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Plenarprotokoll 17/65

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

65. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Siegmund Ehrmann Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6806 A


als ordentliches Mitglied im Kuratorium der
Stiftung „Haus der Geschichte der Bundes- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
republik Deutschland“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 6791 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6806 C

Wahl des Abgeordneten Dr. h. c. Wolfgang Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/
Thierse als ordentliches Mitglied und des Ab- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6808 A
geordneten Dietmar Nietan als stellvertreten-
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 6809 B
des Mitglied im Stiftungsrat der „Stiftung
Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ . . . . . . . 6791 B Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . 6810 C
Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Sibylle Laurischk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6812 A
nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6791 B
Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6812 C
Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 a, b
und d . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6792 D

Tagesordnungspunkt 4:
Tagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll,
Unterrichtung durch die Beauftragte der Bun- Dr. Axel Troost, Richard Pitterle, weiterer
desregierung für Migration, Flüchtlinge und Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Integration: Achter Bericht über die Lage Auswege aus der Krise: Steuerpolitische
der Ausländerinnen und Ausländer in Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des
Deutschland Staates wiederherstellen
(Drucksache 17/2400) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6792 D (Drucksache 17/2944) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6813 D

Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6814 A
BK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6793 A Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6816 A
Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6795 D
Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6818 A
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . 6797 B
Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6820 C
Harald Wolf, Senator (Berlin) . . . . . . . . . . . . 6798 C
Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 6821 A
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6800 C Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6822 A

Volker Bouffier, Ministerpräsident Lisa Paus (BÜNDNIS 90/


(Hessen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6802 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6824 A
Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6804 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6825 B
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Lisa Paus (BÜNDNIS 90/ 2010 zwischen der Regierung der Bun-
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6826 A desrepublik Deutschland und der
Regierung von Quebec über Soziale
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6826 B Sicherheit
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6828 B (Drucksache 17/3120) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 B
Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6828 C f) Erste Beratung des von der Bundesregie-
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6830 B zes zu dem Europa-Mittelmeer-Luftver-
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ kehrsabkommen vom 12. Dezember 2006
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6832 A zwischen der Europäischen Gemein-
schaft und ihren Mitgliedstaaten einer-
Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6833 A seits und dem Königreich Marokko an-
dererseits (Vertragsgesetz Europa-
Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . 6833 C Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen –
Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6835 B Euromed-LuftvAbkG-Marok)
(Drucksache 17/3121) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 B
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6836 C
g) Antrag der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil
(Peine), weiterer Abgeordneter und der
Tagesordnungspunkt 33: Fraktion der SPD: Betroffene Kulturein-
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- richtungen nach Frequenzumstellung
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- für drahtlose Mikrofone angemessen
zes zur Neuordnung des Arznei- entschädigen
mittelmarktes in der gesetzlichen (Drucksache 17/3177) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 C
Krankenversicherung (Arzneimittel- h) Antrag der Abgeordneten Marlene
marktneuordnungsgesetz – AMNOG) Rupprecht (Tuchenbach), Dr. Hans-Peter
(Drucksachen 17/3116, 17/3211) . . . . . . . 6837 D Bartels, Klaus Barthel, weiterer Abgeord-
b) Erste Beratung des von der Bundesregie- neter und der Fraktion der SPD: Gesundes
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Aufwachsen von Kindern und Jugendli-
zes zu dem Übereinkommen vom chen fördern
24. Oktober 2008 zwischen der Regie- (Drucksache 17/3178) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 C
rung der Bundesrepublik Deutschland, i) Antrag der Abgeordneten Holger Ortel,
der Regierung des Königreichs Belgien, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer
der Regierung der Französischen Repu- Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
blik und der Regierung des Großher- Die Reform der Gemeinsamen Fische-
zogtums Luxemburg zur Einrichtung reipolitik zum Erfolg führen
und zum Betrieb eines Gemeinsamen (Drucksache 17/3179) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 D
Zentrums der Polizei- und Zollzusam-
menarbeit im gemeinsamen Grenz- j) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm,
gebiet Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth (Qued-
(Drucksache 17/3117) . . . . . . . . . . . . . . . . 6837 D linburg), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Chancen der EU-Fischereireform 2013
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- nutzen und Gemeinsame Fischereipoli-
zes zur Anpassung von Bundesrecht im tik grundlegend reformieren
Zuständigkeitsbereich des Bundesminis- (Drucksache 17/3209) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 D
teriums für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz im Hinblick auf k) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch,
den Vertrag von Lissabon Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weite-
(Drucksache 17/3118) . . . . . . . . . . . . . . . . 6838 A rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN: Verbraucher-
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung schutz auf Finanzmärkten nachholen
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (Drucksache 17/3210) . . . . . . . . . . . . . . . 6838 D
über die Feststellung des Wirtschafts-
plans des ERP-Sondervermögens für l) Bericht des Ausschusses für Bildung, For-
das Jahr 2011 (ERP-Wirtschaftsplange- schung und Technikfolgenabschätzung ge-
setz 2011) mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech-
(Drucksache 17/3119) . . . . . . . . . . . . . . . . 6838 A nikfolgenabschätzung (TA)
Innovationsreport
e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Blockaden bei der Etablierung neuer
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Schlüsseltechnologien
zes zur Vereinbarung vom 20. April (Drucksache 17/2000) . . . . . . . . . . . . . . . 6839 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 III

Tagesordnungspunkt 5: c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung


des von der Bundesregierung eingebrach-
c) Antrag der Abgeordneten Winfried ten Entwurfs eines Gesetzes zum Vor-
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie schlag für eine Verordnung des Euro-
Wilms, weiterer Abgeordneter und der päischen Parlaments und des Rates
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: über Finanzbeiträge der Europäischen
Schaffung von Rechtssicherheit für Union zum Internationalen Fonds für
Carsharing-Stationen und Elektrofahr- Irland (2007 bis 2010)
zeug-Stellplätze (Drucksachen 17/2629, 17/3232) . . . . . . . 6840 C
(Drucksache 17/3208) . . . . . . . . . . . . . . . . 6839 B
d) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt-
entwicklung zu der Verordnung der Bun-
Zusatztagesordnungspunkt 2: desregierung: Zweite Verordnung zur
Änderung der Mauthöheverordnung
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der (2. ÄndMautHV)
CDU/CSU und der FDP eingebrachten (Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3,
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur 17/3161) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6840 D
Änderung der Vorschriften zum be-
günstigten Flächenerwerb nach § 3 e) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausgleichsleistungsgesetz und der Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Flächenerwerbsverordnung (Zweites Reaktorsicherheit zu der Verordnung der
Flächenerwerbsänderungsgesetz – Bundesregierung: Verordnung zur Um-
2. FlErwÄndG) setzung der Dienstleistungsrichtlinie
(Drucksache 17/3183) . . . . . . . . . . . . . . . . 6839 B auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie
zur Änderung umweltrechtlicher Vor-
b) Antrag der Abgeordneten Brigitte schriften
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, wei- (Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1,
terer Abgeordneter und der Fraktion 17/3170) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6841 A
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte
der Arbeitsuchenden stärken – Sanktio- f) Beschlussempfehlung und Bericht des
nen aussetzen Rechtsausschusses zu der Unterrichtung:
(Drucksache 17/3207) . . . . . . . . . . . . . . . . 6839 B Grünbuch zur Corporate Governance
in Finanzinstituten und Vergütungs-
c) Antrag der Abgeordneten Ute Koczy, politik (inkl. 10823/10 ADD 1)
Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab- KOM (2010) 284 endg.; Ratsdok. 10823/10
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112) 6841 B
DIE GRÜNEN: Pakistan nach der Flut
langfristig unterstützen und Schulden g) Beratung der Zweiten Beschlussempfeh-
umwandeln lung des Wahlprüfungsausschusses: zu
(Drucksache 17/3206) . . . . . . . . . . . . . . . . 6839 C Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am
27. September 2009
(Drucksache 17/3100) . . . . . . . . . . . . . . . 6841 C
Tagesordnungspunkt 34:
h) Beschlussempfehlung und Bericht des
a) Zweite und dritte Beratung des von der Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
Bundesregierung eingebrachten Entwurfs der Fraktion der SPD: Die Fußballwelt-
eines Gesetzes über die weitere Bereini- meisterschaft – Eine Chance für Süd-
gung von Bundesrecht afrika
(Drucksachen 17/2279, 17/3109) . . . . . . . 6840 A (Drucksachen 17/1959, 17/2493) . . . . . . . 6841 C
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung i)–q)
des von der Bundesregierung eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus-
kommen vom 19. März 2010 zwischen schusses: Sammelübersichten 138, 139, 140,
der Regierung der Bundesrepublik 141, 142, 143, 144, 145 und 146 zu Petitio-
Deutschland und der Regierung von nen
Anguilla über den steuerlichen Infor- (Drucksachen 17/3069, 17/3070, 17/3071,
mationsaustausch 17/3072, 17/3073, 17/3074, 17/3075, 17/3076,
(Drucksachen 17/3026, 17/3200) . . . . . . . 6840 B 17/3077) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6841 D
IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Tagesordnungspunkt 9: der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-


NEN: Klimaschutzgesetz vorlegen –
Beschlussempfehlung und Bericht des Vertei- Klimaziele verbindlich festschreiben
digungsausschusses zu dem Antrag der Abge-
ordneten Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen), (Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132,
Peter Altmaier, Michael Brand, weiterer Ab- 17/2318) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6850 C
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Elke Hoff, Rainer Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6850 C
Erdel, Burkhardt Müller-Sönksen, weiterer Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 6852 D
Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Ver-
besserung der Regelungen zur Einsatzver- Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/
sorgung DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6853 D
(Drucksachen 17/2433, 17/3229) . . . . . . . . . . 6842 D Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6854 C
6843 A
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 6855 B
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg,
Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . 6844 A Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6856 D
Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6844 B Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6857 A
Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6846 A Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6858 D
Ingrid Remmers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6846 D Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6859 A
Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6847 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6859 B
Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6848 D Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6860 B
Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6861 B

Tagesordnungspunkt 6: Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6862 C

a) Antrag der Abgeordneten Frank Schwabe, Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6863 C


Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD: Ein
nationales Klimaschutzgesetz – Ver- Tagesordnungspunkt 7:
bindlichkeit stärken, Verlässlichkeit Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
schaffen, der Vorreiterrolle gerecht ausschusses zu der Unterrichtung: Vorschlag
werden für eine Richtlinie …/…/EU des Europäi-
(Drucksache 17/3172) . . . . . . . . . . . . . . . . 6850 A schen Parlaments und des Rates über Einla-
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann gensicherungssysteme [Neufassung] (inkl.
Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weite- 12386/10 ADD 1 und 12386/10 ADD 2)
rer Abgeordneter und der Fraktion (ADD 1 in Englisch)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäi- (Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239) . . 6864 D
sches Klimaschutzziel für 2020 anheben
(Drucksache 17/2485) . . . . . . . . . . . . . . . . 6850 B in Verbindung mit
c) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit Zusatztagesordnungspunkt 3:

– zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Die richtigen Lehren aus Kopenha- Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer Abge-
gen ziehen ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zum Vorschlag für eine RL des
– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Europäischen Parlaments und des Rates
Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, über Einlagensicherungssysteme (Neufas-
Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter sung) KOM-Nr. (2010) 368 endg.; Rats-
und der Fraktion DIE LINKE: dok.-Nr. 1238610
Klimaschutzziele gesetzlich veran- hier: Stellungnahme gegenüber der Bun-
kern desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3
des Grundgesetzes
– zu dem Antrag der Abgeordneten Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans- Sicherungssysteme als Modell für Europa
Josef Fell, weiterer Abgeordneter und (Drucksache 17/3191) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6865 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 V

Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 6865 B Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mo-
derne verbraucherbezogene Forschung
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 6866 A ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen ge-
Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . 6867 B setzlicher Regelungen auf Verbraucher
prüfen
Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6868 B (Drucksache 17/2343) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6887 B
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . 6887 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6869 A
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . . . . 6888 C
Michael Stübgen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6870 A
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 6889 D
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6870 D Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6890 C
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 8: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6891 D

Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6892 D


nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord-
neten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae,
Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter Tagesordnungspunkt 13:
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Verfahren zur Auswahl von Bundes- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
bankvorständen reformieren schusses für Bildung, Forschung und Tech-
(Drucksachen 17/798, 17/1075) . . . . . . . . . . . 6872 A nikfolgenabschätzung zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung: Bericht der
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6872 B Bundesregierung zur Bildung für eine
Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6874 A nachhaltige Entwicklung
(Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18,
Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6875 B 17/3158) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6894 B
Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6876 C Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . 6894 C
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/
Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 6895 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6877 B
Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6896 C

Tagesordnungspunkt 11: Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . 6897 C

Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6898 D
zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabi-
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 6900 A
litierungsgesetzes
(Drucksachen 17/1215, 17/3233) . . . . . . . . . . 6879 A
Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 6879 B Tagesordnungspunkt 12:
Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6880 B
Antrag der Abgeordneten Anette Kramme,
Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . 6881 D Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD: Mindest-
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 6884 B lohn für die Weiterbildungsbranche
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 17/3173) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6901 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6885 B
Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6901 C
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . 6886 A
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6902 B
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6886 C
Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 6903 C
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6904 A
Tagesordnungspunkt 10:
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . 6905 A
Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski-
Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6906 C
VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . 6919 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6907 B
Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6919 D
Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6908 B
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . 6922 A
Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6909 B
Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6923 C
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/
Tagesordnungspunkt 15: DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6925 A
a) Antrag der Abgeordneten Marcus
Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht
(Weiden), Michael Kretschmer, weiterer
Tagesordnungspunkt 17:
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Heiner a) Beschlussempfehlung und Bericht des
Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin
Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordne-
manitäre Hilfe
ter und der Fraktion der FDP: Ausländi-
sche Bildungsleistungen anerkennen – – zu dem Antrag der Abgeordneten
Fachkräftepotentiale ausschöpfen Michael Frieser, Erika Steinbach,
(Drucksache 17/3048) . . . . . . . . . . . . . . . . 6910 C Arnold Vaatz, weiterer Abgeordneter
b) Antrag der Abgeordneten Brigitte und der Fraktion der CDU/CSU sowie
Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz der Abgeordneten Marina Schuster,
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Abgeordneter und der Fraktion der
Strategie statt Streit – Fachkräfteman- FDP: Todesstrafe weltweit ächten
gel beseitigen und abschaffen
(Drucksache 17/3198) . . . . . . . . . . . . . . . . 6910 C
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . 6910 D und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Todesstrafe weltweit abschaffen
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6911 B
– zu dem Antrag der Abgeordneten
Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . 6912 D Annette Groth, Katrin Werner, Jan van
Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6914 C Aken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE: Abschaffung
Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6915 D der Todesstrafe weltweit
Krista Sager (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131,
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6916 D 17/3181) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6926 A
Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6917 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Menschenrechte und Hu-
manitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion
Tagesordnungspunkt 14: der SPD: Folter bekämpfen und Folter-
opfer unterstützen
a) Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia (Drucksachen 17/2115, 17/3180) . . . . . . . 6926 B
Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein, Kathrin
Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6926 C
und der Fraktion DIE LINKE: Sicherung
und Bewahrung der Wandbilder von Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6927 C
Prof. Ronald Paris und Prof. Walter
Womacka in Berlin Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6929 C
(Drucksache 17/2020) . . . . . . . . . . . . . . . . 6918 D
Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 6930 B
b) Antrag der Abgeordneten Dr. Lukrezia
Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6931 A
Fraktion DIE LINKE: Konzept für die
Bewahrung kulturhistorisch bedeutsa- Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6932 A
mer Kunst am Bau der jüngeren Zeit
entwickeln Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/3186) . . . . . . . . . . . . . . . . 6918 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6933 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 VII

Tagesordnungspunkt 16: Parlaments und des Rates über die Euro-


päische Ermittlungsanordnung in Straf-
Erste Beratung des von den Abgeordneten sachen
Oliver Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Ratsdok. 9145/10
Nestle, weiteren Abgeordneten und der Frak- (Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234) . . . 6942 C
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Energiewirtschaftsgesetzes
(Drucksache 17/3182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6934 B Tagesordnungspunkt 20:
Antrag der Fraktion der SPD: Evaluierung
der Neuorganisation der Bundespolizei
Tagesordnungspunkt 18: durch einen wissenschaftlichen Sachver-
ständigen
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (Drucksache 17/3068) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6943 A
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Neunten Gesetzes zur Änderung des Bun-
des-Immissionsschutzgesetzes in Verbindung mit
(Drucksachen 17/2866, 17/3034, 17/3169) . . 6934 C

Zusatztagesordnungspunkt 6:
Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Dr. Günter Krings,
Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard Grindel, weite-
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Biologi- rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
sche Vielfalt für künftige Generationen be- CSU sowie der Abgeordneten Gisela Piltz,
wahren und die natürlichen Lebensgrund- Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff (Rems-
lagen sichern Murr), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
(Drucksache 17/3199) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6935 A der FDP: Neuorganisation der Bundespolizei
erfolgreich fortsetzen – Bundespolizistinnen
und Bundespolizisten unterstützen
(Drucksache 17/3187) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6943 A
Tagesordnungspunkt 19:
Günter Baumann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6943 B
Antrag der Abgeordneten Ulrike Gottschalck,
René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels, Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 6944 A
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6945 A
SPD: Die richtigen Lehren aus dem Aus-
bruch des isländischen Vulkans Eyjafjalla- Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6947 B
jökull ziehen – Klimaforschung und
Geowissenschaften stärken und die Vo- Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6948 B
raussetzungen für ein nationales und euro- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/
päisches Krisenmanagement im Luftver- DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6948 D
kehr schaffen
(Drucksache 17/3174) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6935 A
Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6935 B Tagesordnungspunkt 21:

Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6937 C Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,


Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer
René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6938 D Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Für eine Normalisierung der Beziehungen
Torsten Staffeldt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6939 C der Europäischen Union zu Kuba
(Drucksache 17/3188) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6949 B
Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6940 B
Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6949 C
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6941 A Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6950 B
Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6951 B
Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6952 A
Zusatztagesordnungspunkt 5:
Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 6953 A
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses zu der Unterrichtung: Ini- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
tiative für eine Richtlinie des Europäischen DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6954 A
VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Tagesordnungspunkt 22: geordneten und sozialverträglichen


Ausstieg aus dem subventionierten
Antrag der Abgeordneten Claudia Roth Steinkohlebergbau
(Augsburg), Volker Beck (Köln), Agnes
Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der (Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231) 6965 C
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stif-
b) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer,
tungszweck der Stiftung Flucht, Vertrei-
Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer Abge-
bung, Versöhnung erfüllen
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
(Drucksache 17/3064) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6955 B DIE GRÜNEN: Subventionierten
Thomas Strobl (Heilbronn) Steinkohlebergbau sozialverträglich be-
(CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6955 B enden
(Drucksache 17/3201) . . . . . . . . . . . . . . . 6965 C
Klaus Brähmig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 6956 A Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6965 C
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 6957 A Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6967 C
Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6957 D Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6968 D
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 6958 D Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . 6969 D

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6959 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6970 D

Tagesordnungspunkt 25:
Tagesordnungspunkt 23:
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke,
Antrag der Abgeordneten René Röspel, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE:
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- Rüstungsexporte in Staaten des Nahen
tion der SPD: Die Friedens- und Konflikt- Ostens einstellen – Militärische Zusam-
forschung stärken – Deutsche Stiftung menarbeit beenden – Atomwaffenfreie
Friedensforschung finanziell ausbauen Zone befördern
(Drucksache 17/1051) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6959 D (Drucksache 17/2481) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6972 A
Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6960 A Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6972 B

René Röspel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6961 B Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . 6973 D

Dr. Peter Röhlinger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6962 C Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . 6975 A


Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 6975 B
Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6963 D
Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6976 C
Krista Sager (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6964 C Katja Keul (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6977 A

Tagesordnungspunkt 24:
Tagesordnungspunkt 26:
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Beschlussempfehlung und Bericht des Aus-
Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- schusses für Kultur und Medien zu dem An-
gie trag der Abgeordneten Agnes Krumwiede,
Katrin Göring-Eckardt, Bettina Herlitzius,
– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer,
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das „Parla-
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter
ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“
und der Fraktion der SPD: Die Stein-
muss dauerhaft geschützt werden
kohlevereinbarung gilt
(Drucksachen 17/1580, 17/3115) . . . . . . . . . . 6978 A
– zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Matthias W. (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6978 B
Birkwald, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE: Für einen Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6979 B
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 IX

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . . 6979 D Petra Merkel (Berlin) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6987 A

Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6980 C Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6987 A

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . 6981 B


Anlage 5
Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6981 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Energiewirtschaftsgesetzes (Tagesord-
nungspunkt 16)
Zusatztagesordnungspunkt 7:
Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 6988 A
Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon-
Taubadel, Marieluise Beck (Bremen), Volker Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 6989 A
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 6989 D
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kir-
gisistan unterstützen – Den Frieden sichern Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6990 C
(Drucksache 17/3202) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6982 D Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 6991 C
Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6983 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6992 C

Anlage 1 Anlage 6

Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 6985 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Än-
derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
(Tagesordnungspunkt 18)
Anlage 2
Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 6993 B
Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten
Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6994 B
Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE) zur
Abstimmung über die Zweite Beschlussemp- Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6994 D
fehlung des Wahlprüfungsausschusses: zu
Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 6995 B
zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/
tember 2009 (Tagesordnungspunkt 34 g) . . . . 6985 D DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6995 D

Anlage 3 Anlage 7

Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung


Oliver Luksic (FDP) zur Abstimmung über des Antrags: Biologische Vielfalt für künftige
die Beschlussempfehlung zu der Unterrich- Generationen bewahren und die natürlichen
tung: Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU Lebensgrundlagen sichern (Zusatztagesord-
des Europäischen Parlaments und des Rates nungspunkt 4)
über Einlagensicherungssysteme [Neufas- Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 6996 B
sung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10
ADD 2) Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . 6997 C
(ADD 1 in Englisch) Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 6998 B
(Tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . 6986 B
Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 6999 A
Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/
Anlage 4 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6999 C

Erklärung nach § 31 GO zur Abstimmung


über die Beschlussempfehlung zu dem An- Anlage 8
trag: Das „Parlament der Bäume gegen Krieg
und Gewalt“ muss dauerhaft geschützt wer- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
den (Tagesordnungspunkt 26) der Beschlussempfehlung und des Berichts:
X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Initiative für eine Richtlinie des Europäischen Anlage 9


Parlaments und des Rates über die Europäi-
sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des
Ratsdok. 9145/10 Antrags: Kirgisistan unterstützen – Den Frie-
(Zusatztagesordnungspunkt 5) den sichern (Zusatztagesordnungspunkt 7)

Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7000 D Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7005 B

Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7001 C Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7006 A

Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 7002 C Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . 7007 A

Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . 7003 B Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7007 D

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7004 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7009 A
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6791

(A) (C)

Redetext

65. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und


Verbraucherschutz
Die Sitzung ist eröffnet.
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Nehmen Sie bitte Platz! Guten Morgen, liebe Kolle-
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab-
ginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Wir haben zwei Nachbesetzungen vorzunehmen, be- GRÜNEN
vor wir in unsere Tagesordnung eintreten. Auf Vorschlag
Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sank-
der SPD-Fraktion soll der Kollege Siegmund Ehrmann
tionen aussetzen
den Platz der ausgeschiedenen Abgeordneten
Dr. Angelica Schwall-Düren als ordentliches Mitglied – Drucksache 17/3207 –
im Kuratorium der Stiftung „Haus der Geschichte Überweisungsvorschlag:
der Bundesrepublik Deutschland“ einnehmen. Im Ausschuss für Arbeit und Soziales
(B) Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver- (D)
söhnung“ soll ihr Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Thierse als ordentliches Mitglied nachfolgen. Als neues Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-
stellvertretendes Mitglied ist der Kollege Dietmar geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Nietan vorgesehen. Sind Sie mit diesen Vorschlägen ein- GRÜNEN
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- Pakistan nach der Flut langfristig unterstüt-
sen, und die genannten Kollegen sind damit gewählt. zen und Schulden umwandeln
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- – Drucksache 17/3206 –
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern: Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
ZP 1 Aktuelle Stunde Entwicklung (f)
Auswärtiger Ausschuss
Projekt Stuttgart 21 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
(siehe 64. Sitzung)
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Schick, Britta Haßelmann, Fritz Kuhn, weiterer
fahren Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Ergänzung zu TOP 33 DIE GRÜNEN
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäi-
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines schen Parlaments und des Rates über Einlagensi-
Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschrif- cherungssysteme (Neufassung) KOM-Nr. (2010)
ten zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3 368 endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10
Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächener-
werbsverordnung (Zweites Flächenerwerbs- hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregie-
änderungsgesetz – 2. FlErwÄndG) rung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes
– Drucksache 17/3183 –
Überweisungsvorschlag: Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Si-
Haushaltsausschuss (f) cherungssysteme als Modell für Europa
Innenausschuss
Rechtsausschuss – Drucksache 17/3191 –
6792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Überweisungsvorschlag: (C)
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Biologische Vielfalt für künftige Generationen
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta
bewahren und die natürlichen Lebensgrundla-
Zapf, Günter Gloser, Dietmar Nietan, weiterer
gen sichern
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
– Drucksache 17/3199 –
Glaubhafte Unterstützung für Serbiens Bei-
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- trittsantrag zur Europäischen Union
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung – Drucksache 17/3175 –

Initiative für eine Richtlinie des Europäischen ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise
Parlaments und des Rates über die Europäi- Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von
sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen Cramon-Taubadel, weiterer Abgeordneter und
Ratsdok. 9145/10 der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

– Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 – Serbiens Beitrittsgesuch an die Europäische


Kommission weiterleiten – Gesamte Region im
Berichterstattung: Blick behalten
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl – Drucksache 17/3204 –
Marco Buschmann ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Raju Sharma Möhring, Jan van Aken, Agnes Alpers, weiterer
Ingrid Hönlinger Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Verpflichtung zur UN-Resolution 1325 „Frauen,
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard
Frieden und Sicherheit“ einhalten – Auf Ge-
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
walt in internationalen Konflikten verzichten
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff (Rems- – Drucksache 17/3205 –
Murr), weiterer Abgeordneter und der Fraktion Überweisungsvorschlag:
der FDP Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
(B) Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (D)
fortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundes- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
polizisten unterstützen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
– Drucksache 17/3187 –
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f) weit erforderlich, abgewichen werden.
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss Darüber hinaus gibt es folgende Änderungen beim
Ablauf der heutigen Tagesordnung: Die Tagesordnungs-
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola punkte 5 a, b und d sollen abgesetzt und der Tagesord-
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bre- nungspunkt 5 c ohne Debatte überwiesen werden. An
men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter dieser Stelle ist nunmehr die Beratung des Tagesord-
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nungspunktes 9 vorgesehen. Die nachfolgenden Tages-
Kirgisistan unterstützen – Den Frieden si- ordnungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken dem-
chern entsprechend vor. Sind Sie auch mit diesen Vereinbarun-
gen einverstanden? – Das ist der Fall; ich höre keinen
– Drucksache 17/3202 – Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und Integration
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja Achter Bericht über die Lage der Auslände-
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab- rinnen und Ausländer in Deutschland
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN – Drucksache 17/2400 –
Überweisungsvorschlag:
„Kinder, Küche und Karriere“ – Vereinbar- Innenausschuss (f)
keit für Frauen und Männer besser möglich Sportausschuss
machen Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
– Drucksache 17/3203 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6793
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe habe. Genau das war der Tenor auch dort: sich auf dieses (C)
Ausschuss für Kultur und Medien Land einzulassen, hier zu Hause zu sein, das Gespräch
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für führen zu wollen und dafür zu sorgen, dass wir gemein-
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- sam in eine gute Zukunft gehen. Das zeigt: Was wir in
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. der letzten Legislaturperiode begonnen haben, hat sich
bewährt. Wir reden nicht übereinander, sondern wir re-
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- den miteinander. Das ist der entscheidende Punkt.
nächst der Staatsministerin Frau Professor Maria
Böhmer. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Grundrechte wie die Gleichberechtigung von Mann
und Frau, Religions- und Meinungsfreiheit dürfen nicht
nur auf dem Papier stehen, sondern sie müssen gelebt
Dr. Maria Böhmer, Staatsministerin bei der Bundes-
werden – zuallererst in den Familien. Die Eltern stehen
kanzlerin:
hier in der Verantwortung. Wir wollen sie dabei auch un-
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und terstützen, damit Kinder aus Zuwandererfamilien die
Kollegen! Es ist gut, dass das Thema Integration endlich Chance haben, in unserer Gesellschaft wirklich anzu-
wieder da steht, wo es angesichts der drängenden Pro- kommen.
bleme und Aufgaben hingehört: ganz oben auf der Ta-
gesordnung. Ich bin dem Bundespräsidenten dankbar, „Fördern und Fordern“ ist der zentrale Grundsatz
dass er sich des Themas Integration mit so großer Inten- unserer Integrationspolitik. Er hat sich bewährt. Wir las-
sität angenommen hat. sen niemanden allein. Wir kümmern uns. Aber ich er-
warte auch, dass die Integrationsangebote angenommen
(Thomas Oppermann [SPD]: Nur der Bundes- werden,
präsident?)
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Wo ist das
Wir dürfen das Feld nicht Sarrazin mit seinen Halb- Geld dafür?)
wahrheiten und seinen kruden Vererbungstheorien über-
lassen. seien es die Teilnahme an Integrationskursen, die Sprach-
förderung im Kindergarten, der regelmäßige Schulbesuch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie oder der Abschluss einer Ausbildung.
bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe viele kennengelernt, die sich angestrengt ha-
ben und die erfolgreich sind. Ich erwähne den Enkel ei-
Als Finanzsenator in Berlin hatte er sieben Jahre lang nes, wie wir früher gesagt haben, Gastarbeiters. Sein (D)
(B) Zeit, etwas für die Integration zu tun. Er hat nichts getan.
Großvater ist aus der Türkei zu uns gekommen und war
Das waren sieben verlorene Jahre für die Integration in Hilfsarbeiter in einem großen deutschen Unternehmen.
Berlin. Sein Vater wurde Arbeiter. Er selbst hat studiert und ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie hört heute zur Führungsmannschaft in diesem Unterneh-
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE men. Er ist einer der großen Brückenbauer zwischen Mi-
GRÜNEN – Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: granten und Einheimischen in unserem Land. Solche
Und wann haben Sie etwas getan?) Vorbilder brauchen wir, und solche Vorbilder müssen wir
stärken.
Viele Migranten, die längst in Deutschland heimisch
sind, fühlten sich in den letzten Wochen unter General- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
verdacht gestellt und ausgegrenzt. Viele Einheimische 2005 standen wir bei der Integration vor einem Berg
haben Ängste und Sorgen angesichts der Veränderungen von Versäumnissen und Fehlentwicklungen.
in unserem Land. Manche haben auch Angst vor Gewalt.
Manche Schülerinnen und Schüler und manche Lehrer (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Na, na!)
müssen sich deutschfeindliche Äußerungen anhören.
Die Integrationspolitik steckte damals noch in den Kin-
Wenn sich ein Schüler nicht mehr auf den Pausenhof
derschuhen.
traut, wenn Lehrer eingeschüchtert werden oder wenn
Lehrerinnen beschimpft werden, können wir das nicht (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr
hinnehmen und müssen dagegen angehen. richtig!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wir haben unter Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE massiv umgesteuert. Denn mit Beliebigkeit und dem
GRÜNEN) Ausblenden der Wirklichkeit sind die Probleme nicht zu
meistern. Multikulti ist gescheitert. Das ist die Wahr-
Jedem, der zu uns kommt, muss von Anfang an klar heit.
sein: Wer hier leben will, muss selbstverständlich das
Grundgesetz und unsere Rechtsordnung respektieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wer hier leben will, muss sich auch auf unser Land ein-
Wir haben viele Weichen neu gestellt: mit dem Inte-
lassen.
grationsgipfel, der Islamkonferenz und dem Nationalen
Ich war sehr beeindruckt von dem Gespräch, das ich Integrationsplan als dem ersten Gesamtkonzept mit
mit den Migrantenorganisationen am Dienstag geführt mehr als 400 Selbstverpflichtungen, die zu einem großen
6794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Staatsministerin Dr. Maria Böhmer


(A) Teil erfüllt sind. Wir können heute mit Fug und Recht sa- Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus. Viele (C)
gen: Deutschland steht im europäischen Vergleich gut der Eltern, die hierhergekommen sind, kennen sich mit
da. Ich denke in diesem Zusammenhang an die brennen- unserem Bildungssystem nicht aus. Sie brauchen unsere
den Vorstädte in Frankreich und an die Probleme in den Hilfe und Unterstützung. Deshalb muss die Elternarbeit
Niederlanden. Rechtspopulisten vergiften dort das Klima in Kindergarten und Schule gestärkt werden, müssen In-
und belasten das Zusammenleben. All das haben wir tegrationskurse gerade dort stattfinden.
nicht. Das soll auch so bleiben. Dafür setzen wir uns ein. Wie wollen wir in Zukunft weiter verfahren? Wir
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- müssen jetzt in eine zweite Phase der Integrationspoli-
neten der FDP) tik eintreten, in eine Phase von mehr Verbindlichkeit.
Dabei kommt der zentralen Integrationsmaßnahme der
Wir sind so manchen unbequemen Weg gegangen. Ich Bundesregierung, den Integrationskursen, große Bedeu-
denke dabei an den Streit um Deutsch auf dem Schulhof. tung zu. Es ist in der Tat das Erfolgsmodell für Integra-
Heute ist es eine Selbstverständlichkeit, dass Deutsch tion in unserem Land. Ende des Jahres werden mehr als
die Schulsprache sein muss. Ich denke an die Verpflich- 700 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu zählen
tung zum Spracherwerb für Ehegatten im Herkunftsland. sein. Was mich besonders freut, ist, dass zwei Drittel da-
Auch hierüber haben wir uns heftig gestritten, aber wir von Frauen sind und dass viele von denen, die schon seit
haben diesen Vorschlag dann gemeinsam nach vorne ge- vielen Jahren – 10, 12, 15 Jahre – in Deutschland leben,
bracht. Heute ist die Skepsis der Erkenntnis gewichen, jetzt sagen: Wir wollen endlich Deutsch lernen. – Unsere
dass Spracherwerb ein Gewinn ist und dass so Zwangs- Botschaft, dass Deutsch die Grundlage für ein gutes Zu-
verheiratungen verhindert werden können. sammenleben, für ein gutes Miteinander und für Teil-
habe in unserem Land ist, ist angekommen.
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Das ist aber noch nicht das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
setz!) Wichtig ist: Jeder, der an einem solchen Kurs freiwil-
Als es um die Einbürgerungstests ging, gab es auch lig teilnehmen möchte – jeder Zweite tut das –, muss
Streit in unserem Land. Aber heute ist klar – das sagen auch in Zukunft die Chance dazu haben. Deshalb haben
mir auch viele Migrantinnen und Migranten, die deut- wir die Haushaltsmittel noch einmal auf jetzt 233 Millio-
sche Staatsbürger werden wollen –: Es ist von Vorteil, nen Euro erhöht. Das war angesichts knapper Kassen
wenn man über unser Land Bescheid weiß, denn man wahrlich keine einfache Entscheidung, aber das ist ein
will hier leben und die Rechte und Pflichten voll wahr- klares Signal dafür, dass wir alles dafür tun möchten,
nehmen. Dann gehört es auch dazu, dass man sich aus- dass die Integration in unserem Land klappt.
(B) kennt. Ich will Integrationsvereinbarungen auf den Weg (D)
Die Anstrengungen für die Integration haben sich ge- bringen; denn ich möchte, dass wir auch hier mehr Ver-
lohnt. Das wird durch den Lagebericht belegt, den ich bindlichkeit für beide Seiten haben: für die Migranten,
dem Bundestagspräsidenten im Juli übergeben habe. Das die dann wissen sollen, welche Angebote und welche
zentrale Ergebnis in diesem Bericht ist: Die Integration Hilfe sie erwarten können, und auch für uns. Denn wir
in Deutschland gewinnt an Fahrt, aber wir müssen noch wollen im Rahmen dieser individuellen Integrationsver-
einbarungen festhalten, wo Nachholbedarf besteht: beim
an Tempo und an Intensität zulegen. Wir brauchen dazu
Spracherwerb, bei der Bildung, bei der beruflichen Qua-
auch eine breite Diskussion in der Bevölkerung, damit
lifikation. Natürlich gehört dazu auch, dass die Eltern
das, was wir in Gang gesetzt haben, auch entsprechend
ihre Kinder in den Kindergarten schicken, damit sie in
mitgetragen wird.
den Genuss der Sprachförderung kommen und damit sie,
Wir haben Fortschritte bei der Sprache, der Bildung wenn die Grundschule beginnt, dem Unterricht folgen
und der Ausbildung zu verzeichnen. Das Bildungsniveau können; denn nur dann wird sich langfristig für diese
hat sich erhöht. Ich sage aber auch, dass es alarmierend Kinder etwas verbessern.
ist, dass die Zahl der Schulabbrecher nach wie vor zu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hoch ist: 13 Prozent bei den Migrantenjugendlichen im
Vergleich zu 7 Prozent bei den Jugendlichen ohne Mi- Die frühe Sprachförderung wurde, seitdem wir den
grationshintergrund. – Das ist noch weit von der Zusage Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben, in allen
entfernt, die die Länder uns im Nationalen Integrations- Bundesländern realisiert. Es gibt überall Sprachstands-
plan gegeben haben, wonach die Quoten bis 2012 ange- tests, es gibt überall Sprachförderung. Aber ich bin sehr
glichen sein sollen. nachdenklich geworden, als ich erfahren habe, dass trotz
alledem beispielsweise in Berlin noch immer 30 Prozent
Deshalb brauchen wir mehr individuelle Förderung und in Nordrhein-Westfalen 25 Prozent der Kinder ohne
in den Schulen. Wir brauchen mehr Lehrkräfte, wir brau- ausreichende Sprachkenntnisse in die Grundschule kom-
chen mehr Schulsozialarbeiter, und wir brauchen mehr men. Da stimmt doch etwas nicht. Hier sind die Länder
Zeit. Wir brauchen aber auch mehr Ganztagsschulen, um gefordert, zu überprüfen, wie wirksam diese Sprachför-
wirklich die individuelle Förderung dieser Kinder voran- derung ist.
zubringen; denn sie sind nicht weniger begabt, sie sind
nur weniger gefördert, und sie sollen alle Chancen in un- Ich will auch noch einmal an die Eltern appellieren.
serem Land haben. Wenn Migranteneltern ihre Kinder seltener in den Kin-
dergarten schicken, dann heißt das: Gerade die Kinder,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die wir fördern wollen, kommen nicht in den Genuss der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6795
Staatsministerin Dr. Maria Böhmer
(A) Förderung. Deshalb bin ich für ein verbindliches letztes Teil Deutschlands.“ Dieser Satz bleibt gültig. Es ist aber (C)
Kindergartenjahr. Denn wir dürfen die Kinder nicht al- genauso klar: Die Grundlage unseres Wertesystems und
lein lassen. Sie dürfen nicht diejenigen sein, die unter auch unseres Grundgesetzes ist und bleibt die christlich-
den Versäumnissen ihrer Eltern leiden. jüdische Tradition. Klar ist auch: Für einen radikalen
Islam, der unsere Werte infrage stellt, ist kein Platz in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – unserem Land.
Thomas Oppermann [SPD]: Warum wollen
Sie dann eine Prämie für diejenigen, die ihre (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Kinder zu Hause lassen? – Weiterer Zuruf von
Wir haben keine schnellen Antworten. Wir werden
der SPD: Herdprämie!)
um so manche Frage ringen müssen. Ich nehme die
Wir haben in dieser Legislaturperiode ein großes Vor- Ängste und Sorgen unserer Bevölkerung, der Migranten
haben. Wir wollen es schaffen, dass die vielen Men- und der Einheimischen, sehr ernst. Wir brauchen die
schen, die in unser Land gekommen sind und über einen Diskussion, die momentan aufgekommen ist. Aber wir
guten beruflichen Abschluss verfügen, die hier arbeiten, müssen die Diskussion vor dem Hintergrund führen,
sich einbringen und unser Land voranbringen wollen, in dass es um die Kernfragen unseres Landes geht: Was
ihrem Beruf arbeiten können. Es darf nicht mehr sein, hält uns zusammen? Wie wollen wir morgen leben? Er-
dass sie wie früher in den Statistiken der Bundesagentur reichen wir wirklich eine Verständigung über diese ent-
für Arbeit als Unqualifizierte geführt werden. Ein Aner- scheidenden Fragen angesichts von vielfältigen kulturel-
kennungsgesetz für die Anerkennung von im Ausland len Veränderungen, die vielen jetzt erst deutlich werden?
erworbenen Abschlüssen wird ein Markstein der Integra-
Jeder Einzelne muss sich fragen, was er zum Zusam-
tionspolitik in dieser Legislaturperiode sein. Es wird vie-
menhalt in unserer Gesellschaft beitragen kann. Ich
les verändern, was die Annahme der Migranten, das He-
möchte, dass unser Land ein weltoffenes und tolerantes
ben von Potenzialen und die Anerkennung der Vielfalt
Land bleibt und dass es ein Land ist, in dem Vielfalt ge-
angeht. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz schnell.
schätzt wird. Daran müssen wir gemeinsam arbeiten.
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]:
Herzlichen Dank.
Schnell! Nicht erst 2012!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es soll bis Dezember vorliegen. Das wird die Wende in
der Integrationspolitik deutlich unterstützen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nächster Redner ist der Kollege Olaf Scholz für die
Bei allem, was wir diskutieren, müssen wir uns auch SPD-Fraktion.
(B) schwierigen Fragen zuwenden. Schon in der letzten Le- (D)
(Beifall bei der SPD)
gislaturperiode habe ich immer wieder angemahnt, dass
die Gleichberechtigung von Frauen der Lackmustest
ist, wenn es um das Gelingen von Integration geht. Denn Olaf Scholz (SPD):
es darf nicht sein, dass es in unserem Land, wo die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt, immer noch Manchmal hilft reden. Insofern war es gut, dass der Bun-
vorkommt, dass Mädchen nicht an allen Unterrichtsfä- despräsident wiederholt hat, was der damalige Innen-
chern teilnehmen dürfen und ihnen vom Elternhaus ver- minister Schäuble in diesem Deutschen Bundestag vor
boten wird, zum Schwimmunterricht und zum Sport zu einiger Zeit sagte: Der Islam ist Teil Deutschlands. – Es
gehen oder an Klassenfahrten teilzunehmen. Mädchen ist richtig, dass er das gesagt hat. Das wird deutlich,
müssen die gleichen Chancen haben wie alle anderen. wenn man sieht, wie darauf reagiert wird, wie viele sich
Deshalb ist es wichtig, dass wir den Eltern sagen, wo die jetzt äußern und wie viele gerade auch der politischen
Grenze liegt, damit die Kinder alle Chancen bekommen, Anhänger von Wolfgang Schäuble nicht seiner Ansicht
sich auf ein Leben in unserem Land vorzubereiten. sind. Manchmal muss man solche Reden so lange halten,
bis sich alle einig sind.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) (Beifall bei der SPD)

Ganz besonders treibt mich die Tatsache um, dass es Reden alleine hilft aber nicht. Gerade was Integra-
auch in unserem Land Zwangsverheiratungen gibt. Ich tionspolitik betrifft, gibt es eine große Kluft zwischen
spreche mich deutlich dafür aus, dass wir jetzt einen ei- Reden und Handeln, zwischen dem, was gesagt wird,
genen Straftatbestand Zwangsverheiratung schaffen und und dem, was getan wird. Ja, am Anfang ist es manch-
dass wir diesen mit einem Rückkehrrecht für die Mäd- mal so, dass man noch ganz verzaubert zuhört, wenn ein
chen, die heiratsverschleppt sind, verknüpfen. Denn sie konservativer Politiker oder eine konservative Politike-
sind gut integriert, und wir wollen, dass sie in unserem rin mit mehrjährigem Zeitverzug das richtig findet, was
Land ihren Weg gehen können. gegen ihn bzw. sie durchgesetzt wurde.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
FDP sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Weil in den letzten Tagen so heftig über den Islam in NEN]: Das muss man erst mal hinkriegen! –
Deutschland gesprochen worden ist, will ich an einen Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das ist
Satz von Wolfgang Schäuble erinnern: „Der Islam ist ja unglaublich!)
6796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Olaf Scholz
(A) Ich finde, man muss es als großen gesellschaftlichen tausende wie in diesem Jahr die Kurse nicht wahrneh- (C)
Fortschritt begreifen, wenn das jemand jetzt erkennt und men können, weil Sie eine Prioritätenliste aufgestellt ha-
das als neue Wahrheit verkündet, was bitter, anstrengend ben, aufgrund derer viele, die das freiwillig wollen, das
und mühselig erreicht werden musste. Aber es ist nicht tun können.
schlecht, wenn man dabei verharrt, wenn es diese „Bis
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch
hier und nicht weiter“-Strategie gibt, die einen nie in die
gar nicht so!)
Lage versetzt, den nächsten Schritt zu tun. Vor allem
kommt es darauf an – das gilt gerade im Hinblick auf die Es ist nicht in Ordnung, wenn Sie sagen, es gebe eine
Integrationspolitik –, dass man das Notwendige tut und dreimonatige Wartezeit. Diese ist in der Realität nämlich
nicht nur darüber redet. noch viel länger. Das alles ist ein Fehler.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Gleiche gilt für die aktive Arbeitsmarktpolitik.
Sie streichen hier Milliarden, und zwar all die Maßnah-
Es gibt viele Theorien darüber, wie Politikverdros-
men, die Sie an anderer Stelle in Ihren Reden so richtig
senheit in Deutschland entsteht. Meine These lautet:
finden, wenn es um Integration geht. Ich sage Ihnen: Ihre
Eine der wichtigsten Ursachen dafür ist, dass viele Poli-
Entscheidungen die Arbeitsmarktpolitik betreffend – das
tiker oft das Richtige zu sagen wissen, aber nicht alle es
zeigt der Bundeshaushalt – sind nichts anderes als ein
richtig finden, ihren Reden auch Taten folgen zu lassen.
aktiver Kampf gegen erfolgreiche Integration in den
(Beifall bei der SPD) nächsten Jahren. Es ist falsch, was Sie dort machen. Es
müssen mehr Mittel für Qualifizierung und Arbeitsmarkt-
Gerade in der Integrationspolitik müssen wir die Bun-
integration zur Verfügung gestellt werden, gerade für die
desregierung und ihr Handeln deswegen kritisieren.
Gruppen, um die es hier geht.
Zu den Integrationskursen. Wie wichtig es ist, dass
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
man Deutsch kann, dass man Deutsch lernt und dass In-
DIE GRÜNEN)
tegrationskurse angeboten werden, haben wir in den sehr
aufgeregten Debatten der letzten Wochen und Monate Wie sehr Sie distanziert sind, sieht man an Ihrem an-
gelernt; es ist so. Es war eine rot-grüne Bundesregie- haltenden und wieder aufflammenden Widerstand gegen
rung, die gegen den Willen konservativer Gegner durch- die Regelung, dass jeder, der arbeitslos ist, einen Schul-
gesetzt hat, dass es Integrationskurse gibt. abschluss nachholen kann. Es war übrigens ein sozialde-
mokratischer Arbeitsminister, der durchgesetzt hat, dass
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das stimmt
in jedem Fall derjenige, der nicht über ausreichende
doch nicht!)
Sprachkenntnisse verfügt und arbeitslos ist, zuerst die
(B) Es war eine von Sozialdemokraten und Grünen getra- Sprache erlernen muss und dass es ein entsprechendes (D)
gene Bundesregierung, die dafür gesorgt hat, dass das Angebot gibt. Wenn das alles so ist, dann darf man nicht
eine Bundesaufgabe ist, weil sich andere vorher gar nur darüber reden. Dann muss man auch entsprechend
nicht darum gekümmert hatten. handeln. Bei Ihnen fehlen die Taten. Sie reden nur. Das
ist zu wenig.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD)
Nun ist diese Sache aber ein so großer Erfolg gewor- Es ist notwendig, dass die Betreffenden etwas tun, um
den, dass die Mittel, die bisher dafür eingeplant waren, sich zu integrieren, dass sie sich anstrengen und bemü-
nicht mehr reichen. Es ist ganz furchtbar – ich sage aus- hen. Was wäre ein größeres Zeichen als die Aussage:
drücklich: furchtbar –, dass wir eine Debatte über die „Wer in Deutschland einen Schulabschluss macht, der
Frage führen, ob denn genügend an diesen Kursen teil- kann seinen Aufenthaltsstatus damit verbessern und
nehmen, obwohl wir wissen, dass aufgrund der Tatsache, muss als Kind nicht in einem Duldungsstatus verblei-
dass nicht ausreichend Geld zur Verfügung gestellt wird, ben“? Wo bleibt Ihre entsprechende Regelung? Wir, die
nicht jeder, der es möchte, an einem solchen Kurs teil- sozialdemokratische Fraktion, haben längst einen ent-
nehmen kann. Es werden einfach nicht ausreichend Gel- sprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Sie reden nur und
der zur Verfügung gestellt. lassen nicht die notwendigen Taten folgen. Das ist das
Problem.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wir haben die
Mittel erhöht! Doppelt so viel wie unter Rot- (Beifall bei der SPD)
Grün!)
Das Gleiche gilt für die Thematik des Anerken-
Das ist das Gegenteil dessen, was notwendig ist. Wir nungsgesetzes. In der letzten Legislaturperiode waren
brauchen an dieser Stelle Taten und keine Reden. Sie erst gar nicht dafür; dann waren Sie dafür, eine Rege-
lung ohne Gesetz zu machen, bei der sich alle ein biss-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
chen abstimmen. Dann haben Sie in Ihren Koalitionsver-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
trag die vorher abgelehnte Regelung hineingeschrieben,
GRÜNEN)
und nun ist das Gesetz immer noch nicht da. Jetzt wird
Herr Grindel, Sie haben gesagt, die Mittel seien sogar es uns für Dezember angekündigt. Dabei ist die Materie
erhöht worden. Das stimmt, aber die Mittel müssten so einfach; das Gesetz hätte längst beschlossen werden
noch viel mehr erhöht werden, wenn man das ernst können, wenn es nicht an irgendwelchen Widerständen
nimmt. Denn es darf eigentlich nicht sein, dass viele Zig- scheiterte, die Sie bisher offenbar nicht überwinden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6797
Olaf Scholz
(A) konnten. Wir brauchen ein Anerkennungsgesetz, wir selbstbewusster mit unseren Worten, unserer Sprache (C)
brauchen Taten und nicht weitere Reden zu diesem umzugehen.
Thema.
Wir sollten dieses Kompliment an unser Land nicht
(Beifall bei der SPD) entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwande-
rer auf ein Maß reduzieren, das diesen Menschen nichts
Natürlich ist auch ein Bestandteil dessen, was not- mehr zutraut. Ich meine, wir sollten sie als freie und
wendig ist, dass wir uns darum kümmern, dass diejeni- kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unterneh-
gen, die hier als Deutsche aufgewachsen sind, dies auch men, sich in unserer Gesellschaft einzubringen. Wir wol-
bruchlos fortsetzen können. Die Optionspflicht, die in len sie dabei fördern, aber auch ganz klar etwas von ih-
unserem Staatsangehörigkeitsrecht enthalten ist, gehört nen fordern. Migranten müssen sich verbindlich in
abgeschafft. Sie ist ein falsches Mal gegen die Integra- unsere Gesellschaft integrieren, sich mit ihr verbinden,
tion; und die Politik muss dafür den verbindlichen Rahmen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) setzen und die nötigen Hilfestellungen leisten.

es ist die falsche Botschaft, die an dieser Stelle ausge- Die FDP will die Chancen der Zuwanderung in den
sandt wird. Auch hier reden Sie nur darüber, dass man Mittelpunkt stellen. Dabei muss der Zusammenhalt der
das einmal prüfen solle. Es wäre eine Tat notwendig, und durch Zuwanderer bereicherten deutschen Gesellschaft
das Gesetz ist schnell und einfach gemacht. Wir hätten im Zentrum stehen. Wer dauerhaft hier leben möchte,
es längst beschließen können. der muss die eigene Integration aktiv voranbringen und
die gebotenen Chancen ergreifen.
Das ist es, was wir meines Erachtens hinbekommen
müssen. Wir müssen endlich den vielen Reden, die man (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ständig hört, Taten folgen lassen, damit es stimmt, was der CDU/CSU)
wir sagen. Jeder, der jetzt Deutsch lernen und die ent- Deutschland ist nach der hierzulande gesprochenen
sprechende Arbeitsmarktintegration erlangen will, der Sprache benannt. Es ist eine lebendige, eine aufneh-
will, dass sich sein Kind auf der Schule anstrengt, soll mende und eine einnehmende Sprache. Auch deshalb ist
wissen, dass es nach unseren Ankündigungen auch Fol- die Kenntnis der deutschen Sprache unerlässliche Vo-
gen geben wird. Wir sind dafür verantwortlich, dass dies raussetzung für die Integration. Sie zu lernen ist für alle
für jedes Detail zutrifft. Deshalb fordere ich Sie auf: Be- Zuwanderer verpflichtend und eröffnet Chancen, und
schränken Sie sich nicht allein auf die Rede, sondern zwar nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Deutsch ist inner-
wenden Sie sich der Tat zu! Das ist es, was jetzt in halb der EU die größte Muttersprache. Weltweit spre-
Deutschland notwendig ist, und das wäre ein wirklicher chen es rund 110 Millionen Menschen. Im Internet ist
(B) Fortschritt. (D)
Deutsch nach Englisch die am meisten benutzte Sprache.
Bei Übersetzungen ist Deutsch die größte Ziel- und dritt-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
größte Quellsprache überhaupt. Die Integrationskurse
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
sind das wichtigste Instrument von Bundesseite gerade
für den Spracherwerb. Wir haben sie gestärkt und stehen
Präsident Dr. Norbert Lammert: zu diesem außerordentlich wichtigen Beitrag des Bun-
Für die FDP erhält der Kollege Hartfrid Wolff jetzt des. An der Zielgenauigkeit und Effizienz werden wir
das Wort. weiter arbeiten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die FDP will Sprachstandstests für alle Kinder im
der CDU/CSU) Alter von vier Jahren, damit sie alle die gleichen Chan-
cen bekommen. Bei Bedarf sind eine gezielte Sprach-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): förderung vor Eintritt in die Schule sowie darüber
hinausgehende unterrichtsbegleitende Sprachprogramme
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verbind-
notwendig.
lichkeit ist das Schlüsselwort des vorliegenden achten
Ausländerberichts. Verbindlichkeit ist das Schlüssel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wort für erfolgreiche Integration und für erfolgreiche In- der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜND-
tegrationspolitik. Die FDP begrüßt den Wandel der Prio- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was will die Bundes-
ritäten in der migrationspolitischen Debatte, den Wandel regierung?)
hin zu einem Fördern und Fordern, mit verbindlichen
In Deutschland gilt die Meinungs- und Religions-
Leistungen von beiden Seiten.
freiheit. Dies ist fundamental für unsere Werteordnung,
Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland.
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wer unseren Staat und unser Land immer nur kritisch
Auch in Stuttgart!)
beäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich damit
identifizieren. Die kurdischstämmige deutsche Journa- und dazu gehört auch, Religionen kritisieren und kari-
listin Mely Kiyak hob in einem Beitrag für das Goethe- kieren zu dürfen. Religionsfreiheit ist kein Freibrief,
Institut hervor, sie habe keine Angst vor Worten wie sondern findet ihre Grenzen in anderen Grundrechten
Kultur, Nation und Deutsch. Diese Worte seien aus ihrer unserer Verfassung. Toleranz gegenüber religiösen Über-
Sicht angefüllt mit vielem, was ihr gefällt, mit Goethe, zeugungen und Praktiken endet da, wo die freiheitlich-
Schiller oder Heine. Sie forderte uns auf, wieder deutlich demokratische Grundordnung infrage gestellt wird oder
6798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


(A) Grundrechte verletzt werden. Vermeintlich religiöses Harald Wolf, Senator (Berlin): (C)
Brauchtum oder Traditionen müssen kritisch hinterfragt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
werden, wo sie der Kultivierung von Werten dienen, die in dieser Republik in den letzten Wochen eine intensive
im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes Diskussion über Integration, über Einwanderung ge-
stehen. Das Bekenntnis zu einer Religion berechtigt führt. Es war eine Diskussion, in der uns viele Beiträge
nicht zur Aufhebung der Schulpflicht, berechtigt nicht nicht unbedingt klüger gemacht haben.
zur Befreiung von ordentlichen Unterrichtsfächern wie
Sport und Schwimmen oder zur Nichtteilnahme an (Rüdiger Veit [SPD]: Sehr wahr!)
Schullandheimaufenthalten. Das gilt zuallererst für meinen Exkollegen Sarrazin.
Wenn heute der Islam, wie es Bundespräsident Wulff
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
richtig sagte, zur Wirklichkeit der deutschen Gesell-
neten der SPD)
schaft gehört, so beruht doch das Wertefundament unse-
rer Kultur und Rechtsordnung auf der griechischen und Wer eine ganze Bevölkerungsgruppe, wer eine ganze
römischen Antike und auf der christlich-jüdischen Tradi- Religionsgemeinschaft für nicht integrationsfähig er-
tion. Wer sich dauerhaft in Deutschland niederlässt, ak- klärt, wer sagt: „Von denen sind zu viele hier, und die
zeptiert das mit diesem Schritt. In Deutschland gilt die sind per se dümmer als die anderen“, der leistet keinen
Gleichberechtigung der Frau, und das ist für alle hier- Beitrag zur Integration, der grenzt aus, der schürt
zulande verbindlich. dumme Ressentiments und rassistische Vorurteile, und
das ist alles andere als das, was wir brauchen in diesem
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Land.
Die Zwangsheirat etwa ist damit unvereinbar. Wir
werden noch in diesem Jahr einen eigenständigen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Straftatbestand zur Bekämpfung der Zwangsheirat ein- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
bringen. GRÜNEN)

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Ich sage aber auch – ich teile vieles von dem, was Sie
GRÜNEN]: Zwangsheirat ist schon strafbar! – gesagt haben, Herr Scholz –: Wenn eine Partei feststellt,
Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass es in ihrer Anhängerschaft Sympathien für diese
Was wollen Sie für die Opfer tun?) Auffassung gibt

Dabei müssen nicht nur die Täter bestraft, sondern auch (Thomas Oppermann [SPD]: Wovon reden Sie
die Opfer unterstützt werden, etwa indem wir die Hür- eigentlich?)
(B) den beim Rückkehrrecht für Zwangsverheiratete ab- (D)
und sie dann in der Diskussion einen Schwerpunkt da-
bauen. rauf legt, dass Integrationsverweigerung – das ist ja
Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwande- neuerdings das Wort – mit Sanktionen belegt werden
rung in einen leeren Raum, sondern in eine in zwei Jahr- muss, dann geht sie am eigentlichen Thema vorbei, näm-
tausenden gewachsene Kulturlandschaft. Als Sprach-, lich an der Fragestellung: Was sind die Ursachen für die
Rechts- und Wertegemeinschaft räumen wir Zuwande- von ihr beklagte Abschottung, die es bei einzelnen Tei-
rern die Möglichkeit ein, diese Errungenschaften zu nut- len der Migrationsbevölkerung in der Tat gibt? Das ist
zen und zu teilen. Umgekehrt ist niemand gezwungen, in nämlich die Tatsache, dass diese Gesellschaft ihnen
Deutschland zu leben, der das nicht will. nicht gleiche Rechte, nicht gleiche Teilhabe gewährt und
sie in dieser Gesellschaft nicht sozial partizipieren lässt.
Da liegt die Ursache, und daran müssen wir arbeiten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, schauen Sie bitte gelegentlich auf die (Beifall bei der LINKEN)
Uhr.
Meine Damen und Herren, wir brauchen in diesem
Land ein Selbstverständnis darüber, dass wir Einwande-
Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): rung wollen, dass wir eine positive Grundhaltung zur
Vielen Dank, das werde ich tun. – Wir können es er- Einwanderung haben. Das ist auch die Voraussetzung
reichen, dass statt abgeschotteten Parallelgesellschaften dafür, dass wir die Konflikte, die mit Einwanderung ver-
eine Verbindung zwischen Alteingesessenen und Zu- bunden sind, bewältigen, diskutieren und austragen kön-
wanderern entsteht. Die Koalition wird dieses durch För- nen.
dern und Fordern gestalten und so den Zusammenhalt
unserer durch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft Hier ist mehrfach das Stichwort Zwangsverheira-
stärken. tung gefallen. Natürlich ist dies etwas, was wir in
Deutschland nicht akzeptieren können und was auch
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nicht akzeptabel ist; darin sind wir uns alle einig. Ich
sage aber: Wir müssen auch darüber reden, was alles
Präsident Dr. Norbert Lammert: hinter deutschen Wänden geschieht, welche Gewalt ge-
Das Wort erhält nun der Berliner Bürgermeister und gen Frauen ausgeübt wird. Das ist ein gesellschaftliches
Senator Harald Wolf. Problem und nicht nur ein Migrationsproblem.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6799
Senator Harald Wolf (Berlin)
(A) Ich bin froh, dass der Bundespräsident in seiner Rede det, wenn man politische Maßnahmen ergreift, dann (C)
eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hat, um nicht kann man auch die Abbrecherquote und das Bildungs-
zu sagen, eine Banalität, nämlich die Banalität, dass, versagen reduzieren.
wenn wir eine Vielzahl von Menschen haben, die einge-
Deshalb haben wir in den zwei Legislaturperioden, in
wandert und islamischen Glaubens sind, die Bestandteil
denen diese Koalition in Berlin regiert, zwei Integra-
dieser Gesellschaft sind, damit auch der Islam Bestand-
tionskonzepte mit dem Motto aufgelegt: Vielfalt fördern,
teil dieser Gesellschaft ist. Das ist eine Banalität, meine
Zusammenhalt stärken. Das ist unser Motto in der Inte-
Damen und Herren, und ich bin erstaunt darüber, dass es
grationspolitik. Dabei ist die Bildungspolitik eine
angesichts dessen jetzt wieder diese unsägliche Diskus-
Schlüsselfrage. Wir brauchen eine Veränderung der In-
sion zum Beispiel in den Reihen der CDU/CSU über die
stitutionen in unserem Bildungssystem. Bildung darf
Frage gibt, was denn die Leitkultur in Deutschland ist.
nicht mehr ausgrenzend sein. Wir kommen auch hier, bei
Wenn man sagt, der Islam gehöre nicht zur Leitkultur,
der Integrationspolitik, wieder zu diesem Thema. Wir
dann sagt man diesen Menschen, dass sie nicht zu uns
brauchen ein Schulsystem, das nicht die Segregation för-
gehören. Genau das ist die Botschaft, die man auch wie-
dert, das nicht die Kinder frühzeitig auseinandersortiert:
der nicht braucht.
nach Einkommen der Eltern, nach Herkunft, nach Natio-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) nalität und nach Religion, sondern wir brauchen ein inte-
gratives Schulsystem, in dem die Kinder möglichst lange
Vielmehr müssen wir klar sagen: Das, was hier Leitkul- gemeinsam lernen, damit sie auch voneinander lernen
tur ist, sind Demokratie und Menschenrechte und sonst können und damit die Integration vorangetrieben werden
nichts, keine Weltanschauungen und keine religiösen kann.
Auffassungen.
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Mechthild Rawert [SPD])
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb haben wir uns in Berlin dafür entschieden,
Ich habe schon mehrfach gesagt, dass wir eine Will- die Hauptschule abzuschaffen. Die Hauptschule ist eine
kommenskultur gegenüber Einwanderern in diesem Restschule gewesen, in die frühzeitig diejenigen aussor-
Land brauchen. Dies setzt natürlich auch voraus, dass tiert worden sind, von denen man gesagt hat: Sie haben
wir die Immigrantinnen und Immigranten fördern. Sie keine ausreichende Chance. – Es ist ein Verbrechen an
haben in Ihrer Rede auch gesagt, Frau Böhmer, dass dies den Kindern gewesen,
notwendig ist, und an den schönen Leitsatz erinnert, den
wir auch aus anderen Bereichen kennen: Fördern und (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
(B) Fordern. Ich stelle allerdings fest, dass das Fordern deut- (D)
lich stärker als das Fördern betont wird. Herr Scholz hat ihnen im frühesten Alter zu sagen: Ihr habt keine Per-
angesprochen, dass die Mittel für Integrationskurse und spektive mehr in dieser Gesellschaft.
Deutschkurse nicht ausreichend sind. Teilweise konnten
Maßnahmen in diesem Jahr wegen fehlender Mittel nicht Das war auch die Grundlage dafür, dass es zu Zustän-
durchgeführt werden. Deshalb sage ich: Es ist Integra- den wie an der Rütli-Schule gekommen ist. Wir haben an
tionsverweigerung vonseiten der Bundesregierung, wenn der Rütli-Schule eine Vielzahl an Maßnahmen ergriffen.
hier keine ausreichenden Mittel zur Verfügung gestellt Sie ist heute eine Vorzeigeschule, an der es gute Bil-
werden. dungserfolge und gute Abschlüsse gibt.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wir haben das Ganztagsangebot ausgebaut. Mit un-
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE serer Schulreform, bei der wir die Sekundarschule einge-
GRÜNEN) führt haben, in der Haupt-, Real- und Gesamtschule zu-
sammengefasst worden sind und die bis zum Abitur
Ich komme aus einem Bundesland, in dem über führen kann, haben wir ein verbindliches Ganztagsange-
40 Prozent der unter 18-Jährigen einen Migrationshin- bot geschaffen. Im Jahr 2011 werden alle Kitajahre ge-
tergrund haben. Wir können uns Integrationsverweige- bührenfrei sein. Auch das ist eine wichtige Vorausset-
rung nicht leisten. Integration ist eine zentrale Zukunfts- zung für Integration und dafür, dass alle in diesem Land
frage für unsere Stadt: die Frage, wie wir den Menschen, die gleiche Chance haben.
die eingewandert sind, gleiche Teilhabe, gleiche Chan-
cen in unserer Stadt geben können. Das geht allerdings (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
nur mit entsprechenden Anstrengungen und Maßnah- neten der SPD)
men. Wir haben zum Beispiel in den letzten sechs Jahren Bildung ist das eine Thema, Arbeit ist das andere
große Fortschritte bei der Reduzierung der Anzahl der Thema. Das Stichwort Berufsabschlüsse ist schon ange-
Jugendlichen mit Migrationshintergrund erzielt, die sprochen worden. Wir haben qualifizierte Menschen in
die Schule ohne Abschluss abgebrochen haben. Inner- diesem Land, die einen Berufsabschluss haben, die in
halb von sechs Jahren konnte deren Anteil um 50 Pro- diesem Beruf aber nicht arbeiten können. Das ist unter
zent reduziert werden. dem Gesichtspunkt der Integrationspolitik nicht akzepta-
(Beifall bei der LINKEN) bel. Es ist aber auch unter dem Gesichtspunkt der wirt-
schaftlichen Zukunft dieses Landes nicht akzeptabel,
Er ist immer noch zu hoch; aber eine Reduktion um dass man die Fähigkeiten, die Qualifikationen und die
50 Prozent zeigt: Wenn man sich den Menschen zuwen- Talente Zehntausender Menschen ungenutzt lässt und sie
6800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Senator Harald Wolf (Berlin)


(A) da vom Arbeiten abhält, wo sie ihre Qualifikationen und ziale, kulturelle und ökonomische Teilhabe für alle Men- (C)
ihre Fähigkeiten einbringen könnten. schen, die in diesem Land leben, gibt. Für uns stellen In-
tegration, gleichberechtigte Teilhabe und gleiche
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Chancen für Menschen, die in dieses Land eingewandert
neten der SPD) sind, eine zentrale Frage der Demokratie und der so-
Deshalb brauchen wir dringend die Regelung zur Aner- zialen Gerechtigkeit dar. Hiermit sind neue Probleme
kennung der Berufsabschlüsse. verbunden, und hierdurch werden neue Fragen aufge-
worfen; so besteht etwa ein erheblicher Veränderungsbe-
Wenn Menschen mit einem ungesicherten Aufent- darf auch im Institutionensystem der Bundesrepublik
haltsstatus per Gesetz vom Arbeiten abgehalten werden, Deutschland. Wir können nicht nur Veränderungen bei
braucht man sich nicht zu wundern, dass Integration denen, die die hier eingewandert sind, verlangen; nein,
nicht funktioniert. Wir müssen für die Menschen, die diese Gesellschaft muss sich ändern, damit sie für Men-
dauerhaft hier leben, auch dann, wenn sie einen ungesi- schen mit Migrationshintergrund aufnahmefähig wird
cherten Aufenthaltsstatus haben, den gleichen Zugang und ihnen gleiche Chancen eröffnet.
zu Bildung und Arbeit gewährleisten. Das ist eine zen-
trale Voraussetzung für Integration und dafür, dass die Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Einwanderung in dieses Land gelingt.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
GRÜNEN)
Dazu gehört noch etwas, meine Damen und Herren: Präsident Dr. Norbert Lammert:
gleiche politische Rechte in diesem Land. Nur wer hier Der Kollege Memet Kilic ist der nächste Redner für
mitbestimmen kann, nur wer hier an politischen Ent- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
scheidungen gleichberechtigt mitwirken kann, wird sich
auch mit diesem Gemeinwesen identifizieren können.
Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Man kann doch nicht glauben, dass Menschen, die man
vom Wahlrecht ausschließt, die politischen Entscheidun- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
gen, die ohne ihre Mitwirkung getroffen werden können, Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
mit Begeisterung hinnehmen. Selbst von denen, die das Der Lagebericht der Integrationsbeauftragten ist zwar er-
Wahlrecht haben, werden nicht alle politischen Entschei- neut ein profundes Nachschlagewerk, aber man fragt
dungen mit Begeisterung hingenommen. sich auch: Wie will die Bundesregierung die dargestell-
(B) ten Probleme lösen? Wofür steht diese Bundesregierung (D)
(Jörg van Essen [FDP]: Hauptsache, sie wer- überhaupt? Diese Fragen drängen sich auf, auch und ge-
den hingenommen! – Rüdiger Veit [SPD]: rade nach der inzwischen fünfjährigen Amtszeit von
Oder die Begeisterung lässt nach!) Frau Dr. Böhmer. Das Fehlen notwendiger Schlussfolge-
rungen aus ihrem Lagebericht ist Ausdruck der Ideen-
Das heißt, wir brauchen eine Entwicklung, bei der wir
und Konzeptlosigkeit dieser Bundesregierung.
den Menschen, die in dieses Land eingewandert sind,
gleiche Teilhabe am politischen Geschehen ermöglichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
neten der SPD und des Abg. Memet Kilic KEN)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Frau
Wir brauchen eine Öffnung aller gesellschaftlichen Dr. Böhmer nicht als Fürsprecherin von Migrantinnen
Institutionen. Wir brauchen mehr Menschen mit Migra- und Migranten versteht, sondern vielmehr als Sprach-
tionshintergrund im öffentlichen Dienst. Wir müssen in rohr der konservativen Regierung. Besonders deutlich
den Unternehmen das Bewusstsein dafür schaffen, dass wird dies daran, dass gleichzeitig zu der anhaltenden De-
zu ihren Kunden auch Menschen mit Migrationshinter- batte über vermeintliche Integrationsverweigerer Kür-
grund zählen, dass sich das auch in den Belegschaften zungen bei den Integrationskursen vorgenommen wer-
und in den Führungsebenen widerspiegeln muss. den. Im Laufe dieses Jahres hat die Bundesregierung
erhebliche Kürzungen bei den Integrationskursen durch-
Um nur ein Beispiel zu nennen: Wir haben gegenwär- geführt. So wurde insbesondere die Kurszulassung von
tig in der deutschen Medienlandschaft einen Migrations- freiwilligen Teilnehmern eingeschränkt, was dazu führt,
anteil von 2 Prozent. Wenn wir der gesellschaftlichen dass bereits heute 9 000 hochmotivierte Einwanderinnen
Realität in diesem Land Rechnung tragen würden, und Einwanderer auf einen Kursplatz warten müssen.
müsste dieser Anteil fast zehnmal so hoch sein. Das Bis zum Jahresende wird wegen der Einsparmaßnahmen
zeigt, welche Aufgabe wir noch vor uns haben, um in der der Bundesregierung voraussichtlich sogar 20 000 inte-
Integration weiter voranzukommen. grationswilligen Personen der Besuch von Deutschkur-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sen verwehrt. Was haben Unionspolitiker dagegen ge-
neten der SPD) tan? Gar nichts! Sie haben nichts Besseres zu tun, als
aufgeregt über weitere Verschärfungen zu reden. Das ist
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist eine ein falscher Weg. Das ist ein Irrweg. Das ist unverant-
große Herausforderung, daran zu arbeiten, dass es so- wortlich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6801
Memet Kilic
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Lagebericht enthält auch keine Vorschläge zu (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Strukturänderungen und keine Empfehlungen an die
KEN) Bundesländer für den Bildungsbereich. Nach wie vor
verlassen Jugendliche mit Migrationshintergrund die
Erstens wissen wir überhaupt nicht, wie viele Inte- Schule annähernd doppelt so häufig ohne Abschluss wie
grationsverweigerer es tatsächlich gibt. Nur 40 Prozent die ohne Migrationshintergrund. Was sind also die Ver-
der Einwanderer sind zur Teilnahme verpflichtet; sprechungen der Bundesregierung auf den diversen Inte-
60 Prozent besuchen die Integrationskurse freiwillig. grations- und Bildungsgipfeln wert?
Wie viele Einwanderer sich ihrer Teilnahmepflicht aus
welchen Gründen entziehen, wird überhaupt nicht Wir brauchen ein neues Bildungssystem, das Kinder
erfasst. Auf meine schriftliche Frage, wie die Zahl von unabhängig von ihrer sozialen Herkunft dabei fördert,
10 bis 15 Prozent Integrationsverweigerer ermittelt wurde, die Schule bis zum Abitur zu besuchen. Das Dreiklas-
bekam ich eine hilflos zusammengewürfelte Antwort mit senschulsystem aus dem 19. Jahrhundert bewirkt mit sei-
Verweis auf verschiedenste Studien, die diese Aussage ner sozialen Selektion genau das Gegenteil. Neunjährige
allerdings überhaupt nicht stützten. Die Studien sagen Kinder haben Zukunftsängste, weil sie nicht wissen, bei
nichts über den Integrationswillen von Einwanderern aus welcher Schulart sie landen. Wenn sie auf der Haupt-
und beziehen sich überhaupt nur auf bestimmte Teile der schule landen, wissen sie, dass sie auf das Abstellgleis
Einwanderer. gestellt worden sind. Das kann nicht die Zukunft unserer
Republik sein. Wir müssen dieses Schulsystem reformie-
Zweitens gibt es bereits eine Reihe von Sanktions- ren.
möglichkeiten. Sie reichen von Bußgeld über die Strei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
chung von Sozialhilfe bis hin zur Ausweisung. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Solange die Zahl der Integrationsverweigerer unbe- KEN)
kannt ist und die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten Wer sich jedoch wie die Bundesregierung hartnäckig
angeblich nicht genutzt werden, ist die Forderung nach weigert, hier ein Problem der strukturellen Diskriminie-
weiteren Verschärfungen völlig absurd und mehr als är- rung zu erkennen, ist auch nicht in der Lage, adäquate
gerlich. Denn die unseriösen Aussagen über integra- Lösungsvorschläge zu entwickeln.
tionsunwillige Migranten prägen zu Unrecht ein negati-
ves Bild von Einwanderinnen und Einwanderern. Das Sehr geehrte Frau Böhmer, es ist nicht sachgemäß, die
darf nicht sein. Unsere Mitmenschen haben das nicht Integration auf Sprachkenntnisse zu reduzieren. Integra-
verdient, meine Damen und Herren! tion ist Teilhabe. Wir müssen erklären, was wir mit den
(B) jungen Menschen machen, die bereits sehr gut Deutsch (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können. Die Migrantenkinder der dritten Generation ha-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- ben ein Studium an einer der Universitäten dieses Lan-
KEN) des absolviert, sind aber oft nur gut genug, um Taxi zu
fahren.
Nach jüngsten Umfragen haben 68 Prozent aller deut-
schen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unseren Mi- Wir müssen erklären, warum in unserem öffentlichen
granten positive persönliche Erfahrungen gemacht. Das Dienst so wenige Migrantenkinder beschäftigt sind. Die
ist der beste Beweis dafür, dass entsprechende Phantom- größte Parallelgesellschaft in unserem Land ist der öf-
debatten nur unserem Zusammenhalt schaden und das fentliche Dienst;
Klima vergiften können. Sie bringen nichts. Deshalb (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der
müssen wir diese Debatten wirklich unterlassen. LINKEN)
Auch in anderen Bereichen wie der Einbürgerung das muss sich ändern.
und der Bildung, dem Kernstück einer erfolgreichen In-
tegrationspolitik, offenbart der Lagebericht den Reform- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
unwillen der Bundesregierung und die Untätigkeit der Frau Dr. Böhmer hat zwar eine Migrantenquote von
Integrationsbeauftragten. Die ohnehin niedrigen Ein- 20 Prozent im öffentlichen Dienst gefordert; aber ihren
bürgerungszahlen sind seit 2004 um rund ein Fünftel schönen Worten folgen keine Taten.
eingebrochen. In Ihrem Lagebericht findet sich kein
Wort dazu, inwiefern das Ausklammern des Themas Präsident Dr. Norbert Lammert:
Einbürgerung bei den Integrationsgipfeln, die Verschär-
Herr Kollege, bitte werfen Sie einen Blick auf die
fung bei den Einbürgerungsmöglichkeiten oder das
Uhr.
ideologische Festhalten an der Vermeidung der Mehr-
staatigkeit zu dieser Entwicklung beigetragen haben,
und kein Vorschlag dazu, wie die Integrationsbeauf- Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
tragte gegensteuern möchte. Keine Meinung, keine Ah- Gerne. – Die populistischen Grabenkämpfe zwischen
nung, kein Konzept – so sieht es aus! „uns“ und „denen“ helfen uns wirklich nicht; eine Stig-
matisierung ist nicht hilfreich. Deshalb meine ich: Wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen ein Wirgefühl entwickeln. Dies ist unser Land;
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- wir Einwanderer und unsere Nachkommen lieben unser
KEN) Land Deutschland. Wir werden unsere freiheitliche de-
6802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Memet Kilic
(A) mokratische Grundordnung mit verteidigen. Wir werden und insbesondere der Beauftragten Frau Staatsministerin (C)
unser Land Hand in Hand zu einem besseren Deutsch- Böhmer. Ihnen möchte ich für Ihre Arbeit herzlich dan-
land machen, in einem besseren Europa und einer besse- ken.
ren, friedlicheren Welt; das ist unser Anspruch, unser
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Traum.
neten der FDP)
Vielen herzlichen Dank.
Lieber Kollege Scholz, Ihre Bemerkung war durchaus
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN interessant, aber sie war falsch. Es war nicht die rot-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der grüne Bundesregierung, sondern die Bundesregierung,
LINKEN) die von Angela Merkel geführt wurde, die den Nationa-
len Integrationsplan, den Integrationsgipfel und die
Präsident Dr. Norbert Lammert: Islam-Konferenz eingeführt hat. Dies hätten Sie auch
Das Wort hat nun der hessische Ministerpräsident alles tun können. Warum Sie es nicht getan haben, weiß
Volker Bouffier. ich nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Weil Sie damals im Bundesrat alles zer-
Volker Bouffier, Ministerpräsident (Hessen): trümmert haben!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die hessi- Dass es eine christdemokratisch geführte Bundesregie-
sche Landesregierung hat dem Thema der Integration rung war, die dies eingeführt hat, erwähne ich heute mit
seit über zehn Jahren eine besonders wichtige Rolle zu- Dankbarkeit und mit Stolz.
gewiesen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Zuruf von der SPD: Das stimmt doch gar neten der FDP – Mechthild Rawert [SPD]:
nicht!) Eine Showveranstaltung!)
Wir haben uns sehr darüber gefreut, dass unsere Politik Der vorgelegte Bericht ist Zeugnis vielfältiger Initiati-
bundesweite Anerkennung erfahren hat. ven und Aktivitäten. Er bietet eine Fülle von Informatio-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen. Er zeigt Erfolge auf, und er weist auf Defizite hin.
Wenn wir die Debatte offen und gründlich führen wol-
Ich möchte deshalb in dieser Debatte einige Bemerkun- len, müssen wir alle zugeben, dass wir bei der Integra-
gen machen; sie werden sich unter anderem von dem, tion an vielen Stellen noch am Anfang stehen.
was Sie, Herr Senator Wolf aus Berlin, dazu ausgeführt (D)
(B) (Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
haben, deutlich unterscheiden.
Wie lange noch?)
Wir haben als Erste in Deutschland auf Landesebene
einen Integrationsbeirat geschaffen. Wir waren die Ers- Nicht zuletzt die heftigen Debatten der letzten Wochen
ten in Deutschland, die Deutschkurse vor der Einschu- haben uns gezeigt, wie groß die Herausforderungen auf
lung für alle Kinder verbindlich eingeführt haben. Wir diesem Wege noch sind.
waren die Ersten, die – sehr präzise – Einbürgerungs- (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]:
kurse gefordert haben. Herr Kollege Scholz, ich kann Außer in Hessen!)
mich sehr gut erinnern, dass diese Forderung damals
heftigst umstritten war, nicht zuletzt bei SPD und Grü- Viele Menschen in unserem Land empfinden das
nen. Heute ist das in Deutschland Allgemeingut. Das ist sichtbare Ausbreiten fremder Kulturen nicht als Be-
gut so. Deshalb können wir zunächst gemeinsam fest- reicherung, sondern als Bedrohung ihrer Identität. Nicht
stellen: Wir sind weitergekommen, selten haben die Menschen das Gefühl, dass die Politik
ihre Sorge nicht ernst nehme,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Michael Hartmann [Wackern- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie schüren
heim] [SPD]: Und ihr habt Unterschriften ge- doch die Ängste!)
sammelt!) dass falsch verstandene Political Correctness dafür
nicht zuletzt deshalb, weil manche von Illusionen Ab- sorge, dass man über diese Themen am besten nicht
schied genommen haben. spreche.
Überhaupt möchte ich feststellen, dass wir in (Mechthild Rawert [SPD]: Jetzt bin ich ge-
Deutschland die Herausforderungen der Integration bes- spannt, was als Nächstes kommt!)
ser bewältigt haben als manche unserer Nachbarländer.
Nur so kann man sich die massive Wirkung der Thesen
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Da hat er eines ehemaligen Vorstandsmitglieds der Deutschen
recht!) Bundesbank erklären. Es ist deshalb unsere gemeinsame
Pflicht, diese Sorgen aufzunehmen und bei den Bürgern
Diese Erfolge sind auch das Ergebnis der Arbeit der
das verlorengegangene Vertrauen wiederzuerwerben. Es
Bundesregierung
ist gut, dass wir diese Debatte engagiert und gründlich
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Mehrerer Bun- führen. Ein Klima des Misstrauens kann weder für die
desregierungen!) angestammte Bevölkerung noch für die Zuwanderer jene
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6803
Ministerpräsident Volker Bouffier (Hessen)
(A) Grundlage schaffen, die wir für gelungene Integration fen, Entwicklungen zu fördern, indem wir zum Beispiel (C)
brauchen. islamische Theologen an unseren Hochschulen ausbil-
den. Wir müssen hier in Deutschland Religionslehrer
Wir müssen diese Debatte offen, ohne Scheuklappen
ausbilden, die Deutsch sprechen, mit diesem Land ver-
und ohne Schaum vor dem Mund führen.
traut sind und sich als Teil dieser Gesellschaft verstehen.
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Und men-
Wenn wir über die Voraussetzungen einer gelungenen
schenwürdig!)
Integration sprechen, müssen wir auch anerkennen, dass
Wir müssen klar sagen: Gelungene Integration wird län- die vielen Menschen islamischen Glaubens zu diesem
ger brauchen, als viele dachten, sie wird schwieriger Land gehören. Dies gilt übrigens auch für die nicht we-
sein, als sich viele erhofften, und sie wird von uns allen nigen Bürgerinnen und Bürger, die bewusst keine reli-
mehr Kraft einfordern, als die meisten glauben. Sie wird giöse Bindung haben. Sie alle gehören zu unserem Land
und sie kann nur gelingen, wenn wir die Diskussion da- und sind Teil unserer Gesellschaft.
rüber engagiert und sachlich zugleich führen, mit Sorg-
falt in der Sprache, mit Klarheit in der Sache und in ge- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
genseitigem Respekt. NEN]: Können Sie sich nicht mal einen Ter-
min bei Herrn Wulff geben lassen?)
Frau Professor Böhmer hat recht – das haben alle
Redner eingeräumt –: Es ist eine Schlüsselfrage für un- Wenn man nach einem Weg sucht, sehr verehrte Frau
ser Land, wie es uns gelingt, vom Nebeneinander, vom Künast, die Zukunft gemeinsam zu gestalten, dann ist es
gelegentlichen Gegeneinander zu einem echten Mitein- wichtig, dass wir uns über unsere Identität im Klaren
ander zu kommen, um gemeinsam die Grundlagen für sind. Die Grundlagen unserer Gesellschaft und unseres
Erfolg und für friedliche Entwicklung für alle Seiten zu Staatsverständnisses sind die christlich-abendländische
legen. Tradition, ihre Kultur und die Aufklärung.

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
GRÜNEN]: Das lernen wir von der hessischen neten der FDP – Sevim Dağdelen [DIE
CDU!) LINKE]: Und das Grundgesetz! – Memet
Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jüdisch
Wenn das die Aufgabe ist – darauf müssten wir uns ge- haben Sie vergessen!)
meinsam verständigen können –, dann wird uns dies
nicht gelingen ohne einen Kompass, der uns anzeigt, wie Diese Grundlagen müssen auch in Zukunft gelten. Sie
und wohin sich unsere Gesellschaft entwickeln soll. müssen das Fundament unserer Gesellschaft bleiben.
Wir würden viel verlieren und nichts gewinnen – das gilt
(B) In diesem Zusammenhang ist oft und aus meiner insbesondere für den Respekt der Zuwanderer –, wenn (D)
Sicht häufig sehr verkrampft auf den Begriff der Leit- wir diese Leitplanken aufgeben. Das bedeutet konkret:
kultur verwiesen worden. Ich halte es für eine Selbst- Wir dürfen erwarten, dass Menschen, die sich freiwillig
verständlichkeit, dass der Weg in eine gemeinsame Zu- entschieden haben, hier zu leben, dieses Land mit seinen
kunft Leitplanken braucht, wenn er nicht zum Irrweg Gesetzen und Lebensweisen achten.
werden soll. Deshalb: Wir haben eine Leitkultur. Zu die-
ser Leitkultur gehört vor allen Dingen die Trennung von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Staat und Kirche. neten der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wir dürfen erwarten, dass sie zum Wohlstand des Lan-
Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – des, von dem sie sich ein besseres Leben erhoffen, bei-
Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Dann machen tragen, und sich nicht von dessen Bewohnern abgrenzen.
Sie einmal etwas!) Wir müssen erwarten, dass sie selbst ein Teil dieser Ge-
sellschaft werden wollen. Sie müssen ihre Herkunft und
Sie ist das Gegenmodell zur islamischen Scharia. Daraus ihre Religion nicht verleugnen. Sie sollen aber auch
folgt zwingend, dass die Scharia nicht die Grundlage ei- nicht beabsichtigen, der angestammten Bevölkerung ihre
ner gelungenen Integration in unserem Land sein kann. Religion und Kultur aufzudrängen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: Einen neten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Wer
Popanz bauen Sie hier auf! – Renate Künast macht das denn?)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Not in
Ihrer Partei scheint groß zu sein, dass Sie das Als aufnehmende Gesellschaft können wir Wege wei-
hier ablassen müssen!) sen und Hilfe anbieten. Wir können den Zuwanderern
aber nicht die Verantwortung für ihr Leben abnehmen.
Wir brauchen die Herausbildung eines Islam, den Zu dieser Verantwortung – darauf könnten wir uns wahr-
Bassam Tibi schon vor etlichen Jahren als europäischen scheinlich alle gemeinsam verständigen – muss es doch
Islam bezeichnete. Es muss uns gelingen, islamgläubi- gehören, die Landessprache zu lernen und die Kinder in
gen Menschen in unserem Land durch islamische Auto- Kindergärten und Schulen zu schicken.
ritäten ein Religionsverständnis zu vermitteln, das ihre
Treue zu ihrer Religion mit den Anforderungen eines sä- Im Hinblick auf unsere Integrationspolitik setzen wir
kularen Staates des 21. Jahrhunderts versöhnt. Die Poli- hohe Maßstäbe. Um es mit den Worten von Max Frisch
tik allein kann das nicht erreichen. Wir können aber hel- zu sagen: Wir wollen denen, denen die Heimat zur
6804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Ministerpräsident Volker Bouffier (Hessen)


