehr gramme nicht nur auf die Selbstverteidigung der Landes-
überlagert von gefühlsbetonten, teilweise irrationalen grenzen ausgerichtet sind. Iranische Raketen könnten
Haltungen und Handlungen. Gleiches gilt auch für die bald schon Europa und auch Deutschland erreichen.
Akteure in Teheran. Dies alles sind deutliche Zeichen aus dem Iran, die nicht
auf die alleinige Nutzung des Atomprogramms für zivile
Allerdings sollten wir auch in Europa, vor allem in Zwecke schließen lassen. Es liegt jetzt am Iran, uns vom
Deutschland, Acht geben, dass sich die Politik gegen- Gegenteil zu überzeugen. Doch wie sieht nun der rich-
über Iran nicht nur auf die Bearbeitung der Atomkrise tige Umgang mit der iranischen Führung aus? Welche
reduziert. Unsere Iranpolitik muss natürlich auch den Maßnahmen können ergriffen werden, um einer Radika-
dramatischen Wandel in den vergangenen Jahrzehnten lisierung des iranischen Volkes entgegenzuwirken – ei-
beachten: Dazu gehören aus regionaler Sicht der achtjäh- nem Volk, das mehrheitlich seinem hetzerischen Präsi-
rige Iran-Irak-Krieg, die Entwicklung in Afghanistan denten und dessen atomaren Plänen aus voller
und im Irak, die Auflösung der Sowjetunion mit ihren Überzeugung folgt?
Folgen für die Nachbarstaaten des Irans, die Nuklearisie-
rung des indisch-pakistanischen Verhältnisses ein- Um es jedoch klar und deutlich zu sagen: Eine militä-
schließlich der jüngsten indisch-amerikanischen Verab- rische Option steht nicht zur Debatte. Der Sicherheitsrat
redungen und die Nachfrage nach Energieressourcen. muss alle diplomatischen Alternativen ausschöpfen, um
Aus innenpolitischer Sicht gehören dazu die Übernahme die iranische Regierung umzustimmen und zu einer voll-
politischer Verantwortung durch eine neue politische ständigen Offenlegung ihres Atomprogramms zu bewe-
(B) Elite, die Verstetigung der religiösen Gruppen im politi- gen. Hierbei wird es in erster Linie darum gehen Ver- (D)
schen und wirtschaftlichen Prozess, das endgültige trauen und Glaubwürdigkeit zu schaffen.
Scheitern eines Exports der islamischen Revolution und
der dramatische innergesellschaftliche Wandel. Wenn es doch nichts zu verbergen gibt, verstehe ich
nicht, warum Teheran der IAEA nicht alle Informationen
Was wir also leisten müssen, ist eine umfassende über sein Atomprogramm gibt. Eine Offenlegung der
Iranpolitik: Selbstverständlich brauchen wir – wie es die Pläne wäre eine echte vertrauensbildende Maßnahme.
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen ausführt – einen
Dialog mit der Zivilgesellschaft. Aber das reicht nicht: Aber auch wir müssen überlegen, wie wir das Ver-
Wir müssen auch mit den Verantwortlichen in Teheran trauen des iranischen Volkes und seiner Führung gewin-
sprechen. Wir müssen Kooperationsangebote unterbrei- nen können. Wir müssen uns enger mit den USA abstim-
ten, Hilfen und Angebote zugunsten einer wirtschaftli- men. Bislang scheint es, als stünde die EU im
chen, sozialen und kulturellen Beziehung zwischen Eu- Verhandlungsprozess nur für so genannte Carrotts, und
ropa und Iran anbieten. Und vor allem: Wir müssen Washington ausschließlich für die Sticks. Eine glaub-
darauf dringen, dass der Iran eine verantwortliche, fried- würdige, abgestimmte transatlantische Verhandlungs-
liche und transparente Politik im Mittleren und Nahen strategie muss Sticks und Carrotts so kombinieren, dass
Osten gestaltet. Das wäre zu unser aller Nutzen. die transatlantischen Partner nicht gegeneinander ausge-
spielt werden können.
Harald Leibrecht (FDP): Der Atomstreit mit dem Die USA haben das Gesprächsangebot aus Teheran
Iran ist an den UN-Sicherheitsrat überwiesen worden. zur Situation im Irak angenommen – ein wichtiger erster
Die iranische Führung hat es monatelang bewusst ver- Schritt, den wir sehr begrüßen. Denn in einer Situation
säumt, der IAEA die vollständigen Pläne ihres Atompro- der Gesprächslosigkeit, der absoluten Funkstille, lässt
gramms offen zu legen. Jahrelang haben die Iraner die sich Vertrauen ganz sicher nicht herstellen. Die USA ha-
Internationale Atomenergiebehörde – und somit die ge- ben mit Nordkorea über Kim Jong Ils atomare Pläne ver-
samte Staatengemeinschaft – über ihr Programm ge- handelt. Es wäre sicher hilfreich, wenn sie sich jetzt auch
täuscht. Die Überweisung an den Sicherheitsrat ist somit mit der iranischen Führung im direkten Gespräch ausei-
richtig und nur konsequent. nander setzen würden.
Doch diese Entscheidung ist nicht das Ende der Di- Die Bemühungen der EU-3 in den Verhandlungen mit
plomatie. Es müssen weiterhin alle diplomatischen Be- dem Iran, die auch eng mit den USA und Russland abge-
mühungen ausgeschöpft werden, bevor es zu weiteren stimmt waren, waren sehr wichtig. Nur so konnte man
Schritten oder gar irgendwelchen Sanktionen kommt. dem Iran im August 2005 ein Angebot für ein Langzeit-
2754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) abkommen unterbreiten. Leider hat der Iran alles abge- die Atomwaffen als vielmehr um die Beseitigung eines (C)
lehnt und zeigte sich wenig kooperativ. Darum ist es nur für sie unerträglichen Regimes?
logisch, dass diese Sache jetzt an den Sicherheitsrat
Wenn man diesem Verdacht nicht folgt, bleibt nur der
überwiesen wurde. Die fünf Vetomächte des Sicherheits-
Weg der Verhandlungen unter Verzicht auf jegliche Dro-
rates und Deutschland handeln richtig, wenn sie nun den
hung mit militärischer Gewalt. Wir begrüßen, dass der
Iran auffordern, sein Projekt zur Urananreicherung in-
Bundesaußenminister dies bei seinem Besuch in Wa-
nerhalb von 30 Tagen zu stoppen. Jetzt ist Teheran am shington auch öffentlich gefordert hat und ermutigen
Zug. ihn, trotz der jüngst erteilten Abfuhr, in diesem Bemü-
Ich möchte hier aber auch ein weiteres, zentrales Pro- hen nicht nachzulassen.
blem ansprechen, wenn wir über eine atomwaffenfreie Wir fordern in unserem Antrag ja nicht nur Verhand-
Welt reden wollen. Wie glaubwürdig kann ein Atomwaf- lungen und Gewaltverzicht. Wir fordern auch die irani-
fensperrvertrag sein, bei dem einzelne Länder Atomwaf- sche Regierung auf, ihre undiskutablen Drohungen ge-
fen besitzen dürfen und andere nicht? Eine Eskalation im genüber Israel einzustellen, und wir fordern alle Staaten
Nahen und Mittleren Osten kann letzten Endes nur ver- des Nahen und Mittleren Ostens auf, an der Einrichtung
hindert werden, wenn die atomare Abrüstung in der Re- einer atomwaffenfreien Zone mitzuwirken. Dies sind
gion und auch weltweit von allen Seiten vorangetrieben Forderungen, die sie alle hier im Haus unterschreiben
wird. Das braucht Mut, Glaubwürdigkeit und neue Ini- können.
tiativen für die Abrüstung, auch von uns.
Wenn Sie sich jedoch an dem Absender des Antrags
stoßen, empfehlen wir Ihnen, den Antrag von Bünd-
Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Vor Ihnen liegen nis 90/Die Grünen zu unterstützen. Denn er fordert im
zwei Anträge mit dem gleichen Ziel. Es geht darum, die Kern dasselbe wie wir. Er hat leider einen Fehler: Er
Gefahr einer militärischen Intervention im Streit um das kann der Verlockung von politischen oder ökonomischen
iranische Atomprogramm zu bannen. Ein Ziel, in dem Sanktionen nicht widerstehen. Diese lehnen wir ent-
– soweit ich sehe – wir alle übereinstimmen. In der letz- schieden ab. Doch sind wir uns in der Abwehr militäri-
ten Zeit habe ich kaum eine Stimme aus irgendeiner Par- scher Mittel wenigstens in diesem Fall einig und können
tei in diesem Haus vernommen, die eine Drohung mit deshalb auch diesem Antrag zustimmen.
militärischen Sanktionen gegenüber dem Iran überhaupt
noch für sinnvoll gehalten hat. Im Gegenteil, die Ein- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seit
sicht hat immer mehr Platz gegriffen, dass Verhandlun- der Wahl des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad
gen – zweiseitige oder multilaterale – der einzige realis- im Juni 2005 hat sich der Konflikt um das Atompro-
tische Weg sind, der aus der Sackgasse herausfuhren gramm des Iran verschärft: Der Bruch der Pariser Ver- (D)
(B)
kann. einbarung zwischen Iran und den E-3/EU – Deutschland,
Frankreich und Großbritannien – mit der Wiederauf-
Ja, man könnte sogar fragen, ob die Angst vor der nahme der Urankonversion in Isfahan und die Weige-
Kriegsgefahr nicht gänzlich übertrieben ist? Die jüngste rung, eine tragfähige Vereinbarung mit der internationa-
Resolution des UNO-Sicherheitsrats spricht überhaupt len Gemeinschaft auszuhandeln, geben großen Anlass
nicht mehr von Sanktionen. Sind die beiden Anträge zur Sorge. Auch die neuerliche scharfe Unterdrückung
vielleicht schon überholt? Ich furchte: nein. Die US- von Medien und Zivilgesellschaft im Iran sind alarmie-
Administration hat ihre Pläne, im Iran einen Regime- rend. Ebenso inakzeptabel sind die wiederholten Dro-
wechsel vorzunehmen, immer noch nicht aufgegeben. hungen des iranischen Präsidenten gegen Israel und
Die USA sind nach wie vor zu einer Eskalation bereit, seine Leugnung des Holocausts. Diese Entwicklung se-
und die könnte schon bald eintreten. Denn eines ist in hen wir mit großer Sorge und betonen die interfraktio-
der Zwischenzeit mehr als deutlich geworden: Der Iran nell geteilte deutsche Verpflichtung zur Unterstützung
wird nicht auf das Recht zur eigenständigen Urananrei- des Existenzrechts Israels.
cherung verzichten. Darin sind sich iranische wie inter-
nationale Kritiker der iranischen Entwicklung inzwi- Dennoch muss klar sein, dass die Androhung bzw.
schen einig. Wer das nicht akzeptieren will – was bleibt Anwendung von Gewalt gegen das iranische Regime ein
ihm anderes als die Rückkehr zur Drohung? Deshalb enormes Eskalationsrisiko bergen würde. Deshalb
plädieren wir für einen realistischen Umgang mit dem möchte ich betonen, dass es keine Alternative zu einer
Anspruch des Iran auf Urananreicherung, zu zivilen zivilen Beilegung des Konflikts gibt: Verhandlungen und
Zwecken wohl bemerkt, so wie er auch völkerrechtlich – falls diese erfolglos bleiben – nicht militärische Sank-
durch den Atomwaffensperrvertrag legitimiert ist. tionen sind der einzige Weg, um doch noch zu einer
Kompromisslösung zu kommen. Die Uneinigkeit in der
Der jüngste russische Vorschlag zielt auf die Zulas- Bundesregierung und zweideutige Aussagen zu gewalt-
sung einer Urananreicherung auf niedriger Stufe allein samen Maßnahmen sind nicht ausreichend. Vielmehr
zu Forschungszwecken unter strenger Kontrolle der muss die Bundesregierung gemeinsam mit den Partnern
Atomenergiebehörde. Ein ähnlicher Vorschlag liegt von in der EU, mit den USA, mit Russland und China dafür
der International Crisis Group vor. Die Iraner selbst ha- eintreten, einen Militäreinsatz eindeutig auszuschließen.
ben vorgeschlagen, die Urananreicherung auf ihrem Ter- Direkte Gespräche der USA mit der iranischen Führung
ritorium einem internationalen Firmenkonsortium unter können hilfreich sein, um eine Lösung zu finden.
ebenfalls strenger Kontrolle der Atomenergiebehörde zu
übergeben. Warum haben die USA beide Vorschläge ab- Es kann aber nicht sein, dass auch nicht militärische
gelehnt? Geht es ihnen vielleicht gar nicht so sehr um Sanktionen ausgeschlossen werden, wie dies die Bun-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2755

(A) destagsfraktion der PDS fordert: Gezielte nicht militäri- paar interessante Männer des vergangenen Jahrhunderts, (C)
sche Sanktionen stellen die einzigen Erfolg versprechen- sondern der Genossenschaftsgedanke ist heute so funkel-
den Instrumente bei Scheitern einer Verhandlungslösung nagelneu wie vor 150 Jahren. Man müsste ihn erfinden,
dar. Die Überweisung an den Sicherheitsrat der Verein- wenn er nicht bereits erfunden wäre.“ Der Einschätzung
ten Nationen ist richtig, um die iranische Führung zur unseres Alt-Bundespräsidenten muss man sich auch
Wiederaufnahme der Verhandlungen zu bewegen. Wer heute voll und ganz anschließen.
die Option von Sanktionen leichtfertig aus der Hand
gibt, verschlechtert die Verhandlungsposition im Atom- Genossenschaften sind ein bedeutender Pfeiler der
streit mit Iran. Wir treten deshalb für die Entwicklung ei- deutschen Wirtschaft und werden gerade wegen ihrer re-
nes Katalogs von geeigneten abgestuften Sanktionsmaß- gionalen Verankerung in Zeiten einer immer umfassen-
nahmen ein. der werdenden Globalisierung und einer ständig anstei-
genden weltweiten Marktkonzentration immer wichtiger.
Eine kommerzielle Urananreicherung muss unterblei- Unter diesem Bewusstsein debattieren wir heute Abend.
ben, bis das internationale Vertrauen in die friedliche
Nutzung des iranischen Atomprogramms wieder herge- Mit der Einbringung des Gesetzes zur Einführung der
stellt ist und alle Bedingungen der VN und der IAEO er- Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des Ge-
füllt werden. Dabei sind in den Bereichen Urananreiche- nossenschaftsrechts soll das inzwischen über 100 Jahre
rung, Brennstoffproduktion, Wiederaufbereitung und alte Genossenschaftsrecht modernisiert und an die An-
Abfallbeseitigung multinationale Lösungen sinnvoll, forderungen des internationalen Wettbewerbs angepasst
wie sie jüngst der Generalsekretär der IAEO, al-Baradei, werden. Ziel dabei ist es, die genossenschaftliche Idee zu
bei seinem Besuch in Deutschland vorgeschlagen hat. stärken und ihre Attraktivität weiter zu erhöhen.
Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung Genossenschaften sind in Deutschland in allen Sekto-
auch auf vielen anderen Ebenen Aktivitäten unterneh- ren des wirtschaftlichen Lebens verbreitet. 60 Prozent
men sollte, wie es unser Antrag vorsieht: Die Bundesre- aller Handwerker, 65 Prozent aller selbstständigen Steu-
gierung sollte gemeinsam mit ihren Partnern in der EU erberater, 70 Prozent aller Einzelhandelskaufleute, 90 Pro-
darauf drängen, dass der Menschenrechtsdialog zwi- zent aller Bäcker und Metzger und praktisch jeder Land-
schen der EU und dem Iran umgehend fortgesetzt wird. wirt ist Mitglied einer oder mehrerer Genossenschaften.
Die Menschenrechtsverletzungen der iranischen Füh- Wohnungsbaugenossenschaften umfassen rund 3 Millio-
rung und der Druck auf die demokratische Opposition nen Mitglieder und bewirtschaften etwa 10 Prozent der
sind in den letzten Monaten enorm gestiegen. Ein konse- Mietwohnungen in Deutschland.
quenter Einsatz für die Freilassung politischer Gefange-
(B) ner, die Achtung des Rechts auf freie Meinungsäußerung Und, last, but not least, stellen die Volks- und Raiffei- (D)
und politische Betätigung ist auf allen politischen Ebe- senbanken mit rund 30 Millionen Kunden, 15,5 Millio-
nen notwendig. nen Mitgliedern, 168 000 Mitarbeitern, 15 000 Bank-
stellen und einem Marktanteil von 17 Prozent einen
Neben politischem Druck auf die iranische Führung wichtigen Faktor in der deutschen Kreditwirtschaft dar.
muss vor allem die iranische Zivilgesellschaft intensiver
unterstützt werden. Anders als in vielen anderen Län- Bekanntlich wurden die Genossenschaften Mitte des
dern der Region ist die Zivilgesellschaft in Iran erstaun- 19. Jahrhunderts als wirtschaftliche Selbsthilfeeinrich-
lich breit und vielfältig, sie hat aber auch besonders un- tungen gegründet. Als es infolge der gesellschaftlichen
ter der innenpolitischen Verschärfung der letzten Monate Umwälzungen durch Industrialisierung und Landflucht
gelitten. Die Bundesregierung muss intensiv die beste- zu Engpässen bei der Versorgung mit Wohnungen und
henden Kontakte pflegen und ausweiten. Zudem ist sie Gütern des täglichen Bedarfs kam, schlossen sich Men-
aufgerufen, mit konkreten Projekten, zum Bespiel im schen zu Wohnungs- und Konsumgenossenschaften zu-
Medienbereich, die bedrängte Zivilgesellschaft und die sammen und verteilten die Güter gerecht auf ihre Mit-
demokratische Entwicklung im Iran zu stärken. Nur mit glieder. Auch die Kreditgenossenschaften funktionierten
diesen zivilen Maßnahmen ist eine Beilegung der aktuel- nach diesem Prinzip. Dahinter stand – und steht – der
len Krise und eine langfristige Stärkung der demokrati- Grundgedanke, dass es für ein einzelnes Mitglied Vor-
schen Elemente im Iran möglich. teile bringt, wenn bestimmte wirtschaftliche Funktionen
auf eine speziell dafür geschaffene Wirtschaftseinheit
ausgelagert werden, die am Markt mehr Durchsetzungs-
Anlage 6 kraft hat als das Individuum selbst.
Zu Protokoll gegebene Reden Das Motto seit jener Zeit war und ist: „Alle für einen –
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur einer für alle“. Dies gilt sowohl in einer großen Genos-
Einführung der Europäischen Genossenschaft senschaft wie der DATEV in Nürnberg mit rund
und zur Änderung des Genossenschaftsrechts 40 000 Mitgliedern, wie auch in einer der kleinsten Ge-
(Tagesordnungspunkt 18) nossenschaften wie der Sennereigenossenschaft Unter-
maiselstein im Allgäu mit nur elf Mitgliedern.
Georg Fahrenschon (CDU/CSU): Bundespräsi- Dieser Grundgedanke soll durch den heute einge-
dent Roman Herzog hat 1998 ausgeführt: „Genossen- brachten Gesetzentwurf weiter gestärkt und ausgebaut
schaften sind keine liebenswerten Reminiszenzen an ein werden.
2756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Beispielhaft möchte ich hier drei Schwerpunkte nen- Das Gleiche gilt für die geplante Neuregelung des (C)
nen: § 45 Abs. 1 Genossenschaftsgesetz. Demnach muss die
Generalversammlung oder die Vertreterversammlung,
Erstens. Aus Sicht der Neugründungen und kleinen soweit diese besteht, unverzüglich einberufen werden,
Genossenschaften sind dabei folgende Punkte besonders wenn mindestens ein Zehntel der Mitglieder oder min-
hervorzuheben: Künftig sollen statt bisher sieben bereits destens 150 Mitglieder die Einberufung unter Anfüh-
drei Personen eine eingetragene Genossenschaft gründen rung des Zwecks und der Gründe verlangen. Ich möchte
können. Damit würde nach dem Motto: „Alle für einen –
hier ein Beispiel einer genossenschaftlichen Bank aus
einer für alle“ der Einstieg in eine Genossenschaft er-
meinem Wahlkreis mit rund 18 000 Mitgliedern anfüh-
leichtert, Kooperationen von drei Handwerkern, Land-
ren. Bei dieser Bank würden angesichts der vorgeschla-
wirten oder Genossenschaftsbanken ermöglicht und Sy-
genen absoluten Zahl von 150 weniger als 1 Prozent der
nergien und Energien gebündelt.
Mitgliedern genügen, um eine Vertreterversammlung
Außerdem wird vorgesehen, dass bei eingetragenen einberufen zu lassen. Dies würde zu immensem organi-
Genossenschaften mit bis zu 20 Mitgliedern nicht mehr satorischen Aufwand und erheblichen Kosten führen –
zwei Vorstands- und drei Aufsichtsratsmitglieder ge- und ebenfalls eine nicht zu vertretende ständige Unsi-
wählt werden müssen, sondern es soll nunmehr ein Vor- cherheit ins gesamte genossenschaftliche Lager tragen.
stand genügen und auf den Aufsichtsrat kann völlig ver-
zichtet werden. Damit kann Bürokratie abgebaut und CDU und CSU werden sich deshalb in den parlamen-
können die Rahmenbedingungen vor allem für kleine tarischen Beratungen dafür einsetzen, eine bessere Lö-
Genossenschaften verbessert werden. sung in Bezug auf den neuen Abs. 7 § 43 in Genossen-
schaftsgesetz zu finden.
Zweitens. Für Genossenschaften wiederum, die nach
den internationalen Rechnungslegungsstandards IAS bi- Grundsätzlich ist der vorgelegte Gesetzentwurf zu be-
lanzieren wollen, soll die Möglichkeit eröffnet werden, grüßen und positiv zu bewerten. Er stärkt die genossen-
ihre Satzung so auszugestalten, dass die Geschäftsgutha- typischen Prinzipien der Selbstverwaltung und Selbst-
ben weiterhin als Eigenkapital ausgewiesen werden kön- verantwortung. Im weiteren Verfahren wird die CDU/
nen. CSU-Bundestagsfraktion darüber wachen, dass der be-
sonderen Stellung der Genossenschaften in Deutschland
Drittens. Für grenzüberschreitende Kooperationen, im Sinne unseres geschätzten Alt-Bundespräsidenten
deren Mitglieder ihren Sitz in mindestens zwei EU-Staa- Roman Herzog auch in Zukunft Rechnung getragen
ten haben, soll schließlich eine neue Rechtsform ge- wird.
schaffen werden: die so genannte Europäische Genos-
(B) senschaft oder Societas Cooperativa Europaea (SCE). (D)
Klaus Uwe Benneter (SPD): Die Einführung der
All diese Neuregelungen sollen zu einer flexibleren Europäischen Genossenschaft sowie die Reform des
Anpassung an das wirtschaftliche Umfeld der genossen- deutschen Genossenschaftsrechts sind sinnvolle Vorha-
schaftlichen Betätigung führen, ohne die Besonderheiten ben, die wir gerne und zügig umsetzen wollen. Innerhalb
der Rechtsform der eingetragenen Genossenschaft zu der EU gibt es bereits seit Ende 2004 die Möglichkeit
zerstören. eine europäische Aktiengesellschaft – nämlich die Euro-
Vor diesem Hintergrund wird der Gesetzentwurf im päische Gesellschaft – zu betreiben. Es ist erfreulich,
weiteren Verfahren allerdings auch noch einmal genau dass es nun künftig in Europa auch die Möglichkeit ge-
zu durchleuchten sein. Ich möchte hier nur zwei Bei- ben wird, eine Europäische Genossenschaft zu gründen,
spiele herausgreifen: die über die nationalen Grenzen hinaus agieren kann.
Denn in einem zusammenwachsenden Europa besteht
Nach der Vorschrift des neuen § 43 Abs. 7 des Ge- ein praktischer Bedarf an beiden gesellschaftsrechtlichen
setzentwurfs ist eine Generalversammlung zur Be- Organisationsformen.
schlussfassung über die Abschaffung der Vertreterver-
sammlung unverzüglich einzuberufen, wenn die von Genossenschafter formulieren es so: Die Aktienge-
mindestens 10 Prozent der Mitglieder oder mindestens sellschaft möchte viel Geld einsammeln, um aus viel
500 Mitgliedern beantragt wird. Dies bedeutet für eine Geld noch mehr Geld zu machen. Naturgemäß ist dieses
Genossenschaft wie die bereits angeführte DATEV mit Ziel für viele Menschen in Europa erstrebenswert und
über 40 000 Mitgliedern, dass also lediglich 0,8 Prozent deshalb ist es vernünftig, dass international agierende
genügen, um einen entsprechenden Antrag zu stellen Unternehmen hierfür einen europäischen Rechtsrahmen
und damit eine derartige Mammutveranstaltung vorbe- wählen können.