(A) Fremde, die Fremde aber nicht zur Heimat geworden ist, ausschließen! Wenn das alles ist, was Ihnen (C)
eine Heimat geben. Wer sich in der Fremde immer wie einfällt!)
ein Fremder verhält, wird fremd bleiben und diese Hei-
Zu den Thesen von Herrn Sarrazin hatte ich übrigens
mat nicht finden. Heimat wird hier nur der finden, der
schon vor Veröffentlichung dieses Buches eine außer-
diese Heimat annimmt und sich auch klar zu diesem
ordentlich kritische Haltung. Ich darf an den Pullover für
Land bekennt.
Hartz-IV-Empfänger und die Verköstigung von armen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kindern erinnern.
neten der FDP)
Es gibt eine weitere aktuelle Begebenheit, die der
Herr Kollege Kilic, das ist ein offenes und faires An- Grund dafür ist, dass insbesondere in den Reihen der
gebot. Es sind klare Leitplanken, die besagen, wie eine CDU/CSU aufgeregt über Integration und Religion dis-
Zukunft aussehen soll, und zwar gestützt auf die Er- kutiert wird. Ich will mich jetzt nicht nur mit dem Thema
kenntnisse, die wir dem vorgelegten Bericht entnehmen Religion auseinandersetzen, aber man kann es heutzu-
können. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass diese tage kaum ausklammern – das haben auch meine Vorred-
Debatte intensiv weitergeführt wird und über die Schlag- ner nicht getan –, wenn es um den Bericht über die Lage
zeilen des Tages hinaus wirkt. Ich wünsche der Bundes- der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland geht.
regierung und vor allem auch Ihnen, Frau Professor Da 45 Prozent aller Muslime in Deutschland längst deut-
Böhmer, für Ihre Arbeit viel Erfolg. Die hessische Lan- sche Staatsbürger sind, trifft sie diese Diskussion nicht,
desregierung wird Sie auch in Zukunft engagiert unter- aber die anderen vielleicht. Da ich selten das Vergnügen
stützen. habe, den Herrn Bundespräsidenten oder die Frau Bun-
deskanzlerin gegenüber ihren eigenen Parteifreunden in
Herzlichen Dank. Schutz zu nehmen, kann ich es mir heute nicht verknei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fen, zu sagen: Ich persönlich bin der Auffassung, dass
das, was Herr Wulff in der Tradition der Äußerungen
Präsident Dr. Norbert Lammert:
von Herrn Schäuble zu dem Thema gesagt hat, eine
Selbstverständlichkeit ist. Bei dieser Gelegenheit darf
Das Wort erhält nun der Kollege Rüdiger Veit für die
ich vielleicht in unser aller Namen die besten Gene-
SPD-Fraktion.
sungswünsche an das Krankenbett von Wolfgang
(Beifall bei der SPD) Schäuble übermitteln.
(Beifall)
Rüdiger Veit (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Das, was der Bundespräsident zum Thema Islam ge-
(B) (D)
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie sagt hat, musste von der Bundeskanzlerin, wenn die Zei-
mich mit einem Punkt beginnen, über den ich mit mei- tungen das richtig wiedergegeben haben, in der CDU/
nem unmittelbaren Vorredner einer Meinung bin: Auch CSU-Fraktion erst einmal interpretiert werden. Sie hat
wir möchten Frau Professor Böhmer und all ihren Mit- gesagt, das bedeute natürlich nicht, dass der Islam das
arbeitern – denen, die hier sind, und auch denen, die das Fundament des kulturellen Verständnisses Deutschlands
jetzt im Fernsehen verfolgen – ganz herzlich für die he- sei. Das hat der Bundespräsident wohl in der Tat nicht
rausragende und wirklich gewichtige Arbeit danken. Es sagen wollen. Da er nur auf ein selbstverständliches Fak-
ist schon gesagt worden, dass es sich um ein recht pro- tum hingewiesen hat, ist die Aufregung in der Union für
fundes Datenmaterial handelt. Ich teile – das liegt in der mich nicht verständlich. Ich denke an die Äußerungen
Natur der Sache – nicht alle Schlussfolgerungen, aber von Herrn Geis, Herrn Friedrich, Hans-Peter Uhl und
doch manche. – diesbezüglich grenze ich mich ab – von Herrn
Buschkowsky aus unseren Reihen. Ich wünsche mir
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht, dass Sie uns eines Tages bezichtigen, die Äuße-
Gibt es überhaupt Schlussfolgerungen? Ich rungen des Bundespräsidenten uminterpretiert zu haben,
konnte nichts feststellen!) weil er etwas gesagt hat, das Sie nicht für gut und richtig
halten.
Wenn meine Redezeit dafür reicht, komme ich vielleicht
auf das eine oder andere zurück. Bevor ich zum sogenannten Ausländerbericht
komme, muss ich eine andere wichtige Klarstellung an-
Es gibt mindestens zwei aktuelle Ereignisse, deretwe-
bringen, und zwar zur Rede meines Vorredners, Volker
gen mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger ge-
Bouffier: Bei aller Verbundenheit über nunmehr 30 Jahre
haltvoll und mehr oder weniger erkenntnisreich über In-
darf ich auf einen heftigen Gegensatz hinweisen. Ich
tegration gesprochen wird. Ein Grund – Frau Professor
wäre bis zum heutigen Tage nicht auf die Idee gekom-
Böhmer hat das Thema eingebracht – sind die Thesen
men, ausgerechnet die hessische CDU dafür zu loben,
von Herrn Sarrazin. Herr Bürgermeister und Senator
dass sie seit Jahrzehnten Politik im Zeichen der Integra-
Wolf, wir Sozialdemokraten können mit diesem Problem
tion macht.
umgehen und benötigen keine hilfreiche Unterstützung,
auch nicht von Ihnen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der LINKEN)
(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Na,
na, na! – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] Ihr habt in der Tat Nachholbedarf. Dein von mir persön-
[CDU/CSU]: Sie wollen ihn aus der Partei lich wesentlich weniger geschätzter unmittelbarer Amts-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6805
Rüdiger Veit
(A) vorgänger kam, wenn ich mich richtig erinnere, im Sie waren es, die bei der Abschaffung von Duldung (C)
Landtagswahlkampf 1998/99 kurz vor Weihnachten auf und Kettenduldung blockiert haben, und zwar mit dem
die Idee, in jeder Hinsicht gegen die doppelte Staatsbür- Erfolg, dass wir uns noch heute über Bleiberechtsrege-
gerschaft lungen und die Frage, inwieweit diese Duldungen und
Kettenduldungen in der Tat Integrationshemmnisse sind,
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE intensiv Gedanken machen müssen. Dazu gibt es übri-
GRÜNEN]: Gegen Ausländer!) gens interessante Ausführungen in dem Bericht – ich
habe keine Zeit, es vorzulesen – auf den Seiten 483 ff.
mobil zu machen, weil er glaubte, dass nur noch dadurch
das Ruder herumzureißen sei und die Wähler nur durch Sie haben erst jetzt entdeckt – spät ist vielleicht noch
eine Kampagne gegen Ausländer zu mobilisieren seien. nicht zu spät –, dass man bei der Gewährung der elemen-
Das war nicht besonders integrationsfreundlich. Das war tarsten Menschenrechte für hier in Deutschland illegal
das genaue Gegenteil. lebende Menschen vielleicht ein bisschen nachbessern
muss, zum Beispiel wenn es um die Frage geht, ob man
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit den bestehenden Übermittlungspflichten nicht eine
DIE GRÜNEN – Dr. Franz Josef Jung [CDU/ angemessene gesundheitliche Versorgung gerade von
CSU]: Das hieß aber „Ja zur Integration“!) Kindern oder den Schulbesuch verhindert. Sie sind es
Ich erinnere mich nicht nur sehr gut daran, dass es im gewesen, die jetzt erst – das war uns in der Großen Ko-
Winter 2008 ekelhaft kalt war – das war der schlimmste alition leider nicht vergönnt – erkannt haben, dass wir
Straßenwahlkampf überhaupt –, sondern auch daran, ein erweitertes Rückkehrrecht der Opfer von Zwangshei-
dass damals wiederum dein von mir nicht so sehr ge- rat haben müssen.
schätzter Amtsvorgänger am Beispiel krimineller ju- Sie sind es übrigens bis zum heutigen Tage, die im
gendlicher Ausländer versucht hat, Wählerstimmen zu Bereich des Kommunalwahlrechts für Drittstaatsangehö-
fangen. Dabei ist er vom Vorsitzenden der CDU-Frak- rige hier in Deutschland heftig auf der Bremse stehen,
tion im Land Hessen, Christean Wagner, noch getoppt die das verhindern wollen, die sich stets und ständig da-
worden. In den letzten 14 Tagen dieses Wahlkampfs ha- gegen aussprechen und hier auch dagegen stimmen. Sie
ben die beiden, wenn ich das richtig beobachtet habe, sind es, denen wir das diskussionswürdige Problem hin-
überwiegend gegen sich selbst und ihre eigenen Äuße- sichtlich des Erwerbs vorheriger Sprachkenntnisse von
rungen Wahlkampf geführt. Das war vielleicht der Un- Ehegatten im Ausland zu verdanken haben.
terschied zu 1999.
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wo ist das
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Problem?)
(B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D)
Schließlich und letztendlich: Sie haben zwar jetzt die
Ich möchte im Rahmen der kurzen mir noch zur Ver- Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention formal ab-
fügung stehenden Redezeit noch auf etwas hinweisen. geschafft, aber Sie weigern sich, zur Kenntnis zu neh-
Passen Sie bitte in der Debatte jetzt und in Zukunft auf, men, dass das entsprechende Veränderungen des Aufent-
dass es nicht ausgerechnet die Union ist – und jetzt haltsrechtes bei der Frage der Handlungsfähigkeit von
manchmal auch die FDP –, die sich anhand einer ganzen 16- bis 18-jährigen jungen Leuten hat.
Reihe von Beispielen folgenden Vorwurf, wie ich finde,
noch einmal deutlich anhören muss: Seit nunmehr über Diese ganze Reihe – ich könnte sie beliebig fortset-
zwölf Jahren – ich habe das miterlebt, gelegentlich mit- zen; zwölf Jahre sind eine lange Zeit – zeigt: Sie haben
gestaltet, manchmal sogar auch mit gelitten – hat ausge- erheblichen Nachholbedarf, wenn es darum geht, durch
rechnet die Union zu rot-grünen Zeiten und als Koali- gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht und im
tionspartner in der Großen Koalition entweder hier oder Staatsangehörigkeitsrecht die elementarsten Vorausset-
im Bundesrat, den wir praktisch für jede Gesetzesände- zungen dafür zu schaffen, dass sich Menschen ausländi-
rung auf diesem Gebiet brauchen – ausgenommen Inte- scher Herkunft in Deutschland überhaupt integrieren
grationskurse; da sind Sie nach dem Motto „learning by können.
doing“ vom Grundsatz her jetzt ganz gut dabei –, verhin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
dert, was wir umsetzen wollten. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Sie reklamieren die Integrationskurse jetzt für sich; das Herr Kollege.
ist gut. Wir haben sie gegen Ihren Widerstand durchge-
setzt. Wir haben damals die Staatsbürgerschaftsreform
nur um den Preis bekommen, dass wir das Verbot der Rüdiger Veit (SPD):
Hinnahme von Mehrstaatlichkeit in das Gesetz geschrie- Herr Präsident, ich komme zum Schluss. – Ich hoffe
ben haben, was nicht gerade rauschenden Erfolg hatte. nicht, dass man im Ergebnis sagen muss und dass Sie
Das sieht man, wenn man die Einbürgerungszahlen be- sich dieses Prädikat anziehen wollen: Wir verweigern
trachtet. von staatlicher Seite die Integration dadurch, dass wir
die elementarsten Voraussetzungen im Bereich des
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rechtes, das unserer Beeinflussung unterliegt, nicht ge-
Richtig!) schaffen haben. Deswegen hoffe ich, dass Sie im Lichte
6806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Rüdiger Veit
(A) der jetzigen Debatte und dieses profunden Berichtes Serkan Tören (FDP): (C)
vielleicht zu anderen Erkenntnissen kommen. Ja, gerne.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das können Sie jetzt aber nicht im Einzelnen auflis- Herr Kollege Tören, Sie sind ja neu im Hohen Hause.
ten. Wären Sie vielleicht bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass das rot-grüne Zuwanderungsgesetz, das wegen der
Neinstimmen aus dem Lager von Union und FDP leider
Rüdiger Veit (SPD):
zwei Anläufe brauchte, das erste Ausländerrecht war, in
Herr Präsident, diese Hoffnung wollte ich noch zum dem Integrationskurse für Neuzuwanderer verbindlich
Ausdruck bringen. festgelegt wurden – es war ein Rechtsanspruch und eine
Danke für Ihre Geduld. Pflicht für die Zuwanderer, innerhalb von zwei Jahren
von diesem Rechtsanspruch Gebrauch zu machen –, dass
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir unter den vorherigen schwarz-gelben Koalitionen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) jahrzehntelang ein Ausländerrecht hatten, in dem die In-
tegration in keiner Weise geregelt war, und dass wir die
Präsident Dr. Norbert Lammert: gesamte Debatte um nachholende Integration nicht füh-
Der Kollege Serkan Tören ist für die FDP-Fraktion ren müssten, wenn wir das, was wir im Zuwanderungs-
der nächste Redner. gesetz beschlossen haben, 30 Jahre früher beschlossen
hätten, weil wir die Probleme, über die wir heute reden,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dann gar nicht erst bekommen hätten?
der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD)
Serkan Tören (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wun- Damals war es Ihre sogenannte bürgerliche Mehrheit,
dere mich sehr, Herr Kollege Veit und Herr Kollege die sich verweigert hat, zu akzeptieren, dass Zuwande-
Scholz, über die Forderungen, die Sie zum Schluss Stück rung stattfindet. Sie haben von Gastarbeitern, die wieder
für Stück aufgezählt haben. Davon haben Sie unter Rot- gehen, gesprochen und der Bevölkerung Sand in die Au-
Grün nie gesprochen, und Sie haben auch nichts davon gen gestreut,
umgesetzt. (Sibylle Laurischk [FDP]: Ach, Herr Beck!
Was soll denn das jetzt wieder?)
(B) (Rüdiger Veit [SPD]: Doch! Ständig! – Jerzy (D)
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er statt sich von Anfang an mit dem Thema Integration zu
war nicht dabei!) befassen.
Ich finde es sehr interessant, dass Sie jetzt, etwa ein Jahr
seit Sie nicht mehr in Regierungsverantwortung sind, Präsident Dr. Norbert Lammert:
diese Forderungen aufstellen. Herr Kollege Beck, Sie wollten eine Zwischenfrage
stellen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND-
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat die Integrati-
Ja. Das habe ich auch getan.
onskurse eingeführt?)
Das verstehen Sie unter Integrationspolitik. Übrigens, Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Scholz, reden und nicht handeln, das kann Ach so. Das war mir nicht aufgefallen. Deswegen
man Ihnen vorwerfen. Welche Bilanz hatten Sie nach habe ich nur daran erinnern wollen.
sieben Jahren? Nennen Sie mir eine einzige Maßnahme
im Bereich der Integrationspolitik, die Sie durchgesetzt
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
haben. Nennen Sie etwas, das uns weitergeholfen hat.
Dazu findet sich nichts in Ihrer Bilanz, im Gegenteil: Sie Es kam ein Fragezeichen. Ich werde es Ihnen im Pro-
sperren sich auch einer Diskussion, die wir jetzt benöti- tokoll zeigen.
gen. Herrn Buschkowsky hörten Sie meist gar nicht zu; (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Sie laden ihn jetzt ein, wo es Ihnen genehm ist. Jahre- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
lang war er für Sie gar nicht sichtbar; auch das muss man
einmal feststellen. Erst jetzt, da es Ihnen genehm ist, fan- Serkan Tören (FDP):
gen Sie an, Herrn Buschkowsky zu zitieren oder in Fern- Herr Kollege Beck, ich merke schon: Die Kritik, die
sehsendungen einzuladen. Entschuldigen Sie, aber das ich gerade geäußert habe, schmerzt Sie. Das, was ich ge-
verstehe ich nicht. sagt habe, scheint wohl richtig zu sein.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Kollege Tören, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Keine der Maßnahmen, die Herr Veit vorhin genannt hat,
Kollegen Beck? haben Sie umgesetzt; das muss man einmal feststellen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6807
Serkan Tören
(A) (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Was für ein Ich sage an dieser Stelle ganz offen: Natürlich gibt es (C)
Ausmaß der Ignoranz! Das ist ja unglaub- noch Verbesserungsbedarf; die Baustellen sind uns be-
lich! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ kannt. Dennoch: Die Integrationskurse sind eine Er-
DIE GRÜNEN]: Sie sind ahnungslos!) folgsgeschichte. Seit 2005 haben mehr als 600 000 Mi-
granten an einem solchen Kurs teilgenommen; weit
„Warum Deutschland an der Integration scheiterte“, mehr als die Hälfte davon waren Freiwillige. Das ist eine
so titelte vor ein paar Wochen ein großes deutsches tolle Bilanz. Diese Erfolgsgeschichte wird weitergehen.
Nachrichtenmagazin. Ich sage Ihnen ganz offen: Als Trotz angespannter Haushaltslage werden wir hierfür
Bürger mit Migrationshintergrund, wie es so schön 2011 einen Betrag von 218 Millionen Euro zur Verfü-
heißt, und Innenpolitiker halte ich diesen Titel für ver- gung stellen. Das ist ein klares Bekenntnis zur Integra-
fehlt. tionspolitik.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte ein Thema ansprechen, dem wir uns wie-
NEN]: Was? Sie sind Innenpolitiker?) der viel bewusster stellen müssen; die aktuelle Debatte
Es ist doch mittlerweile Konsens: Wir haben jahrzehnte- um die Äußerungen unseres Bundespräsidenten zeigt
lang versäumt, eine aktive und gestaltende Zuwande- diesen Bedarf deutlich. Es geht um die Fragen: Was wol-
rungspolitik zu machen. Integration passiert nicht ein- len wir von unseren Zuwanderern verlangen? Was kön-
fach so. Integration muss begleitet, gefördert und – das nen Zuwanderer von uns erwarten? Es geht um Zielstel-
sage ich ganz klar – auch eingefordert werden. lungen und um ein gemeinsames Leitbild. Diese sind
unabdingbar für die Motivation von Migranten und ins-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten besondere auch für unser Gemeinwesen. An dieser Stelle
der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜND- warne ich aber auch vor einer falsch verstandenen Tole-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Jetzt wird er auf ranz. Sie ist in meinen Augen das andere Spektrum der
einmal ganz seriös!) unsachlichen Debatte.
Die Versäumnisse sind Mahnung und Begründung für Mitglieder von Migrantengruppen und ihre Nach-
viele der heutigen Herausforderungen in der Integra- kommen verdienen es, als Individuen gleichbehandelt zu
tionspolitik, nicht mehr und nicht weniger. Ewiges La- werden. Ich sehe keinen Anlass, ein muslimisches Mäd-
mentieren und rückwärtsgewandte Debatten bringen uns chen vor dem Gesetz anders zu behandeln als ein christ-
nicht weiter. liches oder jüdisches. Das gilt beispielsweise für den
Schwimmunterricht, den gemeinsamen Sportunterricht
(Jörg van Essen [FDP]: Ja! Das Beispiel Beck oder für Klassenfahrten.
hat das gerade wieder einmal bewiesen!)
(B) (D)
Wir dürfen uns nicht neutral verhalten und wegsehen,
– Genau. wenn Gruppierungen diese Prämissen nicht akzeptieren
Anders als einige Menschen, die Tabubauer und -bre- und mit Füßen treten. Dann haben diese Menschen in
cher in Personalunion sind, erlebe ich eine sehr offene unserer Gesellschaft keinen Platz. Das müssen wir klar-
Debatte um die Integrationsprobleme in Deutschland. machen.
Das ist auch gut so. Denn harte Auseinandersetzungen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gehören zur Streitkultur in einer demokratischen Ein-
wanderungsgesellschaft; es wird mit harten Bandagen Mit „wir“ meine ich alle, auch die Zugewanderten, die in
und Emotionalität diskutiert. Aber auch hier gilt: Gren- der Mehrzahl ihren Platz in Deutschland gefunden ha-
zen einhalten und Spielregeln beachten! Die Grenze ist ben.
da, wo Menschen einfach nur diffamiert und ausgegrenzt
werden. Es ist mühsam und nicht immer einfach, das Wir müssen uns die Frage stellen: Was kann oder was
durchzuhalten. Aber wir müssen mehr Pragmatismus muss das verbindende Glied sein? Vielfältigkeit und To-
und Differenzierung in die Debatte bringen; das ist ganz leranz dürfen nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden.
wichtig. Pauschal von den Integrationsproblemen der Ich denke, in diesem Saal besteht Einigkeit darüber, dass
Ausländer oder der Muslime zu sprechen, bringt uns das Grundgesetz selbstverständlich die Richtschnur ist.
nicht weiter. Ich bin der Integrationsbeauftragten auf-
grund ihres Engagements und der regelmäßigen Publika- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist
tionen für die sehr differenzierte Auseinandersetzung nicht an der Integration gescheitert, und Deutschland
mit den sehr unterschiedlichen Lagen der Ausländerin- wird auch nicht an der Integration scheitern. Integration
nen und Ausländer in Deutschland sehr dankbar. ist ein gesellschaftlicher Prozess, der nicht irgendwann
abgeschlossen sein wird, sondern stetig weitergeht. Wie
Meine verehrten Damen und Herren, zur Wahrheit ge- erfolgreich er weiterhin verlaufen wird, hängt von vielen
hört: Wir haben bereits viele wichtige Antworten gege- Faktoren ab.
ben und Erfolge vorzuweisen; zu nennen sind insbeson-
dere die Integrationskurse. Es ist nicht richtig, dass wir Aber der nachhaltige Erfolg hängt vor allem von den
an dieser Stelle gekürzt haben – das stimmt nicht –, son- Antworten auf folgende Fragen ab: Wie werden wir die
dern wir haben die Mittel sogar erhöht. im Grundgesetz formulierten Werte in die Praxis umset-
zen und sie durchsetzen? Wie werden wir eine gemein-
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ge- same Identität jenseits von kulturellen Unterschieden
nau!) schaffen können?
6808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
Herr Kollege, bitte kommen Sie zum Ende. NEN]: Löffelstiel! – Zuruf des Abg. Dr. Dieter
Wiefelspütz [SPD])
Serkan Tören (FDP): wir machen einen eigenen Straftatbestand. Dann kann es
Das ist die Herausforderung, der wir uns mit Offen- mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. – Bis zu fünf
heit und Selbstbewusstsein zugleich stellen werden. Jahre Haft? Das ist ja eine grandiose Idee! Sie kommen
jetzt mit fünf Jahren Haft; dabei wird es bis jetzt auch
Vielen Dank. schon mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das muss man erst einmal hinbekom-
men! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel
Präsident Dr. Norbert Lammert:
[CDU/CSU]: Was denn?)
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wir müssen etwas gegen Zwangsheirat machen; das
ist klar. Es gibt Zwangsheiraten. Allein die Tatsache,
(Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Vernünftig, dass sie strafbar sind, verhindert sie nicht. Aber wo ist
Herr Winkler, und nicht langweilig! – denn da Ihr Konzept? Einen neuen Paragrafen im Straf-
Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Jetzt kommt gesetzbuch einzuführen, wird keine einzige Zwangshei-
wieder Sachlichkeit in die Debatte!) rat verhindern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD)
NEN):
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Jetzt zur Rede des Bundespräsidenten. Wenn ich
Kollegen! Wenn ich eben Frau Böhmer richtig verstan- höre, dass der Bundespräsident sagt, wir fußen natürlich
den habe, hatte sie gemeint, dass die Probleme, die bei auf der christlich-jüdischen Tradition, sage ich: Selbst-
der Integration von Ausländerinnen und Ausländern in verständlich, wer hat das Gegenteil behauptet?
der Bundesrepublik Deutschland bestünden, Rot-Grün Wenn er sagt, natürlich seien in diesem Land Millio-
oder die Ausländer selbst verursacht hätten, indem sie nen von Muslimen hinzugekommen, sie blieben auch
sich nicht integrieren wollten. Sie sprachen von falsch und würden wohl nicht wieder auswandern, wer könnte
verstandenem Multikulti. Ich sage Ihnen – das wurde ihm widersprechen? Da kann ich nur sagen: Ich halte
(B) eben schon vom Kollegen Veit angesprochen –, was das das, was in der Union dazu gesagt wird, für völlig abwe- (D)
Hauptproblem der Integrationspolitik in diesem Lande gig.
ist: Erst unter Rot-Grün wurde zum ersten Mal Integra-
tionspolitik in diesem Land gemacht. Kollege Kauder, der eben noch hier war, hat dazu ein
Interview gegeben und gesagt: Zu dieser Rede sind „er-
Sie haben sich auch in dieser Zeit noch verweigert. klärende Interpretationen notwendig geworden“.
Sie haben die Sprachkurse im Vermittlungsausschuss
bekämpft. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Glatte Un- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich!)
wahrheit!)
Wie bitte? Zu was ist denn da eine Interpretation not-
Die Grünen und die SPD haben verpflichtende Deutsch- wendig? – Er sagte:
kurse für Ausländerinnen und Ausländer durchgesetzt.
Sie wollten das Geld dafür nicht in die Hand nehmen. Ein Islam, der die Scharia vertritt und in dessen Na-
Sie haben gesagt, die Leute könnten doch zur Volks- men die Unterdrückung der Frau geschieht, kann
hochschule gehen. Sie bekämen schließlich Sozialhilfe nie und nimmer zu Deutschland gehören.
und sollten die Kurse davon bezahlen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Der Maßstab für unser Zusammenleben ist das
und bei der SPD – Zuruf von der FDP)
Grundgesetz, das auf unserem christlich-jüdischen
Nun zur Zwangsheirat: Auch Sie, Herr Senator Wolf, Erbe beruht.
haben gesagt, das sei nicht akzeptabel. – Zwangsheirat Ja, hallo? Wo sind wir denn hier?
war in diesem Land noch nie legal. Wer über so etwas
überhaupt nur nachdenkt, ist völlig neben unserem (Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]:
Rechtsverständnis. In Deutschland!)
Die rot-grüne Bundesregierung hatte das klargestellt Was hat denn der Bundespräsident gesagt? – Natür-
und gesagt: Das ist selbstverständlich ein besonders lich hat er nicht gesagt: Der Islam, der Frauen unter-
schwerer Fall der Nötigung und mit bis zu fünf Jahren drückt, gehört zu Deutschland, und wir sind froh, dass er
Gefängnis zu bestrafen. Jetzt sagen Sie: Das ist alles „li- da ist. – So ein dummes Geschwätz habe ich schon lange
rum larum dumdideldarum“; nicht mehr gehört.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6809
Josef Philip Winkler
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ßen Koalition auf den Weg gebracht worden ist, das (C)
bei der SPD und der LINKEN – Renate heißt, auch die guten Initiativen der letzten Wahlperiode
Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und werden fortgesetzt.
dann noch die Kritik am Bundespräsidenten!
Herr Kollege Scholz, ich schätze Sie ja. Leider sind
Das geht gar nicht!)
Sie offensichtlich Opfer von temporärer Amnesie ge-
Dazu sage ich – auch als Katholik –: Der Apostel worden. Anders lässt es sich nicht erklären, dass Sie
Paulus hat gesagt, das Weib schweige in der Gemeinde. heute überhaupt kein gutes Haar mehr an dem lassen,
Dieser Aspekt des Christentums hat in unserem Grund- was wir in den vergangenen Jahren auch gemeinsam auf
gesetz auch nichts verloren – also, bitte schön. den Weg gebracht haben. Ich finde, das kann sich in der
Tat sehen lassen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN – Jerzy Montag Erstens. Es haben drei Integrationsgipfel stattgefun-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und das aus den –
deinem Munde, Josef! Danke!)
(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Zusammenfassend kann ich nur sagen: Ich verlange Was sind die Ergebnisse? – Renate Künast
von Ihnen, dass Sie sich beim Bundespräsidenten ent- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo nichts he-
schuldigen, dass Sie ihm zuhören, wenn er eine Rede rausgekommen ist!)
hält, und dass Sie das friedliche Zusammenleben der Re-
ligionen in unserem Land nie mit solchen Reden – ich der vierte steht kurz bevor –, bei denen alle Akteure und
sage manchmal sogar fast „Hetzreden“ – stören. alle am Thema Interessierten an einen Tisch gebracht
und verbindliche Vereinbarungen getroffen worden sind.
Herzlichen Dank.
Zweitens. 2007 wurden die Integrationskurse über-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, arbeitet. Seitdem ist mehr Geld in die Hand genommen
bei der SPD und der LINKEN) worden, und das Angebot an Integrations- und Deutsch-
kursen wurde ausgebaut. Bisher haben über 600 000 Per-
Präsident Dr. Norbert Lammert: sonen einen Integrationskurs absolviert, wovon übrigens
Nun erhält der Kollege Stefan Müller das Wort für die zwei Drittel Frauen waren. Wenn man also überhaupt ir-
CDU/CSU-Fraktion. gendetwas gemeinsam feststellen kann, dann doch die
Tatsache, dass die Integrationskurse wirklich eine Er-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und folgsgeschichte und ein wesentliches Instrument erfolg-
der FDP) reicher Integrationspolitik sind.
(B) (D)
(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit
Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
[SPD]: Vielen Dank für diese Anerkennung! –
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Lieber Kollege Winkler, eines ist ja sehr beruhigend: Die
Also keine Integrationsverweigerung!)
Tatsache, dass Sie den Bundespräsidenten, den Sie
nicht gewählt haben, Wir haben auch dafür gesorgt, dass Sprachkenntnisse
schon vor der Einreise erworben werden müssen, weil
(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE
gerade für uns immer klar war, dass das Beherrschen der
GRÜNEN]: Die Wahl war geheim!)
deutschen Sprache die Grundlage für erfolgreiche Inte-
mittlerweile so gut finden, scheint ja Beleg dafür zu sein, gration und für gesellschaftliche Teilhabe ist. Hier kann
dass Sie die Erkenntnis gewonnen haben, dass wir sei- ich Ihnen nur zurufen: Besser spät als nie. – Wir sind sei-
nerzeit genau den richtigen Kandidaten aufgestellt und nerzeit von Ihnen diffamiert worden. Von Zwangsgerma-
jetzt einen guten Bundespräsidenten haben. nisierung war die Rede, als wir diese Forderung immer
wieder erhoben haben. Insofern: Danke schön für diese
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Einsicht.
Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Dann stehen Sie doch einmal zu ihm, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
statt ihn so zu kritisieren! Immer die Kritik am Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
höchsten Amt! Ganz schrecklich!) Wenn Sie die Leitkultur meinen, haben Sie
recht!)
Wir führen heute ja eine wichtige gesellschaftspoliti-
sche Debatte. Ich finde, diese Debatte ist hier im Haus Nun kommt die Nörgelei der Opposition ja nicht
besser aufgehoben als in irgendwelchen Talkshows oder wirklich überraschend. Sie kann damit aber auch nicht
bei Buchbesprechungen oder Lesungen. Hier im Parla- darüber hinwegtäuschen, dass es in der Integrationspoli-
ment ist die Debatte über Integrationspolitik zu führen. tik Erfolge gibt und dass Erfolge sichtbar sind. Zum Bei-
Es ist gut, dass wir das heute Vormittag tun. spiel haben junge Migranten ihren Rückstand aufgeholt,
wenn es darum geht, Schulabschlüsse zu erwerben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Heute erwerben mehr junge Migranten einen weiterfüh-
der FDP)
renden Schulabschluss. Sie besuchen häufiger weiter-
Durch den Integrationsbericht wird gezeigt: Die Bun- führende Schulen und absolvieren in zunehmendem
desregierung nimmt die Integration ernst. Wir werden Maße ein Hochschulstudium. Die Erfolge sind auch
das fortsetzen, was in den letzten Jahren auch in der Gro- nachgewiesen. Der Sachverständigenrat deutscher Stif-
6810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Stefan Müller (Erlangen)


(A) tungen für Integration und Migration hat erst vor weni- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
gen Wochen sein Jahresgutachten 2010 vorgelegt. Er Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Zeit.
kommt zu dem Ergebnis, dass Integration in Deutsch-
land besser gelingt, als es zum Teil in der Öffentlichkeit Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU):
wahrgenommen wird, und vor allem auch besser als in
Ja. – Zusammenfassend kann man feststellen, dass in
vielen unserer europäischen Nachbarländer.
Deutschland in der Integrationspolitik leider zu viel über
(Rüdiger Veit [SPD]: Das erste wahre Wort in Defizite und zu wenig über Erfolge geredet wird
Ihrer Rede!)
(Rüdiger Veit [SPD]: Auch das ist wahr!)
Ich finde, das ist ein Erfolg, auf den wir durchaus ge-
und dass Integration besser gelingt, als dies zum Teil in
meinsam stolz sein können. Auch so etwas muss in einer
der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Man darf aber
solchen Debatte angesprochen werden.
trotzdem vor den Ängsten und Sorgen in der Bevölkerung
Angesprochen werden muss aber auch die Tatsache, nicht die Augen verschließen. Wir müssen gegen Miss-
dass es in der Integration auch Probleme gibt – das wird stände vorgehen. Diese Koalition wird diese Aufgabe
niemand bestreiten –: Zum einen ist die Arbeitslosen- mutig angehen. Ihre Unterstützung würde uns selbstver-
quote von Migranten immer noch doppelt so hoch wie ständlich freuen.
die der deutschen Bevölkerung. Das ist in zweierlei Hin-
sicht ein Problem, weil erstens mit Arbeitslosigkeit im- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
mer ein größeres Armutsrisiko einhergeht und zweitens
Arbeit mehr bedeutet als den Erwerb von Einkommen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Eine Arbeitsstelle bedeutet nämlich auch gesellschaftli- Daniela Kolbe ist die nächste Rednerin für die SPD-
che Teilhabe, und diese führt letztlich zur Integration. Fraktion.
Deswegen ist es wichtig, dass wir mit der Anerken- (Beifall bei der SPD)
nung der im Ausland erworbenen Bildungsabschlüsse in
Deutschland vorankommen. Das Potenzial, das es in Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD):
Deutschland gibt, muss auch gehoben werden. Derzeit Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
können nämlich viele Migranten nicht in dem Maße be- ist überall im Hause angekommen: Deutschland ist ein
schäftigt werden, wie es ihrer Berufsausbildung ent- buntes und vielfältiges Land mit Millionen von unter-
spricht. Deswegen wird unsere Koalition dieses Thema schiedlichen Geschichten. Eine dieser Geschichten ist
angehen. die von Ardalan, um die 40, aus Leipzig. Er ist Lehrer
(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für Physik und Mathematik. In den 90er-Jahren ist er als (D)
neten der FDP) Flüchtling aus dem Irak nach Deutschland gekommen.
Zum anderen ist auch im Bereich Schule und Ausbil- Er darf in Deutschland nicht als Lehrer arbeiten. Sein
dung bei allen Erfolgen, die erzielt wurden, nicht zu be- Diplom wurde nicht anerkannt. Darum hat er eine Aus-
streiten, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo bildung zum Techniker gemacht und sich nach erfolgrei-
wir hinwollen. Was die Tatsache angeht, dass immer chem Abschluss um Arbeit bemüht, leider erfolglos.
noch zu viele junge Migranten die Schule ohne Schulab- Heute arbeitet er als Fahrscheinkontrolleur bei den örtli-
schluss verlassen, sind selbstverständlich die Länder in chen Verkehrsbetrieben.
der Pflicht, entsprechend gegenzusteuern. Dabei muss
Wenn Ardalan seine Geschichte erzählt, dann tut er
der Bund mithelfen, wo er dies kann.
das in einem charmanten breiten Sächsisch mit leichtem
Bei allen Problemen, die es gibt, muss man aber auch Akzent. Die Freunde, die ihm damals Deutsch bei-
eines feststellen: Integration braucht einen langen Atem. gebracht haben, waren eben waschechte Sachsen. Sprach-
Was in der Vergangenheit nicht rechtzeitig angegangen kurse für Zuwanderer waren damals noch nicht vorgese-
worden ist, lässt sich nun einmal nicht in fünf Jahren hen.
aufholen. Aber wir sind – das zeigen auch alle Stellung-
Ardalan ist, wie ich finde, ein sehr gutes Beispiel für
nahmen und Gutachten – an dieser Stelle auf einem gu-
gelungene Integration. Er ist in Arbeitsmarkt und Gesell-
ten Weg.
schaft integriert. Er beherrscht die deutsche Sprache, en-
Integration braucht aber auch Konsequenz und Ver- gagiert sich in Vereinen für seinen Stadtteil und darüber
bindlichkeit. Das heißt: Geltendes Recht muss auch an- hinaus in einer großen demokratischen Partei. Das sind
gewandt werden. Wenn es in Deutschland nachweislich auch die drei großen Themen, wenn wir über Integration
Fälle von Integrationsverweigerung gibt und jemand, der sprechen: Arbeit, Sprache, soziale Teilhabe. Dass wir in
staatliche Fürsorgeleistungen bekommt und im Rahmen allen drei Bereichen noch riesigen Handlungsbedarf ha-
seiner Eingliederungsvereinbarung aufgefordert ist, ei- ben, sieht man auch an einem positiven Beispiel wie
nen Integrationskurs zu besuchen, dies nicht tut, dann dem von Ardalan.
können schon heute Sanktionen verhängt und Regelleis-
Beispiel Sprache. Es war erst die rot-grüne Koalition,
tungen gekürzt werden. Ich finde, dieses Recht muss
die 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz endlich Integra-
durchgesetzt werden. Es gibt ein Vollzugsproblem; auch
tionskurse eingeführt hat, ein probates Mittel, um erwach-
das müssen wir ohne Zweifel angehen.
senen Migrantinnen und Migranten den Erwerb der deut-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen Sprache zu ermöglichen, den Schlüssel zur
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6811
Daniela Kolbe (Leipzig)
(A) Teilhabe an unserer Gesellschaft. Diese Kurse sind – das kündigungen. Liebe Bundesregierung, es besteht drin- (C)
sagen alle – eine Erfolgsgeschichte. Immer mehr Men- gender Handlungsbedarf. Bitte gehen Sie das schnell an.
schen nehmen teil oder wollen teilnehmen; denn derzeit Wir vergeuden wertvolle Ressourcen Hunderttausender
warten aufgrund von Zulassungsbeschränkungen min- Menschen.
destens 9 000 Menschen auf einen Integrationskurs – täg-
lich werden es mehr –, und das, weil Schwarz-Gelb Viele Menschen mit Migrationshintergrund berichten
sehenden Auges nicht ausreichend Finanzmittel zur Ver- zudem, dass es für sie schwer ist, einen Arbeitsplatz zu
fügung stellt. finden. Ardalan ist wieder ein Beispiel dafür. Studien be-
legen, dass junge Schulabgänger mit Migrationshinter-
(Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch schon wi- grund es selbst bei gleicher Leistung deutlich schwerer
derlegt!) haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Hier findet Dis-
kriminierung statt. Das steht auch in dem vorliegenden
Etwa 15 Millionen Euro fehlen im laufenden Haushalt. Bericht so knallhart. Was tut denn die Bundesregierung?
Von diesen 9 000 Menschen sind 4 000 auf Wartelisten Seien es anonymisierte Bewerbungsverfahren – diese
gelandet. Sie wissen überhaupt nicht, wann ein Kurs be- sind in vielen Ländern üblich – oder sei es eine aktive Ar-
ginnen soll. Sie wissen nur: dieses Jahr nicht mehr. – So beitsmarktpolitik, bei der jetzigen Bundesregierung sehe
lautet die Mitteilung, die das Bundesamt an sie geschickt ich schwarz. Sie setzen massiv den Rotstift bei der akti-
hat. Das sind gerade diejenigen Menschen, die sich ven Arbeitsmarktpolitik an und konterkarieren jegliche
schon lange in Deutschland aufhalten, ohne die deutsche Bemühungen, für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.
Sprache in ausreichendem Maße erworben zu haben.
Das sind genau die Menschen, denen die Regierung je- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
den Tag sagt: Nun integriert euch doch endlich! Aber ei- DIE GRÜNEN)
nen Integrationskurs wird es vielleicht erst nächstes Jahr
geben. – Diese Argumentation ist doch schlicht schein- Beispiel soziale Teilhabe. Integration wird vor Ort, in
heilig. den Kommunen, gestaltet, zum Beispiel durch kluge
Stadtentwicklung. Dazu hat der Bund unter SPD-Beteili-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gung wirksame Programme – „Soziale Stadt“ ist das Pro-
DIE GRÜNEN) gramm, das man hier hervorheben kann – entwickelt.
Was machen Sie? Sie kürzen die Mittel für die entspre-
Erwachsene Migranten sind nur eine Gruppe. Für chenden Programme nicht nur dramatisch. Sie sorgen
junge Menschen mit und auch ohne Migrationshinter- auch noch für Beschränkungen. Geld aus dem Topf „So-
grund entscheidet die Qualität der Bildung darüber, ob ziale Stadt“ darf zukünftig nicht mehr für – Zitat – „Zwe-
man sich verständigen und mitmischen kann. Deshalb cke wie Erwerb der deutschen Sprache, Verbesserung (D)
(B) wurden unter SPD-Regierung sowohl der Ausbau der
von Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen
Kitas als auch das Ganztagsschulprogramm auf den Weg
sowie im Bereich der lokalen Ökonomie“ eingesetzt wer-
gebracht. Wo bleibt denn der Beitrag dieser Regierung?
den. Der Einzige, der sich darüber wirklich freuen dürfte,
Wo bleibt denn die ausreichende Finanzierung des Kita-
ist Patrick Döring; der verkehrspolitische Sprecher der
ausbaus? Was soll denn dieses Betreuungsgeld? Es ist
FDP war da und ist inzwischen auch schon gegangen.
nichts anderes als eine Fernhalteprämie und einfach nur
bildungsfeindlich. (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Er hat schon im März von dieser Stelle aus in Bezug auf
das Programm „Soziale Stadt“ gesagt – Zitat –:
Wo sind die Ideen für den Ausbau der Ganztagsschulen?
Fehlanzeige! Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht, Die Zeit der nichtinvestiven Maßnahmen, zum Bei-
dann setzen Sie entweder gar keine oder die falschen Si- spiel zur Errichtung von Bibliotheken für Mädchen
gnale. Sie manifestieren die Ungerechtigkeiten im Bil- mit Migrationshintergrund, ist vorbei …
dungssystem. Das geht nicht nur, aber auch zulasten der
Integration. Wenn ich das höre, geht mir das Messer in der Tasche
auf.
Beispiel Arbeitsmarkt. Menschen mit Migrationshin-
tergrund haben noch höhere Hürden als wir Deutsche zu (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
überwinden. Die Arbeitslosigkeit ist bei ihnen doppelt so BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
hoch; das wurde schon angesprochen. Es mangelt an An-
erkennung der im Ausland erworbenen Abschlüsse. Liebe Koalition, liebe Regierung, bitte erzählen Sie
Ardalan ist nur ein Beispiel. Olaf Scholz hat am Ende der uns nichts über Integration. Bitte ändern Sie einfach Ihre
letzten Legislaturperiode ein gutes Papier dazu vorgelegt. Politik!
Seitdem müssen wir uns leider mit Eckpunkten von Frau
Schavan – sie verlässt gerade den Saal – Vielen Dank.

(Heiterkeit bei der SPD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Dieter
begnügen. Von einem Gesetz ist leider nichts zu sehen. Wiefelspütz [SPD]: Ich möchte sofort die Ta-
Da hilft auch nicht die wirklich große Anzahl der An- sche sehen!)
6812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: kommt, dass bestimmte Gruppen von Migrantinnen häu- (C)
Im Übrigen hoffe ich, dass nicht nur bei Integrations- figer von Gewalt betroffen sind. Das sind insbesondere
debatten die Mitglieder dieses Hauses ohne Messer in Frauen türkischer Herkunft und Frauen aus Ländern der
der Tasche, also unbewaffnet, erscheinen. ehemaligen Sowjetunion. Man muss deutlich sagen, dass
Migrantinnen sehr viel weniger Zugang zum Hilfesystem
(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der und weniger Beratungserfahrung haben, seltener psycho-
CDU/CSU und der FDP – Ulrich Kelber soziale Unterstützungseinrichtungen aufsuchen und inso-
[SPD]: Die werden am Eingang nicht kontrol- fern in ihrer Situation als gewaltbetroffene Frauen häufig
liert!) allein bleiben. Hier muss mehr geschehen. Wir können es
Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP- nicht nur damit bewenden lassen, beispielsweise die
Fraktion das Wort. Zwangsheirat unter besondere Strafe zu stellen, was rich-
tig ist; wir brauchen aber darüber hinaus entsprechende
(Beifall bei der FDP) Beratung, damit Frauen aus diesem Teufelskreis heraus-
finden können.
Sibylle Laurischk (FDP):
Die Situation von Migrantinnen ist sozusagen die
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Spitze des Eisbergs der gesamtgesellschaftlichen Situa-
ren! Liebe Frau Böhmer, vielen Dank für den vorgeleg-
tion. Gewalt gegen Frauen darf in keinerlei Hinsicht hin-
ten Bericht, ein dickes Buch, das wirklich lesenswert ist.
genommen werden und schon gar nicht aus religiösen
Ich möchte diesen Bericht über die Lage der Auslände-
Gründen.
rinnen und Ausländer in Deutschland mit einem beson-
deren Blick auf die Ausländerinnen in Deutschland kom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
mentieren. Dazu spreche ich drei Aspekte an. der CDU/CSU)
Der erste Aspekt ist die Bedeutung der Frauen in
der Integrationspolitik. Wir müssen einfach sehen, Präsident Dr. Norbert Lammert:
dass sie für den Integrationserfolg von Familien und Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
ganz besonders von Kindern von großer Bedeutung sind. Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion.
Sie sind in der Familie der zentrale Bezugspunkt und in- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sofern eben auch diejenigen, die für die Sprachfähigkeit
in der Familie besondere Verantwortung tragen. Sie sind
diejenigen, die ihren Kindern Sprache vermitteln. Hier- Reinhard Grindel (CDU/CSU):
bei ist es natürlich besonders wichtig, dass sie auch den Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(B) Zugang zur deutschen Sprache vermitteln können. Sie Herr Kollege Scholz, Sie haben gesagt: Den Reden müs- (D)
sind daher auch besonders gefordert, selbst die deutsche sen Taten folgen. – Ich will Ihnen einmal den „SPD-Inte-
Sprache zu beherrschen. Wir verfügen über Lösungsan- grationsexperten“ Sigmar Gabriel zitieren. Er hat sich
sätze, die mittlerweile erfolgreich sind, beispielsweise vor kurzem gegenüber Spiegel Online so geäußert:
das Programm „Mama lernt Deutsch“. Damit werden Wer auf Dauer alle Integrationsangebote ablehnt,
auch Kinder sprachfähig gemacht, weil sie so Deutsch der kann ebenso wenig in Deutschland bleiben wie
auch in der Familie sprechen können. Selbstverständlich vom Ausland bezahlte Hassprediger in Moscheen.
ist ebenso, dass sie neben ihrer Muttersprache auch eine
andere Sprache lernen. Wenn sie mehr als Deutsch kön- Ich kann Ihnen nur sagen: Es war die SPD in der Großen
nen, sind Kinder aus Migrantenfamilien sicherlich in ih- Koalition, die sich mit Händen und Füßen dagegen ge-
rer weiteren schulischen und beruflichen Entwicklung wehrt hat, dass wir genau das ins Aufenthaltsrecht
erfolgreich. schreiben. Nur so viel zum Thema „Übereinstimmung
von Reden und Taten“.
Damit bin ich beim zweiten Aspekt, nämlich dem Zu-
gang von Migrantinnen zum Arbeitsmarkt. Wer arbei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tet, hat einen wichtigen Zugangsweg zur Gesellschaft neten der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Das steht
überhaupt. Hierzu müssen wir feststellen, dass gerade doch alles drin!)
junge Migrantinnen mittlerweile gute Schulerfolge vor-
Was ich auch nicht verstehe, lieber Kollege Veit, ist,
weisen können, bessere Ergebnisse als die jungen Män-
dass Sie plötzlich sagen, es sei ein Problem, dass wir
ner. Dennoch sind sie in der Berufswahl nicht wirklich
jetzt Deutschkenntnisse von denjenigen verlangen, die
konkurrenzfähig. Sie sind in Ausbildung schwächer ver-
auf dem Wege des Familiennachzugs zu uns kommen.
treten, sie finden überhaupt schwerer Zugang zu Ausbil-
Was spricht denn dagegen, dass als Beitrag zur Integra-
dung, und entsprechend sind sie dann auch nicht wirk-
tion einfache Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung
lich in der Gesellschaft etabliert und nicht in der Lage,
nach Deutschland verlangt werden? Durch eine Evaluie-
sich selbstständig in der deutschen Gesellschaft zurecht-
rung dieser Vorschrift ist nachgewiesen, dass wir damit
zufinden. Hier muss mehr getan werden. Die Ausbil-
in Einzelfällen Zwangsehen bekämpfen.
dungsfähigkeit von Frauen ist ein wichtiges Thema, das
im Bericht auch seinen Niederschlag findet. (Rüdiger Veit [SPD]: Nein, nein! Gar nichts ist
nachgewiesen!)
Ein dritter Aspekt ist mir wichtig; dies ist das Thema
Gewalt gegen Frauen. Dem Familienministerium wur- Aber was noch wichtiger ist: Durch diese Vorschriften
den drei Studien vorgelegt, in denen zum Ausdruck erreichen wir, dass wir in die Familien, die bisher einen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6813
Reinhard Grindel
(A) weiten und großen Bogen um Integrationsangebote ge- nicht erfolgreich sein. Wir brauchen alle staatlichen Ebe- (C)
macht haben, zum ersten Mal die klare Botschaft hinein- nen.
senden: Ohne Deutsch geht es nicht. Das ist ein Beispiel
dafür, wie man durch ein Gesetz ganz praktische Integra- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
tionspolitik gestalten kann.
Für mich gehört dazu, an dieser Stelle einmal die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Integrationsarbeit unserer Sportvereine zu würdigen.
neten der FDP) Am Vortag des Europameisterschaftsqualifikationsspiels
Herr Senator Wolf, Sie haben den Begriff der Leit- zwischen Deutschland und der Türkei darf man sicher
kultur kritisiert. Ich frage mich: Warum dürfen wir nicht darauf verweisen. Was Trainer und Betreuer bei der Inte-
Erwartungen formulieren und gemeinsame Grundlagen gration von Ausländern und Aussiedlern leisten, ist ein-
fach beeindruckend und fabelhaft. Dafür auch von dieser
für unser Zusammenleben definieren? Zur Integration
Stelle ein herzliches Wort des Dankes.
gehört, dass wir von muslimischen Eltern erwarten dür-
fen, dass sie ihre Kinder auf der Grundlage unserer ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
meinsamen Rechts- und Werteordnung erziehen. Unsere bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Aufgabe ist es, dass wir denjenigen entschlossen entge- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
gentreten, die andere daran hindern, sich zu integrieren,
die Jugendklubs bekämpfen, weil dort Muslima ihre Einen Gedanken lassen Sie mich gerade mit Blick auf
Freizeit verbringen wollen, die etwa systematisch isla- unsere ausländischen und insbesondere unsere türki-
mischen Religionsunterricht bekämpfen, weil er unter schen Mitbürger formulieren, wenn morgen Abend im
Olympiastadion das Spiel angepfiffen werden wird: Im
der Regie der deutschen Schulverwaltung stattfindet,
deutschen Team stehen Spieler mit Migrationshinter-
und die, wie es Moscheevereine tun, Eltern zwingen,
grund, die gut integriert sind und ihren Weg gemacht ha-
ihre Kinder dort herauszunehmen und in Koranschulen ben. Aber auch im türkischen Team stehen Spieler, die
anzumelden. Wir müssen genauer hinhören, was in Mo- hervorragend Deutsch sprechen und sich bei uns inte-
scheen gepredigt wird. Wir müssen ein Interesse daran griert haben. Integration bedeutet eben nicht Aufgabe
haben, dass Imame in Deutschland ausgebildet werden. der eigenen Identität. Aber morgen Abend werden sie
alle nach denselben Spielregeln spielen, und darauf
Unser Bundespräsident hat sich sehr zutreffend zur
kommt es an.
Lebenswirklichkeit des Islam in Deutschland geäußert.
Ich möchte seiner Rede einen zusätzlichen Gedanken an- Herzlichen Dank.
(B) fügen: Ja, der Islam gehört zu Deutschland; aber funda- (D)
mentaler Islamismus gehört nicht zu Deutschland. Ihm (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
müssen wir entgegentreten, und zwar entschlossen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ Ich hatte gehofft, Herr Kollege Grindel, Sie würden
uns auch noch das Ergebnis dieses Spiels mitteilen. Aber
DIE GRÜNEN]: Das hat der Präsident ja auch
darauf werden wir dann doch wohl noch einen Tag war-
nicht gesagt!)
ten müssen.
Wir haben bei der Integration keine Erkenntnispro- Ich schließe die Aussprache.
bleme; wir haben Umsetzungsprobleme. Die Wahrheit
ist doch, dass wir vielfältige gesetzliche Vorschriften ha- Die Vorlage auf Drucksache 17/2400 soll an die in der
ben, um den Grundsatz „Fördern und Fordern“ tatsäch- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen
lich umzusetzen. Wir haben viel mehr Sanktionsmög- werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offen-
lichkeiten, als man nach der Lektüre des Buches von kundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Herrn Sarrazin vermuten würde. Es muss nur auf allen
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
staatlichen Ebenen an konsequenter Integration gearbei-
gratuliere ich der Kollegin Müller-Gemmeke – sie sitzt
tet werden. Es reicht eben nicht aus, wenn die Auslän- im Moment links neben mir – zu ihrem heutigen runden
derbehörden nur zu einem Integrationskurs verpflichten. Geburtstag.
Es muss auch kontrolliert werden, ob der Ausländer tat-
sächlich diesen Integrationskurs besucht. Die Hartz-IV- (Beifall)
Behörden müssen die Chance nutzen, Langzeitarbeits-
lose, die schon deshalb nicht vermittelt werden können, Liebe Kollegin, Sie beginnen ein neues Lebensjahrzehnt
weil sie nicht hinreichend Deutsch sprechen, zu ver- in prominenter Umgebung und besonders guter Gesell-
schaft. Dies lässt für die nächsten Jahre die schönsten
pflichten, an Integrationskursen teilzunehmen.
Hoffnungen zu. Alle guten Wünsche für das neue Le-
Ich sage in aller Deutlichkeit: Wenn nicht alle Ebenen bensjahr!
– Bund, Länder und auch Kommunen – gemeinsam die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Chancen, Integration umzusetzen – sie sind bereits jetzt
gesetzlich verankert –, nutzen, dann können wir hier im Beratung des Antrags der Abgeordneten
Bundestag beschließen, was wir wollen; wir werden Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Richard
6814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Pitterle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion teressant. Der Schuldenzuwachs pro Jahr beträgt derzeit (C)
DIE LINKE etwa 70 Milliarden Euro, der Vermögenszuwachs pro
Jahr rund 220 Milliarden Euro. Das zeigt doch wohl ein-
Auswege aus der Krise: Steuerpolitische deutig, dass eine Umverteilung von oben nach unten er-
Gerechtigkeit und Handlungsfähigkeit des folgen muss und dass die Aussage „Wir haben über un-
Staates wiederherstellen sere Verhältnisse gelebt“ reiner Unfug ist.
– Drucksache 17/2944 – Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie dem
Überweisungsvorschlag: Sachverständigen Professor Bofinger! Deutschland, so
Finanzausschuss (f) sagte er, habe gesamtwirtschaftlich unter seinen Verhält-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss nissen gelebt. Er plädiert für durchschnittlich 3 Prozent
Lohnzuwachs; die Löhne müssten wieder gemäß dem
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch Produktivitätsfortschritt und der Teuerungsrate ange-
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre passt werden. – Na bitte!
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
(Beifall bei der LINKEN)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion Die Aber da, meine Damen und Herren von Schwarz-
Linke. Gelb, hören Sie weg – ebenso wie bei den Hinweisen der
EU-Kommission. Sie sollten aber hinhören, wenn
(Beifall bei der LINKEN) Christine Lagarde und Dominique Strauss-Kahn deutlich
auf die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): hinweisen, denn die deutsche Exportstrategie, getragen
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und durch Lohndumpingpolitik und Steuersenkung, hat eine
Kollegen! „Wir haben gezeigt, was in uns steckt“, gab große Mitschuld daran. Ich frage Sie von der Koalition:
Frau Merkel in ihrer Haushaltsrede freimütig zu. Ja, und Wo leben Sie eigentlich? Wie kann man in dieser Situa-
das steckt in ihrer Politik: das sinnlose Auftürmen neuer tion noch sagen, wie Frau Merkel, Deutschland werde
Schulden, sinnlose Ausgaben für Kriegseinsätze und seine Stärken nicht aufgeben? Durch die Lohndumping-
Waffen, massive Kürzungen im Sozialbereich. Die Be- politik, die Sie mit zu verantworten haben, werden die
gründung ist die alte Leier: Wir könnten nur ausgeben, Menschen, die den Reichtum dieser Gesellschaft erar-
was wir erwirtschaften, und wir hätten über unsere Ver- beiten, von diesem immer weiter abgekoppelt. Ein flä-
hältnisse gelebt. chendeckender Mindestlohn muss her – und das schnell!
Hier stellt sich die Frage, wer über seine Verhältnisse (Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
gelebt hat. Die Leiharbeiter und Leiharbeiterinnen viel- Während die Reallöhne zwischen 2000 und 2008 in
leicht, die Alleinerziehenden oder die Menschen, die vielen EU-Staaten zum Teil stark stiegen, gingen sie in
trotz Arbeit ihre miesen Löhne aufstocken müssen? Die Deutschland sogar um 0,8 Prozent zurück. Das belegt
Linke sagt: Sie verhöhnen all diese Menschen. Dabei eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Die Linke sagt:
machen wir nicht mit. Das ist ein Skandal.
(Beifall bei der LINKEN) Durch die Politik der Steuersenkung für Reiche und
Die Wahrheit ist, dass Sie in den nächsten Jahren wei- Unternehmen werden diese sogar doppelt bevorzugt.
terhin massiv Schulden anhäufen werden; insgesamt Kapital wird bevorzugt, unter anderem – das ist allge-
sind 218 Milliarden Euro geplant. All dies wollen Sie mein bekannt – durch die Abgeltungsteuer. Sie geben
uns nun als alternativlose Politik verkaufen, gar als „Zu- den Reichen und nehmen den Menschen, die Sie ohne-
kunftspaket“. Pardon, das klingt doch wie Hohn. hin schon immer abzocken.

(Beifall bei der LINKEN) Sie wissen genau, dass zwischen den Vermögen Wel-
ten liegen. So besaß laut einer DIW-Studie aus dem Jahr
Sie haben gezeigt, was in Ihnen steckt. Wir zeigen Ih- 2007 jeder Deutsche ein individuelles Geld- und Sach-
nen mit unserem Antrag, was in linker Politik steckt: vermögen von rund 88 000 Euro, mit Pensions- und
eine wirkliche Alternative zu Ihrer Politik. Es gibt Alter- Rentenanwartschaften rund 150 000 Euro. Gehen Sie
nativen; aber nur, wenn man die alles entscheidende einmal auf die Straße und fragen Sie zum Beispiel die
Frage stellt: Wie verteilt man gerecht, was erwirtschaftet Leute bei mir in Leipzig, ob sie sich da wiederfinden!
wird? Fragen Sie die Verkäuferin, den Fernfahrer, Handwerker
aus kleinen und mittelständischen Betrieben, Rentnerin-
(Beifall bei der LINKEN)
nen und Rentner!
Statt immer wieder bei den Menschen zu kürzen, die
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die
sowieso wenig haben, brauchen wir endlich ein politi-
gehen Ihnen nicht auf den Leim!)
sches und wirtschaftliches Umdenken. Es kann doch
nicht sein, dass auf der einen Seite die Vermögen einiger Viele von ihnen, genau 27 Prozent, verfügen über gar
weniger immer weiter in die Höhe schießen und auf der kein individuelles Geld- und Sachvermögen. Sie sind
anderen Seite die Zahl der armen Familien und Kinder zudem oftmals noch verschuldet. Viele Menschen müs-
zunimmt. Die Vermögen in Deutschland wachsen näm- sen beim Amt aufstocken – trotz Vollzeitarbeit. Da
lich schneller als die Schulden; dies halte ich für sehr in- braucht man sich nicht zu wundern, wenn das reichste
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6815
Dr. Barbara Höll
(A) Zehntel der Bevölkerung über ein Netto-Geld- und Sach- Lande denken, hätten wir vielleicht alle wieder die (C)
vermögen von mindestens 222 000 Euro verfügt. Es ist Chance, dass eine vorwärtsweisende Politik betrieben
nicht so, dass wir ihnen das nicht gönnen, wird.
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Wir brauchen vernünftigerweise erstens eine Vermö-
Nein! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das klingt gensteuer. Auf Basis unseres Vorschlags einer Vermö-
aber ein bisschen so!) gensteuer, nämlich 5 Prozent auf das Nettovermögen ab-
züglich eines Freibetrages von 1 Million Euro – ich
aber wir sind strikt der Ansicht, dass allen Menschen wiederhole: 1 Million Euro –, könnten bis zu 80 Milliar-
hierzulande ein Leben in Würde, mit Chancen für die den Euro eingenommen werden,
Zukunft ihrer Kinder zusteht.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Zuruf von der FDP: Wie in der DDR!) Das glauben Sie doch selber nicht!)
Noch eines. Frau Merkel ist zwar nicht da, aber ich 80 Milliarden Euro, die die Bundesländer dringend für
sage es trotzdem. Ein Fakt, der Frau Merkel als aus dem öffentliche Investitionen brauchen.
Osten stammender Frau doch wirklich die Schamesröte
ins Gesicht treiben müsste, ist: Die Vermögensunter- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Dann fangt mal in
schiede zwischen Ost und West sind im Jahr 20 der deut- Berlin damit an! Ihr regiert doch in Berlin!)
schen Einheit immer noch wie Tag und Nacht. Wissen Sie eigentlich, wie viele Vermögensmillionäre es
(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Das ist doch im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik gab? Nach
Ergebnis Ihrer Vorgängerpartei!) einem Report von Merrill Lynch waren es 861 000, fast
50 000 mehr als noch vor zwei Jahren. So sehen die Zah-
Während das Nettovermögen von 2002 bis 2007 in len aus. Ich finde, auch die Vermögensmillionäre müssen
Westdeutschland um rund 11 Prozent stieg, sank es in ihren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leis-
Ostdeutschland um knapp 10 Prozent. ten.
(Zuruf von der CDU/CSU: Da haben Sie (Beifall bei der LINKEN)
vorgearbeitet, Frau Höll!)
Wir brauchen zweitens eine Reform der Erbschaft-
Da ist Ihre Forderung an die Menschen, privat für das steuer. Bei der Reform vor zwei Jahren haben Sie be-
Alter vorzusorgen, doch glatter Unfug. Wovon sollen die wusst darauf verzichtet, mehr Geld einzunehmen.
Menschen denn das bezahlen, frage ich Sie. Sollen sie
das von den Niedriglöhnen bezahlen, die Sie politisch (Manfred Grund [CDU/CSU]: Auch die Erb-
schaftsteuer ist eine Ländersteuer! In Berlin
(B) zulassen? (D)
kann man damit anfangen!)
Offensichtlich fragen sich immer mehr Menschen:
Was macht die Regierung da oben? Hat sie überhaupt Selbst wenn man diese Reform so durchführte, dass
noch eine Ahnung von unserem Leben? Was machen die Oma ihr klein Häuschen geschützt bleibt und kein Unter-
da in Stuttgart, wo gegen den Willen vieler Bürgerinnen nehmen im Erbfall pleitegeht, könnten trotzdem
und Bürger sinnlos Milliarden verbuddelt werden? 6 Milliarden Euro eingenommen werden. Der entspre-
chende Vorschlag liegt auf dem Tisch.
(Lachen bei der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Wieso stimmen Sie zu, wenn die Atomlobby sich Sonder-
gewinne in Milliardenhöhe organisiert? Frau Merkel, Liebe Dame und liebe Herren der FDP, wir könnten
liebe Koalition, hier wieder die Frage: Haben Sie einmal tatsächlich die Bezieherinnen und Bezieher kleiner und
die Hartz-IV-Empfängerin gefragt, wie sie bei der 5-Euro- mittlerer Einkommen steuerrechtlich entlasten, nämlich
Erhöhung Geburtstagsgeschenke für ihre Kinder kaufen drittens durch eine Reform der Einkommensteuer.
kann, wie sie sich mit dieser minimalen Erhöhung ein- Nach unserem Vorschlag würden im Vergleich zum Tarif
richten soll, wie sie da mit ihrer Menschenwürde „zu- 2010 alle Menschen mit einem zu versteuernden Ein-
rechtkommen“ soll? kommen bis zu 70 245 Euro im Jahr entlastet werden;
alle Menschen, deren zu versteuerndes Einkommen da-
Zum Glück ändern sich die Zeiten. Ich sage Ihnen: rüber liegt, würden belastet werden. Das ist ganz einfach
Wir brauchen endlich eine sozial gerechte und ökono- durch eine Neugestaltung des Tarifs zu erreichen. Wir
misch wie ökologisch sinnvolle Politik. Genau das will schlagen Ihnen vor, ausgehend von einem Eingangssteu-
auch die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger. ersatz von 14 Prozent und einem Grundfreibetrag von
9 300 Euro eine linear-progressive Gestaltung, hochge-
(Beifall bei der LINKEN)
führt bis zu einem Spitzensteuersatz von 53 Prozent,
Mit Ihrer Steuersenkungsideologie, die Sie, meine Da- vorzunehmen und durch diese Korrektur die Einkom-
men und Herren von Schwarz-Gelb, seit den 90er-Jahren mensteuer gerecht auszugestalten.
immer wieder vor sich her chauffieren, haben Sie zu ver-
(Beifall bei der LINKEN)
antworten, dass wir in den letzten zwölf Jahren Steuer-
mindereinnahmen in Höhe von etwa 335 Milliarden In aller Deutlichkeit: Durch die Umsetzung unserer
Euro hatten. Das ist ein Skandal. Wenn Sie endlich ein- Vorschläge – im Antrag sind ja noch mehr aufgeführt;
mal vom hohen Ross der Arroganz Ihrer Macht abstei- ich kann sie jetzt nicht alle erläutern – würde die wirt-
gen und zuhören würden, was die Menschen in unserem schaftliche Entwicklung nachhaltig gestärkt werden,
6816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Barbara Höll


(A) denn dadurch würde die Binnennachfrage angekurbelt merinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die den (C)
und die Kassen der Kommunen wären nicht mehr so Karren ziehen, gefragt, ob sie das Gefühl haben, in ei-
klamm. Werfen Sie endlich Ihre absurde Steuersen- nem Niedrigsteuerland zu leben?
kungspolitik über Bord. Sie gefährdet den Zusammen-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Im Vergleich
halt der Gesellschaft. Wohin Gier und Spekulation füh-
zu den vorhergehenden Jahren ja!)
ren, haben wir in der Finanzkrise gesehen. Ich sage
Ihnen: Vermögenskonzentration befördert Spekulation. Die jährlichen Steuereinnahmen sind in den letzten
fünf Jahren um 72 Milliarden Euro gestiegen. Das sind
Lassen Sie mich persönlich enden: Wenn mich meine
72 Milliarden Euro Mehreinnahmen.
siebenjährige Tochter fragt, warum einige Kinder in ih-
rer Schule arm sind, dann möchte ich ihr eigentlich nicht (Nicolette Kressl [SPD]: Aber die Steuerquote
mehr sagen müssen, dass das noch lange so bleibt. Tun ist gesunken!)
Sie etwas, damit ich das nicht mehr sagen muss! Tun Sie
Schauen wir uns einmal die Steuer- und Abgabenquote
endlich etwas; denn dieses Land gehört allen Menschen,
an: Eine Familie in Deutschland bezahlt Abgaben und
nicht nur den Reichen, den Lobbyisten und den Regie-
Lohnsteuern in Höhe von etwa 40 Prozent. Damit sind
renden.
wir im internationalen Vergleich an dritter Stelle der
Ich danke Ihnen. Rangliste der Belastungen. Bei der Unternehmensbe-
steuerung, bei der Sie beklagen, dass sie zu niedrig ist,
(Beifall bei der LINKEN) liegt Deutschland mit einer tariflichen Gesamtbelastung
für Kapitalgesellschaften von knapp über 30 Prozent
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: weltweit auf Rang acht in der Hitliste der Höchststeuer-
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/ länder.
CSU-Fraktion.
Sie behaupten, Folge des angeblichen Steuerdum-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- pings seien unsoziale Ausgabensenkungen.
neten der FDP)
(Zuruf von der LINKEN: Ja, selbstverständ-
lich!)
Olav Gutting (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Schauen wir uns doch einmal die Sozialausgaben der
Die Fraktion Die Linke fordert als Ausweg aus der letzten Jahre an: Sie sind allein beim Bund von
Krise, wie wir gerade gehört haben, zwölf steuerpoliti- 50 Milliarden Euro im Jahr 1990 auf heute, im
sche Maßnahmen, darunter vor allem Steuererhöhungen: Jahr 2010, 173 Milliarden Euro gestiegen.
(B) (D)
(Zuruf von der LINKEN: Ja, selbstverständ- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist die
lich!) Folge wachsender Armut! Das ist doch klar!
Darauf können Sie doch nicht stolz sein!)
die Abschaffung des Ehegattensplittings, die Erhöhung
der Körperschaftsteuer um 60 Prozent, ganz allgemein Die Ausgaben im sozialen Bereich haben sich also mehr
die Besteuerung von Extraprofiten, die Einführung einer als verdreifacht. Die Staatsquote ist nicht etwa gesunken.
Kerosin- und einer Schiffsbenzinsteuer, eine Erhöhung Nein, sie ist auf über 50 Prozent gestiegen.
der Erbschaftsteuer, (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Jetzt in der
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Krise!)

eine Boni-Steuer in Höhe von 50 Prozent, die Erhebung Ich frage Sie: In welcher Welt leben Sie? Wenn man
der Vermögensteuer und nicht zuletzt die Anhebung des den Antrag der Linken liest, dann hat man, mit Verlaub,
Spitzensteuersatzes in der Einkommensteuer. das Gefühl, einige von Ihnen denken immer noch, um
dieses Land herum wäre eine Mauer. Wachen Sie auf!
(Beifall bei der LINKEN) Wir stehen im internationalen Wettbewerb; wir befin-
den uns mitten in der Globalisierung. Das gilt auch für
Offensichtlich ist es das Allheilmittel der Linken gegen
alles, den Menschen in diesem Land immer mehr Geld den Bereich der Steuern.
aus der Tasche zu ziehen. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Eben!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Man kann das beklagen. Ja, Wettbewerb ist unange-
der FDP) nehm. Man muss sich anstrengen. Man kann nicht han-
deln, als wäre man auf einer einsamen Insel.
Nun muss man kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um
zu erkennen, dass die von Ihnen jetzt – in der Phase des (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Genau des-
Aufschwungs – geplanten massiven Steuererhöhungen halb dürfen wir nicht so handeln!)
den Aufschwung beenden würden.
Die Globalisierung führt auch dazu, dass wir in der Poli-
Sie beklagen in Ihrem Antrag die Steuersenkungen tik manchmal Getriebene sind. Das ist nicht schön; aber
der letzten Jahre. Sie sprechen gar von „Steuerdumping“ es ist eine Tatsache. Da können Sie den Kopf nicht in
in unserem Land. Sie haben vorhin die Hartz-IV-Emp- den Sand stecken: Wir sind in eine internationale Ent-
fänger angesprochen. Haben Sie schon einmal die Men- wicklung eingebettet, der wir uns als einzelne Nation
schen, die in diesem Land Steuern zahlen, die Arbeitneh- nicht verschließen können. Wir müssen reagieren, um
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Olav Gutting
(A) dieses Land im internationalen Wettbewerb vorne zu (Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie gehen (C)
halten. Nur wenn wir in diesem internationalen Wettbe- in die Substanz!)
werb mithalten, können wir die Arbeitsplätze in diesem
Ich frage mich: Wer investiert dann noch in unserem
Land sichern und den breiten sozialen Wohlstand in die-
Land? Wer soll dann die Mietwohnungen bauen?
sem Land erhalten.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Der
Wir haben uns in der Regierung, auch in der Vorgän- Staat!)
gerregierung, angestrengt, und zwar mit Erfolg: Zu Be-
ginn der letzten Legislaturperiode sind wir mit Wer soll in Mietwohnungen investieren? Sie schaden mit
5 Millionen Arbeitslosen in diesem Land gestartet; Ihrem Vorschlag genau denjenigen, denen Sie eigentlich
heute, fünf Jahre später, liegt die Zahl bei 3 Millionen, helfen wollen.
Tendenz weiter sinkend.
(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Woh-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nungsbaugesellschaften wie in Berlin! – Ge-
genruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE
In Baden-Württemberg haben wir sogar Vollbeschäfti- LINKE]: Die haben an der Börse spekuliert!)
gung. Das ist soziale Gerechtigkeit. Wir werden interna-
tional dafür bewundert, wie wir diese Krise meistern, Zusätzlich zur Vermögensteuer wollen Sie nun auch
wie wir sie bisher überstanden haben. Auch unsere Steu- noch den Spitzensteuersatz erhöhen.
erpolitik hat dafür gesorgt, dass dieses Land zurzeit (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja, wie bei
boomt und viele Menschen in diesem Land, nämlich Helmut Kohl!)
2 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren, wieder aus-
kömmliche Arbeit finden. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt, dass in diesem Land
10 Prozent der Bezieher der oberen Einkommen bereits
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent, des gesamten
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Eben nicht aus- Steueraufkommens schultern?
kömmlich!)
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja, weil viele
Sie hinken mit Ihrem Antrag zur Überwindung dieser andere keine Steuern mehr zahlen können,
Krise ziemlich hinterher. weil sie wenig verdienen! Wenn sie arm sind,
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Warum?) können sie keine Steuern zahlen!)
Ich mag dieses Land. Ich lebe gern in Deutschland.
Mittlerweile liegen die Prognosen für das Wirtschafts-
Wie viele andere Menschen in diesem Land zahle ich
wachstum für das laufende Jahr bei über 3 Prozent.
(B) klaglos meine Steuern, weil ich weiß, dass unser Land (D)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nach viel bietet.
5 Prozent Rückgang!)
(Florian Pronold [SPD]: Eine wandelnde Kla-
Wir haben Wachstum, es entstehen neue Arbeitsplätze, gemauer, was die Steuern angeht!)
es gibt Lohnerhöhungen, und die Binnenkonjunktur Wir haben eine gute Infrastruktur, wir haben Sicherheit
zieht an. Lesen Sie die Statistiken: Die Verbraucherstim- und gute Bildung. Wir leben in Freiheit, wir haben eine
mung in unserem Land ist wieder hervorragend. hervorragende Gesundheitsversorgung, soziale Gerech-
Mit den Steuererhöhungsorgien, die Sie vorschlagen, tigkeit und breiten Wohlstand. Wenn Sie die Steuerlast
machen Sie einen doppelten Salto rückwärts direkt in die und die Abgabenlast immer weiter nach oben schrauben,
Krise. wenn sich Leistung in diesem Land nicht mehr lohnt,

(Zuruf von der FDP: Richtig!) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die Mehr-
zahl der Einkommensteuerzahler entlasten
Was glauben Sie denn, was passiert, wenn Sie eine fünf- wir!)
prozentige Abgabe auf Vermögen mit einem Wert von
über 1 Million Euro einführen? Das klingt zunächst herr- wenn das Steuerrecht zur Enteignung pervertiert, dann
lich gut: Ich nehme es den Reichen und gebe es den Ar- sind die Grenzen in diesem Land offen. Dann werden
men; Robin Hood lässt grüßen. Sie erleben, dass immer mehr Leistungsträger in unse-
rem Land den Verlockungen anderer Gesellschaften und
(Beifall bei der LINKEN) anderer Staaten nicht mehr widerstehen.
Aber es gilt der Grundsatz: Sie machen die Schwachen (Florian Pronold [SPD]: Wir haben eine richtig
nicht stark, indem Sie die Starken schwächen. – Sie fundamentale Debatte! Die Marktfundamenta-
schlagen vor, eine jährliche, fünfprozentige Steuer auf listen sind am Mikro!)
Vermögen zu erheben. Wissen Sie, wie hoch die durch-
Irgendwann gibt es einen Punkt, an dem Leistung und
schnittliche Immobilienrendite ist? Wenn man ein Im-
Gegenleistung in keinem Verhältnis mehr stehen. Die
mobilienvermögen hat – in Ihren Augen sind das die
meisten Menschen sind so – Sie mögen das beklagen –:
bösen Menschen –, dann erzielt man eine durchschnittli-
Sie strengen sich nicht an, wenn es sich nicht lohnt.
che Rendite von 3,5 Prozent pro Jahr. Sie wollen nun
5 Prozent abgreifen; damit nehmen Sie den Menschen (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: In der
nicht nur den Gewinn, sondern Sie enteignen sie. DDR war das so!)
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Olav Gutting
(A) Das müssen Sie akzeptieren. Sie müssten das am besten (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und wofür (C)
wissen. Haben Sie nicht das Experiment mit Ihrem real brauchen wir Steuern? Jetzt bin ich mal ge-
existierenden Sozialismus gemacht? Hat Ihnen das nicht spannt!)
die Augen geöffnet? Menschen sind, wie sie sind. Es
Daraus muss dann die Schlussfolgerung gezogen wer-
muss sich lohnen, dann strengt man sich an.
den, wie viele Steuern wir brauchen. Wenn ich von „wir“
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – spreche, meine ich damit nicht uns hier vor Ort. Wer mit
Iris Gleicke [SPD]: Das ist ja wohl der letzte „wir“ gemeint ist, sollte in der Steuerdebatte öfter the-
Unsinn, den Sie hier erzählen! Schnösel! – Ge- matisiert werden. Es geht um die Gesellschaft. Wir wol-
genruf des Abg. Florian Pronold [SPD]: len dafür sorgen, dass eine solidarische Gemeinschaft
Schnösel ist noch viel zu nett!) entsteht. Das „wir“ steht nämlich für diejenigen, die hier
leben, die hier arbeiten, die hier aufwachsen und die hier
Unser Weg aus der Krise sieht anders aus. Mit den
Arbeitsplätze schaffen.
Konjunkturpaketen und dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz sowie dem Bürgerentlastungsgesetz haben Bei der Analyse kann man zu unterschiedlichen
wir gezeigt, wie wir dieser Krise begegnen, und zwar er- Schlussfolgerungen kommen. Ich finde es allerdings
folgreich, wie man an den aktuellen Zahlen erkennen schade – das habe ich bei beiden Rednern heute hier ge-
kann. merkt –, dass vorher keine ordentliche Analyse erfolgt
ist.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Lisa Paus
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir gehen sehr kritisch mit der Frage der Steuerlast um. –
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nicolette Kressl für Herr Gutting, bei den Niedrigeinkommen ist es übrigens
die SPD-Fraktion. die Abgabenlast, die zu den 40 Prozent führt, und nicht
allein die Steuerlast.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Olav Gutting
Nicolette Kressl (SPD):
[CDU/CSU]: Das sage ich doch die ganze
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zeit!)
Eigentlich hätten wir es in dieser Debatte über Steuer-
politik verdient, ein bisschen weniger Ideologie von bei- Darüber können wir reden. Sie sagen aber immer: Eine
niedrige Steuer ist gut. Ob die Steuern niedrig oder hoch
(B) den Seiten präsentiert zu bekommen. (D)
sind, ist für Geringverdiener nicht die Problematik; sie
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – werden Sie durch Ihre Einsparungen auch nicht entlas-
Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na ja, ten.
was ist denn Ideologie?)
Wir müssen deutlich machen, dass uns bewusst ist,
Herr Michelbach fragt mich gerade: Was ist denn Ideolo- dass es sich bei den eingenommenen Steuern um die
gie? Wenn Herr Gutting sagt: „Leistung muss sich wie- Mittel der Menschen handelt, die arbeiten. Diese Steuern
der lohnen“ – und damit die Steuerlast anspricht –, dann brauchen wir für die Gemeinschaft. Das bedeutet – ich
vergisst er dabei völlig, dass Menschen, die Vollzeit ar- habe das schon gesagt –: Wenn es um die Höhe der Steu-
beiten und zum Sozialamt müssen, um eine Aufstockung ern geht, müssen wir uns daran orientieren, wie viel der
zu bekommen, nicht den Eindruck haben, dass sich ihre Staat braucht. Der Staat ist in diesem Fall ausdrücklich
Leistung lohnt. Dazu hat er überhaupt nichts gesagt. Ich nichts Negatives. Der Staat ist in unserer gesellschafts-
finde, das ist ganz schön viel Ideologie. politischen Betrachtungsweise derjenige, der durch Aus-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gleich für gleiche Chancen für alle Menschen sorgen
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE kann. Das ist der entscheidende Punkt. Dazu gehört für
GRÜNEN – Olav Gutting [CDU/CSU]: Das mich auch, dass Menschen, unabhängig von ihrer Her-
ist auch nicht das Thema hier! Es geht um kunft, von Anfang an Chancen auf Bildung und Aufstieg
Steuern und nicht um Abgabenpolitik!) haben.
– Ich weiß gar nicht, warum Sie jetzt so aufgeregt sind. (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das
Man merkt schon manchmal: Wenn die Hündchen bel- ist unbestritten!)
len, sind sie getroffen. Das müssen Sie aber mit sich
In Bezug darauf sind Steuern nichts Negatives. Durch
selbst klären.
sie können wir organisieren, dass Menschen Chancen
Die Debatte heute könnte eigentlich Anlass sein, da- auf Bildung und Aufstieg haben.
rüber nachzudenken, warum wir Steuern brauchen. Das
(Beifall bei der SPD)
wäre eine spannende Debatte, aufgrund derer dann damit
aufgehört würde, dass die einen möglichst viele Steuern Meine Schlussfolgerung lautet: Es ist falsch, Steuer-
als gut und die anderen niedrige Steuern als Freiheits- senkungen und möglichst niedrige Steuern als Selbst-
ideal per se bezeichnen. Darum geht es nämlich nicht. zweck hinzustellen. Es ist auch falsch, möglichst hohe
Die Menschen haben es verdient, dass wir einmal genau Steuern nur wegen der Umverteilungswirkung als
überlegen, warum wir überhaupt Steuern brauchen. Selbstzweck hinzustellen.
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Nicolette Kressl
(A) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wegen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
Einnahmewirkung!) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Ich möchte trotz meiner kurzen Redezeit eine Ana-
lyse einbringen. Ich finde, dass die Höhe der verteilten Wir sagen deswegen nicht, dass bei der Gewerbesteuer
Steuern kein Kriterium für die Beurteilung sein kann, in den letzten Jahren der falsche Weg eingeschlagen
wie gerecht es in einem Staat zugeht. Damit es kein wurde. Sie tun immer so, als seien nur die Gewerbesteu-
Missverständnis gibt: Die Frage der Verteilung der Steu- ereinnahmen eingebrochen. Die Zahlen sagen etwas an-
erlast ist sehr wohl ein Kriterium für die Frage, wie ge- deres. Sie zeigen, dass die Gewerbesteuereinnahmen
recht es in einer Gesellschaft zugeht. trotz kleiner Einbrüche ständig steigen. Deshalb sagen
wir Sozialdemokraten: Mit uns wird es eine Abschaf-
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dafür fung der Gewerbesteuer nicht geben. Wir wollen eine
haben wir den progressiven Tarif!) Stabilisierung und nicht das, was Sie auf den Weg brin-
– Herr Michelbach, ich weiß, dass Sie immer mit dem gen wollen.
progressiven Tarif kommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ja!) der LINKEN)
Der entscheidende Punkt bei der Analyse ist, dass Wir müssen auch fragen: Können die Länder mit den
man sich nicht nur auf die Frage der Einkommensbesteu- derzeitigen Steuereinnahmen ein optimales Bildungs-
erung konzentrieren darf. Zu einer Gesamtanalyse ge- angebot schaffen? Wir finden, dies ist nicht nur eine
hört die Frage, wie die Steuerlast in Deutschland insge- Frage der individuellen Chancengerechtigkeit, sondern
samt verteilt ist. auch eine ökonomische Frage. Wenn wir uns im Bil-
dungsbereich nicht bewegen, werden wir wirtschafts-
(Beifall bei der SPD) politisch in wenigen Jahren am Ende des Zuges ange-
Herr Michelbach, bei der Analyse hilft ein Blick auf die kommen sein. Das können wir uns nicht leisten. Wir
Statistik der OECD. müssen ehrlich miteinander umgehen und nicht mög-
lichst niedrige Steuern als Wert an sich propagieren.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die
ist aber falsch!) Wir müssen auch fragen: Ist die Bundesebene in der
Lage, ihre Aufgabe, eine gute Infrastruktur für Bürger
Das ist interessant, Herr Michelbach. Weil Ihnen die und Unternehmen zu schaffen, zu erfüllen? Können wir
Statistik der OECD nicht passt, behaupten Sie einfach, tatsächlich genügend wirtschaftspolitische Impulse set-
(B) sie sei falsch. zen? Können wir genügend Geld für Investitionen und (D)
Forschung ausgeben? Können wir tatsächlich für eine
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das positive Konjunkturentwicklung sorgen? Können wir
habe ich schon mehrfach gegenüber der dafür sorgen, dass wir in Zukunft ökologisch und nach-
OECD gesagt!) haltig wirtschaften? Das sind die Fragen.
Mit dieser Statistik – ich sage das, damit alle verste- Ich finde, es steht uns in der Politik gut an, einzuge-
hen, worüber wir sprechen – hat die OECD Deutschland stehen bzw. klarzumachen, dass sich die Analyse ändern
eindeutig bescheinigt, dass im internationalen Vergleich kann. Wir befinden uns in der Zeit nach der Wirt-
nicht die Einkommensteuer, die Sie immer als Alibi an- schafts- und Finanzmarktkrise. Deswegen sehen ei-
führen, sondern die Vermögensbesteuerung weit unter nige Schlussfolgerungen jetzt anders aus; das ist doch
dem Durchschnitt liegt. Deswegen muss man zwar nicht klar. Wir haben massiv mit Steuermitteln eingreifen
gleich nach einer Steuererhöhung schreien; aber es ge- müssen. Das wurde von großen Teilen dieses Parlaments
hört selbstverständlich zu unserer Pflicht, darüber nach- akzeptiert; aber das hat alle staatlichen Ebenen belastet.
zudenken, wie wir diese Schieflage verändern können. Also müssen wir jetzt überlegen, welche Konsequenzen
Das gehört einfach zu unseren Pflichten. wir daraus ziehen müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir sind der Überzeugung, dass Ziel der Steuer- und
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Abgabenpolitik ist, für eine angemessene und verlässli-
GRÜNEN) che Finanzierung der Aufgaben aller staatlichen Ebenen
Bei der Analyse der Situation muss man sich einige zu sorgen. Auch die Verteilung der Lasten auf dem Weg
Fragen stellen. Wir Sozialdemokraten fragen uns zum zu diesem Ziel muss gerecht sein.
Beispiel: Können Kommunen im Moment optimale Bil- (Beifall bei der SPD)
dungs- und Fördermöglichkeiten für unsere Kinder
anbieten? Können die Kommunen gute Lebens- und Ar- Deshalb sprechen wir uns – ich habe das schon ange-
beitsbedingungen für Unternehmen und Einwohner si- sprochen – für eine stärkere Besteuerung der privaten
cherstellen? Ich sage Ihnen: Bei einem Finanzierungsde- Vermögen aus. Aber, Frau Höll, ehrlich gesagt: 80 Mil-
fizit von 12 bis 15 Milliarden Euro, das die Kommunen liarden Euro durch 5 Prozent – das ist illusorisch. Das ist
erwarten – das sind ihre eigenen Angaben –, können völlig daneben und wirtschaftsfeindlich. Ich finde, wenn
diese Fragen nicht mit Ja beantwortet werden. Deswegen man über eine gerechte Verteilung redet, muss man auch
haben wir als Steuergesetzgeber die Pflicht, uns zu über- die Arbeitsplatzwirkung im Kopf haben. Deswegen sage
legen, wie wir das ändern können. ich: Weder die Ideologie von links noch die von ganz
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Nicolette Kressl
(A) rechts passt. Wir müssen überlegen, was wir tun können, sagt, steuerpolitisch ganz schön naiv und blind. Deshalb (C)
um unser Land nach vorne zu bringen, und zwar auch werden wir diesem Antrag nicht zustimmen können.
steuerpolitisch. Für uns gehört die verstärkte Vermö-
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das
gensbesteuerung dazu, aber nicht in dem Ausmaß, wie
ist ja enttäuschend!)
Sie sich das vorstellen.
(Beifall bei der SPD – Matthias W. Birkwald Das ist nicht das, was wir für nötig halten, nämlich ein
[DIE LINKE]: 50 000 von 2 Millionen! Das ausgewogenes Verhältnis von sinnvollen Investitionen
ist nicht zu viel! Das ist völlig in Ordnung!) und gerechter Steuerverteilungspolitik.

Wir wollen – das hat die Sozialdemokratie beschlos- Vielen Dank.


sen – bei der Einkommensbesteuerung einen höheren (Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach
Spitzensteuersatz greifen lassen, jedoch später als jetzt. [CDU/CSU]: Verschmähte Liebe! Das gibt es
Er soll bei verheirateten Paaren ab einem zu versteuern- doch gar nicht!)
den Einkommen von 200 000 Euro greifen. Wir glauben,
das ist ein guter, aber gemäßigter Weg, der in diesem
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Fall auch dafür sorgen kann, dass Aufgaben besser er-
füllt werden. Ich habe vorhin schon gesagt – ich möchte Nächster Redner ist der Kollege Dr. Volker Wissing
es jetzt bei der Darstellung des Gesamtpakets wiederho- für die FDP-Fraktion.
len –, dass wir auch eine Stärkung der Gewerbesteuer (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wollen. Im Übrigen – das finde ich ganz wichtig, wenn der CDU/CSU)
wir über Föderalismus reden – wollen wir, dass der Steu-
ervollzug der bestehenden Gesetze besser durchgeführt Dr. Volker Wissing (FDP):
wird; denn auch das gehört zur Steuergerechtigkeit.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Wo haben Sie Kollegen! Selbst die SPD sagt, dass Ihre Forderung nach
das gemacht?) einer Vermögensteuer, die 80 Milliarden Euro Steuer-
mehreinnahmen ergeben soll, bestenfalls lächerlich ist.
Der entscheidende Punkt wird sein, das Ganze zu einem Frau Kollegin Höll, finanzieren können Sie mit dieser
stimmigen Paket zusammenzufügen: Luftbuchung in diesem Staat gar nichts.
(Frank Schäffler [FDP]: Schlüssiges Gesamt-
(Florian Pronold [SPD]: Mit Luftbuchungen
konzept!)
kennen Sie sich aus, Herr Wissing!)
solidarische Finanzierung auf der einen Seite, Möglich-
(B) Sie können damit der Wirtschaft schaden, Sie können (D)
keit für Investitionen in Bildung, Forschung und Wirt-
diesem Standort schaden, Sie können Arbeitsplätze ge-
schaft auf der anderen Seite.
fährden, aber Sie können so überhaupt nichts erreichen.
Beim Begriff „stimmig“ lohnt sich ein Blick in den
Antrag der Linken; das kann ich Ihnen nicht ganz erspa- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ren. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass da- der CDU/CSU)
rin steht: Viel ist auf jeden Fall gut. – Auf den zweiten Das gilt für Ihren gesamten Antrag. Sie haben nicht
Blick finde ich es noch interessanter. Dort steht zum Bei- ein positives Wort über die Menschen geschrieben, die
spiel: Wir wollen 10 Milliarden Euro Steuern weniger den Sozialstaat finanzieren. Sie haben kein positives
einnehmen, indem wir in vier Bereichen einen ermäßig- Wort über Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geschrie-
ten Mehrwertsteuersatz einführen. – Ich verstehe ben.
nicht, dass Sie nicht lernfähig sind. Spätestens ein Jahr
nachdem die Koalition diese grandiose Hotelsteuerermä- (Zurufe von der LINKEN: Oh!)
ßigung beschlossen hat, wissen Sie doch, dass das Geld Ihre Devise ist: Wer in diesem Land viel arbeitet, der soll
nicht bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern an- sich schämen und möglichst hohe Steuern zahlen, damit
kommt. die Linken das verteilen können. Das ist der Geist Ihres
(Beifall bei der SPD) Antrags.

Sie fordern zum Beispiel ernsthaft, bei Medikamenten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
auf 4 Milliarden Euro Steuereinnahmen zu verzichten, der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]:
obwohl wir nach der Erfahrung mit der Hotelsteuerermä- Das ist ja so platt!)
ßigung davon ausgehen müssen, dass das Geld bei den
internationalen Konzernen hängen bleibt. Was soll daran Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
gerecht sein? Ich bitte Sie! Herr Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischen-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten frage des Kollegen Birkwald?
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Dr. Volker Wissing (FDP):
Ja, bitte.
Die Forderung bezüglich einer Umsatzsteuerermäßi-
gung, die, wie wir wissen, nicht bei den Verbrauchern (Florian Pronold [SPD]: Verlängert dem doch
ankommt, ist nicht nur populistisch, sondern, ehrlich ge- nicht die Redezeit!)
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(A) Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jetzt aber (C)
Herr Kollege Wissing, sind Sie bereit, zur Kenntnis nicht ausweichen, sondern die Frage beant-
zu nehmen, dass die Kollegin Dr. Barbara Höll vorhin in worten! – Katja Kipping [DIE LINKE]: Frage!)
ihrer Rede deutlich gemacht hat, dass die Linke auch für – lassen Sie mich doch antworten! – durch eine Vermö-
die Einkommensteuersenkung all derer eintritt, die null gensteuer aus der deutschen Wirtschaft und dem deut-
bis 70 000 Euro brutto im Jahr verdienen und dass wir schen Mittelstand
damit selbstverständlich die Leistung derjenigen goutie-
ren, die viel und gut arbeiten? Denn für wenig Arbeit be- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sind Millio-
kommt man ein solches Einkommen nicht. Nehmen Sie näre der Mittelstand? – Dr. Barbara Höll [DIE
auch zur Kenntnis, dass wir insofern einerseits die Partei LINKE]: Das ist doch Privatvermögen!)
der sozial Benachteiligten, andererseits auch die Partei
– ich bin noch nicht fertig – herausziehen möchten, dann
der Mittelschicht sind?
können Sie sich nicht hinstellen und behaupten, Sie
(Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge- seien eine Partei, die sich für die Arbeitnehmerinnen und
ordneten der CDU/CSU und der FDP) Arbeitnehmer einsetzt. Denn das Schlimmste, was man
den Menschen antun kann, ist, ihren Arbeitsplatz zu ge-
fährden. Das tun Sie mit Ihrem Antrag.
Dr. Volker Wissing (FDP):
Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die ungeheuerliche (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Behauptung aufstellen, dass die Linke die Partei der Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Alle Millionäre
Mitte sein möchte. sind normale Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer! Genau!)
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der
Mittelschicht!) Lassen Sie uns über den Geist Ihres Antrags reden.
Wenn der Kollege Gutting, bezogen auf unser Steuersys-
Das nehme ich zur Kenntnis. Ich weise das aber, Herr tem – nur darüber hat er gesprochen –, völlig zu Recht
Kollege, mit aller Entschiedenheit zurück; denn Sie ha- sagt, dass sich Leistung lohnen muss, dann hat er die
ben in diesem Parlament bisher nur Anträge vorgelegt, Wahrheit gesagt und eine Kernaussage der sozialen
die einen Angriff nach dem anderen auf die Mitte dieses Marktwirtschaft betont. Dass die Sozialdemokraten dem
Landes darstellen. Diese Angriffe wehren wir entschlos- widersprechen und das als Ideologie diffamieren, zeigt,
sen ab, weil wir der Meinung sind, dass die leistungsfä- wohin Sie sich entwickeln, meine Damen und Herren.
hige Mitte dieses Landes
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber wir ent-
(B) Sie haben das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft nicht (D)
lasten auch 70 000 und finanzieren das ge-
verstanden. Leistung ist nämlich nichts Schlechtes, son-
gen! – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die ha-
dern Leistung ist der Kern, auf dem dieses System be-
ben Sie ja noch mehr belastet!)
ruht. Soziale Marktwirtschaft heißt nicht nur Verteilen,
nicht durch die Linken in diesem Hause beschädigt wer- sondern vor allem erst einmal Erwirtschaften, bevor es
den darf. Sie braucht vielmehr Unterstützung, weil die etwas zu verteilen gibt. Dass die Linke das nicht ver-
Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der Bundesre- steht, wundert uns nicht. Dass die SPD zunehmend ins
publik Deutschland ungerecht besteuert werden. Es gibt gleiche Horn bläst, ist bedauerlich.
einen Mittelstandsbauch (Florian Pronold [SPD]: Sich erst auf uns be-
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wir haben ziehen und uns dann kritisieren!)
vorgeschlagen, ihn abzuschaffen! Und was Ihre Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit sind im
war? Sie stimmten nicht zu! – Dr. Axel Troost Kern unsozial. Sie reduzieren den Sozialstaat auf einen
[DIE LINKE]: Wir haben gesagt: Den Mittel- Verteilungsstaat;
standsbauch schaffen wir ab!)
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das stimmt
und eine kalte Progression. Dieses Problem müssen wir doch überhaupt nicht!)
angehen. Man löst es aber nicht, indem man diese Men-
schen ständig beschimpft, so wie Sie es tun, und man deswegen hat auch Frau Kressl nur vom Verteilen ge-
löst es auch nicht, indem man für die Bezieher von mitt- sprochen. Ihr Sozialstaat ist auch kein aktivierender,
leren Einkommen ständig noch höhere Steuern fordert. sondern er ist vor allen Dingen ein kassierender Sozial-
staat.
(Florian Pronold [SPD]: Aber der Mittel-
standsbauch ist doch von einer FDP-Regie- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)
rung beschlossen worden! Das wart ihr doch Was Sie auf der Verteilungsseite an sozialer Gerechtig-
selber! Eigene Sünden! – Nicolette Kressl keit erreichen wollen, konterkarieren Sie durch soziale
[SPD]: Das ist doch der Waigel-Bauch!) Ungerechtigkeiten auf der Steuerseite.
Sie sind nicht ansatzweise eine Partei für den Mittel-
stand. Sie sind auch keine Partei für die Mitte. Wenn Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
man sich vergegenwärtigt, Herr Kollege, dass Sie Herr Kollege Wissing, gestatten Sie noch eine Zwi-
80 Milliarden Euro jährlich schenfrage des Kollegen Troost?
6822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Dr. Volker Wissing (FDP): Fest steht: Die Bundesrepublik Deutschland ist auf ei- (C)
Ja. Auch der Kollege Troost darf eine Zwischenfrage nem guten Weg, weil diese christlich-liberale Koalition
stellen. wie eine Eins zur sozialen Marktwirtschaft steht. Sie tun
es nicht.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Bitte sehr. Meine Damen und Herren, Sie stellen Steuergerech-
tigkeit und soziale Gerechtigkeit immer wieder als Wi-
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): derspruch dar. In Wahrheit sind Steuergerechtigkeit und
Herr Kollege Wissing, auch unter Ihrer Mitwirkung soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille.
hat Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Die Frage ist: Hat (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie machen
sich Leistung damals gelohnt oder nicht? Wenn wir eine sozial ungerechte Politik und eine sozial
heute noch das Steuersystem von 1998 hätten, hätten die ungerechte Steuerpolitik! Das stimmt!)
öffentlichen Haushalte jedes Jahr um über 50 Milliarden
Euro höhere Steuereinnahmen. Insgesamt ist über eine Ein gerechtes Steuersystem ist ein ganz erheblicher Bei-
halbe Billion Euro durch die Steuersenkungspolitik, die trag für soziale Gerechtigkeit. Da Sie in Ihrem Antrag
seitdem gemacht wurde, verloren gegangen. wieder schreiben, dass das Steuerrecht Spitzensteuer-
satzzahler bevorzuge, will ich Ihnen die Fakten vorhal-
(Frank Schäffler [FDP]: Quatsch! Das war ten. Seit 1958, Frau Kollegin Höll, wurde bei nahezu je-
eine gute Zeit für Deutschland!) der Steuerreform der Einkommensfreibetrag angehoben
Ist es tatsächlich so, dass wir diejenigen sind, die Leis- und der Eingangssteuersatz gesenkt. Das ist die Ent-
tung bestrafen? Oder kann man nicht, wenn man Steuer- wicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Kontinu-
mehreinnahmen erzielt, auch für mehr Steuergerechtig- ierlich wurde immer mehr für die Bezieher der unteren
keit sorgen? Einkommen getan.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Immer wurde
(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans
der Spitzensteuersatz gesenkt!)
Michelbach [CDU/CSU]: Hauptsache, es kommt
keine Globalisierung!) 1958 lag der Einkommensfreibetrag bei rund 860 Euro
bei einem Eingangssteuersatz von 20 Prozent. Heute
Dr. Volker Wissing (FDP): liegt er bei 8 004 Euro bei einem Steuersatz von 10 Pro-
zent. Sie beklagen, dass sich die Entwicklung für die
Herr Kollege, Ihre Frage beruht auf einem Irrtum.
(B) Das Problem der Linken ist: Sie nehmen immer irgend- Empfänger niedriger Einkommen negativ und für Spit- (D)
zensteuersatzzahler positiv darstelle.
welche Zahlen, glauben, Sie könnten diese Zahlen der
Realität überstülpen und würden dann ein auch nur an- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist doch
satzweise realistisches Ergebnis erzielen. Das ist, wie nur eine Anpassung an die Inflation!)
gesagt, ein Irrtum der Linken.
Jetzt reden wir über die Einkommensgrenze beim
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das ist ja völlig Spitzensteuersatz. 1958 lag sie bei 56 000 Euro, wäh-
vorbei an der Frage! – Matthias W. Birkwald rend sie heute bei 52 000 Euro liegt. Das ist die gegen-
[DIE LINKE]: Eine peinliche Antwort, Herr teilige Entwicklung.
Kollege!)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sagen Sie
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft in diesem Land unter doch mal die Steuersätze dazu!)
der Regierung von Helmut Kohl positiv entwickelt hat. Der Staat hat den Spitzensteuersatz immer mehr zu ei-
Fakt ist, dass sich die Wirtschaft unseres Landes auch nem Steuersatz der Mitte gemacht.
unter dieser christlich-liberalen Koalition sehr positiv
entwickelt. Der IWF hat die Wachstumszahlen erneut Sie behaupten, dass Spitzensteuersatzzahler reiche
nach oben korrigiert. Leute seien. Das ist Unfug. Sie können das so oft wie-
derholen, wie Sie wollen. Sie führen die Leute damit
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und was hat hinter die Fichte. Der Spitzensteuersatz in Deutschland
die FDP damit zu tun?) ist der Steuersatz für Facharbeiter und für gut ausgebil-
Was auch Sie freuen sollte – hier sollten Sie wirklich et- dete Angestellte. Das ist nicht der Steuersatz von reichen
was Positives für die Regierung übrig haben –, ist, dass Leuten oder von Millionären.
die Arbeitslosigkeit in Deutschland sinkt. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Deswegen
schieben wir das auch nach oben!)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie war das
denn bei Helmut Kohl? – Petra Hinz [Essen] Deswegen sind Sie keine Partei, die sich um die Mitte
[SPD]: Dazu haben Sie doch gar nichts beige- in Deutschland bemüht. Sie sind eine Partei, die die
tragen!) Mitte in Deutschland angreift, weil Sie sie abkassieren
wollen.
Das ist die Messlatte, an der wir uns messen lassen wol-
len. Das sind die ersten Erfolge unserer wachstumsorien- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt ja
tierten Politik. Ihre Vergleiche hinken. gar nicht!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6823
Dr. Volker Wissing
(A) Ihre falschen Behauptungen führen darüber hinaus dazu, Sie können natürlich sagen: Warum erwirtschaften (C)
dass die Leute Ihnen auch noch glauben. 5 Prozent nur 42 Prozent? Sie können sagen: Die sollen
alles machen.
(Lachen bei der LINKEN)
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die haben
Klargestellt werden muss, dass der Spitzensteuersatz der aber so viel Einkommen!)
Steuersatz für Facharbeiter und der Steuersatz der Mitte
ist. Eine Partei, die hier Hand anlegt, kann nichts mit so- Das ist eben die Frage. Irgendwann kippt die Gerechtig-
zialer Gerechtigkeit im Sinn haben, meine Damen und keitsfrage.
Herren.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: In der Tat!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – In Deutschland darf gesagt werden – Herr Kollege
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die Facharbei- Gutting hat es ausgeführt –: Leistung darf sich lohnen;
ter sind die Millionäre!) Leistung muss sich lohnen. Man darf sich mit den Men-
Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass schen freuen, die sich in Deutschland anstrengen, die ih-
starke Schultern viel tragen. Bei Ihnen lautet die eigent- rer Arbeit nachgehen, die Risiken auf sich nehmen und
liche Forderung, starke Schultern sollten alles tragen und die investieren. Ich denke dabei an mittelständische Un-
auch alles ertragen. Wir sagen: Auch dabei gibt es Gren- ternehmen, an Handwerker, die auch in der Krise Risi-
zen. Für mittlere Einkommen und für die aufstrebende ken eingehen, die an dieses Land und den Zusammenhalt
Mitte in Deutschland muss es noch Luft zum Atmen ge- in dieser Gesellschaft glauben.
ben. Sie braucht die soziale Marktwirtschaft. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Glauben reicht
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Warum nicht! Sie müssen etwas dafür tun!)
wächst das Vermögen so schnell an?) Man darf diesen Leuten danken und muss nicht fordern,
Dort ist Leistungsbereitschaft vorhanden. Dort wird un- immer mehr abzukassieren. Ihre Umverteilungsfantasien
ser Wohlstand erwirtschaftet. sind schlicht und einfach nicht finanzierbar.
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben
Hören Sie auf, diese Leute zu diffamieren. Sagen Sie
umverteilt!)
doch einmal Danke an alle Empfänger mittlerer Einkom-
men in Deutschland, Selbst wenn Sie Ihren Angriff auf die Mitte in
Deutschland durchsetzen könnten, wären Ihre Umvertei-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das sind nicht
lungsfantasien immer noch nicht finanzierbar.
(B) die mittleren, das sind die Spitzeneinkommen! (D)
Schauen Sie sich einmal die Einkommensver- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Jetzt ist aber
teilung an!) gut!)
die hohe Steuern zahlen und die mit Mittelstandsbauch Deswegen: Hören Sie auf, dieses Ziel weiterzuverfol-
und kalter Progression auch während der Krise dazu bei- gen. Dafür finden Sie keine Mehrheiten in diesem Land.
getragen haben, dass der Staat handlungsfähig bleibt und Das ist gut so, weil Sie den Wohlstand in der Bundesre-
dass sich das Steueraufkommen positiv entwickelt. Das publik Deutschland in Wahrheit abbauen und nicht auf-
ist die Leistung der Mitte in Deutschland. bauen helfen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dass man diese Leute gegenwärtig nicht entlasten kann, Meine Damen und Herren, es bleibt dabei, dass die
ist bedauerlich. Denn die Krise, Frau Kollegin Kressl, Linke für höhere Sozialleistungen durch höhere Steuern
liegt noch nicht hinter uns. Wir sind noch mitten in der kämpft. Die CDU/CSU und die FDP kämpfen dafür,
Krise. Aber man darf auch einmal der Mitte in Deutsch- dass die Menschen Lohn und Arbeit haben, damit sie auf
land danken: Sozialleistungen nicht angewiesen sind. Das ist unsere
Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wir verfolgen
(Zuruf von der LINKEN) sie weiter. Wir sind auf einem guten Weg. Die Zahlen
danke für die Leistungsbereitschaft, danke für die Finan- sprechen für sich. Deswegen brauchen wir Ihre nicht
zierung dieses Staates und des Sozialstaates. Das hätte in einmal sinnvollen, geschweige denn gut gemeinten Rat-
Ihrem Antrag stehen müssen. schläge nicht.
Sie führen die Menschen mit falschen Informationen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
hinter die Fichte
Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir entlasten
genau diese mit den Steuern!) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Nein! Es ist
Geld da!)
5 Prozent der oberen Einkommensschichten erwirt-
schaften heute bereits 42 Prozent des Einkommensteu- und leisten keinen Beitrag zur Stärkung des Wohlstandes
eraufkommens. dieses Landes. Deswegen lehnen wir Ihren Antrag
selbstverständlich ab.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]): 35 Prozent
der Gesamteinkommen!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
6824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Jetzt könnte man natürlich beschwichtigend einwer- (C)
Nun hat die Kollegin Lisa Paus für die Fraktion fen: Wenn man diese 179 Milliarden Euro nicht ernst
Bündnis 90/Die Grünen das Wort. nimmt, sondern sich Ihre Steuervorschläge im Einzelnen
ansieht und versucht, das noch einmal seriös durchzu-
rechnen, dann kommt man vielleicht auf 50 Milliarden
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Euro. Gut, aber, werte Kolleginnen und Kollegen von
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als ich der Linkspartei, was sollen wir denn nun tun? Sollen wir
den Antrag gelesen habe, habe ich auch kurz darüber Ihre Steuervorschläge inhaltlich ernst nehmen, aber die
nachgedacht, wie man mit diesem Antrag eigentlich um- Finanzierungszahlen nicht, oder sollen wir die Finanzie-
gehen soll. Man kann es so machen wie Frau Kressl: ein rungszahlen ernst nehmen, aber Ihre Steuervorschläge
bisschen Nachdenklichkeit darüberschütten. nicht? Wie man es dreht und wendet: Dieser Antrag ist
schlichtweg nicht ernst zu nehmen.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wei-
nerlichkeit! – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pastoral!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
CDU/CSU und der FDP)
Der Grund ist, dass wir von Bündnis 90/Die Grünen die
Ziele, die Sie mit dem Antrag vorgeblich versuchen zu Das bedauere ich wirklich; denn bei der Aufgabe, vor
erreichen, dass wir unser Land gerechter machen wollen, der wir in Deutschland stehen, nämlich die wachsende
dass wir die gewachsene Umverteilung zwischen Arm Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande wie-
und Reich umkehren müssen und dass wir die Binnen- der zu schließen, brauchen wir Verbündete, aber es
konjunktur stärken wollen, natürlich teilen. braucht nun einmal ernst zu nehmende Verbündete.