reiten und durchführen zu müssen. Nicht nur wegen der
zahlenmäßigen Dimension, sondern insbesondere wegen Die Genossenschaft möchte mit Dienstleistungen für
der Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Vor- ihre Mitglieder einen gemeinsamen Förderzweck verfol-
stands und auf das Zusammenspiel zwischen dem Vor- gen. Auch hierfür gibt es innerhalb Europas einen Be-
stand und den Mitgliedern der Genossenschaft, ist eine darf, der die nationalen Grenzen überschreiten kann. Ich
solche Regelung nicht zielführend, denn sie verleitet ge- denke hier an Handelsgenossenschaften, an Vermark-
rade zu einem Missbrauch des Antragsrechts und geht tungsgenossenschaften etwa im landwirtschaftlichen Be-
weit über einen – sonst wichtigen und grundsätzlich an- reich, an Energieerzeugungsgenossenschaften und an
zuerkennenden – Minderheitenschutz hinaus. Genossenschaftsbanken.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2757

(A) Für die Europäische Genossenschaft liegt eine detail- Prüfungsverbandes beizubringen. Auch im laufenden (C)
lierte EG-Verordnung vor, die ab 18. August in den Mit- Betrieb ist die Genossenschaft aufwendig. Alle Genos-
gliedstaaten unmittelbar gelten wird. Unsere Aufgabe ist senschaften unterliegen bisher jährlich oder zweijährlich
es, hierzu sinnvolle Ausführungsbestimmungen zu tref- der Jahresabschlussprüfung durch den Genossenschafts-
fen. verband. Alle diese Prüfungen sind vor allem mit Kosten
verbunden. Deshalb ist es ein Ziel des Gesetzentwurfs,
In den weiteren Beratungen werden wir uns vor allem
Prüfpflichten – soweit vertretbar – abzubauen. Nach
mit der Frage des Sitzes der Europäischen Genossen-
dem Entwurf soll bei einer Bilanzsumme bis 2 Millionen
schaft befassen, Denn die Europäische Genossenschaft
Euro keine Jahresabschlussprüfung mehr gesetzlich vor-
darf selbstverständlich nicht dazu missbraucht werden,
geschrieben sein. Aus den Reihen der Prüfverbände ver-
dem Abtauchen der Genossenschaft vor den Gläubigern
nehmen wir, dass eine Grenzziehung bei 350 000 Euro
bei drohender Insolvenz Vorschub zu leisten. Deshalb ist
Bilanzsumme besser sei. Aus den Reihen der Genossen-
bereits in der EG-Verordnung klar geregelt, dass der Sitz
schaften – gerade der kleineren Genossenschaften – wird
der Europäischen Genossenschaft in dem Mitgliedstaat
vorgeschlagen, beim Abbau der Prüfpflichten noch wei-
liegt, in dem sich die Hauptverwaltung befindet. Sitzver-
ter zu gehen und die genossenschaftlichen Prüfpflichten
legungen sind nur nach vorheriger Prüfung durch das
vergleichbar dem GmbH-Recht erst ab 4 Millionen Euro
Registergericht möglich. Geprüft wird insbesondere, ob
Bilanzsumme beginnen zu lassen. Das werden wir uns
die Interessen der Gläubiger, aber auch des Fiskus ange-
genau anschauen. Nach meiner Auffassung brauchen wir
messen geschützt sind. In diesem Zusammenhang wer-
sehr gute Gründe, wenn wir weiterhin die Genossen-
den wir uns mit der Anregung des Bundesrates auseinan-
schaft gegenüber der kleinen Kapitalgesellschaft un-
der setzen, wonach Sitz und Hauptverwaltung am selben
gleich behandeln und ihr einen größeren Prüfungsauf-
Ort liegen sollten. Unser vorrangiges Ziel jedoch ist
wand abverlangen.
größtmögliche Gestaltungsfreiheit, damit Deutschland
ein attraktiver Standort für künftige europäische Genos- Auch an anderer Stelle sehe ich noch Beratungsbe-
senschaften wird. darf. Viele Schreiben haben uns erreicht die sich mit
Auch im nationalen Genossenschaftsrecht wollen wir dem vorgesehenen Recht der Mitglieder auf Einberufung
die Genossenschaftsregeln für die heutigen Nutzer, aber einer Generalversammlung befassen. Die Bedenken ge-
auch für künftige mögliche Nutzer dieser Gesellschafts- gen ein zu kleines Mitgliederquorum für das Einberu-
form attraktiver gestalten. fungsverlangen sind nachvollziehbar. Ich bin zuversicht-
lich, dass wir sachgerechte Lösungen finden werden, mit
Wir sind überzeugt, dass die Genossenschaft weiter- denen auch Genossenschaften leben können, die Zehn-
hin gebraucht wird. Denn in Genossenschaften können tausende oder gar Hunderttausende Mitglieder haben.
(B) die Mitglieder die Prinzipien der Selbsthilfe und der Am Ende unserer Beratungen wird ein erneuertes und (D)
Selbstverwaltung, aber auch der genossenschaftlichen von unnötigem Ballast befreites Genossenschaftsrecht
Solidarität besonders erfolgreich zu ihrem jeweils eige- stehen.
nen Nutzen umsetzen.
Die Genossenschaft als Rechtsform war zu Beginn Mechthild Dyckmans (FDP): Europa wächst zu-
der Industrialisierung eine Idee von Sozialreformern sammen – heute debattieren wir erneut, welche Voraus-
– von engagierten Menschen aus dem sozialdemokrati- setzungen wir für dieses Zusammenwachsen selbst
schen, dem christlichen und dem liberalen Lager. Die schaffen müssen. Der uns von der Bundesregierung sehr
Idee war segensreich – und sie ist es bis heute. Genos- kurzfristig vorgelegte Gesetzentwurf dient nicht nur der
senschaften agieren im Wohnungswesen, im Handel, in Umsetzung von EU-Vorgaben zur Einführung der Euro-
der Landwirtschaft; die Genossenschaft ist eine Rechts- päischen Genossenschaft. Mit dem zu beratenden Ent-
form für Handwerker, die sich zusammenschließen, für wurf soll nach dem Willen der Bundesregierung auch die
das Bankenwesen wie auch für Arbeitsloseninitiativen. Attraktivität der deutschen Rechtsform der eingetrage-
Genossenschaften können Zeitung machen – wie die nen Genossenschaft erhöht werden.
„taz“ – sie können Schulen betreiben und im Januar die-
Zunächst möchte ich einige Worte zum Zeitablauf der
ses Jahres lief das Biomasseheizkraftwerk im Bioener-
anstehenden Beratungen sagen: Für das In-Kraft-Treten
giedorf Jühnde an, das von einer Betreibergenossen-
des Gesetzentwurfs ist durch die Umsetzungsfristen der
schaft mit 180 Genossen betrieben wird. Die
EU der 18. August 2006 vorgesehen. Die Verordnung
Genossenschaften in Deutschland sind recht stabil und
und die korrespondierende Richtlinie, die für die Euro-
wenig anfällig für Insolvenzen.
päische Genossenschaft und deren Regelungen der Ar-
Allerdings müssen wir feststellen, dass die Genossen- beitnehmerbeteiligung den rechtlichen Rahmen setzen,
schaftszahlen zurückgehen – und zwar seit Jahren. Heute wurden vom Rat der EU bereits am 22. Juli 2003 ver-
haben wir in Deutschland jährlich mehr Löschungen als kündet. Sie traten am 21. August 2003 in Kraft. Trotz-
Neueintragungen und insgesamt sind die Genossen- dem benötigte die Bundesregierung circa 32 Monate, um
schaften weniger geworden – waren es 1998 noch fast den Entwurf vorzulegen. Und nun sind für die parlamen-
10 000 Genossenschaften, sind es heute weniger als tarischen Beratungen noch vier Monate mit gerade mal
8 000 Genossenschaften. Diese Entwicklung hängt da- fünf Sitzungswochen übrig. Ich hoffe, dass Sie – meine
mit zusammen, dass die Genossenschaft in der Grün- verehrten Kolleginnen und Kollegen – zu sehr konstruk-
dung recht aufwendig ist; so ist beispielsweise bei der tiven und weltoffenen Beratungen bereit sind, um die
Anmeldung zur Eintragung ein Gründungsgutachten des Stolperfallen dieses Gesetzentwurfs auszubessern!
2758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Nun komme ich zum Inhalt des Gesetzes. Wie bereits mit dem Titel „Die Europa AG ist eine Mutprobe“, der (C)
erwähnt, sind zwei große Themenkomplexe zu bespre- präzise die Schwierigkeiten bei der Umwandlung der Al-
chen: einmal die Einführung der Europäischen Genos- lianz in eine Societas Europaea beschreibt.
senschaft und zum Zweiten die Novelle des deutschen
Genossenschaftsgesetzes – denn so soll das „Gesetz be- Zurück zur Europäischen Genossenschaft: Die deut-
treffend die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ sche Mitbestimmung ist kein Exportschlager; wenn wir
künftig genannt werden. sie auf Leitungsfunktionen ausdehnen, wird dies auslän-
dische Investoren abschrecken, nicht aber zu Investitio-
Zunächst einige Worte zum ersten Themenkomplex: nen ermuntern. Wer Arbeitsplätze durch die Europäische
Die Europäische Genossenschaft soll unter anderem Genossenschaft schaffen will, wird sich mit uns Gedan-
dazu dienen, Anreize für ausländische Investitionen zu ken darüber machen müssen, wie wir eine solche von der
setzen. Ob dies gelingt, wird die Zukunft zeigen. Durch EU nicht geforderte Ausweitung der Mitbestimmung
die für die Europäische Genossenschaften geschaffene verhindern!
Möglichkeit, für die Unternehmensverfassung zwischen
dem monistischen und dem dualistischen System zu un- Ich komme nun zu den geplanten Änderungen des
terscheiden, erhalten Gründungs- und Verschmelzungs- deutschen Genossenschaftsgesetzes. Genossenschaften
willige die Wahl zwischen dem Modell mit Aufsichtsrat sind ein liberales Modell – sie verkörpern die Prinzipien
und Vorstand und dem Modell, das eher dem angelsäch- der Selbsthilfe, der Selbstverwaltung und der Selbstver-
sischen Board-System – hier nun Verwaltungsrat ge- antwortung. Wir Liberalen haben daher ein großes Inte-
nannt – gleicht. Dadurch könnte grundsätzlich ein größe- resse daran, die Attraktivität der Rechtsform der Genos-
res Vertrauen entstehen, da einigen ausländischen senschaft zu erhöhen. Daher begrüßen wir ausdrücklich
Investoren das monistische System bekannter ist. die Erweiterung des Förderungszwecks auf soziale und
kulturelle Zwecke.
Umso mehr erstaunt es, dass dieser Anreiz durch die
Regelungen zur Mitbestimmung im selben Federstrich In der ersten Lesung möchte ich nur einige Kritik-
wieder zunichte gemacht wird. Denn die deutsche Mit- punkte zu dem Entwurf ansprechen:
bestimmung soll unverändert auf die Europäische Ge-
nossenschaft übertragen werden. Nach den Vorgaben der Über die Schwellenwerte zur Einberufung der Gene-
EU soll die Gründung einer Europäischen Genossen- ralversammlung zur Beschlussfassung über die Abschaf-
schaft nicht zu einer Beseitigung oder Einschränkung fung der Vertreterversammlung in § 43 a Abs. 7 GenG
der Beteiligung von Arbeitnehmern in Organen der Ge- und zur unverzüglichen Einberufung zur Generalver-
nossenschaft führen. Diesem Gebot der EU fühlen wir sammlung in § 45 GenG müssen wir dringend reden. Es
Liberale uns verpflichtet. Die Bundesregierung plant je- kann nicht sein, dass zum Beispiel bei einer Genossen-
(B)
doch eine Ausweitung der Mitbestimmung. Zur Verdeut- schaft mit 40 000 Mitgliedern bereits 0,38 Prozent der (D)
lichung des Zusammenhangs: Bei der Übernahme der Mitglieder die Einberufung der Generalversammlung er-
deutschen Mitbestimmung in das dualistische System zwingen können – dies entspricht den im Gesetzentwurf
gibt es keine erwähnenswerte Veränderung bezüglich der vorgesehenen 150 Mitgliedern. Und eine 40 000 Mit-
Beteiligung der Arbeitnehmer. Die Übernahme der Mit- glieder starke Genossenschaft zählt nicht einmal ansatz-
bestimmung in das monistische System bedeutet jedoch weise zu einer der größten Genossenschaften in
eine ernorme Ausdehnung der Mitbestimmung auf die Deutschland – die größten Genossenschaften haben un-
Leitung des unternehmerischen Geschäfts. Ist bisher ter Umständen mehrere hunderttausend Mitglieder!
nach deutschen Gesetzen die Mitbestimmung auf das Ein anderer Punkt, der uns Liberale kritisch stimmt,
Organ eines Unternehmens beschränkt, welches kontrol- ist die Streichung von fünf Worten in § 31 Abs. l Satz 2
lierend und überwachend tätig ist – nämlich den Auf- GenG. Hatte bisher ein Mitglied einer Genossenschaft
sichtsrat –, bleibt das Leitungsorgan mitbestimmungs- das Recht, eine Abschrift der Mitgliederliste „hinsicht-
frei. Im monistische System haben wir aber „nur“ den lich der ihn betreffenden Eintragungen“ zu erhalten, soll
Verwaltungsrat. Dieser erfüllt neben den Aufgaben der das Mitglied nun eine vollständige Abschrift erhalten
Überwachung und Kontrolle auch die Aufgabe der Lei- können. Bereits aus datenschutzrechtlichen Gründen
tung des Unternehmens. Damit plant die Bundesregie- muss man dies kritisch beurteilen. Denn in dieser Mit-
rung, die Mitbestimmung bis in das Leitungsorgan der gliederliste sind nicht nur die Namen der Mitglieder auf-
Europäischen Genossenschaft auszudehnen. Meine Da- geführt, sondern zum Beispiel auch die Anzahl der Ge-
men und Herren von der CDU/CSU: Dies haben Sie vor schäftsanteile. Hier wird in den Beratungen das
anderthalb Jahren bei der Einführung der Europäischen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu
Aktiengesellschaft noch zusammen mit uns heftigst be- beachten sein.
kämpft!
Die Mehrstimmrechtsregelung in § 43 Abs. 3 GenG
Und wer die Hoffnung hatte, die Bundesregierung bedarf der Überarbeitung. So ist die Erweiterung für Un-
würde daraus lernen, dass die Europäische Aktiengesell- ternehmergenossenschaften zu begrüßen; nicht nachvoll-
schaft gerade wegen dieser Mitbestimmungsregelungen ziehbar ist dagegen, warum die bestehenden Regelungen
nicht zu einem Investitionsschlager geworden ist, wird für Nicht-Unternehmergenossenschaften oder Zentralge-
wohl heute wieder eines Besseren belehrt. Wer sich von nossenschaften gestrichen werden sollen.
den Schwierigkeiten der Gründung einer Europäischen
Aktiengesellschaft überzeugen möchte, dem empfehle Auch über die Anfechtungsbefugnis außen stehender
ich an dieser Stelle einen Artikel der „FAZ“ von gestern Mitglieder (§ 51 Abs. 2 Satz 3 GenG) und die Grenzen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2759

(A) für die Befreiung von der Jahresabschlussprüfung (§ 53 dende. Damit besteht die akute Gefahr, dass der (C)
Abs. 3 GenG) werden wir reden müssen. eigentliche Zweck von Genossenschaften – die Förde-
rung der nutzenden Mitglieder – einem neuen Zweck
Sie sehen, es gibt viel zu tun, damit aus diesem Ge- weichen muss: dem Wachstum des angelegten Kapitals
setzentwurf noch ein rundum gutes, innovatives und der investierenden Mitglieder. Genossenschaftsanteile
zielführendes Gesetz wird! sichern den Genossinnen und Genossen dann mitunter
nicht mehr eine angemessene Wohnraumversorgung,
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Die Bundesregierung sondern allenfalls eine marktübliche Verzinsung. Gerade
schlägt Änderungen des Genossenschaftsrechts vor. Und jetzt sind Finanzinvestoren landauf, landab unterwegs,
tatsächlich: Im Titel kommt es noch vor, das Wort Ge- um die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften zu
nossen. Ansonsten wird das Wort durch den Gesetzent- kaufen. Jetzt sollen den Heuschrecken auch noch die Ge-
wurf abgeschafft – rund 90-mal wird es explizit durch nossenschaften angeboten werden? Wo bleibt ihre Kritik
das Wort Mitglieder ersetzt. Genossen haben nach Mei- an der Heuschreckenplage, verehrte Kolleginnen und
nung der Bundesregierung offenbar nichts mehr zu su- Kollegen der SPD? Und vor allem: Wo bleiben die Kon-
chen in ihren Genossenschaften. sequenzen? Diese Änderung lehnen wir ab.
Das ist mehr als eine Formalie. Das Streichen der Ge- Auch in der Landwirtschaft gilt es, das Genossen-
nossen offenbart nämlich, was die Regierung unter Mo- schaftsmodell zu bewahren, das insbesondere in Ost-
dernisierung des Genossenschaftsrechts eigentlich ver- deutschland stark verankert ist. Dieses Modell ist den
steht: Die Genossenschaften sollen kompatibel werden Veränderungen durch die Agrarpolitik der EU und WTO
mit dem globalisierten Kapitalismus. Es geht der Regie- gut gewachsen. Eine Öffnung für nicht nutzende Inves-
rung weniger um die Stärkung des Genossenschaftsge- toren oder gar die Einführung eines an die Höhe der Be-
dankens, um Solidarität und innerbetriebliche Demokra- teiligung gekoppelten Mehrstimmrechts, wie es von in-
tie. Es geht ihr zu allererst um die Wettbewerbsfähigkeit teressierter Seite gefordert wird, wäre kontraproduktiv.
von Genossenschaften in Konkurrenz zu anderen
Rechtsformen. Und diese Wettbewerbsfähigkeit soll Sicherlich, Einzelpunkte des Gesetzentwurfs sind
durch eine schleichende Angleichung des Genossen- auch zu begrüßen, etwa dass künftig nur drei anstatt sie-
schaftsrechts an die Regeln für Kapitalgesellschaften ge- ben Mitglieder eine Genossenschaft gründen können
schaffen werden. oder die Erweiterung des Zwecks von Genossenschaften
Damit schließt sich die Regierung der Europäischen um soziale und kulturelle Ziele. Auch dass Mehrstimm-
Kommission an, die schon 2004 forderte, die Vorschrif- rechte zukünftig nur bei Unternehmensgenossenschaften
möglich sind, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
(B) ten für Genossenschaften müssten „auch ihren Bedürf- (D)
nissen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen einer Wir wollen, dass der Genossenschaftsgedanke insge-
modernen Marktwirtschaft“ gerecht werden. Aber die samt weiter gestärkt wird. Innerbetriebliche Demokratie
wachsende Ähnlichkeit von Genossenschaften und Ak- und gleichberechtigte Kooperation in Genossenschaften
tiengesellschaften zeigt sich nicht nur bei der – mit dem sind Werte, die wir verteidigen. Statt diese Werte im
vorliegenden Gesetzentwurf ja auch eingeführten – Sinne der Konkurrenzfähigkeit abzubauen, müssen Ge-
neuen Rechtsform der Europäischen Genossenschaft. nossenschaften endlich angemessen gefördert werden,
Auch die Genossenschaften nach deutschem Recht er- damit die Genossenschaft auch zukünftig eine Genos-
halten zukünftig Merkmale, die dem ursprünglichen senschaft bleibt und nicht zu einer „Shareholderschaft“
Charakter des Genossenschaftswesens zuwiderlaufen, mutiert.
insbesondere: die Öffnung für investierende Mitglieder.
In § 8 Abs. 2 des neuen Genossenschaftsgesetzes soll es
zukünftig heißen: „Die Satzung kann bestimmen, dass Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
Personen, die für die Nutzung oder Produktion der Güter GRÜNEN): Der vorliegende Gesetzentwurf zur Einfüh-
und die Nutzung oder Erbringung der Dienste der Ge- rung der Europäischen Genossenschaft und zur Ände-
nossenschaft nicht infrage kommen, als investierende rung des Genossenschaftsrechts erfährt grundsätzlich die
Mitglieder zugelassen werden können.“ Damit wird der Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Das
Verwandlung von Genossenschaften in profitorientierte vorliegende Regelwerk ist gleichsam ein Schritt nach
Unternehmen Tür und Tor geöffnet. vorne für die bestehenden Genossenschaften und im
Prinzip eine Existenzgründerinitiative wie auch ein
Sicherlich, die Einführung von investierenden Mit- wichtiger Beitrag im Sinne des Corporate-Governance-
gliedern ist eine Kannvorschrift. Auch sollen verschie- Gedankens der e. G.
dene Einschränkungen dafür sorgen, dass Investoren die
Entscheidungsfindung innerhalb der Genossenschaft Die Novellierung des Genossenschaftsgesetzes ist seit
nicht zu sehr beeinflussen können. Dennoch: Wer wird langem von der Genossenschaftspraxis gefordert wor-
verhindern, dass finanzstarke Investoren den Genossin- den. Sie ist gleichzeitig eine Modernisierung und eine
nen und Genossen ihren Willen aufzwingen oder durch Rückbesinnung auf den genossenschaftlichen Grundge-
vermeintlichen betriebswirtschaftlichen Sachverstand danken. Die genossenschaftliche Rechtsform wird als
schmackhaft machen? Alleine die Bezeichnung „Inves- Organisationsform für die gemeinschaftliche Selbsthilfe
tierende Mitglieder“ zeigt schon, worum es diesen Mit- mit den Neuerungen des deutschen Genossenschafts-
gliedern vor allem gehen wird: um eine ordentliche Divi- rechts gestärkt.
2760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Es werden gerade für Existenzgründer und -gründe- zusätzlichen Kosten nicht vertretbar. Kosten für Prüfun- (C)
rinnen neue Möglichkeiten über eine neue Rechtsform gen, die in keiner Relation zu dem oft nicht sehr hohen
geschaffen. Die geplanten Änderungen im Genossen- Eigenkapital stehen, wirken sich für Neugründungen an-
schaftsrecht – „eingetragene Genossenschaft“, e. G. – dernfalls kontraproduktiv aus.
lassen für Firmengründer zukünftig eine interessante
Dass Genossenschaften mit einer Bilanzsumme bis zu
weitere Alternative bei der Wahl der Rechtsform entste-
l Million Euro keine Prüfung des Jahresabschlusses
hen. Das ist einer der wichtigsten Neuerungen und das
mehr brauchen, ist die richtige Richtung. Wünschens-
gilt es zu unterstreichen und zu unterstützen.
wert wäre es gewesen, dass die kleinen Genossenschaf-
Es ist gut, den Genossenschaftsgedanken zu stärken. ten wie alle anderen Unternehmensrechtsformen nur den
Genossenschaften hatten und haben eine besondere Be- Prüfungsvorschriften des HGB unterliegen. Kleine Ka-
deutung als Instrument der Selbsthilfe. In letzter Zeit pitalgesellschaften gelten demnach als solche, die min-
werden verstärkt soziale Betriebe als Initiativen von Ar- destens zwei der drei Merkmale gemäß § 267 Abs. l
beitslosen in Form von Genossenschaften gegründet. HGB nicht überschreiten, das heißt, bei denen nicht
Die Eckpfeiler des Genossenschaftsprinzips, wie zum gleichzeitig der Umsatz über 8 030 000 Euro, die Bi-
Beispiel Dezentralität, Selbsthilfe, Selbstorganisation lanzsumme nicht über 4 015 000 Euro und die Zahl der
und demokratische Selbstverwaltung finden ihre Ent- Beschäftigten unter 50 liegt. Genossenschaften in dieser
sprechung auch in der Wirtschaft. Diese Prinzipien ha- Größenordnung unterliegen weiterhin einer zweijährigen
ben eine große Bedeutung für Bündnis 90/Die Grünen. Prüfung von Vermögenslage, Geschäftsführung und Mit-
Genossenschaften sind die geeignete Rechtsform, um gliederliste durch den Verband.
unternehmerisches Handeln und soziale Verantwortung Ideen aus der im Aktienrecht geführten Corporate-
zu verbinden. Governance-Diskussion werden auf den Genossen-
Im Einzelnen bewerte ich die Gesetzesänderungen in schaftsbereich übertragen. Dazu gehört zum Beispiel die
folgenden Bereichen wie folgt: Die Gründung von Ge- Stärkung der Rolle des Aufsichtsrats oder die Verbesse-
nossenschaften soll erleichtert und die allgemeinen Rah- rung der Informationsversorgung und der Einflussmög-
menbedingungen gerade für kleine Genossenschaften lichkeiten der Mitglieder, insbesondere wenn eine Ver-
sollen verbessern werden. Zum Beispiel wird die Min- treterversammlung besteht.
destmitgliederzahl von sieben auf drei gesenkt. Die Die Stärkung der Informationsrechte der Mitglieder
Rechtsform der Genossenschaft wird auch für soziale ist ein weiterer wichtiger Schritt, den Corporate-Gover-
oder kulturelle Zwecke geöffnet. Besonders wichtig für nance-Gedanken in die Genossenschaften zu tragen und
kleine Genossenschaften ist die Ausnahme von der Prü- dort zu verankern. Das Recht, das jedes Mitglied erhält,
(B) fung des Jahresabschlusses bei Genossenschaften mit ei- in der Generalversammlung Einblick in das zusammen- (D)
ner Bilanzsumme bis zwei Millionen Euro. gefasste Prüfergebnis zu nehmen, sollte auch bei Beste-
Bemerkenswert ist außerdem, dass die Genossen- hen einer Vertreterversammlung Gültigkeit haben.
schaft künftig auch soziale Förderzwecke verfolgen Das Genossenschaftsrecht kann zum Schrittmacher
kann. Bisher war die deutsche Genossenschaft wirt- bei der Etablierung moderner Kommunikationsstruktu-
schaftlichen Zwecken vorbehalten. Bisher waren hier ren werden. „Die Satzung kann zulassen, dass Be-
unter anderem die Prüfungspflichten sehr umfangreich schlüsse der Mitglieder schriftlich oder in elektronischer
und kostspielig. Das führte dazu, dass die vielen Grup- Form gefasst werden“. Das besagt der Regierungsent-
pen, wie zum Beispiel Weltläden, Schulen und Arbeits- wurf des neuen § 43 Abs. 7 GenG. In der Begründung
loseninitiativen, diese Rechtsform nicht für ihre Organi- wird ausgeführt: Die Satzung „muss durch ein entspre-
sation gewählt haben. Mit der Novellierung bieten wir chendes Regelwerk sicherstellen, dass die Rechte alter
diesen Organisationen und Einrichtungen die Möglich- Mitglieder gewahrt und die Ordnungsmäßigkeit der
keit, anstatt eines Vereins eine Genossenschaft zu grün- Stimmabgabe gewährleistet ist. Unter diesen Vorausset-
den. Die Prüfungspflichten von kleinen Genossenschaf- zungen ist auch die Durchführung einer virtuellen Gene-
ten – Jahresbilanz von 2 Millionen Euro – werden ralversammlung per Internet denkbar; in der Praxis wird
reduziert. Wir begrüßen diese Reduzierung. Damit wird dies aber derzeit nur in seltenen Ausnahmefällen, zum
insbesondere den Neugründungen von Genossenschaf- Beispiel bei einer Genossenschaft aus dem IT-Bereich,
ten ein Weg geebnet und die Gründungsvoraussetzungen in Betracht kommen“.