(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber nur theo- Die Aufgaben sind eben nicht klein: Bis heute leistet
retisch!) die Finanzwirtschaft, die vom Steuerzahler teuer vor
dem Kollaps gerettet werden musste, eben keinen Bei-
Ich habe Ihren Antrag gelesen und mich, weil Ihr trag zur Finanzierung der Kosten der Krise. Bis heute
Konzept von einer Umsetzbarkeit wirklich so weit ent- – so hat das Umweltbundesamt ausgerechnet – leistet
fernt ist wie das Wasser von der Wüste, dermaßen da- sich Deutschland jährlich 48 Milliarden Euro an umwelt-
rüber geärgert, dass ich mich doch einmal inhaltlich mit schädlichen Subventionen. Bis heute sind Finanzämter,
Ihrem Antrag auseinandersetzen muss. insbesondere in schwarz-gelb regierten Bundesländern,
personell so unterbesetzt, dass Steuerhinterziehung in-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zwischen zum Volkssport geworden ist und die Finanz-
(B) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ämter nicht in der Lage sind, für einen gleichmäßigen (D)
CDU/CSU – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ Steuervollzug zu sorgen. Diese Liste lässt sich fast un-
CSU]: Endlich einmal eine ehrliche Antwort!) endlich fortführen. Das ist nicht hinnehmbar.
Sie legen das ja als Ihr steuerpolitisches Gesamtkonzept (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
vor. Das muss man dann auch entsprechend würdigen.
Die Stimmung in Deutschland ist prekär geworden.
Was schlagen Sie vor? Eine Aneinanderreihung von Am 3. Oktober 2010 hat beispielsweise die Journalistin
Steuererhöhungen und eine Liste, in der Sie zum Teil Tissy Bruns, sicherlich stellvertretend für viele, ange-
pseudogenau, an anderen Stellen, wie zum Beispiel bei sichts der wachsenden Ungleichheit, die viele Menschen
den ökologischen Steuern und bei der Einkommensteuer, verunsichert, stresst und entmutigt, im Tagesspiegel sehr
dagegen erstaunlich vage Angaben darüber machen, wie grundsätzlich noch einmal die Frage aufgeworfen:
hoch die Steuereinnahmen ausfallen werden. Unter dem
Sind wir noch das Land der sozialen Marktwirt-
Strich haben Sie sich sage und schreibe 179 Milliarden
schaft, das Spitzenprodukt des europäischen Sozial-
Euro zusammengerechnet. Wie das allerdings mit Ihrem
staatsmodells?
Ziel, die Binnenkonjunktur zu stärken, zusammenpassen
soll, wenn Sie 179 Milliarden Euro an Kaufkraft entzie- Nicht weniger als der Grundkonsens unserer Gesell-
hen, ist zumindest für jeden Volkswirt, den ich kenne, schaft ist inzwischen dank Schwarz-Gelb gefährdet. Da-
ein Rätsel. rauf brauchen wir Antworten, aber keine scheinkonkre-
ten, sondern tatsächlich machbare und umsetzbare
(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜND- Vorschläge, werte Kolleginnen und Kollegen von der
NIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Axel Troost Linksfraktion.
[DIE LINKE]: Und wieder ausgeben!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Das steht da aber nicht. – Ich habe noch einmal in Ih- und bei der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE
ren Pressemitteilungen nachgesehen. Sie schlagen ein LINKE]: Sie sind umsetzbar!)
Konjunkturprogramm von 30 Milliarden Euro vor. Das
ist eine Mininummer gegenüber diesen 179 Milliarden Besonders geärgert habe ich mich über Ihre soge-
Euro. Das passt also schon einmal hinten und vorne nannte Millionärsteuer. So nennen Sie ja Ihre Vermö-
nicht zusammen. gensteuer. Endlich gibt es in dieser Gesellschaft wieder
eine aufkommende Bereitschaft, ernsthaft über die Erhe-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es ist ein bung einer Vermögensteuer oder Vermögensabgabe, die
Steuerantrag!) wir fordern, zu reden. Vermögende tun sich zusammen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6825
Lisa Paus
(A) werben öffentlich für die Idee und schalten Anzeigen. freut mich, dass Sie inzwischen dazugelernt haben und (C)
Andere Bündnisse beginnen sich zu sammeln. In dieser das Thema wieder angehen wollen.
Situation legen Sie einen Antrag vor, in dem Sie allen
Wir können uns gerne über die Höhe streiten. Wir ha-
Ernstes vorschlagen, eine Vermögensteuer mit einem
ben jetzt 5 Prozent vorgelegt. Man kann darüber streiten.
Steuersatz von 5 Prozent einzuführen. Aber damit nicht
Sie können auch 1 Prozent oder 2 Prozent vorschlagen.
genug: Zusammen mit Ihrem Einkommensteuerkonzept
Aber das ist eine andere Frage. Ich denke, es sollte poli-
müssen Millionäre sichere Durchschnittsrenditen von
tisch darum gehen, zu zeigen, dass die Vermögen besteu-
nicht 5 Prozent, nein, von 11 Prozent erzielen, um die
ert werden müssen.
Steuern zahlen zu können und bei plus/minus null he-
rauszukommen. Das heißt, jeder Anleger macht mit sei- Es wird auch nicht alles wegbesteuert. Wir haben ei-
ner Vermögensanlage im besten Fall keinen Verlust. Im nen Freibetrag von 1 Million Euro vorgeschlagen. Sie
Normalfall zahlt er, egal bei welcher Anlage, drauf. Das wissen selbst, dass es riesige Unterschiede gibt. Es geht
freut natürlich jeden Schwundgeldtheoretiker. um Privatvermögen, Herr Gutting und Herr Wissing.
Das haben Sie vorhin nicht ganz richtig mitbekommen.
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wer großes Vermögen hat, kann hier oftmals ganz an-
NEN und bei der SPD) dere Renditen erwirtschaften.
Aber ich frage Sie allen Ernstes: Was soll der Quatsch? Ich persönlich finde es bei einem Freibetrag von
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1 Million Euro nicht sakrosankt – das ist damals selbst in
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht einheit-
der SPD) lich abgelehnt worden –, wenn man mit einer Besteue-
rung zu einer Umverteilung kommen will und vielleicht
Sie müssten wissen, dass Vermögen seinen Marktwert auch ein kleines bisschen an die Substanz herangeht. Da-
verliert, wenn keine Erträge erwirtschaftet werden. Bei rüber sollte man tatsächlich nachdenken. Aus welchen
einer Vermögensteuer von 5 Prozent wäre der Preisver- Gründen sollen riesige Vermögen so aufgehäuft bleiben
fall bei Aktien, Häusern, Unternehmen und Betriebsver- und als sakrosankt erklärt werden?
mögen gigantisch. Ein Verfall von mindestens 80 Pro-
zent ist nicht unrealistisch. Das würde, ehrlich gesagt, Hier ist über die Leistungsträger gesprochen wor-
nicht nur die Börsenspekulanten sehr nervös machen. den. Dazu möchte ich sagen: Erstens haben wir eine Ver-
schiebung. Über 50 Prozent der Steuern, die eingenom-
Mein Problem ist: Mit solchen steuerpolitischen Kon- men werden, kommen aus der indirekten Besteuerung.
zepten schaden Sie nicht nur sich und Ihrer politischen Jede Hartz-IV-Bezieherin und jede alleinerziehende
Glaubwürdigkeit – das kann mir herzlich egal sein –, Mutter, die für ihr Kind einkauft, muss indirekte Steuern
(B) sondern Sie diskreditieren damit die gesamte Idee einer (D)
zahlen. Das heißt, alle zahlen einen großen Beitrag.
Vermögensteuer oder Vermögensabgabe. Auch alle, die leider keine Arbeit haben oder so niedrig
bezahlt werden, dass sie Sozialleistungen beziehen müs-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sen, zahlen Steuern. Sie zahlen nämlich Verbrauchsteu-
und bei der SPD)
ern. Das muss man vorneweg stellen.
Sie stellen sich damit schlichtweg außerhalb einer je- (Beifall bei der LINKEN)
den ernsthaften Debatte um das Wie einer stärkeren Be-
steuerung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Mit Herr Wissing, ich verlange, dass Sie den Antrag rich-
diesem Antrag erweisen Sie deshalb sich, aber vor allem tig lesen. Wir haben darin aufgenommen, was wir in der
der Sache, einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit, einen letzten Legislaturperiode gefordert haben, nämlich die
Bärendienst. Deswegen fordere ich Sie ernsthaft auf: Streichung des Waigel-Bauches, den die schwarz-gelbe
Ziehen Sie den Antrag zurück! Fangen Sie noch einmal Koalition eingeführt hat.
neu an! (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie haben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doch keine fünf Minuten Redezeit!)
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ein linear-progressiver Tarif bedeutet eine Entlastung der
CDU/CSU) mittleren Einkommensgruppen. Wir entlasten bis zu ei-
nem zu versteuernden Einkommen von über 70 245 Euro.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir gehen mit unserer Verschiebung nämlich auch auf
Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin die kalte Progression ein.
Dr. Höll.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Frau Kollegin, ich darf Sie unterbrechen. Die Rede-
Danke, Frau Präsidentin. – Sehr geehrte Kollegin zeit für die Kurzintervention beträgt nur drei Minuten.
Paus, ich finde es ein bisschen bedauerlich, dass Sie in
der Auseinandersetzung versuchen, unseren Antrag als Dr. Barbara Höll (DIE LINKE):
unernst zu bezeichnen. Wir können festhalten, dass wir Das ist eine ordentliche Politik für die Bezieher mitt-
als Linke seit Jahren dafür kämpfen, wieder eine Vermö- lerer Einkommen. Das können Sie nicht einfach beiseite-
gensbesteuerung einzuführen. Sie, die SPD und die wischen. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das die
Grünen, waren die ganze Zeit absolut nicht dafür. Es Unwahrheit.
6826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Barbara Höll


(A) Danke. den Eindruck, dass sich vier Fraktionen sehr ernsthaft (C)
bemühen, im Detail darum zu ringen, welches der rich-
(Beifall bei der LINKEN)
tige Weg hin zu sozialer Gerechtigkeit ist, welche die
richtige Verteilung der Lasten ist – das betrifft letztend-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lich rund 82 Millionen Deutsche –, die dazu beiträgt,
Zur Erwiderung, Frau Paus. dass die Politik ihrem Auftrag, soziale Gerechtigkeit
herzustellen – Starke müssen gefordert und Schwache
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gefördert werden –, nachkommen kann. Keiner von uns
Frau Dr. Höll, ich will mit Ihnen darüber diskutieren, hat heute die Lösung für die nächsten zehn Jahre. Die
wie Umverteilung gehen kann, allerdings anhand von Welt verändert sich. Wir müssen uns anpassen. Deutsch-
machbaren Konzepten. Deswegen ärgert mich Ihr jetzi- land muss sich anpassen. Die Politik muss sich anpassen.
ger Vorschlag. Darüber haben wir schon im Februar Europa muss sich auf neue Herausforderungen einstel-
dieses Jahres geredet. Selbst wenn Ihr versammelter len. Deswegen ist die Debatte zwischen den vier genann-
Sachverstand es vorher nicht bemerkt hat, sollten Sie ten Fraktionen aus meiner Sicht zielführend und richtig.
spätestens nach der Debatte über die von Ihnen vorge- Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir wissen, dass die
schlagene Millionärsteuer im Februar eigentlich in sich Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland – übri-
gegangen sein. Sie selber rühmen sich mit Ihrem Sach- gens am stärksten unter Rot-Grün – immer weiter aus-
verstand. Die Linksfraktion hat einen Chefvolkswirt, einandergeht. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wis-
Herrn Schlecht. Die Linksfraktion hat in ihren Reihen ei- sen, dass Alleinerziehende mit geringem Einkommen es
nen emeritierten Professor der Volkswirtschaftslehre, in diesem Land verdammt schwer haben, ihren Kindern
Herrn Dr. Schui. Die Linksfraktion hat einen promo- einen Lebensweg, einen Berufsweg und eine Perspektive
vierten Volkswirt, der gerade neben Ihnen sitzt, Herrn zu eröffnen. Es lässt uns doch nicht kalt, wenn wir wis-
Dr. Axel Troost. Dieser versammelte Sachverstand sen, dass 58-, 59- und 60-jährige Menschen unverschul-
kommt zu dem unsinnigen Ergebnis, dass eine Vermö- det ihren Job verlieren und dann am Rand der Gesell-
gensteuer in Höhe von 5 Prozent ein Aufkommen in schaft, am Rand des sozial Zumutbaren in diesem Land
Höhe von 80 Milliarden Euro bringen soll. Wenn ein sol- leben müssen. Wir alle gemeinsam sind mit der Beant-
cher Unsinn erzählt wird, dann ist irgendwann – es tut wortung der Frage befasst, was wir tun können. Woher
mir leid – die Grenze der Diskussionsfähigkeit erreicht. können wir Geld nehmen, das wir dringend brauchen,
Ich möchte mit Ihnen darüber reden, wie wir Deutsch- wohlwissend, dass Schulden zulasten der nächsten Ge-
land tatsächlich sozial gerechter gestalten können, aber neration nicht die richtige und verantwortungsvolle Ant-
anhand von machbaren Vorschlägen. Ich möchte mich wort sein können?
(B) mit den unsinnigen Vorschlägen der schwarz-gelben Ko- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
alition auseinandersetzen. Aber Sie leisten uns einen Bä-
rendienst und spielen der Koalition in die Hände, weil Im Übrigen haben Sie intensiv gegen die Einführung der
Sie Vorschläge machen, die nicht funktionieren. Schuldenbremse gearbeitet; das sei nur erwähnt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich gebe Ihnen recht, Frau Höll. Sie haben gesagt
und bei der SPD) – ich fand diesen Satz ein Stück weit entlarvend; Sie fan-
den ihn wahrscheinlich ehrlich –: Es gibt eine Alterna-
Das nutzt niemandem. Deswegen habe ich hier die Gele- tive. – Ja, den Eindruck habe ich auch. Es gibt vier Par-
genheit ergriffen, zu sagen: Kehren Sie zu einer vernünf- teien, die um die Ausgestaltung des Erfolgsmodells
tigen Grundlage zurück, auf der man diskutieren kann! soziale Marktwirtschaft ringen. Es gibt eine Partei, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine Alternative hat. Sie haben eine Alternative, die mit
und bei der SPD) der heutigen sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun hat.
Sie wollen Sozialismus. Sie wollen Kommunismus. Ich
werfe Ihnen das nicht vor; das ist völlig legitim.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Frank Steffel für (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den
die CDU/CSU-Fraktion. Unterschied kennen Sie gar nicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dafür werden Sie gewählt. Das ist Ihre Alternative. Ich
sage Ihnen: Erstens. Diese Alternative ist gescheitert. Sie
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
ist nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt
gescheitert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sollte die Opposition ihre Bewertung und Kritik noch
Zweitens. Wir wollen diese Alternative nicht. Auch das
einmal untereinander klären. Normalerweise sollten Op-
gehört zur Wahrheit. Wir haben eine andere Vorstellung
position und Regierung hier miteinander ringen.
von dieser Gesellschaft.
(Nicolette Kressl [SPD]: Was ist das für ein
Man könnte es sich sehr leicht machen. Ich habe den
Parlamentsverständnis?)
letzten Wahlkampf aufmerksam verfolgt. Die Linke hat
Ich will auf einen Punkt hinweisen – ich habe der De- damals an der einen Laterne plakatiert – Sie erinnern sich
batte sehr intensiv gelauscht –, der mir auffällt. Ich habe vielleicht –: „Reichtum für alle“. An der nächsten La-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6827
Dr. Frank Steffel
(A) terne hing ein Plakat: „Reichtum besteuern“. Ja, meine ter und sozialer geht es zumindest für diesen Teil der Ge- (C)
Damen und Herren, das heißt im Ergebnis höhere Steu- sellschaft schon überhaupt nicht mehr.
ern für alle.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf von der LINKEN)
Es disqualifiziert Sie und zeigt, worum es Ihnen wirklich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
geht. Zumindest hat es mit seriöser Politik überhaupt Herr Kollege Steffel, der Herr Kollege Troost würde
nichts zu tun. gern eine Zwischenfrage stellen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Dr. Frank Steffel (CDU/CSU):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte es auch Nein. – Wir haben weitere Fakten, die spannend sind.
mit den Fakten. Es ist eine wichtige und eine schwierige Was ist der Spitzensteuersatz? Ich will Ihnen auch das
Debatte, und ich habe den Eindruck, dass zumindest zum kurz vortragen. Diesen Steuersatz hat übrigens Rot-Grün
Teil ein falsches Bild von diesem Land gezeichnet und gesenkt. Als Rot-Grün 1998 antrat, betrug der Spitzen-
damit ein falscher Eindruck erweckt wird. Ich weiß steuersatz 53 Prozent, übrigens primär, um nach der
auch, Frau Kressl, dass Lohn- und Einkommensteuer deutschen Einheit die Lasten Ihrer SED-Erbschaft zu be-
nicht alles sind; das ist völlig klar. Wir haben Unterneh- wältigen, um das auch einmal klar zu sagen.
mensteuern, sowohl bei Körperschaften als natürlich
auch bei Privatunternehmen, die übrigens sehr massiv (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dazu beitragen, dass in diesem Land und gerade in den Der Spitzensteuersatz wurde von Rot-Grün von 53 Pro-
Kommunen erhebliche Steuermittel zur Verfügung ste- zent bis 2005 auf 42 Prozent gesenkt. Ich sage auch das
hen. Außerdem gibt es in Deutschland Erbschaftsteuern. nur zur Versachlichung der Debatte.
Das ist eine ganz schwierige Debatte; wir alle kennen
aus unseren Wahlkreisen, aus dem familiären Umfeld Er liegt heute bei 42 Prozent. Wir haben 3 Prozent
das Argument, das sei ja alles schon einmal versteuert, Reichensteuer, wir haben 5,5 Prozent Soli. Das sind
man habe es gespart und müsse jetzt noch einmal Steu- 47,48 Prozent. Hinzu kommt – dies möchte ich auch ein-
ern bezahlen. Das sind ganz schwierige Themen. mal erwähnen –, dass 55 Millionen Deutsche Mitglied
einer Kirche sind. 61,3 Prozent der Steuerzahler oder
Aber lassen Sie uns bei Lohn- und Einkommensteu- fast 25 Millionen Deutsche zahlen zusätzlich 9 Prozent
ern bleiben. Dazu nenne ich noch einmal drei, vier Zah- Kirchensteuer, die übrigens vielfach auch für sehr sinn-
len, auch für unsere zumeist jungen Zuschauer. Meine volle soziale Dinge eingesetzt wird. Das heißt im Ergeb-
Damen und Herren, 10 Prozent der Steuerpflichtigen in nis: 51 Prozent ist der Spitzensteuersatz für diese Men-
(B) Deutschland schultern 55 Prozent unserer Lohn- und schen. Oder um es umzudrehen: Von jedem Euro, den (D)
Einkommensteuern. man verdient, wird die Hälfte weggesteuert. Auch das
(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na und?) gehört zur Wahrheit in diesem Land.

Diese Zahl müssen wir einfach einmal ganz nüchtern zur (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist doch
Kenntnis nehmen. Blödsinn!)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich will Ihnen noch eine Zahl nennen. Sie reden von
der FDP) Millionären. Jetzt sage ich einmal für unsere jungen Zu-
schauer, wovon wir eigentlich reden. 2002 gab es in
Ich nenne in diesem Zusammenhang die zweite Zahl: Deutschland 9 462 Menschen, die mehr als eine Million
50 Prozent der Steuerpflichtigen – das sind übrigens auch verdient haben. 2003 gab es 8 509 und 2004 gab es
fleißige Menschen, die in diesem Land jeden Morgen auf- 9 524 Menschen, die in Deutschland mehr als eine Mil-
stehen und arbeiten – zahlen nur 5 Prozent der Lohn- und lion verdient haben. Ich will gar nicht beurteilen, ob sie
Einkommensteuern in Deutschland. Die Hälfte der Men- zu viel verdienen oder zu wenig oder ob es gerade recht
schen trägt also nur mit 5 Prozent bei. Wer jetzt den Ein- ist. Ich sage nur eines: Selbst wenn Sie diese Menschen
druck erweckt, das wäre ein ungerechtes Steuersystem, brutal enteigneten, trüge das zur Gerechtigkeit und zum
der streut den Menschen bewusst Sand in die Augen. Sozialstaat überhaupt nichts bei. Die Wahrscheinlich-
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: keit, dass diese Menschen eher unser Land verlassen und
Weil sie so wenig verdienen!) in die Schweiz oder in andere Länder gehen, halte ich für
größer. Deshalb ist auch hier Sachlichkeit in der Debatte
Ich will einen zweiten Punkt nennen. Durch die Ent- hilfreich und nicht Polemik gegen vermeintliche Millio-
scheidung dieser schwarz-gelben Koalition ist seit die- näre.
sem Jahr der Grundfreibetrag für Kinder auf 7 000 Euro
erhöht, und gleichzeitig können Krankenversicherungs- Ich will Ihnen auch einen zweiten Punkt nennen, indi-
beiträge abgesetzt werden. rekte Steuern. Meine Damen und Herren, was gibt es
Gerechteres, als Folgendes zu sagen: Für die Waren des
Meine Damen und Herren, das bedeutet, dass eine täglichen Bedarfs, insbesondere Lebensmittel, zahlt man
Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern in in diesem Land etwa ein Drittel der Mehrwertsteuer,
Deutschland bis zu 36 000 Euro Jahreseinkommen kei- nämlich 7 Prozent, der 19 Prozent, die man ansonsten
nen Cent Steuern mehr bezahlt. Auch das ist eine ganz für alle anderen Dinge bezahlt. Auch hier haben wir in
soziale und gerechte Politik. Man könnte sagen, gerech- den letzten Jahren immer darauf geachtet, dass diese
6828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Frank Steffel


(A) 7 Prozent nicht erhöht wurden. Egal was wir mit der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C)
Mehrwertsteuer tun, ist völlig klar, dass Lebensmittel Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Hinz für die
– das betrifft gerade Menschen in Deutschland, die we- SPD-Fraktion.
nig Geld haben – weiterhin nur mit 7 Prozent besteuert
(Beifall bei der SPD)
werden. Auch das ist ein Teil einer sozial verantwor-
tungsvollen und gerechten Politik.
Petra Hinz (Essen) (SPD):
Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass von den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Steuern, über die wir hier alle reden und streiten, im Es ist ein Armutszeugnis – das muss ich in der Tat so sa-
Bundeshaushalt 56 Prozent für Soziales aufgewandt gen –, dass hier von der Regierungskoalition immer
werden. Mehr als die Hälfte der Steuereinnahmen der wieder deutlich gemacht wird, dass sich Leistung lohnen
Bundesrepublik Deutschland wird für Sozialtransfers, muss.
wird für die Unterstützung von Menschen aufgewandt, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Davon haben wir
die unser aller Unterstützung bedürfen und die wir ihnen ja gesprochen! Das sollten Sie nicht überse-
übrigens alle gerne geben. hen!)
Da ich gerade über das Erfolgsmodell soziale Markt- – Herr Wissing, melden Sie sich.
wirtschaft rede: Lassen Sie mich mit einem Gedanken
von Ludwig Erhard enden. Ludwig Erhard hat, wie ich (Lars Lindemann [FDP]: Ja, Frau Lehrerin!)
finde, zu Recht darauf hingewiesen, dass am Ende des Ansonsten ist es für alle anderen schwierig, nachzuvoll-
Versorgungsstaates der soziale Untertan steht und nicht ziehen, was Sie sagen. Die Zeit zur Beantwortung einer
der eigenverantwortliche Bürger. Ich glaube, wir tun Zwischenfrage nehme ich mir gerne. – In der Tat müssen
nach über 60 Jahren Erfolgsgeschichte der Bundesrepu- Menschen, die den ganzen Tag arbeiten und von dem,
blik Deutschland gut daran, unseren Bürgern Freiheit zu- was sie durch ihre Arbeit erhalten, letzten Endes nicht
zutrauen, ihnen aber durch das Modell der sozialen leben können, ihre Familie nicht ernähren können, an-
Marktwirtschaft Sicherheit zu geben und sie nicht durch schließend aufstocken. Diesen Menschen sagen Sie bitte
permanente Umverteilung zu sozialen Untertanen zu noch einmal, und zwar vis-à-vis, also ins Gesicht: Leis-
machen, was erstens Leistung und Leistungsbereitschaft tung muss sich lohnen.
hemmt und zweitens nach meiner Einschätzung dieses (Dr. Volker Wissing [FDP]: Im Steuerrecht,
Land im weltweiten Wettbewerb zurückwirft und nicht Frau Kollegin! Darüber haben wir ja gespro-
voranbringt. chen!)
(B) (D)
Herzlichen Dank. Auch wenn ich nicht weiß, ob es parlamentarisch ist
oder nicht, traue ich mich einfach, zu sagen: Ich finde es
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) menschenverachtend.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN –
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Volker Wissing [FDP]: Und ich finde es
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem ungerecht!)
Kollegen Troost.
Im Rahmen der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es
hier Situationen, in denen ich in der Tat den Eindruck
Dr. Axel Troost (DIE LINKE): gewinnen konnte, dass wir gemeinsam über alle Fraktio-
Ich fasse mich kurz. Es geht in der Tat um Statistik. nen hinweg die Krise bewältigen wollen, dass wir hier
Ich fordere alle auf, die das interessiert, sich auf meiner gemeinsam erkannt haben, was die Krise unter anderem
Internetseite einfach einmal die entsprechenden Tabellen verursacht hat. Wir können sicherlich nicht alle Punkte
anzuschauen. Es ist zwar immer schön, zu sagen: „So- der Krise im Einzelnen beschreiben und national bewäl-
undso viel Prozent bringen soundso viel Prozent der tigen. Ich hatte schon den Eindruck, dass alle Fraktionen
Steuereinnahmen“; aber man muss auch einmal zur hier mit der Wirtschafts- und Finanzkrise fertig werden
wollten. Doch was jetzt nach der Bundestagswahl hier
Kenntnis nehmen, wie die Vermögens- und Einkom-
von der Regierung – zu einem gewissen Zeitpunkt hatte
menskonzentration in diesem Land ist. Wenn diejenigen
ich das Gefühl, es handele sich teilweise um einen
10 Prozent der Bevölkerung, die für 50 Prozent des
Selbstfindungsklub – auf den Weg gebracht worden ist,
Steueraufkommens sorgen, über 60 Prozent des gesam- war, muss ich sagen, alles andere als steuerfreundlich für
ten Vermögens haben, dann ist das, was wir wollen, eben die Menschen, obwohl Sie unbedingt für die Leistungs-
keine riesige Umverteilung, sondern nur gerecht. Man träger Politik machen wollen.
kann also nicht immer nur bestimmte Zahlen nennen,
sondern man muss auch sagen, wie Vermögen und Ein- Ich möchte das ganz gerne einmal herunterbrechen
kommen in der Bundesrepublik verteilt sind. Da sieht auf die kommunale Ebene. All das, was auf EU-Ebene
man eben eine ganz starke Konzentration. Das Ganze ist oder auf dieser Ebene beschlossen wird, hat letzten En-
eine Frage der Empirie, und die sollte man sich einfach des Konsequenzen auf der kommunalen Ebene. Frau von
einmal genau anschauen. der Leyen hat uns noch vor kurzem hier im Rahmen der
Haushaltsdebatte mitgeteilt, wie sozial sie eingestellt ist;
(Beifall bei der LINKEN) es müsse ein Bildungsgutschein eingeführt werden; die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6829
Petra Hinz (Essen)
(A) Kinder brauchten einen Gutschein dafür, dass sie in frage, wie weit der Stand der Umsetzung sei, immer nur (C)
Sportvereine und woandershin gehen können. einen Brosamen hingelegt, ohne dass wir tatsächlich da-
rauf reagieren könnten. Wir haben in der Großen Koali-
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie finden das tion dafür gesorgt, dass in unserem Land ordentlich mit
wahrscheinlich schlecht!) der Finanz- und Wirtschaftskrise umgegangen wurde.
Aber wissen Sie, warum die Kommunen in dieser Fi- Nicht zuletzt war es unser Finanzminister Peer
nanzsituation stecken? Steinbrück, der sehr intelligente Konzepte auf den Tisch
gelegt hat, etwa das Konjunkturpaket, aber auch intelli-
(Dr. Volker Wissing [FDP]: Weil Sie sich der kom- gente Konzepte, um die Kommunen zu entlasten.
munalen Finanzreform verweigert haben!)
Das einzige, was in dieser Wahlperiode bei Ihrer
Sie haben im Rahmen der Finanz- und Wirtschafts- Klientelpolitik herausgekommen ist, ist die Entlastung
krise jetzt noch einen draufgesetzt und mit den ganzen der Hoteliers. Außerdem haben Sie dazu beigetragen,
Beschlüssen, die Sie hier gefasst haben – Klientelpolitik dass die Kommunen weitere Steuerausfälle hinnehmen
und Geschenke –, den Kommunen in dieser schwierigen mussten. Auch im Bereich der Unternehmensteuern ha-
Situation noch zusätzlich Finanzkraft entzogen. Weil al- ben Sie entsprechende Kürzungen zulasten der Kommu-
les so schön ist, müssen jetzt diejenigen, die am wenigs- nen vorgenommen. Ihre Steuer- und Finanzpolitik ist ab-
ten haben, aufgrund der neuerlichen Abgaben- und Ge- solute Klientelpolitik.
bührensteigerungen noch mehr zahlen. Das ist das Ende
vom Lied. (Beifall bei der SPD und der LINKEN –
Dr. Volker Wissing [FDP]: Zugunsten der Ar-
Auch hier bemühe ich gar nicht meine Statistiken beitsplätze! Für Arbeitnehmerinnen und Ar-
oder Erfahrungen aus meiner Kommune, sondern dafür beitnehmer in Deutschland! – Dr. Daniel Volk
gibt es offizielle Zahlen, die jetzt schon deutlich machen, [FDP]: Für Familien!)
dass 46 Prozent der Kommunen in Deutschland darüber
nachdenken, ihren Grundsteuerhebesatz zu erhöhen, um – Für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedrig-
eine einigermaßen erträgliche Einnahmesituation vorzu- lohnbereich, weil Sie sich doch standhaft weigern, einen
finden. Wenn Sie über Abgaben keine ausreichenden Mindestlohn einzuführen. Sie sagen zwar immer, wir
Einnahmen erreichen, werden sie ihre Gebühren für brauchten ihn nicht, weil Tarife eingehalten würden;
Bibliotheken, Kultureinrichtungen wie Theater und aber wenn doch alles so klar ist, warum trauen Sie sich
sonstige Bereiche erhöhen, die von Frau von der Leyen dann nicht, diesen Schritt mit uns zu gehen und einen
ach so sozial gefördert werden sollen. Sie geht ja förm- Mindestlohn einzuführen? Wissen Sie denn eigentlich,
lich in der Aufgabe auf, dass all unsere Kinder eine Bil- wie viele Steuern und Abgaben ein Alleinstehender, der
(B) dungschance haben. Ich muss Ihnen sagen: Das ist gerade einmal 8,50 Euro bekommt – das wäre gerade so (D)
heuchlerisch, weil Sie auf der einen Seite den Kommu- eben ein Mindestlohn – zu leisten hat? Davon haben Sie
nen und damit den Menschen vor Ort die Gelder nehmen gar keine Idee, weil Sie sich in ihn gar nicht hineinver-
und auf der anderen Seite so tun, als gäben Sie ihnen setzen können.
ganz generös, ganz großzügig Gelder zurück. Das sind
dann diejenigen, von denen Sie sagen, es seien keine (Lars Lindemann [FDP]: Das ist moralinsaures
Leistungsträger, sondern Menschen, die alimentiert wür- Gequatsche!)
den. Dieser Alleinstehende, der gerade einmal 8,50 Euro ver-
Sie hätten in den zurückliegenden Monaten, seitdem dient – es muss richtig heißen: erhält; er verdient eigent-
Sie die Verantwortung haben oder wenigstens hätten lich mehr –, zahlt 270 Euro an Abgaben und 70 Euro an
übernehmen sollen – Sie sollen endlich einmal dazu ste- Steuern. Wenn wir über ein Konzept reden, dann gehö-
hen, dass Sie Verantwortung haben –, dazu beitragen ren die Abgaben und Steuern dazu, um tatsächlich den
können, dass die Kommunen entlastet werden. Aber Menschen helfen zu können.
nein, was machen Sie? Sie setzen eine Kommission ein, Zum Antrag der Linken muss ich Ihnen sagen – –
die letzten Endes keinen anderen Auftrag hat, als die Ge-
werbesteuer abzuschaffen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Endlich!)
(Bernhard Kaster [CDU/CSU]: Das ist un- – Damit Sie alle mitbekommen, was der Herr hier lä-
wahr!) chelnd gesagt hat: Endlich komme ich zum Antrag. –
Wissen Sie mein lieber Kollege, wenn Sie so mit den
In der zurückliegenden Wahlperiode haben wir gemein- Nöten der Menschen umgehen, dann wundert es mich
sam alle Gutachter gehört, die es zu diesem Thema über- auch nicht, dass Sie nicht nachvollziehen können, wa-
haupt gibt, und dann festgestellt, dass es keine Alterna- rum wir einen Mindestlohn brauchen.
tive zur Gewerbesteuer gibt.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Jetzt
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ kommt die Schallplatte!)
CSU: Wer hat denn damals die Gewerbe-
steuerumlage erhöht?) Damit Menschen von ihrer Arbeit leben können! Über
diese Menschen müssen wir uns unterhalten
Jetzt bin ich gespannt, was aus diesem großen Überra-
schungspaket herauskommen wird; denn wir bekommen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
im Fachausschuss, dem Finanzausschuss, auf die Nach- der LINKEN)
6830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Petra Hinz (Essen)


(A) und nicht über die, die sehr viel Vermögen haben und für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (C)
das Gemeinwohl etwas geben können. Nur dann, wenn der CDU/CSU – Lachen bei der SPD –
wir insgesamt das Gemeinwohl stärken, können wir alles Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE
das angehen, was meine Kollegin schon sehr deutlich GRÜNEN]: Das sehen die Bürger auch so! –
angesprochen hat: Bildung, Sicherheit vor sozialen Not- Nicolette Kressl [SPD]: Die CDU klatscht nur
lagen, öffentliche Infrastruktur. nach Aufforderung!)
(Lars Lindemann [FDP]: Wenn man am Thema im Gegensatz zu der Finanzpolitik Ihrer SPD-Finanz-
vorbeiredet, wird es auch nicht besser!) minster – einer ist jetzt bei der Linkspartei; das ist so –,
Zum Antrag der Linken ganz kurz. Auch ich muss gerade im Bereich der Kommunalfinanzen.
sagen: Er ist leider ein Sammelsurium von vielen Punk- Sie beklagen jetzt, dass die Kommunen zu wenig
ten, über die man im Einzelnen reden müsste. Einnahmen hätten, zu wenig Finanzmittel zur Verfügung
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das machen hätten.
wir doch! Das machen wir dann im Finanzaus- (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Sie haben denen
schuss!) doch was weggenommen und wollen denen
Die eine oder andere Darlegung, die Sie im Rahmen Ih- noch mehr wegnehmen!)
rer Statistik gemacht haben, ist für uns nicht ganz nach- Diese Situation war bereits im Jahre 2009 gegeben, und
zuvollziehen. Insofern bin ich auf die Diskussion im das war ja wohl noch zur Zeit Ihrer Regierungsverant-
Ausschuss gespannt.
wortung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Nicolette Kressl [SPD]: Wir haben die Zu-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rechnungen nicht gestrichen wie Sie! – Petra
der LINKEN – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Hinz [Essen] [SPD]: Und die Kosten der Un-
Das war enttäuschend! Gut, dass die Frau terkunft? Wer hat das denn beschlossen?)
Kressl auch geredet hat! – Bernhard Kaster
[CDU/CSU]: Das war gar nichts!) Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass die
Übertragung von Aufgaben an die Kommunen, ohne ih-
nen gleichzeitig die notwendigen finanziellen Mittel zur
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Verfügung zu stellen, ein sehr beliebtes Projekt der da-
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege maligen rot-grünen Bundesregierung war. Das müssen
Dr. Daniel Volk. Sie der Ehrlichkeit halber auch einmal erwähnen.
(B) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der (D)
der CDU/CSU) CDU/CSU – Nicolette Kressl [SPD]: Haben
Sie jetzt auch was Eigenes zu sagen?)
Dr. Daniel Volk (FDP):
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Ich fand die bisherige Debatte sehr faszinierend. Es
Damen und Herren Kollegen! Frau Hinz, ich fand es ge- hat sich gezeigt, was eine rot-grüne oder rot-grün-rote
rade sehr faszinierend, Regierung in diesem Land machen würde.
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ja, wir auch!) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sozial ge-
rechte Politik hoffentlich!)
dass Sie aufgezählt haben, was wir in den letzten zwölf
Monaten alles nicht gemacht haben, Frau Kressl hat uns dargelegt
(Nicolette Kressl [SPD]: Falsch gemacht (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Pas-
haben!) toral!)
aus Ihrer Sicht aber hätten machen müssen. – pastoral –, man müsse sich zunächst Gedanken darüber
machen, wie viel Geld der Staat brauche,
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das musste ein-
mal gesagt werden!) (Nicolette Kressl [SPD]: „Die Menschen“ habe ich
Sie hatten elf Jahre Zeit, um all das, was Sie hier als gesagt! Keine Verunglimpfung!)
Wunschkalender aufgeblättert haben, in Regierungsver- erst danach müsse man überlegen, wie hoch die Steuer-
antwortung umzusetzen. Angesichts dessen war Ihr Bei- belastung sein müsse.
trag in diesem Hause ein großes Armutszeugnis.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sehr vernünf-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tig!)
der CDU/CSU – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]:
Wir durften ja nicht allein regieren!) Ich kann dazu nur sagen: Jeder Bürger dieses Landes
sollte bei einem solchen Ansatz Angst bekommen.
– Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie nicht allein regie-
ren durften, kann ich Ihnen nur empfehlen: Schauen Sie (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
sich einmal an, wie wir in der christlich-liberalen Koali- CDU/CSU – Lachen der Abg. Nicolette Kressl
tion in bester Partnerschaft Regierungspolitik zum [SPD] – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/
Wohle unseres Landes gestalten, CSU]: Die Staatswirtschaft lässt grüßen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6831
Dr. Daniel Volk
(A) Sie haben in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Frau Kressl hat dann gesagt, was in einem anderen (C)
Minderheitsregierung unter Duldung der Linkspartei. Bereich kommen würde, wenn es eine linke Mehrheit in
diesem Land geben würde und diese an die Macht käme.
(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nur Ablen- Diese würde – Sie sagen das so schön – für eine Versteti-
kung!) gung der Gewerbesteuer sorgen.
Das Erste, was diese rot-grüne Minderheitsregierung un- (Zurufe von der SPD: Ja!)
ter Duldung der Linkspartei macht, ist, deutlich – ganz
deutlich – in die Erhöhung der Neuverschuldung zu ge- Aber was steckt hinter der Forderung nach einer Verste-
hen. tigung der Gewerbesteuer? Eine massive Substanzbe-
steuerung.
(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Um die Kommu-
nen zu entlasten!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Bernd Scheelen [SPD]: Totaler Schwachsinn!
Das ist keine seriöse Finanzpolitik. Sie würden Selbiges Keine Ahnung! – Nicolette Kressl [SPD]: Sol-
auf Bundesebene genauso machen. Sie würden wahr- len wir das jetzt ernst nehmen?)
scheinlich das eine oder andere Lieblingsprojekt der
Linkspartei finanzieren, damit die Linkspartei Sie dul- Damit gefährden Sie Arbeitsplätze. Damit gefährden Sie
det. Betriebe. Sie provozieren damit, dass Betriebe in
Deutschland Arbeitsplätze abbauen und ins Ausland zie-
(Nicolette Kressl [SPD]: Wir überlegen auf je- hen. Nur so wäre für sie nämlich eine wirtschaftliche Be-
den Fall nicht, was die Hotels brauchen!) triebsführung überhaupt noch möglich.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist nicht unser Ansatz- (Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sprechen
punkt. Sie einmal mit den FDP-Bürgermeistern! Die
sehen das völlig anders als Sie! Die FDP ist da
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Sie kümmern tief gespalten!)
sich um die Hoteliers! Das wissen wir!)
Es ist also sehr interessant, was passieren würde,
Unser Ansatzpunkt ist zunächst, sich zu überlegen, wenn eine linke Mehrheit in diesem Land die Macht
wie eine Balance, ein vernünftiger Ausgleich übernehmen würde: Wir hätten eine Vermögensteuer, es
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Zwischen Mö- gäbe eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, übrigens
venpick und dem Rest!) mit entsprechenden Folgen auch für die darunterliegen-
den Einkommensklassen.
(B) zwischen den staatlichen Aufgaben und der Steuerlast (D)
der Bürger aussieht. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein, genau
das Gegenteil! – Dr. Barbara Höll [DIE
(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE LINKE]: Das ist doch Blödsinn! – Matthias W.
GRÜNEN]: Sie sollen nicht überlegen, son- Birkwald [DIE LINKE]: Lesen Sie einmal den
dern regieren!) Antrag!)
Ich will einmal ganz klar sagen, was Sie machen wür- Über die Gewerbesteuer würde eine Substanzbesteue-
den. Sie haben ja die Maßnahmen genannt. rung vorgenommen. Im Übrigen gäbe es bei der Erb-
schaftsteuer vermutlich eine derartige Verschärfung,
Es würde eine Vermögensabgabe geben. Sie, Frau dass Erben von solchen Kleinunternehmen, die inner-
Paus, haben ja bestätigt, dass Sie eine Vermögensabgabe halb der Familie weitergegeben werden sollen, so stark
einführen wollen. zur Kasse gebeten werden, dass sie gezwungen wären,
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So diese Unternehmen plattzumachen.
ist es!) (Zuruf von der FDP: Und die Mehrwert-
Sie würden also auf die Vermögen zugreifen. Ich finde steuer!)
es übrigens sehr putzig, dass die Linkspartei eine Vermö- Das ist keine wirtschaftlich sinnvolle Politik.
gensteuer in Höhe von 5 Prozent will. Das würde dazu
führen, dass diejenigen, die ihr Geld relativ sicher bzw. Was wirtschaftlich sinnvolle Politik ist, zeigt diese
konservativ anlegen – Kollege Gutting hat es ausgeführt –, Bundesregierung. Schauen Sie sich die Arbeitsmarktda-
aus der Rendite gar nicht die Steuern bezahlen könnten. ten an. Dann sehen Sie, was wirtschaftlich sinnvolle
Sie würden damit die Vermögenden zu hochriskanten Politik ist. Leistung muss sich wieder lohnen. Leistung
Spekulanten machen. kann erbracht werden, wenn die Arbeitslosenzahlen sin-
ken. Das ist der Kurs unserer christlich-liberalen Koali-
(Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Zu Auslands- tion.
flüchtlingen!)
Vielen Dank.
Ihnen bliebe gar nichts anderes übrig. Das ist ja etwas,
was Sie ansonsten bekämpfen und verurteilen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das war jetzt
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der keine Leistung! – Weiterer Zuruf von der SPD:
CDU/CSU) Schwarz-Gelb in die Gifttonne, heißt das!)
6832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Dr. Daniel Volk [FDP]: Ja, also!) (C)
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Thomas Gambke
Unter der Maßgabe der Aufkommensneutralität würde
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
ein geringes Mehraufkommen vielleicht sogar Spielraum
für eine Senkung der Gewerbesteuer schaffen. Ich per-
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sönlich bin der Auffassung, dass mit der Erweiterung auf
NEN): die freien Berufe der Druck bei der Hinzurechnung ge-
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nommen würde.
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Paus hat es
schon gesagt: Angesichts der Mehreinnahmen in Höhe Steuergerechtigkeit heißt, alle Gewerbetreibenden zur
von 179 Milliarden Euro, davon 40 Milliarden Euro von Finanzierung der kommunalen Infrastruktur heranzuzie-
den Unternehmen, könnte man für Nichtbefassung plä- hen und dabei auch die Leistungsfähigkeit der Unter-
dieren und sagen: Wir reden nicht weiter darüber. Aber nehmen zu berücksichtigen.
die Themen Steuergerechtigkeit und solide Finanzierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
des Staates haben eine große Bedeutung. Ich will des-
halb zu zwei Punkten etwas sagen: Unternehmensteuern Es geht um eine faire Belastung von Konzernen und
und Reform der ermäßigten Umsatzsteuersätze. kleinen Unternehmen. Es gibt Hinweise darauf, dass
zum Beispiel die Sparkassen und Genossenschaftsban-
Unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit ist ken einen größeren Anteil an der Gewerbe- und Körper-
es natürlich richtig, dass Unternehmen einen Beitrag schaftsteuer zahlen als die Geschäftsbanken. Auch bei
zur öffentlichen Daseinsvorsorge, zur kommunalen In- den Unternehmensteuern müssen wir auf einen fairen
frastruktur leisten. Eine Verlagerung dieser Steuerlast Ausgleich achten. Wir müssen die großen Konzerne ge-
von den Unternehmen auf die Bürgerinnen und Bürger nauso heranziehen wie die kleinen Unternehmen. Es
ist inakzeptabel. muss ausgewogen sein; dort, wo es nicht ausgewogen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist, müssen wir Steuergerechtigkeit herstellen.
und bei der SPD) (Frank Schäffler [FDP]: Einfach, niedrig und
Unsere Kommunen stellen die Infrastruktur für die Un- gerecht!)
ternehmen bereit. So ist es nur angemessen und gerecht, Kommen wir zur Umsatzsteuer. Ich hätte vermutet,
wenn die Unternehmen auch an den Kosten beteiligt dass uns der ordnungspolitische Sündenfall der Koali-
werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Fachkräfte- tion vor weiteren Maßnahmen bewahren würde. Denn
mangel begegnet man mit besserer Bildung; diese muss wir wollen nicht weiter in das Gestrüpp der Ausnahmen,
(B) finanziert werden. Unternehmen brauchen schnelle Da- der verminderten Mehrwertsteuersätze, gehen. Man (D)
tennetze; auch diese müssen finanziert werden. Es ist kann es fast als amüsant bezeichnen, dass sich die Frak-
also ein Gebot der Steuergerechtigkeit, Unternehmen an tion der Linken hier zum Sprachrohr der Pharmalobby
der Finanzierung der entsprechenden Ausgaben zu betei- macht,
ligen.
(Nicolette Kressl [SPD]: Ja! – Ingrid Arndt-Brauer
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN [SPD]: Das haben wir auch erwartet!)
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel
Volk [FDP]: Das bestreitet niemand!) wenn es nicht solch eine fatale Fehleinschätzung wäre.
– Hören Sie zu. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD)
So ist die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage
der Gewerbesteuer auf die freien Berufe überfällig. Das Gleiche gilt für die Forderung nach einer Ermäßi-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gung bei Kinderartikeln. Nein, die Umsatzsteuer ist nicht
SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk das geeignete Instrument, um zielgerichtet zu fördern
[FDP]: Das ist eine reine Umverteilung!) und zu unterstützen; sie ist das falsche Instrument. Das
wissen wir doch letztendlich aus der Diskussion um die
Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein Architekt für eine Hotelbeglückungssteuer.
Statikberechnung keine Gewerbesteuer zahlt, aber ein
Ingenieurbüro für dieselbe Leistung gewerbesteuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
pflichtig ist. Nicolette Kressl [SPD]: Da müsste die FDP
jetzt auch klatschen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Wir Grüne schlagen eine sofortige Abschaffung der
Volk [FDP]: Das ist eine reine Umverteilung! rein branchenspezifischen und nicht ausreichend begrün-
Das wissen Sie, Herr Kollege!) deten Ermäßigungen bei der Umsatzsteuer vor. Dazu
zählen wir die Ermäßigung auf Übernachtungen in den
Herr Volk, natürlich muss die Anrechenbarkeit der Ge- von Ihnen beglückten Hotels, die von der CSU durchge-
werbesteuer auf die Einkommensteuer berücksichtigt setzte Ermäßigung für Skilifte sowie Ermäßigungen für
werden; natürlich ergibt sich dadurch eine Verschiebung Schnittblumen und Sportpferde. Durch eine Abschaf-
der Steuereinnahmen von Bund und Ländern zu den fung erzielen wir zusätzliche Steuereinnahmen von 3 bis
Kommunen. 4 Milliarden Euro. Das wäre ein schneller, sofort zu re-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6833
Dr. Thomas Gambke
(A) alisierender Beitrag zur Steuergerechtigkeit und zur Sta- Umsatzsteuer zuzulassen, ebenso eine Gewerbesteuer, (C)
bilisierung der staatlichen Einnahmen. die um die freien Berufe erweitert ist, und ein Unterneh-
mensteuerrecht, das kleine und mittlere Unternehmen
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
fördert und die Steuergestaltung der großen Konzerne
DIE GRÜNEN)
verhindert. Das müssen wir umsetzen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vielen Dank.
Herr Kollege Gambke, gestatten Sie eine Zwischen-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
frage des Kollegen Lutze?

Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:


NEN): Der Kollege Dr. Hans Michelbach ist der nächste
Gerne. Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Thomas Lutze (DIE LINKE):
Herr Kollege, Sie haben schon einige Bereiche aufge- Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU):
zählt, in denen Sie die Ermäßigung der Mehrwertsteuer
aufheben wollen. Ist Ihnen klar, dass Sie damit auch den Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr
öffentlichen Nahverkehr treffen, bei dem zurzeit ein Gysi wirft in diesen Tagen seiner Partei Selbstbeschäfti-
ermäßigter Steuersatz erhoben wird? gung vor. Er muss den vorliegenden Antrag gemeint ha-
ben. Interessant und bunt wird es, wenn sich die verei-
nigte Opposition darüber streitet, wer am besten
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Umverteilungsorgien gestalten kann.
NEN):
Mir ist vollkommen klar, dass hier ein ermäßigter (Dr. Daniel Volk [FDP]: So ist es!)
Steuersatz erhoben wird. Wenn Sie mir noch etwas zuhö-
Wir sollten dabei nicht mitmachen. Der einzige Vorteil
ren, werden Sie meine Aussage dazu hören.
dieses Antrages ist, dass wir über die Zukunftsfähigkeit
Herr Dautzenberg von der CDU/CSU zitiert richtig der Finanz-, Steuer- und Wirtschaftspolitik debattieren
aus dem Beschluss der Bundestagsfraktion der Grünen können.
vom Juli dieses Jahres. Er sagt nämlich: Wir müssen Le-
bensmittel, den öffentlichen Nahverkehr und die Kultur Ich sage frank und frei – das möchte ich für die
Unionsfraktion festhalten –: Die CDU/CSU-Fraktion
(B) bei der Streichung von Mehrwertsteuerermäßigungen möchte nach wie vor eine aktive Steuerpolitik betreiben, (D)
ausnehmen.
um den gezielten Konsolidierungs- und Wachstumskurs
(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zur Krisenbekämpfung erfolgreich zu gestalten. Dazu
NEN]: Hört! Hört!) gehört für uns prioritär zunächst einmal eine Verbesse-
Natürlich müssen wir nach einem ersten Schritt der rung unseres Steuersystems durch eine umfassende
Abschaffung von Branchensubventionen – Hotelbeglü- Steuervereinfachung. Wir werden im Januar des kom-
ckung – die verbleibenden Abgrenzungsschwierigkeiten menden Jahres hierzu einen konkreten Vorschlag unter-
lösen. Sie können aber Herrn Finanzminister Schäuble breiten. Die Arbeiten dafür sind von vielen, auch von der
davon leider nicht überzeugen. Zudem verteidigt die Kollegin Tillmann und unserer Arbeitsgruppe, intensiv
CSU – so hört man – noch immer eifrig ihre Klientelge- vorbereitet worden.
schenke. Wir wollen eine neue ordnungspolitische Linie im
(Nicolette Kressl [SPD]: Der Herbst der Ent- Steuersystem, sowohl bei der Mehrwertsteuer als auch
scheidungen!) bei der Einkommensteuer erreichen, Herr Gambke. Wir
werden eine Kommission einsetzen.
Die Koalition drückt sich vor Reformen in diesem
schwierigen Feld. (Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Der Finanzminister sagt etwas an-
Das gilt für die überfällige Reform der Mehrwertsteu- deres!)
ersätze genauso wie für die staatliche Forschungsförde-
rung. Angesichts der Kürzungen im sozialen Bereich im Wir werden die Abgrenzungen und die neuen Weichen-
Rahmen der Sparbeschlüsse der Bundesregierung ist es stellungen mit einer Mehrwertsteuerreform bei den er-
schlicht ein Skandal, hier nicht weiterzumachen. mäßigten Mehrwertsteuersätzen vornehmen. Wir werden
die Mehrwertsteuerreform zügig angehen und nicht auf
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
die lange Bank schieben, weil die momentane Situation
Dr. Volker Wissing [FDP]: Warum soll denn
nicht so bleiben kann. Nun zu sagen: „Es waren die
die Forschungsförderung ein Beitrag zum Spa-
Wünsche der einzelnen Fraktionen, die zu den schwieri-
ren sein?)
gen Abgrenzungen geführt haben“, ist falsch. Ich kann
Lassen Sie mich zum Schluss auf das eigentliche An- mich an die lange, intensive Diskussion mit der Kollegin
liegen der Linken zurückkommen. Ja, wir müssen um Scheel über Schnittblumen noch sehr gut erinnern. Sie
mehr Steuergerechtigkeit kämpfen. Ja, ein wichtiger müssen beachten, wer zu welchem Sachverhalt beigetra-
Beitrag dazu kann sein, weniger Ausnahmen bei der gen hat.
6834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) Wenn der ermäßigte Mehrwertsteuersatz künftig auf Wenn Leistung sich lohnt, dann lohnt sie sich auch für (C)
den Bereich der Daseinsvorsorge – Lebensmittel und den Fiskus. Nur so wird ein Schuh daraus. Jede Steuer-
kulturelle Leistungen; auch den öffentlichen Personen- statistik zeigt, dass der Fiskus die besten Ergebnisse ver-
nahverkehr halte ich für wichtig – beschränkt werden zeichnet, wenn der Wirtschaftskreislauf funktioniert.
würde, könnten wir dadurch erzielte Einsparungen ver- Unser Fiskus steht im internationalen Steuerwettbe-
wenden, um die kleinen und mittleren Einkommen in werb. Dem müssen wir uns stellen. Man kann nicht ein-
Verbindung mit einer Steuervereinfachung zu entlasten. fach so tun, als wäre man allein auf der Welt.
Wir müssen auf ein Volumen in Höhe von etwa
5 Milliarden Euro kommen, um die unteren und mittle- (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Es wandert nicht
ren Einkommen, insbesondere was den Mittelstands- jeder Steuerzahler aus! So ist es nicht!)
bauch anbelangt, zu entlasten. Das muss unser Ziel sein. Der von Ihnen eingebrachte ideologische Gegenentwurf
Ohne einen Leistungsanreiz werden wir nicht die ist kein Ausweg aus der Krise. Er ist ein Irrweg. Ihr
Wachstumsziele erreichen, die wir erreichen wollen. Es Konzept führt nicht aus der Krise, sondern es ist eher ein
muss unser Ziel sein, unser Konzept konzentriert voran- Weg zurück.
zubringen, und das werden wir auch tun.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir dürfen uns nicht den Dingen widmen, die viel-
Wir haben mit dem Haushaltsbegleitgesetz unser
leicht zurück zu einer Kommando- und Staatswirtschaft,
Vorhaben in ein Konzept eingebunden. Es geht nicht
sonst aber zu keinem Ergebnis führen. Schauen Sie sich
ohne Ausgabenreduzierungen. Man kann die Überschul-
die Statistik über die Steuerzahler und die Belastungs-
dung nicht nur über die Einnahmeseite bekämpfen.
wirkungen an. Die Verbrauchsteuern betreffen alle Men-
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Aber auch!) schen gleichermaßen. Wer einen Verbrauch hat, zahlt na-
türlich dafür. Derjenige, der mehr Geld zur Verfügung
Auch die Haushaltskonsolidierung durch Ausgabenredu- hat und somit mehr konsumiert, muss natürlich mehr
zierung gehört dazu. Deswegen wollen wir auf beiden Verbrauchsteuern zahlen. Wichtig ist deshalb die Grund-
Seiten etwas tun. Bei den Verbrauchsteuern haben wir lage der Einkommensteuerstatistik. Es ist so, wie der
dort eine Erhöhung vorgesehen, wo wir es für sinnvoll Kollege Dr. Steffel gesagt hat:
und notwendig erachten, aber wir wollen keine Ertrag-
steuererhöhungen, weil letzten Endes dadurch die (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Grundsätze für die Zukunftsgestaltung, die Eigenkapital- Wie auch Herr Troost gesagt hat!)
bildung sowie die Konsummöglichkeit gestaltet werden.
Es wäre absolut kontraproduktiv, wenn wir in diesem Die unteren 50 Prozent der Steuerzahler zahlen 5 Pro-
(B) Bereich etwas tun würden. zent, die oberen 50 Prozent zahlen 95 Prozent des Steu- (D)
eraufkommens.
Wir haben bereits – das war wesentlich für die Kri-
senbekämpfung – die unteren und mittleren Einkommen (Nicolette Kressl [SPD]: Des Einkommensteu-
entlastet. Was wir getan haben, ist familienfreundlich. eraufkommens!)
Eine Familie mit zwei Kindern wird durch die hohen
Freibeträge erst ab einem Einkommen von 36 000 Euro Das ist die Realität.
in die Besteuerung kommen. Das ist gute Steuerpolitik. Jetzt sagt Herr Troost, dass die Einkommenskonzen-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tration betrachtet werden muss. Es gibt in diesem Land
neten der FDP) 9 500 Einkommensmillionäre. Wenn diese über Anlage-
oder Betriebsvermögen verfügen, dann leisten sie auch
Wir wollen, dass wir mehr Steuerzahler und weniger automatisch eine Gemeinwohlarbeit; denn sie stellen Ar-
Transferempfänger haben. Ich habe den Eindruck, dass beitsplätze zur Verfügung. Sie können diese Menschen
Sie grundsätzlich mehr Transferempfänger haben wol- nicht einfach aus dem Land treiben. Gönnen Sie ihnen
len. doch, dass sie mehr haben. Sie tragen auch mehr Risiko
(Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und mehr Verantwortung für dieses Land. Sie sind sich
NEN]: Blödsinn! Genau umgekehrt! – Dr. Axel im Großen und Ganzen – wir müssen sie im Einzelnen
Troost [DIE LINKE]: Herr Kollege!) betrachten – ihrer Verantwortung gegenüber dem Ge-
meinwohl und den Arbeitsplätzen in diesem Land sehr
Das ist natürlich ein völlig falscher Ansatz, den Sie auch wohl bewusst. Wir können es nicht zulassen, dass diese
in Ihrem Antrag verfolgen. Leute an den Pranger gestellt werden.
Unser Ziel ist es, den Haushalt zu konsolidieren, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu-
Schuldenbremse einzuhalten und die Staatsfinanzen zu- ruf von der SPD: Das machen Sie mit der Öko-
kunftsfest zu machen, auch um Währungssicherheit zu steuer gerade!)
schaffen. Unser Ziel ist es auch, Arbeit und Wohlstand
für alle zu erreichen. Das geht nur mit einer gerechten Ob Spitzensteuersatz, Solidaritätszuschlag oder auch
Besteuerung, die Leistungswillige und Leistungsfähige die Vermögensteuer: Sie wollen, dass wir die Leute in
nicht überfordert. Es ist notwendig, Leistungsanreize zu vielen Bereichen mit einem Satz von über 50 Prozent be-
schaffen. Leistung muss sich lohnen. steuern.
(Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Ich kann es nicht (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie bei
mehr hören!) Helmut Kohl!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6835
Dr. h. c. Hans Michelbach
(A) Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist zu kurz gedacht. Wenn Wir werden diese Ergebnisse abwarten und mit den Ver- (C)
Sie zum Beispiel die Vermögensteuer auf Anlagevermö- tretern der Kommunen und der kommunalen Spitzenver-
gen und Immobilien erheben, dann führt das zu einer Er- bände gemeinsam nach Lösungen suchen.
höhung auch der Mieten; das muss man ganz klar sehen. Auch inhaltlich kann ich Ihrem Antrag nichts abge-
Wenn die Menschen zusätzlich belastet werden, dann winnen. Sie wollen die Gewerbesteuer zu einer Gemein-
reichen sie die Kosten dafür natürlich weiter. Es ist also dewirtschaftsteuer umarbeiten
alles zu kurz gedacht. Das ergibt in diesem Fall alles kei-
nen Sinn. (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wie der
Städtetag!)
Gleiches gilt für die Gemeindewirtschaftsteuer, die
Sie anstelle der Gewerbesteuer fordern. Dazu kann ich und sprechen in diesem Zusammenhang von Mehrein-
Ihnen nur sagen: Wenn die Betriebe keinen Gewinn ma- nahmen in Höhe von 7 Milliarden bis 14 Milliarden Euro.
chen, es also zur Substanzbesteuerung kommt, dann (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Für die Kom-
müssen sie die Steuern praktisch aus ihren liquiden Mit- munen!)
teln zahlen. Das kommt einem Anschlag auf diese Be-
Da kann ich Frau Kollegin Paus nur zustimmen: Sie ge-
triebe gleich. Das kann nicht sein. Sie müssen mit Ver-
hen mit den Milliardenbeträgen recht locker um. Für die
nunft an die Steuerpolitik herangehen. Natürlich braucht
Unternehmer spielt es schon eine Rolle, ob sie 7 oder
der Staat Geld. Die Leistungsfähigkeit muss aber erhal- 14 Milliarden Euro Steuern mehr zahlen sollen.
ten bleiben. Das kann nur durch Leistungsanreize ge-
schehen. Leistung muss sich lohnen. Dafür ist die Steu- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Es kommt auf
erpolitik eine wesentliche Voraussetzung. Steuerpolitik die Ausgestaltung an!)
ist Gesellschaftspolitik. Wir wollen Wohlstand und Ar- Ich hätte mich gefreut, wenn dieser Antrag etwas seriö-
beit für alle. Das geht nur mit einer Steuerpolitik der ser ausgestaltet gewesen wäre. Dann hätte man sich in-
Vernunft, wie wir sie betreiben. haltlich besser mit ihm befassen können.
Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es wird behauptet, dass die Hinzurechnung der Ge-
werbetreibenden dazu führt, dass die Schwankungen bei
der Gewerbesteuer nicht so hoch ausfallen. Die Erfah-
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rungen zeigen aber genau das Gegenteil: Die Hinzurech-
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin nung der Finanzierungsaufwendungen führt nicht zu ei-
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion. ner Stabilisierung des Gewerbesteueraufkommens. Die
(B) Unternehmen werden dadurch vielmehr zusätzlich in die (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Krise geführt, und zwar nicht die reichen Unternehmen,
die Sie immer besteuern wollen, sondern die Unterneh-
Antje Tillmann (CDU/CSU): men, die geringe Gewinne oder gegebenenfalls sogar
Verlust machen. Diesen Unternehmen wollen Sie in der
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verlustphase zusätzliche Steuern aufbürden, was mit Si-
Liebe Zuhörer! Aus dem Sammelsurium an Vorschlägen cherheit Arbeitsplätze gefährden würde. Das werden wir
für Steuererhöhungen möchte ich einen herausnehmen, nicht mitmachen. Ganz im Gegenteil: Wir werden versu-
der die Kommunalpolitik betrifft. Sie haben heute erneut chen, die ertragsunabhängigen Komponenten zurückzu-
versucht, Fakten zu schaffen und die Gewerbesteuer zu nehmen, und hierfür einen Ausgleich für die Kommunen
verändern, finden. Dazu werden wir gemeinsam mit der Kommis-
sion Vorschläge unterbreiten.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Richtig!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
ohne die Ergebnisse der Gemeindefinanzkommission der FDP)
abzuwarten. Ich weiß nicht, warum Sie so viel Angst vor
den Ergebnissen der Gemeindefinanzkommission haben Herr Kollege Gambke, ich bin kein großer Fan der
und warum Sie nicht die Ruhe haben, die Ergebnisse, die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler, und
zwar nicht, weil ich als Steuerberaterin selbst davon be-
im Herbst vorliegen sollen, abzuwarten. Ich finde es
troffen wäre – Sie wissen selbst, dass mich das aufgrund
denjenigen gegenüber, die in der Kommission viel Zeit
der Anrechnung auf die Einkommensteuer nicht belasten
und Mühe investieren und Vorschläge erarbeiten, unfair,
würde –, sondern weil wir uns in anderen Gremien viel
die Ergebnisse nicht abzuwarten. Herr Kollege Troost, Mühe machen, um die Bürokratiekosten zu senken. Was
erst recht finde ich es unfair, dass wir die Debatte hier würde die Ausweitung der Gewerbesteuer auf Freiberufler
führen, wo die kommunalen Vertreter nicht mitdiskutie- bedeuten? Wir haben in Deutschland 1 Million Freiberufler.
ren können. In der Kommunalkommission dürfen sie Das würde 1 Million zusätzliche Gewerbesteuererklärun-
mitgestalten. Es ist das gute Recht der Vertreter der gen, 1 Million zusätzliche Gewerbesteuermessbescheide
Kommunen und der kommunalen Spitzenverbände, über und 1 Million zusätzliche Gewerbesteuerbescheide be-
die Zukunft der kommunalen Steuern mitzuentscheiden. deuten. Das wären 3 Millionen zusätzliche Vorgänge,
durch die keine Mehreinnahmen erzielt würden;
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wäre schön,
wenn sie im Unterausschuss Kommunalpolitik (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Für die Kom-
auch etwas zu sagen hätten!) munen schon erhebliche Mehreinnahmen!)
6836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Antje Tillmann
(A) denn in ganz großem Umfang würde das über die Ein- (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist klar!) (C)
kommensteuer ausgeglichen werden. Dazu sage ich Ih-
Das Blöde an der Diskussion ist, dass Sie so etwas zuge-
nen sehr ernsthaft: Es wäre besser, wenn der Bund das
stehen. Sobald die Kameras abgestellt sind, sagen Sie,
Geld einfach so an die Kommunen überweist. Die Büro-
dass genau das das Problem ist. Einen Monat später aber
kratie und die damit verbundenen Kosten könnten wir
legen Sie denselben Antrag mit denselben Vorschlägen,
uns dann sparen.
die Sie vorher als unsinnig dargestellt haben, erneut vor.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Zuruf von der FDP: Steht in dem Plan!)
Dr. Thomas Gambke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das darf er nicht!) Während Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Linken aus dem Finanzausschuss, sich als Retter der
– Das darf er sehr wohl. Natürlich kann er das. Er kann Kommunen üben, werfen Ihre Sozialpolitiker die Haus-
den Kommunen Aufgaben entziehen und in die eigene halte der Kommunen verbal komplett über den Haufen.
Zuständigkeit überführen. Wir sind verfassungsrechtlich
beschlagen genug, um Möglichkeiten dafür zu finden. In
der Krise hat er das ja auch getan. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Frau Kollegin Hinz, ich bin froh, wenn Wahrheiten Kollegen Dr. Troost?
komplett dargestellt werden. Es wäre nett, wenn Sie mir
zuhören würden, wenn ich mit Ihnen rede. Sie können Antje Tillmann (CDU/CSU):
das aber auch im Protokoll nachlesen. Es gab keine Gerne.
Phase, in der die Kommunen stärker belastet wurden als
zwischen 2002 und 2005.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bitte sehr.
neten der FDP)
SPD-Regierungen haben die Kommunen fast in den Ruin Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
getrieben. Erst seit 2005 verbessert sich die Einnahmesi- Frau Kollegin Tillmann, es ist in der Tat so – das wis-
tuation der Kommunen wieder, nicht zuletzt aufgrund der sen wir –, dass das Gewerbesteueraufkommen zwischen
10 Milliarden Euro, die mit dem Konjunkturpaket zur den Kommunen, zwischen unterschiedlichen Strukturen
Verfügung gestellt wurden, durch das CO2-Gebäudesa- von Städten, zwischen Großstadt und Umlandgemeinden
nierungsprogramm und durch die Arbeit der Gemeinde- und auch zwischen Ost und West sehr stark differiert.
Deswegen sagen wir aber nicht, dass wir jetzt keine Ge- (D)
(B) finanzkommission. Ich glaube, wir alle sind sicher, dass
wir die Arbeit dieser Kommission nicht ohne Ergebnis werbesteuer mehr wollen. Wir wollen vielmehr eine eher
beenden können. gerechtere Verteilung.

Herr Kollege Troost, ich komme zum Thema Gewer- (Zuruf von der FDP: Eher!)
besteuerumlage. Auch diesbezüglich teile ich die Aus- Daher fordern wir die Einführung einer Gemeindewirt-
sage der Kollegin Paus: Es macht keinen Spaß, sich mit schaftsteuer, bei der die freien Berufe einbezogen wer-
Ihnen auseinanderzusetzen. Sie hören einfach nicht zu. den, die wesentlich weniger streuen als Gewerbebe-
Selbst wenn Sie ein Argument aufgegriffen haben, hält triebe. Das werden auch die Ergebnisse der Kommission
Sie das nicht davon ab, den gleichen Blocksatzantrag, zeigen. Es ist nicht unser Konzept, sondern das Konzept
den Sie hier schon fünfmal gestellt haben, ein weiteres des Deutschen Städtetages, das wir hier vortragen. Na-
Mal zu stellen. Die Gewerbesteuerumlage hilft natürlich türlich profitieren erst einmal diejenigen Kommunen be-
nur den Kommunen, die viel Gewerbesteuer abführen. sonders, die ein hohes Gewerbesteueraufkommen haben
Vom Bund kämen dann zwar 1,2 Milliarden Euro, 2 Mil- bzw. dieses schon immer hatten. Die anderen bekommen
liarden Euro von den Ländern. Ich kenne keinen einzi- durch andere Zuweisungen mehr. Das würde zu einer
gen Antrag der Linken in den Ländern, in dem darum ersten Entlastung der Kommunen führen; denn es gibt
gebeten wird, auf die Gewerbesteuerumlage zu verzich- keine anderen Schritte, um die Haushalte auf der kom-
ten. Sie machen das hier immer sehr öffentlichkeitswirk- munalen Ebene für 2011 und 2012 einigermaßen zu sta-
sam, aber Fakten schaffen Sie nicht. bilisieren.
Ich bin sehr gespannt, ob Sie diesmal in den Haus-
haltsberatungen den Antrag stellen, der Bund solle auf Antje Tillmann (CDU/CSU):
1,2 Milliarden Euro verzichten. Ich möchte ein Beispiel Lieber Kollege Troost, selbstverständlich gibt es an-
nennen, das zeigt, wie sich das auswirken würde: Die dere Schritte, und wir werden Ihnen zusammen mit der
Städte Coburg und Frankfurt am Main hatten beispiels- Gemeindefinanzkommission diese Schritte aufzeigen.
weise im Jahr 2008 ein Gewerbesteueraufkommen pro
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Für 2011 und
Einwohner von 2 600 bzw. 2 700 Euro; Weimar und Del-
2012?)
menhorst liegen hier bei 190 Euro. Wenn Sie also die
Gewerbesteuerumlage abschaffen würden, würden Sie Ich hatte gehofft, dass Sie mir jetzt erklären, warum
Städten helfen, die sowieso ein hohes Gewerbesteuerauf- Sie immer noch bei Ihrem Antrag zur Abschaffung der
kommen haben; Städten, die erhebliche finanzielle Sor- Gewerbesteuerumlage bleiben. Das haben Sie jetzt nicht
gen haben, würde das gar nicht nützen. getan.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6837
Antje Tillmann
(A) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Doch, weil die Kosten für die Verpflegung in den Kitas betragen (C)
das der einzige Schritt ist!) 1,5 Millionen Euro, die Kosten für die Unterstützung
von Kindern in einer Musikschule belaufen sich auf
– Dazu haben Sie jetzt nichts gesagt. – Ich würde jetzt 150 000 Euro, und die Kosten für die Förderung bedürf-
gern auf Ihre Frage reagieren. Sie haben behauptet, dass tiger Kinder in einer Schülerakademie beziffern sich auf
die Verwerfungen bei freiberuflichen Einkommen nicht 40 000 Euro. Diese insgesamt über 2 Millionen Euro
so stark sind wie bei Gewerbetreibenden. Das kann ich werden der Stadt künftig über die Bundesagentur für Ar-
nicht nachvollziehen. Sowohl die Ärzte als auch die beit vom Bund erstattet. Dies führt entweder dazu, dass
Steuerberater und die Wirtschaftsprüfer in den neuen die Kommunen entlastet werden, oder dazu – das würde
Ländern erzielen natürlich andere Einkommen als die in ich mir wünschen –, dass diese Angebote ausgeweitet
den alten Ländern. Also werden die Verwerfungen blei- werden können, sodass alle Kinder, auch Kinder aus
ben. Wir können diese Diskussion gern fortführen. Niedriglohnfamilien, sie in Anspruch nehmen können.
(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Ja, eben!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich glaube, dass Sie übersehen haben, dass die Gewerbe- Das sind keine Einzelfälle. Seitdem wir diese Debatte
steuerumlage eingeführt worden ist, um die Verwerfun- führen, wissen wir, dass solche Angebote in vielen Städ-
gen bei der Gewerbesteuer zwischen den Gemeinden zu ten gemacht werden. Diese Städte können künftig auf
ändern. Sie nicken; Sie wissen das. Sie ziehen daraus die Unterstützung des Bundes hoffen.
aber keine Schlüsse. Ich finde nach wie vor, dass dieser
Antrag sinnlos ist. Sie haben in den Haushaltsberatungen Ich kann alle Kommunalpolitiker, Bürgermeister und
ja die Möglichkeit, dies erneut zu beantragen. Stadträte nur bitten, sich sehr intensiv in diese Debatte
einzubringen; denn es gibt entsprechende Gestaltungs-
(Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE möglichkeiten vor Ort. Das Bildungspaket kann nur so
LINKE]) gut werden, wie es Bund und kommunale Vertreter ge-
– Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich auf dem einen Ohr meinsam gestalten. Ich bin guter Hoffnung, dass dadurch
nicht ständig Ihre Zwischenrufe hören müsste; denn das das eine oder andere Problem in den Kommunen gelöst
lenkt mich von meiner Rede ab. wird. Ich kann auch Sie nur auffordern, sich an der Dis-
kussion zu beteiligen und das Bildungspaket nicht stän-
Lassen Sie mich noch einen weiteren Aspekt anspre- dig zu zerreißen.
chen. Ich wiederhole: Während Sie als Finanzpolitiker
sich als Retter der Kommunen darstellen, schmeißen Ihre Danke.
Sozialpolitiker die Haushalte der Kommunen vollends (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) über den Haufen. Ich lese, dass Ihr Parteivorsitzender ei- (D)
nen Hartz-IV-Regelsatz in Höhe von 500 Euro fordert.
Schon die Erhöhung des Regelsatzes um 5 Euro kostet Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
die Kommunen jährlich 143 Millionen Euro. Jede Erhö- Ich schließe die Aussprache.
hung bei Hartz IV hat natürlich Folgen beim SGB II und Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
bei der Grundsicherung im Alter. Eine Regelsatzerhö- Drucksache 17/2944 an die in der Tagesordnung aufge-
hung auf 500 Euro würde die Kommunen jährlich 4 Mil- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind sie damit ein-
liarden Euro kosten. Schon diese 5 Euro, jährlich verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
143 Millionen Euro, führen in vielen Kommunen zu mas- Überweisung so beschlossen.
siven Problemen. Wir werden auch das in der Kommis-
sion besprechen müssen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 l
und 5 c sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 c auf:
Das von Frau Hinz und anderen heftig kritisierte Bil-
dungspaket ist aber genau das Gegenteil; dadurch wer- 33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
den die Kommunen tatsächlich entlastet. Ich nehme das brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuord-
kostenlose Mittagessen als Beispiel. Zahlreiche Kom- nung des Arzneimittelmarktes in der gesetzli-
munen finanzieren auch heute schon für bedürftige Kin- chen Krankenversicherung
der ein kostenloses Mittagessen in Kindergärten und (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AM-
Schulen. Die Kosten in Höhe von 2 Euro pro Kind und NOG)
Mahlzeit übernimmt in Zukunft der Bund; dafür inves- – Drucksachen 17/3116, 17/3211 –
tiert er 120 Millionen Euro. In vielen Städten gibt es So-
Überweisungsvorschlag:
zialtickets, durch die bedürftige Kinder bei dem Besuch Ausschuss für Gesundheit (f)
von kulturellen Veranstaltungen oder bei der Partizipa- Innenausschuss
tion in Sportvereinen unterstützt werden. Auch hier wird Rechtsausschuss
der Bund im Rahmen des Bildungspakets in Zukunft Finanzausschuss
Kosten übernehmen. Für diesen Bereich stehen insge- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
samt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Dieses Geld Verbraucherschutz
kommt bei den Menschen auch tatsächlich an. Ausschuss für Arbeit und Soziales

Am Beispiel der Stadt Erfurt kann ich das nachwei- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
sen. Erfurt ist eine Stadt mit 200 000 Einwohnern. Für gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
das kostenlose Mittagessen zahlt die Stadt 800 000 Euro, Übereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwi-
6838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) schen der Regierung der Bundesrepublik g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin (C)
Deutschland, der Regierung des Königreichs Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
Belgien, der Regierung der Französischen Re- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
publik und der Regierung des Großherzog-
tums Luxemburg zur Einrichtung und zum Betroffene Kultureinrichtungen nach Fre-
Betrieb eines Gemeinsamen Zentrums der quenzumstellung für drahtlose Mikrofone an-
Polizei- und Zollzusammenarbeit im gemein- gemessen entschädigen
samen Grenzgebiet – Drucksache 17/3177 –
– Drucksache 17/3117 – Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss
Innenausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Rechtsausschuss Verbraucherschutz
Finanzausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Kultur und Medien
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpas- Haushaltsausschuss
sung von Bundesrecht im Zuständigkeitsbe- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
reich des Bundesministeriums für Ernährung, Rupprecht (Tuchenbach), Dr. Hans-Peter Bartels,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz im Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der
Hinblick auf den Vertrag von Lissabon Fraktion der SPD
– Drucksache 17/3118 – Gesundes Aufwachsen von Kindern und Ju-
Überweisungsvorschlag: gendlichen fördern
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f) – Drucksache 17/3178 –
Rechtsausschuss
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Rechtsausschuss
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausschuss für Arbeit und Soziales
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP- Ausschuss für Gesundheit
Sondervermögens für das Jahr 2011 (ERP- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Wirtschaftsplangesetz 2011) Technikfolgenabschätzung
(B) Haushaltsausschuss
(D)
– Drucksache 17/3119 –
Überweisungsvorschlag: i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Holger
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ortel, Petra Ernstberger, Iris Gleicke, weiterer
Finanzausschuss Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss Die Reform der Gemeinsamen Fischereipolitik
zum Erfolg führen
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein- – Drucksache 17/3179 –
barung vom 20. April 2010 zwischen der Überweisungsvorschlag:
Regierung der Bundesrepublik Deutschland Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
und der Regierung von Quebec über Soziale Verbraucherschutz (f)
Sicherheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 17/3120 – j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Überweisungsvorschlag: Behm, Dr. Valerie Wilms, Undine Kurth (Qued-
Ausschuss für Arbeit und Soziales linburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Chancen der EU-Fischereireform 2013 nutzen
Europa-Mittelmeer-Luftverkehrsabkommen und Gemeinsame Fischereipolitik grundle-
vom 12. Dezember 2006 zwischen der Europäi- gend reformieren
schen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten
einerseits und dem Königreich Marokko ande- – Drucksache 17/3209 –
rerseits (Vertragsgesetz Europa-Mittelmeer- Überweisungsvorschlag:
Luftverkehrsabkommen – Euromed-Luft- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
vAbkG-Marok) Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
– Drucksache 17/3121 –
Überweisungsvorschlag: k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6839
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE (C)
NIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN
Verbraucherschutz auf Finanzmärkten nach- Rechte der Arbeitsuchenden stärken – Sank-
holen tionen aussetzen
– Drucksache 17/3210 – – Drucksache 17/3207 –
Überweisungsvorschlag:
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Verbraucherschutz (f)
Rechtsausschuss
Koczy, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, weiterer Ab-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
Federführung strittig GRÜNEN
l) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- Pakistan nach der Flut langfristig unterstüt-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zen und Schulden umwandeln
(18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- – Drucksache 17/3206 –
nung
Überweisungsvorschlag:
Technikfolgenabschätzung (TA) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)
Innovationsreport Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Blockaden bei der Etablierung neuer Schlüs- Haushaltsausschuss
seltechnologien
Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
– Drucksache 17/2000 – fachten Verfahren ohne Debatte.
Überweisungsvorschlag: Zunächst kommen wir zu einer Überweisung, bei der
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) die Federführung strittig ist; es geht dabei um den
Finanzausschuss Tagesordnungspunkt 33 k. Interfraktionell wird Über-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie weisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf Finanzmärk-
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ten nachholen“ auf Drucksache 17/3210 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
(B) 5 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wünschen (D)
Hermann, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Federführung beim Finanzausschuss, die Fraktion Bünd-
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Aus-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz.
Schaffung von Rechtssicherheit für Car-
sharing-Stationen und Elektrofahrzeug-Stell- Zunächst stimmen wir über den Überweisungsvor-
plätze schlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ab, das heißt
Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
– Drucksache 17/3208 – schaft und Verbraucherschutz. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthal-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) tungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit abge-
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie lehnt.
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus Nun stimmen wir über den Vorschlag der Fraktionen
ZP 2 a)Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ der CDU/CSU und der FDP ab, das heißt Federführung
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überwei-
Zweiten Gesetzes zur Änderung der Vorschrif- sungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
ten zum begünstigten Flächenerwerb nach § 3 Der Überweisungsvorschlag ist damit mit den Stimmen
Ausgleichsleistungsgesetz und der Flächener- der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstim-
werbsverordnung (Zweites Flächenerwerbs- men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthal-
änderungsgesetz – 2. FlErwÄndG) tung der Fraktion Die Linke angenommen.
Nun kommen wir zu den unstrittigen Überweisungen.
– Drucksache 17/3183 –
Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
Haushaltsausschuss (f) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
Innenausschuss überweisen. Zu dem Gesetzentwurf zur Neuordnung des
Rechtsausschuss Arzneimittelmarktes auf Drucksache 17/3116 – Tages-
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ordnungspunkt 33 a – liegt zwischenzeitlich auf Druck-
sache 17/3211 die Gegenäußerung der Bundesregierung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte vor, die an dieselben Ausschüsse wie der Gesetzentwurf
Pothmer, Fritz Kuhn, Markus Kurth, weiterer Ab- überwiesen werden soll. Sind Sie mit all dem einverstan-
6840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) den? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überwei- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3026 an- (C)
sungen so beschlossen. zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? –
Nun kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 34 a
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
bis 34 q. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Tagesordnungspunkt 34 a: Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 34 c:
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
über die weitere Bereinigung von Bundesrecht
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
– Drucksache 17/2279 – eines Gesetzes zum Vorschlag für eine Verord-
nung des Europäischen Parlaments und des
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
Rates über Finanzbeiträge der Europäischen
schusses (6. Ausschuss)
Union zum Internationalen Fonds für Irland
– Drucksache 17/3109 – (2007 bis 2010)
Berichterstattung: – Drucksache 17/2629 –
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Dr. Edgar Franke Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Marco Buschmann ses für Wirtschaft und Technologie (9. Aus-
Jens Petermann schuss)
Ingrid Hönlinger – Drucksache 17/3232 –
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Berichterstattung:
empfehlung auf Drucksache 17/3109, den Gesetzent- Abgeordneter Dieter Jasper
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/2279 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte nun dieje- Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie emp-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dage- 17/3232, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf
gen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Drucksache 17/2629 in der Ausschussfassung anzuneh-
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
tionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
(B)
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge- (D)
SPD-Fraktion angenommen. setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
Wir kommen zur
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – dritten Beratung
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
der zweiten Beratung angenommen. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
Tagesordnungspunkt 34 b: ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Beratung, nämlich mit den Stimmen des ganzen
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Hauses, angenommen.
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Tagesordnungspunkt 34 d:
19. März 2010 zwischen der Regierung der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Bundesrepublik Deutschland und der Regie- richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
rung von Anguilla über den steuerlichen In- Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu der Verord-
formationsaustausch nung der Bundesregierung
– Drucksache 17/3026 – Zweite Verordnung zur Änderung der Maut-
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- höheverordnung (2. ÄndMautHV)
schusses (7. Ausschuss) – Drucksachen 17/2891, 17/2971 Nr. 2.3, 17/3161 –
– Drucksache 17/3200 –
Berichterstattung:
Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter
Abgeordnete Daniela Kolbe (Leipzig)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Dr. Birgit Reinemund
lung auf Drucksache 17/3161, der Verordnung auf
Dr. Thomas Gambke
Drucksache 17/2891 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
empfehlung auf Drucksache 17/3200, den Gesetzent- gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6841
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Tagesordnungspunkt 34 g: (C)
Oppositionsfraktionen angenommen.
Beratung der Zweiten Beschlussempfehlung des
Tagesordnungspunkt 34 e: Wahlprüfungsausschusses
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der Wahl
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Septem-
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der ber 2009
Verordnung der Bundesregierung
– Drucksache 17/3100 –
Verordnung zur Umsetzung der Dienstleis-
tungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umwelt- Berichterstattung:
rechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Vorschriften Michael Grosse-Brömer
Bernhard Kaster
– Drucksachen 17/2821, 17/2971 Nr. 2.1, 17/3170 – Christian Lange (Backnang)
Stephan Thomae
Berichterstattung:
Dr. Dagmar Enkelmann
Abgeordnete Dr. Thomas Gebhart
Josef Philip Winkler
Dr. Matthias Miersch
Judith Skudelny Dazu liegt eine persönliche Erklärung der Kollegin
Ralph Lenkert Dr. Enkelmann nach § 31 unserer Geschäftsordnung
Dorothea Steiner vor.1)
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist
lung auf Drucksache 17/3170, der Verordnung auf dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Drucksache 17/2821 zuzustimmen. Wer stimmt für diese ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stim- Tagesordnungspunkt 34 h:
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fraktion Die Linke und Enthaltung der Fraktionen der richts des Auswärtigen Ausschusses
SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der
Tagesordnungspunkt 34 f: SPD