werden erleichtert. Die Kompensation der Einnahmever-
luste der Prüfungsverbände kann durch Übernahme der Im Aktienrecht wurde in den letzten Jahren viel er-
operativen Buchführung kompensiert werden. reicht (Dokumentation): Wenn die Satzung das vorsieht,
kann elektronische Bevollmächtigung stattfinden
Für die Regelung der Prüfung ist entscheidend, ob (§ 134 III 2 AktG), die Hauptversammlung kann in Ton
und in welchem Maße die Rechtsform der Genossen- und Bild übertragen werden (§ 118 III AktG), Aufsichts-
schaft sich tatsächlich für Neugründungen aus kleineren ratsmitglieder können per Videozuschaltung teilnehmen
Personenzusammenschlüssen eignet. Es ist entschei- (§118 II 2 AktG). Aber eine Abwicklung der Angelegen-
dend, dass aus der Sicht der Rechtsformnutzer den Grün- heit nur im virtuellen Raum ist wohl nicht möglich. Das
derinnen und Gründern wegen unverhältnismäßiger jetzt zur Reform anstehende Recht der Genossenschaft
Kostenbelastungen keine Diskriminierung gegenüber geht da einen wesentlichen Schritt weiter. Ich begrüße
anderen Rechtsformen wie zum Beispiel der GmbH ent- das und bin gespannt auf die Entwicklungen in den Ge-
steht. Gerade in den ersten Jahren ist eine Belastung mit nossenschaften.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2761

(A) Der Gesetzentwurf erleichtert die Kapitalbeschaffung schriften zu der entsprechenden EU-Verordnung erlassen (C)
und -erhaltung bei Genossenschaften, zum Beispiel in- und die begleitende Richtlinie zur Arbeitnehmerbeteili-
dem eine Sachgründung zugelassen wird, ein Mindest- gung in deutsches Recht umsetzen.
kapital eingeführt werden kann und in dem rein investie-
rende Mitglieder zugelassen werden können. Meine Damen und Herren – der rechtspolitische
Schwerpunkt des Entwurfs liegt allerdings woanders,
Die neuen Regularien bieten Anreize für genossen- nämlich bei den Änderungen des deutschen Genossen-
schaftliche Neugründungen. Diese können und müssen schaftsgesetzes. Ziel ist es, das Genossenschaftsrecht
flankiert werden, indem hier in den ersten fünf Jahren insgesamt moderner und attraktiver zu machen. Hier geht
Unterstützungen gegeben werden. Dadurch kann sicher- es insbesondere darum, die Gründung von Genossen-
gestellt werden, dass die geringe Insolvenzzahl bei Ge- schaften zu erleichtern und die allgemeinen Rahmenbe-
nossenschaften weiterhin durch qualifizierte Beratung zu dingungen gerade für kleine Genossenschaften zu ver-
erreichen ist. Wir brauchen Gleichbehandlung von Ge- bessern. So wird zum Beispiel die Mindestmitgliederzahl
nossenschaften gegenüber anderen Unternehmensfor- von sieben auf drei abgesenkt. Die Rechtsform der Ge-
men, was zum Beispiel die Vergabe von Förderkrediten nossenschaft wird geöffnet auch für soziale oder kultu-
angeht. Genossenschaften sollten bei der Förderung zum relle Zwecke. Besonders wichtig für kleine Genossen-
Beispiel durch öffentliche Kredite der bundeseigenen schaften ist die vorgesehene Ausnahme von der Prüfung
KfW gegenüber anderen Rechtsformen kleiner und mitt- des Jahresabschlusses bei Genossenschaften mit einer
lerer Unternehmen nicht benachteiligt werden. Bilanzsumme bis zwei Millionen Euro. Diese Grenze
wird teils als zu hoch, teils als zu niedrig kritisiert. Wir
Schließlich ist das altehrwürdige Genossenschaftsge-
werden, wie vom Bundesrat erbeten, prüfen, ob die Ab-
setz auch sprachlich zu modernisieren. Zum Beispiel
grenzung nach der Bilanzsumme durch weitere Größen-
wird die Bezeichnung „der Genosse“ durch die ge-
merkmale ergänzt werden sollte.
schlechtsneutrale und schon jetzt in der Praxis gebräuch-
liche Bezeichnung „Mitglied der Genossenschaft“ er- Weitere wichtige Änderungen betreffen die Übertra-
setzt. Diese Modernisierung auch und gerade im gung von Elementen aus der im Aktienrecht geführten
Sprachgebrauch kann ich nachhaltig unterstützen. Corporate Governance-Diskussion auf den Genossen-
Der Gesetzentwurf enthält darüber hinaus die erfor- schaftsbereich. Dazu gehört zum Beispiel die Stärkung
derlichen Regelungen für eine neue, supranationale der Rolle des Aufsichtsrats oder die Verbesserung der In-
Rechtsform: die Europäische Genossenschaft. Grund- formationsversorgung und der Einflussmöglichkeiten
lage sind zwei EU-Rechtsakte vom Sommer 2003: eine der Mitglieder, insbesondere bei Bestehen einer Vertre-
Verordnung, die unmittelbar in den Mitgliedstaaten gilt, terversammlung. Die hierbei vorgeschlagenen Minder-
(B) und eine Richtlinie über die Beteiligung der Arbeitneh- heitenrechte für Mitglieder sind teilweise auf heftige (D)
mer, die bis August 2006 in nationales Recht umzuset- Kritik gestoßen, weil ein rechtsmissbräuchliches Aus-
zen ist. Durch attraktive Ausführungsvorschriften im nutzen dieser Rechte befürchtet wird. Ich möchte hier zu
deutschen Recht soll ein Anreiz geboten werden, dass einer sachlichen Diskussion aufrufen. Die Genossen-
eine neu gegründete Europäische Genossenschaft ihren schaft gehört den Genossen – bzw. den Mitgliedern, wie
Sitz in Deutschland nimmt. Wir erhalten damit eine neue sie zukünftig heißen werden – und deshalb halte ich es
supranationale Rechtsform: die Europäische Genossen- nach wie vor für einen sinnvollen Ansatz, die Rechte
schaft. Bündnis 90/Die Grünen werden darauf achten, derjenigen, um deren Anteile es geht, zu stärken – auch
dass die Europäische Genossenschaft in der Praxis nicht wenn Vorstände und Vertreter das vielleicht nicht so
dafür genutzt wird, Mitbestimmungsrechte auszuhebeln. gerne sehen. Ich bin offen dafür, dass hier auch nach Al-
ternativen gesucht wird. Denn es muss klar sein: die In-
Abschließend und zusammenfassend will ich festhal- formations- und Teilhaberechte der Mitglieder dürfen
ten, dass die Erleichterung der Prüfungspflichten für nicht zu einer missbräuchlichen Verwendung verleiten
kleine Genossenschaften zu begrüßen ist, weil sie die und nicht zu unangemessenen Belastungen für die Ge-
Gründungsvoraussetzungen für Genossenschaften er- nossenschaft führen. Lassen Sie uns gemeinsam darauf
leichtert. Die Minderheitenrechte zu stärken ist ein fol- hinwirken, dass die Attraktivität der Genossenschaft ge-
gerichtiger Schritt. Die Funktionsfähigkeit großer Wirt- stärkt wird und diese mehr in die öffentliche Wahrneh-
schaftsgenossenschaften wie zum Beispiel Volks- und mung rückt. Denn gerade heute kann die Genossenschaft
Raiffeisenbank wird gewährleistet. – bei der sich regelmäßig unternehmerische Initiative,
Selbsthilfe und soziale Orientierung miteinander verbin-
Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der den – für viele kleine Unternehmen die richtige Rechts-
Bundesministerin der Justiz: Ihnen liegt heute zur form sein. Zu Unrecht wird die Genossenschaft oft als
1. Lesung der Entwurf eines Gesetzes zur Einführung altmodische, „verstaubte“ Rechtsform empfunden, und
der Europäischen Genossenschaft und zur Änderung des leider ist die Anzahl der Genossenschaften seit Jahren
Genossenschaftsrechts vor. Mit diesem Gesetz werden rückläufig. Ich wünsche mir daher, dass dieser Gesetz-
die deutschen Rechtsvorschriften für eine neue Rechts- entwurf deutlich macht: die Genossenschaft ist eine den
form geschaffen: für die Europäische Genossenschaft. Ansprüchen des modernen Wirtschaftslebens gerecht
Diese neue Rechtsform soll Genossenschaften in der EU werdende Unternehmensform. Und ich hoffe, dass der
die grenzüberschreitende Betätigung erleichtern. Zur Gesetzentwurf dazu beiträgt, dass bei Neugründungen
Einführung der Europäischen Genossenschaft muss der von Unternehmen künftig vermehrt die Rechtsform der
deutsche Gesetzgeber bis August 2006 Ausführungsvor- Genossenschaft gewählt wird.
2762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Anlage 7 „public viewing“ – anzutreffen ist und die vielen Spon- (C)
tantreffen, von denen man ausgehen muss.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das bedeutet, dass wenig planbar und sehr flexibel
zur Beratung der Anträge: auf solche Menschenansammlungen reagiert werden
– Gegen rechtsstaatsfreie Räume – Sicher- muss.
heitsüberprüfungen im Rahmen von Akkre- Da, wo es Auflagen gibt, wie zum Beispiel am Breit-
ditierungsverfahren bedürfen einer Rechts- scheidplatz, trifft man sehr schnell auf Unverständnis
grundlage und heftige Reaktionen, wie man der heutigen Berliner
– Kein Generalverdacht bei den Sicherheits- Morgenpost entnehmen kann.
überprüfungen zur Fußballweltmeister- Die Zahl der notwendigen Sicherheitskräfte wird alles
schaft 2006 bisher Dagewesene in den Schatten stellen.
(Tagesordnungspunkt 20 a und b) Und nur so – und nicht anders – war die ständige
Mahnung unseres Innenministers Dr. Schäuble zu ver-
Beatrix Philipp (CDU/CSU): Die Fußball-WM 2006 stehen, dass man auch an die Grenzen der eigenen Kapa-
ist ein Ereignis, auf das sich die Welt, zumindest die zität stoßen und daher der Einsatz der Bundeswehr not-
„Fußballwelt“, besonders freut. wendig werden könnte. Aber dieses Thema ist, wie man
so schön sagt, „durch“. Alle werden viel Verständnis
„Zu Gast bei Freunden“ – ein Motto, das bereits eine aufbringen müssen!
positive Stimmung assoziiert: Freundschaftlich soll es
zugehen, Gäste sollen sich wohl fühlen, und als Gastge- Wir befassen uns heute mit einem Teilaspekt dieser
ber müssen wir alles tun, damit die Gäste sich auch wohl Sicherheitsvorkehrungen, nämlich mit der Sicherheits-
fühlen können. überprüfung aller, die in irgendeiner Funktion Zutritt zu
den Veranstaltungsorten haben wollen. Darunter fallen
Aber neben der Freude ist mit diesem Großereignis alle ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen der Hilfsor-
auch eine ungeheuere Verantwortung verbunden, die die ganisationen, die hauptberuflichen Sicherheitskräfte, die
FIFA und auch wir als gastgebendes Land zu überneh- Servicekräfte in der Gastronomie, die Mitarbeiter und
men haben. Mitarbeiterinnen der Reinigungsfirmen und schließlich
Um dieses Großereignis gegen alle denkbaren – und – last, but not least – geht es auch um das Akkreditie-
möglichst auch gegen alle fast undenkbaren – Gefahren rungsverfahren von Journalisten und Journalistinnen,
abzusichern, laufen im organisatorischen und besonders das kritisiert wird.
(B) im sicherheitspolitischen Bereich seit langem die Vorbe- (D)
Es geht also nicht um die „Glücklichen“, die im Be-
reitungen auf Hochtouren. sitz einer Eintrittskarte sind.
Dabei muss im Bereich der Sicherheitsmaßnahmen Bei den Funktionsträgern handelt es sich um die nicht
ein Maximum an Vorkehrungen getroffen werden und geringe Anzahl von 220 000 bis 250 000, von denen je-
zugleich ein Minimum an Belästigungen für die Gäste der Einzelne sicherheitsüberprüft wird. Dazu muss jeder
gewährleistet sein. vorab eine freiwillige Einwilligungserklärung unter-
Und dennoch wissen alle, dass es wahrscheinlich un- zeichnen, in der er sich mit einer Sicherheitsüberprüfung
vermeidlich sein wird, dass es zu Einschränkungen oder einverstanden erklärt hat. Dieser Einwilligung muss eine
auch Behinderungen kommen kann. Kurz: Alle werden umfassende Information vorausgehen.
auf viel Verständnis bauen müssen und auf das Wissen, Zitat:
dass es keine Alternativen gibt, wenn die Verantwortli-
chen das Gefühl haben wollen, alles Menschenmögliche „Nach dem Bundesdatenschutzgesetz (§ 4 Abs. 1
getan zu haben. und § 4 a Abs. 1) bzw. den entsprechenden landes-
rechtlichen Vorschriften ist die Erhebung und Ver-
Wer die Verantwortung trägt, wird erst aufatmen kön- arbeitung personenbezogener Daten unter anderem
nen, wenn die WM ohne große Zwischenfälle zu Ende dann zulässig, wenn der Betroffene seine Einwilli-
gegangen ist. gung erklärt hat.