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Die Fußballweltmeisterschaft – Eine Chance
(B) für Südafrika (D)
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung – Drucksachen 17/1959, 17/2493 –
Grünbuch zur Corporate Governance in Berichterstattung:
Finanzinstituten und Vergütungspolitik (inkl. Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen)
10823/10 ADD 1) Dagmar Freitag
KOM (2010) 284 endg.; Ratsdok. 10823/10 Marina Schuster
– Drucksachen 17/2408 Nr. A.8, 17/3112 – Jan van Aken
Kerstin Müller (Köln)
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
Burkhard Lischka lung auf Drucksache 17/2493, den Antrag der Fraktion
Marco Buschmann der SPD auf Drucksache 17/1959 abzulehnen. Wer
Raju Sharma stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
Ingrid Hönlinger gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Frak-
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktionen der
tung eine Entschließung anzunehmen. Ich lasse über SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
diese Beschlussempfehlung abstimmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wir kommen damit zu den Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkte 34 i bis
(Zuruf von der FDP: Eindeutig!) 34 q.
– Herr Kollege, ich registriere die Mehrheiten auch ohne Tagesordnungspunkt 34 i:
Ihre Kommentare. Ich danke Ihnen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der FDP und ausschusses (2. Ausschuss)
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sammelübersicht 138 zu Petitionen
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- – Drucksache 17/3069 –
nen bei Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen ange-
nommen. 1) Anlage 2
6842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) Wer stimmt dafür? – Ist jemand dagegen? – Enthal- Gegenstimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion (C)
tungen? – Sammelübersicht 138 ist mit den Stimmen des Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 o:
Tagesordnungspunkt 34 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss)
ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 144 zu Petitionen
Sammelübersicht 139 zu Petitionen – Drucksache 17/3075 –
– Drucksache 17/3070 – Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 144 ist mit den Stimmen
gen? – Auch die Sammelübersicht 139 ist mit den Stim- der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Bündnis 90/
men des ganzen Hauses angenommen. Die Grünen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 k:
Tagesordnungspunkt 34 p:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 140 zu Petitionen
Sammelübersicht 145 zu Petitionen
– Drucksache 17/3071 –
– Drucksache 17/3076 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 140 ist mit den Stimmen Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
der Koalitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der gen? – Die Sammelübersicht 145 ist mit den Stimmen
Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Fraktion der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen. der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 34 l:
Tagesordnungspunkt 34 q:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)
ausschusses (2. Ausschuss)
Sammelübersicht 141 zu Petitionen
(B) Sammelübersicht 146 zu Petitionen (D)
– Drucksache 17/3072 –
– Drucksache 17/3077 –
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 141 ist mit den Stimmen gen? – Die Sammelübersicht 146 ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Opposi-
Grünen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen tionsfraktionen angenommen.
der SPD-Fraktion angenommen.
Damit haben wir alle diese Abstimmungen über die
Tagesordnungspunkt 34 m: Bühne gebracht.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:
ausschusses (2. Ausschuss)
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Sammelübersicht 142 zu Petitionen richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus-
– Drucksache 17/3073 – schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Ernst-
Reinhard Beck (Reutlingen), Peter Altmaier,
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der
gen? – Die Sammelübersicht 142 ist mit den Stimmen Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge- Elke Hoff, Rainer Erdel, Burkhardt Müller-
genstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Sönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der Fraktion Die Linke angenommen. der FDP
Tagesordnungspunkt 34 n: Verbesserung der Regelungen zur Einsatzver-
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- sorgung
ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksachen 17/2433, 17/3229 –
Sammelübersicht 143 zu Petitionen Berichterstattung:
Abgeordnete Henning Otte
– Drucksache 17/3074 –
Lars Klingbeil
Wer stimmt dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltun- Elke Hoff
gen? – Die Sammelübersicht 143 ist mit den Stimmen Harald Koch
der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Agnes Malczak
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6843
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Interfraktionell wurde vereinbart, eine halbe Stunde gen auch an juristische Personen zu gewährleisten, damit (C)
darüber zu diskutieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver- praxisnah, zum Beispiel bei abgetretenen Versicherungs-
standen. Dann können wir so verfahren. ansprüchen, eine Auszahlung erfolgen kann. Drittens ist
die Höhe des anspruchsbegründenden Schädigungsgra-
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der des von 50 auf 30 Prozent zu reduzieren, weil bei psy-
Kollege Henning Otte für die CDU/CSU-Fraktion das chischen Erkrankungen die Erwerbsminderung nicht äu-
Wort. ßerlich erkennbar ist und zusätzlich die Kausalität in
dieser Höhe schwer nachzuweisen ist. Deswegen muss
Henning Otte (CDU/CSU): der Grundsatz gelten: Im Zweifel für den verwundeten
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kollegin- Soldaten.
nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Der Antrag der Regierungskoalition zur Verbesse- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rung der Regelungen zur Einsatzversorgung unserer Eine bessere Nachversicherungsregelung sowie die
Soldaten ist notwendig, richtig und angemessen. Warum? Rückführung der Stichtagsregelung auf den Beginn der
Weil die Erfahrung im Umgang mit der Versorgung von Auslandsmandate rundet diese Regelung ab. Es sollte
Soldaten im Einsatz ungerechtfertigte Versorgungslücken auch das Ziel sein, eingesetztem Zivilpersonal mit be-
für Berufssoldaten, insbesondere für Zeitsoldaten, für sonderen Auslandsverwendungen ähnliche Erleichterun-
freiwillig länger Dienende und für Reservisten deutlich gen zu verschaffen.
gemacht hat.
Ich danke an dieser Stelle den mitberatenden Aus-
Die versorgungsrechtlichen Regelungen für Solda- schüssen, die mit ihrer fraktionsübergreifenden Zustim-
ten, die im Rahmen von Auslandseinsätzen zu Schaden mung der Annahme unseres Antrages zugestimmt ha-
kommen, sind in den letzten Jahren bereits wesentlich ben, leider stets mit Ausnahme der Fraktion Die Linke,
verbessert worden. Auf Initiative unseres früheren Bun- die bekanntermaßen ein gespaltenes Verhältnis zu unse-
desministers der Verteidigung, Franz Josef Jung, wurde rer Bundeswehr und damit zu Sicherheit, Recht und Ord-
im Jahr 2007 mit dem Einsatz-Weiterverwendungsgesetz nung in unserem Staat hat.
die notwendige Ergänzung des Einsatzversorgungsgeset-
zes beschlossen. Das Einsatzversorgungsgesetz regelt (Zuruf der Abg. Ingrid Remmers [DIE
die finanzielle Absicherung und das Einsatz-Weiterver- LINKE])
wendungsgesetz die Weiterbeschäftigung geschädigter
Die Union ist die Partei der Bundeswehr. Das hat sie
Soldaten.
bei ihren Entscheidungen zur Gründung der Bundes-
Die Erfahrungen aus den Einsätzen haben uns ge- wehr, zum Beitritt der NATO und bei der Entwicklung
(B) zeigt, dass eine Anpassung dieser Regelungen notwen- zur Armee der Einheit erfolgreich unter Beweis gestellt. (D)
dig ist, um deutlich gewordene Versorgungslücken ge- Das Gleiche gilt auch für die aktuelle notwendige Struk-
rechtigkeitshalber und fürsorgehalber zu schließen. Das turreform sowie für den heute zu beratenden Antrag.
haben wir in der CDU/CSU erkannt und als Verteidi-
Der Deutsche Bundestag beschließt die Entsendung
gungspolitiker in dem vorliegenden Antrag umgesetzt.
von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebiete und
Auch das ist Ausdruck einer Parlamentsarmee.
Konfliktregionen nach Europa, Afrika und Asien. Den
In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen, sehr ge- daraus erwachsenden Herausforderungen müssen wir in
ehrter Herr Minister zu Guttenberg, und Ihrem Ministe- besonderem Maße Rechnung tragen. Denn militärische
rium dafür, dass Sie bei allen notwendigen Entscheidun- und zivile Auslandsverwendungen in Krisengebieten
gen um die Sicherheit unseres Landes immer das Wohl sind mit hohen Gefahren für Leib und Leben verbunden.
unserer Soldaten im Blick haben und uns auch in dieser Mit Entsetzen müssen wir heute erfahren, dass wieder
Angelegenheit unterstützen. einer unserer Soldaten gefallen ist und weitere verwun-
det worden sind. Das bedrückt uns sehr.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Unsere Bundeswehr stellt bis zu 7 000 Soldaten und
Ich danke an dieser Stelle auch dem Deutschen Bun-
bildet damit den Schwerpunkt dieser militärischen und
deswehrVerband, der auf diese Regelungslücken hinge-
zivilen Missionen, die auch der Sicherheit unseres Lan-
wiesen hat. Es ist eine besondere Geste, dass Sie, lieber
des dienen. Die besonderen Dienstbelastungen – auch in
Herr Oberst Kirsch, als Vorsitzender des Bundeswehr-
Kampfhandlungen unter Einsatz von Leib und Leben –
Verbandes dieser Debatte beiwohnen. Das ist ein deutli-
stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Die-
ches Zeichen. Ich danke Ihnen ganz herzlich für Ihre Ar-
ser besonderen Situation wollen wir mit unserem Antrag
beit zum Wohle unserer Soldaten.
gerecht werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Die Bundeswehr steht im Rahmen der notwendigen
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Strukturreform vor der Herausforderung, auch zukünftig
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
ein noch attraktiverer Arbeitgeber zu sein. Dafür muss
Worum geht es bei diesem Antrag? Im Kern geht es in die Versorgungssicherheit gewährleistet sein. Unsere
der Fortentwicklung erstens darum, die Beiträge der ein- Soldaten verpflichten sich, der Bundesrepublik Deutsch-
maligen Entschädigung zu erhöhen, da der jetzige Be- land treu zu dienen sowie das Recht und die Freiheit tap-
trag der Höhe nach keine angemessene Entschädigung fer zu verteidigen. Sie stehen zu ihrer übernommenen
darstellt. Zweitens sind die Schadensausgleichszahlun- Verantwortung für die Sicherheit unseres Landes. Dafür
6844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Henning Otte
(A) danken wir Ihnen, liebe Soldatinnen und Soldaten, herz- unsere Soldaten tagtäglich unter Einsatz ihres Lebens (C)
lich. leisten.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir in der Union stehen zu unseren Soldaten aus Ver- Wir als Abgeordnete sind es, die unsere Soldaten auf
antwortung, aus Fürsorge und aus politischer Überzeu- schwierige Missionen schicken. Wir sind es, die Fami-
gung und bitten um Zustimmung zu unserem Antrag. lien für einen langen Zeitraum auseinanderreißen. Wir
sind es, die gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
für unsere politischen Entscheidungen ablegen müssen.
Wir sind es aber auch, die eine Fürsorgepflicht gegen-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: über den Soldaten und ihren Familien wahrzunehmen
Der Bundesminister der Verteidigung, Herr zu haben. Wir haben diese Fürsorgepflicht vor, während
Guttenberg, hat um das Wort gebeten, um eine Mittei- und nach dem Einsatz.
lung zu machen.
Kommt ein Soldat im Einsatz etwa durch einen Unfall
zu Schaden, müssen wir gewährleisten, dass es umfang-
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
reiche, schnelle und unbürokratische Hilfe für den Sol-
desminister der Verteidigung:
daten und seine Familie gibt. Es ist deshalb richtig, dass
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
wir heute hier im Bundestag eine wegweisende Ent-
Mich hat soeben eine sehr traurige Nachricht erreicht.
scheidung der rot-grünen Regierung und vor allem des
Wir haben offenbar bei einem Selbstmordanschlag auf
ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck weiter-
eine ISAF-Patrouille unserer Soldaten nördlich von Pol-i-
entwickeln und das Einsatzversorgungsgesetz in wichti-
Khumri nach derzeitigem Stand einen gefallenen Solda-
gen Kernpunkten verbessern. Peter Struck war es, der
ten und sechs verwundete Soldaten zu beklagen. Es ist
die Notwendigkeit erkannte, der veränderten Auftragsre-
eine erste Information, die ich Ihnen in diesem Hohen
alität der Bundeswehr einen neuen Rechtsrahmen zu ge-
Hause geben muss und geben will.
ben und die Fürsorge des Staates gegenüber den Solda-
Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Soldaten ten erheblich zu verbessern. Hierfür gebührt ihm auch
und ihren Familien. Wir werden natürlich, sobald wir nachträglich unser aller Dank.
Weiteres wissen, Sie alle entsprechend informieren. Der
(Beifall bei der SPD)
gefallene Soldat und die verwundeten Soldaten befanden
sich in einem Einsatz, der unserer Sicherheit dient und Die Weiterentwicklung des Gesetzes, wie sie heute
(B) der in diesem Hause beschlossen wurde. Ich glaube, es hier von den Regierungsfraktionen eingefordert wird, (D)
gehört sich, diese Information weiterzugeben. Unsere findet in allen Punkten unsere Unterstützung. Wir hätten
Gedanken und Gebete sind bei den Familien und bei den uns gewünscht, dass ein solcher Vorstoß aus dem Minis-
Soldaten. terium kommt, und wir hätten uns auch gewünscht, dass
versucht worden wäre, diesen Antrag gemeinsam mit
Ich danke Ihnen.
den Oppositionsfraktionen zu formulieren. Das wäre ein
wichtiges Zeichen gewesen, das wir hier im Bundestag
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: hätten setzen können.
Herzlichen Dank, Herr Minister.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Lars Klingbeil DIE GRÜNEN)
für die SPD-Fraktion.
Ich bin aber dankbar für Ihre Zusage gestern im Aus-
schuss, Frau Hoff, dass wir im konkreten Gesetzge-
Lars Klingbeil (SPD):
bungsverfahren eine gemeinsame Linie entwickeln wer-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
den. Meines Erachtens sollten die Gemeinsamkeiten im
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-
Vordergrund des Wirkens in diesem Hause stehen, wenn
ehrter Herr Minister, diese furchtbare Nachricht, die uns
es um unsere Soldatinnen und Soldaten geht.
aus Afghanistan erreicht, sollte uns alle dazu bringen, in-
nezuhalten und noch einmal über die Verantwortung Gerade für Nichtberufssoldaten wird mit dem Forde-
nachzudenken, die wir als Parlamentarier gegenüber un- rungskatalog eine erhebliche Verbesserung erreicht. Die
seren Soldatinnen und Soldaten haben. Ich denke, ich Ausgleichszahlungen werden erhöht, die rechtliche Stel-
spreche im Namen aller, wenn ich sage, dass unser aller lung der Soldatinnen und Soldaten wird verbessert, und
Mitgefühl und unsere Gedanken den Familien des Gefal- die Einsatzzeiten werden künftig höher angerechnet. Das
lenen und der Verwundeten gelten. sind wichtige Schritte, die wir hier als Parlamentarier ge-
hen wollen. Die ersten deutschen Soldaten wurden 1992
Sehr geehrte Damen und Herren, es steht jeder Abge-
ins Ausland geschickt. Der heutige Antrag formuliert
ordneten und jedem Abgeordneten frei, sich für oder ge-
deutlich die Gleichbehandlung aller Einsätze. Auch dies
gen die Entsendung von Soldatinnen und Soldaten in ei-
ist ein notwendiger Schritt.
nen Auslandseinsatz zu entscheiden. Diese Entscheidung
müssen wir letztendlich mit unserem Gewissen vereinba- Die Verantwortung des Staates gegenüber unseren
ren. Das, was dieses Haus jedoch einen sollte, sind die Soldaten bedeutet auch, die Bewältigung der posttrau-
Anerkennung, der Respekt und die Fürsorge für das, was matischen Belastungsstörungen endlich entschlossen an-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6845
Lars Klingbeil
(A) zugehen. Immer mehr Soldaten kommen mit solchen sich vor die Truppe zu stellen und in diesem Punkt Ver- (C)
Störungen aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse aus besserungen für die Soldaten zu fordern? Das wäre ein
dem Einsatz zurück. Viele Soldaten haben Grauenhaftes wichtiges Zeichen auch für die Anerkennung der Truppe
erlebt, Bilder, die sie jahrelang nicht vergessen, die sie gewesen.
nachts nicht schlafen lassen und die tagsüber einen gere-
gelten Alltag nicht zulassen. Diese seelischen Verwun- Das Weihnachtsgeld gehört zur Attraktivität des Sol-
dungen haben erst in den letzten Jahren die Aufmerk- datenberufs. Wir alle wissen doch, dass es darauf an-
samkeit erhalten, die sie verdienen. Dass dies nun so ist, kommt, in den nächsten Monaten maßgebliche Schritte
ist – das sage ich hier ganz deutlich – zu einem großen zur Steigerung der Attraktivität der Bundeswehr zu ge-
Teil das Verdienst des ehemaligen Wehrbeauftragten hen. Gerade dann, wenn die Wehrpflicht fällt und wir die
Reinhold Robbe, der immer unermüdlich dafür ge- Nachwuchsgewinnung ausbauen müssen, brauchen wir
kämpft hat, dass die posttraumatischen Belastungsstö- einen attraktiveren Dienst in der Bundeswehr. Deswegen
rungen die ihnen angemessene Aufmerksamkeit finden. sage ich für uns Sozialdemokraten, dass im Rahmen der
Auch ihm gebührt unser Dank. Bundeswehrstrukturreform ein Programm zur Steige-
rung der Attraktivität zwingend notwendig ist. Nur dann,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn wir auch die Attraktivität des Dienstes in der Bun-
der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- deswehr erhöhen, wird eine Strukturreform gelingen.
SES 90/DIE GRÜNEN)
Da ich beim Thema Reform bin, will ich hier deutlich
Es ist richtig, dass wir die Situation der an PTBS er- sagen: Herr Minister, reden Sie Klartext hinsichtlich der
krankten Soldaten verbessern und wir beispielsweise die Standzeiten im Auslandseinsatz. Reden Sie Klartext da-
Verfahrensdauer drastisch reduzieren wollen. Aber auch rüber, welche Standzeiten Sie für die Bundeswehrpla-
hier gehört zur Wahrheit: Wir stehen noch am Anfang. nung zugrunde gelegt haben. Derzeit sind es vier Monate.
Unsere Maxime im konkreten Gesetzgebungsverfahren Die Befürchtungen bei uns, aber auch in der Truppe sind
muss lauten, dass jeder Soldat und jede Soldatin, die in doch aber, dass wir mit einer personell reduzierten Bun-
den letzten 18 Jahren im Ausland verletzt wurde, egal ob deswehr zu erheblich höheren Standzeiten kommen wer-
körperlich oder seelisch, die bestmögliche Behandlung den. Hier sind Sie bisher jede Antwort schuldig geblie-
erhalten. Das müssen wir als Parlamentarier garantieren; ben. Sagen Sie der Truppe, sagen Sie dem Parlament, in
wir werden im Gesetzgebungsverfahren auch die Ver- welche Richtung Ihre Planung geht. Auch das sind Sie
bände und Experten einbeziehen müssen, um hierfür die den Soldatinnen und Soldaten schuldig.
bestmögliche Regelung zu finden.
(Beifall bei der SPD)
Es sind große Schritte für die Anerkennung der Leis-
tung der Soldaten und für den Respekt gegenüber den Ich sage auch: Zur Fürsorge gehört eine optimale Ein-
(B) Soldaten, die wir heute unternehmen. Ich sage aber auch: satzvorbereitung. Die Vorbereitung, mit der wir unsere (D)
Das reicht nicht! Es reicht nicht, wenn dieses Parlament Soldaten in den Einsatz schicken, reicht nicht. Hier ha-
sich nach der Verabschiedung des heutigen Antrags zu- ben wir als Politik eine große Verantwortung. Wir schi-
rücklehnt, sich auf die Schulter klopft und sagt: Jetzt ha- cken Soldaten nach Afghanistan, obwohl wir wissen,
ben wir etwas für die Soldaten getan. – Denn es bleibt dass sie an den Fahrzeugen, die dort für den Schutz ihres
noch viel zu tun. Lebens wichtig sind, nicht ausreichend ausgebildet sind;
daher müssen wir hier dringend nachbessern. Auch eine
Der Anerkennung, dem Respekt und der Fürsorge optimale Einsatzvorbereitung gehört zur Fürsorgepflicht,
hätte es auch gedient – das will ich hier deutlich sagen –, die wir als Parlament haben.
den Soldaten wieder das volle Weihnachtsgeld auszu-
zahlen, wie die Kanzlerin es versprochen hatte. Ich will an alle 622 Abgeordneten hier noch einmal
appellieren. Wir sind diejenigen, die Verantwortung für
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
die Soldaten tragen, und wir müssen uns jeden Tag fra-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gen: Werden wir dieser Verantwortung gerecht? Wir ver-
Wenn der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes in die- langen von unseren Soldaten viel, und wir sind in der
sem Zusammenhang von einem Wortbruch spricht, dann Pflicht, ihnen das Versprechen zu geben, dass wir ihnen
muss ich ihm recht geben. Man muss sich an dieser eine optimale Vorbereitung, Nachbereitung und auch
Stelle fragen: Welches Signal kommt eigentlich bei den Versorgung im Einsatzland auf dem höchstmöglichen
Soldaten an, wenn wir sie einerseits in immer gefährli- Niveau garantieren. Das, was wir heute beschließen, ist
chere Einsätze schicken und andererseits hier zu Hause ein wichtiger erster Schritt. Aber ich sage auch: Es müs-
auf ihrem Rücken Sparmaßnahmen umsetzen? Ich hoffe, sen weitere Schritte folgen. Wir dürfen uns nicht ausru-
dass im Rahmen der Haushaltsberatungen die Regie- hen.
rungskoalition noch zur Einsicht kommt. Aber ich sage
heute: Verantwortungsvolle Politik sieht an dieser Stelle Herzlichen Dank fürs Zuhören.
anders aus. (Beifall bei der SPD)
Herr Minister, ich hätte mir von Ihnen dazu deutli-
chere Worte gewünscht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das Wort hat nun Elke Hoff für die FDP-Fraktion.
Sie sind der derzeit populärste Politiker in Deutschland. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Warum nutzen Sie dieses politische Gewicht nicht, um der CDU/CSU)
6846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Elke Hoff (FDP): ment jetzt unsere Aufgabe erfüllen. Herr Minister, ich (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! habe gar keinen Zweifel, dass wir hier in sehr enger Ko-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor dem Hin- operation das Richtige auf den Weg bringen. Bei allem
tergrund der Ereignisse, die Herr Minister zu Guttenberg Verständnis auch für die finanziellen Zwänge: Ich
eben vorgetragen hat, ist es wenig erfreulich, hier heute glaube, dass an dieser Stelle das Geld keine Rolle spie-
eine politische Auseinandersetzung zu führen. Ich len darf.
möchte an dieser Stelle auch für meine Fraktion die tiefe (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
Betroffenheit, das tiefe Bedauern zum Ausdruck bringen bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
sowie den Familien, den Freunden und den Angehörigen NISSES 90/DIE GRÜNEN)
die tiefste Anteilnahme aussprechen.
Wir müssen auf die Männer und Frauen hören, die an
Tragisch ist das Zusammentreffen dieser Ereignisse. uns appellieren. Inzwischen gibt es dankenswerterweise
Wir führen heute eine Debatte über etwas, was gerade sehr viele Veröffentlichungen dazu. Ein Buch zu diesem
der Verbesserung der Situation für aus dem Einsatz zu- Thema trägt den Titel „Die reden – Wir sterben“. Das ist
rückgekehrte verwundete Soldatinnen und Soldaten die- eine sehr klare und deutliche Aussage, und ich glaube,
nen und die nötige Tiefe, die politische Seriosität und dass sich hinter dieser prägnanten Formulierung die
auch den gemeinsamen Willen unterstreichen soll. Bei ganze Tragik der Empfindungen darüber verbirgt, dass
allen unterschiedlichen Auffassungen in Einzelpunkten die Männer und Frauen, die zurückkommen, nicht mehr
bin ich deshalb froh, dass nach der Rede des Kollegen die Menschen sind, die sie vorher waren. Dies gilt auch
Klingbeil sehr deutlich geworden ist, dass hier ein ge- gegenüber ihren Familien. Sie sollen in erster Linie ihre
meinsamer Wille besteht, der Verantwortung gegenüber Würde als Familienvater, als Arbeitnehmer, als Freund
unseren Soldaten, die wir als Parlamentarier haben, ge- und Ehepartner zurückerhalten. An dieser Stelle kann
recht zu werden. ich nur appellieren, dass wir im weiteren Gesetzge-
bungsvorhaben unsere unterschiedlichen parteipoliti-
Ich freue mich auch, dass heute Betroffene bei uns schen Auffassungen im Interesse der Soldatinnen und
sind. Diese Soldaten sind heute hier, weil sie an der Dis- Soldaten ein Stück weit überwinden.
kussion, die wir hier im Parlament führen, teilhaben wol-
len. Ich darf ihnen an dieser Stelle persönlich und auch Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu,
im Namen vieler Kollegen danken, dass sie den Mut ha- es fällt mir heute wirklich sehr schwer, vor dem Hinter-
ben, an die Öffentlichkeit zu gehen, und dass sie uns grund der Ereignisse zu reden. Wir sollten uns über eines
ganz deutlich gemacht haben, wie bestimmte Lücken im klar sein: dass auch heute wieder Soldatinnen und Solda-
Gesetz und vielleicht auch eine falsche Zurückhaltung ten aus einem Einsatz nach Hause kommen werden, der
ihr Leben nachhaltig verändert haben wird. Umso mehr
(B) an manchen Stellen ihr Leben sehr nachteilig und sehr sind wir jetzt gefordert, die Dinge, von denen wir wis- (D)
negativ beeinflusst haben. Ich finde es deswegen großar-
sen, dass sie falsch laufen, zu verbessern, damit wir den
tig, dass sie uns heute als Staatsbürger in Uniform durch
Kameradinnen und Kameraden sagen können: Jawohl,
ihre Präsenz ein Stück weit den Weg weisen. wir haben die Botschaft verstanden; das Parlament ist
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD gemeinsam mit der Regierung bereit, die Situation zu
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie verändern.
des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) Ganz herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Meine Damen, meine Herren, ich bin froh, dass es uns (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gelungen ist, viele Punkte, durchaus gegen Widerstände
von Kollegen in anderen Fachausschüssen, auf einen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Weg zu bringen, der zeigt, dass wir die Verantwortung
Das Wort erhält nun Kollegin Ingrid Remmers für die
übernehmen. Ich finde, ein wesentlicher Aspekt dieses
Fraktion Die Linke.
Antrags ist in jedem Fall eine Veränderung der Stich-
tagsregelung. Es ist nämlich in hohem Maße ungerecht, (Beifall bei der LINKEN)
dass die Soldatinnen und Soldaten, die sich von Anfang
an für unser Vaterland eingesetzt und die ihre Gesund- Ingrid Remmers (DIE LINKE):
heit aufs Spiel gesetzt haben, nicht in den Genuss von Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Vergünstigungen kamen. Was mich persönlich besonders Lassen Sie mich zunächst auf das Bezug nehmen, was
erschreckt hat, ist, dass wir ein Stück weit vergessen ha- der Kollege Otte gesagt hat, und etwas korrigieren: Die
ben, was mit unseren Soldaten auf Zeit und mit den Linke hat keinesfalls ein unsicheres oder gespaltenes
Reservisten passiert. Viele Einsätze, geprägt von schlim- Verhältnis zu Kriegseinsätzen, sondern ein ganz eindeu-
men Szenarien, können heute ohne den Einsatz von Re- tiges, nämlich ein ablehnendes.
servisten und ohne Soldaten auf Zeit in der Form nicht
mehr durchgeführt werden. Ich bin sehr froh darüber, (Beifall bei der LINKEN)
dass wir hier die Weichen gestellt haben. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch die Interessen
der Soldatinnen und Soldaten sehen. Vor dem Hinter-
Ich hoffe sehr – das sage ich auch an die Kollegen der
grund dessen, was heute passiert ist, sprechen selbstver-
Opposition gerichtet –, dass wir sehr rasch in das Ge-
ständlich auch wir den Verletzten und den Angehörigen
setzgebungsverfahren eintreten. Es reicht nämlich in der
unser tiefes Mitgefühl aus.
Tat nicht aus, dass wir heute nur den politischen Willen
dokumentieren. Darüber hinaus müssen wir als Parla- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6847
Ingrid Remmers
(A) Der vorliegende Antrag der Regierungsfraktionen ist Zum einen ist im Verteidigungshaushalt, der immer- (C)
im Grundsatz zu begrüßen; auch wir begrüßen ihn. Die hin der drittgrößte Etat ist, ausreichend Spielraum vor-
Antragsteller legen hier die Finger in zwei wunde Punkte handen. Es gibt genug Beschaffungsprogramme, die
der gegenwärtigen Sicherheitspolitik der Bundesregie- dem Rotstift zum Opfer fallen könnten, zum Beispiel für
rung: den A400M. Auch der Gesamtumfang der Streitkräfte
muss reduziert werden, sodass hier erhebliche Um-
Wer auf Krieg und militärische Interventionen als In- schichtungen möglich wären.
strument der Außen- und Sicherheitspolitik setzt, setzt
damit auch die eigenen Soldatinnen und Soldaten großen Zum anderen aber würde damit der Ansatz der Haus-
Gefahren aus; dies haben wir heute erlebt. Diese Gefah- hälter in den letzten fünf Jahren völlig konterkariert wer-
ren sind inzwischen Bundeswehralltag in Afghanistan, den. Die Querfinanzierung, die Flexibilisierung von
wie wir alle wissen. Mehr als 30 Soldaten – heute erneut Haushaltstiteln waren den Haushältern zu Recht ein Dorn
einer – wurden im Verlauf der Intervention bislang getö- im Auge. Klare Sach- und Finanzverantwortung, klare
tet, eine Vielzahl wurde verwundet und traumatisiert, Verantwortlichkeiten und die Verbesserung der Transpa-
und dies in einem Krieg, der nicht zu rechtfertigen und renz waren das Ziel. Ab 2007 wurden deswegen endlich
zum Scheitern verurteilt ist. Die Linke hat sich immer auch die Versorgungsausgaben aus dem Einzelplan 33
klar und deutlich für den Abzug aus Afghanistan einge- übernommen. Das soll nun wieder aufgebrochen werden.
setzt und auch insgesamt eine andere, eine friedensorien-
tierte Außenpolitik – nicht nur für Afghanistan – gefor- Das soll natürlich nicht nur dort geschehen. Beim Lie-
dert. Würde sich die Bundesregierung daran orientieren, genschaftsmanagement der Bundeswehr wird zukünftig
wäre der vorliegende Antrag überflüssig. auch das Finanzministerium einen kleinen Beitrag leisten.
Generalinspekteur Wieker hat schon weitere Vorschläge
(Beifall bei der LINKEN) parat, zum Beispiel die Finanzierung der Interven-
Die zweite offene Wunde, die der Antrag aufzeigt, ist tionseinsätze aus anderen Töpfen. Vor diesem Hinter-
die geradezu fahrlässige Missachtung der Belange der grund, verehrte Kolleginnen und Kollegen, bekommt der
Soldatinnen und Soldaten durch Bundesregierung und Antrag der Regierungsfraktionen einen schalen Beige-
Bundeswehr; dies hat die Kollegin schon vorhin ange- schmack. Deswegen – nur deswegen! – können wir dem
sprochen. Die Soldatinnen und Soldaten werden von der Antrag so nicht zustimmen und werden uns hier enthalten
Bundesregierung und der Mehrheit im Bundestag in den müssen.
Einsatz geschickt. Was dort mit ihnen passiert, interes- Genauso wie die Linke für eine friedensorientierte
sierte bislang das Verteidigungsministerium in der Regel Außen- und Sicherheitspolitik ist, ist sie für eine ad-
nur dann, wenn damit der riesige Verteidigungsetat bzw. äquate Versorgung der Soldatinnen und Soldaten. Das ist
(B) seine weitere Aufstockung gerechtfertigt werden konnte (D)
schließlich die Pflicht des Arbeitgebers Staat. Es liegt
oder aber der mediale Druck zu groß war. auf der Hand, dass hier erheblicher Nachbesserungsbe-
(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Das ist darf besteht. Wir appellieren also an die Bundesregie-
unerhört!) rung, dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen umgesetzt,
aber aus dem Einzelplan 14 finanziert werden. Dann
Immer erst dann, wenn der Unmut hochkocht, passiert können auch wir einem solchen Antrag zustimmen. Das
etwas. Geld dafür ist im Etat vorhanden. Die Regierung und die
Da die Bundeswehr nun tatsächlich leider im Kampfein- Regierungsfraktionen müssen es nur wollen.
satz ist, treten die Unzulänglichkeiten der gesetzlichen Vielen Dank.
Verordnungen und der täglichen Verwaltungspraxis im-
mer deutlicher zutage. Hier besteht in der Tat Handlungs- (Beifall bei der LINKEN)
bedarf: bei der Anhebung der Entschädigungszahlungen,
der Verbesserung der Betreuung von PTBS-Opfern, bei
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der Gleichbehandlung von Berufssoldatinnen und -solda-
ten mit den Soldatinnen und Soldaten auf Zeit sowie den Das Wort hat nun Agnes Malczak für die Fraktion
Wehrpflichtigen. Das sind Mindeststandards, die einfach Bündnis 90/Die Grünen.
gewährleistet werden müssen und zu Recht im Antrag
eingefordert werden. Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Aber die Regierungsfraktionen wären nicht Teil des Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Establishments, wenn sie sich nicht der alten Rhetorik Kollegen! Angesichts der tragischen Nachricht, die uns
bedienten: Zur Verbesserung der Fürsorge gegenüber zu Beginn dieser Debatte ereilt hat, möchte ich auch für
dem Bundeswehrpersonal wird mehr Geld benötigt; das unsere Fraktion den Angehörigen des gestorbenen Sol-
aber soll entweder durch Aufstockung des Verteidi- daten unser tiefes Mitgefühl und unser Beileid ausspre-
gungsetats oder aus anderen Töpfen kommen. Wie man chen. Den sechs verletzten Soldaten wünschen wir eine
weiß, ist bei der Bundeswehr selbst eigentlich ein rigoro- schnelle und vor allem vollständige Genesung. Die Be-
ser Sparkurs angesagt. Also sollen nun andere Haushalte troffenen und die Angehörigen werden in diesen schwie-
diskret mitfinanzieren. Das, verehrte Kolleginnen und rigen Stunden viel Kraft brauchen. Wir hoffen, dass sie
Kollegen, geht nicht! sie auch finden werden.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall im ganzen Hause)
6848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Agnes Malczak
(A) Die Regelungen zur Verbesserung der Einsatzversor- grund der anstehenden Reform der Bundeswehr gibt es (C)
gung, die von den Fraktionen der Union und der FDP die Gelegenheit, Erwartungen an die Bundesregierung
hier beantragt wurden, sind richtig und finden deshalb hinsichtlich der Gesamtsituation von zivilen und militäri-
im Grundsatz auch unsere Zustimmung. Unabhängig da- schen Ehemaligen der internationalen Missionen zu for-
von, was der eine oder die andere von uns über einen mulieren.
konkreten Einsatz denkt oder an Abstimmungsverhalten
gezeigt hat – da ist in diesem Haus die ganze Bandbreite Die Rückkehr aus einer Auslandsmission nach
vertreten –: Für die Soldatinnen und Soldaten der Bun- Deutschland ist für die Heimkehrenden oft nicht einfach.
deswehr, für die zivilen Kräfte und ihre Angehörigen ha- Sie haben in der Regel Erlebnisse gehabt, die der über-
ben wir als Parlament eine besondere Verantwortung zur wiegende Teil der deutschen Gesellschaft nicht nach-
Fürsorge. empfinden kann. Diese Erlebnisse haben sie geprägt,
und sie werden sie ein Leben lang begleiten und häufig
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch ein Leben lang belasten. Wir müssen in diesem Zu-
sowie bei Abgeordneten der SPD) sammenhang feststellen, dass die Heimgekehrten immer
Deshalb ist es richtig, dass wir uns die Frage stellen, häufiger beklagen, dass sie sich mit diesen Erfahrungen
wie wir dieser Verantwortung auch wirklich gerecht wer- alleingelassen fühlen, weil sie keine Anlaufstelle für ihre
den können. Der Bedeutung dieses Themas wurde in der spezifischen Probleme haben.
Vergangenheit durch eine Zusammenarbeit aller Fraktio- Der vorliegende Antrag schlägt viele Verbesserungen
nen Rechnung getragen. Diese Chance wurde hier leider vor, kann aber nicht das Ende der Debatte sein. Ich
vergeben. glaube, wir sind uns auch mit allen Fraktionen einig,
Damit es heute nicht bei Ankündigungen bleibt, ist dass es sich hier um einen Prozess handelt, der ständig
Verteidigungsminister zu Guttenberg aufgefordert, die- weitergehen muss und bei dem immer wieder Lücken
sen Antrag als Auftrag zu konkretem und auch zu aufgedeckt und geschlossen werden müssen.
schnellem Handeln zu verstehen. Ich muss allerdings Das Thema hätte es verdient, gründlich, aber vor al-
feststellen, dass dieser Antrag eine gewisse Ganzheit- lem auch schnell und in einem fraktionsübergreifenden
lichkeit vermissen lässt. Ein ganz grundsätzliches Pro- Diskurs bearbeitet zu werden. Deshalb freue ich mich,
blem bleibt zudem unbehandelt. dass wir uns gestern im Ausschuss eigentlich alle einig
Zur fehlenden Ganzheitlichkeit. Sie fokussieren in Ih- waren, dass wir das, wenn es zum konkreten Gesetzge-
rem Antrag auf die Einsatzversorgung der Soldatinnen bungsverfahren kommt, zusammen angehen wollen. Wir
und Soldaten. Auf Basis des Auslandsverwendungsge- Grünen jedenfalls werden weiterhin an den offenen Fra-
setzes entsenden wir aber auch zivile Kräfte zu interna- gen dranbleiben.
(B) (D)
tionalen Friedenseinsätzen. Sie widmen dieser Gruppe
Vielen Dank.
nur die Forderung, dass alle Regelungen auch für sie gel-
ten sollen. Zu den zivilen Kräften, die auf Basis des Se- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
kundierungsgesetzes als deutsche Vertreterinnen und sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vertreter an Missionen teilnehmen, schweigen Sie in Ih-
rem Antrag. Dazu müssen wir in Zukunft mit den ande-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ren Ausschüssen, die sich mit diesen Fragen befassen,
zusammenarbeiten; Das Wort hat nun Jürgen Hardt für die CDU/CSU-
Fraktion.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
denn auch diese Menschen setzen sich unter Entbehrun- neten der FDP)
gen und erhöhtem Risiko, was ihre physische und psy-
chische Gesundheit betrifft, für den Frieden ein und ver-
dienen unsere Fürsorge und unseren Dank. Jürgen Hardt (CDU/CSU):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, schwierigste und gefährlichste Dienst für unser Land
schlagen Sie finanzielle Verbesserungen vor und spre- wird in den Auslandseinsätzen geleistet. Wir haben ge-
chen dabei wirklich wichtige Punkte an, etwa die Aufhe- rade eben die traurige Nachricht erhalten, dass ein Soldat
bung der Stichtagsregelung, die Beweislastproblematik gefallen ist und sechs Soldaten verwundet worden sind.
und die unzumutbare Dauer der Wehrdienstbeschädi- Ich darf auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfrak-
gungsverfahren. So richtig und wichtig die finanzielle tion den Angehörigen und den Kameraden dieser Solda-
Absicherung ist, so richtig und wichtig ist auch die Schaf- ten mein herzliches Beileid aussprechen. Wir drücken
fung einer verlässlichen Betreuungsinfrastruktur. Wer mit die Daumen, dass jetzt im Rahmen der Bergung und auf
Betroffenen und ihren Angehörigen spricht, weiß, dass dem Rückmarsch, wo ja weitere Gefahren auf die Solda-
hier erhebliche Mängel bestehen. Sie fühlen sich zu oft ten lauern, alles gutgeht und die Verwundeten möglichst
mit ihren Problemen alleingelassen und sehen sich einer rasch einer optimalen medizinischen Versorgung zuge-
Bürokratie gegenüber, der sie nicht Herr werden können. führt werden können.
Doch dieses Problem haben nicht nur versehrte Soldatin-
nen und Soldaten, zivile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
und deren Angehörige. Und hiermit komme ich zur ver- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
passten Chance dieses Antrags. Denn vor dem Hinter- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6849
Jürgen Hardt
(A) Die Berufssoldaten, die Zeitsoldaten, die freiwillig satz besondere Leistungen zu erbringen, damit sie eine (C)
Wehrdienstleistenden, die Reservisten, die Polizisten Chance auf Übernahme in den Beruf des Soldaten ha-
und die zivilen Mitarbeiter in den Auslandseinsätzen ben. Da ist es natürlich fatal, wenn eine Verwundung im
sind täglich einer hohen Gefährdung ausgesetzt. Ich Einsatz möglicherweise letztendlich dazu führt, dass der
habe mir für meine Rede die Zahlen notiert – ich muss Soldat, der ansonsten Berufssoldat geworden wäre, die-
sie jetzt leider schweren Herzens nach oben korrigieren –: sen Beruf nun nicht erlangen kann, und zwar ausdrück-
Seit 1993 haben 91 Soldaten in Auslandseinsätzen ihr lich wegen seiner Verwundung und ihren Folgen.
Leben verloren, 29 davon durch direkte Feindeinwir-
kung; 163 wurden verwundet, und bei über 400 Soldaten Wir finden, das Gesetz muss hier eine Regelung fin-
wurden posttraumatische Belastungsstörungen diagnos- den, damit Zeitsoldaten trotz einer Verletzung und ihren
tiziert. Die Belastung in einem Auslandseinsatz ist mit Folgen eine Heimat bei der Bundeswehr finden können.
keinem wie auch immer gearteten Stress im Inland ver- Ich finde es motivierend für die Truppe, wenn sie erlebt,
gleichbar. Deswegen verdienen diese Soldaten im Ein- dass der eine oder andere, der versehrt aus dem Einsatz
satz auch eine besondere Behandlung hinsichtlich der zurückgekommen ist, seinen Dienst in der Heimat, in der
Versorgung und Weiterverwendung. Kaserne, versieht. Damit wird symbolisch deutlich, dass
man als Soldat in einem solchen Fall nicht alleingelassen
Es ist Ausdruck des hohen Respekts vor diesem wird.
Dienst, dass wir bei den Maßnahmen der Einsatzversor-
gung und der Einsatzweiterverwendung entsprechend (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
großzügig verfahren. Wer vier oder sechs Monate ge- Ich möchte einen zweiten Punkt aus unserem Antrag
trennt von der Familie auf engstem Raum mit Kamera- ansprechen. Es gibt sehr unterschiedliche Erfahrungsbe-
den und unter ständiger Bedrohung durch den Feind sei- richte von verwundeten Soldaten über das, was ihnen
nen Dienst versieht, der muss wissen, dass im hinterher widerfahren ist, wenn sie mit einer Verwun-
schlimmsten Fall zumindest für ihn und seine Angehöri- dung und entsprechenden Spätfolgen in die Heimat, zur
gen optimal gesorgt ist. Dieser Intention fühlt sich der Bundeswehr zurückkehren. Es gibt Beispiele, bei denen
vorliegende Antrag verpflichtet. Militärseelsorge, Stammeinheit, Sozialdienst und Wehr-
Der Bundestag hat bereits mehrfach wesentliche ge- verwaltung hervorragend zusammenarbeiten und zügig
setzliche Grundlagen für die Versorgung von Soldaten eine unbürokratische Lösung finden. Es gibt aber auch
geschaffen. Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir eine Reihe von Beispielen, bei denen die Soldaten in der
nun Lücken schließen und Ungleichgewichte ausglei- Bürokratie der Bundeswehr ziemlich alleingelassen sind,
chen, die die Praxis der vergangenen Jahre aufgezeigt wo die Interessen der einzelnen Soldaten in den großen
Mühlen der Bürokratie nicht in ausreichendem Maße be-
(B) hat. Ich freue mich, dass es darüber breiten Konsens un- rücksichtigt werden. (D)
ter den demokratischen Parteien des Hauses gibt. Ich
schließe mich ausdrücklich auch den Worten von Frau Die Tatsache, dass es in vielen Fällen sehr gut funk-
Hoff an, dass wir im Rahmen des konkreten Umset- tioniert, zeigt, dass es klappen kann. Wir würden uns
zungsprozesses bei der Gesetzgebung mit den Fraktio- wünschen, dass die Rahmenbedingungen so gestaltet
nen, die diesen Antrag heute mittragen, gerne in einen werden, dass es nicht von der Befähigung und dem
intensiven Dialog eintreten und Ergänzungen und Ver- Wohlwollen einzelner Akteure abhängt, ob ein guter
besserungsvorschläge gerne aufnehmen. Ich glaube, wir Weg durch die Bürokratie gefunden wird. Vielmehr soll-
werden zu einem guten gemeinsamen Ergebnis kommen. ten die Prozesse so gestaltet sein, dass sich die Soldaten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auf die Bundeswehr verlassen können, dass sich ihre An-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprüche zügig durchsetzen lassen, ohne unzumutbare bü-
rokratische Hürden überwinden zu müssen. Da gibt es
Es ist auch ein gutes Signal an die betroffenen Soldaten Nachsteuerungsbedarf, insbesondere auf der Ebene der
im Einsatz, dass sie wissen, dass eine breite Mehrheit konkreten administrativen Umsetzung.
dieses Hauses hinter ihnen und ihrem Einsatz steht.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen von den
Ich möchte zwei Punkte ganz kurz herausgreifen, die Koalitionsfraktionen, die an dem Antrag mitgewirkt ha-
mir besonders am Herzen liegen. ben, danken. Ich möchte auch dem Deutschen Bundes-
wehrverband und dem Reservistenverband für seine
Da ist zum einen die Frage der Gleichstellung von wichtigen Impulse bei diesem Thema danken. Es ist ein-
Zeitsoldaten, freiwillig Wehrdienstleistenden und Reser- fach wichtig, dass wir im Gespräch mit den offiziellen
visten mit den Berufssoldaten hinsichtlich ihrer Versor- Vertretern der Soldaten gemeinsam an diesen Themen
gungssituation. Bei der Analyse der gegenwärtigen arbeiten und so Lösungen aus der Praxis für die Praxis
Rechtslage haben wir festgestellt, dass die Berufssolda- finden.
ten in der Tat gut abgesichert sind; aber bei vielen Zeit-
soldaten ist das nicht der Fall. Nun ist es aber typisch für Wir erwarten nun von der Bundesregierung, dass un-
die Bundeswehr, dass man als Zeitsoldat anfängt. Auch ser Antrag zügig in eine Gesetzesinitiative mündet, da-
diejenigen Soldaten, die sich den Beruf des Soldaten als mit wir beginnen können, die geforderten Maßnahmen
Lebensberuf wünschen, werden zunächst als Zeitsolda- konkret umzusetzen. Gerade in der Phase des Umbaus
ten angestellt. Sie strengen sich dann enorm an, um bei der Bundeswehr ist die Verbesserung der Einsatzversor-
Lehrgängen und Beurteilungen besonders weit vorne zu gung eine vertrauensbildende Maßnahme für alle Solda-
liegen. Vielleicht sind sie auch bereit, im Auslandsein- tinnen und Soldaten.
6850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Jürgen Hardt
(A) Herzlichen Dank. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (C)
LINKE
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Klimaschutzziele gesetzlich verankern
GRÜNEN)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Ich schließe die Aussprache.
DIE GRÜNEN
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Verteidi-
gungsausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der Klimaschutzgesetz vorlegen – Klimaziele
CDU/CSU und der FDP mit dem Titel „Verbesserung verbindlich festschreiben
der Regelungen zur Einsatzversorgung“. Der Ausschuss – Drucksachen 17/522, 17/1475, 17/132, 17/2318 –
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/3229, den Antrag der Fraktionen der CDU/ Berichterstattung:
CSU und der FDP auf Drucksache 17/2433 anzuneh- Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz)
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Dr. Matthias Miersch
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Michael Kauch
fehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, FDP Eva Bulling-Schröter
und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange- Bärbel Höhn
nommen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Schwabe, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Abgeordneter und der Fraktion der SPD Frank Schwabe für die SPD-Fraktion das Wort.
Ein nationales Klimaschutzgesetz – Verbind-
lichkeit stärken, Verlässlichkeit schaffen, der Frank Schwabe (SPD):
Vorreiterrolle gerecht werden
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
– Drucksache 17/3172 – Kollegen! Die Debatte über den Klimawandel hat mal
Überweisungsvorschlag: Hochkonjunktur, mal nicht. Mal werden Auswirkungen
(B) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) in manchen Medien reißerisch übertrieben, mal werden (D)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie die Auswirkungen verharmlost.
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz Klar ist, dass schon heute Hunderte Millionen von
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschen von den Auswirkungen des Klimawandels be-
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union troffen sind, und zwar in großer Mehrheit negativ. Es
sind Menschen, die die Hintergründe nicht kennen, die
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten den Klimawandel nicht erklären können, die noch nichts
Dr. Hermann Ott, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, von Klimakonferenzen in Kopenhagen, Cancún oder
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Kioto gehört haben. Diese Menschen merken, dass etwas
NIS 90/DIE GRÜNEN nicht stimmt, dass sie Niederschläge oder Trockenpha-
Europäisches Klimaschutzziel für 2020 anhe- sen nicht mehr verstehen, beispielsweise die Bauern in
ben Äthiopien oder Kenia, dass Stürme und Fluten in einer
Häufigkeit und Stärke auftreten, die sie bisher nicht
– Drucksache 17/2485 – kannten, zum Beispiel in Guatemala oder Pakistan. Sie
Überweisungsvorschlag: merken, dass sie ihre Häuser am Meer verlassen müssen,
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) wie auf den Malediven, auf Tuvalu oder in Mikronesien,
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
weil das Wasser immer häufiger mit dem Meer ins Haus
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und kommt. All das ist keine Spinnerei, sondern es geschieht
Entwicklung heute. 97 Prozent der Wissenschaftler, die sich damit be-
Ausschuss für Tourismus schäftigen, sagen, dass es der Mensch ist, also wir, der
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union das Klima massiv verändert.
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Wir brauchen jetzt einen Aufbau einer anderen Art
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
der industriellen Produktion, eine andere Art der Ener-
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)
gieerzeugung, eine andere Art des Lebens bei gleichblei-
– zu dem Antrag der Fraktion der SPD bender oder sogar steigender Lebensqualität. Das geht
nicht von heute auf morgen, aber die Richtung muss
Die richtigen Lehren aus Kopenhagen zie-
stimmen, die Ziele müssen stimmen, und es muss mehr
hen
Verlässlichkeit herrschen, als es heute gibt: die Verläss-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- lichkeit, dass der Weg hin zu einer kohlenstoffarmen Ge-
Schröter, Dorothée Menzner, Sabine Stüber, sellschaft konsequent beschritten wird und dass sich je-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6851
Frank Schwabe
(A) der darauf einstellen kann und muss, national und 2010 in der Welt am Sonntag die Windkraft- und Solar- (C)
international. anlagen als „Vogelschredderanlagen“ und „Subventions-
gräber“ bezeichnet. Frau Dött hat dem Fass allerdings
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
den Boden ausgeschlagen. Frau Dött – sie spricht heute
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nicht –, die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU-
Mit Erlaubnis des Präsidenten lese ich Ihnen etwas Bundestagsfraktion, weilte bei einer Veranstaltung der
vor – ich zitiere: FDP, zu der auch Fred Singer eingeladen war.
Ein Klimaschutzgesetz wird die mittel- und lang- (Michael Kauch [FDP]: Nicht der FDP! Eines
fristigen Klimaschutzziele als Rahmen für ein effi- Abgeordneten der FDP!)
zientes Monitoring und die Fortschreibung des
– Nicht der FDP, sagt Herr Kauch, sondern eines Abge-
IKEP (Integriertes Energie- und Klimaprogramm)
ordneten der FDP. Herr Kauch distanziert sich, das finde
festlegen. Damit erhält die Wirtschaft einen verläss-
ich schon einmal gut.
lichen Planungshorizont für ihre langfristigen In-
vestitionsentscheidungen. Notwendige Infrastruk- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
turprojekte erhalten hierdurch eine größere BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg
öffentliche Akzeptanz. Deshalb werden wir Nüßlein [CDU/CSU]: Sie sind nicht infor-
miert!)
– jetzt kommt es –
Er ist ein bekannter bezahlter Lobbyist, der schon so
analog zum britischen Climate Change Act ein Kli-
ziemlich alle negativen Auswirkungen von allen mögli-
maschutzgesetz verabschieden …
chen Dingen auf die Menschen bestritten hat, vom
Was ist das, und wo steht das? Das ist nachlesbar auf Ozonloch über den sauren Regen bis zum Rauchen; das
der Internetseite www.klimaretter.info. Es ist aus einem kann man alles nachlesen.
internen Papier des jetzigen Bundesumweltministers
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Norbert Röttgen,
Tabak ist auch ungefährlich!)
(Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Wo ist er
Er hat es sich jetzt zur Aufgabe gemacht, den Klimawan-
denn?)
del zu verharmlosen und den Einfluss des Menschen ab-
in dem seine Vorstellungen für ein sogenanntes Energie- zustreiten; davon gibt es unterschiedliche Versionen. Ein
konzept der schwarz-gelben Regierung beschrieben wer- Satz, den er von sich gab, lautete:
den. Vor einigen Wochen konnte man das auf der eben
Die Leute, die Gesetze machen, um das Klima zu
genannten Internetseite lesen.
(B) schützen, sind unser größtes Problem. (D)
Dass sich davon nicht ein Satz im aktuellen Text des – Damit sind wahrscheinlich wir gemeint. Weiter heißt
Energiekonzepts wiederfindet, offenbart zweierlei: Ers-
es:
tens. Die kurzen Hosen des Umweltministers sind
höchstens Boxershorts, um keine anderen Begrifflichkei- … je mehr CO2, desto besser. Wir sollten den Chi-
ten zu wählen. Zweitens. Das sogenannte Energiekon- nesen dankbar sein.
zept ist gar keines.
Das ist in der Financial Times Deutschland vom
(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was?) 17. September 2010 nachzulesen.
Die Revolution in der Klimaschutzpolitik, wie es die (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Schauen Sie
Kanzlerin in Vorspiegelung falscher Tatkraft nannte, das einmal auf meine Internetseite!)
anspruchsvollste Programm seit den 70er-Jahren, wie
– Frau Dött, es ist gut, dass Sie sich melden.
Herr Röttgen es genannt hat, hat mit Klimaschutz und
Energiekonzept nichts zu tun. Es ist ein Atomlobbykon- Ebenfalls nachzulesen sind die Kommentare von Frau
zept für eine Vermögensvermehrung in Milliardenhöhe Dött, die die Ausführungen von Herrn Singer „sehr, sehr
bei einigen wenigen Energiekonzernen und ein Kaputt- einleuchtend“ fand, den Klimaschutz als „Ersatzreli-
machkonzept für den Ausbau von erneuerbaren Energien gion“ und die Umweltpolitiker der Union als „Gutmen-
mit der Gefährdung von Hunderttausenden jetziger und schen“ bezeichnet. Keines dieser Zitate wurde von Frau
zukünftiger Arbeitsplätze. So ist das. Dött dementiert. Dazu hätte sie in der letzten Woche im
Umweltausschuss Gelegenheit gehabt. Sie hat es aber
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nicht dementiert. Das ist schon erstaunlich. Jeder kann
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
jeden Unsinn behaupten. Man kann zum Beispiel be-
GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]:
haupten, dass die Erde quadratisch ist. Frau Dött ist aber
Alte Kamellen sind das!)
die umweltpolitische Sprecherin der CDU/CSU.
Sie legen alle Scheu ab. Bei der FDP geschieht alles
(Zuruf von der CDU/CSU: Gute Frau!)
eher lustlos. Ich habe die Rede von Herrn Wirtschaftsmi-
nister Brüderle in der letzten Woche verfolgt. Ihm war – Vielleicht kann man das einmal alles notieren. Es ist in
die Leidenschaft für erneuerbare Energien bei seiner eu- höchster Form entlarvend und spricht Bände, dass Sie
phorischen Rede geradezu anzumerken. Im Ernst: Bei das auch noch unterstützen. – Ihre Sprecherin hält den
Schwarz-Gelb geben inzwischen die Fuchsens und die Klimawandel für Quatsch. Wenn Sie ihr nicht widerspre-
Pfeifers den Ton an. Michael Fuchs hat am 7. Februar chen – Sie haben gleich die Gelegenheit dazu –, dann
6852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Frank Schwabe
(A) halten Sie ihn wohl alle für Quatsch. Das muss man zu- möchte ich jetzt nicht im Einzelnen eingehen. Nur so (C)
mindest annehmen. viel: Zu einem Klimaschutzgesetz, das wir brauchen, ge-
hören verbindliche, gesetzlich fixierte Ziele und Zwi-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem schenziele. Zu einem Klimaschutzgesetz gehören ge-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setzlich fixierte Überprüfungsmechanismen, damit die
Ich sage es noch einmal: Man kann jeden Standpunkt Regierung weiß, dass sie sich nicht drücken kann. Diese
vertreten. Man muss es dann aber auch verantworten, müssen transparent sein. Die Regierung muss sich min-
liebe Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb. Was destens einmal im Jahr in einer öffentlichen Debatte
Sie vertreten, ist im Endeffekt gegen den Geist der Auf- dazu erklären. Zu diesem Klimaschutzgesetz muss ein
klärung, gegen jede Wissenschaft und das Wissen- unabhängiges Überprüfungsgremium aus bestehenden
schaftsverständnis dieses Landes gerichtet. Institutionen und weiteren Wissenschaftlern kommen.
Wir brauchen klare Sanktionsmechanismen bei Nicht-
(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Was für einen einhaltung der Ziele. Das alles kann ein nationales Kli-
Antrag haben Sie denn gestellt?) maschutzgesetz leisten.
Sie können alles vertreten und alles behaupten. Sie kön- Wir haben viele positive Rückmeldungen bekommen;
nen auch behaupten, dass die Kinder vom Klapperstorch das habe ich bereits erwähnt. Diese kamen von den Um-
kommen. Die Frage ist bloß, ob man so jemanden zum weltverbänden WWF, BUND und anderen. Sie kamen
Leiter einer gynäkologischen Abteilung macht; das ist von den Gewerkschaften DGB und IG Metall. Es kamen
die entscheidende Frage. auch spannende Rückmeldungen von Verbänden, von
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem denen ich zunächst einmal nicht geglaubt hatte, dass sie
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich positiv äußern würden. Dazu gehören der ADAC
und auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anla-
Sie meinen es mit dem Thema Klimaschutz nicht genbau. Sie alle haben dieses Gesetz begrüßt.
ernst. Wer es mit dem Klimaschutz nicht ernst meint und
gegen erneuerbare Energien polemisiert, der kann natür- Noch einmal: Bei einem solchen Gesetz geht es nicht
lich auch nichts für den Klimaschutz tun und kein zu- um konkrete Maßnahmen, sondern um einen Rahmen
kunftsfähiges Energiekonzept vorlegen. Ihr Energiekon- für die Klimaschutzgesetzgebung der nächsten Jahre.
zept ist ein Müsste-könnte-sollte-hätte-wenn-Konzept. Deswegen bringen wir diesen Antrag heute ein. Wir hof-
30 dürftig beschriebene Seiten enthalten allein 36 Prüf- fen, dass das der Auftakt für eine intensive Debatte ist.
aufträge. Ganz konkret wird es nur im Bereich der
Atomenergie. Damit wird klar, was das Ganze soll. Des- Wenn Sie von der Regierungskoalition Klimaschutz-
politik wirklich ernst nehmen, sollten Sie Ihre Atompoli-
(B) halb muss es jetzt ganz schnell gehen. Die Anhörungen (D)
werden durchgepeitscht. Die verfassungsrechtlichen Be- tik überdenken und aufhören, zu versuchen, einen Wech-
denken werden beiseitegewischt. Der Rest ist ein unver- sel in der Atompolitik einzuleiten. Sie sollten Ihr nicht
bindliches Sammelsurium. vorhandenes Energiekonzept gleich wieder einstampfen.
Ich bitte darum, dass Sie die Vorschläge zu einem Kli-
Über Ihre Ziele kann man reden. Ich finde allerdings, maschutzgesetz nicht in Bausch und Bogen ablehnen,
dass wir bis 2050 das 95-Prozent-Ziel erreichen müssen, sondern Ihre Worte gut abwägen, den Dialog eröffnen
nicht nur ein 80-Prozent-Ziel. Ihr Ziel bleibt in diesem und nicht die Tür zuschlagen.
Konzept ein wenig unklar. Und was bringen Ziele, wenn
sie unverbindlich sind? Deswegen brauchen wir in Herzlichen Dank und Glück auf!
Deutschland ein Klimaschutzgesetz. Der Umweltminis- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
ter scheint das auch so zu sehen. Er ist zwar nicht da, hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
es anscheinend aber unterstützt. Wer den Einstieg in eine
andere Form der industriellen Produktion und der Ener-
gieversorgung schaffen – dieser ist eigentlich geschafft – Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und den Umstieg dauerhaft fortsetzen will, der muss für Das Wort hat nun Andreas Jung für die CDU/CSU-
Verstetigung sorgen. Er muss die Verlässlichkeit der Pro- Fraktion.
gnosen für Investitionen erhöhen. Sie aber machen das
genaue Gegenteil: Sie schaffen einen Investitionsatten- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tismus bei den erneuerbaren und sogar bei den fossilen
Energien. Auch die Aktienkurse der großen Energiever- Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
sorger machen deutlich, dass nicht alle in diesem Land
an Ihre Atomwende glauben. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Schwabe hat einen erheblichen Teil seiner Re-
Der Antrag auf Schaffung eines Klimaschutzgesetzes, dezeit darauf verwandt, darüber zu spekulieren, wer
den wir Ihnen heute vorlegen, hatte einen längeren Vor- möglicherweise wann und wo was gesagt hat. Ich finde,
lauf. Ihm ging ein längerer Prozess der Diskussion und wenn wir uns hier mit Klimaschutz und Energiepolitik
der Beteiligung von Unternehmen, Unternehmensverbän- beschäftigen, dann sollten wir nach den Fakten fragen:
den, Umweltverbänden, Gewerkschaftlern, Wissenschaft- Wofür treten wir gemeinsam ein? Was haben wir ge-
lern, Automobilverbänden, der britischen Botschaft, meinsam beschlossen? Was haben wir in unseren Erklä-
Herrn Schellnhuber und anderen voraus. Allein 35 schrift- rungen zur Klimapolitik und zum Energiekonzept ge-
liche Stellungnahmen haben wir verarbeitet; darauf meinsam festgehalten?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6853
Andreas Jung (Konstanz)
(A) Ich möchte zunächst auf den Ausgangspunkt, auf Ko- sem Gesamtkonzept wird gesagt: Wir wollen den Weg in (C)
penhagen, zurückkommen. Wir haben mit Unterstützung Richtung einer stärkeren Nutzung der erneuerbaren
aller Fraktionen dieses Hauses gesagt: Das Ziel der Bun- Energien beschreiten. Wir wollen, dass unsere Energie-
desregierung, das 2-Grad-Celsius-Ziel völkerrechtlich versorgung bis 2050 nahezu vollständig durch erneuer-
verbindlich zu verankern, ist richtig. Wir haben das in bare Energien gedeckt wird. Die Grundlage dafür soll
Kopenhagen nicht geschafft. Dennoch ist das, was vor das Erneuerbare-Energien-Gesetz sein, das wir weiter-
und während des Gipfels in Kopenhagen richtig war, entwickeln wollen. Wir halten an dem fest, was ich für
nach wie vor richtig. Die neuesten wissenschaftlichen zentral halte, an dem unbedingten Vorrang erneuerbarer
Erkenntnisse zeigen, dass die Entwicklung, die im letz- Energien bei der Einspeisung.
ten Bericht des IPCC beschrieben wurde, was den An-
stieg des Meeresspiegels, die Auswirkungen auf die Bio- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
diversität und die Bedrohung der Korallenriffe angeht, Das zeigt, dass wir ein klares Ziel haben, und das Ziel
eher noch gravierender verlaufen könnte. heißt: Wir wollen hin zu erneuerbaren Energien.
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auf dem Weg zu diesem Ziel ist noch die eine oder
NEN]: Was sagen Sie denn zu Frau Dött?) andere Hürde zu überwinden, gibt es noch die eine oder
andere offene Frage.
Deshalb ist das 2-Grad-Celsius-Ziel nach wie vor rich-
tig. Deshalb ist es nach wie vor auch richtig, dass die (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Die der
Bundesregierung dieses Ziel international verfolgt. Bei Atomlobby!)
diesem Kurs haben die Bundeskanzlerin und der Bun-
desumweltminister die volle Unterstützung der Unions- Dabei geht es zum Beispiel darum, dass wir den Strom
fraktion; da gibt es überhaupt kein Vertun. nicht immer dort brauchen, wo Wind weht, und dass wir
Energie häufig nicht gerade dann erzeugen, wenn sie ge-
Das, was wir international für richtig halten, das 2-Grad- braucht wird. Der Wind weht nicht unbedingt genau
Celsius-Ziel, ist auch die Grundlage für unsere nationale dann, wenn die Nachfrage am größten ist. Wir brauchen
Politik. Das ist die Grundlage für unsere nationalen den Ausbau von Netzen, wir brauchen intelligente Netze
Ziele. Ich möchte herausstellen, dass sich diese Bundes- und neue Speichertechnologien, um die Voraussetzungen
regierung ehrgeizigere Ziele gesetzt hat als alle Regie- dafür zu schaffen, dass erneuerbare Energien verlässlich
rungen zuvor. und grundlastfähig an die Stelle der heutigen Struktur
der Energieversorgung treten können. Das ist unser Ziel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Um dieses Ziel zu erreichen, haben wir ganz konkrete
Wir haben erklärt: Wir wollen den Ausstoß von Treib-
(B) hausgasen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 re- Maßnahmen beschrieben. Aber wir brauchen noch etwas (D)
Zeit und vor allem Geld. Deshalb ist es ein Riesenerfolg
duzieren, und zwar unbedingt, egal was andere machen,
der Umweltpolitik, dass in dem Energiekonzept die Zu-
egal ob es zu dem ehrgeizigen Weltklimaschutzabkom-
sage des Finanzministers festgehalten worden ist, dass
men, das wir anstreben, kommt oder vorläufig nicht. Wir
die Mehrerlöse aus der Versteigerung der Emissions-
gehen voran. Wir sind Vorreiter. Das gilt genauso für die
rechte ab 2013 vollständig einem Fonds für erneuerbare
langfristigen Ziele. 2050 soll die Reduzierung gegenüber
Energien, für Energieeffizienz, für internationalen und
1990 80 bis 95 Prozent betragen.
nationalen Klimaschutz zugutekommen werden. Ich
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) finde, das ist ein Erfolg, über den wir uns freuen können,
weil dadurch all das, was wir gemeinsam wollen, einen
Gerade mit unserem Energiekonzept machen wir Schub bekommen wird.
deutlich, dass es nicht bei den Zielen bleiben darf, son-
dern der Zielformulierung Taten folgen müssen, weil nur
aus der Umsetzung Glaubwürdigkeit erwächst. Aus die- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
sem Grund greifen wir den Gedanken des Monitorings Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
auf. Zum ersten Mal soll dieses Instrument jetzt genutzt Kollegen Ott?
werden. Alle drei Jahre soll ein wissenschaftlich fundier-
ter Bericht vorgelegt und öffentlich diskutiert werden. Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Wie schnell erreichen wir unsere Ziele? Können wir die Ja, bitte.
Zehnjahresschritte, die in dem Energiekonzept festgelegt
sind – 2030 minus 55 Prozent, 2040 70 Prozent –, ein-
Dr. Hermann Ott (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
halten? Wir stellen uns der Diskussion. Das Erreichen
solcher Ziele war in der Vergangenheit unsere Stärke; Vielen Dank. – Herr Kollege Jung, ich glaube Ihnen,
Stichwort: Kioto. Wir Deutsche hatten ehrgeizige Ziele dass Sie und andere in Ihrer Fraktion durchaus bemüht
und haben sie umgesetzt. Das muss auch in Zukunft die sind, den Klimaschutz voranzubringen. Sie versuchen ja
Basis unserer Glaubwürdigkeit in der Klimapolitik sein. gerade, uns das hier zu erklären. Ich komme zu meiner
Frage. Kollege Schwabe hat darauf hingewiesen, dass es
Ziele sind das eine, Instrumente sind wichtig, aber in Ihrer Fraktion Personen gibt, beispielsweise Frau Dött
entscheidend sind am Ende die Taten. Ich möchte dafür – sie ist genannt worden –, die als umweltpolitische
werben, dass wir uns dieses Energiekonzept genau an- Sprecherin Ihrer Fraktion einem in der Szene weltbe-
schauen. Ich finde, aus Umweltgesichtspunkten enthält kannten Klimawandelleugner, nämlich Fred Singer, zu-
es etliche Punkte, über die wir uns freuen können. In die- stimmt und seine Thesen, dass der Klimawandel eine
6854 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Hermann Ott


(A) Schimäre ist, dass diejenigen, die Klimapolitik vorantrei- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
ben, die eigentlich Gefährlichen sind, einleuchtend findet Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
und sich selber noch zu der Aussage versteigt – dem hat und zwar des Kollegen Fell von der Fraktion Bünd-
sie nicht widersprochen; sie hat nur gesagt, dass es aus nis 90/Die Grünen?
dem Zusammenhang gerissen worden ist –, die Klima-
politik sei eine Ersatzreligion. Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Bei uns drängt sich natürlich der Eindruck auf, dass, Bitte schön.
auch wenn es, wie gesagt, einige unter Ihren Kollegin-
nen und Kollegen gibt, die Klimaschutz wirklich voran- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
treiben wollen, in der Sache die anderen die Oberhand Herr Kollege Jung, die Aussage, Ihre Fraktion würde
behalten. Denn Ihre Klimaschutzgesetzgebung und Ihre den Klimaschutz massiv unterstützen, befriedigt mich
Energiegesetzgebung, die Sie uns hier verkaufen wollen, angesichts der Tatsache, dass Ihre Fraktion eine umwelt-
entsprechen so ganz und gar nicht dem Ziel, die Emis- politische Sprecherin gewählt hat, die eine aktive Klima-
sionen bis 2020 um 40 Prozent zu senken. Deshalb bitte wandelleugnerin ist, nicht.
ich um Folgendes: Können Sie klarstellen, dass Ihre
Fraktion im Gegensatz zu dem, was Ihre umweltpoliti- (Widerspruch bei der CDU/CSU – Ulrich Petzold
sche Sprecherin sagt, den Klimawandel und den Anteil [CDU/CSU]: Inquisition! Sofort!)
der Menschen am Klimawandel für unabweisbar hält? Das ist offensichtlich Fraktionsmeinung. Anders wäre
Damit wäre uns sehr geholfen. nicht zu erklären, warum Ihre Fraktion eine solche Per-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN son in diese Funktion gewählt und mit der wichtigsten
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Fragestellung der Umweltpolitik betraut hat.
LINKEN – Josef Göppel [CDU/CSU]: Das ha-
ben wir gemacht!) Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU):
Herr Kollege Fell, Fraktionsmeinung ist das, was wir
Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): in der Fraktion gemeinsam beschließen. Diese Inhalte
Herr Kollege, das war eher eine Frage an die Kollegin können Sie in unserem Energiekonzept nachlesen; da
Dött als an mich; steht genau das drin, was ich gerade gesagt habe. Es ist
ein klarer Pfad auf dem Weg der Bekämpfung des Kli-
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mawandels hin zu einer Reduktion der CO2-Emissionen
NEN]: Aber sie redet ja nicht!) in einem Umfang von 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr
(B) aber ich kann auf die letzte Sitzung des Umweltausschus- 2050. Das ist die abgestimmte Linie dieser Bundesregie- (D)
ses verweisen, wo ich, als wir dort über Klimaschutz ge- rung, unserer Bundestagsfraktion und der Koalition ins-
sprochen haben, dieselben Standpunkte vertreten habe gesamt.
wie hier. Sie haben danach die Kollegin angesprochen, Im Übrigen nehmen wir neben den Bereichen, die ich
und sie hat darauf verwiesen, dass das, was ich als Be- bereits angesprochen habe, auch alle anderen relevanten
richterstatter für Klimaschutz im Ausschuss, im Plenum Bereiche in den Blick. Lassen Sie mich das Beispiel Ge-
oder an anderer Stelle vertrete, die abgestimmte Position bäudesanierung ansprechen. Wir werden finanzielle Mit-
unserer Fraktion ist, die im Koalitionsvertrag und auch tel brauchen, um die große Aufgabe, die vor uns liegt, zu
im Energiekonzept ihren Niederschlag gefunden hat. bewältigen und das Ziel der Kohlenstoffneutralität zu er-
Demnach ist unbestritten und unbestreitbar, dass es einen reichen.
menschengemachten Klimawandel gibt und dass die
Konsequenz aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Kürzen
die Herausforderung ist, bis zur Mitte dieses Jahrhun- Sie darum die Mittel für die Gebäudesanie-
derts den CO2-Ausstoß weltweit zu halbieren. rung?)
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Genau deshalb führen wir doch die Diskussion, wie
NEN]: Das ist wunderbar!) wir vermeiden können, dass wir jedes Jahr beim Finanz-
minister als Bittsteller auftreten müssen.
Die Konsequenz daraus wiederum ist, dass die Industrie-
staaten einen höheren Anteil als 50 Prozent übernehmen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
müssen. So kommen wir zum Minderungsziel der Bun- Frank Schwabe [SPD]: Ach! Das ist doch ab-
desrepublik Deutschland von 80 bis 95 Prozent bis 2050, surd!)
das wir auch in unserem Energiekonzept niedergelegt
Die Förderung von Gebäudesanierung, erneuerbarer
haben.
Wärme und Klimaschutzprogrammen muss aus dem
(Beifall des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU] – jährlichen Klein-Klein um Fördermittel herausgelöst
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da werden. Deshalb ist es gut, dass ein Klimaschutzfonds
klatscht aber nur einer in der CDU/CSU-Frak- eingerichtet wird. Er stellt nämlich eine verlässliche
tion!) Grundlage für die Förderung der Gebäudesanierung und
der anderen Aufgaben, die ich erwähnt habe, dar.
Wenn Sie nach den konkreten Maßnahmen fragen,
verweise ich zum einen darauf, was ich schon beim (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Aber
Thema erneuerbare Energien beschrieben habe. doch nur für sechs Jahre!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6855
Andreas Jung (Konstanz)
(A) Auch im Verkehrsbereich setzen wir uns klare Ziele (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Auch! – Gegen- (C)
in Richtung nachhaltiger Mobilität. Wir setzen einen ruf des Abg. Frank Schwabe [SPD]: Nur!)
Schwerpunkt bei der Elektromobilität und verknüpfen
und die Profite der großen Energiekonzerne, aber nicht
die Themen Elektromobilität und erneuerbare Energien.
vordringlich um die Klimaziele.
Ich bin der Überzeugung, wir müssen daran arbeiten,
dass Ökostrom unser Benzin der Zukunft wird, sodass (Beifall des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]
wir die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich in den sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD])
nächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch reduzieren
können. Bis 2020 wollen wir 1 Million Elektrofahrzeuge Wenn man die Anträge der Fraktionen der SPD, der
und bis 2030 sogar 6 Millionen Fahrzeuge auf die Straße Linken und der Grünen liest, stellt man fest: Es besteht
bringen. Wir unterlegen die Ziele, die wir uns setzen, mit große Einigkeit. Die Notwendigkeit, zu handeln, wird
ganz konkreten Maßnahmen, und wir verfolgen einen erkannt.
Pfad, auf dem wir unsere Ziele Stück für Stück errei- Ich stelle noch einmal die Frage: Warum brauchen wir
chen. ein Klimaschutzgesetz? Wir brauchen es, weil momen-
tan die Klimaschutzziele von der Regierung geändert
Ich finde, mit unserem Energiekonzept bleiben wir in werden können, da sie nicht gesetzlich festgeschrieben
Europa Vorreiter und Antreiber im Klimaschutz. Wie Sie sind.
es mit Ihren Anträgen tun, so beteiligen auch wir uns an
der Diskussion, ob es richtig ist, dass die Europäische Immer wird so toll über Selbstverpflichtungen ge-
Union unbedingt erklärt, das Reduktionsziel von 30 Pro- sprochen. Ich habe noch nie erlebt, dass eine Selbst-
zent bis 2020 zu erreichen. Auch ich verfolge natürlich verpflichtung eingehalten wurde. Ich möchte Sie daran
die Debatte auf europäischer Ebene. Zwischen Europäi- erinnern, dass die Selbstverpflichtung 2005, die eine Re-
scher Kommission und Europäischem Parlament finden duktion um 25 Prozent beinhaltete, auch nicht erfüllt
noch Diskussionen statt, und wir wissen, dass auch die wurde.
Bundesregierung noch keine abgestimmte Position hat.
Warum brauchen wir dieses Gesetz? Abweichungen
Ich persönlich sehe keinen Grund, warum das, was in bleiben folgenlos. Zwischenziele müssen überprüfbar
der Bundesrepublik richtig ist, nämlich eine Verpflich- werden. Wir müssen früh genug, wenn das nicht funktio-
tung zu unbegrenzten Emissionszielen, in der Europäi- niert, die Notbremse ziehen können. Das halte ich für
schen Union falsch sein sollte. Ich will hinzufügen: Ich dringend notwendig. Darin sind wir uns einig.
bin sogar der Auffassung, dass es geradezu im deutschen Jetzt komme ich zum Ansatz der Linken. Dabei zeige
Interesse wäre, wenn sich auch die anderen Staaten der ich auch einige Differenzen auf. Der Wissenschaftliche
(B) Europäischen Union zur Erreichung so ehrgeiziger und Beirat Globale Umweltveränderungen hat Konzepte dar- (D)
unbegrenzter Ziele verpflichten würden, wie wir es in gestellt. Wenn jeder Mensch auf der Welt die gleichen
Deutschland bereits getan haben. Rechte auf Emissionen hätte, hätte Deutschland bei
(Beifall des Abg. Josef Göppel [CDU/CSU] gleichbleibenden Emissionen ab 2010 in zehn Jahren
sowie des Abg. Frank Schwabe [SPD]) sein klimaverträgliches Budget verbraucht. In der EU
würde das zwei Jahre später passieren. Ich spreche von
Ich halte es für richtig, dass auch der Bundesumwelt- den Pro-Kopf-Zahlen.
minister diese Position vertritt.
Das heißt, die Industrieländer brauchen ambitionierte
(Frank Schwabe [SPD]: Aber ob er sich auch Sparziele. Wir, die Linken, sagen: Wir müssen den glo-
durchsetzt?) balen Süden entschädigen, wenn wir über unserem Bud-
get – das ist der Fall – und die Entwicklungsländer unter
Ich bin der Auffassung, wir Umweltpolitiker sollten ihn ihrem Budget bleiben. Das ist auch der Grund, weshalb
auf diesem Weg und in dieser Diskussion unterstützen. die Linke in ihrem Entwurf für das Klimaschutzgesetz
Herzlichen Dank. Transfergelder an Entwicklungsländer vorschreibt. Denn
unsere nationalen Einsparziele sind nur gerecht, wenn
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die ärmeren Länder den Deal akzeptieren. Das kostet
Geld.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der LINKEN)
Das Wort hat nun Kollegin Eva Bulling-Schröter für
die Fraktion Die Linke. Wie wichtig das ist, zeigt das Trauerspiel um das ITT-
Yasuní-Projekt in Ecuador. Der Plan: keine Zerstörung
(Beifall bei der LINKEN) des Regenwaldes in der Region und kein Abbau von
Erdöl, dafür aber ein Ausgleich der Industriestaaten.
Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Übersetzt heißt das: Der Norden bezahlt ein armes la-
teinamerikanisches Land für einen Teil der Exportver-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
luste und zugleich für den Schutz von Klima und Biodi-
Bundesregierung will noch in diesem Monat, also ganz
versität, also Artenschutz.
schnell, ein Energiepaket, von dem sie behauptet, es
würde die Erreichung der Klimaziele befördern, durch- Alle Fraktionen waren in der letzten Legislatur-
peitschen. In Wirklichkeit geht es vor allem um eine periode dafür, haben das unterstützt und Signale gesetzt.
Laufzeitverlängerung von AKWs Das war auch noch letzte Woche beim Besuch der
6856 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Eva Bulling-Schröter
(A) ecuadorianischen Umweltministerin der Fall. Aber der der Welt – meist in China und Indien mit Investoren aus (C)
Entwicklungsminister, Herr Niebel, will die Gelder strei- Europa und Japan – arbeiten daran. Aus diesen wenigen
chen. Anlagen stammt – das ist eigentlich unglaublich; ich
nenne jetzt noch einmal die Zahl – die Hälfte aller welt-
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weit gehandelten Emissionszertifikate.
Axt im Urwald!)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst uns also noch
Die Umweltministerin wurde nicht einmal von Herrn
einmal intensiv darüber reden, was wir hier wirklich
Niebel empfangen, sondern nur von einem Abteilungs-
wollen; denn so hat das keinen Sinn.
leiter des BMZ. Das finde ich schäbig.
Ich komme zum Schluss. Wir haben im Umweltaus-
Genau so organisiert man auf internationaler Ebene
schuss über Peak Oil gesprochen. Dabei haben wir da-
Blockaden zwischen Industrie- und Entwicklungslän-
rüber gesprochen, welche Auswirkungen das haben
dern. Das ist ein Beispiel dafür. Das ist der Weg, wie in-
wird. Das müssen wir weiter tun.
ternationale Klimaverhandlungen gegen die Wand ge-
fahren werden. Ich warne davor. In der vorherigen Debatte haben wir gerade gehört:
Es ist wieder ein Soldat in Afghanistan gestorben. – Ich
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
meine, wir sollten darüber diskutieren:
Frank Schwabe [SPD])
Natürlich haben wir die Pflicht, zu Hause ambitio- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was hat das
nierte Einsparziele zu erreichen. Da gibt es eine Menge mit Klimaschutz zu tun?)
Luft. Da können wir sehr viel tun. Denn die Frage ist: Regenerative Energien tragen zum Frieden bei. Kriege
Sind wirklich 40 Prozent bis 2020 für Deutschland ange- werden um Öl und um natürliche Ressourcen geführt.
messen? Das gilt auch für das magere EU-Ziel von
20 Prozent. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: In
Afghanistan?)
Krisenbedingt ist der Ausstoß von CO2 gesunken. Die
Zahl liegt bei fast minus 30 Prozent in Deutschland; in Es gab einen Bundespräsidenten – er ist zurückgetreten –,
der EU beträgt sie minus 17 Prozent. Das heißt, der An- der gesagt hat: Aus wirtschaftlichen Gründen werden
teil regenerativer Energien wächst noch schneller – das Kriege geführt. – Das hat er gesagt, auch wenn Sie das
wollen wir –, als wir erwarten. leugnen. Auch aus diesem Grund müssen wir mehr Kli-
maschutz betreiben. Die Gelder für die Kriege könnten
Die EU sagt dazu, man brauche ein anspruchsvolleres auch dort gut investiert werden.
Ziel. Die Kosten dafür lägen niedriger, als vor der Krise
(B) errechnet wurde. Deshalb sagen wir: Wir brauchen die- (Beifall bei der LINKEN – Oliver Luksic (D)
ses Ziel. In Deutschland sollten wir über 50 Prozent und [FDP]: Was für ein Quatsch!)
in der EU – das sagte auch Herr Jung – über 30 Prozent
reden. Ich denke, darüber können wir uns relativ schnell Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
einigen. Das Wort hat nun Michael Kauch für die FDP-Frak-
Jetzt zum SPD-Antrag: Darin steht, dass die Emis- tion.
sionsminderung im Inland stattfinden solle. CDM und JI (Beifall bei der FDP)
– das sind internationale Projekte in anderen Ländern,
für die es Zertifikate gibt – seien zur Ergänzung da. Jetzt
würde ich gerne wissen, was das heißt. Michael Kauch (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grundlage
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der Klimapolitik der FDP ist der Mainstream der Wis-
Das würde ich auch gerne wissen!) senschaft. Die FDP verbietet aber keinem ihrer Abge-
Was meinen Sie damit? Das hat nämlich eine starke Aus- ordneten eine Diskussion oder eine eigene Meinung.
wirkung auf die Erfüllung der Minderungsziele. Deshalb Entscheidend ist am Schluss – ich denke, das wird bei
meinen wir: Dort dürfen Sie nicht unklar bleiben. CDU/CSU genauso sein –, was Mehrheiten entscheiden,
und Mehrheiten in der FDP haben sich auf Parteitagen
Deutsche Unternehmen können sich vom nationalen und in der Fraktion überwältigend klar für die Klima-
Klimaschutz freikaufen, wenn sie CO2-Gutschriften aus politik ausgesprochen, die diese Bundesregierung hier
dem Ausland vorweisen. Das ist inzwischen bekannt und vereinbart hat und umsetzt.
ginge auch in Ordnung, wenn dahinter tatsächlich Kli-
maschutz stehen würde. Ich denke, das meinen Sie auch. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die Hälfte der Zertifikate ist aber heiße Luft. Dadurch
wird der Klimaschutz hier im Land aufgeweicht. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das ARD-Magazin Monitor hat über HFC-23-Pro- Herr Kollege, Sie haben sofort eine Zwischenfrage
jekte berichtet. Dabei geht es um Abfallprodukte aus der provoziert. Wollen Sie Ihre Redezeit verlängern, dann
Kältemittelherstellung. Damit wird getrickst. Sie werden sagen Sie zu.
auf Halde produziert, damit der Klimakiller als Ne-
benprodukt wieder vernichtet wird. Dafür gibt es eben Michael Kauch (FDP):
diese Emissionszertifikate. 19 Chemieunternehmen auf Gerne.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6857

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir haben eine CO2-Minderung um 55 Prozent bis 2030 (C)
Herr Kollege Schwabe, bitte. und um 70 Prozent bis 2040 sowie ein Monitoring durch
die Bundesregierung beschlossen, das alle drei Jahre
Frank Schwabe (SPD): durchgeführt werden soll. Das sind genau die Ziele, die
Herr Kollege Kauch, ich begrüße diese Aussage der Sie mit Ihrem Klimaschutzgesetz erreichen wollen. Wir
FDP ausdrücklich. Gleichzeitig will ich Sie aber fragen: werden das auch mit dem Energiekonzept, das wir be-
Was halten Sie dann davon, dass es Ihre Partnerfraktion schlossen haben, erreichen können.
in der Koalition so hält, dass sie eine Person, die den Das ist ein realistischer Pfad. Es ist alles durchgerech-
menschengemachten Einfluss auf den Klimawandel in net worden. Die Opposition – das wird auch in dem An-
der Tat infrage stellt, zu ihrer Sprecherin für das Thema trag der SPD deutlich – folgt in ihren Forderungen im-
Umweltschutz macht? Spricht das aus Ihrer Sicht dafür, mer dem Grundsatz „Es darf ein bisschen mehr sein“.
dass die Mehrheit in dieser Fraktion diese Meinung teilt? Die SPD hat im Januar und im Oktober Anträge vorge-
(Zuruf von der CDU/CSU: Maulkörbe gibt es legt. Im Januar hat sie unter dem Titel „Die richtigen
nur in der SPD!) Lehren aus Kopenhagen ziehen“ eine CO2-Minderung
von 80 bis 95 Prozent gefordert. Das fanden wir gut. In-
Michael Kauch (FDP): zwischen, ein Dreivierteljahr später, boomen die Grünen
im Gegensatz zu Ihnen, und deswegen müssen Sie jetzt
Lieber Kollege Schwabe, ich würde es mir verbitten,
ein bisschen nachlegen, indem Sie 95 Prozent fordern.
wenn die CDU/CSU-Fraktion unsere Personalentschei-
Das war vorher offensichtlich nicht die Lehre, die Sie
dungen kommentieren würde. Deshalb kann ich nur sa-
gen, dass der Kollege Jung alles Notwendige zu dieser aus Kopenhagen gezogen haben, und macht deutlich,
Frage gesagt hat. worum es hier geht: Sie veranstalten eine Zahlenspiele-
rei. Das bringt uns in der Sache nicht weiter. Sie betrei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ben eine PR-Strategie, um ein paar Wähler mehr von den
Grünen zu bekommen.
Meine Damen und Herren, wir stehen zur Politik der
Emissionsminderung von Treibhausgasen, weil das für (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
uns geradezu eine Frage der Generationengerechtigkeit der CDU/CSU)
ist. Wir müssen den Generationen, die nach uns folgen,
nämlich Lebensräume hinterlassen, die lebenswert sind,
und Ressourcen für sie erhalten, die sie vielleicht noch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
einmal brauchen werden. Das betrifft Rohstoffe, das be- Der Kollege Schwabe will noch eine Zwischenfrage
(B) trifft aber eben auch natürliche Ressourcen und die Bio- stellen. (D)
diversität.
Deshalb hat diese Bundesregierung – haben CDU/ Michael Kauch (FDP):
CSU und FDP im Deutschen Bundestag – höhere CO2- Nein, jetzt nicht mehr. – Deshalb rufe ich in Erinne-
Minderungsziele beschlossen, als es jede Regierung zu- rung, was aus den Zielen wird, die sich rot-grüne Regie-
vor getan hat: 40 Prozent unkonditioniert bis 2020, rungen gesetzt haben. Helmut Kohl und Angela Merkel
80 Prozent bis 95 Prozent bis 2050. haben in den 90er-Jahren als nationales Klimaschutzziel
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine CO2-Minderung von 25 Prozent bis 2050 beschlos-
sen.
Deshalb brauchen wir in der Klimapolitik absolut keine
Nachhilfe von der Opposition. (Ulrich Kelber [SPD]: Jetzt aber Vorsicht!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Das wurde 1998 von der rot-grünen Regierung übernom-
CDU/CSU) men.
Im Energiekonzept gehen wir noch weiter. Wir haben Dann war Jürgen Trittin sieben Jahre lang Umweltmi-
im Koalitionsvertrag vereinbart, Zwischenschritte für ei-
nister dieser Republik. Am Ende – ich glaube, es war im
nen Entwicklungspfad zur Emissionsminderung zu set-
Jahr 2003 – hat die Bundesregierung klammheimlich
zen. Das ist auch richtig so. Dann kann sich jeder darauf
dieses nationale Klimaschutzziel aus allen Berichten ge-
einstellen, welche Schritte in Politik und Wirtschaft in
tilgt, weil sie es nicht erreicht hat. Ihre Politik erreicht
den kommenden Jahren und Jahrzehnten folgen werden.
die Klimaschutzziele nicht, die Sie der Bevölkerung vor-
Wir haben das Energiekonzept klar beschlossen. Der gaukeln.
Deutsche Bundestag wird das mit einem Antrag von
CDU, CSU und FDP unterstützen, zumindest dann, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
wenn Sie uns die Gelegenheit geben, endlich zu Ent- der CDU/CSU)
scheidungen zu kommen, statt immer wieder nur durch
Diese Koalition macht realistische Politik. Deswegen
formale Obstruktion die Prozesse in die Länge zu zie-
bringen wir ein Energiekonzept auf den Weg, das den
hen.
Aufbruch in das Zeitalter der erneuerbaren Energien
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten nicht nur einfordert, sondern auch die Wege aufzeigt,
der CDU/CSU – Lachen bei der SPD) wie man ihn erreichen kann.
6858 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: zu lesen: kein Geld von den Kernkraftwerksbetreibern. (C)
Herr Kollege, es gibt noch einmal den Wunsch nach – Wir nehmen das Geld von den Kernkraftwerksbetrei-
einer Zwischenfrage vom Kollegen Kelber. bern, um es in erneuerbare Energien zu investieren.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
Michael Kauch (FDP): Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich möchte gerne meine Ausführungen zu Ende füh- NEN]: Sie verlängern ja!)
ren. – Bis 2050 soll der Anteil der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien 80 Prozent betragen und eine Wenn man sich die Anträge der Opposition zum Kli-
Minderung von mehr als 50 Prozent beim Primärener- maschutzgesetz anschaut, stellt man fest, dass sie durch-
gieverbrauch erreicht werden. Das wird durch zahlreiche aus nachdenkenswerte Punkte enthalten. Aber ich sage
Maßnahmen unterlegt. Ihnen ganz klar: Einen Punkt halte ich für absolut inak-
zeptabel, nämlich den Weg in die Räterepublik. Ihnen
Die wichtigste ist zunächst einmal, dass wir den Ein- fällt, wenn Sie nicht weiterwissen, immer nur ein: Dann
speisevorrang verankern und dadurch dafür sorgen, dass gründen wir einen neuen Arbeitskreis. – In diesem Fall
es keinen Wettbewerb zwischen Kernkraft und erneuer- soll es eine sogenannte unabhängige Klimaschutzkom-
baren Energien gibt. Der Einspeisevorrang bewirkt, dass mission sein. Im Antrag der SPD steht:
der Wettbewerb bei der Laufzeitverlängerung zwischen
Kernkraft-, Kohle- und Gaskraftwerken stattfindet. Das In der Kommission erhalten der Sachverständigen-
ist auch aus Klimaschutzgesichtspunkten der richtige rat für Umweltfragen, der Rat für nachhaltige Ent-
Weg. wicklung, der Wissenschaftliche Beirat für globale
Umweltveränderungen sowie namhafte Wissen-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schaftler Sitz und Stimme.
der CDU/CSU)
Sie selber zählen auf, wie viele Gremien diese Republik
Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekon- schon hat, die sich mit dem gleichen Thema befassen.
zept nicht nur 30 dürre Seiten geschrieben, wie der Kol- Dennoch wollen Sie ein neues Gremium sozusagen als
lege Schwabe gesagt hat, sondern wir haben ein konkre- Dach für all die Gremien, die Sie eingerichtet haben, da-
tes Sofortprogramm zum Beispiel für die Offshore- mit alles koordiniert wird. Wenn Sie neue Gremien wol-
Windkraft und den Netzausbau verabschiedet. len, dann müssen Sie auch sagen, wo etwas bereinigt
Ich sage Ihnen von der Opposition ganz klar: Wir werden soll. Ansonsten bleiben wir bei den bewährten
werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, im Deutschen Strukturen, deren Aufbau wir gemeinsam hier im Deut-
Bundestag für erneuerbare Energien einzutreten und schen Bundestag beschlossen haben.
(B) dann die Stromleitungen, die notwendig sind, um den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
Strom auch in den Süden zu transportieren, zu blockie-
ren und zu obstruieren. Ich sage ganz klar: Wir Liberale sowie die Kollegin-
nen und Kollegen von der Union gehen voran in das
(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Zeitalter der erneuerbaren Energien. Wir stehen für
NEN]: Das ist doch ein Märchen!)
Treibhausgasminderung. Wir brauchen hier keine Nach-
Ich sehe schon voraus, dass die Kollegin Höhn auch bei hilfe. Unsere Ziele sind ambitioniert. Wir zeigen auf, wie
den nächsten Bürgerinitiativen dabei sein wird, um In- man sie erreichen kann.
frastrukturprojekte für erneuerbare Energien zu verhin-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
dern.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜND- Der Kollege Kelber wünscht eine Kurzintervention.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist infam, was Er soll sie bekommen. – Bitte schön.
Sie da machen! Nichts davon stimmt!)
Wir setzen uns für Netzausbau und Speicherförderung Ulrich Kelber (SPD):
ein. Wir legen einen Geothermieatlas auf, damit klar ist, Vielen Dank. – Herr Kollege Kauch, in der letzten
wo Chancen auf Geothermie bestehen. Debatte hatten Sie die Behauptung aufgestellt, im Land
(Frank Schwabe [SPD]: Das ist doch nichts Nordrhein-Westfalen hätte Schwarz-Gelb eine an-
Neues! Was ist denn neu?) spruchsvollere Klimapolitik gemacht, als es die Nachfol-
geregierung vorhat. Das konnte durch Zitate aus dem
Wir stärken die Stellung von Biogas im Wärmebereich, Umweltbericht der schwarz-gelben Landesregierung
was die SPD nicht gewollt hat. Wir werden das Förderin- leicht widerlegt werden. Tatsächlich sind die Emissionen
strumentarium für erneuerbare Wärme ausweiten. Last, angestiegen. Heute haben Sie gesagt, die alte schwarz-
but not least ist der Energie- und Klimafonds das größte gelbe Bundesregierung hätte bis 1998 eine anspruchs-
Förderprogramm für erneuerbare Energien, das diese vollere Klimapolitik als die Nachfolgeregierungen ge-
Republik jemals gesehen hat. Alle Mehrerlöse aus dem macht. Können Sie bestätigen, dass in der Zeit der
CO2-Handel fließen in diesen Fonds. Hinzu kommt die schwarz-gelben Bundesregierung die Treibhausgasemis-
Gewinnabschöpfung bei den Kernkraftwerksbetreibern. sionen ausschließlich in den Jahren 1991, 1992 und 1993
Sie dagegen haben damals vertraglich zugesichert, die zurückgegangen sind, dass dieser Rückgang ausschließ-
Gewinne nicht abzuschöpfen. In Ihrem Atomvertrag ist lich aufgrund des Zusammenbruchs der Industrie in Ost-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6859
Ulrich Kelber
(A) deutschland sowie der Modernisierungen dort erfolgte, diesem Bundestag sogar geschafft, vor Klimakonferen- (C)
dass die Treibhausgasemissionen von 1994 bis 1999 zen einstimmige Beschlüsse zu Klimaschutzzielen hin-
auch in Ostdeutschland wieder angestiegen sind und erst zubekommen.
unter der rot-grünen Regierung sanken und dass die
CO2-Emissionen in Westdeutschland in den gesamten Ich muss sagen, das war eine gute Leistung, weil wir
16 Jahren der Kohl-Regierungen, zum Teil unter Beteili- erkannt haben: Das ist ein globales Problem, darauf
gung von Frau Merkel – das sind die beiden Namen, die müssen wir auch gemeinsam als gesamter Bundestag re-
Sie genannt hatten; offenbar fiel Ihnen kein Name von agieren. Daher können wir eine solche Auseinanderset-
der FDP ein –, angestiegen sind und zum ersten Mal im zung, wie Herr Kauch sie wieder einmal begonnen hat,
Jahr 1999 unter der rot-grünen Regierung gesunken nicht gebrauchen. Es geht um viel mehr als um das Ge-
sind? Sind Ihnen die Zahlen bekannt? zänk hier untereinander.
Es ist schade, dass Herr Kauch genau diese Debatte
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: beginnt. Ich meine, wenn Herr Kauch jetzt zum Beispiel
Herr Kollege Kauch, zur Erwiderung. sagt, wir würden die formalen Prozesse, gerade was all
die Atomgesetze, über die wir jetzt diskutieren, angeht,
Michael Kauch (FDP): verzögern, dann muss ich sagen: Herr Kauch, denken Sie
Lieber Kollege Kelber, es ist schon erstaunlich, dass mal einen Moment nach. Machen Sie nicht immer den
Sie sich hier offensichtlich zum Anwalt von Herrn Mund auf, sondern denken Sie einen Moment nach, was
Trittin machen wollen, weil es die Grünen nicht tun. Ich Sie uns bei diesen Anhörungen zumuten: zwei Gesetze
kann Ihnen nur sagen: Wir haben es durch den Zusam- in vier Stunden. Das heißt, wir haben für die Sicherheit
menbruch alter Industrien in Ostdeutschland am Anfang von Atomkraftwerken und für die wirklich entschei-
der 90er-Jahre natürlich leichter gehabt als andere Län- dende Frage des Atommülls gerade mal 30 bis
der; das ist völlig unstreitig. Aber wir haben auch an- 45 Minuten, um uns damit zu beschäftigen. Das ist eine
spruchsvollere Ziele gesetzt. Es hat sich kein anderer Farce, und Sie haben uns diese eingebrockt. Das ist die
Umweltminister so mir nichts, dir nichts von Umwelt- Wahrheit.
schutzzielen verabschiedet wie Herr Trittin. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
An der Stelle muss man mal Herrn Gabriel loben, der und bei der SPD)
hat nämlich am Schluss seiner Amtszeit die Kioto-Ziele
umsetzen können. Herr Trittin hat es offensichtlich nicht Sie haben die Erkundung von Gorleben wieder auf
geschafft. die Tagesordnung gesetzt. Gorleben, wo es unten eine
Riesenblase mit Gas und oben eine wasserlösliche
(Ulrich Kelber [SPD]: Danke für die Bestäti- Schicht gibt, soll als Endlager dienen. Die Fachleute be- (D)
(B)
gung meiner Zahlen!) haupten, da könnte man Müll 1 Million Jahre zwischen
dem Gas und der wasserlöslichen Schicht sicher aufbe-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wahren. Dazu muss ich sagen: Gehen Sie in sich. Sie ha-
Jetzt hat Kollegin Höhn das Wort. ben eine verdammte Verantwortung allen nachfolgenden
Generationen gegenüber. Mit einfachen Sprüchen kommt
man da nicht weiter.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hier eben einen Ihrer wirklich legendären Auftritte er- und bei der SPD)
lebt. Sie versuchen, einfach durch Lautstärke zu über-
zeugen. Was Sie zu Jürgen Trittin gesagt haben, macht Wir diskutieren hier und sagen: Klimaschutz und Klima-
deutlich, dass Sie nichts verstanden haben. Durch Jürgen ziele dürfen nicht einfach nur irgendwelche Ziele sein,
Trittin sind die erneuerbaren Energien erst mal auf den vielmehr brauchen wir Instrumente, die dazu dienen,
Weg gekommen, auf dem sie heute sind. diese Klimaziele überhaupt erreichen zu können. Des-
halb haben wir hier als Grüne im Dezember letzten Jah-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) res einen Antrag gestellt – die SPD hat jetzt einen An-
Niemand anders als die Grünen hat die Erneuerbaren trag gestellt –, der in folgende Richtung geht: Wir
eingeführt. können uns auf Klimaziele einigen und sollten zum Er-
reichen dieser Ziele hier gemeinsam Instrumente be-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schließen. Wir sagen: Wir verfolgen beim Klimaschutz
Alle Welt guckt auf Deutschland, weil wir das damals ein großes Ziel, das wir gemeinsam erreichen wollen,
unter Rot-Grün geschafft haben. Davon sind Sie von der egal unter welcher Regierung.
FDP meilenweit weg.
Deshalb meinen wir: Wir brauchen ein Klimaschutz-
Ich muss ehrlich sagen, ich finde diese Debatte trau- gesetz, weil es drei ganz entscheidende Vorteile hat. Es
rig. Eigentlich möchte ich an das anknüpfen, was der ist verlässlich, es ist transparent und konsequent. Und
Kollege Jung gesagt hat. Bei allen Auseinandersetzun- genau das brauchen wir bei dem globalen Problem, das
gen, die wir hatten, haben wir hier im Bundestag eine wir mit dem Klimawandel haben. Ein solches Klima-
Gemeinsamkeit gehabt, und das war der Klimaschutz. Es schutzgesetz brauchen wir in diesem Land.
gab immer eine gemeinsame Basis bei den internationa-
len Zielen des Klimaschutzes. Die einen wollten mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
als die anderen, aber vom Grundsatz her haben wir es in und bei der SPD)
6860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Bärbel Höhn
(A) Warum ist das verlässlich? Wir haben momentan un- dass dies letztendlich Grundlage sein sollte für die natio- (C)
verbindliche politische Vorgaben, und wir wollen diese nale Nachhaltigkeitsstrategie, die über Legislaturperio-
unverbindlichen Vorgaben in rechtsverbindliche Ziele den hinweg verfolgt wird? Sind Sie bereit, diese partei-
umsetzen. Das ist das Ziel eines Klimaschutzgesetzes. übergreifenden Punkte – ich glaube, sie können auch
Bei der Vorgabe können wir uns auch darüber streiten, nach den Änderungen verfolgt werden, die Sie am Ener-
ob es jetzt 80 Prozent oder 95 Prozent CO2-Reduktion giekonzept vornehmen wollen, wenn Sie wieder einmal
bis 2050 geben soll. regieren – gelten zu lassen? Oder wollen Sie sie nach ei-
ner Regierungsübernahme vom Tisch wischen?
Über verbindliche Ziele würde genau das erreicht,
was wir brauchen, eine langfristige Planungssicherheit
für die Menschen. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Kauch, der entscheidende Punkt ist, ob die Ziele,
Was Sie mit Ihrem Energiekonzept gegen die Mehr-
die Sie festgeschrieben haben, erreichbar sind. Wir bie-
heit der Bevölkerung erreicht haben, ist doch, dass es ei-
ten Ihnen mit dem Klimaschutzgesetz ein Instrument,
nen Stillstand bei den Investitionen gibt. Die Stadtwerke
wie die Ziele, die Sie festgeschrieben haben, auch er-
investieren nicht mehr. In die Erneuerbaren wird nicht
reicht werden können. Wir fordern: Die Ziele müssen
mehr investiert. Durch Ihr Energiekonzept gibt es in den
überprüft werden, sie müssen transparent dargestellt
nächsten drei Jahren einen Stillstand, nicht mehr und
werden, und wenn sie nicht erreicht werden, dann müs-
nicht weniger. Dann werden wir kommen, das Ganze
sen Sanktionen verhängt werden. Genau dieses Instru-
nach der Wahl umändern, und es kann wieder losgehen.
ment verweigern Sie. Deshalb müssen Sie sich nicht
So ist die Politik, und das ist auch gut so.
wundern, dass wir glauben, dass Ihre Ziele nur auf dem
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Papier stehen. De facto wissen Sie selber, dass Sie mit
und bei der SPD) der Art und Weise, wie Sie Politik machen, diese Ziele
nie und nimmer erreichen werden. Das ist der Unter-
Es wäre auch vor Cancún ein schönes Zeichen, wenn schied.
man wirklich sagen würde: Ja, Deutschland verabschie-
det ein Klimaschutzgesetz; wir wollen nicht nur Klima- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schutzziele beschließen, sondern auch zeigen, wie sie und bei der SPD)
umgesetzt werden können.
Ein Klimaschutzgesetz stünde einerseits für Verläss-
lichkeit und andererseits für Transparenz. Wir wollen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Zwischenziele. Übrigens, Großbritannien hat sie sich be-
Frau Kollegin Höhn, gestatten Sie eine Zwischen- reits gesetzt; es gibt also auch Länder, die diesen Weg
(B) frage des Kollegen Kauch? gehen. Wir wollen deshalb auch Berichte. Wir wollen, (D)
dass auch gesagt wird: Oh, hier passiert zu wenig; hier
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): funktioniert es nicht, bei einzelnen Sektoren, etwa im
Ja, bitte schön. Verkehrsbereich; da bringen wir es nicht zustande, da
müssen wir gegensteuern, da müssen wir andere Maß-
Michael Kauch (FDP): nahmen ergreifen. – Das ist die Transparenz, die wir mit
Frau Kollegin Höhn, Sie haben angemahnt, dass wir dem Klimaschutzgesetz wollen. Wenn wir es hätten,
eine gemeinsame Basis für die internationale Klimapoli- dann könnten wir schnell reagieren und könnten letzten
tik brauchen. Ich stelle fest, dass diese gemeinsame Ba- Endes dafür sorgen, dass diese Ziele wirklich erreicht
sis immer noch da ist. Wir debattieren aber heute hier werden.
über die nationale Umsetzung. Der Kollege Schwabe hat Dazu gehört natürlich, dass wir konsequent sein müs-
die Auseinandersetzung um das nationale Energiekon- sen. Wenn die Ziele nicht erreicht werden, dann müssen
zept in die Debatte eingeführt. Dies sei vorausgeschickt. wir in der Tat Sanktionen verhängen. Dann müssen ver-
Um hier keinen falschen Eindruck zu erwecken: Ich stärkt Klimaschutzanstrengungen unternommen wer-
glaube, es ist wichtig und es ist zentral, dass wir vor den. Damit würden wir versuchen, der Erreichung all
Cancún und darüber hinaus in den internationalen Ver- dieser Ziele Biss und Nachdruck zu verleihen. Wir wol-
handlungen eine Basis haben. Wir haben nämlich ein ge- len nicht nur, dass Ziele formuliert werden, sondern
meinsames nationales Interesse, das, was wir hier tun, auch, dass sie umgesetzt werden, und deshalb fordern
auch in anderen Teilen der Welt zu sehen. wir das Klimaschutzgesetz.
Zu meiner Frage. Sie haben gesagt: Die Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
müssen sich auf die Zielvorgaben, Zielentwicklungs-
pfade, die wir beschließen, verlassen können. Sind Sie Die Alternative ist nämlich das, was Sie, Herr Kauch,
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in dem Energie- mit dem Klimakonzept machen. Wir haben den Ein-
konzept, das Sie hier in Bausch und Bogen verdammen druck: Das ist unverbindliche Lyrik. Das Energiekonzept
– Sie haben das Recht, das eine oder andere zu kritisie- der Bundesregierung enthält 36 Prüfaufträge, und zwar
ren; insbesondere in der Kernenergiefrage sind wir halt ohne Substanz. Schauen wir uns doch einmal die Gebäu-
nicht auf einer Linie –, genau dieser klimapolitische Ent- desanierung an. Durch die Gebäudesanierung kann viel
wicklungspfad hin zu einem Anteil von 80 bis 95 Pro- CO2 reduziert werden. Im letzten Jahr standen 2,2 Mil-
zent bis 2050 entwickelt worden ist, dass dieses Konzept liarden Euro für die Gebäudesanierung zur Verfügung.
im Deutschen Bundestag beschlossen werden wird und In diesem Jahr sind es 1,5 Milliarden Euro, und der Wert
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6861
Bärbel Höhn
(A) für das nächste Jahr ist – erst nach großem Protest – auf insgesamt heute manchmal auch noch das falsche (C)
950 Millionen Euro aufgestockt worden. Wenn Sie dann Thema. Manche klagen über mögliche Jobverluste we-
sagen: „In diesem Atomfonds sind noch 300 Millionen“, gen Klimaschutzauflagen. Ich glaube, viel größere Sor-
dann sage ich: Der Unterschied zwischen 1,5 Milliarden gen müssten wir uns machen, wenn wir nicht über Kli-
und 950 Millionen beträgt fast 600 Millionen. Wenn Sie maschutz diskutieren würden. Deswegen will ich an
die Mittel mit Ihren 300 Millionen aufstocken, dann sind dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass ich mich freue
Sie immer noch nicht bei dem Wert von diesem Jahr. und es begrüße, dass wir in dieser Runde auch so enga-
Das heißt de facto, dass Sie viel hineinschreiben, aber giert das Thema gemeinsam miteinander debattieren.
bei der Gebäudesanierung nicht die Finanzen zur Verfü-
gung stellen, um die Ziele am Ende wirklich durchsetzen Es geht aber natürlich zweitens auch um die Art, wie
zu können. Das machen wir Ihnen zum Vorwurf. wir wirtschaften. Bis 2050 werden wahrscheinlich auf
unserer Erde etwa 9 Milliarden Menschen leben, und
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viele von ihnen werden natürlich ein Stück von dem
und bei der SPD) Wohlstand beanspruchen, den wir bei uns in Europa als
selbstverständlich erachten. Dass dies mit einem enor-
Meine Damen und Herren, wir müssen über diese Sa-
che noch einmal im Ausschuss diskutieren. Nach meiner men Anstieg des Energiebedarfs verbunden sein wird,
Auffassung gibt es Gemeinsamkeiten; Herr Jung hat das liegt auf der Hand. Diesen Wohlstandsanspruch mit
knappen Ressourcen in Einklang zu bringen, heißt, Ener-
noch einmal dargestellt. Ich würde gerne ausloten, ob es
diese Gemeinsamkeiten tatsächlich gibt und wie weit wir gie und knappe Lebensgüter künftig vernünftig zu be-
da gehen können. Das sollten wir machen. Sollten wir wirtschaften. Wir müssen also ein Gut wie Energie nicht
nur bereitstellen; zu unserem Wohlstand gehört es auch,
dies in einer Zeit der Konfrontation, die wir momentan
erleben, schaffen, dann wäre das ein gutes Zeichen, weil dass dies zu bezahlbaren Preisen erfolgen kann.
wir deutlich machen, dass wir bei globalen Fragen, deren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Lösung wir hier national umsetzen, am Ende noch Ge-
meinsamkeiten hinbekommen. Darauf hoffe ich ein Energie, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist also
Stück. Ich sehe den einen und anderen, mit dem man ein Grundbedürfnis und kein Luxusgut.
vielleicht zusammenarbeiten kann; Herr Kauch, viel-
leicht auch mit Ihnen in einer ruhigen Stunde, wenn es Und um dieses grundlegende Bedürfnis zu befriedi-
nicht darum geht, hier am Rednerpult zu demonstrieren, gen, geht es drittens darum, sich damit zu beschäftigen,
wie aufgeregt und engagiert Sie sein können. Ich hoffe mit welchen Technologien man dies dauerhaft ermögli-
auf gute Beratungen im Ausschuss. chen will. Nach dem Verständnis unserer Koalition
– und ich will das hier in aller Deutlichkeit sagen – sind
(B) Vielen Dank. es dauerhaft nicht die Kernkraft und nicht die Kohle, (D)
sondern die erneuerbaren Energien. Wir haben schon in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unserem Koalitionsvertrag und in unserem Wahlkampf-
und bei der SPD) papier ausdrücklich davon gesprochen – das tun wir
auch heute noch, nachdem wir gewählt sind –, dass es
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: sich bei der Kernkraft um eine Brückentechnologie han-
Das Wort hat nun Christian Hirte für die CDU/CSU- delt.
Fraktion.
Wenn ich vorhin das Jahr 2050 angesprochen habe,
(Beifall bei der CDU/CSU) habe ich das nicht ganz ohne Bedacht gewählt, weil na-
türlich auch das Energiekonzept der Bundesregierung
Christian Hirte (CDU/CSU): diesen Zeithorizont zugrunde legt. Zum ersten Mal – hier
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gebe ich dem Kollegen Kauch ausdrücklich recht – hat
gen! Nachdem wir eine etwas hektische Debatte jetzt sich eine Bundesregierung ambitionierte Ziele gesetzt
hatten, versuche ich, ein klein bisschen Ruhe hineinzu- und sich zu drei Punkten, nämlich Nachhaltigkeit, Wirt-
bringen und auch etwas sachlich zu diskutieren. schaftlichkeit und Technologie, offen und konkret be-
kannt. Mit dem Energiekonzept werden Leitlinien für
Kurz vor Beginn des Weltklimagipfels in Kopenha- den Einstieg in eine umweltschonende, zuverlässige und
gen im Dezember letzten Jahres hat der Bundesumwelt- vor allem auch bezahlbare Energieversorgung formu-
minister in einer Rede vor diesem Haus drei zentrale Ge- liert.
sichtspunkte einer europäischen Klimaschutzinitiative
formuliert, die ich auch gerade vor dem Hintergrund der Ich will aber noch einen vierten Gesichtspunkt hinzu-
heutigen Debatte für wesentlich erachte: fügen. Es geht am Ende auch immer um Glaubwürdig-
keit. Richtig ist – Andreas Jung hat das ausgeführt –,
Erstens muss es uns bei Klimapolitik um Nachhaltig- dass der Klimagipfel von Kopenhagen nicht die Ergeb-
keit gehen. Wenn wir die natürlichen Ressourcen unseres nisse gebracht hat, die wir uns, ich glaube, alle gemein-
Planeten verbrauchen – wir haben viel über Energie ge- sam in diesem Hause, erhofft haben. Das Ziel muss
sprochen; das heißt, dass wir die kohlenstoffbasierten trotzdem bleiben, die globale Erwärmung auf unter
Ressourcen verbrauchen – und damit den CO2-Ausstoß 2 Grad zu begrenzen.
weiter in dem Maße vorantreiben, wie wir das bis heute
tun, werden wir den nächsten Generationen einen Bären- (Frank Schwabe [SPD]: Das sieht der Wirt-
dienst erweisen. Vielleicht diskutieren wir in Europa und schaftsrat ganz anders!)
6862 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Christian Hirte
(A) Und dieses Ziel müssen wir in Deutschland glaubwürdig Wachstum ausbauen und gleichzeitig ressourcenscho- (C)
vertreten. Wir haben in Deutschland in den vergangenen nend wirtschaften und leben können.
Jahren hohe Ansprüche beim Klimaschutz formuliert
Vielen Dank.
und eingehalten. Das wird sich auch künftig nicht än-
dern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die internationale Rolle Deutschlands beim Klima-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schutz erwächst aber nicht aus nationalen Klimaschutz-
gesetzen, wie sie die Oppositionsfraktionen in ihren An- Das Wort hat nun Matthias Miersch für die SPD-Frak-
trägen fordern. Sie erwächst auch und gerade aus der tion.
Gestaltung der konkreten Energie- und Klimapolitik im (Beifall bei der SPD)
eigenen Land. Deutschland muss und wird also durch
seine eigene Vorreiterrolle beispielgebend sein; darauf Dr. Matthias Miersch (SPD):
hat die Bundeskanzlerin immer deutlich hingewiesen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegin!
Die Frage ist jetzt, wie wir unsere Vorreiterrolle for- Herr Hirte, damit kein falscher Eindruck entsteht: Zum
cieren können. Die Antwort darauf ist: Deutschland Maßstab wird Ihr Energiekonzept hundertprozentig nicht
muss durch sein eigenes Beispiel führen. Wir müssen be- werden.
weisen, dass Wachstum und der Ausstoß von Treibhaus- (Christian Hirte [CDU/CSU]: Schauen wir
gasen voneinander entkoppelt werden können. Deutsch- mal!)
land muss zeigen, dass es möglich ist, den Wohlstand zu
mehren und das Klima zu schützen. Die unkonditionierte Spätestens in Karlsruhe oder spätestens 2013 ist das vom
40-prozentige Reduktion des Klimagasausstoßes ist Tisch, sind auch die Laufzeitverlängerungen vom Tisch.
schon angesprochen worden; ich muss das nicht weiter (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
auszuführen. Das Energiekonzept ist also der richtige DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
Weg, um auch anderen Ländern ein Beispiel zu geben LINKEN)
und zu zeigen, wie Wohlstand und Ressourcenverbrauch
in Einklang gebracht werden können. Herr Kauch, was Sie gesagt haben, war ein bisschen
entlarvend. Sie haben davon gesprochen, dass Sie Angst
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op- vor der sogenannten Räte-Republik haben. Dabei geht es
position, das von Ihnen so verschmähte Energiekonzept nur darum, dass Politik den Mut hat, durch ein unabhän-
wird – und das werden Sie sehen – Modell und Maßstab giges Gremium prüfen zu lassen, ob die Maßnahmen
(B) für die Lösung der Energiefragen vieler anderer Länder ausreichen, um die Ziele, die man sich gesetzt hat, zu er- (D)
werden. reichen. Das zeigt, welches Demokratieverständnis Sie
haben. Gerade in diesen Zeiten wäre es wichtig, dass die
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Politik Rückkopplung mit unabhängigen Wissenschaft-
neten der FDP – Christian Lange [Backnang] lern zulässt.
[SPD]: Da ist aber der Wunsch der Vater des
Gedankens! – Frank Schwabe [SPD]: Das ist (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
eine Werbebroschüre! – Waltraud Wolff [Wol- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael
mirstedt] [SPD]: Christians Märchenstunde!) Kauch [FDP]: Wir haben schon drei Räte!)

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Aspekt be- Genau deswegen ist das, was wir mit dem Klimaschutz-
leuchten, der oft vergessen wird: Aktiver Klimaschutz gesetz vorschlagen, ein richtiger Schritt in die richtige
bedeutet im Ergebnis auch eine größere Unabhängigkeit Richtung.
von ausländischen fossilen Energieträgern. Europa ist Ihre Aussage spricht überhaupt Bände. Jetzt ist klar,
von Energieimporten abhängig, und die Tendenz ist stei- was Sie von unabhängigen Expertengremien halten.
gend. Zeitgleich verschärft sich der globale Wettbewerb
um Rohstoffe und Energieträger. Die Nachfrage wächst (Zuruf von der CDU/CSU: Unabhängigen!)
wesentlich schneller als das Angebot. Die Sorge um Ver- Ihr eigener Sachverständigenrat für Umweltfragen hat
lässlichkeit und Stabilität der europäischen Hauptener- Sie davor gewarnt, die Laufzeitverlängerungen zu be-
gielieferanten erhöht noch einmal den Handlungsdruck. schließen.
Daher ist aktiver Klimaschutz nicht nur Garant für die (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Eurer doch
wirtschaftliche Selbstständigkeit. Er bietet gleichzeitig auch!)
eine Chance, aus dem Teufelskreis von Knappheit und
Ihr eigener Sachverständigenrat, dem viele unabhängige
Abhängigkeit zu entkommen. Klimaschutz liegt also
kompetente Wissenschaftler angehören, hat gesagt, dass
durchaus im ökonomischen Interesse Deutschlands, weil
das alles kontraproduktiv ist, was die erneuerbaren Ener-
wir uns damit von ausländischen Ressourcen abkoppeln.
gien anbelangt, und dass die Laufzeitverlängerungen in
Als Technologieführer bei den erneuerbaren Energien
die völlig falsche Richtung gehen.
kann Deutschland dabei seine Position weiter ausbauen,
und ich bin auch sicher, dass das gelingen wird. Ökono- Die gehen mit einem Federstrich darüber hinweg und
mische Modernisierung und technologische Innovation – nehmen den eigenen Sachverständigenrat nicht ernst. Sie
das ist der Weg, auf dem wir Wohlstand erreichen, haben es heute sehr schön auf den Punkt gebracht, als
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6863
Dr. Matthias Miersch
(A) Sie sagten, es sei ein Rückschritt in die Räte-Republik, unter Beteiligung vieler Verbände erarbeitet haben, hier (C)
wenn man auf unabhängige Experten hört. einstimmig zu verabschieden. Ich hoffe, dass die Aus-
schussberatungen dazu beitragen werden. Sie sind herz-
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
lich dazu eingeladen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank.
In der Politik muss immer wieder darauf geachtet
werden, dass Taten und Worte übereinstimmen. In der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Umweltpolitik haben wir augenblicklich das Problem, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dass Sie Superlative wählen, um Ihre Konzepte anzu-
preisen, aber die Taten dem in keiner Weise entsprechen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das ist Ihr Problem. Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
Fangen wir mit Kopenhagen an, Herr Hirte. Was ha- erteile ich Kollegen Josef Göppel für die CDU/CSU-
ben wir in Kopenhagen erlebt? Ihre Bundesregierung ist Fraktion das Wort.
dort Verpflichtungen eingegangen und hat finanzielle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zusagen gegenüber anderen Staaten gemacht. Was erle-
ben wir nun? Nichts davon bilden Sie im neuen Haushalt
Josef Göppel (CDU/CSU):
ab. Es sind keine entsprechenden Mittel eingestellt. Wir
werden nichts von dem einlösen können, was wir ver- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe
sprochen haben. Wir schlagen somit mit unserem Verständnis für das Drängen der Opposition und damit
Gesicht auf und können deswegen nicht von anderen auch für den vorliegenden Antrag, ein Klimaschutzge-
Staaten glaubwürdiges Verhalten verlangen. setz zu verabschieden, um all die bestehenden Einzel-
maßnahmen in einen gesetzlichen Rahmen einzubinden.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Allerdings, werte Kollegen von der SPD, haben wir dies
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in der Großen Koalition nicht zustande gebracht. Wir
waren all die Jahre mit konkreten Maßnahmen beschäf-
Mit dieser Politik verspielen Sie auf internationaler
tigt.
Ebene das hohe Ansehen, das sich Deutschland in den
letzten 15 Jahren in diesem Bereich durchaus erarbeitet Ab 2007 ist durch Kanzlerin Merkel das Thema Kli-
hat. maschutz auf die internationale Ebene gebracht worden.
Somit möchte ich Ihnen sagen: Solange Frau Merkel
Es geht aber noch weiter. Die Kürzungen bei den Ge-
Kanzlerin ist, wird es da auch bleiben, weil Frau Merkel
bäudesanierungsprogrammen hat Kollegin Höhn schon
als Physikerin weiß, dass in wenigen Jahrzehnten 9 Mil-
angesprochen. Dann geht es aber auch um den Stil, wie
(B) liarden Menschen auf dieser Erde leben werden und wir (D)
Sie Politik machen. So sagt der Bundesumweltminister
nicht mit den bisherigen Formen der Energieversorgung
erst, mit den großen Vier dürfe man keinen Deal ma-
werden weiterarbeiten können.
chen, einen Monat später erfahren wir aber zufällig, weil
sich ein Verantwortlicher verplappert, dass Sie längst ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nen Geheimvertrag abgeschlossen und in den Schubla- neten der FDP)
den liegen hatten. Auch hier stimmen Worte und Taten
Deswegen ist ja das Energiekonzept aufgestellt worden.
nicht überein. So etwas trägt, wie ich denke, zur Politik-
verdrossenheit bei. Natürlich kann man jetzt fragen, ob nicht die 60 Ein-
zelmaßnahmen, die viele Gesetze berühren, in einem
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
Klimaschutzgesetz gebündelt werden sollten. Ich sage es
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
noch einmal: Ich persönlich bin offen für diese Idee, bin
Wir müssen also, wie ich glaube, einen neuen Politik- aber im Moment nicht davon überzeugt, dass dieses Ver-
stil finden. Es geht nicht darum, in schönen Hochglanz- fahren das richtige wäre; denn es geht darum, eine ganze
broschüren zu schreiben, was man 2050 oder 2025 errei- Reihe von Lebensbereichen im Hinblick auf eine andere
chen will, sondern Politik muss sagen: Das nehmen wir Lebens- und Wirtschaftsweise umzuorientieren.
uns vor, und wir sind bereit, das Erreichen der Ziele re-
Die Gebäudesanierung ist hier angesprochen worden.
gelmäßig kontrollieren zu lassen. Darüber hinaus wollen
Natürlich ist es richtig, die Schaffung von Möglichkeiten
wir ständig überlegen, ob wir nicht weitere Maßnahmen
der steuerlichen Abschreibung von Energiesparinvesti-
ergreifen müssen, wenn wir feststellen, dass das, was wir
tionen in Gebäuden zu prüfen, entsprechend der früheren
erreichen wollen, nicht erreicht wird. – Das Klima-
Regelung in § 82 a der Einkommensteuer-Durchfüh-
schutzgesetz, das die Oppositionsparteien hier nun vor-
rungsverordnung, die eine Abschreibung von jährlich
schlagen, leistet dies.
10 Prozent ermöglichte. Dies war eine entscheidende
Wir treten jetzt im Ausschuss in die Diskussion ein. Maßnahme. Deswegen haben die Umweltpolitiker der
Ich rate Ihnen: Schauen Sie es sich noch einmal genau Union so sehr darauf gedrängt, dass dies im Energiekon-
an! Mit diesem Gesetz könnten tatsächlich erste Schritte zept erscheint. Ich möchte auch den alten bayerischen
unternommen werden, damit Sie wenigstens zum Teil an Vorschlag erwähnen, Energiesparinvestitionen von der
das herankommen, was Sie in Hochglanzbroschüren an- Erbschaftsteuer absetzen zu können. Auch das erscheint
kündigen. Ich lade Sie ein, sich konstruktiv an den Aus- mir in diesem Zusammenhang überlegenswert. Wichtig
schussberatungen zu beteiligen. Vielleicht gelingt es so, ist schließlich eine haushaltsunabhängige Finanzierung
das Klimaschutzgesetz, das wir als Fraktion im Übrigen für erneuerbare Energien im Wärmebereich.
6864 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Josef Göppel
(A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und muss für uns allerdings weiterhin ein Ansporn sein, bei (C)
der FDP sowie der Abg. Cornelia Behm den konkreten Maßnahmen nicht nachzulassen.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Das ist meine abschließende Bitte an die Opposition:
Auch das steht nicht ohne Grund im Energiekonzept. Auf die konkreten Maßnahmen kommt es an. Ich habe
Wenn man all dies zusammennimmt, wird aus meiner eine gewisse Skepsis Zielen gegenüber, die 30 Jahre in
Sicht schon deutlich, dass wir von der Koalition im Ziel der Zukunft liegen. Die konkreten Maßnahmen, die jetzt
mit Ihnen, Frau Kollegin Höhn, Herr Miersch, Herr ergriffen werden, entscheiden über die Fortschritte im
Schwabe, nach wie vor einig sind. Kollege Jung hat es Klimaschutz.
klar gesagt: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis
2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduzieren … Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Der Deutsche Bundestag hat das beschlossen; die Regie- Ich schließe die Aussprache.
rung hat das übernommen. Es ist im deutschen Interesse, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
dass die EU ein 30-Prozent-Ziel verabschiedet. Wir er- den Drucksachen 17/3172 und 17/2485 an die in der Ta-
warten von der Regierung, die wir tragen, dass sie sich gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
jetzt im Vorfeld der Konferenz in Cancún dafür einsetzt; Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
denn es ist im deutschen Interesse. Damit würde ein Er- der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
folg der wichtigen Konferenz in Cancún wahrscheinli-
cher. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ich möchte in dem Zusammenhang auf einen anderen auf Drucksache 17/2318.
Bereich verweisen. Wir haben zu einem gemeinsamen
Antrag zum Schutz der Biodiversität gefunden. Leider Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
wird dieses Thema heute zu später Nachtstunde behan- Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
delt. Deswegen möchte ich schon jetzt anführen: Klima- Fraktion der SPD auf Drucksache 17/522 mit dem Titel
schutz und Artenvielfalt hängen ganz eng zusammen. „Die richtigen Lehren aus Kopenhagen ziehen“. Wer
Das UNEP hat einen Atlas mit den Gebieten der Erde stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
herausgegeben, die eine hohe Artenvielfalt aufweisen. dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
Das sind genau die Gebiete, in denen die größte Kohlen- ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
stoffspeicherung stattfindet. Klimaschutz und Artenviel- Stimmen von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der
(B) falt hängen also zusammen. Fraktion Die Linke angenommen. (D)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
Da, wo hohe Artenvielfalt besteht, sind die Lebensräume fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
widerstandsfähiger gegenüber den Folgen von Klimaver- Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1475 mit dem Ti-
änderungen. Um es ganz praktisch für uns in Deutsch- tel „Klimaschutzziele gesetzlich verankern“. Wer stimmt
land darzustellen: Dort, wo wir Mischwaldbestände ha- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dage-
ben, können zwar auch Borkenkäfer sein; aber sie gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
können nicht alles kahlfressen, weil es da auch noch an- mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die
dere Arten von Bäumen gibt. Dieses Beispiel zeigt, wie Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung von SPD und
sehr die Dinge zusammenhängen. Wir brauchen in Kli- Grünen angenommen.
maschutzfragen eine Gemeinsamkeit. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
Ich will noch einmal auf die aktuelle Situation im Zu- stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
sammenhang mit dem Energiekonzept zu sprechen kom- Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
men, und zwar auf den Bereich der Mobilität. Die Maß- sache 17/132 mit dem Titel „Klimaschutzgesetz vorle-
nahmen, die das Energiekonzept für den Bereich der gen – Klimaziele verbindlich festschreiben“. Wer stimmt
Mobilität vorsieht, sind von Ihnen in der bisherigen De- für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
batte gar nicht angesprochen worden. Ich nehme an, dass Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Sie gegen diese Maßnahmen nichts einzuwenden haben. Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
Es ist entscheidend, dass wir die europäischen Grenz- von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken
werte im Bereich der herkömmlichen Mobilität mit Ben- angenommen.
zin- und Dieselkraftstoffen weiterhin konsequent senken Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 sowie
– so wie der Weg vorgezeichnet ist –, damit auch in die- Zusatzpunkt 3 auf:
sem Sektor ein Beitrag zum Klimaschutz erbracht wer-
den kann. Es darf keiner der drei großen Verbrauchsbe- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
reiche ausgelassen werden: Strom, Heizen und richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
Mobilität. der Unterrichtung
Ich glaube, dass wir im Gesamtkontext nach wie vor Vorschlag für eine Richtlinie …/…/EU des
auf einem guten Weg sind. Dass andere Länder den Weg, Europäischen Parlaments und des Rates
den Deutschland geht, sehr aufmerksam beobachten, über Einlagensicherungssysteme [Neufas-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6865
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) sung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10 Der europäische Gedanke bezieht sich auf das Subsi- (C)
ADD 2) (ADD 1 in Englisch) diaritätsprinzip, das eine wichtige Grundlage ist. Diesem
Prinzip zufolge sollen die staatlichen Aufgaben von der
– Drucksachen 17/2994 Nr. A.23, 17/3239 –
Ebene übernommen werden, die sie am besten und ef-
Berichterstattung: fektivsten regeln kann. Auch bei der Einlagensicherung
Abgeordnete Klaus-Peter Flosbach ist dieses Prinzip zu beachten. Man kann über Mindest-
Manfred Zöllmer standards reden. Man muss aber beachten, dass es bereits
Björn Sänger Standards darüber hinaus gibt, so wie das zum Beispiel
Dr. Gerhard Schick in Deutschland der Fall ist. Es ist gut, dass für alle Anle-
ger in der EU im Falle der Insolvenz eines Kreditinstituts
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten ein einheitliches Schutzniveau errichtet werden soll. Es
Dr. Gerhard Schick, Britta Haßelmann, Fritz ist gut, dass die Stabilität des Bankensystems auf euro-
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion päischer Ebene gestärkt werden soll. Es kann aber nicht
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zum Vorschlag sein, dass neben einer garantierten Mindestabsicherung
für eine Richtlinie des Europäischen Parla- eine Höchstgrenze eingeführt werden soll. Es kann nicht
ments und des Rates über Einlagensicherungs- sein, dass die Europäische Union zu stark in nationale
systeme (Neufassung) KOM-Nr. (2010) 368 Interessen eingreift oder Regeln für Politikgebiete er-
endg.; Ratsdok.-Nr. 12386/10 lässt, für die Brüssel gar nicht zuständig ist.
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
Die vorliegende Richtlinie darf nicht zu einer Verrin-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
gerung des Anlegerschutzes in Deutschland führen. Die
Grundgesetzes
Wettbewerbsgleichheit im deutschen Bankensystem darf
Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale Si- nicht gefährdet werden. Deshalb muss es das Ziel der
cherungssysteme als Modell für Europa deutschen Politik sein, dass die Befreiung der Instituts-
sicherungssysteme von der Pflicht zur Mitgliedschaft in ei-
– Drucksache 17/3191 – nem Einlagensicherungssystem erhalten bleibt, dass eine
Zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen freiwillige Einlagensicherung über die gesetzlich vorgese-
Parlaments liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion hene Deckungssumme von zukünftig 100 000 Euro hi-
der SPD vor. naus erhalten bleibt, dass eine flexible Ausgestaltung der
Höhe der Beitragsbemessung erhalten bleibt und dass im
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die europäischen Finanzsektor durch eine eventuelle Vernet-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre zung der nationalen Sicherungssysteme kein Einstieg in
(B) dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. eine Art Transferunion erfolgt. (D)
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Europa muss lernen, Rücksicht auf die gewachsenen
Peter Aumer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Strukturen und Eigenheiten der Mitgliedsländer zu neh-
men. Gerade das deutsche Bankensystem hat die Finanz-
Peter Aumer (CDU/CSU): krise gut überstanden, dank unserer Sicherungssysteme,
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! dank der engagierten Arbeit unserer Bundeskanzlerin
Heute steht der Vorschlag für eine Richtlinie des Euro- Angela Merkel und des damaligen Finanzministers, aber
päischen Parlaments und des Rates über Einlagensiche- auch dank des Vertrauens, das die Menschen in unsere
rungssysteme auf der Tagesordnung, ein wichtiges Sicherungssysteme haben und hoffentlich auch in Zu-
Thema. Denn es geht um Vertrauen, über das wir heute kunft haben werden. Es gilt, für dieses erfolgreiche Sys-
diskutieren, über das Vertrauen der Sparer und Sparerin- tem der Sicherung einzustehen.
nen, die ihr Geld bei Kreditinstituten, Banken, Sparkas-
sen und Genossenschaftsbanken angelegt haben. Bedenklich sind die EU-Vorschläge insbesondere be-
züglich institutssichernder Systeme, der Finanzierung
In Deutschland haben wir seit jeher ein hohes Siche- von Einlagensicherungssystemen und der Beitragsbe-
rungsniveau für die Spareinlagen. Gerade die Finanz- messung. Lassen Sie uns hier in diesem Hohen Haus ge-
krise der letzten Monate hat uns aber gezeigt, dass es meinsam die Botschaft nach Brüssel schicken, dass wir
nicht nur in Deutschland diese Sicherheit und dieses Ver- zwar alle überzeugte Europäer sind, unsere nationalen
trauen geben muss, sondern auch in den anderen Mit- Eigenheiten aber nicht über Bord werfen wollen. Wir
gliedstaaten der Europäischen Union. Deswegen ist die wollen das behalten, was sich bewährt hat. Deswegen
Zielsetzung einer weiteren Harmonisierung der Einla- sind wir für eine Subsidiaritätsrüge.
gensicherungssysteme, ein hohes Niveau des Einlagen-
schutzes europaweit zu schaffen, grundsätzlich begrü- Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen.
ßenswert. Aber das darf nicht dazu führen, dass die
Harmonisierung auf europäischer Ebene zu einer Verrin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gerung des Anlegerschutzes in Deutschland führt, und es
darf nicht dazu führen, dass das Wettbewerbsgleichge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wicht im deutschen Bankensystem gefährdet wird. Ge- Der Kollege Lothar Binding hat das Wort für die
rade deswegen kann es nicht sein, dass Europa zur Errei- SPD-Fraktion.
chung dieser Ziele über das erforderliche Maß
hinausgeht. (Beifall bei der SPD)
6866 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Beifall bei der SPD – Veronika Bellmann (C)
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! [CDU/CSU]: Und wieso wollen Sie die Rüge
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den inhaltlichen dann nicht unterschreiben? Das verstehe ich
Zielen stimmen wir mit dem überein, was Herr Kollege nicht!)
Aumer gesagt hat: Wir müssen das Bewährte in den Län- Zentrale Begriffe sind „Haftungsverbund der Sparkas-
dern erhalten. Der Kollege Sänger von der FDP hat ges- sen“ auf der einen Seite und „Sicherungseinrichtung der
tern im Ausschuss gesagt: Man muss es auch mal rum- Volksbanken und Raiffeisenbanken“ auf der anderen
sen lassen. – Das ist eine Sache, der wir nicht unbedingt Seite. Das war das bewährte duale System der Siche-
folgen können. Er meinte damit die Subsidiaritätsrüge, rung, das in Deutschland funktioniert hat.
also das schärfste Schwert, das wir haben. Wir wollen
mit diesem schärfsten Schwert vorsichtig umgehen. Diese freiwilligen Sicherungssysteme haben gut
Mein Kollege Manfred Zöllmer hat ein sehr schönes funktioniert, weil sie als institutionensichernde Stüt-
Bild geprägt. Er hat gesagt: Wir haben eine riesige Ka- zungsmaßnahmen verhindern, dass der Entschädigungs-
none und füllen sie mit einer dicken Kugel. Wir zünden fall überhaupt eintritt. Das ist das kluge Instrument die-
das Pulver, und dann rollt die Kugel vorne aus der Ka- ses Systems. Das wollen wir natürlich erhalten. Warum
none und fällt uns auf die Füße. – Das kann mit einer ist das Instrument klug? Weil es präventiv, krisenabweh-
Subsidiaritätsrüge sehr leicht passieren, wenn man die rend wirkt. Dieses System ist einmalig. Ich finde, dass
Instrumente nicht klug wählt. die Kommission einmal überlegen sollte, dieses System
in Europa als Option einzuführen, um auch den anderen
Ich möchte einen Grund nennen, warum wir die Sub- Ländern dieses kluge Sicherungssystem zu eröffnen.
sidiaritätsrüge als kritisch ansehen. Eigentlich ist sie die (Beifall bei der SPD)
Folge dessen, dass wir die Verhandlungen bisher
schlecht geführt haben. Man muss sagen: Wir sind im Schließlich müssen auch wir in Deutschland immer da-
Moment international nicht sehr gut, wenn nicht sogar rauf achten, dass die international gut funktionierenden
schlecht aufgestellt. Ich möchte ein weiteres Beispiel Systeme auch bei uns eingeführt werden. Doch was soll
nennen – das gilt für viele Politikfelder –: Wir haben nur stattdessen passieren? Alle Kreditinstitute in Europa sol-
wenige im internationalen Bereich wichtige Ressorts; len einem Einlagensicherungssystem unterworfen wer-
aber dazu gehört das Ressort von Herrn Niebel. Da läuft den. Das heißt, alles, was besser als das jetzt Vorgeschla-
es im Moment folgendermaßen: Die Kanzlerin ver- gene ist, soll abgeschafft werden. Das wollen wir
spricht etwas. Der Fachminister kämpft dafür. Der natürlich nicht.
Finanzminister kämpft dagegen. Die Koalition beantragt Es gibt aber noch einen gravierenden Fehler in dem
(B) etwas. – Insgesamt entsteht nach außen ein völlig diffu- Vorschlag der Kommission: Die Absicherung der Kun- (D)
ses Bild. Wir beobachten, dass es auch bei den europäi- den soll, wie es heißt, auf 100 000 Euro harmonisiert
schen Verhandlungen keine klare Linie gibt. Ich glaube, werden. Das heißt, es soll eine Begrenzung hinsichtlich
dass man da sehr viel sensibler vorgehen muss. Deshalb der Höhe der Spareinlagen, die man besichern will, ge-
sagen wir: Wir müssen eine kritische Subsidiaritätsstel- ben. Wir sind der Meinung, dass die gegenwärtige, unbe-
lungnahme gegenüber der Kommission abgeben, und schränkte Besicherung das Maß der Dinge sein soll. Wir
wir müssen versuchen, im Europäischen Parlament ent- wollen die Kunden nicht aufgrund einer europäischen
sprechend zu wirken, damit wir uns alle diplomatischen, Harmonisierung schlechterstellen. Um die Dimension
formalen und inhaltlichen Optionen offenhalten. Mit ei- dessen, was das für unsere Sparkassen bedeuten würde,
ner Subsidiaritätsrüge setzt man sich sehr schnell ins Un- deutlich zu machen: Wenn 1,5 Prozent der erstattungsfä-
recht. Deshalb ist es klüger, sich für die Zukunft mehrere higen Kundeneinlagen in den nächsten zehn Jahren aufge-
Verhandlungsoptionen offenzuhalten. bracht werden müssen, sind das mehr als 12 Milliarden
Vielleicht müssen wir mit der Kommission auch noch Euro. Dann gibt es noch eine Nachschussverpflichtung
einmal über die Interpretation der Grundfreiheiten reden; im Wert von 4 Milliarden Euro. Insgesamt wären es also
denn wenn sie die Regeln zu Wettbewerbsgleichheit und 16 Milliarden Euro Zusatzbelastung, die auf die Spar-
Harmonisierung zum Nachteil und nicht zum Vorteil der kassen zukämen. Jeder weiß, was das für die Zinsen, die
Länder auslegt, dann ist die Kommission aus meiner man bei einem Sparbuch bekommt, und für die Zinsen,
Sicht auf dem Holzweg und interpretiert die Ziele der die man für einen Kredit zu zahlen hat, konkret bedeuten
Harmonisierung, der Grundfreiheiten und der Wettbe- würde. Das wollen wir nicht. Deshalb sagen wir: Wir
müssen kritisch über das Thema Subsidiarität reden. Al-
werbsgleichheit völlig falsch.
lerdings sollten wir keine Rüge aussprechen, um uns die
(Beifall bei der SPD) Verhandlungsfreiheiten zu erhalten.
(Beifall bei der SPD – Veronika Bellmann
Der Richtlinienvorschlag greift sehr tief in das Drei-
[CDU/CSU]: Die hat man mit einer Rüge doch
säulensystem der Bundesrepublik ein; das haben Sie
auch!)
schon erwähnt. Die privaten Banken, die Genossen-
schaftsbanken und die Sparkassen wirkten in der Finanz- Wir glauben – das ist die zentrale Kritik –, dass trotz
krise wie Stabilisatoren. Das hat wirklich gut funktioniert. dieser enormen Belastungen die Sicherheit der Einleger
Wenn man das Einzige, was wirklich gut funktioniert, geschwächt würde. Es wäre also teurer und hätte ein
mit einem Richtlinienvorschlag gefährdet, dann kann schlechteres Ergebnis. Diese Politik können wir nicht
das nicht richtig sein. unterstützen. Deshalb ist es gut, dass Koalition und weite
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6867
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) Teile der Opposition diesbezüglich an einem Strang zie- Deshalb begrüßen wir diesen Vorstoß der EU-Kommis- (C)
hen. Wir sagen nur, dass die Idee mit der Rüge etwas zu sion im Grundsatz.
hoch gegriffen ist.
Wir kritisieren allerdings, dass aus deutscher Sicht
Wir von der SPD fordern in unserem Entschließungs- dabei das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet wird. Der
antrag, dass die Bundesregierung im Wesentlichen drei jetzt vorliegende Entwurf ist zu detailliert, ja detailver-
Verhandlungsziele verfolgt. liebt; er reicht vom Deckungsumfang bis zu Einzah-
lungsmodalitäten und Auszahlungsfristen. Sinnvoller
Erstens soll die Pflichtmitgliedschaft in dem neuen
wäre, auf europäischer Ebene Mindeststandards für die
Sicherungssystem aufgehoben werden, sofern es in den
Einlagensicherung zu definieren, die konkrete Ausge-
einzelnen Ländern Sicherungssysteme gibt, die besser
staltung jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten zu über-
als die angebotenen sind. Das heißt, dass die Ausnahme-
lassen. Statt sich auf die Schaffung der notwendigen
regelung für institutsbezogene Sicherungssysteme beste-
Rahmenbedingungen zu beschränken, werden bis ins
hen bleiben soll; wir wollen dies für Deutschland erhal-
Kleinste Festlegungen getroffen, die für einzelne Banken
ten.
– vor allem im anglo-amerikanischen Bankensystem –
Zweitens wollen wir, dass freiwillige Einlagensiche- gut sein mögen, aber eben nicht für alle Banken im EU-
rungssysteme erhalten bleiben und vom Anwendungsbe- Raum. Die Besonderheiten des dreisäuligen Bankensys-
reich der Richtlinie ausgenommen werden können. tems – da sind wir uns ja alle einig – werden in keinster
Weise berücksichtigt. Im Gegenteil: Die bisherige Aus-
Das dritte Hauptziel des Entschließungsantrags der nahmeregelung, die Banken mit institutsbezogenen Si-
SPD ist, dass keine Obergrenzen mit maximalen De- cherungssystemen von der Pflichtmitgliedschaft in ei-
ckungssummen festgelegt werden sollen; denn das ist nem EU-weiten gesetzlichen Einlagensicherungssystem
nicht nur wettbewerbsfeindlich, sondern schadet auch befreit, soll jetzt gestrichen werden. Zusätzlich wird eine
dem einzelnen Einleger. Wettbewerb darf ja nicht so be- Obergrenze für gesetzliche Einlagensicherungen einge-
grenzt werden, dass man sagt: Wenn jemand etwas Bes- zogen.
seres anbietet, verbieten wir das und schaffen so Wettbe-
werbsgleichheit. Dann müssten wir auch bei anderen Das will keiner von uns. Das ist für das deutsche Sys-
Gütern auf qualitativ schlechtere zusteuern, um die Wett- tem hochproblematisch und trifft gerade unsere Spar-
bewerbsgleichheit zu bewahren. Das würde gar keinen kassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken. Die stabili-
Sinn haben und wäre für Europa auch nicht zielführend. sierende Wirkung des deutschen Modells hat sich in der
Deshalb sagen wir: Keine Beschränkungen für ein höhe- Finanzmarktkrise bewährt. Diese Institute schützen be-
res Schutzniveau! Das haben unsere Bürger verdient. Ich reits seit Jahrzehnten ihre Mitglieder innerhalb des eige-
(B) glaube, es ist gut, dass wir hier an einem Strang ziehen. nen Verbundes vor Insolvenz, ohne auf die Steuerzahler (D)
zurückzugreifen, und schützen damit auch die Einlagen
Schönen Dank.
ihrer Kunden vor Verlust. Die Einlagensicherung deut-
(Beifall bei der SPD) scher Institute geht weit über die vorgeschlagene Haf-
tungsgarantie der EU über 100 000 Euro für Privatkun-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: den hinaus.
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Birgit Reinemund für Die Umsetzung dieser Richtlinie, wie sie heute vor-
die FDP-Fraktion. liegt, hätte für Deutschland zwei gravierende Auswir-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kungen: Erstens müssten die deutschen Institute in ein
der CDU/CSU) paralleles System einzahlen, was mit deutlich höheren
Kosten verbunden wäre, und das, obwohl sie das Klas-
senziel schon längst erreicht, ja sogar überschritten ha-
Dr. Birgit Reinemund (FDP): ben. Zweitens würde unser hohes Sicherungsniveau
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und hierzulande auf einen niedrigeren EU-Standard abge-
Herren! Lieber Herr Binding, Sie haben gerade bemän- senkt. Beides ist für die christlich-liberale Koalition
gelt, dass wir nicht klar Stellung beziehen. Genau das nicht akzeptabel.
tun wir aber heute, und das schließt Verhandlungen bei
weitem nicht aus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht, und gut Wir brauchen keine maximale Harmonisierung der
gemeint ist die Neufassung der EU-Richtlinie ganz si- Einlagensicherungssysteme, wir brauchen maximale Si-
cher. Für die FDP-Fraktion kann ich ganz klar feststel- cherheit für die Einlagen der Kunden. Der vorliegende
len: Das Ziel der Europäischen Kommission, eine Min- Vorschlag der Europäischen Kommission verstößt nach
desteinlagensicherung für Banken europaweit einheitlich Auffassung der Koalitionsfraktionen gegen die in Art. 5
zu regeln, ist richtig. Das Ziel, einen europaweit ver- des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft nie-
gleichbaren Schutzrahmen für Bankkunden zu schaffen dergelegten Grundsätze der Subsidiarität und der Ver-
und die Schwachstellen in den bestehenden Einlagen- hältnismäßigkeit.
sicherungssystemen zu beseitigen, ist auch richtig. Das
Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet: Die EU darf ein
ist wichtig, um verloren gegangenes Vertrauen in Ban-
Gesetz nur erlassen, wenn die Mitgliedstaaten selbst des-
ken und Finanzmärkte wieder herzustellen.
sen Ziel nicht ausreichend verwirklichen können. Der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besagt, dass die EU
6868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Birgit Reinemund


(A) nicht stärker als nötig eingreifen darf, um dieses Ziel zu der Genossenschaftsbanken und Sparkassen soll aufgeho- (C)
erreichen. Beides wird hier nicht eingehalten. ben werden. Auch wenn wir das Vorhaben, die Bürger
davor zu schützen, ihre Ersparnisse auf der Bank zu ver-
Insbesondere die weitreichenden Vorschläge zur Fi-
lieren, begrüßen, halten wir dieses Vorhaben für den fal-
nanzierung der Einlagensicherungssysteme und zur Bei-
schen Weg. Ich glaube, in diesem Punkt sind sich alle
tragsbemessung stehen wegen ihres Umfangs und ihrer
Fraktionen im Bundestag einig.
Intensität in keinem Verhältnis. Um die Schwachstellen
der bestehenden Einlagensicherungssysteme der Mit- Wir Linke kritisieren die Nivellierung, die dieser Vor-
gliedstaaten zu beseitigen und die Vorzüge des Binnen- schlag mit sich bringen würde. Es ist von einer Maxi-
marktes für Finanzdienstleistungen auf europäischer malsicherung in Höhe von 100 000 Euro pro Anleger die
Ebene sicherzustellen, ist eine Vollharmonisierung nicht Rede. Man mag sagen, 100 000 Euro seien viel Geld.
erforderlich. In vielen Mitgliedstaaten bestehen bereits Aber einem Bürger, der, beispielsweise für den Erwerb
funktionierende Sicherungssysteme. Eine zusätzliche einer Eigentumswohnung, 200 000 Euro gespart und
Einlagensicherung würde die Sicherheit der Anleger in dieses Geld bei einer Bank angelegt hat, würden, wenn
Deutschland in keiner Weise erhöhen, aber die Wettbe- diese Bank pleitegeht, in Zukunft nur noch 100 000 Euro
werbsbedingungen für Sparkassen und Genossenschafts- erstattet werden. Dadurch würde er im Vergleich zur jet-
banken massiv einschränken. Dies ist mit den Grundsät- zigen Situation, mit der Institutssicherung der Sparkas-
zen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nicht sen und Genossenschaftsbanken, schlechter gestellt.
zu vereinbaren.
Wir sind der Meinung, dass der vorliegende Vor-
Wenn ich mir die vorliegenden Anträge von SPD und schlag nicht zur Bankenrealität in Deutschland passt. Ich
Grünen sowie die Stellungnahme des Bundesrates an- habe meinen Vorrednern zugehört: Es besteht Einigkeit
schaue, stelle ich fest: Wir sind inhaltlich nah beieinander. darin, dass ein Handeln auf EU-Ebene nicht erforderlich
Wir sind uns einig, dass die Vorschläge, die auf europäi- ist und sogar das Subsidiaritätsprinzip verletzt, wonach
scher Ebene gemacht wurden, erhebliche Auswirkungen all das, was vor Ort geregelt werden kann, nicht europa-
auf den gesamten Bankensektor in Deutschland haben weit zu regeln ist.
werden, die in dieser Form nicht akzeptabel sind, da hier-
mit nachteilige Eingriffe in bestehende Strukturen der Fi- Wir werden dem Koalitionsantrag unsere Zustim-
nanzwirtschaft verbunden sind. Doch wie vertreten wir mung geben, insbesondere auch der Subsidiaritätsrüge,
die Belange Deutschlands gegenüber der EU? Geben wir weil wir finden, dass die Subsidiaritätsrüge ein wichtiges
nur den Hinweis: „Ihr macht da etwas, was wir nicht so Signal des Bundestags ist, dass wir die in der Krise er-
gut finden“, oder sagen wir: „Stopp, wir wollen das probten Institutssicherungssysteme der Sparkassen und
nicht“? Genossenschaftsbanken nicht gefährdet sehen wollen.
(B) (D)
Die Koalition hat sich entschlossen, das Kind beim Sie mag vielleicht die Unterstützung der Linken für
Namen zu nennen. Deshalb strengt die Koalition eine Ihren Antrag überraschen; aber im Gegensatz zu Ihnen
Subsidiaritätsrüge an. Das ist ein starkes Signal an Brüs- machen wir unsere Abstimmung vom Inhalt abhängig
sel, das dafür sorgen soll, dass die deutsche Position klar und nicht von der Urheberschaft der Partei.
und deutlich wahrgenommen wird. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Das unterscheidet uns von Ihnen. Sie würden eher be-
Frankreich beurteilt das genauso, Schweden hat sich haupten, dass die Erde eine Scheibe sei, wenn die Linke
gestern in diesem Sinne entschieden, und Österreich und etwas Gegenteiliges in einen Antrag schreiben würde.
Italien prüfen diese Frage gerade. Wir stehen also nicht (Dr. Daniel Volk [FDP]: Dass die Erde eine
allein. Scheibe ist, behaupten Sie!)
Vielen Dank.
Aber das ist kein seriöses Politikverständnis.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich muss aber sehr deutlich sagen: Es gibt sehr wohl
Handlungsbedarf beim Thema Einlagensicherung jen-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: seits der Genossenschaftsbanken und der Sparkassen.
Der Kollege Richard Pitterle hat jetzt das Wort für die Wenn man sich den Fall HRE anschaut, merkt man, dass
Fraktion Die Linke. da nicht alles in Butter ist, wie Sie es hier dargestellt ha-
(Beifall bei der LINKEN) ben. Ich muss Sie fragen: Warum handeln Sie nicht end-
lich? Wenn Sie sagen, es brauche diesen Vorschlag von
der Europäischen Union nicht, dann müssten Sie hier
Richard Pitterle (DIE LINKE):
endlich handeln. Ich habe Ihren Reden eben gut zugehört
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- und nichts dazu vernommen, was Sie machen wollen,
nen und Kollegen! Anlass der heutigen Diskussion ist der um die Einlagensicherung in Deutschland jenseits von
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parla- Sparkassen und Genossenschaftsbanken zu verbessern.
ments und des Rates über Einlagensicherungssysteme.
Sein Inhalt wurde im Wesentlichen schon wiedergegeben: Im Ausschuss wurden von den anderen Oppositions-
Alle Kreditinstitute in Europa sollen gesetzlich verpflich- fraktionen Bedenken gegen die Subsidiaritätsrüge erho-
tet werden, einem Einlagensicherungssystem anzugehö- ben. Es wurde gesagt, wir erreichten vielleicht nicht das
ren, und die bisherige Freistellung der Institutssicherung Quorum. Man braucht ein Drittel der Parlamente, die das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6869
Richard Pitterle
(A) Quorum bilden. Es wurde gesagt, es sei besser, Gesprä- rechtliche oder genossenschaftliche Institute zu schüt- (C)
che zu führen. Nun muss man sagen: Die Subsidiaritäts- zen, sondern Sie schützen auch den Wettbewerbsvorteil
rüge ist eher ein politisches als ein rechtliches Instru- der großen kapitalistischen deutschen Banken. Das ver-
ment. Sie ist auch nicht, wie hier gesagt wurde, das stehe ich nicht. Ich finde das schade; ich finde das ärger-
schärfste Schwert; denn es gibt noch die Subsidiaritäts- lich.
klage. Wir wissen nicht, ob das Quorum erreicht wird.
Jetzt kommen wir aber zu einer neuen Qualität dieser
Die Parlamente einiger Staaten haben sich schon ange-
Debatte. Sie wollen rügen. Der Kollege hat gesagt – ich
schlossen; das ist bereits gesagt worden. Aber wichtig
habe das mitgeschrieben –: Es kann nicht sein, dass
ist, dass durch die Subsidiaritätsrüge eine öffentliche
Brüssel in Bereiche eingreift, für die es nicht zuständig
Aufmerksamkeit erzielt wird, die vielleicht auch andere
ist. – Ich halte das nicht für klug. Ich habe ziemlich
Parlamente motiviert, sich damit auseinanderzusetzen
große Zweifel, ob das Prinzip der Subsidiarität und auch
und ihre Beteiligungsmöglichkeiten wahrzunehmen.
das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hier herangezogen
(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Genau!) werden können. Ich halte es sogar für fahrlässig, dieses
Instrument gerade jetzt zum ersten Mal zu nutzen, wo
Das heißt, das Reden mit dem zuständigen Kommis- aus meiner Sicht alles auf sehr wackeligen Beinen steht.
sar oder mit dem EU-Ausschuss ist keine Alternative zur Dies ist der falsche Sachverhalt, um das Schwert der
Subsidiaritätsrüge. Man kann sowohl öffentlich rügen Rüge zu benutzen.
als auch das Gespräch suchen. Zu beidem fordern wir
die Bundesregierung auf. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Dass Sie diesen Fall jetzt auch noch zum Exempel auf-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: motzen, nutzt nicht den Rechten dieses Hauses, sondern
damit schaden Sie den Rechten dieses Hauses.
Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Peter Aumer [CDU/CSU]: Es geht ja um die
Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sache!)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und – Sie, Herr Kollege Aumer, kommen mit einer Anti-
Herren! Eines sage ich gleich vorneweg und zur Sicher- Brüssel-Rhetorik daher.
heit: Auch wir Grünen kämpfen für das erfolgreiche Mo-
dell der Institutssicherung bei regional operierenden (Peter Aumer [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt
nicht! Da haben Sie nicht aufgepasst!)
(B) Sparkassen und Genossenschaftsbanken. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich kann Ihnen mit einer Düsseldorfer Rhetorik von
sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Heinrich Heine entgegnen:
Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) Nur Narren wollen gefallen; der Starke will seine
Wir wollen, dass regional operierende Institute, Sparkas- Gedanken geltend machen.
sen, Volksbanken und Raiffeisenbanken, das erfolgreiche Ich glaube, es ist wichtiger, dass Sie die inhaltlichen
Modell ihrer Institutssicherung behalten dürfen. Dafür Bedenken, die Sie zu großen Teilen mit uns teilen, gel-
streiten wir mit unserem Antrag, einer Stellungnahme tend machen und sich hier nicht auf den Pfad begeben,
nach Art. 23. wo die Europäische Kommission mit Begriffen wie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) „Wettbewerb“, „Wettbewerbsvorteil“ und „Verwirkli-
chung des Binnenmarktes“ klar darstellen kann, was ihre
Wir wollen aber auch, dass dieses Haus daraus lernt, Position ist und wo die Rechtsposition der Koalition un-
welche Milliardenspritzen es zur Rettung von Privatban- sicher ist. Ich halte es auch für komisch, den Wettbe-
ken in den letzten Jahren aufwenden musste. Nicht zu- werbsvorteil deutscher Banken, vor allem der Großban-
letzt die Rettung der Hypo Real Estate, die uns immer ken, mit der Subsidiarität zu begründen. Sowohl unser
noch beschäftigt, hat doch gezeigt, dass der Einlagensi- Anliegen, regional operierende Sparkassen und Genos-
cherungsfonds der Privatbanken eben nicht in der Lage senschaftsbanken zu schützen, als auch Ihr Anliegen, die
war, einzuspringen, sodass wir mit Steuergeldern ein- Großbanken mit hineinzunehmen, sind inhaltliche An-
springen mussten. Deswegen unterschlagen Sie in der liegen. Diese vertritt man nicht per Rüge, sondern per
Debatte, dass die Großbanken vom vergleichsweise ho- Stellungnahme.
hen Sicherungsniveau in Deutschland auch im europäi-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
schen Wettbewerb profitieren. Die geschützten Einlagen
sind eine sehr günstige Art, um eine Refinanzierung zu Auch wir wollen den Entwurf der Europäischen
gewährleisten. Das Risiko tragen am Ende aber doch die Kommission verändern. Subsidiarität ist das falsche Ar-
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. gument. Wenn Sie hier die Rüge beschließen, dann sind
Sie nicht stark, sondern eher das Gegenbeispiel im Ge-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dicht von Heinrich Heine.
Somit – ich wende mich auch an Sie, verehrte Kollegin-
Vielen Dank.
nen und Kollegen von der Linkspartei – schützen Sie
nicht nur das richtige Ansinnen, regionale öffentlich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
6870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: fen, die in ganz Europa gelten, um sicherzustellen, dass (C)
Michael Stübgen spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak- Bankkunden in ganz Europa einen vergleichbaren Min-
tion. destschutz haben, den es bisher nicht in ausreichendem
Maße gibt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es gibt im Übrigen seit 1994 eine Einlagensiche-
Michael Stübgen (CDU/CSU): rungsrichtlinie der Europäischen Union. Sie ist im Rah-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und men der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 verschärft
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer hier irr- worden – das war notwendig –, und sie wird jetzt noch
lichtert, das werden wir am Schluss dieser Sitzung und einmal geändert.
in den nächsten Monaten noch feststellen. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist
Was mich an den Argumenten der SPD und der Grü- aber keine Mindestregel, sondern eine Höchst-
nen wundert, ist Folgendes: Sie ziehen hier eine inhaltli- regel! Das ist ein wichtiger Unterschied!)
che Debatte vor. Wir alle haben hier offensichtlich die- Das ist grundsätzlich richtig.
selbe Meinung. Das ist richtig, und das finde ich auch
gut so. Das ist ein deutliches Signal des Deutschen Bun- Wenn die Europäische Union tätig werden muss – da-
destages, dass das bewährte System der deutschen Spar- mit komme ich zum nächsten Punkt –, bedeutet das aber,
kassen und Volksbanken richtig ist. Es hat sich auch in dass es einen europäischen Mehrwert geben muss, es also
der Krise bewährt, es ist bürgerfreundlich, und das wol- für die Menschen in Europa besser werden muss. An die-
len wir von Brüssel aus nicht schädigen lassen. ser Stelle frage ich Sie: Wo wird es mit dem Richtlinien-
vorschlag besser, wenn in Zukunft sich diese Rechtset-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zung durchsetzt und unsere Sparkassen und Volksbanken
Wir sind heute aber hier, um innerhalb der Frist, die uns in einen Sicherungsfonds einzahlen müssen, obwohl es
durch den Lissabon-Vertrag vorgegeben wird, zu prüfen, ganz sicher ist, dass sie diesen Fonds niemals in Anspruch
ob diese Regelungsvorschläge der Europäischen Kom- nehmen müssen? Das ist so ähnlich, als wenn wir in
mission gegen den fundamentalen europäischen Grund- Deutschland ein Gesetz machen würden, mit dem wir alle
satz der Subsidiarität verstoßen. Dazu höre ich von SPD Menschen vom Säugling bis zum Greis verpflichten wür-
und Grünen gar nichts, außer der Aussage: Nein, das den, eine Autohaftpflichtversicherung abzuschließen,
verstößt nicht dagegen. – Besser wäre es gewesen, wenn egal ob sie ein Auto oder eine Fahrerlaubnis haben. Die
Sie einmal begründet hätten, warum die Europäische Versicherungen würden sich freuen, aber die Regelung
Union dies Ihrer Meinung nach so regeln kann. wäre falsch.
(B) Ich werde Ihnen jetzt beweisen – selbst in der kurzen Die Europäische Union geht hier über ihre Regelungs- (D)
Zeit, die ich habe –, dass die Europäische Kommission kompetenz hinaus. Denn sie verschlechtert die Wettbe-
mit ihren Vorschlägen ganz klar gegen das Subsidiari- werbsfähigkeit eines nachhaltig funktionierenden Ban-
tätsprinzip verstößt. kensystems der Volksbanken und Sparkassen. Es wird
schlechter und nicht besser.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Sie haben nicht zugehört!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Beim Subsidiaritätsprinzip – das ist natürlich etwas Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


kompliziert, wenn man das erste Mal davon hört; so
Herr Stübgen, hätten Sie Freude an einer Zwischen-
schwer ist es dann aber doch nicht zu verstehen – haben
frage des Kollegen Sarrazin?
wir drei Aspekte zu prüfen.
Erstens. Wenn die Europäische Union in ganz Europa Michael Stübgen (CDU/CSU):
mit seinen 500 Millionen Einwohnern etwas regeln will, An Zwischenfragen des Herrn Kollegen Sarrazin
dann kann sie dies nur – das ist die erste Prüfung –, wenn habe ich immer sehr große Freude.
sie gemäß den europäischen Verträgen das Recht dazu
hat. Bei der Einlagensicherung ist dies unbestritten; das
geht aus Art. 53 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeits- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
weise der Europäischen Union hervor. Das heißt, die Eu- Bitte schön.
ropäische Union kann das regeln. Das wäre also grund-
sätzlich okay. Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Zweitens. Auch wenn die Europäische Union das re- Herr Kollege Stübgen, was die regional operierenden
geln kann, muss sie es nicht unbedingt; denn sie darf es Volksbanken, Raiffeisenbanken und Sparkassen angeht,
sind wir beieinander. Ich möchte aber doch nachfragen.
nur, wenn eine europäische Regelung die einzig mögli-
che Garantie dafür ist, dass es einen vergleichbaren Sie haben den europäischen Mehrwert infrage gestellt.
Schutz in ganz Europa für alle Bürger gibt, und wenn Glauben Sie vor dem Hintergrund, dass die Kommission
zur Verwirklichung des Binnenmarkts eine wettbewerbs-
nur Europa das regeln kann.
verzerrende Situation aufgrund des deutschen Einlagen-
Diese Frage ist im Grundsatz auch positiv beantwor- sicherungssystems bei den Privatbanken mit einem ge-
tet worden. Auch dies stimmt. Denn in einem freien Bin- meinsamen Maximalsatz beseitigen möchte, nicht, dass
nenmarkt muss man vergleichbare Mindestregeln schaf- die Subsidiaritätsrüge nicht angemessen ist, weil Ihnen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6871
Manuel Sarrazin
(A) die Kommission darlegen wird, dass Ihre Argumentation zwischen Nordkap und Sizilien, zwischen Schwarzmeer (C)
nicht schlüssig ist? und Atlantik. Überall muss alles gleich sein. Dann wäre
alles gut. Ich sage Ihnen: Unsere Überzeugung ist, dass
Michael Stübgen (CDU/CSU): das nicht der richtige Weg ist. Es ist gut, dass es Unter-
schiede in Europa gibt. Die Europäische Kommission
Vielen Dank. Denn diesen Punkt wollte ich als Nächs-
bewirkt durch die Gleichschaltung eine Schwächung be-
tes ausführen. Jetzt kann ich ihn in der zusätzlichen Re-
währter Systeme. Dadurch, dass zusätzlich gezahlt wer-
dezeit zur Beantwortung der Frage aufgreifen. Sie haben
den muss, kommt das bewährte System der Sparkassen
recht – darauf wollte ich noch kommen –: Es trifft zu,
und Raiffeisenbanken im Prinzip schlecht weg. Es wird
dass die Europäische Kommission von dem bisherigen
also im Wettbewerb beschädigt.
Grundsatz abgeht, Mindestsicherungsniveaus zu schaf-
fen. Damit sind wir in Europa bisher immer gut zurecht- Das verstößt eindeutig gegen das Verhältnismäßig-
gekommen. Stattdessen kommt sie jetzt auch zu einem keitsprinzip. Denn es ist eine klare Vorgabe: Wenn es im
Höchstsicherungsniveau. Sie argumentiert damit, dass Vergleich zur Vollharmonisierung ein gleich wirksames
das sein müsse. Dabei ist es ein massiver Einschnitt, milderes Mittel gibt, dann ist diesem in jedem Fall der
wenn man plötzlich zur Höchstsicherung kommt. Sie Vorzug zu geben. Das gleich wirksame mildere Mittel ist
sagt, dass das nötig sei, weil es im Zuge der Finanzkrise ganz eindeutig eine Verschärfung der Mindestnorm. Wir
Verschiebungen von Sparguthaben und Einlagen zum finden es richtig, dass in Zukunft statt 50 000 Euro
Beispiel zu den Sparkassen und Volks- und Raiffeisen- 100 000 Euro pro Einlage gesichert werden sollen. Der
banken gab. Das hat aber doch wohl etwas damit zu tun, Vorschlag der Europäischen Kommission ist richtig,
dass die Menschen nicht nur in Deutschland Vertrauen in Banken, die keinem starken, wirksamen Sicherungsme-
dieses bewährte System haben. – Ich bin noch bei der chanismus angehören, zu verpflichten, in einen zu schaf-
Antwort, Herr Sarrazin. fenden Sicherungsmechanismus einzuzahlen. Aber es
gehört auch dazu, dass bewährte Sicherungssysteme, wie
(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sie unsere Sparkassen und Volksbanken, die seit Jahr-
Ich dachte, Sie kommen später dazu!)
zehnten jeder Krise trotzen, haben, wie bisher als voll-
– Nein, das ist noch die Antwort. Es war ja eine umfäng- wertig anerkannt werden. Das ist das mildere Mittel. Das
liche Frage. hätte die Kommission vorschlagen müssen. Da sie das
nicht getan hat und zur Vollharmonisierung greift, ver-
Wenn die Europäische Kommission in der Replik da- stößt sie eindeutig gegen das Subsidiaritätsprinzip.
rauf, dass es in der Tat in Europa Bankensysteme gibt,
die besser sind und bei den Menschen mehr Vertrauen Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(B) erzeugen, auf die Idee kommt, diese Systeme zu zwin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
gen, schlechter zu werden bzw. Mittelmaß wie überall,
dann kann das nicht der richtige Weg sein. Das ist meine
Antwort darauf. Die Kommission geht weiter, als es ihre Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Aufgabe ist. Das ist kein europäischer Mehrwert. Ich schließe die Aussprache.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
der FDP – Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE empfehlung des Finanzausschusses zu dem Vorschlag
GRÜNEN]: Das ist keine Subsidiaritätsfrage! für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Das ist eine inhaltliche Frage!) Rates über Einlagensicherungssysteme. Eine persönliche
Ich komme aber zu einem weiteren Punkt. Dieses Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung liegt vom
Thema haben vor allen Dingen der Bundesrat in seiner Kollegen Luksic vor.1)
Stellungnahme und der federführende Finanzausschuss Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
gerügt. Wir haben in unserer Stellungnahme des Europa- lung auf Drucksache 17/3239, in Kenntnis der Unter-
ausschusses ein anderes Thema, nämlich das dritte richtung eine Entschließung gemäß Protokoll Nr. 2 zum
Prüfraster, genau untersucht und sind zu dem Ergebnis Vertrag von Lissabon in Verbindung mit § 11 des Inte-
gekommen, dass auch das auf jeden Fall ein klarer Ver- grationsverantwortungsgesetzes anzunehmen. Es han-
stoß der Europäischen Kommission gegen die Subsidia- delt sich um eine Subsidiaritätsrüge. Wer stimmt für
ritätsgrundsätze ist. Es geht dabei um die Frage der diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Verhältnismäßigkeit, die im Amsterdamer Subsidiari- Enthaltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung an-
tätsprotokoll eindeutig geregelt ist, und was auch heute genommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, FDP und die
noch im Lissabon-Vertrag eindeutig so weitergilt. Fraktion Die Linke. Dagegen haben gestimmt SPD und
Was heißt Verhältnismäßigkeit? Das bedeutet die Ver- Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen gab es keine.
pflichtung der Europäischen Union, wenn sie zu Rege- Wir stimmen über den Entschließungsantrag der
lungen kommt, die notwendig, nützlich und erlaubt sind, Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3240 ab. Wer
zur Erreichung des Ziels mildeste Mittel anzuwenden. stimmt für den Entschließungsantrag? – Wer stimmt da-
Damit kommen wir zur Wir-Frage. gegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist
Die Kommission neigt gerne dazu, wenn es etwas zu abgelehnt bei Zustimmung durch die einbringende Frak-
regeln gibt, zum Instrument der Vollharmonisierung zu
greifen. Das heißt Gleichschaltung von ganz Europa, 1) Anlage 3
6872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) tion. CDU/CSU und FDP haben dagegengestimmt. Arbeit der Bundesbank beklagen. Die Bundesbank ist (C)
Bündnis 90/Die Grünen und Linke haben sich enthalten. für die Preisstabilität und den Zahlungsverkehr verant-
wortlich. Sie hütet unsere Währungsreserven und vertritt
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
unsere Interessen auf europäischer Ebene. Ich denke, das
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3191
läuft hervorragend. Das ist in der Vergangenheit – teil-
mit dem Titel „Einlagen bei Finanzinstituten: Dezentrale
weise unter erschwerten Bedingungen – hervorragend
Sicherungssysteme als Modell für Europa“. Wer stimmt
gelaufen.
für diesen Antrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Antrag ist ebenso abgelehnt bei Zustimmung durch (Beifall bei der FDP)
die einbringende Fraktion. Dagegen haben die Koali-
Die Bundesbank hat die Währungsunion mit der ehema-
tionsfraktionen gestimmt. SPD und Linke haben sich
ligen DDR organisiert. Sie hat die Euro-Einführung or-
enthalten.
ganisiert. Das alles ist gut gelaufen. Sie ist dabei poli-
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 8 auf: tisch immer unabhängig geblieben. Auch das war nicht
immer so einfach. Da sind insbesondere von einer Seite
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dieses Parlamentes einige Ansprüche gestellt worden.
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Also, damit sind wir zufrieden.
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Aber vielleicht geht es um die Qualität der handeln-
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ den Personen, der Vorstände der Bundesbank. Da gab es
DIE GRÜNEN sicherlich in der Vergangenheit das eine oder andere Ge-
spräch, die eine oder andere Diskussion; aber ganz gene-
Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvor- rell ist es doch so, dass die Qualität der Bundesbank-
ständen reformieren vorstände in der Vergangenheit hervorragend war. Wir
– Drucksachen 17/798, 17/1075 – hatten beeindruckende Zentralbankpersönlichkeiten, die
an der Spitze der Bundesbank gestanden haben.
Berichterstattung:
Abgeordnete Leo Dautzenberg (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Dr. Gerhard Schick Insofern halte ich es schon für sehr, sehr gewagt, in die-
Vorgesehen ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie- sem Antrag die Qualität des Bundesbankvorstandes pau-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann schal zu diskreditieren.
verfahren wir so. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(B) Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für Die aktuellen Vorstände sind ein gutes Team. Sie sind (D)
die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ralph Brinkhaus. gut zusammengesetzt und machen eine gute Arbeit. Wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) haben heute einen weiteren Vorschlag bekommen. Die-
ser Vorschlag wird dazu beitragen, dass die Qualität
noch weiter steigen wird.
Ralph Brinkhaus (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Ein dritter Punkt, warum ich nicht zufrieden bin,
raten heute über einen Antrag der Grünen, die die Aus- könnte sein, dass ich sage: Na ja, die sind von einer Regie-
wahl der Bundesbankvorstände reformieren möchten. rung, vom Bundesrat ins Rennen geschickt worden, viel-
Wie läuft das bisher? Bisher ist es so, dass der Bundes- leicht ist es so, dass die dann parteipolitisch handeln. – Ich
präsident einen Bundesbankvorstand bestellt, dass der glaube, das ist gerade nicht der Fall gewesen. Die Bun-
Präsident und der Vizepräsident der Deutschen Bundes- desbankvorstände waren immer zwei Prinzipien ver-
bank sowie ein einfaches Mitglied auf Vorschlag der pflichtet: der Preisstabilität und auch der Marktwirt-
Bundesregierung bestellt werden und dass drei weitere schaft. Das hat ganz hervorragend geklappt. Wenn man
Vorstände auf Vorschlag des Bundesrates bestellt wer- natürlich Preisstabilität und Marktwirtschaft als partei-
den. Alle sechs müssen fachlich geeignet sein, eine sol- politisch betrachtet, dann mag es so sein, dass die Bun-
che Position zu bekleiden. desbankvorstände parteipolitisch gehandelt haben.
Wenn ich dieses Verfahren reformieren möchte, dann Ich fasse das zusammen. Die Ergebnisse des bisheri-
muss ich Gründe dafür haben. Ein Grund könnte darin gen Verfahrens waren so schlecht nicht. Das kann ei-
liegen, dass ich mit den Ergebnissen dieses Verfahrens gentlich nicht die Ursache dafür sein, dass man es än-
nicht zufrieden bin. dern möchte.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich sage nur: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Sarrazin!)
Zweiter Punkt. Vielleicht haben Sie ja ein besseres
Ein zweiter Grund könnte sein, dass ich ein besseres Verfahren, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grü-
Verfahren habe. Fangen wir mal einfach mit den Ergeb- nen.
nissen dieses Verfahrens an. Warum könnte ich denn
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
vielleicht nicht zufrieden sein? Zum Beispiel, wenn der
Das steht im Antrag!)
von diesem Vorstand, der so bestellt worden ist, geleitete
Apparat, das Institut der Bundesbank, schlecht arbeitet. Das Verfahren – um es kurz vorzustellen – beginnt da-
Ich glaube, wir können uns nicht über die Qualität der mit, dass man eine öffentliche Ausschreibung macht,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6873
Ralph Brinkhaus
(A) dass in einem zweiten Schritt die Bundesregierung vor- Mitglieder des Finanzausschusses über die entspre- (C)
sortiert, in einem dritten Schritt der Finanzausschuss mit chende Expertise verfügen, das Ganze überhaupt beur-
den verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten eine teilen zu können? Sie schreiben in Ihrem Antrag: Ein
Anhörung macht und in einem vierten Schritt dann das Bundesbankvorstand muss ein guter Geldpolitiker sein.
Parlament ohne Beteiligung des Bundesrates die entspre- Geldpolitische Expertise im Finanzausschuss ist sicher-
chenden Vorstände wählt. lich bei dem einen oder anderen gegeben. Außerdem soll
ein Bundesbankvorstand führen und organisieren kön-
Fangen wir mit der öffentlichen Ausschreibung an. nen. Ob so viele Mitglieder des Bundestages die Exper-
Dahinter steht der Gedanke, dass man bessere und quali- tise mitbringen, dass sie tatsächlich schon einmal geführt
fiziertere Kandidaten bekommt, als das vielleicht in der oder organisiert haben, das wage ich bei dem einen oder
Vergangenheit der Fall war. Wenn wir das jetzt vom Fall anderen zu bezweifeln. Darüber hinaus soll ein Bundes-
der Bundesbank abstrahieren, dann ist es durchaus ein bankvorstand internationale Erfahrung besitzen; das
ehrenwertes, ja geradezu ein notwendiges Ansinnen, spielt auch immer eine große Rolle. Wir können uns ja
dass wir darauf achten, dass die Qualität und die fachli- einmal unsere Biografien anschauen und dann sagen,
che Expertise der Menschen, die für uns in Spitzenposi- wer internationale Erfahrungen hat. Ich muss sagen: Po-
tionen in Verwaltung und Politik arbeiten, gut ist. Das ist litisch können wir die ganze Sache sicherlich gut ein-
überhaupt keine Frage. schätzen; aber an der einen oder anderen Stelle sollten
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) wir doch ein bisschen mehr Demut walten lassen, was
unsere tatsächlichen Fähigkeiten angeht.
Ob das durch eine öffentliche Ausschreibung garantiert
wird, wage ich zu bezweifeln; denn wer so ein bisschen Die zweite Frage, die sich bezüglich solcher öffentli-
in die Landschaft hineinschaut, der weiß, dass Spitzen- chen Anhörungen stellt: Wie wird das Ganze ablaufen?
positionen eigentlich weniger durch öffentliche Aus- Ich kann es Ihnen prophezeien. Es wird so ablaufen: Die
schreibungen, sondern mehr durch Direktansprache be- Koalitionsfraktionen werden die Kandidaten, die die
setzt werden. Insofern ist da der eine oder andere Regierung ausgewählt hat, verteidigen. Die Opposition
Zweifel angebracht. wird sich einen Spaß daraus machen, zu versuchen, diese
Kandidaten auf das Glatteis zu führen, nicht unbedingt
Ich denke, wir müssen viel, viel mehr darauf achten aus fachlichen Gründen, sondern ganz einfach funktio-
– das gilt eigentlich für alle Bereiche –, dass wir einen nal, um der Regierung zu schaden.
größeren Wechsel, einen größeren Austausch zwischen
Wirtschaft und Wissenschaft auf der einen Seite sowie (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir ma-
Politik und Verwaltung auf der anderen Seite haben. Und chen es objektiv!)
(B) das funktioniert in Deutschland – insofern ist der An- Insofern frage ich mich: Wer von den Spitzenkräften (D)
spruch dieses Antrages vielleicht nicht ganz falsch –
noch nicht gut genug. Wir brauchen mehr Austausch. wird sich dieses öffentliche Tribunal antun? Ich habe
Dafür müssen wir aber auch arbeiten. Wir müssen näm- Zweifel, dass das funktionieren wird.
lich daran arbeiten, dass wir den Menschen, die dann Vierter Schritt: Der Bundestag entscheidet. Ich frage
beispielsweise aus der Wirtschaft in Spitzenpositionen mich: Hat der Bundestag dann eine andere Mehrheit als
der Politik und der Verwaltung wechseln, auch ein ent- die jeweilige Regierung? Wahrscheinlich nicht. Insofern
sprechendes Umfeld geben. Viele scheuen sich, weil sie ist also auch da eine gewisse Inkonsequenz enthalten.
sich einfach sagen: Das tue ich mir doch nicht an, mich Ganz entscheidend dabei ist: Im letzten Satz der An-
so öffentlich zu exponieren, mich für jede Kleinigkeit tragsbegründung wird kurz über den Bundesrat hinweg-
beschimpfen zu lassen. – Insofern müssen wir da einige gewischt. Es wird gesagt: Das ist ein Relikt aus vergan-
Hausaufgaben machen. Wir könnten jetzt noch über Be- genen Zeiten. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den
zahlung und ähnliche Dinge reden. Insofern: Öffentliche Grünen, wir können sicherlich gerne und ausführlich
Ausschreibung reicht da nicht. Der Anspruch, dass wir über unser föderales System diskutieren, dabei haben Sie
gute Leute gewinnen müssen, ist in Ordnung und richtig. mich sicherlich an der einen oder anderen Stelle an Ihrer
Zweiter Schritt ist, dass die Bundesregierung eine Seite. Aber anlässlich der Bestellung der Bundesbank-
Vorauswahl treffen soll. Das wundert mich jetzt ein biss- vorstände mit einem Federstrich das sehr austarierte Ver-
chen. Ich finde es ja gut in der Konsequenz, aber Sie ha- fahren, die Balance zwischen Bundesrat und Bundestag
ben in Ihrem Antrag der Bundesregierung eigentlich außer Kraft setzen zu wollen, das halte ich für abenteuer-
abgesprochen, dass sie eine vernünftige Auswahl ma- lich. Das ist mit uns nicht zu machen.
chen kann. Jetzt sagen Sie, sie soll vorsortieren. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
passt nicht ganz zusammen.
Ich fasse das Ganze zusammen. Der Anspruch, mehr
Der dritte Schritt ist sehr, sehr interessant, meine Da-
Spitzenkräfte für Spitzenpositionen in Verwaltung und
men und Herren: öffentliche Anhörung im Finanzaus-
Politik zu gewinnen, ist durchaus gerechtfertigt. Dass
schuss. Ich stelle mir vor, wie das Ganze laufen wird.
wir dabei am Rekrutierungs- und Auswahlverfahren an-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: setzen, das halte ich auch nicht für falsch, weil es ein
Gängige Praxis in Großbritannien!) entscheidender Punkt ist.
Die erste Frage, die sich bezüglich solcher öffentli- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen Anhörungen stellt: Inwieweit ist gesichert, dass die NEN]: Das ist doch ein guter Ansatz!)
6874 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Ralph Brinkhaus
(A) Das ist eine gute Sache. Dass man ausgerechnet die Bun- optimales Verfahren gibt, das gegenüber dem jetzigen zu (C)
desbank dafür als Beispiel nimmt, halte ich angesichts bevorzugen wäre.
der Qualität der Arbeit der Bundesbank doch für weit
hergeholt. Im Übrigen hat das Verfahren, das Sie da auf (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
den Weg bringen wollen, durchaus Schwachpunkte, wie Aber Änderungsvorschläge haben Sie nicht
ich gerade erläutert habe. Was gar nicht geht, ist, dass gemacht!)
wir durch Ihren Vorschlag die Balance zwischen Bun- Die Grundidee des Antrags ist sicherlich gar nicht so
desrat und Bundestag, zwischen Ländern und Bund aus schlecht; denn die Diskussion über die fachliche Qualifi-
dem Gleichgewicht bringen. kation der Verantwortlichen im Finanzbereich darf na-
türlich auch bei der Bundesbank nicht haltmachen. Für
Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen. Für
uns ist eine gut funktionierende Bankenaufsicht ohne
Diskussionen darüber, wie wir die Qualität der in Politik
Zweifel notwendig. Deswegen verschließen wir uns
und Verwaltung handelnden Personen steigern können, grundsätzlich natürlich auch nicht verfahrenstechnischen
sind wir gerne zu haben. Lassen Sie uns dies fortsetzen! Neuregelungen.
Danke schön. (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schläge haben Sie aber nicht gemacht!)
Dennoch muss man jetzt einmal auf Ihren Vorschlag
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: eingehen. Was mich schon ein bisschen verwundert hat
Das Wort hat der Kollege Martin Gerster für die SPD- – das habe ich auch schon im Ausschuss deutlich ge-
Fraktion. macht –, ist, dass es in der Begründung ganz plakativ
heißt: „Kompetenz vor Parteibuch und Regionalpro-
(Beifall bei der SPD) porz“. So etwas sollten wir uns im Deutschen Bundestag
verkneifen. Wir dürfen nicht so tun, als schließe ein Par-
Martin Gerster (SPD): teibuch oder eine Mitgliedschaft in einer Partei Kompe-
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! tenz aus.
Bei der Einführung des Euros sagte der französische (Beifall bei der SPD)
Staatsmann Jacques Delors:
So etwas kann man einfach nicht verbreiten, weil man
Nicht alle Deutschen glauben an Gott; aber alle damit der grassierenden Parteien- und Politikverdrossen-
glauben an die Bundesbank. heit Vorschub leistet.
(B) Auch das hätte letztendlich vom Kollegen Brinkhaus Jetzt schauen wir uns einmal Ihr Verfahren an – Kol- (D)
kommen können. Trotzdem muss man sagen, dass in den lege Brinkhaus ist auch schon darauf eingegangen –: In
letzten Monaten Zweifel geäußert worden sind. Auch dem vierstufigen Verfahren, das Sie jetzt vorgeschlagen
hier hat die Finanzkrise Spuren hinterlassen: Es ist Kritik haben, entscheidet de facto doch noch viel mehr der Par-
geäußert worden, beispielsweise am bestehenden Aus- teienproporz. Zunächst einmal gibt es eine öffentliche
wahlverfahren. Auch so manche fachliche Eignung, was Ausschreibung; das mag man ja noch gutheißen. Aber
die Verantwortlichen im Finanzbereich anbelangt, ist an- bei der Vorauswahl durch die von der Parlamentsmehr-
gezweifelt worden. Natürlich ist das auch an der Bun- heit getragene Bundesregierung sind natürlich Parteien
desbank nicht einfach so vorbeigegangen. dabei. Dieselben Parteien stellen dann auch die Mehrheit
im Finanzausschuss, in dem sich die Kandidaten und
Wir sind sehr froh, dass der rheinland-pfälzische Mi-
Kandidatinnen – vielleicht gibt es auch einmal eine Kan-
nisterpräsident Beck, der zusammen mit dem saarländi- didatin – vorstellen. Auch dort ist die entsprechende
schen Ministerpräsidenten das Vorschlagsrecht für die Mehrheit wieder gegeben. Letztendlich soll im Plenum
Neubesetzung hat, gegenüber dem Bundesbankvorstand des Deutschen Bundestages darüber abgestimmt werden,
gleich klargestellt hat: Fachkompetenz ist das entschei- wer zum Zuge kommt. Wer entscheidet denn dann da?
dende Kriterium bei dieser Besetzung. Wir glauben, dass Es sind auch wieder die Parteien. Deswegen sind Ihr
dies bei dem Namen, der heute über den dpa-Ticker Vorschlag und dessen Begründung überhaupt nicht stim-
läuft, letztendlich der Fall ist. Es ist richtig, aktuell nicht mig.
über das Berufungsverfahren zu diskutieren, sondern,
wie es im Antrag der Grünen vorgesehen ist, über die (Beifall bei der SPD)
Perspektiven, was dieses Berufungsverfahren anbelangt.
Nach unserer Auffassung wird also das Problem eher
Wir haben auch im Finanzausschuss darüber gespro-
noch verschärft, als dass es gelöst würde.
chen. Es ist ja nicht neu, was die Grünen hier vorlegen.
Vielmehr haben wir dies schon im Februar, März im Fi- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ma-
nanzausschuss diskutiert. Ich muss sagen, dass ich schon chen Sie doch mal eigene Vorschläge!)
ein bisschen enttäuscht bin, weil wir vonseiten der SPD
bereits im Ausschuss unsere Bedenken deutlich gemacht An die Mitbestimmung der Bundesländer möchte ich
haben, was das neue Verfahren anbelangt, das Sie vor- nicht heran, weil ich glaube, dass die Bundesländer hier
schlagen. auf jeden Fall mitreden sollten; ich nenne an dieser
Stelle nur das Stichwort Landesbanken. Es ist eine Er-
Grundsätzlich müssen wir sicherlich auch darüber rungenschaft unseres föderalen Systems, dass unsere
diskutieren, ob es vielleicht ein besseres Verfahren, ein Länder bei Gremienbesetzungen mitentscheiden können.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6875
Martin Gerster
(A) Trotzdem gibt es Fragen, über die wir in den nächsten Man sollte auch einmal in die Geschichte der Rege- (C)
Wochen und Monaten noch einmal reden müssen. Ich lung zur Besetzung des Bundesbankvorstands schauen.
denke da zum Beispiel an die Frage, ob wir wirklich Die Besetzung wurde zuletzt im Bundesbankgesetz in
sechs Mitglieder im Bundesbankvorstand haben müssen. der Fassung vom 23. März 2002 unter einer rot-grünen
Ich sehe, dass es eine Verschiebung der Aufgaben gibt, Bundesregierung geregelt, beschlossen mit den Stimmen
beispielsweise durch die Einführung des Euros wichtige der rot-grünen Koalition in diesem Parlament. Insofern
Beratungsfunktionen zur internationalen Finanzmarktre- ist das wieder ein Beispiel dafür, dass Sie sich von Ent-
form oder auch offene Fragen bei der Aufsicht. Wenn scheidungen, die Sie in der Regierungsverantwortung
wir BaFin und Bundesbank in puncto Aufsicht an- getroffen haben, in der Opposition einfach mal so mir
schauen, ergibt sich daraus vielleicht auch noch eine nichts, dir nichts verabschieden wollen.
neue Aufgabenstellung. Ihr Europaabgeordneter Sven
Giegold geht ja in eine ganz andere Richtung. Er macht (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
die Frage auf, ob wir nicht durch eine ganz andere Ein- Nur wer sich ändert, bleibt sich treu! Das wis-
gruppierung bei der Vergütung erreichen müssen, dass sen Sie doch!)
dieser Job für die Besten aus der Branche mit entspre- Was hier vorliegt, ist ein absoluter Schnellschuss
chender Expertise attraktiv ist. Auch diese Frage muss – Kollege Gerster hat es schon ausgesprochen –, ein
im Hinblick auf die Bundesbank diskutiert werden. Im Schnellschuss aus der Opposition heraus, um sozusagen
Übrigen weist unsere Kollegin Ingrid Arndt-Brauer da- vergessen zu machen, was Sie in Ihrer Regierungszeit
rauf hin, dass wir darüber diskutieren müssen, ob es getan haben.
nicht an der Zeit ist, dass eine Frau in den Bundesbank-
vorstand kommt. Vielleicht sollten wir auch dafür eine (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
entsprechende Regelung andenken. Wenn es so schlimm ist, warum ändern Sie es
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) dann nicht?)

Fazit: Die Absichten sind okay. Wir nehmen Ihren Wir als FDP-Fraktion haben uns damals intensiv in
Antrag als Denkanstoß mit, um zu überprüfen, ob es die Beratungen eingebracht. Wir haben sehr wohl auf die
nicht vielleicht doch ein besseres Verfahren, ein optima- Gefahr einer politischen Einflussnahme durch das Ver-
les Verfahren gibt. Was heute vorliegt, ist, ehrlich gesagt, fahren, das damals dann ins Gesetz geschrieben wurde,
ein Schnellschuss, noch dazu einer mit altem Pulver aus hingewiesen.
dem Frühjahr. Es ist schade, dass Sie unsere Anregungen (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
nicht aufgenommen haben. Warum halten Sie heute daran fest?)
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nichtsdestotrotz haben Sie das Gesetz durchgeboxt, (D)
(B) Welche denn?) wollen damit aber jetzt nichts mehr zu tun haben.
Wir sind dafür, zu überlegen: Was passt für den bundes-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
deutschen Föderalismus? Wie bekommen wir die Besten
Dazu stehen wir!)
für diese wichtige Aufgabe? – Das sollte unsere Marsch-
route sein. Das Vorschlagsrecht des Bundesrates, also der Bun-
Ihr Vorschlag ist ein Denkanstoß, aber sicher nicht die desländer, halte ich für eine ganz wesentliche Kompo-
optimale Lösung. Deswegen werden wir Ihrem Antrag nente der Regelung im Bundesbankgesetz; denn ich
heute leider nicht zustimmen können. glaube, dass eine Verteilung des Vorschlagsrechts auf
unterschiedliche Akteure eher geeignet ist, eine politi-
Danke schön. sche Einflussnahme auszuschließen, als eine Konzentra-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tion auf Bundesregierung und Bundestag.
der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


Der entscheidende Punkt ist: Bei mehreren Akteuren ist
eine politische Einflussnahme weniger leicht möglich.
Der Kollege Dr. Daniel Volk hat das Wort für die
FDP. Sie haben vorgeschlagen, dass nach der öffentlichen
(Beifall bei der FDP) Ausschreibung und Vorsortierung der Bewerbungen
durch die Bundesregierung der Finanzausschuss eine öf-
fentliche Anhörung durchführt, so nach dem Motto:
Dr. Daniel Volk (FDP): Deutschland sucht den Superbanker. Dann dürfen die
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten alle dort antanzen, und dann dürfen sich die Mitglieder
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! des Finanzausschusses ein Bild machen. Ich wage, ehr-
Mit ihrem Antrag verspricht uns die Fraktion Die Grü- lich gesagt, nicht so genau zu sagen, wie das in einer sol-
nen fachliche Exzellenz an der Spitze der Bundesbank. chen Finanzausschusssitzung ausgehen wird. Möglicher-
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weise ist es sogar eine öffentliche Sitzung, eine
Das müsste der FDP doch eigentlich entgegen- öffentliche Vorführung, und der Finanzausschussvorsit-
kommen!) zende übernimmt die Rolle von Dieter Bohlen.
„Gut gemeint“ und „gut gemacht“ sind allerdings auch (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
hier zwei unterschiedliche Dinge. NEN]: So ein Schwachsinn!)
6876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Daniel Volk


(A) Ich glaube, dass ein solches Verfahren der Wichtigkeit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
dieses Amtes in keiner Weise gerecht werden könnte. Axel Troost hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das kann
man nur noch mit Humor nehmen!) (Beifall bei der LINKEN)
Ich möchte noch auf eines hinweisen. Es gibt ein ehe-
Dr. Axel Troost (DIE LINKE):
maliges Bundesbankvorstandsmitglied, das durch Tätig-
keiten neben seiner eigentlichen Vorstandstätigkeit Auf- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sehen erregt hat. Dieses Mitglied war von den Ländern Es ist richtig, sich anlässlich der Zusammensetzung des
Berlin und Brandenburg vorgeschlagen worden. Ich Bundesbankvorstandes Gedanken über die Wahl des
habe einmal herausgesucht, was der damalige und im- Gremiums zu machen. Das ist auch notwendig, nachdem
mer noch im Amt befindliche Regierende Bürgermeister wir nun wissen, wie schwierig und teuer es ist, offen-
von Berlin, Klaus Wowereit, damals über diese Person sichtliche Fehlbesetzungen wieder loszuwerden. Von da-
gesagt hat: her begrüßen wir den Antrag der Grünen.
Fachliche Eignung – nicht Regionalproporz und Par-
Mit Sarrazin geht einer der profiliertesten Finanz-
teibuch – muss bei der Besetzung des Bundesbankvor-
politiker nicht nur des Landes Berlin, sondern in
standes ausschlaggebend sein.
der Bundesrepublik Deutschland.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und
(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Hört!)
Eine öffentliche Ausschreibung von Vorstandsposten
Weiter sagte er über Sarrazin: entspricht durchaus diesem Ziel. Auch eine Anlehnung
an international erfolgreich praktizierte Besetzungsver-
Ich lasse ihn ungern ziehen.
fahren ist zu begrüßen.
(Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tatsächlich sind die wohldotierten und prestigeträch-
NEN]: Wenn der sich nur um die Finanzpolitik tigen Posten beim Bundesbankvorstand in den letzten
gekümmert hätte, wäre es ja in Ordnung gewe- Jahren etliche Male an verdiente Parteikollegen verge-
sen!) ben worden. Der mit goldenem Handschlag verabschie-
In einer öffentlichen Anhörung werden möglicher- dete Sarrazin – das ist eben noch einmal dargestellt wor-
weise auch solche Überzeugungen geäußert, die sich ein den –
(B) paar Jahre später als falsch erweisen. Insofern wird viel- (Dr. Daniel Volk [FDP]: Rot-Rot in Berlin hat (D)
leicht auch durch das von Ihnen vorgeschlagene Verfah- es gemacht!)
ren wohl die eine oder andere Fehleinschätzung bei der
Besetzung von Bundesbankvorstandsposten nicht ver- stellt aus unserer Sicht das abschreckendste Beispiel da-
mieden werden können. für dar. Herrn Sarrazin kann man nur wünschen: Allah
gebe ihm Verstand!
Im Übrigen sehen wir in dem von Ihnen vorgeschla-
genen Verfahren tatsächlich eine Gefährdung, vielleicht (Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit der Abg.
sogar einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Bundes- Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] –
bank. Ich möchte schon noch einmal darauf hinweisen, Dr. Daniel Volk [FDP]: Wer war denn da in
was die Bundesbank in den Zeiten der Finanzkrise für Berlin an der Regierung?)
dieses Land getan hat und mit welch unglaublich hohem – Ja, aber Moment: Parteiproporz betrifft nicht nur die
Ansehen die Bundesbank in diesem Land agiert. Dem- eine oder die andere Partei, sondern das trifft für alle hier
entsprechend sind wir als FDP eigentlich schon immer, zu. Da will ich gar keine Ausnahmen machen. Ich finde
traditionell, Verfechter der Unabhängigkeit der Bundes- es schon bedenklich, dass daraus letztlich keine Konse-
bank. Wir werden schon allein aus diesem Grund Ihrem quenzen gezogen werden.
Antrag nicht zustimmen können, weil wir einfach eine
Gefährdung der Bundesbank sehen. Es ist auch nicht richtig, hier von Schnellschuss zu
sprechen. Es geht ja nicht um eine Sofortabstimmung
Außerdem wird solch ein Schnellschussantrag, wie über irgendetwas; der Antrag liegt vielmehr schon seit
Sie ihn hier vorgelegt haben, wenig tauglich für die Pra- langer Zeit vor und ist im Finanzausschuss behandelt
xis sein. worden.
(Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber geändert worden
Sie erinnern sich schon, dass er seit acht Mo- vom Antragsteller!)
naten hier im Hause liegt?)
Selbst wenn man nicht dem Antrag folgen will, hat das
Dementsprechend werden wir Ihrem Antrag nicht zu- jetzt nicht dazu geführt, dass man sich einmal Gedanken
stimmen. macht, auf welche andere Weise die Besetzung realisiert
werden könnte.
Vielen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6877
Dr. Axel Troost
(A) Klar ist doch, dass eine öffentliche Ausschreibung et- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
was ganz anderes ist, als wenn die Besetzung ausschließ-
lich in Parteigremien ausgemauschelt wird. Das ist im Wir hatten gehofft, jetzt sei der Zeitpunkt günstig, end-
Augenblick sozusagen das Verfahren, um auf die Vor- lich einmal frei von irgendwelchen Personalspekulatio-
schlagsliste zu kommen. Insofern finden wir, dass das nen darüber zu sprechen, inwieweit sich das bisher gel-
Grundanliegen völlig richtig ist und man dem auch fol- tende Personalauswahlverfahren bewährt hat oder eben
gen sollte. nicht. Die heutige Debatte ist jedoch durchaus davon be-
einflusst, dass von dpa gemeldet wurde, es gebe den
Trotzdem glauben wir, dass der Antrag der Grünen neuen Vorschlag, dass Joachim Nagel, bisher Leiter des
insgesamt zu kurz greift. Selbst wenn man im Rahmen Zentralbereichs Märkte bei der Bundesbank, in den Vor-
einer Vorstandsbesetzung versucht, den besten Volkswirt stand wechselt. Wir begrüßen zunächst, dass bei dieser
zu finden, ist derjenige, der auf diese Weise in das Gre- Person offenbar nicht das bisherige Verfahren gewählt
mium kommt, wegen der ausschließlichen Ausrichtung worden ist: Der Bundesbankvorstand ist eine wunderbare
der Bundesbank auf das Ziel der Preisstabilität weitest- Endlagerungsstätte für altgediente Politikerinnen und
gehend gebunden und nicht in der Lage, eine aus unserer Politiker.
Sicht notwendige umfassende Politik zu machen, das
heißt, die Politik der Bundesbank wie dann eben auch Nichtsdestotrotz: Diese Personalentscheidung, die
der Europäischen Zentralbank an gesamtwirtschaftlichen richtiger erscheint, löst nicht das strukturelle Problem,
Zielsetzungen auszurichten. das hier vorliegt. Deswegen ist dieser Antrag eine Einla-
dung an Sie zur Debatte; leider haben Sie sie heute aus-
Die Bundesbank ist aus unserer Sicht auf die Ziele geschlagen.
des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes zu verpflichten,
nämlich Beschäftigung zu erhöhen, angemessenes au- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
ßenwirtschaftliches Gleichgewicht herbeizuführen und SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk
für ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum [FDP]: Man muss über falsche Anträge nicht
sowie Preisstabilität zu sorgen. Eine Ausrichtung auf noch debattieren!)
solche Ziele wird ja bereits von der amerikanischen Zen- Trotzdem möchte ich die Argumente vortragen.
tralbank praktiziert.
Wir haben diesen Antrag im Februar dieses Jahres
Das ist aus unserer Sicht eine absolute Notwendig- eingebracht. Damals haben Sie von der Koalition den
keit, um die Bundesbankpolitik wirklich in einen Ge- Antrag als durchsichtiges Oppositionsmanöver abgetan,
samtzusammenhang zu stellen und zu versuchen, damit weil es seinerzeit unter anderem um die Berufung von
den Interessen der Bevölkerung nachzukommen, also Carl-Ludwig Thiele von der FDP in den Vorstand der
(B) nicht nur auf die Preisstabilität zu achten, sondern auch Bundesbank ging; (D)
auf die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
(Dr. Daniel Volk [FDP]: Guter Mann im Bun-
Wir bedauern sehr, dass dieser Antrag von der großen desbankvorstand! – Dr. h. c. Hans Michelbach
Mehrheit des Hauses nicht wirklich zum Anlass genom- [CDU/CSU]: Guter Mann!)
men wird, einmal nachzudenken, was man verändern
kann. Ich denke, das, was mit Sarrazin passiert ist, kann Sie wollten ihn schützen, weil sein Berufungsverfahren
jederzeit wieder passieren. Insofern fände ich es wichtig, zu dieser Zeit lief. Wir hielten die Berufung zwar schon
zumindest im Finanzausschuss weiter über diese Frage damals für falsch; aber – das muss ich sagen – es be-
zu diskutieren und uns wirklich Gedanken zu machen, wegte sich im üblichen Rahmen von parteipolitischem
wie man hier Veränderungen herbeiführen kann. Geplänkel.
Danke schön. Heute haben wir aber eine vollkommen andere Situa-
tion. Inzwischen hat sich am Beispiel Thilo Sarrazin ge-
(Beifall bei der LINKEN) zeigt, was passieren kann, wenn die Bundesbank von der
Politik als politisches Endlager missbraucht wird.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Lisa Paus hat das Wort für Bündnis 90/Die Grünen. (Gisela Piltz [FDP]: Das finde ich jetzt aber et-
was beleidigend, Frau Kollegin!)
Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Thilo Sarrazin war zwar der spektakulärste, aber beileibe
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr nicht der einzige schwierige Entsorgungsfall. So wurde
Brinkhaus, Herr Gerster, Herr Volk, der vorliegende An- zum Beispiel Rudolf Böhmler 2007 von Baden-Würt-
trag „Verfahren zur Auswahl von Bundesbankvorstän- temberg als Bundesbankvorstand durchgedrückt, obwohl
den reformieren“ ist in diesem Hohen Hause nicht neu. er in einem internen Anhörungsverfahren keine Mehr-
Wir haben ihn aber heute auf die Tagesordnung setzen heit bei der Bundesbank fand.
lassen, weil wir gehofft haben, dass genau eine Woche (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Der macht ei-
nachdem Thilo Sarrazin aus dem Bundesbankvorstand nen sehr guten Job! Er ist anerkannt!)
ausgeschieden ist, ein guter Zeitpunkt sein könnte, um
jetzt endlich darüber zu sprechen, was man tun kann, um Sarrazin wurde nicht wegen seiner Qualifikation
das durch den Fall Sarrazin beschädigte Ansehen der In- durchgedrückt – darüber könnte man diskutieren; die
stitution Bundesbank und ihre Unabhängigkeit wieder- fachliche Qualifikation war nicht das Problem –, son-
herzustellen. dern weil es dem Regierenden Bürgermeister von Berlin
6878 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Lisa Paus
(A) – das konnte ich als Berlinerin wirklich live miterleben – Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
in sein politisches Schachspiel passte. Eines wusste Frau Kollegin, das könnte höchstens noch ein Satz
Klaus Wowereit wie die gesamte Stadt Berlin: Thilo ohne Kommata sein.
Sarrazin ist die denkbar ungeeignetste Person, um Teil
eines Kollegialorgans zu sein. (Heiterkeit)

(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das stimmt!) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich komme zum Schluss. – Zur ersten Stufe. Wenn
Dies hat er nicht erst als Berliner Finanzsenator unter Sie gerne noch zusätzlich Headhunter einschalten wol-
Beweis gestellt, sondern auch schon vorher, als er bei len, dann schalten Sie zusätzlich Headhunter ein. Die öf-
der Bahn war, oder davor, als er Staatssekretär in Rhein- fentliche Ausschreibung organisiert ein Mindestmaß an
land-Pfalz war. Das war also allgemein bekannt. Qualität. Das soll sie leisten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- Zur zweiten Stufe. Das Auswahlverfahren der Bun-
ruf von der CDU/CSU: Sehr interessant!) desregierung soll gewährleisten, dass Menschen nicht
beschädigt werden. Das kennen Sie auch. Sie thematisie-
Jahrzehntelang galt der Spruch des französischen
ren das als Problem der öffentlichen Ausschreibung.
Staatsmanns Jacques Delors:
Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
glauben an die Deutsche Bundesbank. Frau Kollegin.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das hatten wir (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es sind
schon mal!) nur noch zwölf!)

– Herr Brinkhaus, genau das gilt aber nach der Causa Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sarrazin nicht mehr. Die dritte Stufe sieht vor – das ist für Sie das
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Ausnahmen Schlimmste –, dass der Finanzausschuss darüber beraten
bestätigen die Regel!) soll. Ich sage Ihnen: Schauen Sie nach Großbritannien!
Schauen Sie auf die EU-Ebene!
Deswegen sind wir gefordert, die Reputation der Bun-
desbank wieder herzustellen. Da braucht es eben einen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Ansatz für ein neues Verfahren. Frau Kollegin.
(B) (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der LINKEN) Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dann stellen Sie fest, dass dadurch keiner untergeht.
Wenn Sie den Antrag so abtun, als sei er eine spin- Formulieren Sie einfach einen Anspruch, der internatio-
nerte grüne Idee, nal gilt.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nee! Sie müs-
sen auch mal zuhören, was wir sagen!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Frau Kollegin.
dann möchte ich Ihnen schon sagen: Inzwischen befin-
den wir uns in guter Gesellschaft. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lesen Sie die entsprechenden Blätter: WirtschaftsWo- Überlegen Sie selber. Dann kommen Sie zu dem Er-
che, Handelsblatt bis hin zur Börsen-Zeitung. Dort fin- gebnis, dass man unserem Antrag zustimmen sollte. Ich
den Sie die Forderung, die wir in unserem Antrag erhe- hoffe, dass wir nicht zum letzten Mal über dieses Thema
ben. Am 13. September fordert die WirtschaftsWoche debattieren.
„eine Reform der Besetzungsprozedur“, um die ange- Herzlichen Dank.
schlagene Reputation der Bundesbank wieder herzustel-
len. Die Welt am Sonntag berichtet am 19. September: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Führende europäische Ökonomen fordern ein neues Be-
rufungsverfahren für die Vorstände. Auch der ehemalige Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl schloss sich in ei- Ich schließe die Aussprache.
nem Interview dieser Forderung an. Was machen Sie?
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
Sie machen nichts.
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Grünen mit dem Titel „Verfahren zur Auswahl von Bun-
desbankvorständen reformieren“. Der Ausschuss emp-
Wir brauchen eine Verbesserung der Legitimität beim fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
Auswahlverfahren. Wir schlagen ein Verfahren vor, das 17/1075, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
mehr Transparenz schafft und dadurch die Legitimation nen auf Drucksache 17/798 abzulehnen. Wer stimmt
erhöht. Da die vier Stufen schon so oft Thema waren, für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
möchte auch ich noch einmal kurz auf sie eingehen. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6879
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) men bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen, da- Wir erleichtern die Bewilligung der Opferpensionen. (C)
gegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, enthalten
Die erweiterte Härtefallregelung soll es ermöglichen,
haben sich SPD und die Fraktion Die Linke.
dass die besondere Zuwendung nach § 17 a auch dann
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: gewährt werden kann, wenn die Mindesthaftdauer von
künftig 180 Tagen geringfügig unterschritten wurde.
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Frau wegen ei-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- ner Schwangerschaft vorzeitig aus der Haft entlassen
derung des Strafrechtlichen Rehabilitierungs- wurde. Ein anderes Beispiel ist die Haftentlassungspra-
gesetzes xis in der DDR, durch die es immer wieder zu geringfü-
– Drucksache 17/1215 – gigen Unterschreitungen kam.