Jeder, der sich ein wenig mit dieser Problematik be- Vor der Erklärung der Einwilligung ist der Betrof-
fasst hat, wird wissen, dass die Fußball-WM ein Ereignis fene über die Datenverwendung umfassend aufzu-
ist, das mit bisherigen – und vielleicht auch zukünfti- klären. Eine solche „informierte Einwilligungs-
gen – nicht zu vergleichen ist: Es sind die Millionen von erklärung stellt die rechtliche Grundlage für die
Menschen, die kommen, es sind die Veranstaltungsorte Erhebung und Verarbeitung der personenbezogenen
– die Stadien –, es sind die An- und Abfahrten, die Zu- Daten im Rahmen des Akkreditierungsverfahrens
und Abgänge, die einer besonderen Aufmerksamkeit un- für die FIFA Fußball-WM 2006 dar.“
ter Sicherheitsaspekten bedürfen. Diese Szenarien sind
uns aber geläufig und überschaubar. Dieser Auffassung der Bundesregierung, die sie im
Februar 2006 bereits schriftlich in der Beantwortung der
Dies trifft aber überhaupt nicht zu für jede größere Kleinen Anfrage zum Ausdruck brachte, schließen wir
Menschenansammlung, die erfahrungsgemäß vor unzäh- uns vollinhaltlich an, ebenso den Antworten auf die vie-
ligen Großbildleinwänden beim – wie es so schön heißt len Fragen, die dort gestellt wurden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2763

(A) Den Anforderungen des Datenschutzgesetzes ist die Wir müssen also abwägen zwischen dem Schutzgut (C)
FIFA in sehr umfassender Weise nachgekommen. Inso- der öffentlichen Sicherheit, das bei einem Großereignis
fern ist überhaupt nicht nachvollziehbar, – um es vor- dieser Art per se gefährdet ist, und etwaigen Grundrech-
sichtig auszudrücken – wenn im Antrag der FDP von ten einzelner Betroffener, die durch das Akkreditie-
„rechtsfreien Räumen“ und im Antrag der Grünen von rungsverfahren von der Teilnahme im Sicherheitsbereich
„Generalverdacht bei der Sicherheitsüberprüfung“ ge- ausgeschlossen werden.
sprochen wird.
Bei einer Veranstaltung wie der WM ist für uns der
Wie gesagt, in einer eigens für die WM herausgege- Schutzpflicht des Staates – bei aller Abwägung – absolu-
benen Datenschutzinformation der FIFA wird auf sechs ter Vorrang einzuräumen.
Seiten peinlichst genau darüber informiert, dass die er-
hobenen personenbezogenen Daten elektronisch erfasst In den beiden Anträgen ist immer wieder die Rede
werden, dass sie spätestens im September 2006 gelöscht von einer Verletzung der Persönlichkeitsrechte, des
werden und ausschließlich dafür verarbeitet und genutzt Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und nicht
werden, um über die Erteilung des Zutrittsrechtes und zuletzt der Berufs- und – im Falle der Journalisten – der
dessen Umfang zu entscheiden und die Einhaltung der Pressefreiheit und von möglichen Nachteilen, die dann
entsprechenden Beschränkungen zu kontrollieren. entstünden, wenn jemand seine Zustimmung nicht er-
teilt.
Auch da, wo sich der Deutsche Fußballbund externer
Dienstleister bedient, wird die Einhaltung des Daten- Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein verantwor-
schutzes vertraglich sichergestellt. Die Datenschutz- tungsvoll arbeitender Journalist oder eine ebensolche
rechte – insbesondere Auskunfts- und Berichtigungs- Journalistin es nicht einsieht, dass das Bemühen um
rechte – sind ebenso gewahrt, wie die bis ins Detail größtmögliche Sicherheitsbedingungen für die WM es
gehenden Informationen über die Verarbeitung der Da- notwendig macht, dass sie die Einwilligung zur Erfas-
ten, die Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern, sung und Verwendung ihrer persönlichen Daten geben
dem Bundeskriminalamt, der Bundespolizei, dem Bun- müssen, um berichten zu können oder zu dürfen.
desamt für Verfassungsschutz und dem Bundesnachrich-
tendienst, soweit es sich um ausländische Staatsangehö- Wenn wir einen Vergleich zum politischen Journalis-
rige mit Wohnsitz im Ausland handelt. mus, zum Beispiel für die Berichterstattung aus dem
Deutschen Bundestag ziehen möchten: Auch hier sind
Jeder findet in dieser Information der FIFA den Inhalt Akkreditierungsverfahren gang und gäbe und automa-
der Zuverlässigkeitsprüfung, die Auflistung der Daten, tisch mit der Entscheidung für die Arbeit in einem derart
die zur Prüfung herangezogen werden, die Kriterien, die sicherheitsrelevanten Raum verknüpft. Auch daran hat
(B) für die Entscheidung maßgeblich sind und die Angaben bisher niemand Anstoß genommen. Bleibt also noch die (D)
zum Verfahren bei etwaigen Bedenken. Frage, ob der Bezug auf den § 4 und § 4 a ausreichend
Mehr Transparenz während eines solchen Akkreditie- ist. Unabhängig davon, dass wir diese Frage bejahen,
rungsverfahrens bei einer Größenordnung von circa wie ich bereits ausgeführt habe, würde mich interessie-
250 000 Menschen ist nicht denkbar. ren, welche Vorteile man sich davon versprechen würde,
wenn nun ein Gesetzgebungsverfahren in die Wege ge-
Es ist selbstverständlich auch der Weg beschrieben, leitet würde, wie dies den Antragstellern wohl vor-
der gegangen werden kann, wenn die Akkreditierung schwebt.
nicht erfolgen sollte.
Im Endergebnis, also bei den Rechtsfolgen und insbe-
In den vielen vorbereitenden Sitzungen ist über die sondere bei der Betroffenheit etwaiger Grundrechte
Frage, ob nicht der Kreis der zu Überprüfenden kleiner kommt es nämlich nicht darauf an, ob die Sicherheits-
sein könnte, genauso gesprochen worden, wie über die überprüfung aufgrund einer gesetzlichen Grundlage oder
Gründe, die zu einer Ablehnung der Akkreditierung füh- aufgrund der Einwilligung der Betroffenen erfolgt. Aber
ren. darüber sprechen wir dann noch im Ausschuss.
Das sind in der Hauptsache schwere Verstöße im
strafrechtlichen Bereich. Diese Verstöße müssen aber Der Überweisung in den Ausschuss stimmen wir also
eine Sicherheitsgefahr für das konkrete Ereignis Fuß- zu.
ball-WM bergen, das heißt es erfolgt in jedem einzelnen
Fall eine Einzelabwägung! Wolfgang Gunkel (SPD): Die vorliegenden Anträge
von FDP und Bündnis 90/Die Grünen befassen sich mit
Sehr schwerwiegend und mit hohem Gefährdungspo-
den Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen von Akkredi-
tenzial werden zum Beispiel solche Personen gewertet,
tierungsverfahren zur Fußballweltmeisterschaft 2006.
die im extremistischen Propagandabereich auffällig ge-
Die Antragsteller kritisieren die unzureichende rechtli-
worden sind. Das ist eines der wenigen Kriterien, das re-
che Grundlage und die praktische Ausgestaltung dieser
lativ sicher zu einem negativen Votum über die betrof-
Sicherheitsüberprüfungen und fordern insbesondere, für
fene Person führen wird, und das ist meiner Meinung
Großveranstaltungen dieser Art eine ausreichende ge-
nach nachvollziehbar.
setzliche Grundlage zu schaffen, sicherzustellen, dass
Ziel ist also eine effiziente Gefahrenabwehr, soweit die betroffenen Personen über das Überprüfungsverfah-
dies nach menschlichem Ermessen überhaupt möglich ren – Ziel, beteiligte Dienststellen, Datengrundlage –
ist. und auch über das Ergebnis unterrichtet werden und
2764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) sicherzustellen, dass sich die Betroffenen an eine zen- NADIS, das Nachrichtendienstliche Informationssys- (C)
trale Beschwerdestelle wenden können. tem der Verfassungsschutzbehörden, herangezogen wird.
Bei Ausländern werden Dateien über internationalen
Was findet nun im Einzelnen Eingang in die Sicher-
Terrorismus und organisierte Kriminalität mit eingebun-
heitsüberlegungen der Veranstalter der WM und der ein-
den.
zelnen Sicherheitsbehörden? Im Rahmen des so genann-
ten Akkreditierungsverfahrens werden bei der Fußball- Hier wird deutlich, dass gerade derjenige, der im In-
WM 2006 alle Medienvertreter, Mannschaften, Hilfs- nern der Bundesrepublik Deutschland nationalen bzw.
und Servicedienste usw. vorab einer Zuverlässigkeits- internationalen Terrorismus sinnvoll bekämpfen will,
überprüfung unterzogen. Ziel ist es, Gefährdungen bzw. eine solch konzentrierte Aktion der Sicherheitsbehörden
Störungen der Veranstaltungen von vornherein auszu- nur unterstützen kann, allerdings aus rechtsstaatlichen
schließen. Betroffen sind circa 250 000 Personen, deren Gründen nur auf Basis einer gesetzlichen Grundlage,
personenbezogene Daten mit polizeilichen Datenbestän- hier die Aufgabenzuweisung im BND-Gesetz sowie in
den sowie mit den Erkenntnissen der Verfassungsschutz- den Verfassungsschutzgesetzen.
behörden und des Bundesnachrichtendienstes abgegli-
chen werden. Grundlage hierfür bildet gemäß § 4 und Weiterhin bemängelt der BfDI, dass eine vorherige
4 a BDSG die Einwilligung der betreffenden Personen. Anhörung des Betroffenen nicht vorgesehen sei und Be-
troffene nur indirekt – häufig über den Arbeitgeber –
Diesem richtigen und notwendigen Verfahren stimmt
Kenntnis von möglicherweise sicherheitsrelevanten Be-
die SPD-Fraktion grundsätzlich zu, jedoch sind zu eini-
denken erhalten, wenn die Akkreditierung abgelehnt
gen Verfahrensabläufen Anmerkungen zu machen. Nach
wird. Kritisiert wird weiter, dass ungeklärt sei, ob und
Ansicht des Bundesministeriums des Innern ist die
wie die Betroffenen ihre Datenschutzrechte geltend ma-
Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen zum Schutz
chen bzw. gerichtlichen Rechtsschutz gegen das Votum
der so genannten Akkreditierungszonen in den Stadien
einer Sicherheitsbehörde erlangen könnten.
erforderlich, in denen sich die Personen ohne weitere
Kontrollen frei bewegen können. Als Grundlage für die Dazu heißt es in der Datenschutzinformation der „Ab-
Sicherheitsüberprüfung im Rahmen des so genannten teilung Akkreditierung“ zur FIFA WM 2006:
Akkreditierungsverfahrens reicht nach Ansicht der Bun-
desregierung die so genannte informierte Einwilligungs- Lehnt das Organisationskomitee Ihre Akkreditie-
erklärung aus. Dies findet auch die Zustimmung des für rung wegen Zuverlässigkeitsbedenken der Sicher-
das Organisationskomitee zuständigen Datenschutzbe- heitsbehörden ab, haben Sie (nicht jedoch Ihr Ar-
auftragten beim Regierungspräsidenten Darmstadt. beitgeber) die Möglichkeit, sich wegen der Gründe
Ferner sei nunmehr geklärt, dass sich betroffene Perso- an das Landeskriminalamt Ihres Wohnsitzlandes
(B) (D)
nen in Rechtsschutzangelegenheiten an das Landeskri- bzw. – soweit Sie Ihren Wohnsitz im Ausland
minalamt ihres Wohnsitzes bzw. bei Wohnsitz im Aus- haben – an das BKA zu wenden. Dort können Sie
land an das BKA und darüber hinaus auch an den auch Ihre Einwände geltend machen. Ihre Eingabe
Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informations- wird sodann ggf. an die ablehnende(n) Sicherheits-
freiheit wenden könnten, soweit die teilweise Antwort behörde(n) weitergeleitet. Ihre Einwände werden
auf eine Kleine Anfrage der Fraktion des Bündnisses 90/ geprüft und die Empfehlung an das Organisations-
Die Grünen, Drucksache 16/248. komitee gegebenenfalls korrigiert. Soweit Ihrer
Eingabe nicht abgeholfen wird, erhalten Sie einen
Ganz wesentlich anders sieht der Bundesdatenschutz-
entsprechenden Bescheid. Ihre sonstigen Daten-
beauftragte diese Sache. Er hält es für fragwürdig, ob
schutzrechte (insb. Auskunft- und Berichtigungs-
eine derartig breit angelegte Überprüfungsaktion auf Ba-
rechte), können Sie – soweit es um die Datenver-
sis einer Einwilligung – also ohne konkrete gesetzliche
arbeitung bei den Sicherheitsbehörden geht – in
Grundlagen – erfolgen kann, zumal bereits an der tat-
entsprechender Weise geltend machen. Sie können
sächlichen Freiwilligkeit Zweifel bestünden, denn ge-
sich zur Ausübung Ihrer Datenschutzrechte auch an
rade Berufsgruppen wie beispielsweise Journalisten oder
die jeweils zuständige Landesdatenschutzbehörde
auch Anbieter von Waren können dann nicht mehr tätig
bzw. an den Bundesbeauftragten für den Daten-
werden, wenn sie eine Vorabüberprüfung ablehnen, das
schutz und die Informationsfreiheit wenden.
heißt bei Nichteinwilligung erfolgt keine Akkreditie-
rung. Das dargestellte Verfahren dürfte nach meiner Auffas-
Insofern ist die Einwilligung unter Umständen wohl sung ausreichend sein. Jedoch bleibt die Erlangung ge-
nicht ganz freiwillig. Zudem fehle gemäß BfDI in den richtlichen Rechtsschutzes unklar, zumal diese rechtli-
Verfassungsschutzgesetzen des Bundes und der Länder che Hilfe ohnehin zu spät käme.
sowie im Gesetz über den Bundesnachrichtendienst eine
Wie es dem allgemeinen Standard entsprechend in
Aufgabenzuweisung für die Mitwirkung der Nachrich-
amtlich üblichen Sicherheitsüberprüfungsverfahren ge-
tendienste an Zuverlässigkeitsprüfungen der vorliegen-
macht wird, zeigt das Beispiel der Luftverkehrs-
den Art.