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Weiterhin wurde aus dem Kreis der Opferverbände
schusses (6. Ausschuss) immer wieder beklagt, dass es Landesbehörden gebe, die
gegen das Gesetz gehandelt hätten, weil sie unter Ver-
– Drucksache 17/3233 – weis auf den Amtsermittlungsgrundsatz jährlich wieder-
kehrende Einkommensermittlungen durchgeführt hätten.
Berichterstattung: Ein solches Vorgehen war mit diesem Gesetz natürlich
Abgeordnete Andrea Astrid Voßhoff nicht vorgesehen. Der Grund dafür ist klar: Es darf nicht
Sonja Steffen sein, dass die Opfer von Überwachungsmaßnahmen den
Jörg van Essen Eindruck gewinnen, sie würden anlässlich ihrer Rehabi-
Halina Wawzyniak litierung nun wieder Gegenstand von Überwachungen.
Jerzy Montag Unser Vorschlag schließt turnusmäßige und anlassunab-
Hierzu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- hängige Einkommensüberprüfungen in Zukunft aus.
tion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Wir verlängern die Antragsfristen auf strafrechtliche,
Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat- berufsrechtliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitie-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. rung bis zum 31. Dezember 2019.
Dann verfahren wir so.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Ich gebe dem Kollegen Marco Buschmann das Wort der CDU/CSU)
für die FDP-Fraktion.
Damit geben wir sowohl allen Betroffenen als auch den
(B) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D)
vom Gesetz neu erfassten Personengruppen wie bei-
spielsweise den ehemaligen Insassen von Jugendwerk-
Marco Buschmann (FDP): höfen die Möglichkeit, ihren Antrag in aller Ruhe zu
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol- prüfen und zu stellen. Ich denke, dass wir den Betroffe-
leginnen und Kollegen! Vor wenigen Tagen feierten wir nen mit dieser deutlichen Verlängerung der Frist ein gro-
den 20. Jahrestag der deutschen Einheit. Vor 20 Jahren ßes Stück entgegengekommen sind.
endete damit endgültig die Existenz einer staatlichen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf
Ordnung, die auf Terror und Unterdrückung Andersden- von der FDP: Das ist das richtige Signal!)
kender gesetzt hat. Das Leid, das den Opfern von Terror
und Unterdrückung widerfahren ist, kann niemand unge- Einen weiteren Punkt haben die Betroffenen wieder-
schehen machen. Wir können die Opfer aber rehabilitie- holt vorgetragen – auch mir ist er wichtig –: Es geht da-
ren. Wir können ein Zeichen setzen, dass wir ihre Bio- rum, den Gedanken der Ehrenpension stärker herauszu-
grafien würdigen. Wir können ein kleines, vielleicht stellen. Ein Vorschlag aus dem Kreis der Opferverbände
symbolisches Stück Wiedergutmachung leisten. Diese lautete, dass man Schwerkriminellen die Opferpension
symbolische Wiedergutmachung wollen wir verbessern. künftig versagen solle. Diesem Wunsch kommen wir
Dazu legt Ihnen die Koalition den vorliegenden Gesetz- nach. Die besondere Zuwendung wird zukünftig denje-
entwurf zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitie- nigen Personen nicht mehr gewährt, gegen die nach ein-
rungsgesetzes vor. facher Auskunft aus dem Bundeszentralregister eine
Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren wegen einer
Er ist geboren aus einer Bundesratsinitiative der Län- vorsätzlichen Straftat rechtskräftig verhängt worden ist.
der Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Nieder-
sachsen. Er nimmt eine ganze Reihe von Anregungen Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, natürlich ist
aus dem Kreise der Opferverbände auf. Unser Gesetz- es so, dass man sich angesichts des geschehenen Un-
entwurf enthält damit zahlreiche spürbare Verbesserun- rechts immer noch mehr vorstellen kann; das ist über-
gen für die Opfer des SED-Regimes, von denen ich hier haupt keine Frage. Ich glaube aber, dass die christlich-
nur einige wenige erwähnen möchte. liberale Koalition hier einen guten Vorschlag vorlegt.
Das gilt insbesondere auch, wenn Sie die Rahmenbedin-
Wir erweitern den Kreis der Anspruchsberechtigten. gungen bedenken, unter denen wir agieren. Zu diesen
Von nun an sind auch Personen anspruchsberechtigt, die Rahmenbedingungen gehört natürlich, dass wir die not-
in einem Heim für Kinder und Jugendliche sowie in Ju- wendige Haushaltskonsolidierung durchführen. Trotz-
gendwerkhöfen untergebracht waren. dem weiten wir an dieser Stelle Leistungsansprüche aus.
6880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Marco Buschmann
(A) Ich glaube, wir zeigen damit ganz deutlich, dass wir die Wir erinnern uns alle: Die erste Lesung dieses Ent- (C)
Opfer nicht allein lassen. Wir bewerten diese Frage mit wurfs fand an einem historischen Tag, am 17. Juni 2010,
der notwendigen politischen Sensibilität und verleihen statt. An diesem Tag haben wir in einer Feierstunde hier
ihr Bedeutung. im Hohen Haus an die schlimmen Ereignisse des
17. Juni 1953 in der DDR erinnert. Am vergangenen
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der deutschen Ein-
Die Fraktionen der Opposition regen nun weitere heit gefeiert. Dies ist an sich schon ein guter Grund, die-
Maßnahmen an. sen Gesetzentwurf mit seinen sehr begrüßenswerten Än-
derungen zu verabschieden.
Zum Vorschlag der SPD für ein einheitliches Aner-
kennungsverfahren ist zu sagen, dass die Idee grundsätz- Natürlich ist es grundsätzlich wichtig, dass Gesetze,
lich natürlich sympathisch ist. Die Regelungskompetenz insbesondere solche, die die Rechte der betroffenen Bür-
liegt aber bei den Ländern. Den Versuch, hier eine Eini- ger stärken, möglichst zügig auf den Weg gebracht wer-
gungslösung herbeizuführen, gab es schon in der Ver- den. Ich frage mich allerdings, ob die Hektik, die hier in
gangenheit. Er hat bloß nicht gefruchtet. den letzten zwei Wochen an den Tag gelegt wurde, um
diesen symbolischen Termin einhalten zu können – Herr
Den Kollegen der Grünen möchte ich sagen: Natür- Kollege Buschmann, Sie haben das ja gesagt –, wirklich
lich sind die Überlegungen, das System umzustellen, erforderlich und geboten war.
durchaus sympathisch. Allerdings muss man berücksich-
tigen, dass Ihr System als Ganzes dazu führen würde, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dass die Opfer des Linkstotalitarismus in der DDR der LINKEN)
besser gestellt würden als die Opfer des Nationalsozia- Ich will ganz kurz daran erinnern, dass erst in der letz-
lismus. Sie kennen die Grundlagen, nach denen bei- ten Woche ein Berichterstattergespräch zu dem Entwurf
spielsweise die JCC Beihilfen erteilt. Auch da gibt es stattfand, bei dem drei Sachverständige angehört wur-
Mindesthaftdauern. Auch da ist die Beihilfe deutlich den. Bereits einen Tag später fand sich der geänderte Ge-
niedriger als die, die Sie vorschlagen. setzentwurf auf der Tagesordnung dieser Sitzungswoche
Den Kollegen der Linken möchte ich weiterleiten, wieder. Es ist daher davon auszugehen, dass der Gesetz-
was mir aus dem Kreis der Opferverbände mitgeteilt entwurf an der einen oder anderen Stelle mit heißer Na-
worden ist: Das sind die Rechtsnachfolger derjenigen del gestrickt wurde und eine intensive Auseinanderset-
Partei, die all das Leid angeordnet hat, um dessen Be- zung mit dem, was die Sachverständigen vorgebracht
wältigung es heute geht. Wie können sie nur auf die Idee haben, nicht erfolgt ist, weil das nicht möglich war. Es
kommen, sich als Anwälte der Opfer aufzuspielen? wäre wünschenswert gewesen, wenn die Opposition bei
(B) einem so sensiblen Thema stärker in den Prozess einbe- (D)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – zogen worden wäre.
Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Genau des-
halb! – Gegenruf von der FDP: Ja, genau des- An dem Gesetzentwurf ist begrüßenswert, dass der
halb!) Personenkreis der Antragsberechtigten erweitert wurde.
Nunmehr haben auch Menschen – wir haben es schon
In einer Zeit der Haushaltskonsolidierung, in der die gehört –, die als Kinder oder Jugendliche in einem Heim
Zeichen auf Sparen stehen, weiten wir die Leistungen bzw. in Jugendwerkhöfen unter schlimmsten, haftähnli-
aus. In Anbetracht des Sparhaushaltes und der Schulden- chen Bedingungen ein jämmerliches Dasein fristen
bremse können wir auf das Erreichte, auf das, was wir mussten, einen Anspruch auf Rehabilitierung und so-
Ihnen vorlegen, stolz sein. Trotzdem werden wir natür- ziale Ausgleichsleistungen.
lich auch in Zukunft offene Augen und Ohren für die Be-
lange der Opfer des SED-Regimes haben; denn der mu- Darüber hinaus hatten aber viel mehr Menschen unter
tige Einsatz dieser Menschen für Freiheit, Demokratie staatlichen Kontrollmaßnahmen zu leiden, die sich bis
und Rechtsstaatlichkeit muss anerkannt und gewürdigt heute auf ihr Leben auswirken. Zu erwähnen sind die
werden. Vorkommnisse bei den Weltfestspielen 1973; der Kol-
lege Montag hat sie in der Sitzung des Rechtsausschus-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ses am Mittwoch erwähnt. Damals wurden mehr als
1 800 Personen in Haft genommen, 477 in psychiatri-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sche Einrichtungen eingewiesen, 639 in Jugendwerkhö-
fen und 1 163 in sogenannten Spezialkinderheimen un-
Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
tergebracht, und gegen 2 982 Personen wurden sonstige
(Beifall bei der SPD) staatliche Kontrollmaßnahmen wirksam. Ich hätte mir
zumindest eine Diskussion darüber gewünscht, ob die
Möglichkeit besteht, den Personenkreis auf Opfer sol-
Sonja Steffen (SPD):
cher staatlichen Kontrollmaßnahmen auszuweiten.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten und beschließen heute die vierte Weiterhin begrüßenswert ist, dass die Frist zur An-
Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. tragstellung von 2011 auf 2019 verlängert wurde, und
Der Gesetzentwurf wurde im März 2010 – der Kollege zwar insbesondere mit Blick auf die Tatsache, dass viele
Buschmann hat es schon gesagt – vom Bundesrat in den Opfer in Unkenntnis oder wegen Verdrängung, weil sie
Bundestag eingebracht. zum Teil traumatisiert sind, bislang keinen Antrag ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6881
Sonja Steffen
(A) stellt haben. In der Anhörung wurde von dem Sachver- Hochproblematisch erscheint hier, dass man dem An- (C)
ständigen Dollase, dem Justiziar der Bundesstiftung zur tragsteller einen Begutachtungstermin verwehrt hat. Au-
Aufarbeitung der SED-Diktatur, anschaulich geschildert, ßerdem vernachlässigte man völlig die in den 50er- und
dass viele Opfer erst bei der Rentenbeantragung auf die 60er-Jahren besonders inhumane Züge tragenden Haft-
Opferrente hingewiesen werden. Es wäre daher ein zwar bedingungen in der DDR, denen der Betroffene über den
mutiger, aber auch sinnvoller Schritt gewesen, eine Ent- langen Zeitraum von immerhin fünf Jahren ausgesetzt
fristung des Gesetzes vorzunehmen. war. In der Anamnese verweist man mit „Minderbega-
bung“ und „Willensschwäche“ auf zwei Aussagen aus
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DDR-Dokumenten. Sie werden kritiklos hingenommen,
NEN]: Ja!) zitiert und einem wissenschaftlichen Diagnosebefund
Darüber hinaus begrüßen wir es selbstverständlich, gleichgesetzt.
dass zukünftig der Freibetrag für Familien mit Kindern Wünschenswert wäre hier die Errichtung einer zentra-
erhöht wird und das staatliche Kindergeld und die be- len Stelle zur Bewertung verfolgungsbedingter Gesund-
triebliche Altersvorsorge nicht mehr als Einkommen an- heitsschäden, die man mit Fachleuten, die sich in dieser
gerechnet werden. Thematik besonders auskennen und damit besondere Er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fahrungen haben, besetzen könnte. Auch die Union hat
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dieser Idee in der letzten Legislaturperiode viel abgewin-
nen können. Wir haben vorhin gehört, dass auch Herr
Auch der neu aufgenommene sogenannte Ausschluss- Kollege Buschmann dieser Idee etwas abgewinnen kann.
grund ist zu begrüßen. Zukünftig soll die Opferrente, Ich hoffe daher, dass unser entsprechender Entschlie-
weil sie zu Recht „Ehrenpension“ genannt wird, Schwer- ßungsantrag auch die Zustimmung der Regierungskoali-
verbrechern nicht mehr zuerkannt werden. Damit wird tion findet.
sich das Gesetz an das Bundesentschädigungsgesetz an-
passen, das die Opfer des Nationalsozialismus entschä- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Wieland
digte, und an das Häftlingshilfegesetz. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird
wohl nicht klappen!)
Richtig ist auch, dass die Rente dann zuerkannt wer-
den soll, wenn die Straftat in einer Auskunft aus dem Mir ist bewusst, dass ein solches Vorhaben nur in Zu-
Zentralregister nicht mehr enthalten ist, weil auch Straf- sammenarbeit mit den Ländern umgesetzt werden kann.
täter die Chance haben müssen, nach Löschung ihrer Dem Gesetzentwurf in seiner aktuellen Fassung wer-
Straftaten im Zentralregister als unbescholtene, gleich- den wir heute mit Blick auf die Opfer, die diese Besser-
(B) wertige Menschen zu gelten. Damit folgt das Gesetz der stellung mehr als verdient haben, unsere Zustimmung er- (D)
Systematik des Registerrechts und dem Gedanken der teilen.
Resozialisierung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich habe bereits mehrfach erwähnt, dass aufgrund der der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
Eile, mit der der Gesetzentwurf verabschiedet werden GRÜNEN)
soll, wichtige Aspekte nicht mehr näher geprüft wurden.
Dazu gehört auch ein Blick auf die Beschädigtenversor-
gung. Wer durch die Freiheitsentziehung eine gesund- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
heitliche Schädigung erlitten hat, erhält nach dem Gesetz Die Kollegin Andrea Voßhoff hat das Wort für die
in der derzeitigen Fassung wegen der Folgen dieser Fraktion der CDU/CSU.
Schädigung auf Antrag eine weitere Versorgung. Die
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Praxis in den einzelnen Bundesländern bei der Anerken-
nung verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden ist aber
leider sehr unterschiedlich. Während beispielsweise in Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU):
Thüringen bis 2009 von 933 Anträgen 220 positiv be- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kolle-
schieden wurden, sind es in Mecklenburg-Vorpommern ginnen und Kollegen! Liebe Frau Kollegin Steffen, zu
bei 825 Anträgen nur 90 Anerkennungen. den Forderungen, die Sie hier neben den Forderungen in
Ihrem Entschließungsantrag erhoben haben, möchte ich
Ich will an dieser Stelle kurz ein Beispiel nennen, da- Ihnen sagen: Diese SED-Opferpension ist in Zeiten der
mit man sich klarmachen kann, um was es hier eigent- Großen Koalition entstanden. Es war damals die SPD,
lich geht. Ein Opfer stellte 1997 in einem westdeutschen die bei den Entschädigungsregelungen zu Recht, wie ich
Bundesland einen Antrag auf Beschädigtenversorgung. finde, nicht nur nachhaltig dafür geworben, sondern
Er war als politischer Häftling von 1958 bis 1963 in den auch immer darauf bestanden hat, dass wir das mit ande-
Gefängnissen Bautzen, Neustrelitz und Schwerin inhaf- rem bestehendem Entschädigungsrecht – Stichwort: NS-
tiert. Das zuständige Versorgungsamt lehnte den Antrag Opferentschädigung – austarieren. Damals waren Sie
ab mit der Begründung, es sei nicht wahrscheinlich, dass aber noch nicht dabei. Das war die Conditio im Rahmen
die geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch die dieser Opferpension.
Inhaftierung hervorgerufen worden seien. Schon in der
Kindheit und Jugendzeit sei ein Gemütsleiden auffällig Es ist schon gesagt worden: Am vergangenen Sonntag
gewesen. Für das Jahr 1957 finde sich ein Hinweis auf haben wir nicht nur in Bremen und in Berlin, sondern in
eine Minderbegabung und Willensschwäche. zahlreichen Städten Deutschlands 20 Jahre deutsche Ein-
6882 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Andrea Astrid Voßhoff


(A) heit gefeiert und ihrer gedacht. Wie sagte es der Bundes- Dass das immer im Interesse der Opfer ist, wage ich zu (C)
tagspräsident, Dr. Lammert, sehr treffend – ich zitiere –: bezweifeln. Ich glaube, es hilft auch nicht weiter, Ver-
sprechen abzugeben, die bei Lichte betrachtet und bei
Auch bei selbstkritischer Betrachtung der 20 Jahre sorgfältiger Prüfung nicht einzuhalten sind.
seit dem 3. Oktober 1990 haben wir alle miteinan-
der Anlass zu stillem Stolz und lautem Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Marco Buschmann [FDP])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP) Meine Damen und Herren, Sie wissen, dass die Große
Koalition im Jahre 2007 – ich erwähnte es – auf Initia-
20 Jahre deutsche Wiedervereinigung bedeuten neben tive der CDU die sogenannte SED-Opferpension einge-
stillem Stolz und lautem Dank aber auch 20 Jahre Aufar- führt hat. Sie wissen auch, dass mittlerweile fast 50 000
beitung der Folgen eines 40 Jahre währenden SED-Un- Opfer diese Rente beziehen. Diese Zahl ist beachtlich
rechtssystems. Einer der heute vorliegenden Entschlie- und wächst stetig. Sie ist, wie ich finde, erschreckend
ßungsanträge ist von den Linken. Ich darf Ihnen, meine hoch und ein Beleg für das Unrechtssystem der DDR.
Damen und Herren von den Linken, einmal sagen: Zur Dass es uns gelungen ist, die SED-Opferpension einzu-
Rehabilitierung gehören auch die Nennung der Täter und führen, ist auch aus heutiger Sicht nach wie vor sehr löb-
Ihr immerwährendes und bis heute nicht erfolgtes ent- lich und zu begrüßen.
sprechendes Bekenntnis.
Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf – die
Von daher frage ich Sie in Anbetracht Ihrer Forderun- Details wurden schon genannt –, mit dem konkrete Ver-
gen: Was tun Sie eigentlich in den Ländern, in denen Sie besserungen und Erleichterungen beim Bezug der SED-
leider mitregieren, im Hinblick auf eine Entschädigung Opferpension erzielt werden sollen. In der Praxis haben
der SED-Opfer? wir festgestellt, dass es Fehlentwicklungen gab, die wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie heute klugerweise korrigieren. Ich bedanke mich schon
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE jetzt für Ihre Signale der Zustimmung zu diesem Gesetz-
GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] entwurf; ich weiß, wie intensiv und häufig auch Sie mit
[FDP]: Die Frage ist berechtigt!) den Opfern reden.
Mir ist keine Initiative, die Sie zu diesem Thema gestar- Lassen Sie mich drei Anmerkungen zum vorliegen-
tet haben, bekannt. den Gesetzentwurf machen:

Für die Union steht das Erinnern im Vordergrund. Für Erstens. Ich freue mich – ich sagte es bereits –, dass
uns gehören zum Erinnern aber auch die Aufarbeitung es dafür offenkundig eine breite Zustimmung in diesem
(B) und die Rehabilitierung; das haben wir uns gemeinsam Hause gibt. Diese einmütige Zustimmung ist auch ein (D)
mit unserem Koalitionspartner vorgenommen, und das wichtiges und nicht zu unterschätzendes Signal an die
hat sich in unserem Koalitionsvertrag niedergeschlagen. Opfer und ihre Verbände, die unsere Diskussion sicher-
Dazu liegt Ihnen heute, wie ich finde, ein guter Gesetz- lich aufmerksam verfolgen. Ich habe feststellen dürfen,
entwurf vor. dass auch die mitberatenden Ausschüsse einstimmig da-
für votiert haben; auch dies ist zu begrüßen.
Wir alle wissen – darauf ist heute schon hingewiesen
worden; das sage ich auch mit Blick auf die Entschlie- Im Gegensatz zur Kollegin Steffen bin ich der Mei-
ßungsanträge der Opposition –: Es wird nie möglich nung, dass wir am letzten Mittwoch konstruktive Be-
sein, ein derartiges 40-jähriges Unrecht vollständig wie- richterstattergespräche geführt haben und dass auch nach
dergutzumachen. Manche Kollegen beschäftigen sich Vorlage unserer Änderungsvorschläge am vergangenen
seit Jahren mit diesem Thema, und hier im Parlament Montag ein weiteres konstruktives Berichterstatterge-
gab es in dieser Zeit unterschiedlichste Mehrheiten. Rot- spräch stattgefunden hat. Der Umfang der Gesetzesände-
Grün beispielsweise hätte acht Jahre lang die Gelegen- rungen ist überschaubar, sodass von einem eiligen Ver-
heit gehabt, weiter gehende Regelungen zu treffen. fahren wirklich keine Rede sein kann. Dieser Kritik-
punkt, den Sie, Frau Kollegin Steffen, vorhin erwähnt
(Christine Lambrecht [SPD]: Die Große Koalition haben, ist auch nicht von allen Oppositionsfraktionen
hatte auch Zeit!) geäußert worden.
Aber diejenigen, die regiert haben und entscheiden Frau Kollegin, mich tröstet diese Kritik insofern, als
mussten, sind immer an Grenzen gestoßen. ich sagen kann: Wenn man in der Sache keinen Kritik-
punkt findet, weil der Gesetzentwurf richtig gut ist, dann
Aus Sicht der Opfer ist es verständlich, dass die An-
muss man als Opposition natürlich das Verfahren bean-
sprüche immer weiter steigen. Aber es handelt sich auch
standen. Das sei Ihnen auch zugestanden; aber ich
um ein Ritual: Diejenigen, die regieren und Verantwor-
denke, sachlich ist diese Kritik nicht berechtigt.
tung tragen, wissen, dass es Grenzen gibt und dass die
Opposition – weil sie weiß, dass sie die eigenen Forde- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rungen nicht umsetzen muss – die Gelegenheit nutzt,
weiter gehende Forderungen zu erheben. Zweitens. Mit diesem Gesetzentwurf werden nicht
nur die vom Bundesrat geforderten verwaltungsrechtli-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen Änderungen beim Bezug der SED-Opferpension
NEN]: Keine Sorge! Wir werden es umset- geändert, sondern – der Kollege Buschmann hat es an-
zen!) gesprochen – man ist teilweise weit darüber hinausge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6883
Andrea Astrid Voßhoff
(A) gangen. Ein Beispiel sind die Regelungen des Kinder- sammenhang ein Problem, weil in Mecklenburg-Vor- (C)
freibetrages. Für Opferfamilien mit Kindern soll ein pommern die obersten Landesbehörden die Opferpensio-
Kinderfreibetrag eingeführt werden. Das Kindergeld nen bearbeiten. Klären Sie das doch im Bundesland
soll bei der Berechnung des Einkommens nicht ange- Mecklenburg-Vorpommern.
rechnet werden. Im Ergebnis sollen Opfer mit Kindern
und Opfer ohne Kinder gleichgestellt werden. Das ist (Zuruf der Abg. Sonja Steffen [SPD])
eine notwendige und gebotene Regelung. Wir können gern gemeinsam ein Schreiben aufsetzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Land kann das ändern, sodass sich die von Ihnen ge-
schilderte Problematik aus unserer Sicht in der Praxis
Wir sind nicht nur froh, sondern auch unseren Haushäl- gar nicht stellt. Dem Land Mecklenburg-Vorpommern ist
tern dafür dankbar, dass sie dieser Regelung trotz des be- es unbenommen, auch von den obersten Landesbehör-
stehenden Konsolidierungsdrucks zugestimmt haben. den einfache Registerauskünfte einzuholen. Daher ist
Erwähnt wurde auch – das ist nicht unwichtig, son- das Problem aus meiner Sicht nicht nennenswert.
dern eine wesentliche Änderung des Gesetzes –, dass die Die Verlängerung der Antragsfristen ist auch genannt
in den Rehabilitierungsgesetzen enthaltene Härtefallre- worden. Wir haben sie häufig in diesem Hause verlän-
gelung, die bisher nur für die Kapitalentschädigung galt, gert und immer wieder die Frage aufgeworfen, ob das
jetzt auf die Opferpension ausgedehnt wird; Beispiele notwendig ist. Aber gerade mit der Einführung der SED-
sind bereits genannt worden. Es hat Fälle gegeben, in de- Opferpension im Jahre 2007 haben wir Material erhal-
nen aufgrund der willkürlichen DDR-Verwaltungspraxis ten, dem wir entnehmen können, dass die Zahl der Reha-
die von uns geforderte Haftzeit von 180 Tagen geringfü- bilitierungsanträge deutlich nach oben geschnellt ist,
gig unterschritten wurde. Weil das eine Härte im Sinne weil die Rehabilitierung Voraussetzung für die dann un-
einer Ungerechtigkeit ist, haben wir die besondere Zu- befristet zu beantragende Rente oder SED-Opferpension
wendung der Opferpension in die Härtefallregelung des ist. Demzufolge haben wir die Fristen noch einmal bis
§ 19 des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes auf- 2019 verlängert. Wenn wir die Rehabilitierungsantrags-
genommen. Auch ist es ein wichtiger und guter Schritt, fristen verlängert haben, haben wir immer auch die ver-
dass wir in dieser Frage zu einer Härtefallregelung ge- waltungs- und berufsrechtlichen Fristen entsprechend
kommen sind. verlängert. Deshalb haben wir im Lichte des Bericht-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) erstattergesprächs, das wir sehr aufmerksam verfolgt ha-
ben, diese Fristverlängerung umgesetzt. Daher denke
Wir haben Klarstellungen vorgenommen, die nicht ich, dass dieser Gesetzentwurf alles in allem – das ist
nur redaktionell, sondern auch grundsätzlich sind. Wir heute schon gesagt worden – sehr gut ist.
(B) haben klargestellt, dass die Mindesthaftzeit 180 Tage be- (D)
trägt. Jeder von uns, der die Gespräche mit den Opfern Gestatten Sie noch einige abschließende Bemerkun-
und den Opferverbänden geführt hat, weiß, dass das un- gen zu den Entschließungsanträgen der Opposition. Ich
terschiedlich gehandhabt wurde. In einigen Fällen wur- sagte eingangs, dass es immer leichter ist, mehr zu for-
den volle sechs Monate berechnet, in anderen 180 Tage. dern, wenn man in der Opposition ist, weil man die For-
Es gab keine einheitliche Regelung. Das haben wir klar- derungen, da man nicht in politischer Verantwortung ist,
gestellt und auch dabei für etwas mehr Gerechtigkeit ge- nicht umsetzen muss. Als ich den Entschließungsantrag
sorgt. Jedenfalls weiß ich aus vielen Gesprächen mit Op- der Grünen gelesen habe, habe ich mich etwas gewun-
fern, dass das häufig als Problem empfunden wurde. dert,

Auch wurde erwähnt, dass die Länder teilweise anlass- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
unabhängige und turnusmäßige Einkommensnachweise NEN]: Na!)
fordern. Das ist von vielen Opfern, insbesondere von den dass er vom Kollegen Montag mitgetragen wird; denn er
älteren, als Demütigung empfunden worden, weil sie nur hat im ersten Berichterstattergespräch sehr nachdrück-
eine Rente beziehen und sich deshalb die Einkommens- lich darauf hingewiesen, dass die Entschädigungsrege-
verhältnisse nicht ändern. Das war vom Bundesgesetz- lungen sehr wohl mit Blick auf das gesamte Entschädi-
geber nie vorgesehen, wird von den Ländern aber prakti- gungsrecht – das betrifft auch Zahlungen für NS-Opfer –
ziert. Auch deshalb schreiben wir ins Gesetz, dass eine auszutarieren sind.
anlassunabhängige und turnusmäßige Einkommensüber-
prüfung nicht stattfinden soll. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Wir haben ihn überzeugt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deshalb, Herr Kollege Montag, hat mich Ihr Antrag et-
Die Einbeziehung von DDR-Werkhof- und Heimkin- was gewundert. Aber der Kollege Wieland sagte, Sie
dern ist genannt worden. Auch sie wurde damals vom seien überzeugt worden. Vielleicht kann er das noch et-
Gesetz intendiert, ist aber in unterschiedlichen Gerichts- was ausführen.
entscheidungen bis zu einer Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts unterschiedlich gehandhabt wor- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
den. Deshalb schreiben wir das zur Klarstellung ins NEN]: Ich habe offenbar mehr Überzeugungs-
Gesetz. kraft als Sie!)
Auch der Ausschluss Schwerkrimineller ist erwähnt Abschließend, Frau Kollegin Steffen, sage ich Ihnen
worden. Frau Kollegin Steffen, Sie hatten in diesem Zu- zu dem, was Sie in Ihrem Entschließungsantrag erwähnt
6884 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Andrea Astrid Voßhoff


(A) haben, Folgendes: Sie wissen, dass es der Bund schon (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gegen (C)
einmal versucht hat, dass sich die Länder an dieser Stelle Ihre Rechtsvorgänger aufstehen! IM Kuschel
nicht einig sind und dass die Länder dazu nicht zu bewe- ist im Landtag in Thüringen!)
gen waren. Ich weiß, dass Sie – leider – sechs Landesjus-
tizminister und sieben Landessozialminister stellen. Frau Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass wir auch für
Kollegin Steffen, fangen Sie an, diese zu überzeugen. andere Formen der Benachteiligung Regelungen finden,
Wenn Sie all diese hinter sich haben, sollten wir uns über die in Richtung Opferrente gehen. Ich denke beispiels-
das Thema noch einmal unterhalten. Wenn die Länder weise an Schülerinnen und Schüler, die kein Abitur ma-
wollten, könnten sie das Verfahren, das Thüringen prak- chen konnten, weil ihre Eltern in der Kirche waren.
tiziert, umsetzen. Traurig ist, dass das nicht geschieht. (Beifall bei der LINKEN)
Aber fangen Sie bitte bei Ihren Ministern an, dafür zu
werben. Ich will das gerne auch bei den unsrigen tun. Ich finde, der 20. Jahrestag könnte Anlass sein, diesen
Aber Sie haben leider Gottes eine größere Anzahl aufzu- Menschen gegenüber ein Symbol zu setzen.
bieten.
(Marco Buschmann [FDP]: Selbstanklage!)
(Zurufe von der SPD)
Trotz der Fehler, die dieser Gesetzentwurf aufweist,
Versuchen Sie bitte nicht, das Problem auf die christ- wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf und den Ände-
lich-liberale Koalition zu schieben. Die Länder sind in rungsanträgen zustimmen – aus Verantwortung, die wir
der Pflicht. Die Länder könnten es machen. Thüringen für die DDR-Geschichte tragen, aber auch, weil 3 000
hat gute Vorlagen dafür geliefert. Ich warte auf Ihre Anspruchsberechtigte mehr in den Genuss der Opfer-
Rückmeldung, ob Sie Ihre SPD-Kollegen überzeugen rente kommen.
können.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sortieren
Vielen Dank. Sie erst einmal Ihre Stasileute aus!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Es ist ausgesprochen erfreulich, dass in den Ände-
rungsantrag der Koalition die Jugendwerkhöfe aufge-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nommen wurden. Ich sage es sehr deutlich: Wer sich ein-
Die Kollegin Wawzyniak hat jetzt das Wort für die mal mit dem geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau
Fraktion Die Linke. beschäftigt, für den ist klar: Durch diesen Jugendwerk-
hof wird jede Relativierung des DDR-Unrechts delegiti-
(Beifall bei der LINKEN) miert.
(B) (D)
(Beifall bei der LINKEN)
Halina Wawzyniak (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Es ist erfreulich, dass die Fristenregelung ausgeweitet
Herren! Ich möchte mit dem anfangen, was Frau Steffen wird. Dennoch hätten wir uns gewünscht, dass es eine
angesprochen hat. Ich hätte mir gewünscht – ich habe unbefristete Möglichkeit der Antragstellung gibt, weil
das auch im Ausschuss gesagt –, dass wir mehr Zeit ge- gerade jüngere Menschen in einem Alter von Mitte 40
habt hätten, die Vorschläge der Sachverständigen nach bis Anfang 50 sind, wenn die Frist ausläuft, und die Er-
den zwei Berichterstattergesprächen noch einmal ge- fahrung zeigt, dass häufig erst bei Rentenantragstellung
meinsam im Detail zu prüfen und sie in den Gesetzent- darauf hingewiesen wird oder die Menschen erst dann in
wurf einzuarbeiten. Sie haben einige Sachen aufgenom- der Lage und bereit sind, einen Antrag nach dem Straf-
men, andere Sachen fehlen. rechtlichen Rehabilitierungsgesetz zu stellen.

Ich möchte Ihnen heute ein Buch empfehlen, und Mit unserem eigenen Entschließungsantrag gehen wir
zwar das Buch Knastmauke von Sibylle Plogstedt. In ein bisschen über den Gesetzentwurf hinaus. Wir wollen,
diesem Buch wird die heutige Lage von ehemaligen dass nicht an den 180 Tagen Haft festgehalten wird. Wir
Häftlingen in der DDR untersucht, und es werden die haben in der Anhörung der Sachverständigen gehört,
Fragen aufgeworfen, warum diejenigen, die die deutsche dass sehr häufig Menschen nur kurzfristig in Haft ge-
Einheit erkämpft haben, zu Menschen wurden, denen es nommen und dann durch Zersetzungsmaßnahmen des
heute besonders schlecht geht, Ministeriums für Staatssicherheit weiteren Repressalien
unterworfen wurden. Wir wollen, dass auch solche Op-
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die Frage fer in den Genuss der Opferrente kommen.
ist richtig und durchaus berechtigt!)
(Beifall bei der LINKEN)
und inwieweit die schlechtere soziale Situation auf den
traumatischen Störungen als Folge der Haft beruht. Wir finden das Grundprinzip falsch, dass die Opfer-
rente als soziale Ausgleichsleistung gestaltet ist. Wir fin-
Ich glaube, es ist eine grundsätzliche Frage, ob wir den, für die Zivilcourage und das Engagement für Bür-
die Anerkennung der Zivilcourage und die Anerkennung gerrechte und Demokratie muss unabhängig vom
des Eintretens für Bürgerrechte und Demokratie daran Einkommen ein Anspruch auf Opferrente gewährt wer-
knüpfen, dass eine Freiheitsentziehung stattgefunden ha- den.
ben muss, wie Sie es beim Strafrechtlichen Rehabilitie-
rungsgesetz tun. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6885
Halina Wawzyniak
(A) Wir fordern eine höhere Leistung, und wir fordern vor noch auftaucht, geben wir ab. – Das erinnert an einen (C)
allem, dass die Vermutung, dass die Schäden aus der Räuber, der seine Beute versteckt hat und sagt: Wenn
Haft herrühren, der Regelfall wird und dass nicht die doch noch etwas gefunden wird, dann bekommt es der
Opfer beweisen müssen, dass die Schäden Folge der Staat. – Das ist wirklich großzügig. So billig kommen
Haft sind. Sie hier nicht davon.
Herr Buschmann, Sie haben gesagt, wir legen etwas (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
vor, was Ihnen nicht gefällt. Hätten wir nichts vorgelegt, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
dann hätte Ihnen das auch nicht gefallen. Ich sage Ihnen geordneten der SPD – Zuruf von der FDP: Tä-
ganz ehrlich: Mir ist es egal, was Ihnen gefällt, mir ist terpensionen werden gezahlt!)
nur unsere Verantwortung gegenüber den Opfern wich-
Der Kollege Bartsch war Bundesschatzmeister, als ihm
tig.
Gregor Gysi als Vorsitzender Briefe geschrieben hat mit
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Tipps, wie man Firmen gründet und Gelder zur Seite
Nicole Maisch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schafft. Der letzte Satz lautete, wie von einem Mafiapa-
NEN] – Marco Buschmann [FDP]: Das be- ten: Dieses Schreiben bitte vernichten. – Das hat er
ruht auf Gegenseitigkeit!) zwei-, dreimal versäumt. Deswegen wurde es bei Durch-
suchungen gefunden. Von ihm wird der Satz kolportiert:
Ich komme zum Schluss. Wir werden diesen Gesetz-
Das wird mir Gregor nie verzeihen.
entwurf jetzt hier im Bundestag einstimmig verabschie-
den, wenn die Grünen zustimmen, wovon ich ausgehe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
Die anderen haben das ja schon erklärt. Mir ist wichtig, der FDP, der CDU/CSU und der SPD)
dass wir das Thema damit nicht zu den Akten legen, son-
So weit dazu, ob Sie sich ehrlich oder unehrlich verhal-
dern dass wir weiter über die weiter gehenden Forderun-
ten haben, vom Parteivorsitzenden bis hin zum Schatz-
gen auch der Opferverbände nachdenken und das bei
meister.
Gelegenheit sehr gerne auch gemeinsam wieder aufgrei-
fen. Jetzt zu dem Gesetz. Frau Kollegin Voßhoff, wir ha-
(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth ben in der Frage der Opferpension nie auf einem hohen
[Kyffhäuser] [FDP]: Stasi-Unterlagen-Gesetz: Ross gesessen. Das können wir auch nicht; denn Sie ha-
Noch dieses Jahr reden wir darüber! Gerne!) ben zu Recht gesagt: Weder Schwarz-Gelb unmittelbar
nach der friedlichen Revolution noch Rot-Grün haben
diese Pension zustande gebracht. Es war die Große Ko-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: alition. Das erkennen wir an und haben das auch immer
(B) Wolfgang Wieland hat das Wort für Bündnis 90/Die so gesagt. (D)
Grünen.
Nun kommt ein gewisses Aber. Unser Entschlie-
ßungsantrag ist wie die anderen Entschließungsanträge
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
auch ein Memo, wohin sich das eigentlich weiterentwi-
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau
ckeln müsste. Wenn wir wieder regieren – stellen Sie
Kollegin Wawzyniak
sich das einfach einmal vor –
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Kommen
(Lachen bei der CDU/CSU)
Sie jetzt zu dem Geld?)
– tun Sie das, auch wenn Schwarz bei der Vorstellung
– ja, jetzt kommt das mit dem Geld; Sie haben es geahnt,
verzweifelt, dann dürfen Sie uns an dieses Memo erin-
und auch Ihr Kollege Dietmar Bartsch ist ja wieder hier –,
nern; denn auch damit haben Sie recht: Das ist ein langer
(Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Extra ge- Prozess, der selten zu einem befriedigenden Ende findet.
kommen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
was Sie gesagt haben, war inhaltlich weitestgehend rich-
Eine echte Opferpension wäre eine Anerkennungs-
tig.
und Ehrenpension. Sie wäre mehr als eine Haftentschä-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Danke!) digung. Die sechs Monate oder 180 Tage – das ist uns
doch allen klar – sind ungerecht gegenüber denen, die
Aber die Attitüde, aus Verantwortung für die Opfer zu
diese Grenze knapp verfehlen. Da könnte man abgestuft
handeln, lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
mehr geben. Ich weiß, dass man offene Türen einrennt,
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr was die Schülerinnen und Schüler, die Dopingopfer und
richtig!) die Menschen angeht, die in der Zwangspsychatrie wa-
ren. Deswegen erkenne ich an, dass es einen kleinen
Verantwortung für die Opfer heißt zunächst, dass die
Schritt gegeben hat. Der ist gut. Dem stimmen wir zu.
Täter finanziell für diese einzustehen und finanzielle
Wiedergutmachung zu leisten haben. Das haben Sie nie Es bleibt aber sehr viel zu tun. Es gibt immer noch
getan. Sie haben Ihre Parteimilliarden veruntreut. Sie ha- Opfer, die vergessen wurden. Es gibt immer noch Opfer,
ben sie ins Ausland geschafft und im Inland versickern die draußen vor der Tür stehen. Wir alle sind aufgefor-
lassen. Dazu sollten Sie Stellung nehmen. Herr Bartsch dert, dies zu ändern. Aber wir sollten aufhören, uns ge-
hat das letztens versucht und sinngemäß gesagt, dass genseitig vorzuwerfen, wer jeweils mehr bewilligt bzw.
Ihre Partei notariell erklärt habe: All das Geld, das jetzt nicht bewilligt hat.
6886 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Wolfgang Wieland
(A) Wie gesagt, es ist ein kleiner Schritt in die richtige was nun gemacht wird, hätten wir schon lange haben (C)
Richtung. Weitere müssen folgen. können. Aber nehmen Sie wenigstens zur Kenntnis, dass
dies die Fakten sind.
In diesem Sinne vielen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Danke schön.
sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Beifall bei der LINKEN)
CSU und der FDP)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Wieland zur Antwort.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Dietmar Bartsch das Wort.
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Jetzt wollen Herr Kollege Bartsch, ich nehme Ihre Worte zur
wir es wissen! Wo sind sie? Wo steht der Koffer?) Kenntnis. Zutreffend sind sie in keiner Weise. Ihre Partei
ist keine Neugründung gewesen. Sie wurde sogar fortge-
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): führt, um die Kasse zu retten; so hat es Herr Gysi aus-
– Jetzt ist es günstig, zuzuhören. drücklich gesagt. Das gilt sowohl im Hinblick auf den
Herr Wieland, Sie wissen sicherlich, dass ich im Ja- Kaderstamm als auch im Hinblick auf den Milliarden-
nuar 1991 Schatzmeister geworden bin. Sie wissen auch, schatz.
dass die Vermögensfragen der Partei danach abschlie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei
ßend geklärt worden sind. der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Erstens zum Auslandsvermögen: Das Auslandsver- Der Milliardenschatz Ihrer Partei war das Hundertfa-
mögen ist in einer Bundestagsdrucksache aufgeführt che dessen, was die sogenannten Blockparteien hatten,
worden. die im Übrigen wie die LDPD sehr schnell auf alles,
(Marco Buschmann [FDP]: Da ist die Ver- auch auf Grundstücke, verzichtet haben. Was haben Sie
schleierungstaktik aufgeführt, die Sie ange- als SED gemacht? Sie haben im Jahre 1990 Ihre Betriebe
wandt haben!) systematisch umgewandelt und privatisiert sowie dubio-
sesten Privatleuten Darlehen gegeben, die das Geld teil-
Wir haben dieses zusammen mit der unabhängigen weise nie zurückgezahlt haben. Da waren Sie die betro-
Kommission ermittelt, und es ist dem Staatshaushalt zu- genen Betrüger. Sie konnten Ihr Parteivermögen gar
geflossen, wie es das Gesetz für den Aufbau Ost vor- nicht schnell genug verschleudern. Dann haben Sie sich (D)
(B)
sieht. irgendwann hingestellt und gesagt: Nun haben wir nichts
Zweitens. Das sonstige Vermögen der SED ist geprüft mehr. – Sie haben alles weggegeben.
worden – übrigens genau wie das Vermögen der Block- Luxemburg und Liechtenstein waren – ich verweise
parteien, weil Sie da drüben so eine große Klappe haben –, auf die Putnik-Affäre; über die rote Fini haben wir das
(Beifall bei der LINKEN – Marco Buschmann letzte Mal geredet; dabei rümpfen Sie über Zumwinkel
[FDP]: Verschleierung!) und andere zu Recht die Nase – auch Ihre Anlagepara-
diese. Gesteuert wurden die Aktivitäten von der Partei-
und das, was auf rechtsstaatliche Weise erworben wurde, spitze. Da sind nicht irgendwelche Funktionäre aus dem
durfte die PDS behalten. Dabei handelte es sich um vier Ruder gelaufen. Das wurde generalstabsmäßig geplant.
Immobilien, nicht mehr und nicht weniger, kein Cent In der Putnik-Affäre wurden Pohl und Langnitschke frei-
Geldvermögen. gesprochen mit der Begründung, dass sie auf Anweisung
(Marco Buschmann [FDP]: Das lag ja auf von Gysi und dem Parteivorstand die Gelder nach Mos-
Schwarzgeldkonten in Skandinavien!) kau bringen wollten.
Alles, was Sie behaupten, ist schlicht die Unwahrheit. Seien Sie ganz ruhig! Sie haben alles versteckt und
Denn in allen Verfahren hat es an keiner Stelle auch nur ausgegeben. Dann haben Sie einen Vergleich abge-
einen Vorwurf gegen die neue Partei, die PDS, gegeben, schlossen und gesagt: Wir haben nichts mehr. Nun erklä-
der hätte aufrechterhalten werden können. ren wir, dass den Rest, wenn es denn einen gibt, der Staat
bekommt. – Ganz schäbig! Sie haben Volksvermögen,
(Marco Buschmann [FDP]: Plötzlich ist sie das Sie sich zu DDR-Zeiten zu Unrecht angeeignet und
neu! Altes Geld und neue Partei!) das Sie veruntreut haben, in Kanälen versickern lassen,
Das Letzte, was ich sagen will, ist: Wenn Sie das in denen es heute – so mutmaßen wir – zu Ihnen zurück-
wirklich ernsthaft mit Mafiamethoden vergleichen, dann fließt.
muss ich sagen, dass das unter Ihrem Niveau ist, Herr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Wieland. Wir haben Aufklärung geleistet und etwas für
bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab-
die neuen Länder getan. Das Geld ist verteilt worden.
geordneten der SPD)
Die PDS hat im Jahre 1992 den Vorschlag gemacht,
Geld aus dem infrage stehenden Vermögen für die Opfer
bereitzustellen. Aber unser Vorschlag ist im Deutschen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bundestag abgelehnt worden. Das ist die Realität. Das, Ich schließe die Aussprache.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6887
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) Wir kommen zur Abstimmung über den vom Bundes- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): (C)
rat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes. Der Rechts- legen! Seit ungefähr zehn Jahren haben wir ein Verbrau-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf cherministerium, das dank der von Gerhard Schröder ge-
Drucksache 17/3233, den Gesetzentwurf des Bundesrates führten rot-grünen Bundesregierung eingeführt wurde.
auf Drucksache 17/1215 in der Ausschussfassung anzu- Fast parallel dazu hat sich vor zehn Jahren der Verbrau-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in cherzentrale Bundesverband gegründet. Einige von uns
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- waren in dieser Woche beim zehnten Geburtstag des
zeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist vzbv.
der Gesetzentwurf in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen. Die Politik hat sich also des Schutzes und der Interes-
sen der Verbraucher angenommen – einmal mit mehr,
Dritte Beratung einmal mit weniger Erfolg, derzeit mit etwas weniger.
und Schlussabstimmung. Diejenigen, die zustimmen Doch insgesamt hat sich für die Verbraucherinnen und
wollen, mögen sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Verbraucher einiges bewegt. Dennoch ist die Verbrau-
Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter cherin bzw. der Verbraucher bisher für die Politik ein
Beratung ebenfalls einstimmig angenommen. wenig bekanntes Wesen; denn während die Anbieter am
Markt viel Geld in die Erforschung des Verbraucherver-
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent- haltens und in entsprechende Werbestrategien investie-
schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- ren, überprüft die Politik bisher kaum, ob ergriffene oder
antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3236? – geplante verbraucherpolitische Maßnahmen auch der
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ent- Realität der Verbraucher entsprechen und diese von Nut-
schließungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch zen sind.
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und Linken. Dagegen ha-
ben CDU/CSU und FDP gestimmt. Wer stimmt für den Einen ersten Versuch hat die SPD bereits in der letzten
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck- Legislaturperiode unternommen. Wir haben gegenüber
sache 17/3237? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – der CDU/CSU eine Evaluierung des Verbraucherinfor-
Der Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt. Zuge- mationsgesetzes durchgesetzt, die zeigen sollte, ob das
stimmt haben die Fraktion Die Linke und die Fraktion Gesetz seinen Zweck einer verbesserten Information der
Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen waren CDU/CSU und Verbraucher erfüllt. Eine kritische Überprüfung auf Basis
FDP. Die SPD-Fraktion hat sich enthalten. der gesammelten Erfahrungen hatten wir damals zur Be-
dingung für die Zustimmung zum VIG gemacht. Doch
(B) Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- die schwarz-gelbe Bundesregierung will diese Chance (D)
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3238? – nicht nutzen. Stattdessen droht die Evaluierung als PR-
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Dieser Entschlie- Event instrumentalisiert zu werden, um zu rechtfertigen,
ßungsantrag ist – bei dem gleichen Stimmenverhältnis dass diese Bundesregierung trotz der Unzulänglichkeiten
wie vorher – ebenfalls abgelehnt. und Fehlentwicklungen, die die Verbraucherverbände an-
hand ihrer mit dem VIG gemachten Erfahrungen vorwei-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sen können, keinen Handlungsbedarf sieht.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Wie wollen Verbraucher denn informiert werden?
Wie müssen die Informationen aussehen? Wo müssen sie
Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
zugänglich sein, um alltagstauglich – das heißt verständ-
Drobinski-Weiß, Petra Crone, Petra Ernstberger,
lich und für Verbraucher schnell und unkompliziert – im
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Bedarfsfall abrufbar zu sein? Woran orientieren sich
Moderne verbraucherbezogene Forschung Verbraucherinnen und Verbraucher bei ihren Entschei-
ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen ge- dungen denn tatsächlich? Bisher bleiben solche Fragen
setzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen bei dem Vorhaben der Bundesregierung völlig unberück-
sichtigt.
– Drucksache 17/2343 –
Überweisungsvorschlag: Die SPD fordert ein Gesamtkonzept zum Ausbau der
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und modernen verbraucherbezogenen Forschung. Neue wis-
Verbraucherschutz (f) senschaftliche Ansätze der Verhaltensökonomik sollten
Innenausschuss aufgegriffen und systematisch erforscht werden, um zu
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
klären, wie das tatsächliche Verhalten von Verbrauchern
Haushaltsausschuss durch gesetzliche Regelungen beeinflusst wird. Meine
Fraktion hat einen hierzu vorliegenden Antrag bereits im
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Juli verabschiedet. Wir brauchen ein Konzept, eine Sys-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu sehe tematik für eine Gesetzesfolgenabschätzung, einen wis-
und höre ich keinen Widerspruch. senschaftsbasierten Verbrauchercheck; denn wenn wir
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß für gute Gesetze machen wollen, brauchen wir mehr empiri-
die SPD-Fraktion. sches Wissen über das tatsächliche Verhalten der Ver-
braucher. Die Verhaltensökonomie kann hierzu einen
(Beifall bei der SPD) Beitrag leisten. Davon würden nicht nur die Verbraucher
6888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Elvira Drobinski-Weiß
(A) profitieren; vielmehr würden Regulierungen auch insge- braucherpolitische Instrumente und Maßnahmen müssen (C)
samt effektiver werden. endlich den realen Verbraucher im Blick haben und all-
tagstauglich sein.
Verbissen hält indes die Bundesregierung am Leitbild
des Homo oeconomicus, des ausschließlich rational ent- Vielen Dank.
scheidenden Verbrauchers, fest. Informiert soll er sein, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der Verbraucher, und dies, obwohl in vielen Bereichen der LINKEN)
die Transparenz fehlt und Informationen gar nicht oder
nur schwer zugänglich sind. Aber Informationen und
Rationalität allein werden dem Verbraucher, der viel- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schichtigen und verschiedensten Einflüssen ausgesetzt Das Wort hat nun Franz-Josef Holzenkamp für die
ist, nicht gerecht. Das wissen wir doch alle von uns CDU/CSU-Fraktion.
selbst und von unseren wahrlich nicht immer rationalen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Kaufentscheidungen. Den Verbraucher, der unentwegt neten der FDP)
Kosten-Nutzen-Berechnungen durchführt und zur einzi-
gen Grundlage seiner Kaufentscheidung macht, den gibt
Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU):
es nicht; von ihm auszugehen, ist unrealistisch.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
Gerade deshalb spricht auch die Werbung Verbrau- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, was
cher auf einer ganz anderen Ebene an. Produkte sollen gut gemeint ist, ist noch längst nicht gut gemacht. Dies
nicht nur gekauft und benutzt, sondern auch geliebt wer- zeigen Sie heute sehr deutlich mit Ihrem Antrag zur Ver-
den. Bei McDonald’s liebt man es. Die Leute von Edeka braucherforschung. Aber der Antrag behandelt ein wich-
lieben die Lebensmittel, und irgendein Autohersteller tiges Thema, um das wir uns verstärkt kümmern müssen.
liebt Autos. Das heißt, Einkaufen soll zum Erlebnisshop- In diesem Punkt sind wir einer Meinung, und ich bin
ping werden. Lebensmittel werden nicht mehr gegessen, auch Ihrer Meinung, Frau Kollegin, dass wir tatsächlich
sondern mit allen fünf Sinnen genossen. Böse könnte am Anfang der Debatte stehen.
man dies auch als gezielte Verblödung der Verbraucher Um welche Frage geht es? Es geht darum, wie wir dem
bezeichnen; Verbraucher in den von Schnelllebigkeit, Vielfältigkeit
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Unübersichtlichkeit geprägten globalen Märkten das
der LINKEN) notwendige Rüstzeug zu seinem Schutz mitgeben kön-
nen. Ich denke, insoweit besteht Übereinstimmung.
denn aus der Sicht einiger Anbieter ist der rational kon- Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
(B) sumierende Verbraucher möglicherweise gar nicht ge- habe Probleme, den verbraucherpolitischen Geist in Ih- (D)
wünscht. rem Antrag nachzuvollziehen. Steigen wir einmal in Ih-
Umso wichtiger ist es, der Frage nachzugehen, wel- ren Antrag ein. Die Basis für Ihre Forderungen zur Ver-
che Faktoren die Konsumentenentscheidungen beein- braucherpolitik lautet hier folgendermaßen:
flussen und wie der Verbraucheralltag aussieht, in dem Bisher ging die Verbraucherpolitik mit dem Leitbild
solche Entscheidungen getroffen werden. Die Wahlmög- des „mündigen Verbrauchers“ davon aus, dass der
lichkeiten haben nämlich durch technologischen Fort- Verbraucher sich im Sinne eines Homo oeconomi-
schritt und Liberalisierung der Märkte zugenommen. cus als rationaler Akteur eines perfekten Marktes
Gleichzeitig sind Tarifstrukturen und Angebotsbedin- verhält, der alle verfügbaren Informationen voll-
gungen komplexer und schier unüberschaubar gewor- ständig verarbeitet, sich dabei zukunftsorientiert
den. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Verbrau- und den eigenen Bedürfnissen entsprechend verhält
cher oft mehr für Produkte ausgeben als notwendig, dass und aus seinen Erfahrungen lernt.
sie kaufen, was sie nicht gebrauchen können, oder dass
sie aus Überforderung vor der Angebotsvielfalt gar keine Meine Damen und Herren, was für ein Quatsch!
Entscheidung treffen und so zum Beispiel nicht ausrei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chend für ihr Alter vorsorgen. Eine stärkere Ausrichtung
auf real existierende Verbraucherinnen und Verbraucher Vielleicht haben Sie den Homo oeconomicus als Leit-
könnte uns unverständliche Informationsblätter beim bild Ihrer Verbraucherpolitik verstanden, wir garantiert
Handel mit Finanzprodukten ebenso ersparen wie un- nicht! Der mündige Bürger und der Homo oeconomicus
durchschaubare Auflistungen von Inhaltsstoffen bei Le- als theoretisches, wissenschaftliches Konstrukt haben
bensmitteln oder versteckte Kosten bei Handyverträgen. nun wirklich gar nichts gemein. Vielleicht passt der Ver-
gleich einer Currywurst mit einer Tofuwurst – mehr aber
Für eine stärkere Vernetzung zwischen Verbraucher- nicht.
forschung und Politik brauchen wir natürlich auch
Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er
Mittel. Wir haben entsprechende Forderungen in die
für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nach-
Haushaltsberatungen eingebracht. Ich kündige hier
redet …
schon einmal an: Wir reden heute sicherlich nicht zum
letzten Mal über das Thema Verbraucherforschung. Dieser sehr zutreffende Gedanke von Adorno spiegelt
Ganz im Gegenteil, wir stehen erst am Anfang dieser den Leitgedanken der Union in der Verbraucherpolitik in
Debatte. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokra- diesem Fall sehr gut wider. Natürlich wissen wir, dass
ten werden nicht lockerlassen. Wir bleiben dran. Ver- auch der Verbraucher nicht immer rational entscheidet –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6889
Franz-Josef Holzenkamp
(A) mit all seinen Folgen. Natürlich wissen wir auch, dass Verbraucherforschung – hier sind wir uns einig – un- (C)
die Anbieter sich das zunutze machen. Mit Verlaub, das terstützt dies. Dass dabei auch Erkenntnisse der Verhal-
ist wirklich ein alter Hut. tensökonomie eingebunden werden können, ist eine
Selbstverständlichkeit.
Nur, was lernen wir daraus, meine Damen und Her-
ren? Sie wollen Ihrem Antrag entsprechend, dass Ver- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wunderbar! Dann
braucherverhalten und Verbraucherentscheidungen „in können Sie dem Antrag ja zustimmen!)
Einklang stehen mit einer Verbesserung der individuel-
Dies befürworten wir als Fraktion, und das befürwortet
len und gesellschaftlichen Wohlfahrt“.
auch das zuständige Bundesministerium. Wie Sie wis-
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Oh ja, ganz sen, sind hier eine Menge Aktivitäten im Gange: in der
wichtig!) Anlageberatung,
Dafür wollen Sie sich der Verbraucherforschung und der (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja, ja!)
Erkenntnisse der Verhaltensökonomik bedienen. Das
bei der Überprüfung von Produktinformationsblättern
heißt für mich nichts anderes, als dass der Staat den Ver-
und auch beim VIG. Wir fragen jeden Menschen im In-
brauchern vorschreibt, was und wie sie zu verbrauchen
ternet: Wie groß war der Nutzen? Mehr Transparenz,
haben.
meine Damen und Herren, geht überhaupt nicht.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Herr Kollege,
Darüber hinaus startet ab diesem Wintersemester an
da haben Sie etwas missverstanden!)
der Uni Bayreuth der Studiengang „Rechtlicher Verbrau-
– Die Verbraucher, verehrte Kollegin, werden sich be- cherschutz“ im Rahmen einer Stiftungsprofessur. Zwei
danken. weitere werden folgen. Eine wird sich mit dem Entschei-
dungsverhalten von Verbrauchern beschäftigen. Parallel
Das ist nicht unsere Vorstellung von einem mündigen wird das Ministerium den Aufbau eines Netzwerkes zur
und freien Verbraucher. Wie eine solche Politik aussieht, Verbraucherforschung vorantreiben.
erleben wir doch zum Beispiel bei der Nährwertkenn-
zeichnung. Mit Ihrer Ampel Sie sehen: Die Bundesregierung ist zum Wohle des
mündigen Verbrauchers gut unterwegs. Hier verhält es
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das wäre der sich wie beim Hasen und dem Igel: Die Bundesregierung
richtige Weg gewesen!) ist längst da, wo die Opposition erst hin will.
wollen Sie den Verbraucher in seinem Ernährungsver- (Lachen bei der SPD)
halten lenken. Offensichtlich sind Sie davon überzeugt,
(B) dass der Verbraucher nicht in der Lage ist, selbst zu ent- Aus diesem Grunde können wir den Antrag nur ableh- (D)
scheiden, was oder wie er letztendlich isst. Ich sage dazu nen.
Nein, Nein und nochmals Nein. Das hat mit moderner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Verbraucherpolitik überhaupt nichts zu tun. Das erinnert
eher an Orwells 1984.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Das Wort hat nun Caren Lay für die Fraktion Die
Widerspruch bei der SPD) Linke.
Meine Damen und Herren, es ist nun einmal so: Nie- (Beifall bei der LINKEN)
mand kann den Menschen zum Homo oeconomicus
formen. Niemand kann die Unsicherheiten, die aus glo-
Caren Lay (DIE LINKE):
balisierten Lebenswelten und zunehmender Produkt-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
und Angebotsvielfalt kommen, völlig tilgen. Niemand
Herren! Unternehmen geben in Deutschland jährlich
kann den Verbrauchern die letzte Entscheidung abneh-
rund 30 000 Milliarden für Marktforschung und Wer-
men. An dieser Stelle sage ich deutlich: Das wollen wir
bung aus – –
auch nicht. Wir in der christlich-liberalen Koalition
trauen den Menschen etwas zu, (Marlene Mortler [CDU/CSU]: 30 000 Milliarden?
Das kann wohl nicht stimmen!)
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wir auch!)
Eine enorme Summe dient nur dazu, herauszufinden,
ganz im Gegensatz zu Ihnen.
was für die Unternehmen gut ist. Was gibt demgegen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) über der Staat aus, um zu erforschen, was aus der Sicht
der Verbraucherinnen und Verbraucher gut ist? 3 Millio-
Was aber kann und muss Verbraucherpolitik wirklich nen Euro!
leisten? Sie muss Regeln für größtmögliche Markttrans-
parenz schaffen und zielgenaue Informationen bieten. Auch wir als Linke sind der Auffassung, dass hier zu
Das ist ein permanent zu verbessernder Prozess. Sie wenig getan wird und dass die Prioritäten in der For-
muss echte Wahlmöglichkeiten hinsichtlich des Preises schungspolitik falsch gesetzt werden.
und der Vielfalt des Warenangebots gewährleisten. Nicht
(Beifall bei der LINKEN)
zuletzt muss sie Maßstäbe hinsichtlich gesundheitlicher,
technischer und umweltfreundlicher Produktstandards Ich setze die 3 Millionen Euro für die Verbraucherfor-
setzen. schung einmal ins Verhältnis zu anderen Ausgaben des
6890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Caren Lay
(A) Bundes. Es gibt für die Raumfahrt etwa 1 Milliarde Ein anderes Beispiel ist die Finanzberatung. Hier hat (C)
Euro, für die Atomforschung 135 Millionen Euro, und der Sachverständigenrat des Ministeriums eine Reihe
für Sicherheitstechnologien wie den Nacktscanner sind von guten Vorschlägen gemacht. Auf die Umsetzung
immerhin 60 Millionen Euro im Staatssäckel vorhanden. durch die Bundesregierung warten wir hier vergeblich.
Zukunftsorientierte Forschungspolitik sieht wirklich an-
Meine Damen und Herren, auch in der Verbraucher-
ders aus.
politik betreibt die Koalition Klientelpolitik
In der Tat brauchen wir eine starke und unabhängige (Dr. Erik Schweickert [FDP]: Ich habe es fast
Verbraucherforschung. Verbraucherinnen und Verbrau- schon vermisst!)
cher verlieren jährlich 20 bis 30 Milliarden Euro allein
durch Falschberatung bei der Geldanlage. Kein Mensch statt guter Verbraucherpolitik. Wir als Linke wollen Ver-
kann die immer komplexer werdenden Märkte vollstän- braucherpolitik mit Weitblick statt eine skandalgetrie-
dig überblicken. Globalisierung hat neue Märkte ge- bene. Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen eine
schaffen. Privatisierung, etwa von Wasser, Energie und starke Stimme auf allen Ebenen, in der Politik und auch
Telekommunikation, hat Bürgerinnen und Bürger zu in der Forschung. Auf dieser sachlichen Grundlage soll-
Kunden gemacht. Deswegen müssen wir als Politik auch ten wir dann den Antrag der SPD in den Ausschüssen
mehr darüber erfahren, welche Instrumente Verbrauche- diskutieren.
rinnen und Verbraucher benötigen, um sich im Dschun-
Vielen Dank.
gel globaler Märkte zurechtzufinden.
(Beifall bei der LINKEN)
Berlin ist übrigens mit gutem Beispiel vorangegan-
gen. Hier hat die linke Verbrauchersenatorin Katrin
Lompscher den „Verbrauchermonitor“ eingeführt. Berli- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
ner Verbraucherinnen und Verbraucher werden gefragt, Das Wort hat nun Erik Schweickert für die FDP-Frak-
wo ihrer Ansicht nach verbraucherpolitisch gehandelt tion.
werden muss. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU)

Außerdem werden in Berlin die Auswirkungen von Ge- Dr. Erik Schweickert (FDP):
setzen auf die Verbraucherinnen und Verbraucher tat- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
sächlich überprüft. Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lay,
Auch die Verbraucherverbände sollten unserer Auffas- 30 000 Milliarden Euro – diese Zahl würde ich noch ein-
(B) sung nach Bestandteil einer besseren Verbraucherfor- mal revidieren. Ich glaube, da sind Millionen und Mil- (D)
schung sein; denn sie werden als Erste auf die Missstände liarden durcheinandergekommen.
aufmerksam. Jede Förderung, die wir in die Verbrau- (Zuruf von der LINKEN)
cherverbände stecken würden, wäre wirklich Gold wert.
Ich finde es aber toll, dass wir uns dem Thema jetzt
Anders als Sie, Herr Holzenkamp, finde ich es sehr widmen. Nachdem die SPD in der Opposition angekom-
gut, dass die SPD in ihrem Antrag sagt: Das Leitbild des men ist, ist sie der Meinung, man könne da jetzt etwas
mündigen Verbrauchers ist in dieser Art und Weise nicht tun. Da muss man sich jetzt schon einmal Gedanken ma-
mehr haltbar. Es muss überarbeitet und auch diskutiert chen, wie man dazu steht. Wir Liberale bauen auf eine
werden. – Die schwarz-gelbe Bundesregierung benutzt Stärkung der Menschen am Markt und nicht auf den
das Leitbild des mündigen Verbrauchers in aller Regel, Schutz vor dem Markt.
um politisch untätig zu bleiben.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das glaube ich
(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Schwache Ihnen!)
Begründung!)
Wir trauen den Verbrauchern etwas zu. Die Stichworte
Deswegen müssen wir diese Leitbilddebatte jetzt führen. „mündiger Bürger“ und „mündiger Verbraucher“ sind
(Beifall bei der LINKEN) genannt worden. Wir sind der Meinung, bessere Infor-
mationen und mehr Wissen über Produkte, um dann
Hier geht es nicht um die Bevormundung. Auch wir selbst entscheiden zu können, sind wichtig. Deswegen
als Linke wollen, dass Verbraucherinnen und Verbrau- ist für uns Bildung und Information der Verbraucher das
cher selbst entscheiden. Aber die Grundlage der Ent- Gebot der Stunde.
scheidung muss stimmen, und diese Grundlage ist häufig
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nicht gegeben. Deswegen sind auch wir beispielsweise
für die Nährwertampel. Es muss an der Stelle gesagt Wir sind nicht der Meinung, dass der Verbraucher ein
werden, dass Verbraucherforschung wenig nützt, wenn Wesen mit null Konsumwissen ist, also jemand, der
sich die Regierung an das, was die Forschung herausge- keine Ahnung hat. Das könnte man aber manchmal den-
funden hat, nicht hält. Die Nährwertampel ist ein sehr ken, wenn man Ihren Antrag liest. Der Verbraucher steht
gutes Beispiel dafür. Die Wissenschaft hat sie empfoh- im Fokus der Forschung. In vielen Studiengängen wird
len. Frau Aigner hat sie wider besseres Wissen abge- verbraucherbezogen geforscht, und nicht nur im Sinne
lehnt. Stattdessen folgt sie den Lobbyinteressen der Le- von Verkaufs- und Manipulationsstrategien, wie hier un-
bensmittelindustrie. terstellt wird. Ich selbst gebe an der Hochschule Rhein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6891
Dr. Erik Schweickert
(A) Main am Campus Geisenheim Vorlesungen, die sich un- gefragt, ob Warnungen vor 1-Cent-Überweisungen für (C)
ter anderem mit Verbraucherländern befassen. Da wird den Verbraucher wirklich relevant bzw. wichtig sind. Ich
sehr genau erforscht, was der Verbraucher denn möchte. glaube, solche Warnungen kommen daher, dass es an
Hier richten wir unser Augenmerk insbesondere auf den empirischen Studien darüber mangelt – das wissen wir
informierten Verbraucher. In anderen Fachrichtungen als Politiker nämlich häufig nicht –, was die Verbraucher
– Kollege Holzenkamp hat es gesagt – ist es genauso: sei wirklich wollen und was sie fordern. Der Verbraucher ist
es in den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften nämlich manchmal weiter, als wir es ihm zugestehen
oder auch in den Rechtswissenschaften oder in der Psy- wollen.
chologie. An Ergebnissen mangelt es uns hier also nicht.
Wir, die Verbraucherpolitiker aller Fraktionen, die
Aber nicht nur die Forschung, auch der Verbraucher wir hier sitzen, erfahren aus Zuschriften, aus Gesprä-
selbst ist manchmal viel weiter, als es ihm die SPD in ih- chen in den Wahlkreisbüros oder aus Gesprächen mit
rem Antrag zutraut. Er ist nicht der tumbe Hans-guck-in- den Bürgern, wo der Schuh drückt. Es kann aber nicht
die-Luft. Die Realität sieht anders aus. Der Verbraucher schaden, wenn wir durch Umfragen die relevanten The-
hat keine Angst vor Innovationen und Wahlmöglichkei- men und die tatsächlichen Problemlagen der Verbrau-
ten. Im Wettbewerb ist der Verbraucher immer noch Kö- cher herauszufiltern versuchen. Ein entsprechender Pos-
nig. Das zeigen uns die Rabattschlachten im Einzelhan- ten für sogenannte Entscheidungshilfe-Vorhaben steht
del, die ohne Wettbewerb gar nicht stattfinden würden. dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz im Haushalt zur Verfügung. Die-
(Zuruf von der SPD: Die haben aber andere sen sollten wir nutzen.
Ursachen, Herr Kollege!)
Wir gehen hier auch auf meine Initiative hin voran.
Die Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest Frau Lay hat vorhin die sogenannte Berlin-Stichprobe an-
sind, staatlich gefördert, unverzichtbare Informations- gesprochen. Vielleicht war es früher, als Berlin ein abge-
quellen für den eigenverantwortlich handelnden Bürger. grenzter Markt war, ausreichend, dort zu fragen, was ge-
Mit dem Internet als weiteren Ratgeber hat er ganz tolle wünscht wird. Heute steht Berlin mit seinen ganzen
Vergleichs- und Auswahlmöglichkeiten. Problemlagen nicht repräsentativ für die Bundesrepublik
Waren Sie schon einmal auf der Funkausstellung? Ich Deutschland. Deswegen stellen wir jetzt die Fragen – wir
bin dagewesen. Schauen Sie sich die Begeisterung der haben ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gege-
Verbraucher an. Da hat keiner gejammert, dass er nun ben –: Welche Felder können priorisiert werden? Welche
zwischen LED-, LCD- und 3D-Fernsehern eine Auswahl Themen sind für die Verbraucherinnen und Verbraucher
treffen kann. Es ist ja auch kein Zufall, dass genau zeit- tatsächlich wichtig? Ähnlich wie bei einem Consumer
Board wollen wir feststellen, was den Verbrauchern
(B) gleich in den Berliner Multimediamärkten diese Pro- (D)
dukte laufen. Die Verbraucher sind also Innovationen wichtig ist. Dann begehen wir nicht mehr den Fehler, vor
gegenüber aufgeschlossen; ich glaube, viel aufgeschlos- Sachen zu warnen – beispielsweise vor 1-Cent-Überwei-
sener, als es die SPD jemals war. Als Sie von der SPD sungen –, die sich nachher als nicht sehr problematisch
1998 in Ihrem Wahlslogan noch den Begriff „Innova- herausstellen.
tion“ benutzten, waren Sie erfolgreich. Ich glaube, ein Ich möchte wissen, was für die Verbraucherinnen
erfolgreicher Verbraucher ist der, der an Innovationen und Verbraucher im Fokus steht. Da haben wir wirklich
glaubt. Leider hat sich die SPD vom Thema Innovation einen Nachholbedarf. Wir werden hier nachbessern;
wieder ein bisschen entfernt. denn wir von der christlich-liberalen Koalition setzen
Wenn Sie auf Seite 2 Ihres Antrags schreiben, der klare Schwerpunkte. Eine evidenzorientierte Politik
Verbraucher habe bisweilen unklare Ziele und handle bringt den effizienten Verbraucherschutz voran. Wir
nicht im Sinne der gesellschaftlichen Wohlfahrt, kann brauchen keine neue Forschungsrichtung, keine neuen
ich Ihnen nur entgegnen: Na und? Soll er das doch tun. Forschungseinrichtungen, Studiengänge oder Markt-
Es ist mir wesentlich lieber, der Verbraucher handelt ei- wächter, erst recht keine Bevormundung der Verbrau-
genverantwortlich, als so, wie es ihm der Staat vor- cherinnen und Verbraucher.
schreibt.
Vielen Dank.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Selbstver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ständlich! So passt es der Wirtschaft!)
Wir wollen den mündigen Bürger und nicht den staatlich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
bevormundeten. Das Wort hat nun Kollegin Nicole Maisch für die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Der Verbraucher ist dabei nicht so hilflos, wie die Oppo-


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sition behauptet.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
Bei einem Punkt, Frau Drobinski-Weiß, gebe ich Ih- den vergangenen Jahren hat die Verbraucherpolitik kon-
nen allerdings recht. Wir benötigen bisweilen etwas tinuierlich an Bedeutung gewonnen, weil sich die Men-
mehr Evidenzbasierung. Gerade für mich als Wissen- schen auf immer komplexeren, oft globalen Märkten
schaftler ist das Vorgehen der Politik manchmal etwas behaupten müssen. Neue Angebote und technische
ungewohnt und unbefriedigend. Ich habe mich schon oft Innovationen, aber auch ganz neue Märkte, die durch Li-
6892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Nicole Maisch
(A) beralisierungen oder die Notwendigkeit zur privaten Wir wissen zum Beispiel, dass Kinder Spielzeug in den (C)
Vorsorge entstanden sind, machen es uns allen schwer, Mund nehmen, auch wenn es dafür nicht gemacht ist.
den Überblick zu behalten und eine gute Wahl zu treffen. Das heißt, wir argumentieren nicht mit dem Leitbild des
Natürlich wollen wir den Menschen nicht vorschreiben, Verbrauchers, sondern beziehen uns auf die gelebte Rea-
was sie konsumieren; zum Glück können wir das auch lität. Natürlich wäre es noch schöner, wenn wir nicht nur
nicht. Es gibt aber durchaus ein Gemeinwohlinteresse an die gelebte Realität der Mitglieder des Verbraucher-
der guten Wahl. schutzausschusses berücksichtigen könnten, sondern un-
sere Politik evidenzgeleitet und forschungsbasiert betrei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ben könnten.
Das wird auch von CDU/CSU und FDP so gesehen. Herr
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Holzenkamp und Herr Schweickert, ich will Ihnen zwei
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Beispiele nennen:
(Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Das Dafür fehlt uns oft noch die wissenschaftliche Grund-
ist ja nett!) lage. Wir wissen beispielsweise nicht, ob die Mütter, an
die die Faltblätter Ihrer Kollegin Frau Dyckmans gerich-
Erstes Beispiel: eine Informationskampagne der Dro- tet sind, die Faltblätter auch wirklich lesen. Wir wissen
genbeauftragten der Bundesregierung – sie gehört der nicht, ob für diese Personengruppe ein Fernsehwer-
FDP-Fraktion an – für schwangere Frauen. Sie rät dazu, bespot nicht vielleicht geeigneter gewesen wäre.
während der Schwangerschaft möglichst keinen Alkohol
zu sich nehmen. Es ist sehr wichtig, die vorhandenen Instrumente zur
Verbraucheraufklärung und zur Verbraucherinformation
(Dr. Erik Schweickert [FDP]: Richtig!) empirisch abzusichern. Deshalb haben wir Grüne uns
Das ist nicht wertneutral. Natürlich hat der Staat ein In- überlegt, dass wir in einem Antrag zum Haushalt
teresse an gesunden Kindern und Müttern. Deshalb be- 2 Millionen Euro zusätzlich für die verbraucherbezo-
einflusst man die Verbraucherinnen und Verbraucher in gene Forschung einsetzen wollen. Vielleicht knapsen Sie
eine bestimmte Richtung. Hierbei handelt es sich um diesen Betrag bei der Gentechnikforschung ab.
Einflussnahme, auch wenn es mit einem Faltblatt und (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)
damit sehr rückhaltend und vorsichtig geschehen ist.
Damit wäre allen gedient. In diesem Sinne freue ich
Zweitens: private Altersvorsorge. Wenn man meint, mich auf die weiteren Beratungen.
man dürfe überhaupt keinen Einfluss nehmen, dann
dürfte man nicht bestimmte Produkte steuerlich günsti- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) ger stellen, wie wir es bei der Riester-Rente machen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (D)
Wenn der Staat völlig wertneutral wäre, hätte man sich
auch hier den Schubs in eine bestimmte Richtung ver- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
kneifen müssen. Das machen Sie natürlich nicht; es wäre Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-
auch völlig unsinnig, die Menschen von der privaten Fraktion.
Vorsorge fernzuhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Damit will ich sagen: Der Staat ist in der Verbrau-
cherpolitik – auch bei der von FDP und CDU/CSU – na-
Marlene Mortler (CDU/CSU):
türlich nicht wertneutral. Wir schubsen sozusagen die
Verbraucher gemeinwohlorientiert in eine bestimmte Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Richtung. Damen und Herren! Der Verbraucher ist überfordert. Er
reagiert längst nicht so rational, wie es das Bild des mün-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) digen Verbrauchers suggeriert. Er muss gelenkt und sein
Leider werden sowohl die Verbraucherinformationen Handeln muss erforscht werden. –
als auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen oft auf (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Er muss nicht
unzureichenden empirischen Grundlagen erstellt bzw. gelenkt, sondern erforscht werden!)
geschaffen. Stattdessen geht man von theoretischen Leit-
bildern aus, die oft illusorisch sind; der Homo oecono- Dieser unterschwellig sozialistische Ansatz in Ihrem An-
micus wurde hier schon oft gescholten. Es ist leider eine trag
Illusion, dass Verbraucher immer die für sie günstigste (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Entscheidung treffen, alle Informationen aufnehmen und
diese dann auch noch berücksichtigen. deckt sich nicht mit unserem Verbraucher- und Men-
schenbild.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Korrekt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Wir Verbraucherpolitiker sind es gewohnt, alltagsem- Franz-Josef Holzenkamp [CDU/CSU]: Das ist
pirisch zu diskutieren: Wir kennen Herrn Blesers 85-jäh- die Wahrheit!)
rige Mutter aus den Debatten im Ausschuss.
Wir glauben an den eigenverantwortlichen, an den mün-
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU digen Verbraucher.
und der SPD – Marlene Mortler [CDU/CSU]:
Ein gutes Beispiel!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6893
Marlene Mortler
(A) Ich plädiere an dieser Stelle für Verbraucher- und Für uns Frauen gibt es ein kleines Auto, das das emotio- (C)
Wirtschaftsinteressen auf Augenhöhe. Deshalb ist es un- nalste Auto der Welt ist. Die Werbung fragt uns Frauen:
ser Ziel, zuverlässige, umfassende, sachliche und klare „Is it love?“ – Ist es Liebe? –, und wir steigen ein.
Informationen über die Produkte zu erzielen. Ich zitiere
Ihren Antrag: (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Sie können nicht von sich auf an-
Die Anbieterseite wendet viele Erkenntnisse der dere schließen!)
Verhaltensökonomik bei der Ausgestaltung ihrer
Geschäftsmodelle bereits an. Menschen kaufen Problemlösungen und Gefühle.
Menschen wollen sich glücklich kaufen. Wer die Herzen
Das ist richtig. gewinnt, hat heutzutage mit dem Geldbeutel der Kunden
(Daniela Wagner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ein leichtes Spiel. Ich gebe es zu.
Wir sind mitten im Sozialismus gelandet!) Aber genau das ist heute der Schlüssel in gesättigten
Die Anbieterseite weiß, wie der Verbraucher tickt. Der Märkten. Diese Erkenntnisse will die SPD nun weiter
Verbraucher ist kein unbekanntes Wesen. Er trifft seine vertiefen und dem Handel teure Einkaufsstudien erspa-
Verbrauchsentscheidungen selten rational. ren. Das zahlt schließlich der Bund.
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist falsch!) Im Ernst: Auch wir sprechen uns für interdisziplinäre
Forschungseinrichtungen und für die Prüfung weiterer
Als Beispiel will ich Rabatte oder Preisabschläge Stiftungsprofessuren aus.
nennen. Sie wirken oft – das beobachte ich immer wie-
der – wie eine Droge. Neulich traf ich eine Taxifahrerin, (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Gott sei
die mir erzählte, sie habe eine Frau in den Supermarkt Dank!)
gefahren, weil es dort die Hähnchen im Angebot günstig
gab. Die Taxikosten waren Nebensache. Es gibt sie aber schon. An der TU München zum Bei-
spiel gibt es seit 2004 den Masterstudiengang „Consu-
Ein anderes Beispiel sind die sogenannten Skandale. mer Science“. An der Hochschule Calw gibt es die „Stif-
Jedes Jahr im Sommerloch – danach kann man schon die tungsprofessur für Konsumverhalten und europäische
Uhr stellen – entdecken einschlägige Organisationen das Verbraucherpolitik“.
Geschäft mit der Angst, um ihre eigene Kasse zu füllen.
Pestizide in Paprika, Tomaten oder Trauben, egal in wel- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Mit Ausrich-
cher Menge: Hauptsache Skandal. Skandale bringen tung Verhaltensökonomie!)
Aufmerksamkeit, machen dem Verbraucher Angst und
(B) verunsichern ihn. Um sein Gewissen zu beruhigen, spen- Mein Kollege Holzenkamp hat darüber hinaus bereits er- (D)
det er wiederum an diese Organisationen, damit sie wie- wähnt, dass die Uni Bayreuth im Jahr 2010 mit der „Stif-
der Skandale produzieren können. tungsprofessur Verbraucherrecht“ ausgestattet wurde.
All dies wird mit Mitteln des Bundes finanziert und in
Gutachten werden oft monatelang zurückgehalten. meinem Heimatland Bayern angeboten.
Ein Beispiel in diesem Jahr war die Verpackung von
Fleisch unter Schutzgasatmosphäre. Wenn es wirklich (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das dachte ich
gesundheitliche Gefahren gab, dann frage ich mich, wa- mir! Wo auch sonst!)
rum Foodwatch seine Erkenntnisse bis zum Sommerloch
Ich will damit nur sagen: Ilse Aigner, unsere Ministerin,
zurückgehalten hat.
ist schon da.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Probleme bestehen nicht in der Gesetzgebung,
Ein solches Verhalten ist unredlich. Hier besteht akuter sondern sind der Rechtsdurchsetzung geschuldet. Bernd
Handlungsbedarf. Deshalb setzen wir auf eine unabhän- Krieger, der Leiter des Europäischen Verbraucherzen-
gige Verbraucherberatung. Wir unterstützen die Arbeit trums, hat das diese Woche beim 14. Tourismusgipfel
von Stiftung Warentest und des Verbraucherzentrale hier in Berlin deutlich gemacht. Er sagte außerdem, dass
Bundesverbands konstant und verlässlich. das Europäische Verbraucherzentrum in den wenigsten
Gestatten Sie mir einen kurzen Ausflug, liebe Kolle- Fällen Beschwerden aus Deutschland erhält.
gin Drobinski-Weiß, in die Welt von Mann und Frau. Wir brauchen sicherlich keine Forschungseinrichtun-
(Dr. Matthias Miersch [SPD]: Nach dem So- gen. Damit möchte ich noch einmal auf Ihren Antrag und
zialismus die Geschlechterfrage!) Ihr schräges Beispiel des Fluggastes zurückkommen, der
mit der Buchung eines Fluges automatisch eine Reise-
Kürzlich hörte ich: Das Auto ist das moderne Reittier rücktrittsversicherung abgeschlossen hat. Hier müssen
des Mannes. Es gibt Automarken, die mit den Begriffen andere Maßnahmen greifen.
„Freude“ und „Zukunft“ beworben werden. Wollen Sie
dem Mann die Freude wirklich nehmen? Der traurige Höhepunkt Ihres Antrages ist aber die
Forderung eines sogenannten Verbraucherchecks für alle
(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetze.
DIE GRÜNEN – Dr. Matthias Miersch [SPD]:
Wir sind richtige Spaßbremsen! – Heinz Paula (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das ist doch
[SPD]: Spaßpartei CSU!) mal eine vernünftige Maßnahme!)
6894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Marlene Mortler
(A) Sie wollen allen Ernstes alle Gesetze, die in den Deut- Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): (C)
schen Bundestag eingebracht werden, einem Verbrau- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be-
chercheck unterziehen. reits Erasmus von Rotterdam sagte: Die größte Hoffnung
einer Nation liegt in der richtigen Erziehung ihrer Ju-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wenn Sie den Ver- gend. – Genau darüber wollen wir heute sprechen. Ich
braucher ernst nehmen, dann schon! Ja!) glaube, Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein,
Schlaumeier in Ihren Reihen sagen auch noch: Was wol- wenn nicht sogar das Thema für unsere Gesellschaft. In
len Sie denn? Auch Bürokratie schafft Arbeitsplätze. unserem Beirat haben wir schon darüber gesprochen.
Man kann sicherlich sagen, dass wir uns in vielen Punk-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Frau Kollegin, ten, die wir jetzt vortragen, sehr einig sind.
das haben Sie nicht verstanden!)
Unser Ziel ist es, ein ökologisch, ökonomisch und na-
Wissenschaftsbasierte Forschung und empirische Un- türlich auch sozial intaktes Gefüge an unsere Kinder
tersuchungen sind notwendig und müssen intensiviert weiterzugeben. Die Instrumentarien dafür müssen wir in
werden; so steht es auch in unserem Koalitionsvertrag. unserem Bildungssystem verankern.
Ich persönlich bin aber nicht nur Verbraucherin, sondern
Worum geht es dabei? Zunächst einmal geht es da-
auch Unternehmerin.
rum, Talente und Fähigkeiten zu fördern und den Kin-
(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ja! Die dern beizubringen, wo ihre Leistungsgrenzen sind, so-
Wirtschaft! Natürlich!) dass sie die Möglichkeit haben, eine ausgewogene,
selbstkritische und starke Persönlichkeit auszubilden,
Der Verbrauchercheck, von dem in Ihrem Antrag die um dann das eigene Leben gestalten, das Umfeld mitge-
Rede ist, schreckt derart ab, dass man diesen Antrag mit stalten und etwas zur Gemeinschaft beitragen zu können.
gutem Gewissen ablehnen kann. Das gilt natürlich nicht nur für die frühkindlichen Bil-
dungseinrichtungen und die Schule, sondern zieht sich
Vielen Dank. durch das ganze Leben.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wir befinden uns in der UN-Dekade „Bildung für
nachhaltige Entwicklung“. Sie läuft seit 2005 und geht
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: noch bis 2014. Das heißt, wir haben etwas mehr als die
Ich schließe die Aussprache. Hälfte hinter uns. Ich denke, wir können schon jetzt auf
einige positive Aspekte zurückblicken. Vier Aspekte
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf möchte ich kurz anführen:
(B) Drucksache 17/2343 an die in der Tagesordnung aufge- (D)
Erster Bereich: Es gibt tausend erfolgreiche Projekte
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- zum Thema nachhaltige Entwicklung. Diese Projekte
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung sind insofern von besonderer Bedeutung, als die prakti-
so beschlossen. sche Erfahrung oft wertvoller ist als der theoretische Un-
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf: terricht. Es gibt Schülerprojekte, in denen Wollprodukte
hergestellt werden. Es gibt Schülerfirmen an den Schu-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- len, die zum Beispiel Kioske betreiben. Wenn man einen
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung solchen Kiosk betreibt, muss man sich überlegen, wel-
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) che Produkte man einkauft. Wo kommen die Produkte
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung her? Was für eine Qualität haben sie? Welchen Preis
kann ich dafür erzielen? Kann ich einen fairen Preis er-
Bericht der Bundesregierung zur Bildung für zielen? Wie kann ich das System so nachhaltig gestalten,
eine nachhaltige Entwicklung dass an jedem Tag Kinder bei mir einkaufen, und wie
– Drucksachen 16/13800, 17/591 Nr. 1.18, kann ich dafür sorgen, dass sie wiederkommen? Habe
17/3158 – ich auch genug Kinder, die den Schülerkiosk betreuen?
Ich denke, diese Projekte sind besonders wertvoll, weil
Berichterstattung: die Kinder dadurch viele Erfahrungen im Zusammen-
Abgeordnete Anette Hübinger hang mit dem Thema Nachhaltigkeit machen.
Ulla Burchardt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Patrick Meinhardt
Dr. Rosemarie Hein Ein weiteres kleines Beispiel, das uns alle angeht: Oft
Kai Gehring haben wir hier, im Bundestag, Besuch von Schülergrup-
pen. Hinterher kommen die Lehrer häufig zu mir – ich
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die denke, das geht Ihnen auch so – und sagen: Theoreti-
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre scher Unterricht ist das eine, aber es ist etwas anderes,
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. hier mit den Abgeordneten persönlich über Inhalte der
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Politik, über die Struktur des Bundestages und die Auf-
Murmann von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. gaben der Parlamentarier zu diskutieren. Dieser Einblick
in die Praxis ergänzt den Unterricht sehr gut; denn, wer
(Beifall bei der CDU/CSU) Zusammenhänge erkennt und versteht, der ist eher be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6895
Dr. Philipp Murmann
(A) reit, Verantwortung zu übernehmen. Ich denke, es muss Ich danke Ihnen herzlich. (C)
auch unser Ziel sein, unsere Jugend zur Verantwortung
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
zu erziehen.
bei Abgeordneten der SPD und des BÜND-
Zweiter Punkt: persönliches Verhalten und Engage- NISSES 90/DIE GRÜNEN)
ment. Eine Umwelt-AG, die im Bereich „nachhaltige
Pflanzenzüchtung“ schon mehrere Preise gewonnen hat, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
hat meine Fraktion angeschrieben. Diese AG hat das Das Wort hat nun Ingrid Arndt-Brauer für die SPD-
Problem, dass der Lehrer nun in Pension geht und die Fraktion.
Nachfolge noch nicht geregelt ist. Auch die Schüler, die
das Projekt betreiben, verlassen die Schule und haben Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
ebenfalls noch keine Nachfolger gefunden. Das heißt,
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
auch diese Schüler müssen sich mit dem Thema beschäf-
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
tigen, wie eine nachhaltige Struktur verankert werden
In Rio de Janeiro haben im Jahr 1992 178 Staaten die
kann. Deswegen brauchen wir Leute, die sich über das
Agenda 21 verabschiedet. Sie ist die Grundlage für die
normale Maß hinaus für diese Themen engagieren, da-
weltweit nachhaltige Entwicklung bzw. für das Streben
mit nachhaltige Entwicklung über den normalen Unter-
nach dieser nachhaltigen Entwicklung. Man war der
richt hinaus verankert werden kann.
Auffassung, dass die Forderung nach gerechten sozialen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Verhältnissen, nachhaltigen Formen im Umgang mit der
der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD] und des Natur und beim Wirtschaften sowie nach der Partizipa-
Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tion von Kindern, Jugendlichen und Frauen an den Ent-
NEN]) scheidungsprozessen nicht ohne neue Kompetenzen und
einen mentalen Wandel umgesetzt werden kann. Dieser
Ich denke, das ist ein gesellschaftliches Thema. Wir mentale Wandel ist die Grundlage für das, was wir heute
brauchen mehr gesellschaftliches Engagement und vor- Bildung für nachhaltige Entwicklung nennen. Bei uns
bildhaftes Verhalten in vielen Bereichen. Sie alle kennen begann die Diskussion in den 90er-Jahren. Man hat ge-
den Werbespruch „Geiz ist …“ Ich will gar nicht sagen, sehen: Es gibt globale, ökologische Probleme, die wir
wie das Wort lautet; das gehört nicht in den Bundestag. gar nicht alleine lösen können, es gibt wenig zukunftsfä-
Jeder Konsument muss sich die Frage stellen, inwieweit hige Entwicklungen und eine fehlende Generationenge-
er zur Nachhaltigkeit beiträgt, wenn er solchen Parolen rechtigkeit. Das alles sollte eigentlich bekämpft werden;
folgt. Inwieweit können Produkte überhaupt nachhaltig diese Probleme sollten behoben werden.
gestaltet sein, wenn man so um den Preis kämpft und mit
(B) solchen Werbelinien agiert? Das kann nicht im Sinn ei- Eine Möglichkeit hierzu besteht im Bildungsbereich. (D)
ner nachhaltigen Politik sein. Insofern müssen wir uns Es ist natürlich sinnvoll, bei den Kindern anzufangen,
auch darüber Gedanken machen. wenn man darauf aufbauend Erwachsene erziehen
möchte. Erwachsene umzuerziehen ist, wie wir alle im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) politischen Bereich wahrscheinlich erleben, ungleich
schwieriger. Deshalb haben die Vereinten Nationen für
Dritter Bereich: nachhaltige Entwicklung als Teil des die Zeit von 2005 bis 2014 die Dekade „Bildung für
Unterrichts. Ich habe vorhin von den Projekten gespro- nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. 2004 hat die Bun-
chen, die außerhalb des Unterrichts stattfinden. Natür- desregierung, vom Bundestag aufgefordert, die Deutsche
lich müssen wir uns auch die Frage stellen, inwieweit UNESCO-Kommission mit der organisatorischen Aus-
wir das Thema „nachhaltige Entwicklung“ in den Unter- gestaltung dieser UN-Dekade beauftragt und finanziell
richt einbinden können. Dabei geht es natürlich darum, ausgestattet. Die Ziele wurden im Nationalen Aktions-
Elemente der Nachhaltigkeit in die verschiedenen Fä- plan zusammengefasst.
cher einzubinden. Lehren, Lernen und Erleben – diesen
Dreiklang zur Nachhaltigkeit sollten wir verankern. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick-
lung – er ist schon angesprochen worden –, dem viele
Der letzte Punkt: Natürlich müssen wir uns auch da- der hier Anwesenden angehören, versucht, Projekte zur
rüber Gedanken machen, welche Instrumente und wel- Erreichung der gesteckten Ziele im Konsens zu beschlie-
che Infrastruktur wir weiter ausbauen müssen. Wir sind ßen; meistens gelingt ihm dies. Wir haben uns im März
zwar schon sehr weit gekommen, aber ich denke, wir 2008 und im März 2009 mit der Umsetzung der Ziele
müssen dennoch die Instrumente Lehrerausbildung, beschäftigt und festgestellt, dass weiterhin Ausbau-
Lehrerfortbildung, Schulbücher, Schulmaterialien, Rah- potenzial vorhanden ist.
menlehrpläne und Projektangebote weiterentwickeln.
Bis 2014 haben wir noch etwas Zeit. Ich denke, auch die Parteien und Fraktionen sind ge-
fordert. Wir haben als SPD-Fraktion im Mai 2009 eine
Ich denke, die Bundesregierung hat sehr gut damit an- Veranstaltung unter dem Titel „Mit guten Beispielen vo-
gefangen. Projekte wie „Jugend forscht“ und die Initia- ran“ durchgeführt. Hier wurden beispielhaft Aktionen
tive „Forschung für Nachhaltigkeit“ sind eine gute vorgestellt, die in verschiedenen Bundesländern erfolgt
Grundlage. Eines ist sicher: Ohne Bildung gibt es keine sind, und zwar in den Bereichen Schule, Ausbildung und
nachhaltige Entwicklung. Deswegen ist das Thema so Kindergarten bis hin zu städtischen Aktionen im Müllbe-
wichtig und sollten wir hier über alle Fraktionen hinweg reich. Wir haben sehr viel gefunden. Das zeigt, dass es
gemeinsam um dieses Thema ringen und daran arbeiten. eine ganze Menge an Projekten gibt. Sie haben schon ei-
6896 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Ingrid Arndt-Brauer
(A) nige schulische Projekte angesprochen. Ich denke, das folgende Generationen. Wir alle werden immer älter. (C)
ist durchaus erwähnenswert, aber auch ausbaufähig. Hoffentlich werden wir gesund älter; wenn nicht, müs-
sen wir versorgt werden. Auch deswegen ist die Bildung
Wir haben das Problem, dass wir hier Werte und Prin- unserer Kinder im Hinblick auf Nachhaltigkeit sehr
zipien fördern müssen, die teilweise nicht vorhanden wichtig. Ich möchte alle Beteiligten bitten, dieses Pro-
oder erst im Kleinen angelegt sind. Diese Prinzipien stel- jekt zu unterstützen und daran weiterzuarbeiten.
len jedoch die Basis für nachhaltige Entwicklung dar.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Die Bundesregierung – das haben wir in der Be-
schlussempfehlung geschrieben – wird aufgefordert, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
weiterhin an ihrer Zielsetzung festzuhalten und das Pro- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
gramm „Transfer 21“, das leider ausgelaufen ist, dahin
gehend weiterzuentwickeln, dass immer mehr Schulen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
an Programmen für nachhaltige Entwicklung teilneh- Das Wort hat nun Angelika Brunkhorst für die FDP-
men. Als Mutter von vier Kindern, deren Kinder in der Fraktion.
Zeit zwischen 1999 und 2004 alle in der Schule waren,
muss ich sagen, dass mir persönlich solche Programme (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nicht begegnet sind, obwohl meine Kinder auf unter-
schiedlichen Schulen waren. Im Schülercafé wurde ein Angelika Brunkhorst (FDP):
bisschen fairer Handel betrieben, aber mehr Projekte Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
habe ich nicht erlebt. Das fand ich im Nachhinein ziem- möchte mit einem Zitat des Präsidenten der Deutschen
lich schade. Ich denke, die jetzt betroffenen Eltern soll- UNESCO-Kommission, Walter Hirche, beginnen:
ten das verstärkt einfordern.
Bildung für nachhaltige Entwicklung vermittelt
Wir fordern die Bundesregierung in unserer Be- Werte, Kompetenzen, Fertigkeiten und Kenntnisse,
schlussempfehlung auch auf, davon zu berichten, inwie- die für die verantwortliche Gestaltung der Zukunft
weit die Aktionen, die angestoßen und weitergeführt erforderlich sind.
worden sind und werden, finanziell unterstützt werden.
Wir alle merken doch, dass sich weltweit ein starker
Im Moment hat der entsprechende Ansatz im Etat des gesellschaftlicher und ökologischer Wandel vollzieht. Im
Bundesministeriums ein Volumen von 450 000 Euro pro Namen der FDP-Fraktion begrüße ich die vorgelegte Be-
Jahr; dieser Betrag kommt mir, ehrlich gesagt, nicht be- schlussempfehlung und den Bericht der Bundesregie-
sonders hoch vor. Davon werden vor allen Dingen Best- rung.
(B) Runner-Projekte ausgezeichnet. Aber auch dies entfaltet, In der zweiten Hälfte der UN-Dekade „Bildung für (D)
wie ich finde, nur wenig öffentliche Wirkung. Ich zu-
nachhaltige Entwicklung“ muss das Bewusstsein der
mindest wüsste nicht, welches das Best-Runner-Projekt
Menschen für Nachhaltigkeit noch mehr gestärkt wer-
2010 war, und ich weiß nicht, ob es einer meiner Kolle-
den.
gen kennt. Ich denke, hier kann man, auch was die Öf-
fentlichkeitsarbeit angeht, noch eine ganze Menge tun. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Regie-
rungsmitglieder herausragende Schülerprojekte oder Der Bevölkerung muss das nötige Verständnis und Wis-
Schulen auszeichnen. Ich jedenfalls würde mir das wün- sen an die Hand gegeben werden, damit sie die sozialen,
schen. ökologischen und ökonomischen Auswirkungen auf ihr
Handeln verinnerlicht. International, insbesondere aber
Des Weiteren ist an die Länder zu appellieren, auf die in Deutschland, ist das Interesse an Nachhaltigkeitsthe-
Lehrpläne Einfluss zu nehmen und das Projekt „Nach- men mit Beginn der UN-Dekade „Bildung für nachhal-
haltige Bildung“ nicht nur nachmittags in irgendeiner tige Entwicklung“ immens gewachsen. Diesen Trend hat
AG durchzuführen, sondern man sollte dieses Thema der Staat aufgegriffen und entsprechende Maßnahmen
auch im Unterrichtsplan immer wieder aufgreifen. Es auf den Weg gebracht.
gibt mehrere Fächer, die sich hierfür anbieten, nicht nur
Einen wesentlichen Beitrag dazu leisten das National-
das Fach Biologie. Ich denke, es gibt viele Fächer, deren
komitee und der Runde Tisch. Beide Foren sind für die
Unterrichtsinhalte auf Nachhaltigkeit hin überprüft und
Umsetzung der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
überarbeitet werden müssten. Dass dies geschieht, müs-
Entwicklung“ unerlässlich. Sie fördern die Vernetzung
sen wir von den Ländern fordern. Denn wir wissen: Auf-
und den Austausch der verschiedenen Akteure unterei-
grund des Föderalismus ist der Bund nur begrenzt in der
nander. Die im Nationalen Aktionsplan von Bundestag,
Lage, auf die Lehrpläne Einfluss zu nehmen.
Nationalkomitee und Rundem Tisch festgeschriebenen
Ich plädiere an alle Beteiligten, von der Regierung Ziele, zum Beispiel die Verstärkung internationaler Ko-
über die Kultusministerien bis hin zu uns in den Fraktio- operation und die Weiterentwicklung und Bündelung
nen und Parteien, mehr für den Bereich nachhaltige Bil- von Aktivitäten, tragen zur Verbesserung der öffentli-
dung zu tun. Wir tun das übrigens für uns. Denn wenn chen Wahrnehmung von Bildung und Nachhaltigkeit bei.
unsere Kinder nachhaltig gebildet sind, dann werden sie
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
sich später hoffentlich auch um uns kümmern. Themen
wie der demografische Wandel und die Generationenge- Besonders wichtig war die Einbindung der Kommu-
rechtigkeit betreffen nämlich auch uns, nicht nur nach- nen im Rahmen eigener Dekadeprojekte. Dadurch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6897
Angelika Brunkhorst
(A) konnte das Thema in den Köpfen der Bevölkerung vor Leuchtturmprojekt im Bereich der Bildung für nachhal- (C)
Ort verankert werden. Alle deutschen Gebietskörper- tige Entwicklung. Erfreulich ist außerdem die Vernet-
schaften werden in diesen Entwicklungsprozess einge- zung einzelner Bundesländer im Rahmen der Norddeut-
bunden. Um eine noch stärkere Verflechtung zu erzielen, schen Partnerschaft zur Unterstützung der UN-Dekade.
sollten wir uns dafür starkmachen, dass die Kommunen
Deutschland hat viel im Hinblick auf das Thema „Bil-
einen Sitz im Nationalkomitee bekommen. Das wäre
dung für nachhaltige Entwicklung“ erreicht. Das von der
wirklich zielführend.
Regierung verabschiedete Lateinamerika-Konzept hat
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) die Forderung der FDP-Fraktion nach neuen Lernorten
aufgegriffen und entscheidende Weichen auf internatio-
Bei der Aus- und Weiterbildung spielen Hochschulen naler Ebene gestellt. Ich begrüße diese Entwicklung und
eine zentrale Rolle. Viele Hochschulen bieten inzwi- möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion allen
schen ein vielfältiges Studienangebot zur Nachhaltigkeit Anerkennung zollen, die sehr engagiert und mit Leiden-
an und haben innovative Lernkonzepte entwickelt. Ein schaft das Projekt „Bildung für nachhaltige Entwick-
exzellentes Beispiel dafür ist die Leuphana-Universität lung“ vorantreiben – und das ebenso ganz nachhaltig.
in Lüneburg. Kürzlich wurde sie mit dem renommierten
International Sustainable Campus Excellence Award Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
ausgezeichnet.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Herausragend ist darüber hinaus, dass die Leuphana
sogar eine eigene Fakultät für Nachhaltigkeitswissen- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
schaften etabliert hat. Das ist ein Ansporn für weitere Das Wort hat nun Rosi Hein für die Fraktion Die
Hochschulen in Deutschland. Linke.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)
Als niedersächsische Bundestagsabgeordnete freut es
mich, Ihnen mitteilen zu können, dass insbesondere Nie- Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE):
dersachsen ein Impulsgeber beim Thema „Bildung für Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich
nachhaltige Entwicklung“ war und auch ist. So hat der möchte mit einem Zitat beginnen:
Niedersächsische Landtag vor knapp drei Jahren einen
Bei Nachhaltigkeit geht es um die Erreichung von
Entschließungsantrag angenommen, um den Nationalen
Generationengerechtigkeit, sozialem Zusammen-
Aktionsplan aktiv zu unterstützen.
halt, Lebensqualität und Wahrnehmung internatio-
Das Schulprojekt „Transfer 21“ – das wurde bereits naler Verantwortung. (D)
(B)
erwähnt – wurde mit großem Erfolg umgesetzt. Circa
So, verehrte Kolleginnen und Kollegen, steht es im „Be-
17 Prozent der niedersächsischen Schulen waren 2008 in
richt der Bundesregierung zur Bildung für eine nachhal-
das Programm eingebunden. Dieser Anteil lag weit über
tige Entwicklung“, der bereits vor mehr als einem Jahr
dem Bundesdurchschnitt.
von der damaligen Bundesregierung verabschiedet
Bildung für nachhaltige Entwicklung wurde in vielen wurde. Er beschreibt die Aktivitäten der Bundesregierung
Schulen implementiert und sehr praxisbezogen mit dem zur Halbzeit der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige
landesweiten Projekt „Nachhaltige Schülergenossen- Entwicklung“. Er hat in der Tat eine Reihe beachtlicher
schaften“ umgesetzt. Insbesondere haben sich Grund-, Ergebnisse aufzuweisen, auch wenn man sagen muss,
Förder-, Haupt- und Realschulen am Programm „Trans- dass einiges aus deutlich älteren Programmen stammt.
fer 21“ beteiligt, in denen man in erster Linie praktische
Insbesondere ist es gelungen, durch zahlreiche Pro-
Lerninhalte anbietet und wo eher praktisch orientierte
gramme und Initiativen umweltbewusstes Verhalten bei
Schüler gefördert werden. Insofern war dies genau rich-
Kindern und Jugendlichen deutlich zu fördern. In mei-
tig. Schüler konnten Wirkungsketten kennenlernen, in
nem Wahlkreis in Magdeburg beteiligten sich Schulen
Teams zusammenarbeiten, ihre Rolle einnehmen, auf ih-
am Fifty-fifty-Programm zur Energieeinsparung. Sie sind
rem Posten Verantwortung übernehmen und – das ist
dabei sehr engagiert. Ich finde das gut.
entscheidend – Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl
generieren. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne-
Warum war dieses Programm gerade in Niedersach-
ten der SPD)
sen so erfolgreich? Wir haben ein langjähriges und soli-
des Netzwerk gepflegt und als einziges Bundesland ei- Aber der Bericht spricht nicht ohne Grund von einem
nen Fokus auf die Gründung nachhaltiger Schülerfirmen ganzheitlichen Ansatz für nachhaltige Entwicklung, der
gelegt. soziale und demokratische Aspekte ebenso umfasst wie
das Wissen um eine umweltbewusste und gesunde Le-
Auch die von der Stiftung „Innovations- und Zu-
bensweise.
kunftsfonds Niedersachsen“ finanzierte Beratungs- und
Serviceagentur zur Bildung für nachhaltige Entwicklung Wer nämlich über kein ausreichendes Einkommen
liefert aus liberaler Sicht entscheidende Impulse gerade verfügt, der kann sich trotz besseren Wissens nicht im-
auch für andere Bundesländer. Zehn Bundesländer ha- mer umweltbewusst verhalten und gesund leben. Er
ben inzwischen das Multiplikatorenprogramm aus Nie- kann auch fair gehandelte Produkte oder ökologisch her-
dersachsen übernommen. Damit ist die Agentur ein gestellte Produkte unter Umständen nicht erwerben,
6898 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. Rosemarie Hein


(A) wenn er die Mittel dazu nicht hat; denn sie sind etwas (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: So ist (C)
teurer. es!)
Gute Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung Wir hatten das Gefühl: Es hat noch gar keiner gelesen,
für soziale Teilhabe, also für die Möglichkeit, auch ent- dass das da drinsteht. – Ich finde es ja gut, dass es drin-
sprechend nachhaltig zu handeln. Darum muss Bildung steht, aber das ist offensichtlich noch nicht weiter durch-
unbedingt selbst nachhaltig sein, wenn man Bildung für gedrungen.
nachhaltige Entwicklung verwirklichen will,
Es geht aber noch weiter: Im Nationalen Aktionsplan
(Beifall bei der LINKEN) „Für ein kindgerechtes Deutschland 2005–2010“ hat
man sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Dazu gehören ein
und das ist sie nur, wenn der Zugang zu Bildung für jede „Aufwachsen ohne Gewalt“ und mehr „Beteiligung von
und jeden gleichermaßen möglich ist. Kindern und Jugendlichen“. Davon muss man in Stutt-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gart noch nichts gehört haben.
SES 90/DIE GRÜNEN)
(Zuruf von der CDU/CSU: In der DDR auch
Davon ist Deutschland aber weit entfernt. nicht!)
Hier ist der Nachholbedarf am größten. Individuelle Was meinen Sie eigentlich, welche nachhaltigen Demo-
Förderung schon im Kindergarten und in der Schule, da- kratieerfahrungen die Schülerinnen und Schüler bei ihrer
mit Schulabschlüsse nicht mehr nachgeholt werden müs- angemeldeten Demonstration gewonnen haben? Das,
sen: Das wäre nachhaltig und zudem preiswerter. – was durch den Polizeieinsatz dort zerstört wurde, kön-
Hierzu steht in dem Bericht nur eine lapidare Feststel- nen Lehrerinnen und Lehrer in noch so vielen Sozialkun-
lung, aber keine einzige Idee. Das kritisieren wir daran. destunden nicht wieder reparieren. Wer Belege dafür
sucht, der schaue sich bitte die Internetseiten der Schü-
(Beifall bei der LINKEN) lerzeitung Spießer an.
Es wundert uns schon, dass im Berichtsteil des Bil- Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwick-
dungsministeriums nichts zur Notwendigkeit des Nach- lung“ stand in der ersten Hälfte der Dekade jährlich un-
holens von Schulabschlüssen zu finden ist, sondern in ter einem bestimmten Thema, so zum Beispiel „Wasser“
dem des Arbeitsministeriums, so, wie übrigens auch die in 2008, „Energie“ in 2009 und „Geld“ in 2010 – wie
Bildungschipkarte im Arbeitsministerium verhandelt passend. Ich finde, die verbleibenden Jahre sollten ande-
und ausgehandelt wurde und nicht im Bildungsministe- ren Themen gewidmet werden, zum Beispiel dem
rium. Wir stellen uns schon besorgt die Frage – ich habe Thema „soziale Chancengleichheit“
(B) das in meiner letzten Rede schon einmal getan –, ob sich (D)
das Bildungsministerium für Bildung nicht mehr zustän- (Beifall bei der LINKEN)
dig fühlt oder sich abschaffen will. Ich finde, darüber
muss man einmal ernsthaft nachdenken. und dem Thema „demokratische Teilhabe“.