Zuverlässigkeitsüberprüfungsverordnung (LuftVZÜV).
Der hier angeführte Kritikpunkt ist deshalb besonders So ist gemäß § 6 Abs. 3 dieser Verordnung der Betrof-
wichtig, weil neben den Straftätern/Strafdatendateien, fene über das Ergebnis und bei Ablehnung auch über die
den Staatsschutzdateien und der Datei „Gewalttäter maßgeblichen Gründe zu unterrichten, die ihm durch ei-
Sport“ als so genannte Verbunddateien noch zusätzlich nen schriftlichen, mit Rechtsbehelfsbelehrung versehe-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2765

(A) nen Bescheid mitgeteilt werden. Dagegen kann er dann bloße Annahmen, zum Beispiel um die Annahme be- (C)
gerichtlich vorgehen. denklicher politischer Bestrebungen, die zehn Jahre und
länger gespeichert werden können, ohne dass der Betrof-
Zusammenfassend kann man feststellen, dass FDP
fene etwas davon weiß. Daher kann er sich also auch
und Bündnis 90/Die Grünen mit ihren Anträgen im We-
nicht wehren. Diese Bedenken werden dem
sentlichen die Bedenken des BfDI aufgreifen. Im Zen-
OK WM 2006 und auch dem Arbeitgeber ohne Anhö-
trum der Kritik steht nicht die Durchführung der Zuver-
rung des Betroffenen mitgeteilt und führen in der Regel
lässigkeitsprüfungen, sondern eine unzureichende
gesetzliche Grundlage, eine unzureichende Unterrich- zu einem negativen Votum, welches für den Betroffenen
tung der Betroffenen und die Frage des Rechtsschutzes. ernste Auswirkungen für seinen Arbeitsplatz und damit
für den Erwerb seines Lebensunterhalts haben kann –
Meinen Ausführungen können Sie entnehmen, dass und das ohne die Möglichkeit, zu erfahren, warum das so
ich die Bedenken in einigen Punkten teile, in anderen ist. Im Ergebnis bedeutet das, dass der Betroffene, seine
nicht. Umgebung und seine Firma plötzlich erfahren, dass er
unter einem Verdacht steht, den er selbst nicht einmal
Deshalb stimmt die SPD-Fraktion den Anträgen nicht
kannte und der doch seine ganze Existenz in Gefahr
zu, sondern empfiehlt, den Sachverhalt einer gründli-
bringen kann.
chen Erörterung im Innenausschuss zu unterziehen. Da-
nach wird man das erzielte Ergebnis neu beurteilen müs- Als Rechtsgrundlage für die Überprüfung wird von
sen. dem OK WM 2006 eine „informierte“ Einwilligung vom
Betroffenen eingeholt. Die Information des Betroffenen
Gisela Piltz (FDP): Es ist keine Frage, dass bei be- besteht dabei in der Beschreibung des Verfahrens der
sonderen Veranstaltungen besondere Sicherheitsregeln Zuverlässigkeitsüberprüfung, Inhalt und Grundlagen der
gelten. Wir mussten in der jüngsten Vergangenheit fest- Überprüfung erfährt der Betroffene nicht. Die Freiwillig-
stellen, dass sich die Gefahren längst nicht nur auf staat- keit der Abgabe einer Einwilligung des Betroffenen zur
liche Ziele beschränken. Wie die Bombenanschläge in Zuverlässigkeitsüberprüfung muss dabei im Zusammen-
Madrid und London gezeigt haben, leben wir in einer hang mit seinem existenziellen Interesse am Erhalt sei-
Zeit, in der mit terroristischen Angriffen gerechnet wer- nes Arbeitsplatzes gesehen werden. Das halten wir ohne
den muss, welche allein mit dem Ziel ausgeführt werden, „echte“ Rechtsgrundlage für mehr als bedenklich. Ange-
möglichst viele zivile Opfer zu treffen. Bei einer derart sichts der Vorbildfunktion dieses Großereignisses be-
erhöhten Gefahrenprognose ist es eine Angelegenheit steht die Möglichkeit, dass dieses Verfahren zur Akkre-
der Vernunft, gerade auch Großereignisse, bei denen ditierung auch bei anderen privat veranstalteten
viele Menschen zusammenkommen, ausreichend vor Großereignissen und gegebenenfalls auch bei weit gerin- (D)
(B)
Anschlägen zu schützen. Dazu kann auch die Einrich- geren Anlässen durchgeführt werden soll. Denn auch für
tung von Sicherheitszonen um die Veranstaltungsorte andere Veranstaltungen besteht das Bedürfnis nach
zählen. Wenn die Großveranstaltung – wie bei der Fuß- Schutz und Abschottung. So werden auch für Tätigkei-
ball-WM – von privaten Veranstaltern durchgeführt ten in Wachschutzunternehmen und bei Ähnlichem
wird, müssen auch diese die Möglichkeit haben, das von schon heute anhand von polizeilichen Führungszeugnis-
den Zutrittsberechtigten zu den Sicherheitszonen ausge- sen Überprüfungen durchgeführt. Hier muss festgestellt
hende Gefahrenpotenzial durch Akkreditierungen zu werden, unter welchen Voraussetzungen die Abfrage der
vermindern. Schließlich speichern wir von jedem Besu- staatlichen Stellen gegebenenfalls über das polizeiliche
cher der Fußball-WM die Personalausweisnummer. Da Führungszeugnis hinaus ausgeweitet werden darf.
kann es nicht sein, dass der Würstchenverkäufer im Sta-
dion nicht überprüft wird. Die Frage ist allerdings, wie Es ist daher an der Zeit, die Grundlagen für dieses
und auf welcher Rechtsgrundlage. Akkreditierungsverfahren in einer Abwägung zwischen
Die Akkreditierung durch Private findet bereits statt. Gefahrenprävention auf der einen Seite und Eingriff in
Das Organisationskomitee Fußball-WM 2006 – OK die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen auf der anderen
WM 2006 – hat alle Medienvertreter, Mannschaften, Seite gesetzlich zu regeln. Dabei muss – wie sonst spe-
Hilfs- und Servicedienste usw. vorab einer Zuverlässig- ziell im Arbeitsrecht – auch die wirtschaftlich schwä-
keitsüberprüfung unterzogen. Betroffen sind circa chere Position des von der Überprüfung betroffenen Ar-
250 000 Personen, deren personenbezogene Daten nicht beitnehmers im Auge behalten werden. Für vom
nur mit polizeilichen Datenbeständen, sondern auch mit Betroffenen freiwillig veranlasste Überprüfungen sollten
den Erkenntnissen der Verfassungsschutzbehörden und daher zum Schutz des Betroffenen klare Grenzen des
des Bundesnachrichtendienstes abgeglichen werden. In- rechtlich zulässigen Umfangs definiert werden. Insbe-
halt der Mitteilungen der Behörden sind damit nicht wie sondere dürfen nicht bloße Verdachtsmomente oder die
beim polizeilichen Führungszeugnis rechtskräftige Straf- Zugehörigkeit zu einer legalen gesellschaftlichen oder
taten, welche zu einer Vorstrafe im Sinne des Strafrechts politischen Gruppierung von staatlichen Stellen an die
führen und von denen der Betroffene naturgemäß auch Veranstalter und Arbeitgeber mitgeteilt werden. Zudem
weiß, sondern darüber hinaus auch reine Verdachtsmo- müssen dem Betroffenen die erteilten Auskünfte sowie
mente, nicht strafbare extremistische Aktivitäten oder deren Datengrundlagen zugänglich gemacht werden und
auch nur die Zuordnung zu einem solchen Umfeld. Denn diese Auskunftsansprüche des Betroffenen müssen
in den Dateien des Verfassungsschutzes geht es ja nicht rechtlich durchsetzbar ausgestaltet sein. Nur so lässt sich
nur um strafbare Verhaltensweisen, sondern auch um begonnener Wildwuchs auf dem Gebiet der Zuverlässig-
2766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) keitsüberprüfungen beenden und lassen sich rechtsstaat- und Repression, in dem Hunderttausende von Menschen (C)
liche Grundsätze verwirklichen. zu Versuchskaninchen werden.
Denn das penible und undemokratische Akkreditie-
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wenn die Welt als Gast zu rungsverfahren ist eingebettet in einen Sicherheitsdis-
Freunden kommt, wie das offizielle Motto der Fußball- kurs, der die Grundrechte einschränken will. Dazu ge-
WM lautet, dann hat sie es mit einem Gastgeber zu tun, hört, dass die Grenzkontrollen im Schengen-Raum
der voller Misstrauen ist und seine Gäste wie Schwerver- wieder hochgefahren werden; dazu gehört, dass Fans aus
brecher behandelt. Zwar werden drei Millionen Euro für islamischen Ländern wie selbstverständlich besonders
eine so genannte Freundlichkeitskampagne ausgegeben, streng geprüft werden. Dazu gehört auch, dass die priva-
diese Schönheitskosmetik kann über den unfreundlichen ten Veranstalter von public viewings dazu angehalten
Umgang aber nicht hinwegtäuschen, den die Bundesre- werden, sämtliche Zuschauer auf Video festzuhalten –
gierung mit den Bürgerinnen und Bürgern pflegt. Rund also genau das, was zahlreiche Innenminister gerne tun
eine Viertelmillionen Menschen werden einer rigiden Si- würden, aber noch nicht dürfen. Dazu gehören auch die
cherheitskontrolle unterzogen. Bevor jemand eine Brat- Bestrebungen, die Bundeswehr im Inland einzusetzen.
wurst verkaufen, eine Toilette reinigen oder ein Taxi fah-
ren darf, werden erst einmal der Verfassungsschutz, das Der Sicherheitsfanatismus der Bundesregierung, vor
Bundeskriminalamt und die Länderpolizeien auf ihn an- dem die Linksfraktion schon seit Monaten warnt, er-
gesetzt. reicht wieder einmal einen Höhepunkt. Und wie immer,
Wir von der Linksfraktion wissen wohl besser als alle wenn die Regierung von Sicherheit redet, bleiben Frei-
anderen hier im Saal, wie ausufernd die Sammelwut der heitsrechte auf der Strecke.
Repressionsbehörden ist. Wir brauchen keine große Fan-
tasie, um uns vorzustellen, dass jemand, der vor zig Jah- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
ren mal an einer Anti-Atomkraft-Demo oder unschuldig GRÜNEN): Die Welt zu Gast bei Freunden – unter die-
in einem Polizeikessel gewesen ist, beim Verfassungs- sem Motto findet die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in
schutz als Gewalttäter und „Extremist“ geführt wird. Deutschland statt. Eigentlich müsste ich ja sagen: FIFA
Fußball-WM 2006. Ich lasse mir aber von Herrn Platter
Wer will ausschließen, dass er nun deswegen nicht
nicht vorschreiben, wie ich das sportliche Ereignis zu
zur WM darf? Es gibt ja keinerlei Rechtsgrundlage für
nennen habe; wenigstens im Bundestag gilt hoffentlich
dieses Verfahren. Die Betroffenen haben keine Chance,
noch das Recht der freien Rede. Wir alle freuen uns auf
die Ergebnisse dieser Überprüfung nachzuvollziehen
Fußball. Im Mittelpunkt steht der Sport, nicht die FIFA.
oder rechtlich dagegen vorzugehen. Hier zeigt sich, jen-
Ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass der Staat
(B) seits aller Imagekampagnen, die hässliche Seite des Si- (D)
für diese vier Fußballwochen in eine Art Ausnahmezu-
cherheitsstaates!
stand gerät, mit der FIFA als oberstem Verfassungs-
Zu behaupten, wie es die Bundesregierung tut, die be- organ.
troffenen Personen willigten freiwillig in diese Schnüf-
felmethoden ein, ist doch ein schlechter Witz. Welche Auch wir wollen sichere Spiele. Wir sind allerdings
Alternative hat denn jemand, der von Arbeitslosigkeit der Überzeugung, dass die Sicherheit im Rahmen der
bedroht ist? Welche Chance, „Nein“ zur Überprüfung zu geltenden Verfassung und auf der Grundlage klarer
sagen, hat jemand, dem das Jobcenter im Nacken sitzt, Rechtsgrundlagen gewährleistet werden kann. Die abge-
jemand, der vom Armutsgeld, dem Arbeitslosengeld 2 gebenen Sicherheitsgarantien beinhalten nicht die Aus-
lebt und auf einen Zuverdienst dringend angewiesen ist? setzung der Bürgerrechte. Das von dem OK der FIFA
durchgeführte Akkreditierungsverfahren stellt gerade
Was hier mit den Lohnabhängigen geschieht, ist die diejenigen, die für den reibungslosen Ablauf in den Sta-
schiere Nötigung und nichts anderes! dien sorgen, unter einen Generalverdacht. Wer ohne Ti-
cket eine Zugangsberechtigung ins Stadium will, ganz
Offenbar leben die gutbetuchten Herrschaften in der gleich, ob als Nationalspieler, Polizist, Helfer, Journalist
Bundesregierung und der FIFA in einer Parallelgesell- oder Würstchenverkäufer, wird sicherheitsüberprüft.
schaft und können sich nicht vorstellen, wie es um die Dies betrifft über 250 000 Menschen. Ich hoffe nicht,
Lebensrealität von Millionen Erwerbstätigen bestellt ist. dass die leidige deutsche Torwartfrage jetzt vom Verfas-
Aber auch den Kolleginnen und Kollegen von FDP sungsschutz entschieden wird.
und Grünen, die hier diese Anträge eingebracht haben,
will ich einmal sagen: An diesem Zustand der Ausgelie- Wir hätten uns hier eine differenzierte Sicherheits-
fertheit und Alternativlosigkeit der Lohnabhängigen än- überprüfung auf einer klaren rechtlichen Grundlage ge-
dern Sie mit Ihren Anträgen gar nichts. Sie begnügen wünscht. Die Datenschutzbeauftragten haben ihre Kritik
sich damit, einem Skandal eine Rechtsgrundlage geben frühzeitig deutlich gemacht. Eine „informierte Einwilli-
zu wollen, anstatt den Skandal selbst anzugehen. gungserklärung“ ist für uns keine hinreichende Rechts-
grundlage. Wir wissen auch, dass in den meisten Fällen
So absurd dieser ganze Sicherheitswahn anmutet, so die Datenschutzerklärung der FIFA weder ausgehändigt
perfide ist die Absicht dahinter. Es handelt sich nicht nur noch erläutert wurde. Von einer umfassenden Aufklä-
um eine Beschäftigungstherapie für offenbar unausge- rung vor Unterzeichnung der Einwilligungserklärung
lastete Behörden. Es handelt sich vielmehr um einen gi- kann in den überwiegenden Fällen nicht ausgegangen
gantischen Feldversuch in Sachen Kontrolle, Schnüffelei werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006 2767

(A) Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Satz zum An- Wir fordern in unserem Antrag den Bundestag auf, (C)
trag der FDP sagen. Wir unterstützen Ihr Ansinnen, dass das von der FIFA vorgenommene Akkreditierungsver-
Zuverlässigkeitsüberprüfungen auf einer klaren gesetzli- fahren zu missbilligen. Die Bundesregierung soll ferner
chen Grundlage stehen müssen. Angesichts der Zeitab- dafür Sorge tragen, dass die Behörden gegenüber den
läufe – die Akkreditierungsverfahren sind fast abge- Betroffenen wenigstens für mehr Transparenz sorgen
schlossen, es sind nur noch wenige Wochen bis zum und dass die Betroffenen sich an eine zentrale Beschwer-
Beginn der WM – halten wir ein Gesetzesverfahren nicht destelle wenden können. Diese Aufgabe kann umgehend
mehr für machbar. Wir sollten uns allerdings darauf ver- dem Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informa-
ständigen, dass für zukünftige Ereignisse Zuverlässig- tionsfreiheit übertragen werden. Die Aufgabe des Daten-
keitsüberprüfungen nicht mehr auf der Grundlage von schutzes zur Fußball-WM war ein unnötiges Eigentor.
freiwilligen Erklärungen erfolgen dürfen. Wie für Si-
cherheitsüberprüfungen ist auch für Zuverlässigkeits-
überprüfungen eine Rechtsgrundlage mit klaren daten- Anlage 8
schutzrechtlichen Regelungen zu schaffen. Ich bedaure
an dieser Stelle, dass die SPD-Fraktion unter Rot-Grün Zu Protokoll gegebene Rede
ein Datenschutzaudit-Gesetz blockiert und verweigert
hat. Der Prüfsiegel eines Datenschutzaudit auf dem gan- zur Beratung des Antrags: Kinderrechte in
zen WM-Verfahren, vom Ticketverkauf bis zur Zuver- Deutschland vorbehaltlos umsetzen – Erklä-
lässigkeitsüberprüfung, hätte ich mir gewünscht. Viele rung zur UN-Kinderrechtskonvention zurück-
Diskussionen und viel Ärger wären allen Betroffenen nehmen (Tagesordnungspunkt 21)
und Beteiligten erspart geblieben.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die im Antrag der Frak-
Wir haben in unserem Antrag „Kein Generalverdacht
tion der Grünen geforderte Rücknahme des Vorbehalts
bei den Sicherheitsüberprüfungen zur Fußballweltmeis- gegen die UN-Kinderrechtskonvention ist längst überfäl-
terschaft“ eine bestimmte Berufsgruppe herausgegriffen, lig. Dieser Vorbehalt steht in seinem vierten Punkt einem
bei der die Probleme der Akkreditierungspraxis beson- wesentlichen Element von Menschenrechten entgegen:
ders deutlich werden. Es geht um diejenigen, die beruf- Diese gelten immer für alle Menschen gleich, egal wel-
lich über die Fußball-Weltmeisterschaft berichten. Sie cher Hautfarbe, Religion oder Staatsangehörigkeit. Der
werden durchleuchtet und müssen sich einer umfängli- Vorbehalt formuliert dagegen an dieser Stelle, nichts
chen Überprüfung ihrer Zuverlässigkeit durch BKA und könne das Recht der Bundesrepublik beschränken, „Un-
Verfassungsschutz unterziehen. Tun sie das nicht, kön- terschiede zwischen Inländern und Ausländern“ zu ma-
nen sie ihren Beruf nicht ausüben. Im schlimmsten Fall chen. Dies ist der Rückfall in das 19. Jahrhundert, als (D)
(B) müssen sie mit einem Verlust ihres Arbeitsplatzes rech-
Grundrechte nur den Staatsbürgern zuerkannt wurden.
nen. Von einem „freiwilligen“ Einverständnis kann ge- Wir halten dagegen daran fest: Die Nichtdiskriminierung
rade hier nicht gesprochen werden. Das ist in meinen von eigenen und fremden Staatsangehörigen ist wesent-
Augen eher Nötigung zum Verzicht auf Datenschutz- licher Kern der Menschenrechte. Sie ist das Herzstück
rechte. des menschenrechtlichen Schutzsystems. Dass diese
Die Praxis der Akkreditierung von Journalistinnen Nichtdiskriminierung ausgerechnet für Kinder nicht gel-
und Journalisten wirft darüber hinaus auch für die Pres- ten soll, ist ein Skandal.
sefreiheit wichtige Fragen auf. Die Betroffenen sind Abgesehen von dieser allgemeinen Feststellung inte-
nicht allein über ihre Berufsausübung verfassungsrecht- ressiert hier jedoch vor allem: Was ist die Folge dieses
lich geschützt. Auch die Pressefreiheit ist ein hohes Vorbehalts, was ist die Folge der insgesamt mangelhaf-
Grundrechtsgut und keine wohlfeile Verfügungsmasse. ten Umsetzung der Kinderrechtskonvention?
Zu Recht gibt es durchgreifende Vorbehalte, wenn die
Sicherheitsbehörden Überprüfungen vornehmen und Zunächst: Die Konvention definiert als „alle“ Men-
Daten sammeln, ohne dass dafür eine ausreichende schen vor Vollendung des 18. Lebensjahres. Im Asyl-
gesetzliche Grundlage vorliegt. Der Staat darf nicht so recht und im Aufenthaltsrecht gelten Minderjährige aber
freihändig in die Pressefreiheit eingreifen. In einer aus- ab Vollendung des 16. Lebensjahres als voll verhand-
führlichen Stellungnahme hat das Unabhängige Daten- lungsfähig; sie werden wie Erwachsene behandelt. Für
schutzzentrum Schleswig-Holstein im Detail die ganze unbegleitete Minderjährige bedeutet dies eine besondere
Fragwürdigkeit der geltenden Praxis dargestellt. Ganz Härte. Mit Vollendung des 16. Lebensjahres endet die
besonders heikel ist dabei, dass bei der Durchleuchtung Unterbringung im Rahmen der Jugendhilfe. Jugendliche
des Einzelnen durch die Verfassungsschutzbehörde auch in einer schwierigen Phase ihrer Entwicklung werden in
so genannte Propagandaaktivitäten zur Ablehnung der die üblichen Flüchtlingsheime gesteckt, wo sie nicht den
Akkreditierung führen können. notwendigen Raum zur Entwicklung, erst recht keine
Bezugspersonen oder angemessene Betreuung erfahren.
Bedenken bestehen auch gegen den mangelhaften
Rechtsschutz der Betroffenen. Es wird leider immer Auch das Verfahren zur Altersfeststellung selbst ist
mehr Mode, gerade auf internationaler Ebene, schwarze fragwürdig. Die Behörden wenden oft Methoden an, die
Listen anzulegen. Wer dort verewigt ist, hat gravierende für die Betroffenen höchst entwürdigend und medizi-
Nachteile, ohne sich bei einem irrtümlichen Eintrag nisch äußerst fragwürdig sind. Diese Praxis muss been-
wirksam zur Wehr setzen zu können. det werden.
2768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 32. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 6. April 2006

(A) Nach einer Erhebung des Bundesinnenministeriums nen das Recht auf Schulbesuch versagt. 16 bis 17- (C)
vom Mai 2005 befanden sich viel mehr Minderjährige in Jährige erhalten keinen Vormund, der ihre Interessen
Abschiebehaft, als bis dahin angenommen. Allein 100 vertreten kann; sie gelten ja schon als „erwachsen“. Das
waren es 2002 bis 2004 durchschnittlich in Berlin. In alles verletzt den in der Konvention festgelegten Vorrang
NRW befanden sie sich im Durchschnitt zwei Monate in des Kindeswohls in allen Gesetzgebungs- und Verwal-
Abschiebehaft. Länder wie Bayern und Baden-Württem- tungsmaßnahmen.
berg machten erst gar keine Angaben. Was haben Kinder
und Jugendliche in einem Knast zu suchen, deren einzi- Um die Kinderrechtskonvention Zweck und Ziel nach
ges „Vergehen“ es war, in der Hoffnung auf den Schutz tatsächlich umzusetzen, muss es ein völliges Umdenken
geben. Der Schutzgedanke des SGB VIII muss Vorrang
ihrer Rechte in die Bundesrepublik zu fliehen?
vor den aufenthaltsrechtlichen Regelungen haben. Für
Auch in vielen anderen Gesetzen ist abzulesen, dass Gesetzgeber und Behörden darf es keine Rolle spielen,
der Gesetzgeber Flüchtlingsabwehr und Abschreckung ob ein Kind „Inländer“ oder „Ausländer“ ist. Darüber
über das Kindeswohl gestellt hat. Wir kritisieren schon hinaus fordern wir einige konkrete Schritte, die im Rah-
seit Jahren die verminderten Sozialleistungen für Asyl- men der anstehenden Änderung des Aufenthaltsrechts
bewerber und Flüchtlinge, die Unterbringung in Sam- erfolgen können. Für unbegleitet ankommende minder-
melunterkünften, die Residenzpflicht, die völlig unzurei- jährige Flüchtlinge muss es ein bundesweit einheitliches
chende Gesundheitsversorgung, das Flughafenverfahren, „Clearingverfahren“ geben, wie Fachverbände schon
die Bedingungen der Abschiebehaft. Dies alles trifft länger fordern. Im Clearingverfahren soll geklärt wer-
Kinder und Jugendliche noch härter als Erwachsene. den, wie dem Wohl des Kindes am besten gedient ist. An
Dennoch hat keine Regierung seit In-Kraft-Treten der dieser Stelle können wir von den Bundesländern lernen,
Konvention Anstalten gemacht, hier zumindest für in denen es ein solches Clearingverfahren bereits gibt.
Flüchtlingskinder Erleichterungen zu schaffen. Flücht- Außerdem muss es endlich Abschiebeschutz für Minder-
lingskinder sind darüber hinaus noch weiteren Beschrän- jährige aus Staaten geben, in denen ihnen die Zwangsre-
kungen unterworfen: In einigen Bundesländern wird ih- krutierung als „Kindersoldaten“ droht.

(B) (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

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