(Beifall bei der LINKEN – Kai Gehring Wenn das ins Zentrum der Bemühungen der Bundes-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig, ab- regierung gestellt würde, dann würde man auch dem
schaffen!) Eingangsziel, das ich vorhin zitiert habe, der Generatio-
nengerechtigkeit und dem sozialen Zusammenhalt in der
Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass das Gesellschaft besser gerecht werden, aber Sie haben die
Thema „nachhaltige Entwicklung“ und der Beitrag der Themen schon durchgeplant. Vielleicht ist das aber auch
Bildung dazu innerhalb der Bundesregierung wenig auf- ein Grund, noch einmal darüber nachzudenken.
einander abgestimmt sind. Die Berichte der einzelnen
Ministerien stehen ziemlich unverfänglich und unabge- Ich danke Ihnen.
stimmt nebeneinander. So stellt die Bundesbeauftragte (Beifall bei der LINKEN)
für die Belange behinderter Menschen fest: „Eine Schule
für alle macht ein Umdenken in unserem Bildungssys-
tem erforderlich“. – Eine Schule für alle: Das finde ich Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
völlig richtig. Das Wort hat nun Kai Gehring für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
(Beifall bei der LINKEN)
Als wir auf diese Aussage hin im Bildungsausschuss Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
nachgefragt haben, hatten wir aber den Eindruck, dass Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
das zuständige Bildungsministerium diese Aussage zum Zahlreiche Initiativen bemühen sich bundesweit, den Ge-
ersten Mal hörte. danken einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in
(Patrick Meinhardt [FDP]: Von Ihnen nicht, der Gesellschaft stärker zu verankern. Diesen Pionierin-
nein!) nen und Pionieren, den vielen engagierten Lehrern und
Schülern, gebührt fraktionsübergreifend unser Dank, weil
– Wir haben schon öfter darüber gesprochen, aber ir- sie dazu beitragen, das wichtige Zukunfts- und Gegen-
gendwie haben wir auf unsere Frage keine Antwort be- wartsthema Nachhaltigkeit noch stärker ins Bewusstsein
kommen. der Menschen zu rücken.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6899
Kai Gehring
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich möchte auch die Nachhaltigkeitsprüfung von Ge- (C)
sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der setzentwürfen ansprechen. Aus unserer Sicht ist das sehr
CDU/CSU) sinnvoll, und es ist ein wichtiger Schritt. Diskutieren
sollten wir aber über die Aussagekraft der Prüfergeb-
Die zweite Hälfte der UN-Dekade „Bildung für nach- nisse und die Frage, wie sie kommuniziert werden. Ein
haltige Entwicklung“ ist bereits angebrochen. Es ist da- aktuelles Beispiel ist das nationale Stipendienprogramm.
her höchste Zeit, dass die Bundesregierung darlegt, wie Es darf nicht der falsche Eindruck entstehen, dass den
ihre zukünftigen Förderstrategien aussehen sollen. Dies ungerechten Elitestipendien für wenige das Etikett
muss sie zügig tun, damit dieser Prozess in der zweiten „wirkt nachhaltig“ angepappt wird. Ich finde, dazu gibt
Hälfte der Dekade und darüber hinaus mit Schwung wei- es noch Diskussionsbedarf, um zu argumentieren und zu
tergehen kann und nachhaltig ist. kommunizieren, was die Nachhaltigkeitsprüfung bedeu-
Es ist zum Glück unstrittig, dass wir Bildung für eine tet.
nachhaltige Entwicklung brauchen. Wir brauchen sie in
allen Bildungseinrichtungen, also endlich auch stärker in Wir meinen, dass Bund und Länder gemeinsam stär-
der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Wir brauchen ker ihrer nationalen und internationalen Verantwortung
sie für alle Generationen im Sinne von lebenslangem gerecht werden müssen, Bildung für eine nachhaltige
Lernen von Jung bis Alt, und wir müssen nachhaltige Entwicklung zu einem Schwerpunkt zu machen.
Entwicklung enger mit Themen wie Demografie, Chan- Das rot-grüne Ganztagsschulprogramm wurde auch
cen- und Generationengerechtigkeit verknüpfen. Darum in dem Bericht interfraktionell als ein Motor für die Ver-
muss es jetzt in der zweiten Hälfte der UN-Dekade ge- ankerung von Nachhaltigkeitsthemen in Schulen gelobt.
hen. Gleiches gilt für das Modellprojekt „Transfer 21“ der
Wir meinen, dass Projektförderung nur der Auftakt BLK. All diese fraktionsübergreifend gelobten Initiati-
dazu sein kann, aus den vielfältigen lokalen Ansätzen, ven gibt es nicht mehr, weil inzwischen eine verkorkste
die es gibt, ein breites Netzwerk mit guten Beispielen zu Föderalismusreform mit einem Kooperationsverbot in
knüpfen, aus dem ein umfassendes Leitbild zur Umge- Kraft gesetzt wurde, das die Zusammenarbeit zwischen
staltung unseres Bildungssystems erwachsen kann. Bund und Ländern im Bildungsbereich weitgehend ver-
bietet.
Gemeinsame Ziele für ein nachhaltiges Bildungssys-
tem müssen sein, die Potenziale und Talente von Kindern, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Jugendlichen und Erwachsenen stärker zu erkennen, die
Zahl der Schul-, Ausbildungs- und Studienabbrüche Deshalb möchte ich – ich denke, ich spreche im Na-
men der gesamten Opposition – Ihnen, meine Damen
(B) deutlich zu reduzieren und jedem eine zweite, dritte oder und Herren von der Koalition, an dieser Stelle anbieten,
(D)
vierte Chance zu eröffnen sowie mehr individuelle För-
derung, eine höhere Durchlässigkeit und somit auch dass wir gemeinsam zu mehr Tatkraft und Kooperation
mehr Möglichkeiten zum Bildungsaufstieg in unserem von der Kita bis zur Weiterbildung insbesondere im
Bildungssystem zu gewährleisten, unabhängig von Her- Schulbereich kommen und das Kooperationsverbot im
kunft und Geldbeutel der Eltern. Das ist ein sehr wichti- Grundgesetz wieder aufheben.
ges Anliegen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Sie wer-
der SPD) den auch nicht klüger!)
Das wären wichtige Beiträge, um bundesweit zu mehr Ich gehe davon aus, dass es dafür noch in dieser Le-
Nachhaltigkeit im Bildungssystem zu kommen. Denn gislaturperiode eine Mehrheit im Bundesrat gibt und
Fakt ist, dass unser Bildungssystem ungerecht, unter- dass wir dann die Chance haben, Bildungsblockaden
finanziert und ineffizient ist. Leider werden viel zu viele endlich wieder nachhaltig aufzubrechen. Das wäre ein
Talente vergeudet, und es mangelt an Chancengerechtig- großer Beitrag für ein nachhaltiges Bildungssystem und
keit. Das liegt auch an vielen falschen politischen Wei- eine gute Bildungsfinanzierung in Deutschland.
chenstellungen in der Bildungspolitik.
Herzlichen Dank.
Ein aktuelles Beispiel, über das wir immer wieder dis-
kutieren, ist das bildungs- und gleichstellungspolitisch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
aberwitzige Betreuungsgeld, an dem Schwarz-Gelb nach und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
wie vor festhält. Ein weiteres Beispiel ist die frühe Tren- der SPD – Patrick Meinhardt [FDP]: Auf Lan-
nung von zehnjährigen oder gar neunjährigen Kindern desebene falsche Bildungspolitik machen und
nach der vierten Klasse, wenn sie in unterschiedliche sie vom Bund finanzieren lassen!)
Schulformen aufgeteilt werden, wie es in vielen Bundes-
ländern der Fall ist. Das ist aus unserer grünen Sicht das
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
glatte Gegenteil einer nachhaltigen Bildungspolitik.
Das Wort hat nun Marcus Weinberg für die CDU/
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU-Fraktion.
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
6900 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Das heißt für uns, im Bildungsbereich Einstellungen län- (C)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wäre gerfristig zu verändern.
enttäuscht gewesen, wenn Kollege Gehring das Koope- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
rationsverbot außer Acht gelassen hätte. Aber er hat es in
vier Minuten geschafft, den Bogen zu spannen. Nun umfasst Bildung für nachhaltige Entwicklung
noch einen anderen Aspekt, Stichwort „Grundbildung
Nun haben schon viele Kollegen zitiert. Ich möchte für alle“. Kollege Gehring von den Grünen hat bereits
– es ist abgesprochen, dass ich das darf – kurz den Kolle- das eine oder andere angesprochen, das mit unseren In-
gen Murmann zitieren. Er hat richtigerweise gesagt: Un- dikatoren im Bildungsbereich korrespondiert, zum Bei-
ser Ziel ist, ein intaktes Gefüge an unsere Kinder weiter- spiel die Schulabbrecherquote, die Ausbildungsquote,
zugeben. – Das nehme ich gerne auf und darf es um die Zahl der Studienabschlüsse sowie die Ausgaben für
Folgendes ergänzen: Es ist auch unsere Verantwortung Bildung und Forschung. Das 10-Prozent-Ziel der Bun-
und unser Ziel, dass wir unsere Kinder in die Lage ver- desregierung passt genau dazu. Um Verständnis für
setzen, dieses intakte Gefüge weiter zu verbessern. – Das Nachhaltigkeit zu entwickeln, muss man sich schließlich
ist mit Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeint. auch mit der Frage befassen, wie viel Geld wir als
Wir müssen zielorientiert steuern und Verantwortungs- Gesellschaft – ob privat oder öffentlich – für Bildung
bewusstsein für das persönliche Verhalten und Engage- ausgeben. Über Bildungspositionen kann man lange dis-
ment schaffen, wie es Herr Murmann bereits beschrieben kutieren, so auch über die Frage, ob die Schulabbrecher-
hat. quote als Indikator geeignet ist. Was nutzen weniger
Schulabbrecher, wenn gleichzeitig die Ausbildungsfä-
Der Deutsche Bundestag zeigt eine gewisse Ge- higkeit sinkt? Ist nicht alternativ die Frage zu stellen,
schlossenheit, wenn es um die Frage geht, wie man welche anderen Indikatoren ebenfalls eine Rolle spielen?
Nachhaltigkeit entwickelt. Das wird auch im Entschlie-
ßungsantrag deutlich. Aber, Frau Hein, nicht alles im Le- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
ben ist nachhaltig. Ich erinnere jedenfalls daran, dass der
Deutsche Bundestag bereits 2004, also noch vor Beginn Ich glaube aber, dass die Indikatoren insgesamt durchaus
der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, geeignet sind, deutlich zu machen, wie sich die Bildung
einen Aktionsplan für Deutschland beschlossen hat. Frau entwickelt. Ich teile hier nicht – dafür müssen Sie von
Arndt-Brauer, Kollege Murmann und Herr Gehring ha- der Opposition Verständnis haben – die Meinung des
ben Beispiele für das genannt, was seither geschehen ist. Kollegen von den Grünen. Die Indikatoren zeigen deut-
Dabei geht es nicht nur um Schülercafés. Schulen und lich, dass wir nicht nur wieder mehr Geld ausgeben – es
Kindertagesstätten haben sich mit dem Thema Ressour- gibt erneut eine Steigerung um über 7 Prozent –, sondern
(B) (D)
censchonung befasst. Unter anderem ging es um die dass wir auch deutlich bessere Ergebnisse erzielen als in
Frage, wie man mit Wasser umgeht. Klimaschutz war den letzten Jahren. Das ist ein Beweis, dass die Bundes-
ein Schwerpunkt im Elementarbereich der Kindertages- regierung mit ihrer Bildungspolitik richtigliegt.
stätten. Über 2 500 Schulen – das sind über 10 Prozent –
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
haben im Rahmen des Programms „Transfer 21“ ein-
zelne Projekte gesteuert. Die Zielvorgabe von 10 Pro- Wenn wir über Nachhaltigkeit nachdenken, dann
zent haben wir also deutlich erreicht. Das ist ein gutes müssen wir uns auch die Frage stellen, wo 1 Euro den
Ergebnis. Auch dass über 800 einzelne Projekte ausge- größten Nutzen bringt. Auch das ist nachhaltig. Wir
zeichnet wurden, spricht für sich. müssen – ich denke, darüber herrscht Einvernehmen –
bei der frühkindlichen Bildung ansetzen. Aufgabe der
Es geht nun aber um Verbindlichkeit und die Versteti- CDU/CSU-Fraktion wird es in den nächsten Monaten
gung von Nachhaltigkeit im Bildungsbereich. Wenn ich sein, Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der früh-
sehe, dass nun Umweltbildung in allen Rahmenrichtli- kindlichen Bildung zu thematisieren.
nien der Länder verankert ist, dann darf ich feststellen,
dass wir deutliche Schritte nach vorne gekommen sind. Was die Quantität des Krippenausbaus angeht, haben
Ziel ist, dieses Thema systematisch und dauerhaft zu wir viel erreicht. Im nächsten Schritt werden jetzt auch
verankern. Die Herausforderung in den nächsten Jahren die Qualität und Standards zu erörtern sein. Denn es
wird sein, dafür zu sorgen, dass das gelingen kann. In kommt gerade in Kindertagesstätten darauf an, das The-
den Debatten hier im Deutschen Bundestag müssen wir mengebiet „nachhaltige Entwicklung“ in den Bildungs-
aber immer wieder darauf verweisen, dass die Länder in plänen zu verankern, also das frühe Bewusstsein zu
weiten Teilen die Kompetenzhoheit haben. In Zukunft schaffen, was Nachhaltigkeit heißt. Das ist dann so ba-
müssen die Länder – das ist wichtig – verbindlich nach- nal, als wenn man irgendwann feststellt, dass es Sinn
weisen, wie sie Bildung für nachhaltige Entwicklung ge- macht, das Licht auszumachen, wenn man als Letzter ei-
stalten wollen. nen Raum verlässt, oder Wasser zu sparen. Dies hat aber
eine unheimlich große Wirkung nicht nur für die Kinder,
Wir, die Koalition, haben unser Bekenntnis zur Nach- sondern auch für die Familien, die teilweise erst dann er-
haltigkeit im Koalitionsvertrag deutlich formuliert: fahren, was Nachhaltigkeit mit sich bringt. Dabei geht es
auch – darüber kann man diskutieren – um die Frage ei-
Die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist nes Kita-TÜVs. Es geht dabei um die Baumaterialien,
Ziel und Maßstab unseres Regierungshandelns, auf die verwendet werden, und um die Frage, ob denn Ener-
nationaler, europäischer und internationaler Ebene. gieeffizienz gegeben ist. Weiter geht es darum, die Qua-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6901
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) lität von Erzieherinnen unter dem Gesichtspunkt nach- Katja Mast (SPD): (C)
haltiger Entwicklung zu hinterfragen. Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Wer die Bildungsrepublik ausruft, wird das Echo „faire
Ich glaube – damit komme ich auch gerne zum Arbeitsbedingungen in der Bildungsrepublik“ bekom-
Schluss –, es wird unsere Aufgabe sein, die Länder mehr men. Genau hier, bei fairen Arbeitsbedingungen in der
und mehr zu fordern. Viele Länder haben gerade in die- Bildungsrepublik, versagt Ursula von der Leyen als
sem Bereich – im schulischen wie auch im vorschuli- Ministerin; denn sie lehnt Mindestlöhne für die Aus-
schen Bereich – unter Qualitätsgesichtspunkten viel er- schreibungen der Bundesagentur für Arbeit ab. Begrün-
reicht. Für uns ist es wichtig, dass diese Bereiche dung: Die Mindestlöhne liegen nicht im öffentlichen In-
zusammengeführt und stetig weiterentwickelt werden. Es teresse. Dabei geht es um Löhne von 12,28 Euro für
ist auch eine Aufforderung an die Länder, diese Projekte ausgebildete Fachkräfte, die Kurse im Auftrag der Bun-
im Bereich der Elementarpädagogik oder der Primarpäda- desagentur für Arbeit durchführen. Also verhindert
gogik, die vorhin von vielen Rednern angesprochen wur- Ursula von der Leyen Mindestarbeitsbedingungen der
den, zu verstetigen. Daneben muss ein Abgleich von Bil- Behörde Bundesagentur für Arbeit, für die sie die
dungsplänen möglich werden. Es wird ja immer wieder Rechtsaufsicht hat, mit der Begründung: kein öffentli-
darüber diskutiert, wie man bundeseinheitliche Rahmen- ches Interesse. Wenn das kein öffentliches Interesse ist,
pläne auf freiwilliger Basis – das föderative System was soll denn dann öffentliches Interesse sein?
funktioniert, das ist ein gutes System – gestalten kann.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Unterm Strich bleibt festzuhalten: Wir haben weiter DIE GRÜNEN)
unsere Aufgaben zu machen. Aber insgesamt kann man Das ist aus meiner Sicht Bildung nach dem Motto
sagen, dass wir durchaus zufrieden auf die einzelnen „Geiz ist geil“, hat aber beim Thema Bildung nichts zu
Punkte zurückblicken können, die wir erreicht haben. suchen; denn Bildung bildet Menschen. Da darf es nicht
Herzlichen Dank. um „Geiz ist geil“ gehen, sondern da braucht es Qualität.
Es muss darum gehen, dass Qualität ihren Preis hat.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Ich bin dem Diakonischen Werk Württemberg dank-
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- bar, das Frau von der Leyen, nachdem sie den Mindest-
nungspunkt. lohn in der Weiterbildungsbranche abgelehnt hat, dazu
aufgefordert hat, nun doch den Mindestlohntarifvertrag
(B) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- zu unterzeichnen und damit faire Arbeitsbedingungen in (D)
schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- der Weiterbildungsbranche zu schaffen.
schätzung zu dem Bericht der Bundesregierung zur Bil-
dung für eine nachhaltige Entwicklung. Das sind die Ich weiß ganz genau, was gleich nach meiner Rede in
Drucksachen 16/13800 und 17/3158. Bezug auf den Antrag der SPD passieren wird:

Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Der Staatssekre-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für tär wird sprechen!)
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Die nachfolgenden Redner von Schwarz-Gelb werden
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den sprechen – das ist richtig, Kollege Lehrieder –, und sie
Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der Fraktion werden Folgendes tun: Sie werden den Mindestlohn in
Die Linke angenommen. der Weiterbildungsbranche ablehnen, mit dem Argu-
ment: kein öffentliches Interesse.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
(Dr. Peter Röhlinger [FDP]: Da könnte ja jeder
Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette kommen!)
Kramme, Katja Mast, Ulla Burchardt, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD Auf das öffentliche Interesse bin ich in meiner Rede
schon eingegangen. Viel schlimmer als die Ablehnung
Mindestlohn für die Weiterbildungsbranche des Mindestlohns empfinde ich aber, dass die nachfol-
genden Redner von Schwarz-Gelb
– Drucksache 17/3173 –
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Christlich-Libe-
Überweisungsvorschlag: rale, Frau Kollegin!)
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie keine Alternative aufzeigen werden, wie wir zu fairen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Arbeitsbedingungen in der Weiterbildungsbranche kom-
Technikfolgenabschätzung
men können.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Haben
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Sie eine Glaskugel dabei?)
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Außerdem werden einige sagen: Die SPD hat doch elf
Katja Mast für die SPD-Fraktion das Wort. Jahre den Arbeitsminister gestellt. Warum ist es denn so,
6902 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Katja Mast
(A) wie es heute ist? – Auch da gilt, dass wir heute überhaupt wenn sie Verordnungen erlässt, und nicht nur an ihre Be- (C)
nur deswegen über einen Mindestlohn für die Weiterbil- findlichkeiten.
dungsbranche reden können, weil die SPD in der Großen
Koalition dafür gesorgt hat, dass das Arbeitnehmer-Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
sendegesetz auf diese Branche ausgedehnt wurde Sie fordern einen Mindestlohn in der Weiterbildung.
(Beifall bei der SPD) Ich halte diese Forderung im Grundsatz für richtig. Um
dafür den Rahmen zu schaffen, ist das Arbeitneh-
und das Mindestarbeitsbedingungengesetz verabschiedet mer-Entsendegesetz da. Frau Kollegin Mast, die Erwei-
worden ist, dass also die rechtlichen Grundlagen für terung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist in der
Mindestlöhne in der Weiterbildungsbranche geschaffen letzten Legislaturperiode von der Großen Koalition be-
worden sind. schlossen worden. Die Große Koalition hat auch eine
Ich will an dieser Stelle den Lehrkräften in der Wei- Mindestlohnverordnung unter bestimmte gesetzliche Vo-
terbildung danken; denn sie sind es, die durch ihr alltäg- raussetzungen gestellt, und zwar mit den Stimmen der
liches, unermüdliches Engagement für lebenslanges Ler- SPD-Fraktion. Es waren nicht Sie, die die Branche ins
nen und Chancenvermittlung in dieser Gesellschaft Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen hat, und
sorgen. Sie sind es, die oft trotz schlecht bezahlter Arbeit die CDU/CSU-Fraktion, die das an Bedingungen ge-
dafür sorgen, dass etwa Langzeitarbeitslose, Fachkräfte, knüpft hat, sondern die frühere Regierung und die sie
Arbeitsuchende Chancen in dieser Gesellschaft bekom- tragenden Fraktionen haben gemeinsam diese Branche
men. Hier ein herzliches Dankeschön an die Lehrkräfte ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz aufgenommen und
in der Weiterbildungsbranche! gleichzeitig den Erlass einer Mindestlohnverordnung
durch die Regierung an bestimmte, wohldurchdachte Vo-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten raussetzungen geknüpft, und die sind leider nicht erfüllt.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Deswegen konnte es hier nicht zum Erlass einer Min-
GRÜNEN) destlohnverordnung kommen. Das ist die Wahrheit,
meine Damen und Herren, nicht aber die Legendenbil-
Ich verspreche Ihnen allen: Wir von der SPD werden
dung, die von anderer Seite betrieben wird.
nicht aufhören, für den Mindestlohn zu kämpfen, weder
im Bereich Weiterbildung noch auf dem Gebiet der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Leiharbeit, noch in anderen Branchen. Wir wollen einen
flächendeckenden Mindestlohn. Die Zweckgemeinschaft von Mitgliedsunternehmen
des Bundesverbandes der Träger Beruflicher Bildung,
(Beifall bei der SPD) die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft und die Ge-
Ich weiß, dass Sie, Schwarz-Gelb, das nicht vertreten werkschaft Erziehung und Wissenschaft haben am
(B)
können; aber Sie können für faire Bedingungen in der 12. Mai letzten Jahres einen Mindestlohntarifvertrag (D)
Weiterbildung über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz abgeschlossen und für diesen Tarifvertrag beim Bundes-
sorgen. Sorgen Sie dafür, dass 12,28 Euro zu einem fai- ministerium für Arbeit und Soziales die Allgemeinver-
ren Lohn in der Weiterbildung werden. Das ist unsere bindlicherklärung beantragt. Das Bundesministerium für
gemeinsame Verantwortung, um die Würde der Arbeit in Arbeit und Soziales hat unter Leitung des damaligen
der Weiterbildung zu schützen. Ministers Olaf Scholz den Tarifausschuss an diesem Ver-
fahren beteiligt. Dieser Ausschuss hat sich in seiner Sit-
In diesem Sinne: Glück auf! zung am 31. August letzten Jahres mit diesem Thema
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Agnes befasst. Die drei Arbeitgebervertreter haben gegen, die
Alpers [DIE LINKE]) drei Arbeitnehmervertreter für den Verordnungserlass
gestimmt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Gegensatz zu
Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär dem, was gestern von der grünen Fraktion beispiels-
Ralf Brauksiepe. weise im Ausschuss fälschlicherweise behauptet wurde,
nämlich dass das die generelle Linie der BDA und der
(Beifall bei der CDU/CSU) Arbeitgeberverbände sei, ist diese Entscheidung im letz-
ten Jahr die Ausnahme gewesen, und zwar die einzige
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der Ausnahme. Wir haben das Arbeitnehmer-Entsendege-
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: setz im letzten Jahr um mehrere Branchen erweitert, und
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wir haben in der Großen Koalition vereinbart, dass dieje-
Frau Kollegin Mast, Sie haben, was in der Tat nicht sehr nigen Branchen, die erstmals einen Tarifvertrag schlie-
gewagt ist, angekündigt, dass unmittelbar nach Ihnen ßen und die Allgemeinverbindlicherklärung beantragen,
Vertreter der christlich-liberalen Koalition sprechen wer- mit ihren Verträgen dann auch durch den Tarifausschuss
den. Jetzt spricht zunächst einmal ein Vertreter der Bun- müssen. Dies waren fünf Branchen. Es hat im letzten
desregierung. Dieser Unterschied ist nicht ganz unbe- Jahr drei 6 : 0-Entscheidungen gegeben. Bei den textilen
deutend. Denn Sie haben als frei gewählte Abgeordnete Dienstleistungen, bei den Bergbauspezialarbeiten und in
in einem freien Land das Recht, hier all Ihre persönli- der Entsorgungswirtschaft war es Konsens im Tarifaus-
chen Befindlichkeiten auszubreiten. Dieses Recht hat die schuss, diese Branchen ins Entsendegesetz aufzuneh-
Bundesregierung, in diesem Fall die Bundesarbeitsmi- men, und so ist es passiert. In zwei Branchen gab es kei-
nisterin, beim Erlass von Verordnungen so nicht. Die nen Konsens. Bei den Sicherheitsdienstleistungen haben
Bundesregierung ist an Recht und Gesetz gebunden, die Gewerkschaftsvertreter des DGB dagegen gestimmt
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6903
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe
(A) und damit verhindert, dass Menschen, die im Sicher- Anette Kramme (SPD): (C)
heitsbereich tätig sind, deutlich höhere Mindestlöhne be- Vielen Dank, Herr Brauksiepe. – Ich habe folgende
kommen, die der CGB gegenüber den Verdi-Tarifverträ- Frage an Sie: Ist es richtig, dass ein Beamter des Minis-
gen in verschiedenen Ländern ausgehandelt hat. Das war teriums für Arbeit und Soziales in der Ausschusssitzung
die souveräne Entscheidung der Gewerkschaftsvertreter. am gestrigen Tag erklärt hat, bei der Auslegung des Be-
Nur bei der Weiterbildungsbranche hat die BDA dage- griffs „öffentliches Interesse“ gebe es einen politischen
gengestimmt. Das Ergebnis der Abstimmungen war also Ermessensspielraum? Ist diese Aussage nur dahin ge-
dreimal 6 : 0 und zweimal 3 : 3; einmal gab es Gegen- hend zu verstehen, dass die Möglichkeit besteht, diesen
stimmen der Arbeitgeber, einmal Gegenstimmen der Ge- Tarifvertrag für allgemeinverbindlich zu erklären?
werkschafter. Das zeigt, dass sich die Mitglieder des Ta-
rifausschusses mit den einzelnen Branchen durchaus (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sorgfältig beschäftigt haben. Rechtlich besteht die Möglichkeit!)
Es ist Aufgabe des Bundesarbeitsministeriums, zu
prüfen, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung im öf- Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der
fentlichen Interesse liegt. Dabei ist ganz klar das Inte- Bundesministerin für Arbeit und Soziales:
resse derer, die die Allgemeinverbindlichkeit beantra- Frau Kollegin Kramme, es ist gestern im Ausschuss
gen, gegen das Interesse derjenigen abzuwägen, die von allen damit befassten Vertretern der Bundesregie-
durch eine solche Verordnung dann auch gebunden wür- rung zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Be-
den. Das war die Aufgabe, die sich für das Bundesminis- griff des öffentlichen Interesses selbstverständlich einer
terium für Arbeit und Soziales gestellt hat. Ausfüllung bedarf; das ist kein Geheimnis. Nicht nur das
Sozial- und das Arbeitsrecht haben eine Fülle von unbe-
In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlich stimmten Rechtsbegriffen. In vielen Gesetzen steht das
die Tarifbindung eine wichtige Rolle. Zur Ermittlung der Wort „angemessen“, das konkretisiert werden muss. Na-
Tarifbindung hat das Bundesarbeits- und -sozialministe- türlich muss auch der Begriff „öffentliches Interesse“
rium in einem aufwendigen Verfahren und mit sorgfälti- konkretisiert werden.
ger Prüfung alle erreichbaren Statistiken ausgeschöpft,
was in dieser Branche deutlich schwieriger ist als in an- Gestern im Ausschuss ist das deutlich geworden, was
deren. Trotz intensiver Prüfung war eine sichere Daten- ich hier noch einmal sagen will: Für uns ist bei der Beur-
basis nicht zu erlangen, aber selbst unter Zugrundele- teilung, ob ein öffentliches Interesse besteht, wesentlich
gung der von den Tarifvertragsparteien des Mindest- – das ist nichts Neues –: Wer soll über wen entscheiden,
lohntarifvertrages vorgetragenen und für sie günstigsten und wie wird das von den branchenübergreifenden Tarif-
Zahlen ergibt sich, dass die Tarifbindung allenfalls vertragsparteien gesehen? – Wenn im günstigsten Fall
(B) 25 Prozent beträgt. Ein Tarifvertrag mit vergleichbar 25 Prozent über 75 Prozent entscheiden sollen, dann ist (D)
niedriger Tarifbindung ist in der Vergangenheit noch nie das für uns kein öffentliches Interesse,
Gegenstand einer Verordnung nach dem Arbeitnehmer-
Entsendegesetz gewesen. Das ist keine neue Politik der (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)
christlich-liberalen Koalition, sondern es ist eine Konti-
vor allem wenn gleichzeitig im Tarifausschuss keine
nuität in der Politik der Bundesregierung auch aus der
Mehrheit ein öffentliches Interesse feststellt.
vergangenen Zeit, weil jede Bundesregierung an Recht
und Gesetz gebunden ist und nicht an persönliche Be- (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Jetzt hat die
findlichkeiten einzelner Akteure. Darum geht es hier. Frau Kramme wieder was gelernt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Nichts anderes ist gestern im Ausschuss gesagt worden,
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und und das ist auch sachgerecht.
Kollegen, das geteilte Votum des Tarifausschusses unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
streicht von daher die Einschätzung, dass die erforderli-
che Repräsentativität der Mitglieder der Zweckgemein- Die Frage von Mehrheit und Minderheit spielt also
schaft und damit das erforderliche öffentliche Interesse eine Rolle. Hier gibt es keine Mehrheit, die tarifgebun-
am Erlass der Verordnung nicht gegeben sind. Das ist den ist. Alle diese Fakten sind den Antragstellern seit
keine generelle Linie einer Tarifvertragspartei, eines mehr als einem Jahr bekannt und sind mehrfach im Ge-
Teils des Tarifausschusses, sondern das war im letzten spräch mit ihnen erörtert worden.
Jahr in diesem Ausnahmefall ein Votum, sicherlich auch
vor dem Hintergrund der Repräsentativität. Insbesondere der Arbeitgeberverband ist jetzt gefor-
dert, seine Basis zu verbreitern, zusätzliche Mitglieder
zu gewinnen, um so zu einer höheren Tarifbindung in
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: der gesamten Branche zu kommen.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?
Die Kollegin Kramme möchte Ihnen noch eine Frage Das Ministerium konnte zum jetzigen Zeitpunkt
stellen. nichts anderes tun, als dieses Verfahren mit einer Ableh-
nung abzuschließen,
Dr. Ralf Brauksiepe, Parl. Staatssekretär bei der (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bundesministerin für Arbeit und Soziales: NEN]: Sie sagen selber, dass es Ihre Interpre-
Sehr gern. Bitte schön. tation war!)
6904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepe


(A) weil es an Gesetz und Recht gebunden ist. Die Bindung um 2 Milliarden Euro kürzen. Die Qualität wird schlech- (C)
an Gesetz und Recht wird das Handeln des Bundesar- ter, der Kampf um den niedrigsten Preis wird härter, und
beitsministeriums auch weiter bestimmen. die Löhne werden geringer. Das ist weder christlich noch
sozial.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])
Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Das ist Beleidigung der Intellektualität! – Dennoch ist es erstaunlich, dass der vorliegende An-
Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: trag ausgerechnet von der SPD kommt. Noch im Januar
Schwerer logischer Fehler!) 2009 brüstete sich ihr damaliger Arbeitsminister Scholz
mit der Aufnahme der Weiterbildungsbranche in das
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Entsendegesetz. Es könne nicht sein, dass ausgebildete
Das Wort hat nun Agnes Alpers für die Fraktion Die Akademikerinnen und Akademiker zu Löhnen beschäf-
Linke. tigt werden, die nicht in Ordnung sind, um Erwerbslosen
gute Berufe beizubringen und zu zeigen, wie man gut ar-
(Beifall bei der LINKEN) beitet. Irgendwie komisch. Dabei haben Sie unter Rot-
Grün mit der Einführung der Hartz-Gesetze bei den Wei-
Agnes Alpers (DIE LINKE): terbildungsmaßnahmen im SGB II und III massiv ge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- kürzt und durch das Vergaberecht die Preise gedrückt.
nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau von (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann hätte die
der Leyen hat am Montag den Branchenmindestlohn in Frau Kollegin Mast hier gar nicht den Mund so
der Weiterbildung beerdigt, einfach so; keine Gespräche voll nehmen dürfen!)
mit den Verbänden, keine ausreichende Begründung.
Seitdem gingen dadurch bundesweit über 30 000 sozial-
Gestern hat Herr Staatssekretär Brauksiepe im Aus-
versicherungspflichtige Arbeitsplätze verloren. Die übri-
schuss für Arbeit und Soziales die Entscheidung damit
gen Beschäftigten hatten Lohneinbußen von bis zu
begründet, dass das öffentliche Interesse fehlt. Aller-
30 Prozent.
dings stellte ein Referent aus dem Ministerium kurz da-
rauf fest, dass das öffentliche Interesse gar nicht defi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin entsetzt! –
niert ist. Gegenruf der Abg. Katja Mast [SPD]: Ich
auch!)
Ich schließe daraus: Sie hätten, wenn Sie gewollt hät-
(B) ten, Herr Brauksiepe, trotz „25 Prozent“ – es ist nicht de- Nun sitzen Sie hier und spielen den großen Retter der (D)
finiert! – den Branchenmindestlohn durch eine Rechts- Weiterbildungsbranche. Dabei hätten Sie doch schon in
verordnung erlassen können. Sie hätten handeln können. der letzten Wahlperiode in der Großen Koalition den
Sie haben gehandelt, aber politisch. Sie wollen nämlich Mindestlohn durchsetzen können.
keinen Branchenmindestlohn in der Weiterbildung. Dies,
Herr Brauksiepe, erklären Sie doch bitte mal meinen (Zuruf von der FDP: Das stimmt!)
Kolleginnen und Kollegen in Bremen!
Ich frage Sie: Wo ist der Unterschied zwischen Ihnen
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und der CDU/CSU sowie der FDP, wenn es um die Taten
neten der SPD) geht?
Herr Brauksiepe, erinnern Sie sich noch? Anfang ver- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der
gangenen Jahres, als die Weiterbildungsbranche ins Ent- FDP: Gute Frage!)
sendegesetz aufgenommen wurde, haben Sie gesagt:
Die Linke fordert die Bundesregierung auf, die Ab-
Deshalb ist dieser Tag heute ein großer Tag für die lehnung der Einführung eines Mindestlohns in diesem
christlich-soziale Bewegung in Deutschland. … Es Bereich rückgängig zu machen und das Vergaberecht der
ist immer schon der Anspruch der Christdemokra- Bundesagentur zu ändern. Preisdiktate in Ausschrei-
ten gewesen … das Richtige zu tun. bungsverfahren führen bei Bildungsträgern zwangsläu-
fig zu Qualitätseinbruch und Dumpinglöhnen.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es! –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So pathetisch hat Für uns Linke bleibt es dabei: Einführung eines Min-
er das gesagt?) destlohns und gute Tarife für alle.
Aber hier zählen keine Ansprüche, meine Damen und Vielen Dank.
Herren von der CDU/CSU; hier zählen Taten.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Ihre Taten gehen genau in die falsche Richtung. Heute Das Wort hat Johannes Vogel für die FDP-Fraktion.
verhindern Sie den Mindestlohn, und morgen kommt
auch noch Ihr sogenanntes Sparpaket in der Arbeitsför- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
derung. Die Bundesregierung will da im nächsten Jahr der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6905

(A) Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! GRÜNEN]: 1 200 Euro für Lehrkräfte!)
Liebe Kollegin Mast, ich habe mich sehr gefreut, dass Natürlich ist jedes einzelne Lohnproblem eines zu
Sie eben so empathisch, ruhig und mit klaren Worten Ih- viel. Aber wenn Sie hier alle über einen Kamm scheren,
ren Antrag vorgebracht haben. von Hungerlöhnen sprechen und behaupten, das Pro-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was ist noch ein- blem sei mit einem für allgemeinverbindlich erklärten
mal der Unterschied zwischen empathisch und Mindestlohn zu lösen, dann machen Sie es sich zu ein-
sympathisch?) fach.

– Empathisch und sympathisch liegen nahe beieinander, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
müssen aber nicht immer identisch sein. Ich würde aber der CDU/CSU – Abg. Katja Mast [SPD] mel-
so weit gehen, zu sagen: Bei der Kollegin Mast ist es det sich zu einer Zwischenfrage)
identisch. – Liebe Kollegin Mast, ich war eben so nett zu Ihnen,
ich möchte aber jetzt an dieser Stelle weiterkommen.
(Katja Mast [SPD]: Hört! Hört! – Weitere Zu-
Die Zeit ist durch das kleine charmante Geplänkel eben
rufe von der SPD und der FDP)
leider schon sehr weit fortgeschritten.
– Ich würde mich freuen, wenn mich auch die eigene
Fraktion eventuell zum Thema kommen ließe. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Ich finde aber, dass es nicht angeht, wie sich die SPD
Kollegin Mast?
ansonsten zum Thema eingelassen hat. Die Kollegin
Kramme ist zwar immer für deutliche Worte gut; aber
wenn sie sagt, die Regierung verweigere die Unterschrift Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
oder das sei ein Skandal und ein Schlag ins Gesicht der Nein, ich habe ihr gerade erklärt, warum nicht.
Beschäftigten: Sie von der SPD holzen hier schon ziem- Ich will zur nächsten Behauptung kommen: Die Bun-
lich. desregierung verweigere eine Unterschrift. Ich bin gro-
(Katja Mast [SPD]: Ja!) ßer Anhänger der Gewaltenteilung; dazu können wir
gerne politische Positionen austauschen. Die Bundesre-
Da fällt mir das gute Goethe-Wort ein: „Durch Heftig- gierung kann jedenfalls immer noch selbst entscheiden,
keit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an ob sie etwas für allgemeinverbindlich erklärt oder eben
Kräften fehlt.“ nicht. Das muss sie natürlich auf der Grundlage von kla-
(B) ren Kriterien und einer gründlichen Prüfung machen. (D)
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha! – Weiterer
Zuruf von der FDP: Sehr gut!) Liebe Kollegin Mast, ich würde schon sagen – der
Parlamentarische Staatssekretär hat es eben ausgeführt –,
Ich habe das Gefühl, das trifft auch hier zu; denn wenn dass es gute Gründe gibt, im Falle der Weiterbildungs-
Sie so heftige Worte wählen müssen, wird es dafür auch branche zu sagen: Hier ist möglicherweise weder Reprä-
einen Grund geben. sentativität noch öffentliches Interesse gegeben.
Ehe Sie von Hungerlöhnen sprechen, wäre es viel- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
leicht als erster Schritt für eine ernsthaftere Beschäfti-
gung mit dem Thema gut, wenn Sie uns belastbare Daten Im Tarifausschuss gab es nämlich keine Mehrheit für
zur Lohnsituation in der Weiterbildung vorlegen würden. eine entsprechende Regelung. Die Kollegin Müller-
Gemmeke wird bestimmt gleich darauf hinweisen, dass
(Zuruf der Abg. Anette Kramme [SPD]) es nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz keine Mehr-
heit im Tarifausschuss geben muss.
Es gab ja eine entsprechende Anfrage der Linken an die
Bundesregierung. Deren Antwort stützt sich auf Daten (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
aus dem Dezember 2009. Ich möchte nur einige Aussa- GRÜNEN]: Genau!)
gen daraus vortragen: Wir haben 215 000 Personen in
Trotzdem muss die Regierung klare Kriterien suchen.
der Weiterbildung, 155 000 davon arbeiten sozialversi-
cherungspflichtig in Vollzeit, 13 000 davon, ein kleiner, (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
aber nennenswerter Teil, bezieht ergänzende Leistungen GRÜNEN]: Was ist denn ein Kriterium, wenn
aus dem Arbeitslosengeld II. All das ist richtig. Es liegen nicht das allgemeine Interesse?)
uns allerdings keinerlei Daten über den Haushaltskon-
Da liegt es nicht fern, die Kriterien des Tarifvertragsge-
text der Betroffenen vor. Wenn man dann berücksichtigt,
setzes anzulegen. Es macht Sinn, dass es eine Mehrheit
dass diese 13 000 Personen im Durchschnitt 700 Euro
im Tarifausschuss geben muss, bevor irgendetwas für
ergänzendes ALG II beziehen, ist es wohl eher nicht so,
allgemeinverbindlich erklärt wird.
dass es sich um alleinstehende Personen handelt, die in
Vollzeit oder Teilzeit arbeiten, aber zu niedrige Löhne Der Tarifausschuss wird nicht ohne Grund einge-
bekommen. Dieses wirkt eher so, als sei der Anspruch schaltet. Er ist dafür da, die volkswirtschaftliche Ge-
entstanden, weil diese Personen eine Familie mit hohen samtsicht herzustellen. Der Parlamentarische Staatsse-
Ansprüchen haben und eine große Bedarfsgemeinschaft kretär hat es ausgeführt: Bei anderen Branchen gab es
bilden. auch in letzter Zeit ein einstimmiges Votum im Tarifaus-
6906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Johannes Vogel (Lüdenscheid)


(A) schuss. Hier war das eben nicht der Fall. Deshalb gibt es Anton Schaaf (SPD): (C)
gute Gründe, hier die Allgemeinverbindlichkeit abzuleh- Herr Kollege Vogel, ich danke Ihnen sehr. Ich hätte
nen. zwar mit einer ähnlich charmanten Absage wie bei der
Kollegin Mast gerechnet; aber Sie haben wahrscheinlich
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) einkalkuliert, dass ich dann eine Kurzintervention hin-
Auch Repräsentativität ist nicht gegeben. Wenn die terherschiebe.
Bindungswirkung des Tarifvertrags bei 45 oder 47 Pro-
zent läge, könnte man noch darüber diskutieren, ob man Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
ihn nicht vielleicht trotzdem für allgemeinverbindlich er- Das wäre nicht so schlimm. Dann könnte ich ja ant-
klären sollte. Hier sind aber maximal 25 Prozent der Ar- worten.
beitnehmer an den Tarifvertrag gebunden. Da ist die Re-
präsentativität nicht fraglich, sondern fern. Es wäre Anton Schaaf (SPD):
falsch, wenn hier ein Minderheitsinteresse über das Mehr- Ich möchte eine Anmerkung machen. Das Verhältnis
heitsinteresse dominieren würde. der Minderheit zur Mehrheit ist so eine Sache. Es gibt in
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Bezug auf die Mindestlohnregelung eine Lex FDP. Ei-
gentlich kann der Arbeitsminister oder die Arbeitsminis-
Deshalb ist es auch unter dem Gesichtspunkt der Reprä- terin einen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklä-
sentativität richtig, das Ganze abzulehnen. ren. In Ihrem Fall – so haben Sie das vereinbart – darf
die Minderheit im Kabinett, nämlich die FDP, das ver-
Liebe Frau Kollegin Mast, ich nehme die Koalitions- hindern. Da könnte man fragen: Wie steht es hier um das
freiheit sehr ernst. Ich finde es gut, wenn sich Arbeitge- Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit? Aber das lasse
ber und Arbeitnehmer organisieren und gemeinsam für ich jetzt einmal.
die Lohnfindung zuständig sind. Ich nehme die Koali-
tionsfreiheit auch dadurch ernst, dass ich nicht politisch (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei
definiere, wann mir das Ergebnis passt. Ich habe das Ge- Abgeordneten der LINKEN)
fühl, Sie halten den Wert der Koalitionsfreiheit nur dann Die Frage, die ich konkret stellen und von Ihnen be-
hoch, wenn Ihnen das politische Ergebnis zupasskommt. antwortet bekommen möchte, bezieht sich auf das öf-
Das hat nichts mit dem Wert der Tarifautonomie und der fentliche Interesse. Hier wurde deutlich gesagt, es gebe
Koalitionsfreiheit in Deutschland zu tun. kein besonderes öffentliches Interesse, den Tarifvertrag
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir müssen die für allgemeinverbindlich zu erklären. In diesem Falle ist
Tarifautonomie vor der SPD schützen! – Katja es mit dem öffentlichen Interesse so eine Sache; denn
(B)
Mast [SPD]: Mir geht es um die Würde der hier werden Dritte im Auftrage des Staates tätig, nämlich (D)
Arbeitnehmer!) im Auftrag der BA. Hier stellt sich die Frage, ob es ein
besonderes öffentliches Interesse gibt. Würden Sie aus-
– Hier geht es um die Würde der Arbeit. Es geht aber drücklich ausschließen, dass das besondere öffentliche
auch darum, dass wir faire Bedingungen brauchen. Min- Interesse, das dahinterstecken könnte, darin liegt, dass
derheitsinteressen dürfen hier nicht Mehrheitsinteressen die BA höhere Aufwendungen hätte, wenn man in der
diktieren. Weiterbildungsbranche mehr Geld zahlen würde? Das
könnte das besondere Interesse sein, das zu der politi-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – schen Entscheidung geführt hat, hier keine Mindestlöhne
Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE einzuführen.
GRÜNEN]: Mindestlöhne schaffen faire Be-
dingungen!)
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP):
Deshalb ist es richtig, dass die Allgemeinverbindlichkeit Lieber Herr Kollege Schaaf, Sie werben immer für
hier abgelehnt wird. faire Löhne. Ich glaube, wir alle wollen faire Löhne.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da bin ich
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: mir nicht so sicher bei Ihnen!)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Es geht aber auch um faire Regeln in der Demokratie.
Kollegen Schaaf? Die faire Regel lautet hier: Eine Erklärung der Allge-
meinverbindlichkeit – das ist ein Eingriff – kann es nur
Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP): geben, wenn der Verfahrensweg, der vereinbart worden
Beim Kollegen Schaaf kann ich natürlich nicht Nein ist, eingehalten wird, nämlich wenn es zunächst eine Be-
sagen. fassung im Tarifausschuss dazu gibt und die Bundesre-
gierung auf der Grundlage dieser Befassung entscheiden
kann. Die Zusammensetzung der Bundesregierung folgt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: demokratischen Regeln. Insofern kann ich hier keine
Das ist jetzt nicht ganz so charmant. Minderheitsblockade durch die FDP erkennen. Wir ha-
ben nämlich ein vereinbartes demokratisches Verfahren,
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU,
das eingehalten wird.
der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/
DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6907
Johannes Vogel (Lüdenscheid)
(A) Insofern glaube ich, dass Ihre Frage ins Leere geht. Montag ging der Brief der Bundesregierung an die An- (C)
Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung klare Kri- tragsteller heraus. In ihm heißt es lapidar: Ein öffentliches
terien hat, um zu definieren, ob ein öffentliches Interesse Interesse liegt nicht vor. Der Mindestlohn ist abgelehnt. –
vorliegt. Deshalb orientiert sie sich am Votum des Tarif- Es wurde keine Begründung genannt. Da verschlägt es
ausschusses, der dafür da ist – ich habe es schon gesagt –, mir fast die Sprache.
die volkswirtschaftliche Gesamtsicht herzustellen. Auch
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
in diesem Fall geht es um eine Wirtschaftsbranche, auch
wenn hier öffentliche Auftraggeber im Spiel sind. Sie ha- Gestern im Ausschuss – es wurde schon angespro-
ben das Verfahren doch erfunden. chen – hat Herr Staatssekretär Brauksiepe auf Nachfrage
das fehlende Interesse mit der niedrigen Tarifbindung
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja!)
begründet. Ich kann nur sagen: Ich finde es unglaublich,
Es ist richtig, dass wir es vernünftig anwenden und nicht dass dem Ministerium wohl nicht bekannt ist, welche
behaupten, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktie- Kriterien bei der Prüfung des öffentlichen Interesses an-
ren können. gelegt werden müssen. Laut einer Grundsatzentschei-
dung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
1977 liegt ein öffentliches Interesse vor, wenn eine Ge-
habe das Gefühl, dass Ihr Antrag – Herr Kollege Schaaf,
fährdung des Arbeitsfriedens durch eine Aushöhlung des
Sie können sich setzen; ich komme zum Schluss – insge-
Tarifvertrags vorliegt oder wenn durch eine AVE für Au-
samt eher auf die Innenwirkung abzielt. Ich glaube, es ist
ßenseiter, also Beschäftigte ohne Tarifvertrag, angemes-
eine Art Olaf-Scholz-Gedächtnisantrag. Sie wollen nach-
sene Arbeitsbedingungen gesichert und damit Lohndrü-
träglich legitimieren, dass in der letzten Legislaturperiode
ckerei und sogenannte Schmutzkonkurrenz beseitigt
alle Register gezogen wurden, um verschiedene Bran-
werden können.
chen einzubringen, und täuschen die Öffentlichkeit mit
Ihrem rhetorischen Geholze. (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Hört! Hört!)
(Katja Mast [SPD]: Aber jetzt so uncharmant,
Kollege?) Die niedrige Tarifbindung ist also kein Ablehnungs-
Das finde ich unredlich. grund, im Gegenteil.

Sie übersehen, dass alles dagegenspricht: Man kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
weder von grassierenden Dumpinglöhnen in der Branche sowie bei Abgeordneten der SPD – Brigitte
sprechen, Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im
Gegenteil!)
(B) (Anette Kramme [SPD]: Ha! Ha! – Katja Mast (D)
[SPD]: Reden Sie mal mit den Leuten! Sie ha- Legt man die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts
ben keine Ahnung!) an, dann ist der Mindestlohn in der Weiterbildungsbran-
che sehr wohl im öffentlichen Interesse.
noch gibt es eine Repräsentativität. Wir wollen eben
nicht, dass Minderheiten Mehrheiten etwas diktieren. Es (Katja Mast [SPD]: Genau!)
gibt auch kein öffentliches Interesse, weil der Tarifaus- Die Prüfung des Bundesarbeitsministeriums ist also völ-
schuss nicht dafür ist. Insofern freue ich mich auf die lig verfehlt.
Diskussion im Ausschuss. Es gibt noch spannende De-
tailfragen zu klären. Wir können unseren Disput im Aus- Ein paar Worte zur Branche selbst. Sie betonen immer
schuss gerne fortsetzen. wieder: Bildung, Arbeitsmarktintegration, aber auch der
Fachkräftemangel stehen im Mittelpunkt Ihrer Politik. –
(Katja Mast [SPD]: Werden wir auch!) Doch nun müssen viele Lehrkräfte weiter unter schlech-
Um die Koalition bzw. die FDP von Ihrem Antrag zu ten oder sogar prekären Bedingungen arbeiten. Wir dür-
überzeugen, müssen Sie sich schon noch bessere Argu- fen nicht vergessen: Wir reden über Beschäftigte, deren
mente einfallen lassen. Aufgabe es ist, erwerbslose oder von Arbeitslosigkeit be-
drohte Menschen zu qualifizieren. Ich kenne die Branche.
Vielen Dank. Ich war nämlich früher dort tätig. Anhaltender Preisver-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) fall für Bildungsmaßnahmen, beispielloses Lohndum-
ping und massive Tarifflucht der Arbeitgeber – das ist die
Realität. Die Beschäftigten haben zum großen Teil einen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, und doch wer-
Das Wort hat nun Beate Müller-Gemmeke für die den sie behandelt wie Pädagogen zweiter Klasse.
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowie bei Abgeordneten der SPD)
NEN): Bedenken Sie auch, dass der Mindestlohn nur ein ers-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- ter Schritt in die richtige Richtung wäre; denn viele, die
nen und Kollegen! Der Weg ist frei für einen Mindest- in dieser Branche arbeiten, sind Selbstständige und Ho-
lohn, so lautete Anfang 2009 die frohe Botschaft, als die norarkräfte. Auch sie müssen Arbeitsbedingungen und
Weiterbildungsbranche ins Entsendegesetz aufgenom- Honorare hinnehmen, die alles andere als angemessen
men wurde. Nun ist die Euphorie verflogen. Am letzten sind. Deswegen sind neben Mindestlöhnen auch Min-
6908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Beate Müller-Gemmeke
(A) desthonorare notwendig, um dieser besonderen Branche Brauksiepe hat die Daten bereits vorgelegt. Es steht (C)
gerecht zu werden. Ich appelliere an die Regierungsfrak- keine Entscheidung aus. Der Tarifausschuss hat mit 3 : 3
tionen und übrigens auch an die Gewerkschaften: Befas- abgestimmt. 3 : 3 heißt: keine positive Entscheidung.
sen Sie sich auch mit diesem Thema! Vor allem aber re-
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)
vidieren Sie Ihre Meinung zum Mindestlohn! Setzen Sie
sich für die Einführung des Mindestlohns ein! Bevor wir jetzt in die Diskussion über das öffentliche
Interesse einsteigen, sollten wir uns einem kleinen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundlagenseminar zum Thema Tarifrecht widmen. Ich
sowie bei Abgeordneten der SPD)
habe mir gestern Abend die Mühe gemacht, den Kom-
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der CDU/ mentar von Däubler zum TVG herauszusuchen. Ich bin
CSU-Fraktion, am letzten Donnerstag sagte Ministerin froh, dass ich ihn mitgenommen habe, und hoffe, dass
von der Leyen bei Maybrit Illner, es sei absolut richtig, ich hier nicht in die falsche Ecke gestellt werde.
dass Arbeitgeber und Gewerkschaften Mindestlöhne für
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Einzelbranchen aushandeln können.
GRÜNEN]: Wir reden aber über das Arbeit-
Warum zeigen Sie eigentlich keine Geschlossenheit? nehmer-Entsendegesetz! Das wissen Sie
Warum unterstützen Sie Ihre Ministerin nicht? Warum auch!)
setzen Sie sich nicht einmal gegen die FDP durch? Ich
gehe davon aus, dass die FDP auch bei diesem Mindest- – Ja. Aber wichtig im Zusammenhang mit der Allge-
lohn wieder auf der Bremse stand. meinverbindlicherklärung ist die Definition des Begriffs
„öffentliches Interesse“. – Es ist ganz klar festzuhalten,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) dass die Exekutive, also das Ministerium, diese Frage in
völlig eigenständiger Verantwortung prüft;
Zeigen Sie der FDP bei diesem Thema endlich einmal
Kante. Ich kann Ihnen auf jeden Fall versichern: Wir (Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE
Grünen werden bei diesem Thema nicht aufgeben. Wir GRÜNEN]: Stimmt!)
streiten so lange mit Ihnen, bis Sie endlich die Realität
auf dem Arbeitsmarkt zur Kenntnis nehmen und Min- das hatte der Herr Kollege Vogel vorhin schon einmal in
destlöhne im Sinne der Beschäftigten einführen. aller Deutlichkeit gesagt.

Vielen Dank. Frau Kollegin Kramme, in der gestrigen Ausschuss-


sitzung waren wir uns alle einig, dass es einen breiten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beurteilungsspielraum und ein weites normatives Er-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der messen gibt. Sie werden dem Ministerium am Ende
LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Strei- nicht vorhalten können – nur dann bestünde der An-
(B) ten können Sie ja!) (D)
spruch –, dass ein Nullermessen oder ein Ermessensfehl-
gebrauch vorliegt. Ich glaube nicht, dass Sie zu dieser
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Einschätzung kommen können. Nur dann, wenn das Er-
Liebe Kollegin, Sie haben uns pünktlich zu Ihrem gebnis schlechthin unvertretbar ist, würde überhaupt ein
50. Geburtstag das Geschenk einer Rede gemacht. Herz- Anspruch auf die Einführung eines Mindestlohnes über
lichen Dank und Gratulation zu Ihrem Geburtstag! die Allgemeinverbindlichkeit bestehen – sonst nicht.
(Beifall) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Agnes Alpers [DIE LINKE]: Lesen Sie mal
Ich erteile nun Kollegen Ulrich Lange für die CDU/ § 7 Entsendegesetz!)
CSU-Fraktion das Wort.
– Wir sind gerade bei der Definition des öffentlichen In-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – teresses.
Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ein sehr guter
Mann!) (Paul Lehrieder [CDU/CSU], an Abg. Agnes
Alpers [DIE LINKE] gewandt: Haben Sie
nicht zugehört, oder was?)
Ulrich Lange (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen Ich habe gerade gesagt, dass wir im Ausschuss gerne ein
und Kollegen! Frau Kollegin Müller-Gemmeke, auch ich Grundlagenseminar abhalten können, bevor wir hier wirr
gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrem Geburtstag. Wir be- durcheinanderreden und über Begriffe reden, die wir
schäftigen uns heute mal wieder mit dem Thema Min- manchmal nicht richtig ausfüllen können.
destlohn.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: So ist es!)
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Schreiben Sie sich bitte ganz dick in Ihr Buch hinein:
So lange, bis Sie es endlich lernen!)
Die Allgemeinverbindlichkeit ist Ausdruck der Subsi-
Frau Müller-Gemmeke, es geht Ihnen nicht nur um die diarität und kann nur in dieser Funktion konkretisiert
Weiterbildungsbranche, sondern auch um das Thema werden. Auch das müssen Sie in die Abwägung einbe-
„Mindestlohn im Allgemeinen“. ziehen. Genau das hat das Ministerium getan.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Dagegen möchte ich meinen heutigen Beitrag ganz Im Rahmen dieser Abwägung spielt es natürlich eine
konkret auf die Branche beschränken. Der Staatssekretär Rolle, ob Repräsentativität gegeben ist oder nicht. Bitte
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6909
Ulrich Lange
(A) bedenken Sie, dass wir hier über ein grundgesetzlich ge- hilfe in Sachen öffentliches Interesse. Ich komme gleich (C)
schütztes Recht sprechen. Wir reden über die Koalitions- darauf zurück und sage, wie ich das definieren würde.
freiheit, auch über die negative Koalitionsfreiheit, einem
Tarifvertrag nicht beizutreten. Das müssen Sie in die Ab- Wir haben in dieser Woche eine Hiobsbotschaft erhal-
wägung einbeziehen. ten: Frau von der Leyen hat es abgelehnt, den Tarifver-
trag für Beschäftigte in der Aus- und Weiterbildung im
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rahmen von SGB II und III für allgemeinverbindlich zu
Wir werden nicht die Hand dazu reichen, den Vorrang erklären. Die Regierung lehnt also einen Mindestlohn ab
der autonomen Regelungsmacht der Tarifvertragspar- und schaut damit dem Lohndumping in dieser Branche
teien durch eine rundum gültige Allgemeinverbindlich- tatenlos zu. So muss man das sehen.
keit von Tarifverträgen auszuhöhlen. Sie versuchen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
damit durch die Hintertür den gesetzlichen flächende- DIE GRÜNEN)
ckenden Mindestlohn einzuführen.
Herr Vogel, da hilft auch kein Zitat von Goethe. Die
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)
Begründung für die Entscheidung des BMAS bleibt
Bitte halten Sie sich an Recht und Gesetz! Manchmal nicht nachvollziehbar. Es liegt kein öffentliches Interesse
hilft auch ein Blick in das Grundgesetz. vor? Liegt es nicht im öffentlichen Interesse, Bildungs-
anbieter für ihre Arbeit angemessen zu bezahlen? Gute
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Bildung braucht Qualität, und – das haben wir gerade
Liebe Kollegin Mast, Sie hatten in einem Punkt recht: von Frau Mast gehört – Qualität hat ihren Preis. Herr
Die SPD hatte das BMAS viele Jahre in Händen. Staatssekretär Brauksiepe, liegt tatsächlich kein öffentli-
ches Interesse vor, wenn der Tarifvertrag für mehr als
(Katja Mast [SPD]: Sehen Sie? Wusste ich es 23 000 Beschäftigte gelten würde? Das ist völlig inak-
doch!)
zeptabel. 23 000 Menschen sind keine kleine Gruppe.
Ich werde jetzt ein paar Zahlen nennen, um deutlich zu Hier geht es um Tausende Ausbilder, Meister, Lehrkräfte
machen, wie die Situation wirklich ist: 2009, als Sie den und Sozialpädagogen. Da hilft kein Schönreden. Was sa-
Bundesarbeitsminister stellten, hatten wir in Deutsch- gen Sie den Betroffenen?
land rund 71 000 Tarifverträge. 2009 hatten wir 463 für
allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge; das sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
0,65 Prozent. Diese Tarifverträge galten in erster Linie der LINKEN)
für die Baubranche im Rahmen von Ausgleichs- und Ur- Wir erwarten äußerst viel von der Weiterbildungs-
laubskassen. Wir haben aber nur – das gilt für Ihre Zeit – branche: Sie soll Berufstätige weiterqualifizieren, sie (D)
(B) 44 Tarifverträge im Entgeltbereich im engeren Sinn; die-
soll den drohenden Fachkräftemangel abwenden, sie soll
sen Bereich wollen Sie hier regeln. Also tun Sie nicht so, Arbeitslose für den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt
als hätten wir eine Lücke geschaffen oder als würden wir fitmachen, und sie soll Menschen mit Migrationshinter-
eine Lücke nicht schließen. Sie hätten diese Lücke längst grund in unsere Gesellschaft integrieren. Kurz gesagt:
schließen können, wenn Sie damals dieser Ansicht ge- Die Branche wird in politischen Sonntagsreden zum
wesen wären.
Heilsbringer hochstilisiert und soll helfen, unsere drin-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – gendsten gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Weiter-
Katja Mast [SPD]: Die Frage ist, was Sie tun, bildung wird mit Wohlstand und Teilhabe gleichgesetzt.
nicht, was Sie sagen!) Da sind wir uns alle einig, im Handeln aber nicht. In der
Praxis können Weiterbilderinnen und Weiterbilder ihre
Ich fasse zusammen: Bundesarbeitsministerin von der
Aufgaben nicht erfüllen, weil ihnen schlichtweg die Mit-
Leyen hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Sie hat
tel fehlen. Das fängt beim Unterrichtsmaterial an und
ordnungsgemäß geprüft. Sie weigert sich aber – wir wei-
hört bei den Gehältern auf. Die notwendigen Investitio-
gern uns auch –, eine Allgemeinverbindlicherklärung
nen in die Weiterbildung sind unterblieben. Wenn Wei-
nach politischen Opportunitätsgesichtspunkten abzuge-
terbildung eine echte und tragfähige Säule in unserem
ben. Nehmen Sie im Sinne von Recht und Gesetz Ihren
Antrag zurück! Bildungssystem werden soll, müssen wir für eine solide
Finanzierung sorgen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Nachhaltig finanzierte Weiterbildung ist die beste Form
der aktiven Arbeitsmarktpolitik.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Viele hochqualifizierte Lehrkräfte müssen trotz
erteile ich Kollegen Michael Gerdes für die SPD-Frak- Hochschulabschluss mit einem Bruttoeinkommen zwi-
tion das Wort. schen 1 200 und 1 800 Euro auskommen. Manche sind
(Beifall bei der SPD) gezwungen, ihren Lebensunterhalt durch Leistungen
nach dem SGB II aufzustocken. Ich frage Sie: Ist das
nicht an der Grenze zum Hungerlohn?
Michael Gerdes (SPD):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist
Lange, zunächst einmal herzlichen Dank für die Nach- Hungerlohn!)
6910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Michael Gerdes
(A) – „Das ist Hungerlohn“, sagt mein Kollege. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b (C)
auf:
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie sollten nicht
alles glauben, was Ihr Kollege sagt!) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marcus
Weinberg (Hamburg), Albert Rupprecht (Wei-
Die SPD-Bundestagsfraktion fordert gemeinsam mit den), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter
den Gewerkschaften einen Mindestlohn für die Weiter- und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge-
bildungsbranche. ordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ordneter und der Fraktion der FDP
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –
Ich habe den Eindruck, dass einige Redebeiträge nicht Fachkräftepotentiale ausschöpfen
von praktischer Erfahrung getragen sind. Deswegen
möchte ich meine Gründe für diese Forderung darlegen. – Drucksache 17/3048 –
Mindestlöhne sind ein Garant für faire Arbeitsbedingun- Überweisungsvorschlag:
gen, weil sie die Existenz sichern. Mindestlöhne verhin- Ausschuss für Bildung, Forschung und
dern Lohndumping. Mindestlöhne verhindern Altersarmut Technikfolgenabschätzung (f)
und machen unabhängig von staatlichen Transferleistun- Auswärtiger Ausschuss
gen. Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und die Erde ist Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
eine Scheibe!) Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Mindestlöhne wirken sich positiv auf die Marktwirt- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
schaft aus, weil sie die Nachfrage stärken. Und Mindest- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
löhne fördern die Gleichberechtigung, weil momentan Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
vor allem Frauen von Niedriglöhnen betroffen sind. So Haushaltsausschuss
viele Argumente sind kein öffentliches Interesse?
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Zu Ihrer Anmerkung, die Erde sei eine Scheibe, Pothmer, Priska Hinz (Herborn), Fritz Kuhn, wei-
möchte ich sagen: Dies war über viele Jahre eine aner- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
kannte Lehre. Irgendwann hat sich etwas geändert, und NIS 90/DIE GRÜNEN
wir haben festgestellt, dass die Erde eben keine Scheibe
(B) ist, Herr Kollege, sondern rund. Strategie statt Streit – Fachkräftemangel be- (D)
seitigen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – – Drucksache 17/3198 –
Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eben!) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Deswegen haben Sie vielleicht noch die Chance, irgend- Innenausschuss
wann festzustellen, dass Mindestlöhne europaweit aner- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
kannt sind und in der EU als Selbstverständlichkeit gel- Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ten.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
GRÜNEN]: Ob die FDP das jemals lernt?) dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Meine Damen und Herren, Herr Lange, wir werden Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
jedenfalls nicht mal wieder, sondern immer wieder an Marcus Weinberg für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
diesem Thema festhalten.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU):
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Als erster Redner
zu diesem Tagesordnungspunkt
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Letzten
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord- werden die Ersten sein!)
nungspunkt.
– die Letzten werden die Ersten sein; das ist richtig –
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf möchte ich zum Anfang meiner Rede auf die Debatte
Drucksache 17/3173 an die in der Tagesordnung aufge- von heute Morgen zurückkommen. Die Staatsministerin
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- hat zu Recht gesagt, dass ein solches Anerkennungsge-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist setz ein Meilenstein in der Integrationspolitik sein wird.
die Überweisung so beschlossen. Diese Ansicht teilen wir ausdrücklich.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6911
Marcus Weinberg (Hamburg)
(A) Ich komme deswegen auf die Debatte von heute Mor- Zum Beispiel ist der Anteil der Jugendlichen mit Migra- (C)
gen zurück, weil ich glaube, dass dort, aber auch in der tionshintergrund, der keinen Abschluss hat, doppelt so
Integrationsdebatte insgesamt einiges falsch dargestellt hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen Ju-
worden ist. Zwei Punkte haben mich besonders geärgert. gendlichen. Der Anteil der Eltern mit Migrationshinter-
Der eine ist, dass von der Opposition immer wieder der grund, der seine Kinder in eine Krippe gibt, ist nur halb
Eindruck erweckt wurde, dass sich in den letzten Jahren so hoch wie der entsprechende Anteil der deutschen El-
bei der Integration nichts verändert hätte. Da muss man tern. Hier gibt es, wie gesagt, noch große Defizite.
ganz deutlich sagen: Das ist falsch. Ich zitiere einmal aus
dem Jahresgutachten Einwanderungsgesellschaft 2010. (Agnes Alpers [DIE LINKE]: Sie haben aber
Dort heißt es: gerade das Gegenteil gesagt!)

Sie Ein Problem ist die Anerkennung von im Ausland er-


worbenen Abschlüssen; deshalb will ich jetzt auf diesen
– die Integration – Punkt zu sprechen kommen. An der Debatte heute Mor-
ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Berei- gen hat mich in diesem Zusammenhang etwas geärgert.
chen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut Man kann natürlich immer wieder den Vorwurf erheben:
gelungen. Zudem stehen beide Seiten der Einwan- Das kommt alles zu spät; ihr redet doch nur.
derungsgesellschaft den Anforderungen von Zu- (Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Ist ja auch
wanderung und Integration pragmatisch und zuver- so!)
sichtlich gegenüber.
Ich möchte daran erinnern: Eine Integrationsbeauftragte,
Weiter heißt es: einen Integrationsplan und eine Islam-Konferenz hat es
Die deutschen Regelungen zu Migration und Inte- 1992 und 1998 noch nicht gegeben. Hinzu kommt unser
gration unterscheiden sich in ihren Grundelementen Gesetz, das im Dezember dieses Jahres hoffentlich vor-
kaum mehr von denen der europäischen Nachbarn. liegen wird.
Sie sehen, es gibt einen Prozess, der durchaus zufrie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
denstellend ist. Man kann, wie es der Kollege von der SPD heute Mor-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen getan hat, monieren, dass erst spät gehandelt wird.
neten der FDP) Aber jetzt handeln wir. Richtig, das hätte man schon vor
zehn Jahren tun können. Damals haben wir diese Mög-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lichkeit aber leider nicht gehabt.
(B) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Ein zentraler Punkt ist, wie gesagt, die Anerkennung (D)
Kollegin Alpers von der Linksfraktion? von im Ausland erworbenen Abschlüssen. Ein Problem
dabei ist das mangelnde Bewertungs- und Anerken-
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): nungsverfahren. Hier sind zwei Ebenen der Betrachtung
Ja, bitte. voneinander zu unterscheiden.
Zunächst zur gesamtgesellschaftlichen Betrachtung,
Agnes Alpers (DIE LINKE): die auch eine volkswirtschaftliche ist. Auf einige der ne-
Herr Kollege, Sie haben gerade betont, welche Ent- gativen Daten, von denen in diesem Zusammenhang im-
wicklungen es bei der Integration gab. Ich glaube, auch mer wieder die Rede ist, möchte ich kurz eingehen. Die
Sie haben zur Kenntnis genommen, dass im Berufsbil- Erwerbsquote von Zugewanderten beträgt 68 Prozent
dungsbericht explizit hervorgehoben wurde, dass junge und liegt damit deutlich unter der Erwerbsquote von Per-
Menschen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt sonen ohne Migrationshintergrund, die 75 Prozent be-
einen schlechteren Schulabschluss haben als junge Men- trägt. Die Arbeitslosenquote von Akademikern mit Mi-
schen ohne Migrationshintergrund, dass sie aber selbst grationshintergrund ist dreimal so hoch wie die der
dann, wenn sie einen gleichwertigen Schulabschluss Deutschen, die einen akademischen Abschluss haben.
oder sogar gleiche bzw. bessere Noten als Menschen Hier geht Potenzial verloren. Das sind volkswirtschaftli-
ohne Migrationshintergrund haben, nicht integriert wer- che Ressourcen, die wir dringend heben müssen.
den, weil sie zum Beispiel Ali heißen. Im Berufsbil-
dungsbericht wird die Frage aufgeworfen, warum das so Die andere Ebene der Betrachtung bezieht sich auf
ist. Wie passen diese Fakten zu der von Ihnen erwähnten die Einzelschicksale der betroffenen Personen. Wir alle
massiven Entwicklung bei der Integration? kennen entsprechende Fälle, möglicherweise sogar aus
dem Wahlkreis. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen.
Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Erstes Beispiel. Denken Sie an die Frau, die aus Russ-
Darauf will ich gerne eingehen. Das Zitat, das ich an- land kommt und dort Medizin studiert hat, momentan
geführt habe, bezog sich auf die Gesamtbetrachtung der aber „nur“ eine Anstellung als Arzthelferin hat. Stellen
Integration. Für uns ist von elementarer Bedeutung, Ent- Sie sich einmal vor – die meisten von uns haben ja einen
wicklungen zu bewerten. Völlig richtig ist – darauf Abschluss –, dass Sie ins Ausland gehen, Ihr Abschluss
wollte ich gerade hinaus –, dass insbesondere bei der dort aber nicht anerkannt wird, und stellen Sie sich die
Entwicklung im schulischen Bereich, auch was die Ab- Frage, welche Folgen es für Sie, Ihre Biografie und Ihre
schlüsse angeht, nach wie vor große Defizite bestehen. Psyche hätte, nicht in dem Bereich arbeiten zu können,
6912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Marcus Weinberg (Hamburg)


(A) in dem Sie ausgebildet wurden. Es ist ein Paradoxon, Nur mit einem solchen Gesetz schaffen wir politische (C)
dass uns 8 600 Mediziner fehlen, gleichzeitig aber junge Ernsthaftigkeit. Es wird schon beobachtet werden, ob
ausgebildete Menschen aus Russland oder anderen Län- wir die mittlerweile achte oder neunte Rede zu diesem
dern nicht im Medizinbereich arbeiten können. Thema halten.
Zweites Beispiel. Vergegenwärtigen Sie sich, welche (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Entwicklungen im Pflegebereich auf uns zukommen. Im In der Tat!)
Jahre 2020 werden uns 200 000 bis 300 000 Pflegefach- Wer das tut, wird sagen, „Verbindlichkeit“ bedeute, dass
kräfte fehlen. In Deutschland arbeiten viele Menschen es auch irgendwann ein Gesetz gebe; denn nur mit einem
aus dem Ausland, die in dem Beruf, den sie erlernt ha- Gesetz erreichen wir, dass sich Zugewanderte aufge-
ben, nicht arbeiten können. Wir haben also eine volks- nommen fühlen.
wirtschaftliche Verantwortung. Unter Integrationsge-
sichtspunkten haben wir aber auch eine Verantwortung (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
für die Menschen und ihre weitere Entwicklung. Machen, machen, machen!)
Mit Blick auf die bisherige Rechtslage und aufgrund Nur so erreichen wir, dass deren Potenziale unsere Ge-
der Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft ha- sellschaft bereichern, und nur so erreichen wir, dass de-
ben wir entschieden, möglichst zügig ein Anerkennungs- ren intellektuelle Ressourcen unserer Wirtschaft nicht
gesetz auf den Weg zu bringen; im Dezember dieses Jah- verloren gehen.
res wollen wir einen entsprechenden Gesetzentwurf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
vorlegen. 300 000 Akademikerinnen und Akademiker neten der FDP)
sollen derzeit nicht in ihrem eigentlichen Beruf arbeiten.
Der Grund ist oft, dass kein allgemeiner Rechtsanspruch Zum Schluss möchte ich noch einige Bemerkungen
auf ein Verfahren existiert. Richtig ist, dass ein Anerken- zur Qualitätssicherung machen; das war uns auch in der
nungsverfahren in reglementierten Berufen bisher zu- Diskussion wichtig.
mindest für Spätaussiedler und EU-Bürger garantiert (Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: So ist es!)
wurde. Alle anderen Personen können zum Beispiel ein
im Ausland erworbenes Examenszeugnis nicht verwen- Man kann natürlich die Quote erhöhen, indem man die
den. Sie sind entweder arbeitslos oder arbeiten in Beru- Qualität senkt. Das machen wir nicht, sondern wir legen
fen, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Wert darauf, dass es den Erhalt der Qualität des deut-
schen Ausbildungssystems weiterhin gibt, gerade weil
Welche Konsequenzen müssen wir ziehen? Mit einer wir festgestellt haben, dass diejenigen, die in Deutsch-
gesetzlichen Regelung müssen wir drei Ziele verfolgen: land eine Ausbildung gemacht haben, im Ausland er- (D)
(B)
Erstens brauchen wir die Verbindlichkeit, dass im folgreich sind, weil die Ausbildungsgänge anerkannt
Ausland erworbene Abschlüsse und Qualifikationen zü- werden. Deshalb gehen wir den Weg, die Qualifizierung
gig, nämlich innerhalb von sechs Monaten, bewertet aufzuwerten und die Standards nicht abzusenken. Dann
werden. Außerdem muss transparent gemacht werden, haben wir beides erfüllt: Wir haben die Qualitätsstan-
welche Kriterien dabei zugrunde gelegt wurden. Es ist dards gehalten und denjenigen, die nach Deutschland ge-
wichtig, diese Bewertung innerhalb von sechs Monaten kommen sind, eine Chance gegeben, in ihrem jeweiligen
vorzunehmen; denn nur so kann Verbindlichkeit ge- Beruf zu arbeiten.
schaffen werden. Herzlichen Dank.
Zweitens sollten entsprechende Bescheide über den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Abschluss bzw. über die Qualifikation vorliegen bzw.
ausgestellt werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Drittens ist das alles nur sinnvoll, wenn man jedem Das Wort hat nun der Kollege Swen Schulz für die
Bewerber die Chance gibt, durch Qualifizierung, wo De- SPD-Fraktion.
fizite bestehen, nachzuschulen. Das heißt, entsprechende (Beifall bei der SPD)
Angebote müssen vorliegen.
Was sind die Anforderungen an eine gesetzliche Re- Swen Schulz (Spandau) (SPD):
gelung? Wichtigster Regelungsgegenstand eines entspre- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
chenden Gesetzes muss die Festlegung eines Rechtsan- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was machen
spruchs auf ein Anerkennungsverfahren mit einer der Arzt, die Ingenieurin oder der Facharbeiter aus der
tatsächlichen Besserstellung sein. Im Zusammenhang Türkei, aus Osteuropa oder aus einem arabischen Staat,
damit – ich glaube, dass das sinnvoll und auch notwen- wenn der eigene Abschluss hier nicht anerkannt wird?
dig ist – muss die statistische Datenlage für Anerken- Heute früh haben wir den Achten Bericht über die Lage
nungsuchende und die zuständigen Stellen verbessert der Ausländerinnen und Ausländer debattiert. Ge-
werden, nicht wegen der Statistik, sondern weil wir se- schätzte 500 000 Menschen in Deutschland sind von der
hen wollen, wo die Defizite liegen und wo nachgearbei- Nichtanerkennung ihrer Abschlüsse betroffen. Sie kön-
tet werden muss, damit die verschiedenen Akteure nen nicht in ihrem erlernten Beruf arbeiten; sie müssen
– Bund, Länder und andere – wissen, wo Defizite so aber irgendwie zurechtkommen. Sie leben hier legal und
schnell wie möglich ausgeräumt werden müssen. wollen ihre Kenntnisse sowie ihre Fähigkeiten einbrin-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6913
Swen Schulz (Spandau)
(A) gen, doch sie werden daran gehindert. Das ist eine un- man sagen: Letztlich blickt niemand wirklich durch. – (C)
glaubliche Dummheit. Wir lassen Potenziale ungenutzt Das ist bürokratisch und ungerecht.
links liegen, obwohl immer lauter und immer drängen-
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist ty-
der über Fachkräftemangel geklagt wird. Es gibt immer
pisch Swen Schulz!)
mehr Rufe nach Zuwanderung von Fachkräften, aber wir
kümmern uns nicht um die Menschen, die bereits hier le- Nötig ist ein Rechtsanspruch für alle auf Bewertung
ben. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir der eigenen Abschlüsse und auf Durchführung eines An-
ändern. erkennungsverfahrens. Wir brauchen ausreichend viele
Anerkennungs- und Beratungsstellen. Das Verfahren
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten darf höchstens sechs Monate dauern, damit in absehba-
der LINKEN) rer Zeit auch tatsächlich Klarheit herrscht. Das Ziel muss
Diese Erkenntnis ist nicht neu. eine zentrale Steuerung und eine bundesweit verbindli-
che Gleichwertigkeitsfeststellung sein. Wo nur Teilaner-
Lieber Kollege Weinberg, zu den Fortschritten sage kennungen ausgesprochen werden können, müssen In-
ich so viel: In der Großen Koalition hat die SPD dazu formationen und Angebote über Nach- und Weiterquali-
Vorschläge gemacht. CDU und CSU haben sie abge- fizierungen – auch für die Sprache – verlässlich zur Ver-
lehnt. fügung gestellt werden.
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Weil sie un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
brauchbar waren!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Im letzten Jahr haben wir Anträge von der SPD, von den Damit diese Angebote tatsächlich angenommen werden
Grünen und von der Linksfraktion diskutiert. Langsam, können, sind entsprechende finanzielle Förderinstru-
ganz langsam kommt die Bundesregierung in die Gänge. mente nötig. Es hilft ja nichts, wenn es Angebote gibt,
Erst wurde ein sogenanntes Eckpunktepapier der Bun- die Leute sie sich aber gar nicht leisten können. Wir ha-
desregierung in die Welt gesetzt. Wir haben im Aus- ben darum schon im letzten Jahr in unserem Antrag ein
schuss eine Anhörung durchgeführt und das Thema Einstiegs-BAföG zur beruflichen Integration vorge-
mehrfach diskutiert. Neulich hat die Bundesministerin schlagen. Das wäre dann wirklich ein großer Schritt. Wir
einen Referentenentwurf für ein Anerkennungsgesetz für freuen uns – so viel dann doch positiv –, dass die Koali-
die zweite Oktoberhälfte angekündigt. Im Dezember soll tionsfraktionen diesen Punkt in ihrem Antrag aufgegrif-
dann der Gesetzentwurf kommen. Herr Kollege fen haben, wenn auch mit einer noch etwas zarten For-
Weinberg, Sie haben recht: Heute hat Staatsministerin mulierung.
(B) Böhmer gesagt, dass wir dieses Gesetz ganz schnell (Beifall bei der SPD) (D)
bräuchten. Ich finde es super, wie die Regierungskoali-
tion darauf jetzt endlich kommt. Wie gesagt: Wir sind gespannt auf den Gesetzentwurf
der Bundesregierung. Hier kommt es dann tatsächlich
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista Sager zum Schwur. Ich hoffe, ich täusche mich nicht; aber da
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Bundesregierung schon die bescheidene BAföG-Er-
höhung fast an die Wand gefahren hat,
In dieser Situation präsentieren nun auch die Koali-
tionsfraktionen einen Antrag zum Thema. Wow, wir sind (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Die dritte
echt beeindruckt, wie engagiert Sie dieses Thema forcie- BAföG-Erhöhung, nachdem Sie nichts ge-
ren. Das ist super mutig, liebe Kolleginnen und Kollegen macht haben!)
von der Koalition. bin ich bei diesem Thema ziemlich skeptisch.
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir spre-
Abgeordneten der LINKEN) chen hier auch über einen wichtigen Beitrag zur Integra-
Allein: Der Antrag hilft jetzt nicht weiter, weil wir alle tion. Es geht hier um die Anerkennung von Qualifikatio-
über den Punkt, dass ganz dringend etwas gemacht wer- nen; das heißt, es geht um die Anerkennung der
den muss, längst weit hinaus sind. Beim heutigen Stand Lebensläufe der Menschen. Es geht darum, ihnen zu ver-
der Debatte ist von den Regierungsfraktionen eigentlich mitteln, dass sie auch tatsächlich gewollt sind und ge-
mehr als ihr vorliegender Antrag mit solchen Allgemein- braucht werden, und darum, ihnen die Möglichkeit zu
plätzen zu erwarten. Wenn dann der Gesetzentwurf end- verschaffen, auf eigenen Beinen zu stehen und sich hier
lich, endlich zur Beratung vorliegt, werden wir sehen, als aktive, produktive Mitglieder der Gesellschaft einzu-
was der Gesetzentwurf im Einzelnen enthält und ob er bringen. Mit einem Wort: Es geht auch um Respekt. Die-
ausreicht. ser Gedanke wird in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU, leider mit keinem
Was muss getan werden? Wir leiden derzeit unter ei- Wort erwähnt. Sie verstehen noch immer nicht, wie
nem wahren Anerkennungschaos. Es wird nach Berufs- wichtig eine Anerkennungskultur ist.
gruppen unterschieden, nach Anerkennungszwecken
(Beifall bei der SPD)
und danach, ob es sich um Spätaussiedler, um EU-Bür-
ger oder um Drittstaatler handelt. In den einzelnen Bun- Ich möchte noch auf den Antrag von Bündnis 90/Die
desländern herrschen völlig unterschiedliche Verwal- Grünen eingehen, den wir heute auch diskutieren.
tungspraktiken. Wenn man einmal ehrlich ist, dann muss Selbstverständlich haben Sie recht, liebe Kolleginnen
6914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Swen Schulz (Spandau)


(A) und Kollegen: Es ist ein Gesamtkonzept mit unterschied- nen Qualifikationen: Immer und immer wieder sehen (C)
lichen Maßnahmen zur Behebung des Fachkräfteman- wir, dass die CDU/CSU erst blockiert und dann ganz
gels nötig. Natürlich haben auch wir von der SPD um- mühsam hinterherschleicht. Kommen Sie bitte endlich
fassende Überlegungen angestellt. Sie haben Ihre jetzt in einmal voran!
einem Antrag zusammengeschrieben. Vieles von dem
Herzlichen Dank.
können wir – zumindest in der Zielrichtung – unter-
schreiben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Ich will auf einen besonders wichtigen Bereich einge-
GRÜNEN)
hen, nämlich auf die Kindertagesstätten und die Schulen.
Lieber Kollege Weinberg, das hat ja auch eine ganze
Menge mit Integration zu tun. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Nächster Redner ist der Kollege Heiner Kamp für die
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Ach!) FDP-Fraktion.
Ich will einmal daran erinnern, dass es die rot-grüne (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bundesregierung war, die gegen den Widerstand aus der der CDU/CSU)
Union ein Ganztagsschulprogramm in ganz Deutschland
durchgesetzt hat.
Heiner Kamp (FDP):
(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
[SPD] – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ohne Meine Damen und Herren! Heute debattieren wir über
jedes pädagogische Konzept!) ein wesentliches Anliegen verschiedener Politikfelder:
Inzwischen hört sich das bei der CDU und der CSU ganz die Bekämpfung des Mangels an Fachkräften und Hoch-
anders an. Sie sind hier durchaus positiv gestimmt. qualifizierten in Zeiten des demografischen Wandels.
Heute früh hat sogar Staatsministerin Böhmer ausdrück- Dieser hat den deutschen Arbeitsmarkt bereits mit voller
lich mehr Ganztagsschulen gefordert. Das ist gut; aber Wucht erreicht. Fehlende Fachkräfte stellen in vielen
ich frage: Warum machen Sie dann an dieser Stelle Branchen schon heute ein strukturelles Problem dar.
nichts? Der durch den Fachkräftemangel verursachte Wert-
Im Rahmen der Umsetzung des Hartz-IV-Urteils des schöpfungsverlust ist gewaltig: Das Institut der deut-
Bundesverfassungsgerichts wollen Sie ein paar Bil- schen Wirtschaft Köln schätzt den Wohlstandsverlust für
dungsgutscheine verteilen. Was aber fehlt, ist ein Ange- unser Land auf rund 15 Milliarden Euro, und das im Kri-
bot an die Länder und an die Kommunen, die Kinderta- senjahr 2009. Nun müssen wir aufpassen, dass der sich
(B)
gesstätten und die Schulen zu verbessern. Es kann doch abzeichnende wirtschaftliche Aufschwung im XL-For- (D)
nicht darum gehen, Nachhilfe zu vermitteln, wenn alles mat nicht am Mangel an gut ausgebildeten Kräften
schon ganz schwierig ist, sondern die Kitas und die scheitert. Insofern freue ich mich über die Wachstums-
Schulen müssen so gut werden, dass Nachhilfe unnötig prognose des IWF von 3,3 Prozent für 2010. Das ist ein
wird. Das muss doch das Ziel sein. Anstieg um 1,9 Prozentpunkte, nämlich von 1,4 auf
3,3 Prozent. Über diese schönen Zahlen können wir uns
(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie alle freuen.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Fangen Sie in Berlin damit an!) Nun gilt es, dem Fachkräftemangel mit einem breiten
Es ist ja nicht so, dass Sie sich da nichts vornehmen; Ansatz zu begegnen, um unsere Wettbewerbs- und Inno-
es ist noch schlimmer. Sie torpedieren sogar die Förde- vationsfähigkeit einerseits und Wachstum und Wohl-
rung von Kindern. stand andererseits nachhaltig zu sichern. Diese Heraus-
forderung ist vorwiegend eine Querschnittsaufgabe, bei
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: In welcher der Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik zu-
Welt leben Sie eigentlich?) sammenwirken müssen. Aber auch Wirtschaft und Ge-
sellschaft müssen diese Problematik ernst nehmen und
– Ja, hören Sie mal zu. – Sie halten stur daran fest, den
frühzeitig bei der Entwicklung von Handlungskonzepten
Eltern ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie auszahlen
mitwirken.
zu wollen, dafür, dass sie ihre Kinder nicht in die Kita
schicken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Fachkräftemangel wird schon allein aufgrund sei-
ner demografischen Dimension alle Wirtschaftsbereiche
Herr Weinberg, Sie haben eben beklagt, dass es gerade
betreffen. Wenn wir uns vor Augen führen, dass selbst
im Migrantenbereich an der Stelle Probleme gibt. Ich
Großunternehmen wie die Deutsche Telekom bereits
glaube, dass das tatsächlich der völlig falsche Weg ist,
heute Schwierigkeiten haben, Ausbildungsplätze in den
der im Übrigen auch Milliarden kosten wird, die viel
neuen Bundesländern zu besetzen, wird deutlich, wie
besser in die Kitas und in die Schulen investiert wären.
ernst die Lage schon heute ist. In den nächsten zehn Jah-
Ob bei der vorschulischen Bildung, den Ganztags- ren werden 6,5 Millionen Personen mit abgeschlossener
schulen oder der Anerkennung von im Ausland erworbe- Lehre das Rentenalter erreichen. Zwischen 2020 und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6915
Heiner Kamp
(A) 2030 werden es sogar 8,4 Millionen sein. Gerade im Be- gegnen. Mit den Bildungsketten kümmern wir uns bereits (C)
reich der Facharbeiter werden wir es also mit einem gra- um bessere Ausbildungschancen für junge Menschen, in-
vierenden Mangel an entsprechend Qualifizierten zu tun dem wir bestehende Förderinstrumente zusammenführen
bekommen. und dann in die Fläche tragen. Sie sind ein wesentlicher
Baustein bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Auf dem Ausbildungsmarkt werden die Azubis rar. Noch in diesem Monat werden wir den außerordentlich
Vor allem ostdeutsche Ausbildungsunternehmen suchen erfolgreichen Ausbildungspakt mit einer qualitativen
händeringend nach Azubis. Da liegt der Gedanke nahe, Aufwertung verlängern. Integration gelingt über Teilhabe
sich in der Tschechischen Republik oder Polen nach mo- und Einbindung, auch auf dem Arbeitsmarkt. Sozialhilfe-
tivierten jungen Interessenten umzusehen. karrieren zementieren Differenzen, weil sie Abhängigkeit
Im Juli 2010 fehlten in Deutschland 36 800 Ingenieure. und Abgeschiedenheit zementieren. Deswegen kann es
Der Fehlbedarf wird in den nächsten Jahren noch dras- nicht richtig sein, unser Sozialsicherungssystem über das
tisch steigen. Der Aufschwung wird die Nachfrage wei- jetzige Maß auszuweiten. Nein, wir müssen die Wege in
ter verstärken. Eine solide Wirtschaftspolitik muss auf die Arbeit erleichtern und durch entsprechende Bildungs-
dieses Problem aufmerksam machen. Sie darf sich prag- angebote begünstigen.
matischen Lösungsansätzen nicht verschließen. So ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
wundert es nicht, dass Rainer Brüderle jüngst die Zu-
wanderungsdebatte angestoßen hat. Eine kluge und zugleich aktive Zuwanderungspolitik
müssen wir zeitnah auf den Weg bringen. Der mit dem
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten demografischen Wandel Hand in Hand gehende Fach-
der CDU/CSU) kräftemangel gibt uns hier klare Leitlinien. Wir brauchen
In dem heute zur Debatte stehenden Antrag haben die ein modernes Recht, das Zuwanderung über transparente
Koalitionsfraktionen einen wesentlichen Aspekt zur Mil- Kriterien wie Qualifikation, Integrationsfähigkeit und
derung des Fachkräftemangels aufgegriffen: die Aner- Bedarf steuert. Mit der Anerkennung ausländischer Bil-
kennung ausländischer Bildungsleistungen. Wir nutzen dungsleistungen schaffen wir eine wichtige Vorausset-
noch zu wenig Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt zung für die Zuwanderung von Hochqualifizierten.
und unsere Gesellschaft. Derlei Vergeudung können wir (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
uns als Gesellschaft und Volkswirtschaft nicht mehr leis- der CDU/CSU)
ten.
Sie sehen: Diese Koalition packt die Herausforderun-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) gen und Zukunftsthemen unserer Gesellschaft an. Die
(B) Überschriften wie „Putzen trotz Promotion“ in der Fi- drei Punkte aus der Überschrift des Koalitionsvertrages (D)
nancial Times Deutschland Anfang dieses Monats sind dabei der Kompass: Wachstum sehen alle Wirt-
möchte ich möglichst nicht mehr lesen. schaftsforschungsinstitute. Bildung bringen wir durch
unsere zahlreichen Initiativen wie die heute vorgestellte
FDP und Union sind überzeugt, dass der beste Weg zu und den größten Mittelaufwuchs in der Geschichte rich-
erfolgreicher Integration über die Teilhabe am Arbeits- tig voran. Zusammenhalt erreichen wir durch echte Teil-
markt und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung habe und Mitwirkungsmöglichkeiten zum Beispiel für
führt. Wenn zugewanderte Ingenieure Taxi fahren oder Migranten. Ich lade Sie ein: Machen Sie doch bitte mit!
sogar auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind,
Vielen Dank.
ist das einerseits für den Betroffenen frustrierend. Die
Gesellschaft hat andererseits gleich den doppelten Scha- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
den: ein unglückliches Mitglied sowie entgangene Steu- Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ern und Abgaben. Machen Sie doch was, statt nur zu schauen!)
Wir wollen für Zuwanderer einen Rechtsanspruch auf
eine Bewertung ihrer im Ausland erworbenen Ab- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
schlüsse schaffen. Die Regelungen für das Bewertungs- Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
und Anerkennungsverfahren wollen wir vereinfachen Agnes Alpers.
und das Verfahren selbst – wir halten eine Frist von
sechs Monaten für angemessen; Herr Schulz hat das be- (Beifall bei der LINKEN)
reits angesprochen – beschleunigen. Beim Verfahren ist
uns insbesondere die Transparenz ein wichtiges Anlie- Agnes Alpers (DIE LINKE):
gen. Zuwanderer sollen möglichst schon in ihrem Hei- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
matland Zugang zu Informationen über das Bewertungs- legen! Meine Damen und Herren! Schon lange verspro-
und Anerkennungsverfahren betreffend ihren Bildungs- chen und doch noch immer nicht in Sicht! Herr Kollege,
abschluss in Deutschland haben. In diese Informations- wir nehmen die Einladung gern an, wenn der Gesetzent-
anstrengungen wollen wir die deutschen Auslandsvertre- wurf nur endlich käme und das Ganze nicht dahinschlei-
tungen, die Außenhandelskammern und die Goethe- chen würde. Vielen Dank.
Institute natürlich einbeziehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mit dem heutigen Antrag machen wir einen weiteren sowie des Abg. Swen Schulz [Spandau]
wichtigen Aufschlag, um dem Fachkräftemangel zu be- [SPD])
6916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Agnes Alpers
(A) Sie reden immer vom Fachkräftemangel. Aber die – Ich habe ihn ausdrücklich drei Mal gelesen. (C)
Anerkennung von im Ausland erworbenen Bildungsab-
(Heiner Kamp [FDP]: Dann müssen Sie ihn
schlüssen kriecht und siecht dahin und liegt eigentlich
ein viertes Mal lesen!)
noch immer auf Eis. Sie, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und FDP, haben nun einen Antrag vorgelegt, All die wichtigen Fragen, die ungeklärt sind, die wir
der schon erahnen lässt, welche Gruppe beim Thema auch im Fachgespräch mit Ihnen nicht haben klären kön-
Anerkennung besonders in den Fokus gerät, Ihnen am nen, nehmen Sie in Ihrem Antrag nicht auf. Ich glaube,
Herzen liegt. Das sind die Akademikerinnen und Akade- Herr Kollege, Sie sollten mal Ihren Antrag lesen.
miker, die ihre Abschlüsse im Ausland erworben haben. (Uwe Schummer [CDU/CSU]: Das ist doch
Ich war erstaunt, wie schnell Sie die Migrantinnen und kein Gesetzentwurf!)
Migranten unter den Tisch fallen lassen, die keinen aka-
demischen, sondern „nur“ einen schulischen oder beruf- – Es ist kein Gesetzentwurf. Den haben Sie aber schon
lichen Abschluss haben. Diese werden immer nur am vor einem halben Jahr versprochen.
Rand erwähnt. Damit ignorieren Sie auf einen Schlag Bei dem Antrag der Grünen frage ich mich: Warum
über 2 Millionen Menschen, die ihren Bildungsabschluss lassen Sie sich auf die Diskussion dieser Damen und
im Ausland erworben und sich inzwischen zusätzliche Herren ein? Es geht hier doch insgesamt nicht um die
Qualifikationen angeeignet haben. Verwertung auf dem Arbeitsmarkt, sondern um die An-
Das alles zeigt für mich eines: Es geht Ihnen gar nicht erkennung von Menschen und ihrer beruflichen Ab-
darum, alle Migrantinnen und Migranten mit ihren be- schlüsse. So eine Schieflage in der Debatte lehnen wir
ruflichen Kompetenzen und Leistungen anzuerkennen. als Linke ab.
Sie wollen lediglich – ich zitiere aus Ihrem Antrag – (Beifall bei der LINKEN)
„eine bedarfsorientierte Arbeitsmarktintegration“. Von
Die Linke hat 2007 das Thema „Anerkennung“ als
Integration zu sprechen und dann nur scharf auf die ver-
Erste eingebracht. Wir wollen ein Anerkennungsgesetz
wertbaren akademischen Qualifikationen zu sein, das hat
für alle – egal ob Akademiker oder Handwerker. Wir
nichts mit Integration zu tun.
wollen einen Rechtsanspruch auf Anerkennung und
(Beifall bei der LINKEN) Nachqualifizierung mit einer Verfahrensdauer von maxi-
mal drei Monaten.
Die Bundesregierung grenzt die Gruppe der Berech-
tigten noch weiter ein. Sie ignoriert im Achten Auslän- Meine Damen und Herren, Migrantinnen und Migran-
derbericht einfach die Gruppe der über 55-Jährigen. ten brauchen endlich berufliche Perspektiven. Aus unse-
Auch Bildungsabschlüsse, die vor mehr als zehn Jahren rer Sicht haben alle Menschen ein Recht, als Person an-
(B) erworben wurden, sind nutzlos bei der Anerkennung. erkannt zu sein. Ansonsten bleibt Ihr Gerede über (D)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt etliche Abge- Integration nicht mehr als eine hohle Phrase.
ordnete, die schon über zehn Jahre hier im Parlament Vielen Dank.
sind. Stellen Sie sich einfach einmal vor, sie bekämen
morgen die Mitteilung, dass all ihre Berufsabschlüsse (Beifall bei der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/
nicht mehr gelten. Na, da hätten wir richtig Stimmung CSU]: Würden Sie das zurücknehmen?)
im Parlament.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Swen Krista Sager ist die nächste Rednerin für die Fraktion
Schulz [Spandau] [SPD]) Bündnis 90/Die Grünen.
Ich kann nur feststellen, meine lieben Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU und FDP: Sie sind nicht bei Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den Sorgen und Nöten der Menschen angekommen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer In-
tegrationsbereitschaft von Migrantinnen und Migranten
In Ihrem Antrag ist zu lesen, dass Sie die Kriterien zur einfordert und den demografisch bedingten Fachkräfte-
Bewertung bundeseinheitlich regeln wollen. Aber wie mangel beklagt, der muss in der Tat dringend etwas tun,
sieht es denn mit den Gesetzen zur Anerkennung aus? damit das Anerkennungswesen für im Ausland erwor-
Für jeden gilt etwas anderes. Wir haben insgesamt weit bene Qualifikationen und Bildungsabschlüsse in
über 100 Gesetze in den Ländern und im Bund. Wie soll Deutschland verbessert wird.
die Anerkennung denn nun geregelt werden: bundesein-
heitlich oder wieder in Stufen für EU-Bürger, Aussiedler (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Bürger aus Drittstaaten? Und was ist mit den Asyl- Wir haben hier gravierende Defizite, und das ist seit lan-
bewerbern? Welche Stellen bewerten denn ihre berufli- gem bekannt. Hunderttausende Menschen arbeiten un-
chen Abschlüsse? Wie genau wird die Nachqualifizie- terhalb ihres Qualifikationsniveaus oder sind sogar ar-
rung geregelt, und wer ist dafür zuständig? – Fragen beitslos, nicht zuletzt wegen Defiziten im deutschen
über Fragen. Zu diesen Fragen sagen Sie allerdings Anerkennungswesen. Nur: Das wurde schon auf dem
nichts in Ihrem Antrag. Bildungsgipfel 2008 gemeinsam festgestellt; das ist in-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: zwischen zwei Jahre her. Wir sind in Worten weiterge-
Welche Antwort hat denn die Linke darauf? – kommen, aber leider nicht in Taten.
Heiner Kamp [FDP]: Den müssen Sie mal le- Die grüne Fraktion hat schon Anfang der Legislatur-
sen, Frau Alpers!) periode einen Antrag mit konkreten Vorschlägen einge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6917
Krista Sager
(A) bracht, die SPD und die Linke ebenfalls. Das alles liegt formal abgleicht, dass man sich im Wesentlichen auf den (C)
vor. Die Bundesregierung hat vor über einem Jahr Eck- Vergleich von Ausbildungswegen und ihrer Gleichartig-
punkte vorgelegt, mit denen sie im Wesentlichen – da hat keit konzentriert. Darum kann es aber nicht gehen, son-
der Kollege Swen Schulz vollkommen recht – die Vor- dern es geht um die Betrachtung des individuellen Kom-
schläge und Ankündigungen der Vorgängerregierung petenzprofils.
wiederholt hat.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Was ist seitdem passiert? Im Grunde nichts! Ange-
kündigt war eine gesetzliche Regelung zum Jahreswech- Bei einem anderen Ansatz werden wir die Integration in
sel 2010/2011. Ich habe erhebliche Bedenken, dass die den Arbeitsmarkt nicht schaffen. Die Integration in den
Bundesregierung eine solche Regelung zustande bringt. deutschen Arbeitsmarkt muss wirklich im Vordergrund
stehen. Wenn das durch den Gesetzentwurf der Bundes-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) regierung nicht geschieht, dann werden wir weiter
Bildungsressourcen vergeuden und vielen Menschen in
Ich glaube, ich bin hier nicht die Einzige, die diese Be- diesem Land mit guten Voraussetzungen nicht gerecht
denken hat. Erst hieß es, der Gesetzentwurf solle im werden können.
Sommer kommen; dann hieß es, Ende der Sommer-
pause. Jetzt heißt es, Mitte Oktober werde ein Referen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
tenentwurf vorgelegt. Ein Referentenentwurf ist aller- und bei der SPD)
dings noch kein Gesetzentwurf im Parlament.
Ich habe den Eindruck, dass auch Ihnen jetzt langsam Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
mulmig wird. Welchen Sinn hat denn sonst Ihr Antrag? Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Er enthält keinen einzigen neuen Gedanken, Herr Ewa Klamt für die CDU/CSU-Fraktion.
Weinberg; inhaltlich kommen wir mit ihm keinen Schritt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
weiter. Wenn dieser Antrag nicht nur ein Pausenfüller neten der FDP)
sein soll, weil von der Regierung nichts kommt, dann hat
er offensichtlich den Zweck, Druck auf die Regierung Ewa Klamt (CDU/CSU):
auszuüben. Herr Kamp, es ist schon etwas merkwürdig,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
dass Sie meinen, es sei nötig, die Regierung aufzufor-
Die Herausforderungen, vor denen wir in unserem Land
dern, etwas zu tun, obwohl sie selber sagt, sie arbeite da-
stehen, sind allgemein bekannt, und sie sind hier auch
ran ganz intensiv.
benannt worden. Der sich abzeichnende Wandel in der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN demografischen Entwicklung führt zunehmend zu einem
(B) sowie bei Abgeordneten der SPD – Priska Fachkräftemangel. Das Statistische Bundesamt sagt uns, (D)
Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass das Arbeitskräftepotenzial in Deutschland bis zum
NEN]: So sind sie! Sie können es einfach Jahr 2030 wegen des Geburtenrückgangs um über
nicht!) 6 Millionen zurückgeht.
Es geht offensichtlich darum, dass auch Sie meinen, man Schon heute fehlen 36 000 Ingenieure und 43 000 IT-
müsse die Regierung jetzt einmal ein bisschen unter Fachkräfte, also Computerfachleute. Gleichzeitig wissen
Druck setzen und ihr auf die Sprünge helfen. wir, dass allein rund 300 000 zugewanderte Akademike-
rinnen und Akademiker ihr Wissen und ihre Kompetenz
Herr Braun, dieses Vorhaben ist in unserem föderalen in unserem Land einbringen wollen; aber ihre ausländi-
System nicht gerade ein leichtes Vorhaben. Das weiß schen Hochschulabschlüsse werden in Deutschland nicht
auch hier inzwischen jeder. oder nur mit großer Verzögerung anerkannt. Deshalb
(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: So müssen wir trotz der Komplexität der Aufgabe alles tun,
ist das!) damit wir zügig gemeinsam mit den Ländern bundesweit
nachvollziehbare und verbindliche Bewertungskriterien
Aber was ich bedauerlich finde, ist, dass in Ihrem Antrag schaffen. Das gilt für Akademiker und auch für alle an-
überhaupt keine Hinweise zu finden sind, wie Sie die deren Berufsgruppen.
kniffligen Fragen, die wir auch in einem Fachgespräch
im Ausschuss behandelt haben, eigentlich beantwortet (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
haben möchten. Wie schaffen wir es, dass eine Bewer- Wie komplex das in Deutschland ist, zeigt sich – auch
tung bundesweit Anerkennung findet? Oder wie schaf- Frau Sager hat es schon angesprochen – allein darin,
fen wir es, dass es nicht nur einen Rechtsanspruch gibt, dass die Gesetzgebungszuständigkeit je nach Beruf beim
sondern auch Beratung, Information, Bewertung und Bund oder bei den Ländern liegt, dass hingegen die An-
Qualifizierungsanschlussangebote? Ohne all das werden erkennungsverfahren immer von Länderstellen, also Be-
wir nämlich weiter ganz viele Potenziale verlieren. Vie- hörden, Kammern oder beauftragten Stellen, durchge-
len ist nicht nur mit einem Rechtsanspruch auf ein Ver- führt werden.
fahren geholfen; vielmehr brauchen sie eben auch Quali-
fizierungsangebote. Wenn Sie, Herr Kollege Schulz, so unendlich traurig
sind, dass die christlich-liberale Koalition es innerhalb
In einer Hinsicht bin ich gegenüber dem, was Sie wol- eines Jahres noch nicht geschafft hat, die Probleme, die
len, sehr skeptisch: Auch Sie halten nach wie vor an dem ich eben benannt habe, zu lösen, dann muss man hier im-
Gedanken fest, dass man im Wesentlichen Dokumente mer wieder darauf hinweisen, dass Sie elf Jahre mit in
6918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Ewa Klamt
(A) der Regierungsverantwortung waren. Sieben Jahre ha- Deshalb können wir heute mit Fug und Recht sagen, (C)
ben Sie ohne die böse CDU regiert, die an allem schuld dass nicht nur wichtige Vorarbeiten für eine zukünftige
ist. Wenn Sie das alles so beklagen, wie Sie es hier getan Zuwanderung geleistet wurden, sondern gleichzeitig
haben, Kriterien geschaffen wurden, die es der Bundesregierung
ermöglichen, zügig das umzusetzen, was wir in unserem
(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Krokodils- Antrag „Ausländische Bildungsleistungen anerkennen –
tränen sind das!) Fachkräftepotentiale ausschöpfen“ fordern. Die Punkte
sind alle bereits von meinen Vorrednern genannt wor-
frage ich mich schon, warum Sie sieben Jahre gar nichts
den; darum erspare ich mir, sie noch einmal aufzuzählen.
auf den Weg gebracht haben. Wir packen es an, Herr
Ich möchte aber festhalten, dass wir mit der Umsetzung
Schulz!
dieser Forderungen sowohl dafür sorgen, dass die Poten-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ziale der zum Teil gut qualifizierten Migrantinnen und
Migranten in unserem Land gewürdigt werden, als auch
Wie viele Abstimmungsprozesse und wie viel Zeit es dafür, dass den Migrantinnen und Migranten in Zukunft
erfordert, wenn unterschiedliche Stellen bzw. verschie- die Möglichkeit gegeben wird, sich hier mit ihrem Kön-
dene Ebenen sich einigen müssen, zeigen uns die Erfah- nen und ihren Fähigkeiten einzubringen.
rungen mit diesem Thema in der Europäischen Union.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es hat Jahre gedauert, sich auf europäischer Ebene über
die Anerkennung von Berufsqualifikationen zu einigen, Denn fest steht: Die Eingliederung in den Arbeitsmarkt
und dabei ging es ausschließlich um die Anerkennung von ist immer noch der beste und effektivste Weg der Inte-
Berufsqualifikationen, die in den inzwischen 27 Mitglied- gration, und sie stellt gleichzeitig auch die gesellschaftli-
staaten erworben werden. Das lag weder am Unwillen che Anerkennung dar, die sich jeder von uns wünscht.
noch am Phlegma der beteiligten Fraktionen oder der
Mitgliedstaaten; vielmehr lag es an den früher sehr Vielen Dank.
schwer vergleichbaren Studien- und Ausbildungsgän- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gen. Der Durchbruch im Jahr 2005, von dem wir bereits
jetzt alle zehren, gelang im Wesentlichen, weil es inzwi- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
schen zu einer weitgehenden Harmonisierung der Aus- Ich schließe die Aussprache.
bildungen in der Europäischen Union gekommen ist. Es
sollte allen Bildungspolitikern klar sein, dass es noch Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
weitaus schwieriger ist, weltweit erworbene Abschlüsse den Drucksachen 17/3048 und 17/3198 an die in der Ta-
mit unseren nationalen Qualitätsstandards zu verglei- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
(B) chen und Anerkennungskriterien zu schaffen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann (D)
sind die Überweisungen so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
Denn diese Kriterien müssen – auch das gehört zur Lö- auf:
sung dieser Aufgabe – das Qualitätsniveau deutscher Ab-
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
schlüsse erfüllen; denn mit Recht weisen Gewerkschaf-
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Rosemarie Hein,
ten und Arbeitnehmer darauf hin, dass sonst unsere
Kathrin Senger-Schäfer, weiterer Abgeordneter
hohen Standards unterlaufen werden.
und der Fraktion DIE LINKE
(Beifall bei der CDU/CSU) Sicherung und Bewahrung der Wandbilder
von Prof. Ronald Paris und Prof. Walter
Im Bereich der Hochqualifizierten hat die Europäi-
Womacka in Berlin
sche Union unter wesentlicher Beteiligung Deutschlands
in den letzten beiden Jahren entscheidend zu einer Lö- – Drucksache 17/2020 –
sung beigetragen. Die Einigung auf europäischer Ebene Überweisungsvorschlag:
hat zu einem Ergebnis geführt, auf das wir jetzt zurück- Ausschuss für Kultur und Medien (f)
greifen können: Mit der Entscheidung für eine europäi- Finanzausschuss
sche Bluecard sind einvernehmlich Kriterien für Hoch- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
qualifizierte festgelegt worden. Diese Richtlinie befindet b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
sich derzeit in der Phase der Umsetzung in deutsches Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Dietmar
Recht. Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Entsprechend der Bluecard gilt als hochqualifiziert,
wer einen Hochschulabschluss nach mindestens dreijäh- Konzept für die Bewahrung kulturhistorisch
rigem Hochschulstudium an einer staatlichen oder staat- bedeutsamer Kunst am Bau der jüngeren Zeit
lich anerkannten Hochschule in dem betreffenden Staat entwickeln
erworben hat. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, mit – Drucksache 17/3186 –
dem Nachweis einer mindestens fünfjährigen einschlägi-
Überweisungsvorschlag:
gen Berufserfahrung, deren Niveau mit einem Hoch- Ausschuss für Kultur und Medien (f)
schulabschluss vergleichbar ist, als Hochqualifizierter Finanzausschuss
anerkannt zu werden. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6919
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine met oder privatisiert werden, und das im 20. Jahr der (C)
halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. – Ich sehe, deutschen Einheit.
damit sind Sie einverstanden.
Wo sind eigentlich die großen Bilder von Tübke,
Dann eröffne ich die Aussprache. Als erste Rednerin Heisig, Mattheuer, Sitte und auch Womacka, die im Pa-
hat das Wort die Kollegin Lukrezia Jochimsen für die last der Republik hingen? Eingelagert, irgendwo, heißt
Fraktion Die Linke. es. Sie sind unsichtbar geworden, nirgends und für nie-
manden zu sehen. Darf man das Abwertung der DDR-
(Beifall bei der LINKEN) Kunst nennen oder nicht?

Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein!)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Übersicht über das Verlorene gibt es im Westen
Jeden Tag verlieren wir Kunstwerke von hohem Rang, wie im Osten bisher genauso wenig wie über die derzeit
Zeugnisse der jüngeren Kunstgeschichte durch Abriss, gefährdeten Werke. Was fehlt, ist eine flächendeckende,
durch Neubauten und durch Privatisierungen öffentli- interdisziplinär vernetzte Recherche. Für die zu erstel-
cher Gebäude. Das ist ein generelles, bundesweites Pro- lende Bestandsübersicht der nach 1945 geschaffenen
blem, betrifft in den neuen Bundesländern und in Berlin baubezogenen Kunstwerke müssten Kriterien zur Syste-
aber insbesondere das künstlerische Erbe der DDR. matisierung des Bestandes und seiner Bewertung unter
Aktuelles Beispiel für den Umgang mit diesem Erbe historischen, sozialen wie künstlerisch-ästhetischen Ge-
sind die Preisgabe des Wandgemäldes Lob des Kommu- sichtspunkten entwickelt werden.
nismus von Ronald Paris im ehemaligen Zentralamt für Art. 35 des Einigungsvertrages verpflichtet die Bun-
Statistik der DDR und des Emaillewandbildes Der desrepublik Deutschland, dafür Sorge zu tragen, dass die
Mensch, das Maß aller Dinge am ehemaligen Bauminis- kulturelle Substanz im Ostteil Berlins und in den neuen
terium der DDR von Walter Womacka aus der öffentli- Bundesländern keinen Schaden nimmt. Die Kunstwerke
chen Hand. von Womacka und Paris befanden sich im Ostteil Ber-
Welch trauriges Zusammentreffen: Walter Womacka lins. Die gesamtdeutsche Bewahrung und Sicherung von
ist heute in Berlin beerdigt worden, ganz in der Nähe baugebundener Kunst ist Teil politischer und kultureller
von Käthe Kollwitz. Wie und wo sein Kunstwerk in Ber- Bildung und wichtig für die nächsten Generationen.
lin wieder einen Platz finden wird, trieb ihn um, bis zu- (Beifall bei der LINKEN)
letzt.
Ganz besondere Verantwortung hat der Bund in jenen
(B) Das ehemalige Bauministerium und das ehemalige Fällen, in denen die Kunstwerke Bestandteil seines Im- (D)
Zentralamt befinden sich im Besitz des Bundes und wur- mobilienbesitzes sind. Dieser Verantwortung muss der
den für viel Geld veräußert. Die bundeseigenen Kunst- Bund auch durch die Übernahme der Kosten für die
werke wurden im Internet feilgeboten. Die Kosten für Pflege und Sicherung der Kunstwerke gerecht werden.
die Abnahme mussten die Käufer tragen. Wieso der Geschichtsbewusstsein ist eine Aufgabe und Kulturbe-
Bund die Käufer seiner Immobilien nicht verpflichtete, wusstsein dazu.
die Kunstwerke angemessen in die Neubauten zu inte-
grieren, ist nicht zu verstehen und nicht zu billigen. Deshalb stellen wir unsere beiden Anträge, den be-
deutenden Schatz der Bau-Kunst in Bundesbesitz zu si-
(Beifall bei der LINKEN – Christoph Poland chern und zu katalogisieren. Ich bitte um Ihre Zustim-
[CDU/CSU]: Ich verstehe das!) mung.
Aufgrund unserer Initiativen wurde versucht, Bundes- Danke schön.
und Landeseinrichtungen zur Übernahme zu bewegen –
vergeblich. Es gelang nicht, diese Werke für die öffentli- (Beifall bei der LINKEN)
che Hand zu sichern. Sie wurden durch private Initiative
– wohlgemerkt: private Initiative – jetzt gerettet und so
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
nicht zerstört. Ich finde es großartig, dass übermorgen
das Bild von Ronald Paris im DDR-Museum in Berlin Nächste Rednerin ist die Kollegin Professor Monika
zu sehen sein wird. Aber für die Zukunft ist ein Bild im Grütters für die CDU/CSU-Fraktion.
Privatbesitz nie gesichert. Der Eigentümer kann es aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
stellen oder nicht, kann es verkaufen oder nicht.
Von einem bewussten und verantwortungsvollen Um- Monika Grütters (CDU/CSU):
gang mit öffentlichem Kunstbesitz und mit dem künstle- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren
rischen Erbe der DDR kann in diesen Fällen jedenfalls Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Jochimsen, Sie
keine Rede sein. haben uns ja den Weg der Wandbilder von Ronald Paris
(Beifall bei der LINKEN) und Walter Womacka dargelegt. Ich bin zumindest froh,
dass für beide jetzt erst einmal eine Bleibe gefunden ist.
Die Bundesregierung hat bislang kein Konzept für den Das Bild von Womacka soll in einem neuen Gebäude der
Umgang mit öffentlichem Kunstbesitz, der sich in Ge- entsprechenden Wohnungsbaugesellschaft – er war lange
bäuden befindet, die ihren Zweck verlieren, umgewid- Mieter dort – unterkommen.
6920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Monika Grütters
(A) Ich gebe Ihnen aber in einem Punkt recht: Wir müssen (Christoph Poland [CDU/CSU]: Richtig! Ja- (C)
– das zeigen diese zwei Beispiele – grundsätzlich, also wohl!)
gerade unabhängig von diesen beiden Fällen, Antworten
finden auf die Frage nach dem Umgang mit der Kunst Das ist also ein nicht handhabbarer Vorschlag.
am Bau, wenn es ebendiesen Bau einmal nicht mehr Ich will aber nicht leugnen, dass hier das Dilemma
gibt. Interessanterweise sind dafür bislang in den ein- deutlich wird, dass es für derartige Fälle keine einschlä-
schlägigen Richtlinien kaum Hinweise zu finden. Ich gigen Richtlinien gibt, weil die öffentliche Hand offen-
habe jetzt auch noch einmal mit dem Kunstbeauftragten sichtlich bisher davon ausgegangen ist, dass es solche
des Bundestages, Herrn Kaernbach, sehr intensiv danach Fälle selten oder gar nicht geben würde. Dabei gibt es
recherchiert. Ich finde nur – insofern greift Ihr Antrag die institutionalisierte Kunst am Bau bereits seit der
auch zu kurz –, dass das beileibe nicht nur die DDR- Weimarer Republik.
Kunst betrifft.
Auch damals lag der Anteil an der Bausumme bei 1, 2
Aber noch einmal zu den konkreten Fällen, weil Sie ja oder 2,5 Prozent. 1993 sollte die Maßnahme ganz abge-
auch den Vorwurf erhoben haben, der Bund habe sich schafft werden. Das haben wir verhindert.
nicht anständig oder korrekt oder verantwortungsbe-
wusst genug verhalten: Sie haben recht, bei beiden Ich muss einmal sagen: Der Bundestag benimmt sich,
Wandgemälden handelt es sich um Zeugnisse der Kunst- was das angeht, vorbildlich. Im Reichstagsgebäude wur-
geschichte, sowohl das Wandgemälde Der Mensch, das den 3 Prozent der Bausumme für Kunst am Bau ausge-
Maß aller Dinge von Womacka als auch das Wandge- geben; bei den anderen Parlamentsbauten waren es
mälde Lob des Kommunismus von Ronald Paris. Da- 2 Prozent. Wir müssen uns nicht verstecken.
rüber muss man sich jetzt hier nicht in der Sache streiten. Ähnliche Vorgänge wie den eben beschriebenen hat
Beide Künstler sind über die Grenzen der DDR hinaus es hier aber auch schon gegeben, beispielsweise im Zu-
bekannt und auch anerkannt. Beide Künstler haben die sammenhang mit dem Sgraffito von Carl-Heinz
bildende Kunst der DDR durchaus wesentlich mitge- Kliemann an der Wand des Reichstagsgebäudes, das
prägt. Beide Kunstwerke befinden sich an bzw. in Ge- dem Umbau durch Foster weichen musste. Da hat der
bäuden, die jetzt abgerissen werden sollen und von de- Urheberrechtsgrundsatz gegolten: Zerstören darf man,
nen eines in der Tat dem Bund gehört, und in beiden wenn das Gebäude – es war an einer Wand, die abgeris-
Fällen waren zum Erhalt der Wandgemälde deren Aus- sen wurde – nicht mehr da ist. Aber man darf es nicht
bau und Verbringung an einen neuen Standort erforder- verändern, wenn die Architektur als Bezugsrahmen ver-
lich. schwunden ist. Allerdings gilt hier – wie überall – auch
der Grundsatz: Rückgabe vor Zerstörung. Das Urheber-
Bevor der Bund diese Kunstwerke dann im Internet
(B) recht sieht zu Recht vor, von der Dauer des Kunstwerkes (D)
angeboten hat, hat er alle einschlägigen Museen gefragt.
auszugehen, aber nicht von der Dauer des Gebäudes.
Involviert war übrigens eine Kommission, die sehr hoch-
rangig besetzt war – das wissen Sie auch –: Es waren die Ich finde, in solch einem Fall kann das Kunstwerk,
Förderkommission Bildende Kunst, die Stiftung Stadt- selbst wenn es abgenommen wird und in einem anderen
museum, die Berlinische Galerie, die Senatskanzlei Ber- Kontext, vielleicht irgendwann in einer Ausstellung, und
lin und das Deutsche Historische Museum an diesem sei es nur zeitweise, wieder auftaucht, Erzähler einer Ge-
Prozess beteiligt. Das zeigt, dass der Bund nicht verant- schichte sein, zum Beispiel einer Geschichte des Verlus-
wortungslos, wie Sie sagen, damit umgegangen ist, son- tes. So geschah es mit der Arbeit Kosmos 70 von
dern es handelte sich um ein, wie ich finde, durchaus Bernhard Heiliger, die im Westeingang des Reichstags-
sehr verantwortungsbewusstes Verfahren. gebäudes hing. Künftig wird sie im neuen Eingang des
Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses hängen. Daran sieht
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man, dass es sich lohnt, immer in eine Einzelfallprüfung
Wir zumindest können den Museen keinen Vorwurf einzutreten.
daraus machen, dass sie dafür keine Verwendung haben, Sie heben zuallererst auf die Kunst aus der DDR-Zeit
weil die Restaurierung und Einlagerung natürlich auch ab. Dazu muss ich sagen: Ja, hier besteht eine besondere
kostenaufwendig ist. So wie man das den Museen nicht Notwendigkeit, weil auf dem Gebiet der ehemaligen
vorwerfen kann, darf die Politik die Museen auch nicht DDR mehr neu gebaut und damit mehr abgerissen wird.
dazu zwingen. Aber es ist natürlich nicht nur ein Problem dieses Seg-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: ments. Deshalb finde ich, dass wir uns an die Grundsätze
Genau richtig! – Christoph Poland [CDU/ halten sollten, die die Vereinigung der Landesdenkmal-
CSU]: So ist das!) pfleger in der Bundesrepublik Deutschland niederge-
schrieben hat. Dort heißt es:
Ganz abgesehen davon, dass es dafür auch keine ent-
sprechende Handhabe gibt. Inventarisation ist in allen Bundesländern
– es ist wohlgemerkt vor allen Dingen Sache der Bun-
Ihr Vorschlag, Frau Jochimsen, dass die Kunstwerke desländer –
dann eben am neuen Gebäude angebracht werden müss-
ten, würde, wie ich finde, einer Vergewaltigung der Ar- gesetzlicher Auftrag der staatlichen Denkmal-
chitekten, die das neue Gebäude planen, gleichkommen. pflege. … Inventarisation ist Grundlage jeden
Das darf man denen nicht aufzwingen. denkmalpflegerischen Handelns. … Denkmäler
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6921
Monika Grütters
(A) (bewegliche und unbewegliche) sind alle Objekte, nicht ins Nostalgische schieben. Schließlich haben sich (C)
die im eigentlichen Sinn des Begriffs einer Erinne- allzu viele Künstler vor ästhetischer Doktrin, auch vor
rung wert sind und deren Erhaltung und Pflege im der des sozialistischen Realismus, in die Abstraktion,
öffentlichen Interesse liegen. … Es werden also im manche in die innere Immigration geflüchtet. Viele durf-
weitesten Sinn materielle Zeugnisse menschlichen ten nicht weiterarbeiten. Ich finde, das gehört auf jeden
Lebens erfasst, die nicht notwendig Fall auch in diesen Kontext. Das spricht gegen eine
simple Verschiebung vom Gestern ins Heute.
– das muss man übrigens den Kollegen auch einmal sa-
gen – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ästhetische Qualität haben müssen. Auch mit nega- Die Denkmalpflege hat genau zu diesem Zweck einen
tiven Erinnerungen besetzte Objekte, wie solche Kriterienkatalog entwickelt, der im Wesentlichen zwi-
der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutsch- schen einem ästhetischen und einem historischen Wert
lands, gehören in die Reihe der zu bewahrenden differenziert. Das Sammeln ist mit Kosten verbunden.
Überlieferungen. Ausschlaggebend ist ihre in der Schließlich geht es nicht nur um eine einmalige Aktion,
Geschichte verankerte Bedeutung. Die Denkmalei- sondern um Restaurierung, Aufbewahrung und wissen-
genschaft ist damit nicht von einem festgelegten schaftliche Bearbeitung. Diese Einordnung des Wertes
Mindestalter des Objekts abhängig. und der materiellen wie immateriellen Bewertung, finde
ich, sollten wir den Fachleuten überlassen. Einen gene-
So schreibt es die Vereinigung der Landesdenkmalpfle-
rellen Rahmen – auch das muss ich feststellen – müssen
ger.
wir in der Politik aber einmal beschreiben.
Es ist also meines Erachtens nicht nur aus wissen-
Frau Kollegin, über die zwei genannten Einzelwerke
schaftlicher Sicht sinnvoll, Kunst am Bau aus 40 Jahren
– dazu haben Sie Ihren ersten Antrag eingebracht – soll-
DDR zu dokumentieren und – das ist vom Denkmal-
ten und brauchen wir nicht mehr abzustimmen, auch
schutz im großen Stil gemacht worden – zu katalogisie-
wenn es privaten Initiativen zu verdanken ist, dass die
ren. Es gibt einschlägige Veröffentlichungen und Publi-
beiden Arbeiten eine Bleibe gefunden haben. Sie haben
kationen wie das Handbuch der Deutschen
auf ein generelles Desiderat hingewiesen: dass es kaum
Kunstdenkmäler und das Buch Die Bau- und Kunstdenk-
Richtlinien für den Verbleib auch öffentlich geförderter
male in der DDR.
Kunst am Bau gibt. Die Beispiele zeigen: Das kann so
Sie haben zu Recht Art. 35 des Einigungsvertrages zi- nicht bleiben, selbst wenn bisher dabei vor allem Urhe-
tiert. Ich finde, das gehört durchaus hierhin. Daraus kann berrechtsrichtlinien oder der Denkmalschutz im Einzel-
man aber meines Erachtens nicht – wie Sie es machen – fall erfolgreich angewendet wurden.
(B) eine generelle Verantwortung des Bundes oder gar eine (D)
Eine Verpflichtung zum Handeln liegt aber ganz si-
Zuständigkeit des Bundes ableiten. Sie haben die Fälle,
cher nicht nur beim Bund, und die Problematik gilt si-
in denen der Bund die Zuständigkeit haben soll, auf jene
cher nicht nur für die Kunst der ehemaligen DDR. Des-
Fälle beschränkt, in denen der Bund Gebäudeeigentümer
halb finde ich, dass Ihr zweiter Antrag zu kurz greift.
ist. Ich meine, hier muss man die Länder, die sonst über-
Wenn wir das genereller beschreiben, füllen die von Ih-
all ihre föderalistische Hoheit bei diesen Themen vertei-
nen beklagten Tatbestände auf jeden Fall einen größeren
digen, heranziehen. Das wiederum bedeutet Freiheit,
Rahmen. Im Geiste des Einigungsvertrages – jetzt ist die
aber auch Verantwortung.
richtige Stunde, um darauf hinzuweisen – gilt für uns
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und alle:
der FDP)
In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur
Der Bund hat in den letzten 20 Jahren weit über die – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden
Grenzen der Zuständigkeit im Föderalismus hinaus viel Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbe-
für die Aufarbeitung und Bewahrung der Denkmäler in stehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten
der ehemaligen DDR getan: restaurierte Altstädte, Mu- im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen
seen, Bibliotheken, Theater und Opernhäuser. Es wäre auf dem Weg zur europäischen Einigung einen ei-
also falsch, hier den Bund anzuprangern. genständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung
und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht
Generell, Frau Jochimsen, gilt außerdem: Wenn wir und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso
die Kunst der DDR musealisieren, ist das eine komplexe von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab.
Aufgabe, an der nicht nur die Länder zu beteiligen sind.
Es muss aber um mehr gehen als nur um die Erfassung. In diesem Sinne: Vielen Dank für Ihre Aufmerksam-
Sie kann nur mit dem Ziel durchgeführt werden, geeig- keit.
nete Vermittlungskonzepte zu entwickeln. Heute gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
das DDR-System zum Glück nicht mehr. Umso mehr
müssen wir darauf aufpassen, dass wir Auftragskunst Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
– die offiziellen Kunstwerke – angemessen interpretie-
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Wolfgang Thierse
ren und sie in der Retrospektive nicht verharmlosen oder
für die SPD-Fraktion.
verniedlichen. Deshalb finde ich, dass sie heute nicht in
den Kontext anderer Bauten gehören. Man sollte das (Beifall bei der SPD)
6922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): ästhetische Qualität andererseits streiten und dann ent- (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe scheiden.
Kollegin Jochimsen, ich fürchte, ich werde zu Ihren An-
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aber das
trägen etwas kritischer sein müssen als die Kollegin
Schloss muss wieder aufgebaut werden!)
Grütters. Das liegt vermutlich daran, dass ich die DDR-
Kunst wirklich erlebt und erlitten habe und mich deswe- Es geht um Kunst am Bau, und nicht um die allge-
gen an vieles erinnere. meine bildende Kunst. Kunst am Bau ist immer Auf-
tragskunst, zumal in der DDR. Sie ist also in besonderer
Ihr erster Antrag, der Antrag zu den Wandbildern von
Weise historischer Vergänglichkeit unterworfen. Das ist
Ronald Paris und Walter Womacka, ist, wie schon ge-
ihr Schicksal. Es kann durchaus passieren, dass die Zeit
sagt, in bestimmter Weise bereits erledigt; über den Auftraggeber und auch über die von ihm beauf-
(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: tragte Kunst hinweggeht. Wir haben heute den 7. Okto-
Richtig!) ber. In der ehemaligen DDR wurde an diesem Tag der
Tag der Republik begangen.
denn das Lob des Kommunismus von Ronald Paris
wurde vom privaten DDR-Museum übernommen. Das (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]:
ist ein nicht zu beanstandender Vorgang; dieses Bild Richtig!)
wird öffentlich zugänglich bleiben.
Dieser Staat ist verloren gegangen. Wir können nicht
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Genau!) all seine Hinterlassenschaften erhalten. Wir müssen im-
mer wieder neu entscheiden, was wir erhalten wollen.
Wenn Ihre Leidenschaft, zum Beispiel für dieses Bild,
wirklich so groß gewesen wäre, wie Frau Kollegin Kunst am Bau ist immer zweckgebunden und auf den
Enkelmann das hat verlauten lassen – man solle es in jeweiligen Raum bezogen. Wenn dieser Raum bzw. das
den Bundestag übernehmen –, dann frage ich mich: Wa- Gebäude aus Gründen, die nicht immer des Teufels sind,
rum haben Sie es nicht in Ihren Fraktionssaal übernom- wegfällt, dann ist das Schicksal baugebundener Kunst
men? ein anderes als das von Gemälden, die im eigenen, im
künstlerischen Auftrag produziert wurden. Das ist nicht
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Gute nur das Schicksal von baugebundener Kunst in der ehe-
Frage!) maligen DDR. Das gilt generell und ist daher nichts Be-
Wir hätten Sie daran nicht hindern können oder wollen. sonderes.
Das ist ein Beleg von Übereinstimmung von Wort und (Monika Grütters [CDU/CSU]: Genau!)
Tat.
(B) Es kommt hinzu, dass in der DDR im Hinblick auf die (D)
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der baugebundene Kunst ein ganz praktisches Problem ent-
FDP) standen ist: Sie war etwas groß dimensioniert. Das Wo-
Das Wandbild Der Mensch, das Maß aller Dinge, das macka-Werk misst 15 mal 6 Meter. Es wiegt 1,2 Tonnen
ich – wenn Sie mir ein persönliches Geschmacksurteil und besteht aus 360 emaillierten Kupferplatten. Ich er-
erlauben – für nicht ganz so gewaltig halte – es ist groß, wähne das nur, um klarzustellen, dass ich etwas gegen
aber künstlerisch vielleicht nicht ganz so gewaltig –, ist falsche Verallgemeinerungen habe. Es geht hier um ganz
von der Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mit er- konkrete Probleme und ihre Lösungen. Folgende ironi-
sche Bemerkung kann ich mir deshalb nicht verkneifen:
heblichen Kosten abgenommen, gelagert und damit zu-
Wie wäre es denn, wenn Sie das große Kunstwerk, das
nächst einmal erhalten worden. Insofern hätten Sie den
Sie so schätzen, an Ihrer Parteizentrale, dem Karl-
Antrag zurückziehen können, aber Sie haben noch ein- Liebknecht-Haus, anbringen würden? Dann wäre es er-
mal nachgelegt und das Problem sozusagen verallgemei- halten und öffentlich sichtbar.
nert. Sie fordern ein umfassendes Konzept zur Sicherung
der nach 1945 geschaffenen baugebundenen Kunstwerke (Monika Grütters [CDU/CSU]: Die Idee hat-
im öffentlichen Dienst, aber es geht Ihnen dabei vor al- ten wir auch! – Wolfgang Börnsen [Bönstrup]
lem um das künstlerische Erbe bezogen auf die baubezo- [CDU/CSU]: Nicht nur die Lippen spitzen!
gene Kunst der DDR. Das verstehe ich. Ja, auch mit die- Auch pfeifen! – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]:
sem Erbe sollte man behutsam und auch differenziert Weil es nicht dranpasst!)
umgehen. Aber – wie soll ich das nennen? – sollen wir
Hegel folgen: Nur weil einmal etwas gewesen ist, war es – Eben. Sie geben mir genau die richtige Antwort. Das
auch vernünftig? Gebäude, für das es einmal geschaffen worden ist, ist
nicht mehr da. Deswegen entsteht das praktische Pro-
Bedeutet das, dass alles, was einmal gebaut oder ge- blem: Was machen wir nun damit? Wir können nieman-
schaffen wurde, dauerhaft erhalten bleiben muss? Ich zö- den auf Dauer verpflichten, es zu erhalten, nur weil es
gere, diesem Grundsatz zu folgen. Nein, nicht jedes einmal da war.
Kunstwerk muss unter Denkmalschutz gestellt werden.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) FDP)
Wir müssen immer wieder neu und am konkreten Objekt Ich sage es noch einmal: Nicht alles kann und muss
über die Denkmalwürdigkeit, also den historischen Do- aufgehoben und aufbewahrt werden. Es darf aber auch
kumentationscharakter, einerseits und die künstlerische, nicht alles beseitigt, abgerissen oder versteckt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6923
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das entschei- Aber da gibt es einen Unterschied zu Ihnen. Sie wollen (C)
den Sie jetzt!) alles erhalten, während ich sage: Schauen wir genau hin;
streiten wir darüber, was erhaltenswert ist, wer dafür zu-
Das gilt selbstverständlich sowohl für Kunst aus der
ständig ist und wie das verantwortet werden kann. Ich
DDR als auch für Kunst aus der alten Bundesrepublik.
habe etwas gegen ästhetischen Zentralismus.
(Zuruf von der CDU/CSU: Die kaufen es sich
doch aus dem Parteivermögen!) Art. 35 des Einigungsvertrages – an den halten wir
uns – spricht von der Erhaltung kultureller Substanz. Da
Wir müssen uns der Mühe unterziehen, immer wieder ist in den vergangenen 20 Jahren sehr viel geschehen.
neu zu einer fairen und differenzierten Bewertung von Auf diesem Gebiet muss zwar weiterhin allerhand ge-
Kunst – auch aus der DDR – zu kommen. schehen, aber wir müssen auch immer wieder neu da-
(Zuruf von der LINKEN: Genau das tun Sie rüber diskutieren, was des Erinnerns wert ist. Ich glaube
gerade nicht!) nicht, dass das durch eine von der Bundesregierung ein-
gesetzte Kommission definiert werden kann. Das ist ein
Das kann allerdings nicht von oben diktiert und ge- offener Prozess des demokratischen Streits miteinander.
wissermaßen per Dekret durch die Bundesregierung Da gehört es hin.
durchgesetzt werden. Das ist unweigerlich – wie immer
bei der Kunst – Aufgabe und Gegenstand der öffentli- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP
chen Debatte und des Streits. Dann muss man sich zu ei- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nigen versuchen. Wir Bundespolitiker können nicht ein-
fach so allgemeine ästhetische Maßstäbe festlegen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Monika Grütters [CDU/CSU]: Das finde ich auch! Das Wort erhält nun der Kollege Reiner Deutschmann
Das sollten wir Fachleuten überlassen!) für die FDP-Fraktion.
In dieser Hinsicht bin ich ein gebranntes Kind der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
DDR. Damals hat das Politbüro der DDR solche Dinge
festgelegt. Alle naselang wurde ein zentraler For-
schungs- und Publikationsplan der Gesellschaftswissen- Reiner Deutschmann (FDP):
schaften verabschiedet, und zwar nicht von den Wissen- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
schaftlern, sondern vom Politbüro. Ich habe vor solchen Kolleginnen und Kollegen! Die uns heute vorliegenden
Dingen Angst und wünsche mir sehr – das ist mein An- Anträge der Fraktion Die Linke greifen ein Thema auf,
liegen –, dass im Angesicht des einzelnen Kunstwerkes, das sicherlich Emotionen hervorruft. Beim Thema Kunst
vor Ort debattiert und am Schluss entschieden wird. Ich liegen Zustimmung und Ablehnung, leider oftmals auch
(B) bin eher skeptisch, ob das über das hinaus, was Kollegin Desinteresse nah beieinander. Der öffentlichen wie der (D)
Grütters in Bezug auf unser Verständnis von Erbe und privaten Hand kommt in diesem Spannungsbogen die
Dokumentationscharakter gesagt hat, gelingt. Aber wir Aufgabe zu, besonders schützenswerte Kulturgüter über
können in dieser Sache miteinander streiten. Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte für die Nachwelt zu
Das wirkliche Motiv Ihres Antrags wird in der Be- bewahren. Dabei haben Kulturgüter nicht nur ästhetische
gründung deutlich. Ich zitiere: Qualitäten. Sie sind auch Objekte des historischen Ge-
dächtnisses von Kulturräumen.
Hintergrund für die anhaltende Zerstörung von
Bauwerken und baugebundener Kunst der DDR ist Walter Womacka und Ronald Paris, um die es in dem
die nach wie vor vorhandene Abwertung und Dele- einen Antrag geht, haben prägende Kunstwerke geschaf-
gitimierung der DDR und ihrer Kunst. fen. Es gibt wohl kaum jemanden, der in der DDR auf-
gewachsen ist und das Bild Womackas „Am Strand“ von
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Mann, 1962 nicht kennt. Es hing in Schulen und öffentlichen
Mann, Mann, wenn man das hört! Da wird Einrichtungen, zierte Bücher und Kalender und sogar
sich wirklich auf alles bezogen!) eine Briefmarke. Heute befindet es sich in den Staatli-
Ich höre das öfters von Ihnen. Ich kann nur daran erin- chen Kunstsammlungen Dresden. Sein Fries „Unser Le-
nern – so ist Geschichte –: Die DDR ist 1989/90 von ei- ben“ am Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexander-
ner Mehrheit ihrer Bevölkerung durch die friedliche Re- platz aus dem Jahr 1964 wurde nach der Wende
volution und die erste freie Wahl delegitimiert worden. aufwendig restauriert. Das von Ronald Paris für den ehe-
Das ist so. maligen Palast der Republik geschaffene Wandbild „Un-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP ser die Welt – trotz alledem“ aus den 70er-Jahren befin-
und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – det sich heute im Deutschen Historischen Museum.
Christoph Poland [CDU/CSU]: Gott sei Dank!) Diese Beispiele zeigen, dass die Kunstwerke beider
Künstler auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung in
Trotzdem weiß ich genau um den Unterschied zwi- unserem Land durchaus geschätzt werden.
schen dem System und der Kunst, die in der DDR ent-
standen ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie be-
rufen sich in Ihrer Partei auf ein Erbe und damit auf eine
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aha!) Tradition, die mit überlieferter Kunst und Kultur oftmals
Das ist wichtig. nicht gerade zimperlich umging.
(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aha!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
6924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Reiner Deutschmann
(A) Schließlich ließ die Staatsführung der DDR unliebsame Bevor ich exemplarisch drei Punkte aus Ihrem Antrag (C)
Kulturdenkmäler ersten Ranges vernichten, weil sie herausgreife, möchte ich darauf verweisen, dass das
nicht in die Staatsideologie passten. Bundesbauministerium bei baubezogener Kunst keinen
Unterschied zwischen Ost- und Westkunst macht.
(Beifall bei der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäu-
ser] [FDP]: Genau! Keine Kunstfreiheit!) (Christoph Poland [CDU/CSU]: Gott sei
Dank!)
So mussten architektonisch bedeutsame Schlösser und
zahlreiche Sakralbauten weichen. Die Sprengung der Ich komme zu den drei Punkten.
Potsdamer Garnisonkirche sowie der Leipziger Univer-
Erstens. Muss der Bund eine Bestandsaufnahme aller
sitätskirche, die von Martin Luther geweiht wurde, ris-
nach 1945 geschaffenen baubezogenen Kunstwerke er-
sen Lücken in die städtebauliche Identität von Potsdam
arbeiten und ein Rechercheprojekt auf den Weg bringen?
und Leipzig, die nur mit Mühe geschlossen werden
Der Einigungsvertrag, den Sie zitieren, bindet nicht nur
konnten.
den Bund, sondern auch die Länder. Der Bund kann nur
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tätig werden, wenn ihm kraft Grundgesetzes die Kompe-
der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] tenz erteilt wurde. Im vorliegenden Fall sind überwie-
[FDP]: Ein Skandal war das! – Christoph gend die Länder und Kommunen zuständig, insbeson-
Poland [CDU/CSU]: Jawohl!) dere wenn es um Denkmalschutz geht. Denkmalschutz
ist Ländersache.
Gerade Walter Ulbricht, der Förderer Womackas, hat
ohne Rücksicht auf kulturelle Belange vernichten lassen, (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja, Berlin
was über Jahrhunderte bewahrt worden ist. muss ran!)
(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Aber das eine Zweitens. Muss der Bund Kriterien zur Systematisie-
macht doch das andere nicht besser!) rung und Bewertung des Bestands entwickeln? Auch das
liegt nicht in seiner Zuständigkeit.
Gefördert wurde im Gegenzug eine Kunst und Kultur,
die den Arbeiter- und Bauernstaat hochleben ließ, aber Drittens. Muss der Bund Strategien zur Sicherung von
nicht die Wirklichkeit widerspiegelte. Dabei wurde auch Kunst am Bau entwerfen? Dazu verweise ich auf den
noch versucht, die Künstler auf Linie zu bringen. Ich Leitfaden „Kunst am Bau“, der durch das Bundesbau-
verweise nur auf den Bitterfelder Weg. ministerium herausgegeben wurde. Dieser verdeutlicht
den baukulturellen Anspruch des Bundes als Bauherrn
Ihr Antrag zur Sicherung der zwei Wandbilder ist in- und verbindet diesen mit der Notwendigkeit angemesse-
(B) zwischen überholt. Die Werke haben eine neue Nutzung ner und praktikabler Verfahren. Darin ist auch der Um- (D)
bekommen – das steht so gut wie fest – und erhalten so gang mit Kunstwerken an Gebäuden geregelt, die vom
eine Aufwertung. Erlauben Sie mir aber trotzdem zwei Abriss bedroht sind.
Bemerkungen dazu.
Im Übrigen gibt es unter Federführung des Bundesbau-
Sie schreiben in Ihrem Antrag: ministeriums die Veranstaltungsreihe „Werkstattgesprä-
che“, in deren Rahmen seit November 2007 an verschie-
Es gelang nicht, diese Werke für die öffentliche
denen Orten über den Umgang mit architekturbezogener
Hand zu sichern.
Kunst diskutiert wird. So fand in Leipzig ein Werkstatt-
Ich muss fragen: Muss denn immer die öffentliche Hand gespräch unter dem Titel „Kunst am Bau als Erbe des ge-
alles richten? teilten Deutschlands“ statt. Sie sehen, obwohl es nicht zu-
ständig ist, nimmt sich das Bundesbauministerium dieses
(Ulrike Flach [FDP]: Nein!) Themas an.
Es ist einfach, nach dem Staat zu rufen und dessen Han- Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von der
deln einzufordern. Dabei ist es gerade durch das von uns Linken, über den einen oder anderen Punkt in Ihrem An-
Liberalen immer wieder eingeforderte bürgerschaftliche trag kann man sicherlich reden. Ich will aber darauf ver-
Engagement gelungen, diese Bilder zu bewahren und zu- weisen, dass vom Bund geförderte Einrichtungen wie
künftig einer noch prominenteren Nutzung zuzuführen. das Deutsche Historische Museum schon jetzt mit der
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Sicherung von DDR-Kunst betraut sind. Die Aufbewah-
rung der Bilder des ehemaligen Palastes der Republik
Nicht nur in Zeiten knapper öffentlicher Kassen ist dies habe ich schon erwähnt.
eine Leistung, die gewürdigt werden muss. Ich wünsche
mir mehr solch privates Engagement in allen Bereichen Über Kunst kann man trefflich streiten, nicht nur über
der Kultur. ästhetische Fragen. Wo hört der Schutzauftrag des Staa-
tes auf, und wo muss man auf privates Engagement set-
Mit Ihrem zweiten Antrag verfolgen Sie einen allge- zen? Ich denke, der Bund tut das in seinen Möglichkei-
mein gehaltenen Ansatz, aber eigentlich geht es Ihnen ten Stehende zur Erhaltung und Erschließung der DDR-
um die Wahrung sozialistischer Kunst aus DDR-Zeiten. Staatskunst. Der Bund ist jedoch nicht in der Pflicht, alle
Werke zu bewahren, die von der DDR-Führung als be-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der sonders wertvoll eingestuft wurden.
CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]:
Das wollen wir nicht!) (Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Richtig!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6925
Reiner Deutschmann
(A) Allein durch die Kosten der hier geforderten Maßnah- Ich glaube, dass wir heute nicht unbedingt über den (C)
men würden wir die tagesaktuelle Kulturförderung ge- ersten Antrag der Linken reden müssen; er hat sich erüb-
fährden. Das Geld der Steuerzahler ist endlich. Liebe rigt. Wir müssen aber über den zweiten Antrag der Lin-
Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das sollten ken reden, in dem eine grundsätzliche Dokumentation
Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. verlangt wird.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Lassen Sie mich zuvor einen Schlenker machen und
über dieses Gebäude sprechen. Gerade hier im Reichstag
Es steht Ihnen aber frei, Ihre Forderung exemplarisch im gibt es einige Bau- und Kunstobjekte, die ich sehr beein-
Land Berlin umzusetzen; denn dort sind Sie schließlich druckend finde und die ich nur ungern missen würde.
Mitregierende. Jetzt sind sie aktuell. Aber wir wissen nicht, wie in
Danke schön. 20 oder 30 Jahren über sie gedacht wird. Mit dieser
Frage müssen wir uns beschäftigen und Regulative fin-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) den.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Präsident Dr. Norbert Lammert: sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist
die Kollegin Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen. Eigentümerwechsel, die Unkenntnis der Bauherrin,
aber auch die Ignoranz von Politik und Verwaltung füh-
ren in vielen Kommunalverwaltungen, Landesbauver-
Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
waltungen und Bundesbauten zum Verlust von Kunst-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen objekten. Wir müssen unserer Verantwortung für diese
und Herren! Kunst am Bau, das ist ein sperriges Thema, Objekte gerecht werden. Insofern muss überprüft wer-
und darüber sprechen wir jetzt auch noch zu so später den, ob die Dokumentation, die bisher stattfindet, ausrei-
Stunde. Dabei ist es ein ganz altes Thema. Seit über chend ist. Ich verstehe den Antrag der Linken so, dass es
90 Jahren hat sich der öffentliche Bauherr in Deutsch- Ihnen darum geht, dass wir über diese Frage noch einmal
land verpflichtet, 1 bis 2 Prozent einer Bausumme in nachdenken sollten.
Kunst am Bau zu investieren. Im Rahmen der baugebun-
denen Kunst – das ist ein schöner Fachbegriff – sind Wir müssen uns allerdings darüber im Klaren sein,
Kunstwerke, Objekte und Skulpturen entstanden. Dabei dass wir nicht nach Himmelsrichtung entscheiden dür-
wurde sehr viel Geld investiert. Sehr viele Objekte sind fen, sondern uns grundsätzlich über das Thema „Kunst
über die Historie entstanden. Dabei sind öffentliche Gel- am Bau“ unterhalten müssen. Es kann nicht sein, dass
(B) der verwendet worden. Für diese Gelder haben wir Ver- Hausmeister über ein Kunstobjekt entscheiden – hop (D)
antwortung. Wir haben Verantwortung für die Steuergel- oder top –, sondern es muss katalogisiert und bewertet
der, die dort hineingeflossen sind, aber wir haben auch werden. Die Entscheidung, ob man es archiviert und für
eine Verantwortung vor den Künstlern, die diese Objekte unsere Nachkommen bewahrt oder nicht, kann man, wie
erstellt haben. ich denke, ruhig Fachleuten und Künstlern überlassen.
Darüber müssen nicht wir Politiker entscheiden.
Jetzt muss ich Ihnen leider sagen: Wenn ich an mei-
nen Wahlkreis denke, fällt es mir sehr schwer, ein Bei- Das Erbe, das wir haben, ist ein relativ großes, und es
spiel für Kunst am Bau zu nennen. Mir fällt nur ein Ob- ist von ganz unterschiedlicher Qualität. Aber diese Frage
jekt ein: ein Bergmann, vier bis fünf Meter hoch, in steht im Moment, wie ich glaube, nicht im Mittelpunkt.
Fliesen an einer Wand in einem alten Rathaus. Er ist do- Im Moment geht es vor allem darum, ein Bewusstsein
kumentiert worden. Er fristet ein trauriges Dasein; aber dafür zu schaffen, dass wir dieses Erbe bewerten und uns
er hängt dort noch. Selbst an diesem kleinen Beispiel genau überlegen: Was davon wollen wir erhalten und für
kann ich erkennen, dass der Umgang mit Kunst am Bau unsere Nachkommen sichern? Dies ist ein Gedanke, den
sehr schwierig ist. wir aufgreifen sollten. Wie wir wissen, ist das Bauminis-
terium an diesem Thema durchaus interessiert. In den
Wir sollten an dieser Stelle vorsichtig sein und uns verschiedenen Werkstattgesprächen hat es in den letzten
nicht auf eine reine DDR-West-Diskussion einlassen, Jahren einiges bewegt. Auf diesem Weg sollte man wei-
(Beifall bei der LINKEN) tergehen.

sondern wir sollten es als Ganzes betrachten. Denn wir Danke schön.
haben auch in den anderen Bundesländern ein Erbe, das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Unterstützung benötigt; dort sehen wir durchaus Bedarf. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wir haben ein historisches Erbe, das Respekt und der LINKEN)
Wertschätzung verdient. Es dokumentiert unsere Wur-
zeln. Wir müssen vorsichtig sein, wenn es um die Frage Präsident Dr. Norbert Lammert:
geht, welchen Maßstab wir anlegen. Ich bin der Kollegin Ich schließe die Aussprache.
Grütters sehr dankbar dafür, dass sie sehr stark die fach-
liche Ebene, den Denkmalschutz, dargelegt hat, aber Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auch auf die Bewertung von Kunstwerken eingegangen auf den Drucksachen 17/2020 und 17/3186 an die in der
ist. Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
6926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offenkundig der Marina Schuster (FDP): (C)
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Todesstrafe gehört weltweit geächtet und
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
abgeschafft. Denn sie negiert auf berechnende und zu-
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- gleich kaltblütige Art und Weise das elementarste Men-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und schenrecht: das Recht auf Leben. Menschliches Leid
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) kann durch sie weder gutgemacht noch ungeschehen ge-
macht noch zukünftig verhindert werden. Im Gegenteil,
– zu dem Antrag der Abgeordneten Michael die Todesstrafe verursacht neues Leid und offenbart ein
Frieser, Erika Steinbach, Arnold Vaatz, weite- Gesellschaftsverständnis, das wir ablehnen. Sie ist mit
rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ unseren Werten nicht vereinbar.
CSU sowie der Abgeordneten Marina Schuster,
Pascal Kober, Serkan Tören, weiterer Abgeord- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
neter und der Fraktion der FDP bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
Todesstrafe weltweit ächten und abschaffen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Iran werden
– zu dem Antrag der Fraktionen SPD und Menschen zu Tode gesteinigt. Allein in den ersten zwei
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Monaten nach der Präsidentenwahl 2009 sind dort nach
Todesstrafe weltweit abschaffen Schätzungen von Amnesty International 112 Menschen
hingerichtet worden. Unter Ahmadinedschad sollen im
– zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Iran im letzten Jahr insgesamt 388 Menschen hingerich-
Groth, Katrin Werner, Jan van Aken, weiterer tet worden sein, auch durch grausame Steinigung.
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ähnlich geschockt hat uns die Hinrichtung durch ein
Abschaffung der Todesstrafe weltweit Erschießungskommando in den USA. Unabhängig von
der Tat, unabhängig davon, ob schuldig oder gar un-
– Drucksachen 17/2331, 17/2114, 17/2131, schuldig, und losgelöst von der martialischen Art und
17/3181 – Weise der Vollstreckung ist für uns klar: Die Todesstrafe
Berichterstattung: gehört geächtet und abgeschafft.
Abgeordnete Michael Frieser (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
Angelika Graf (Rosenheim) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
(B) Marina Schuster bei Abgeordneten der LINKEN) (D)
Annette Groth
Ingrid Hönlinger Auch die erbarmungslose Hinrichtung eines briti-
schen Staatsbürgers in China hat uns zutiefst bestürzt.
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich könnte hier und heute noch viele weitere Beispiele
richts des Ausschusses für Menschenrechte und nennen. Nach den Schätzungen von NGOs werden meh-
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag rere Tausend Personen jedes Jahr hingerichtet, wobei wir
der Fraktion der SPD oftmals nicht davon erfahren. Auch gibt es oft keine
Folter bekämpfen und Folteropfer unterstüt- Pressemeldung dazu.
zen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, worauf
– Drucksachen 17/2115, 17/3180 – ich hinauswill. Anders als die Anträge der Opposition
wollen wir den Schwerpunkt auf den Kern des Problems
Berichterstattung: legen. Je mehr man versucht, eine Debatte durch Gesich-
Abgeordnete Frank Heinrich ter oder durch die Nennung von einigen Namen plakativ
Christoph Strässer zu machen, desto mehr gerät man in gefährliches Fahr-
Marina Schuster wasser.
Annette Groth
Ingrid Hönlinger (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

Zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der Wir dürfen uns nicht den Anschein geben, als würden
FDP liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ wir priorisieren. Wir dürfen nicht eine Debatte führen,
Die Grünen vor. als könnte uns ein Mensch wichtiger sein als ein anderer,
der von Todesstrafe bedroht ist.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah- GRÜNEN]: Haben Sie sich schon einmal die
ren. Tagesordnung der nächsten Sitzungswoche an-
geguckt?)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Marina Schuster für die FDP-Fraktion. Das ist gefährlich. Deswegen habe ich einen Wunsch in
Richtung Opposition: Stimmen Sie unserem Antrag zu.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Dann haben wir ein klares Signal aus diesem Haus.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6927
Marina Schuster
(A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ges Ziel. Die Bundesregierung unternimmt im weltwei- (C)
Christoph Strässer [SPD]: Das Thema ist zu ten Kampf gegen Folter und für Folterprävention bereits
ernst, Frau Schuster!) große Anstrengungen. So setzt sich die Bundesregierung
unter anderem durch Demarchen für die Ratifizierung
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Bundesaußenminis- des Zusatzprotokolls zur Anti-Folter-Konvention ein.
ter Westerwelle hat erst am Montag bei seiner Rede vor Entsprechende Erfolge werden sichtbar: Die Zahl der
der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Ratifizierungen steigt. Das ist eine gute Nachricht, aber
zur Menschenrechtspolitik gesprochen, unter anderem wir dürfen nicht lockerlassen.
die Todesstrafe verurteilt und die Ablehnung deutlich
gemacht. (Christoph Strässer [SPD]: Was ist mit
Deutschland?)
Der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung,
Markus Löning, setzt sich ganz besonders für die Ab- Zusammen mit unserem Antrag „Menschenrechte
schaffung der Todesstrafe ein. weltweit schützen“, den wir im Dezember 2009 in die-
sem Hohen Hause beraten haben, bildet unser Antrag
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Fundament für unsere Arbeit gegen Todesstrafe und
NEN]: Er würde unserem Antrag sicher zu- Folter weltweit. Wir sind auf dem Weg. Wir halten Kurs.
stimmen, wenn er dürfte!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Er hat jüngst in seinem Bericht im Ausschuss für Men-
schenrechte und humanitäre Hilfe vom Menschenrechts-
dialog mit China berichtet. Ein erstes kleines und positi- Präsident Dr. Norbert Lammert:
ves Zeichen aus China ist die Reduzierung der Zahl von Christoph Strässer ist der nächste Redner für die
Straftatbeständen, die mit dem Tode geahndet werden SPD-Fraktion.
können. Das gilt insbesondere für Wirtschaftsverbre- (Beifall bei der SPD)
chen.
Das ist natürlich nur ein kleiner Schritt. Da ist noch Christoph Strässer (SPD):
viel zu tun. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte mir heute eigentlich vorgenommen, mich bei die-
(Christoph Strässer [SPD]: Das ist eine sem ernsten und wichtigen Thema nicht aufzuregen,
Priorisierung!)
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja!)
Der Kampf für die weltweite Ächtung und Abschaffung
der Todesstrafe ist und bleibt ein Kraftakt. Ein Punkt ist insbesondere nicht bei Ihren Ausführungen, Frau Kolle-
(B) mir dabei wichtig: Ob ein Staat die Todesstrafe abschafft gin Schuster. Diese waren aber wirklich an der Grenze (D)
oder nicht, hängt nicht davon ab, ob er reich oder arm ist, dessen, was noch mit der Wahrheit zu tun hat; das will
sondern hängt allein vom politischen Willen der Verant- ich ganz deutlich sagen.
wortlichen ab. (Beifall bei der SPD – Widerspruch der Abg.
(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist Marina Schuster [FDP])
richtig!) Erlauben Sie mir zwei Bemerkungen zum Thema
Daher müssen wir die politisch Verantwortlichen in un- Wahrheit. Der erste Versuch, einen gemeinsamen, inter-
seren Gesprächen immer wieder zur Abkehr bewegen fraktionellen Antrag auf den Weg zu bringen, kam in ers-
und sie von der Todesstrafe abbringen. ter Linie aus der Fraktion der Grünen und ist dann ge-
meinsam mit uns in der Position eingebracht worden,
Ich sage ganz ehrlich: Ich finde es schade, dass wir einen Kompromiss zu finden, den wir alle gemeinsam
keinen interfraktionellen Antrag haben. Umso bedauerli- tragen können. Wenn Sie jetzt sagen, wir sollten einfach
cher ist, dass die Opposition für einen gemeinsamen An- Ihren Antrag abschreiben, ist das pure Geschichtsklitte-
trag die Nennung eines ganz bestimmten Namens zur rung.
Bedingung gemacht hat.
(Widerspruch bei der FDP)
(Christoph Strässer [SPD]: Das ist doch
Unsinn!) Tatsache ist: Drei Viertel Ihres Antrags wurden bei Rot-
Grün abgeschrieben. Ich denke, das muss man denjeni-
Die Herausstellung Einzelner wird der Tragweite des gen, die hier zuhören, auch einmal zur Kenntnis bringen.
Unrechts nicht gerecht. Wir möchten, dass die vielen
Namenlosen, die weder eine prominente Stimme noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
eine große Pressewirksamkeit haben, gehört werden und DIE GRÜNEN)
zur Geltung kommen. Deshalb ist Ihr Antrag nicht insgesamt falsch; das will
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich hier gar nicht behaupten. Ihre Begründung, die Sie
NEN]: Deshalb reden wir über niemanden, da- hier heute vorgetragen haben, will ich Ihnen aber gerade
mit alle gleichermaßen nicht gehört werden?) in Vorbereitung des Internationalen Tages gegen die To-
desstrafe doch einmal vorführen, weil ich glaube, Sie
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die FDP ist klar: machen hier einen riesengroßen Fehler. Wir machen
Das Todesstrafen- und Folterverbot muss umfassend und diese Veranstaltung nämlich nicht für uns und nicht für
absolut gelten. Der Koalitionsantrag verfolgt ein wichti- die Galerie, sondern wir setzen uns gerade am
6928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Christoph Strässer
(A) 10. Oktober für die Menschen ein, die weltweit in Knäs- strakte Themen zu diskutieren und auf hohem Niveau (C)
ten sitzen – zum Teil seit vielen Jahren – und mit der To- die Einhaltung internationaler Vereinbarungen einzufor-
desstrafe bedroht sind. Denen wollen wir helfen. dern. Es geht dabei vielmehr um Menschen, um Gesich-
ter und um Geschichten. Um diese Geschichten müssen
Jetzt muss ich Ihnen wirklich sagen: Ich kann Sie wir uns heute kümmern. Deshalb sind die Beispiele, die
nicht begreifen; Sie haben sich ja nicht auf diese eine wir angeführt haben, überhaupt nicht dafür geeignet,
Person kapriziert. dass irgendein anderes Schicksal vernachlässigt wird.
(Marina Schuster [FDP]: Sie haben sich darauf Wir müssen diese Beispiele nennen, damit sich die Öf-
kapriziert!) fentlichkeit von diesen Menschen ein Bild machen kann,
damit wir in der Öffentlichkeit Wirkung erzielen. Darum
Wir haben im Wege des Kompromisses einen Vorschlag und um nichts anderes geht es.
gemacht – hören Sie mir bitte zu –, den ich nach wie vor
für richtig halte und der dem Thema auch angemessen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
ist. Wir haben gesagt: Wir wollen diese eine Person DIE GRÜNEN – Frank Heinrich [CDU/CSU]:
exemplarisch, aber doch nicht wertend benennen. Wenn Sie werten und gewichten aber doch ganz be-
jemand in China, im Iran, im Irak, im Jemen oder in den wusst!)
USA hingerichtet wird, dann ist das nicht weniger Ich will jetzt noch ein anderes Thema ansprechen, da
schlimm, als wenn jemand in anderen Regionen dieser wir auch einen Antrag zum Folterverbot debattiert ha-
Welt hingerichtet wird. Ich finde aber, man muss in einer ben. Der Kollege Heinrich hat sich schon beim letzten
solchen Debatte auch einmal Klartext reden und sagen, Mal interessanterweise dazu geäußert – so wie Sie jetzt
dass im Iran – Sie haben es gesagt – 388 Menschen hin- auch wieder, Frau Schuster. Sie haben einen entspre-
gerichtet wurden: schwangere Frauen, Behinderte, Min- chenden Antrag vorgelegt. Es wird zwar viel geredet,
derjährige. Sollen wir dazu schweigen? aber dann heißt es: Damit brauchen wir uns gar nicht
(Erika Steinbach [CDU/CSU]: Im Gegenteil! – mehr zu beschäftigen.
Marina Schuster [FDP]: Nein!)
(Marina Schuster [FDP]: Nein, stimmt doch
Sollen wir so tun, als sei das ein Problem, mit dem wir gar nicht!)
gar nichts zu tun haben?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können die Arbeit
Sie haben auch den Irak nicht angesprochen. Wir ho- im Ausschuss auch komplett einstellen. Wenn Sie sagen,
len Menschen aus dem Irak zurück, weil sie dort bedroht Sie haben einen Koalitionsantrag gemacht, in dem alle
sind. Dort sind 120 Menschen hingerichtet worden. Dür- Punkte irgendwie erwähnt sind, dann brauchen wir hier
(B) fen wir im Deutschen Bundestag in einer Resolution gar nicht mehr zu sitzen. (D)
zum Internationalen Tag gegen die Todesstrafe nicht
Ich darf aber einmal darauf hinweisen, dass wir mit
mehr den Namen „Irak“ erwähnen? Ich bitte Sie allen
unserem Antrag auf konkrete Ereignisse, und zwar nicht
Ernstes! Ich finde, das kann nicht sein.
irgendwo anders, sondern hier in Deutschland, Bezug
Sie haben jetzt China angesprochen. Ich weiß über- genommen haben. Dabei geht es zum Beispiel um die
haupt nicht, warum Sie unserem Antrag nicht zuge- Frage, wie wir eigentlich das von Ihnen angesprochene
stimmt haben, obwohl Sie die einzelnen Länder, um die und sehr wichtige Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-
es geht, jetzt hier in dieser Debatte als Beispiel anführen. Konvention umsetzen.
Ich sehe keine Begründung dafür, warum Sie dies hier
Ich darf Sie einmal ganz aktuell darauf verweisen
nicht tun. Ich sage ganz deutlich: Es ist insgesamt – ich
schließe das ganze Haus hier ein, aber insbesondere Sie, – das konnten Sie in Ihrem damaligen Antrag leider noch
weil Sie nicht kompromissbereit gewesen sind; das ist nicht berücksichtigen –: Es gibt seit wenigen Wochen den
der Punkt – ein wirklich schlechtes Zeugnis für den ersten Bericht der Bundesstelle zur Verhütung von Folter.
Deutschen Bundestag, dass er zum ersten Mal, seit es Der Leiter dieser Stelle, der uns nicht sehr nahe steht, der
diesen Internationalen Tag gegen die Todesstrafe gibt, Kollege Lange-Lehngut, hat ganz deutliche Dinge dazu
nicht zu einer gemeinsamen Resolution gefunden hat. gesagt. Er hat gesagt: Wir als Bundesstelle müssen
300 Gewahrsamseinrichtungen begutachten. – Er ist eh-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ renamtlicher Chef, und die Bundesstelle verfügt über
DIE GRÜNEN) eine gewisse Ausstattung. Er hat für diese Aufgabe zwei
Stellen in Wiesbaden und 200 000 Euro zur Verfügung.
Ich will das noch einmal sagen: Sie haben all diese
Einzelfälle angesprochen. Entschuldigung! Um was geht Herzlichen Glückwunsch! Wenn wir mit erhobenem
es denn eigentlich? Glauben Sie denn allen Ernstes, dass Zeigefinger auf die Menschenrechtsverletzungen in der
Menschen, deren Namen wir nicht kennen und die ir- ganzen Welt zeigen, aber eine Präventionsstelle zur Ver-
gendwo in irgendeinem Knast auf dieser Welt auf ihre hinderung von Folter, die beispielhaft für solche Stellen
Hinrichtung warten – zum Teil seit mehr als 20 Jahren –, in anderen Ländern sein soll, so ausstatten, dann ist das
uns hier nicht zuhören, wenn Sie uns sagen, hier werde für Deutschland und diese Bundesregierung schlicht und
priorisiert, wenn einzelne Beispiele genannt werden? ergreifend peinlich. Das ist der eine Punkt, um den es
geht.
Ich bin völlig anderer Meinung als Sie. Es geht da-
rum, in der Öffentlichkeit Interesse zu wecken und Mei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nungen herzustellen. Dabei geht es nicht darum, ab- DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6929
Christoph Strässer
(A) Deshalb werden wir das möglicherweise in den Haus- Michael Frieser (CDU/CSU): (C)
haltsberatungen aufgreifen. Es geht schließlich nicht um Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
weltbewegende Größenordnungen. Wir wollten das Herren! Ich unterstelle dem Kollegen Strässer immer das
Thema wieder auf die Tagesordnung bringen. Wir haben Beste. Das gilt gerade für diese Debatte, in der es um die
erst einmal eine Erhöhung der Mittel um 30 000 Euro Todesstrafe geht. Allerdings halte ich die Aufregung für
gefordert, um deutlich zu machen, dass wir uns mit die- etwas gespielt, insbesondere im Hinblick auf den histori-
sem Thema befassen. Aber selbst dabei sind Sie nicht schen Kontext, in dem wir uns bewegen.
bereit, sich zu bewegen. Wenn wir aber selbst unsere
Hausaufgaben in diesem wichtigen Punkt nicht machen, Am Anfang stand der Antrag „Menschenrechte welt-
dann ist es nicht in Ordnung, auf die Welt um uns herum weit schützen“ der Koalitionsfraktionen, in dem bereits
zu blicken und dafür zu sorgen, dass andere Länder et- auf die Ächtung der Todesstrafe in den betreffenden
was unterschreiben, was wir zwar auch unterschrieben Ländern eingegangen worden ist. Ich will das kurz auf-
haben, aber ungenügend umsetzen. Das ist die Wahrheit. rollen, damit nichts unverstanden bleibt. Daraufhin hat
Darum geht es an dieser Stelle. die Fraktion Die Linke einen zu einem großen Teil wort-
gleichen Antrag vorgelegt. Die Grünen haben sich ent-
Der letzte Punkt, der auch eine aktuelle Dimension schlossen, diesen Antrag abzulehnen und einen eigenen
hat, ist die Frage, wie wir mit den sogenannten diploma- Antrag einzubringen. Dann gab es ein Problem. Wir sind
tischen Zusicherungen umgehen. Auch das ist in den Be- nämlich der Auffassung, dass wir einen gemeinsamen
richten der Bundesregierung kritisch angesprochen wor- Grundlagenantrag zur Ächtung der Todesstrafe erarbei-
den. Diplomatische Zusicherungen sind Vereinbarungen ten sollten. Das hat nichts mit fehlender Kompromissbe-
auf Regierungsebene über Menschen, die in Deutschland reitschaft oder Ähnlichem zu tun. Das Thema ist und
unter Terrorismusverdacht festgenommen und inhaftiert bleibt grundsätzlich immer aktuell; denn für uns sind
worden sind und die aufgrund von Zusicherungen aus- Menschenrechte unteilbar und universell, und die Todes-
ländischer Regierungen in bestimmte Länder überstellt strafe ist die ultimative Form der Menschenrechtsverlet-
werden, in denen sie sonst nicht nach völkerrechtlichen zung. Deshalb muss man immer wieder grundsätzlich
Standards behandelt würden. feststellen, dass sich kein Mensch als Richter über Leben
und Tod aufspielen kann, weil er damit auch immer ein
Ich sage: Es kann Überstellungen geben, aber sie dür- Stück weit über sich selbst urteilt. Deshalb müssen Sie,
fen nicht auf der Basis von relativ unverbindlichen di- Herr Strässer, damit leben, dass Sie immer, wenn Sie ei-
plomatischen Zusicherungen erfolgen. In dem „hochde- nen Einzelfall herausgreifen, werten und gewichten
mokratischen“ Land Syrien zum Beispiel werden, wie müssen.
wir mittlerweile wissen, Terrorverdächtige bei einer
(Christoph Strässer [SPD]: Das stimmt nicht!)
(B) Rückführung unmittelbar nach ihrer Ankunft wieder ver- (D)
haftet und in bestimmten Einrichtungen gefoltert. Des- Ich unterstelle Ihnen beste Absichten. Sie tun das
halb kann diese Bundesregierung, die sich auf einem gu- selbstverständlich nicht, um unbedingt eine andere Kon-
ten Weg sieht, aus meiner Sicht nur sagen: Wir machen notation mitschwingen zu lassen und eine andere Aus-
nur dann beim Antiterrorkampf mit, wenn völkerrechtli- einandersetzung zu führen. Ein gemeinsamer Antrag ist
che Standards eingehalten werden. Sofern es noch die aber definitiv gescheitert, weil wir nicht bereit sind, an-
Praxis der Überstellung aufgrund diplomatischer Zusi- hand von Einzelfällen eine Form von Landeskritik, die
cherungen gibt, muss sie beendet werden. Aus meiner ideologisch getragen ist, zu üben. Wir sind der Auffas-
Sicht können Menschen nicht in Staaten zurückgeführt sung, dass wir als Mitglieder des Bundestages, wenn wir
werden, in denen es noch Folter gibt. ein Land besuchen, selbst Kritik üben können oder dass
Das ist eine konkrete Forderung. Ich lade Sie gerne die Exekutive auf der Grundlage eines Antrages dieses
ein, mit uns darüber zu diskutieren. Ansonsten hoffe ich, Bundestages das tun soll. Aber wir lassen uns nicht in-
dass wir uns trotz aller möglichen Missverständnisse im strumentalisieren. Wenn es um Einzelfälle geht, machen
Vorfeld und Streitigkeiten, die wir jetzt haben, bei dem wir nicht Politik in dem betreffenden Land, und das auch
Thema einig sind. Ich bin sicher, dass die Todesstrafe noch ideologisch verbrämt. Dann können Sie mit unserer
insgesamt abgeschafft wird. Das Folterverbot muss welt- Zustimmung nicht rechnen.
weit, also auch in Deutschland, gelten. Dafür müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU)
mit den Instrumentarien, die wir zur Verfügung haben,
sorgen. Die generelle Ablehnung der Todesstrafe eint uns si-
cherlich. Ich glaube auch, dass wir an dieser Stelle Gott
Herzlichen Dank. sei Dank nicht sehr weit auseinanderliegen. Ich kann Ih-
nen aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass sich
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unsere grundsätzlichen Denkansätze unterscheiden. Das
DIE GRÜNEN) mag nicht immer hinlänglich klar sein. Aber die Verant-
wortungsethik im Max Weber’schen Sinn besagt, dass
Präsident Dr. Norbert Lammert: der nächste Schritt der wesentliche ist und dass es um
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Frieser für das Bohren dicker Bretter geht. Wir können durchaus da-
die CDU/CSU-Fraktion. rauf verweisen, dass es weltweit Erfolge gibt. Es gibt im-
mer mehr Staaten, die entweder auf die Todesstrafe ver-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zichten oder zumindest ihre Anwendung aussetzen und
neten der FDP) sie nicht mehr praktizieren. Dieser Weg ist lang und stei-
6930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Michael Frieser
(A) nig. Aber ich glaube, dass wir kleine Schritte machen Nach China sind der Iran, der Irak, Saudi-Arabien, die (C)
müssen und bilaterale Gespräche der bessere Weg sind. USA und der Jemen die Länder mit den meisten Exeku-
Eine ideologische Auseinandersetzung sollte in diesem tionen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen – das wurde
Kontext nicht geführt werden. schon gesagt – erwähnt dies mit keinem Wort. Mit vier
dieser fünf traurigen „Tabellenführer“ unterhält Deutsch-
(Christoph Strässer [SPD]: Wo ist denn hier land umfangreiche Programme zur Polizei- und Militär-
die Ideologie?) kooperation, liefert Technologie und Ausrüstung oder
Ich kann nicht sagen, dass das Ganze durch den Än- tauscht personenbezogene Daten zur sogenannten Ter-
derungsantrag, den die Grünen heute kurzfristig einge- rorbekämpfung aus. Das ist nicht der Weg, mit dem man
bracht haben, besser wird. Dort wird auf noch mehr Dra- seinen Protest gegen eine so krasse Menschenrechtsver-
maturgie gesetzt. Natürlich verträgt der Einsatz gegen letzung wie die der Todesstrafe glaubwürdig vertritt.
die Todesstrafe durchaus etwas Dramaturgie und Pathos.
(Beifall bei der LINKEN)
Trotzdem bin ich der Auffassung: Wenn wir Staaten auf-
fordern, sich diesem Thema im kulturhistorischen Kon- Leider geht auch niemand von Ihnen in den Anträgen
text zu nähern, dann sollten wir das, vor allem wenn es auf extralegale bzw. gezielte Tötungen ein. Das ist eine
um Einzelfälle geht, auf bilateraler Ebene tun. Herr andere Form der Todesstrafe. Diese Abwandlung der
Strässer, wenn Sie ein Land besuchen, können Sie den klassischen Todesstrafe hat in den letzten Jahren im Rah-
entsprechenden Einzelfall anprangern. Aber Sie müssen men von Kriegen und Konflikten erschreckende Aus-
auch damit leben, dass es im Einzelfall nicht einfacher maße angenommen.
wird, wenn man auf ihn hinweist. Die Situation kann
auch schlimmer werden. Die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
Grundfreiheiten verbietet aber nicht nur die Todesstrafe,
Im Grunde dürfte es Ihnen nicht schwerfallen, das sondern erlaubt auch keine Abweichungen in Notstands-
grundsätzliche Anliegen des Koalitionsantrages zu un- fällen wie beispielsweise im Krieg. Im Zuge des soge-
terstützen; denn das tut Ihrem Anliegen keinen Abbruch. nannten Krieges gegen den Terrorismus ist aber offen-
Ich hoffe, dass wir weiterhin darin geeint sind, dass das sichtlich jedes Mittel recht.
Thema, über Tod und Leben zu entscheiden, gleichzeitig
auch eine Frage der Existenz ist. Aber im Einzelfall kann Am Montag berichteten zahlreiche Medien von der
dies nur ein Thema sein, wenn ich dem Betreffenden von Hinrichtung mutmaßlicher deutscher Terroristen in Pakis-
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und etwas für tan durch US-Drohnen. Seit 2008 sind schon 1 150 Men-
ihn erreichen kann. Wir sind der Auffassung, dass wir schen so hingerichtet worden: kein Prozess, keine Be-
das mit unserem Grundlagenantrag besser können als weisführung, kein rechtsstaatliches Urteil, vielmehr
(B) mit Ihrem. Deshalb werden Sie mit unserer Ablehnung Todesstrafe auf Verdacht und Knopfdruck. Das ist men- (D)
Ihres Antrags leben müssen. schenverachtende Willkür und wird von der Fraktion
Die Linke in aller Deutlichkeit verurteilt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der LINKEN)
Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Bundesregierung betont gerne, dass die Bundes-
Niema Movassat ist der nächste Redner für die Frak- wehr in Afghanistan nicht direkt an extralegalen Tötun-
tion Die Linke. gen beteiligt ist, sondern lediglich Personen benennt, die
gefangen genommen werden sollen. Aber zum einen
(Beifall bei der LINKEN) weiß auch die Bundesregierung, dass diese Personen
schon einmal getötet statt gefangen genommen werden,
Niema Movassat (DIE LINKE): zum anderen hat das Bundesverteidigungsministerium
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- im August 2010 mitgeteilt, dass entsprechend dem
ren! „Die Todesstrafe ist das bezeichnende und ewige ISAF-Regelwerk eine Liste mit Zielpersonen geführt
Merkmal der Barbarei“, schrieb Victor Hugo. Dieser Ge- wird, bei denen die Möglichkeit besteht – ich zitiere –
danke wohnt auch dem Grundgesetz inne; denn die To- „die Anwendung gezielt tödlich wirkender militärischer
desstrafe verstößt gegen Art. 1, die Unantastbarkeit der Gewalt zu empfehlen“. Also leistet die Bundeswehr
Würde des Menschen. Darin sind sich alle Fraktionen in doch indirekte Unterstützung für gezielte Tötungen
diesem Haus einig. durch andere ISAF-Truppen. Das ist ein unhaltbarer Zu-
stand.
Einig sind sich zumindest SPD, Grüne und Linke in
ihren Anträgen auch bei Mumia Abu-Jamal. Der politi- (Beifall bei der LINKEN)
sche Gefangene und Journalist Mumia kämpft in den
Extralegale und gezielte Tötungen sind im sogenann-
USA seit 29 Jahren um ein neues Verfahren. Im Novem-
ten Krieg gegen den Terror zu einem Standardmittel der
ber gibt es eine mündliche Anhörung über die Frage der
sogenannten westlichen Wertegemeinschaft geworden.
Todesstrafe gegen ihn. Was wir schon im Dezember
Dabei sind Exekutionen ohne jedes Gerichtsurteil erst
2009 hier gefordert haben, bleibt damit aktuell. Die ge-
recht ein Rückschritt in die Barbarei. Wer gibt einer klei-
gen ihn ausgesprochene Todesstrafe muss in eine Haft-
nen Gruppe von Politikern, Geheimdienstlern und Mili-
strafe umgewandelt und der Fall frei von Rassismus er-
tärs das Recht, über Leben und Tod von Menschen zu
neut untersucht werden.
entscheiden? Diese Vorgehensweise widerspricht ein-
(Beifall bei der LINKEN) deutig rechtsstaatlichen Grundsätzen. Dies sieht übri-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6931
Niema Movassat
(A) gens auch Wolfgang Bosbach so, Mitglied der CDU/ Selbstverständlich geht es um Einzelfälle. Es ist kein (C)
CSU-Fraktion und Vorsitzender des Innenausschusses. Schaden, wenn Personen im Rahmen einer solchen
Ich zitiere aus seinem Interview mit dem Deutschlandra- Kampagne prominent werden, weil sie das unter Um-
dio aus dem Jahr 2007: ständen vor der Vollstreckung der Todesstrafe schützt.
Deshalb ist unsere Strategie richtig.
Die gezielte Tötung halte ich für mehr als proble-
matisch, denn dafür sehe ich keine Rechtsgrundlage Aber Sie gehen noch weiter. 14 Tage nachdem wir un-
… Und selbst wenn man sagen würde, hier geht es seren Antrag eingebracht hatten, haben Sie ihn übernom-
nicht um Strafe, sondern um Gefahrenabwehr, … men und einfach Punkte herausgestrichen. Da möchte
kann ich mir … keine Rechtsnorm vorstellen, wo ich Sie schon fragen, was der Sinn Ihrer Streichungen
wir das vorsätzliche Töten zum Zwecke der Gefah- ist. Sie fordern in Ihrem Antrag zu Recht zwei Mitglied-
renabwehr in das Gesetzbuch nehmen … staaten der Europäischen Union und Russland auf, die
die Abschaffung der Todessstrafe betreffenden Zusatz-
Es gilt: Auch in einem sogenannten Krieg gegen den
protokolle zur Europäischen Menschenrechtskonven-
Terrorismus dürfen zivilisatorische Werte und men-
tion zu unterschreiben.
schenrechtliche Errungenschaften nicht über Bord ge-
worfen werden. Wer dies tut, begibt sich auf das Niveau Aber warum haben Sie unsere Forderung an China
derjenigen, die er vorgibt bekämpfen zu wollen. aus dem Antrag gestrichen,
Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Christoph Strässer [SPD]: Hört! Hört!)
seine Zusage – es hat sie im Rahmen der Olympiade ge-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
macht und immer wiederholt –, endlich den UN-Zivil-
Das Wort erhält der Kollege Volker Beck, Bünd- pakt, durch den die Todesstrafe wesentlich zurückge-
nis 90/Die Grünen. drängt, wenn auch nicht ganz abgeschafft würde, zu
unterschreiben? Weil Ihnen das Urheberrecht und das
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Markenrecht in China und gute Beziehungen wichtiger
Meine Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag sind, als hier Klartext zu reden?
ist sich einig in der Frage, dass wir die Todesstrafe welt-
weit abschaffen und zurückdrängen wollen. Bei der Ab- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
schaffung der Todesstrafe geht es einerseits darum, sowie bei Abgeordneten der SPD)
rechtliche Prinzipien durchzusetzen und für sie interna- Warum haben Sie aus Ihrem Antrag die Aufforderung an
tional zu werben, andererseits geht es um konkrete den Iran herausgenommen, der den UN-Zivilpakt zwar
(B) Schicksale und konkrete Menschen, die unmittelbar von unterschrieben hat, sich aber einen feuchten Kehricht um (D)
der Todesstrafe bedroht sind. Sich für diese einzusetzen, seine Einhaltung kümmert? Wir wissen doch, dass
ist auch für Konservative, Christdemokraten in anderen Frauen und Homosexuelle im Iran für einfache Sexual-
Parlamenten – wie dem Europäischen Parlament – eine und Moraldelikte reihenweise erhängt oder gesteinigt
Selbstverständlichkeit. Dort gibt es dauernd Resolutio- werden. Warum sprechen Sie den Iran hier nicht direkt
nen zu Einzelfällen. Auch diese Christdemokraten reden an, obwohl das ein ganz konkretes Thema ist? Liegt es
über Einzelfälle. vielleicht ebenfalls an den guten wirtschaftlichen Bezie-
Ich darf Sie auf die Tagesordnung der nächsten Sit- hungen, die Deutschland zum Iran hat, dass man hier
zung hinweisen. Da liegt ein Antrag der Koalition, ein nicht Ross und Reiter nennt? Warum, obwohl wir gerade
Antrag der Grünen und ein Antrag der Linken zu Frei- den Fall Lewis diskutiert haben, erinnern wir unseren
heit und zur Freilassung von Gilad Schalit vor, einem is- Bündnispartner Vereinigte Staaten von Amerika nicht
raelischen Gefangenen, der vor vier Jahren von der explizit daran, dass wir von ihm erwarten, dass er sich,
Hamas verschleppt wurde und seitdem gefangen gehal- wenn er eine Führungsrolle in der Welt für sich bean-
ten wird. Natürlich reden wir da über einen Einzelfall sprucht, auch bei der Beachtung der Menschenrechte im
und nicht über ein abstraktes Prinzip, weil es bei dem eigenen Land an die Maßstäbe hält, die er von anderen
Schutz der Menschenrechte immer um ganz konkrete Ländern immer selbstverständlich einfordert?
Menschen geht, für die wir uns einsetzen müssen und für (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
die sich auch die Bundesregierung einsetzt. Ich muss sa-
gen: Sie als Koalition blamieren sich, weil unsere Bun- Warum schweigen Sie in Ihrem Antrag zu diesen Fäl-
desregierung weitaus besser ist, als es Ihre Anträge ver- len, obwohl Sie andere Länder durchaus benennen?
muten lassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der SPD und der LINKEN)
und bei der LINKEN)
Da fragt man sich: Welcher Gedanke steckt hinter die-
Selbstverständlich hat sich die Europäische Union zum sem selektiven Abschreiben unseres Antrages? Ich muss
Beispiel im Fall von Teresa Lewis in den letzten Wochen sagen: Heute ist kein guter Tag für die Menschenrechte.
massiv gegen deren Tötung eingesetzt. Selbstverständ- Das zeigt sich darin, dass wir uns bei einer solchen Frage
lich kämpft man weltweit darum, Frau Aschtiani vor der über den Text nicht einigen konnten, obwohl wir das
Steinigung zu retten. versucht haben.
(Christoph Strässer [SPD]: Alles Ideologie!) (Christoph Strässer [SPD]: Genau!)
6932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Volker Beck (Köln)


(A) Ich möchte etwas zu der Partei sagen, die in ihrem tert wurden. Einmal war ich sehr wahrscheinlich der An- (C)
Namen ein großes C trägt, was ich respektiere. Sie reden lass, weil ich einen Fehler gemacht hatte, und mein
in letzter Zeit viel über das christliche Menschenbild und Freund wurde danach von der Securitate aufgesucht, ab-
machen sich darüber Gedanken. Um etwas zu den Ein- geholt, verhört – und ich weiß nicht und möchte mir
zelfällen zu sagen, möchte ich gerne mit einem Wort aus auch nicht vorstellen, was noch folgte.
der Bibel schließen:
Gravierend ist die Lage – das haben wir bereits von
Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, Frau Schuster und auch von anderen gehört – im Iran.
das habt ihr mir getan. Hauptbeweismittel in den dortigen Verfahren sind oft
Oder auch nicht. Matthäus 25, 40. Geständnisse, die regelmäßig und systematisch durch
Folter erzwungen werden. Politische Häftlinge reden
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, von Misshandlungen, Schlafentzug, Vergewaltigungen,
bei der SPD und der LINKEN) Drohungen gegen die Familie. Unsere Fraktion wird da-
her einen gesonderten Antrag zur Lage im Iran vorlegen.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
(Christoph Strässer [SPD]: Das ist aber jetzt
Frank Heinrich ist der letzte Redner in dieser Debatte eine Einzelheit! Da müssen Sie vorsichtig
für die CDU/CSU-Fraktion. sein!)

Frank Heinrich (CDU/CSU): Dass neben Industriestaaten wie Italien, Spanien und
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- den USA auch wir, die Bundesrepublik Deutschland, auf
nen und Kollegen! Ich habe nicht erwartet, dass nicht der Amnesty-Liste erscheinen, ist erschütternd und lässt
ich, sondern mein Vorredner einen Vers aus der Bibel sich letztlich nicht rechtfertigen. Mit der Einrichtung der
– ich habe sie zu Hause; ich war Pastor – vorliest. Ich Bundesstelle für Verhütung, die Sie auch in Ihrem An-
werde darauf gleich noch kurz eingehen. Ich glaube, da- trag erwähnen, verfügt die Bundesrepublik allerdings
rin steckt die Botschaft, dass es einen Unterschied gibt über einen wirksamen Präventionsmechanismus.
zwischen dem, was wir als ganzes Haus machen und re- (Christoph Strässer [SPD]: Nein, nicht wirk-
präsentieren, und dem, was einer einem Geringsten ge- sam!)
tan hat.
(Iris Gleicke [SPD]: Jetzt wird es aber wider- Noch ist keine Länderkommission zur Verhütung von
lich!) Folter eingerichtet. Sie wird aber, wie Sie in Ihrem An-
trag richtig sagen, in nächster Zeit konstituiert.
(B) Ich will damit einfach vorwegnehmen: Ich glaube, dass Dem ersten Jahresbericht – Herr Strässer, Sie haben (D)
wir als Einzelne sehr wohl in der Lage sind, die Men-
schenrechte hochzuhalten, Einzelpersonen zu nennen. darauf hingewiesen –, der in diesem September erschie-
nen ist, ist zu entnehmen, dass die Überprüfung von Ein-
Ich möchte auf den zweiten Schwerpunkt dieser De- richtungen aufgrund der personellen Ausstattung nur
batte zu sprechen kommen. Er ist von Ihnen, Frau stichprobenartig erfolgen kann. Das kann man in metho-
Schuster, und von anderen am Rande erwähnt worden. discher Hinsicht infrage stellen. Man kann es aber auch
Es geht nicht nur um die Todesstrafe, sondern auch um begrüßen;
die im Antrag der SPD und in der Beschlussempfehlung
behandelte Folter. (Christoph Strässer [SPD]: Was?)
Die weltweite Bekämpfung der Folter ist eine der denn flächendeckende Untersuchungen bringen unter
wichtigsten menschenrechtlichen Aufgaben. Umständen eher geschönte Ergebnisse hervor, als das
bei Stichproben der Fall ist.
Das ist der letzte Satz im ersten Absatz Ihres Antrags,
den wir heute abschließend beraten. Ja, vollkommen un- Die Ergebnisse dieser Überprüfungen zeigen auf je-
terstütze ich ihn. Ich betone: ein ausdrückliches und den Fall – auch das steht im jetzt erschienenen Jahresbe-
deutliches Ja. Folter erniedrigt, entwürdigt, entrechtet richt –, dass die menschenrechtliche Lage in den Ge-
die Opfer. In aller Entschiedenheit müssen wir Folter be- wahrsamseinrichtungen der Bundesrepublik erfreulich
kämpfen und Folteropfer unterstützen. positiv ist. Daher ist es, finden wir, nicht legitim, die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausstattung der deutschen Präventionsstelle zur Verhü-
sowie der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] tung von Folter mit denen anderer Länder zu verglei-
[SPD]) chen, wie Sie es in Ihrem Antrag tun.

Deswegen hat die Koalition ganz zu Beginn der Le- Weiterhin enthält der Antrag die Forderung, Flücht-
gislaturperiode den eben erwähnten Antrag „Menschen- linge und Schutzbedürftige nicht in Staaten abzuschie-
rechte weltweit schützen“ eingebracht und sehr deutlich ben, in denen gefoltert wird.
formuliert: Das Folterverbot gilt absolut für alle, und es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
darf nicht gegen andere Rechtsgüter abgewogen werden. sowie bei Abgeordneten der SPD)
Trotzdem ist Folter in 81 Staaten – Sie schreiben von
111 Staaten, Amnesty spricht von 81 Staaten – traurige Diese Forderung ist inhaltlich richtig, allerdings, wie wir
Realität. Ich erinnere mich, dass auch Freunde von mir finden, sachlich überflüssig. Für die Ausländer in unse-
damals hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang gefol- rem Land gibt es das Asylrecht und das Ausländerrecht.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6933

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wochen der Außenminister bei uns im Ausschuss war (C)
Herr Kollege, wollen Sie noch eine Zwischenfrage und anschaulich, wie ich finde, klargemacht hat, dass ge-
des Kollegen Beck beantworten? rade das Mittel der stillen Diplomatie sehr effektiv sein
kann und Opfer schützt, weil sich Staaten so nicht brüs-
Frank Heinrich (CDU/CSU): kiert fühlen müssen.
Ich bitte Sie, Herr Beck. Noch einmal zum Iran. Dort wird beispielsweise den
(Michael Frieser [CDU/CSU]: Jetzt wird sogar Bahai oft vorgeworfen, Spionage zu betreiben. Von ähn-
das Thema Folter benutzt und instrumentali- lichen Anschuldigungen gegen christliche Organisatio-
siert!) nen hören wir auch. Wir in Chemnitz haben das im
Zusammenhang mit der verstorbenen Daniela Beyer
schmerzlich erfahren müssen. Dieser Vorwurf wurde
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch mit ihr in Verbindung gebracht. Wenn so etwas
Ich finde es sehr gut, dass wir uns darüber verständi- überhöht und in der Öffentlichkeit laut geäußert wird,
gen, dass wir keine Flüchtlinge in Länder abschieben, unter anderem von unserer Ebene, dann kann das für Be-
wo gefoltert wird. Wir haben gegenwärtig den Fall, dass troffene zu noch stärkeren Repressalien führen. Die stille
ein deutscher Staatsbürger in Syrien verschwunden ist. Diplomatie ist ein unverzichtbarer Teil sowie die andere
An diesem Fall können wir sehen, wie der syrische Seite der Medaille, auf deren erster Seite der Aufdruck
„Rechtsstaat“ funktioniert. Trotzdem ist vor einiger Zeit „Menschenrechte weltweit schützen“ steht.
mit den Stimmen dieser Koalition das deutsch-syrische
Rücknahmeabkommen geschlossen worden. Wir erleben Herr Strässer, Sie haben gesagt: exemplarisch und
regelmäßig, dass politische Oppositionelle oder Teile der nicht wertend. – Wir befürchten, dass das dann passiert.
kurdischen Minderheit, die wir nach Syrien zurückschie- Wir nehmen keine Wertung vor, aber die Länder, die wir
ben, dort verschwinden. Stimmen Sie mir zu, dass man, verurteilen, nehmen eine Wertung vor. Die sagen dann
wenn man nach Ihren Worten verantwortlich handeln mit Blick auf die Namen, die nicht genannt werden: Auf
will, nach Syrien keine Kurden, keine Oppositionellen die brauchen wir nicht ganz so genau zu achten.
und keine Menschen, die dort womöglich strafrechtlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wider-
verfolgt werden, zurückschieben darf? spruch des Abg. Christoph Strässer [SPD])
(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Es NGOs, einzelne Abgeordnete und viele Bürger sollten
reicht eine kurze Antwort!) sich dafür einsetzen, dass Sachverhalte und Personen ge-
nannt werden – das ist wirklich zu begrüßen –; aber im
(B) Frank Heinrich (CDU/CSU): Rahmen einer öffentlichen Stellungnahme dieses Hauses (D)
Ich gebe Ihnen recht; ich habe selber mit syrischen wäre das fehl am Platze.
Staatsbürgern gesprochen. Es gibt im Hinblick auf Aus-
(Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Wie lange redet
länder, die wegen bestimmter Angelegenheiten in ihrem
der denn noch?)
Herkunftsland mit Problemen – unter anderem solchen,
wie Sie sie beschrieben haben – zu rechnen haben, in-
zwischen dieses Rücknahmeabkommen. Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Und die Leute verschwinden am
Flughafen ins Gefängnis!) Frank Heinrich (CDU/CSU):
Deshalb begrüßen wir jeden Antrag, in dem wir uns
Wir haben aber die deutliche Aussage, dass in Asylver- generell gegen Folter aussprechen. Damit handeln wir,
fahren, die die unmittelbare Rückführung zur Folge ha- schaffen wir Handlungsmaximen, die Resolutionscha-
ben könnten – Sie sprachen Syrien an –, vorerst auf Ab- rakter besitzen und den Bezugsrahmen für einzelne Akti-
lehnung verzichtet werden soll. Da ist also vonseiten vitäten darstellen können.
unseres Innenministeriums schon eingeschritten worden.
(Iris Gleicke [SPD]: Jetzt sind es schon neun
(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Minuten, und es wird nicht besser!)
GRÜNEN]: Wir schieben aktuell dahin ab,
und die Leute verschwinden!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Innenbehörden unseres Landes wurden zudem Herr Kollege.
aufgefordert, jeden Einzelfall der Rückführung beson-
ders sorgfältig zu prüfen. Das heißt, man ist sich dessen Frank Heinrich (CDU/CSU):
in einem gewissen Maße bewusst und verändert seine
Haltung dazu. Das halten wir für selbstverständlich.

(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
GRÜNEN]: Das Gegenteil ist der Fall!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Im vorliegenden Antrag – ich komme darauf zurück –
wird die stille Diplomatie teilweise direkt oder indirekt Präsident Dr. Norbert Lammert:
kritisiert. Ich kann mich daran erinnern, dass vor zwei Ich schließe die Aussprache.
6934 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Bevor wir nun zu einer Reihe von Abstimmungen – Drucksache 17/3182 – (C)
kommen, bedanke ich mich bei all den Kolleginnen und Überweisungsvorschlag:
Kollegen, die die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
für das Präsidium übersichtlicher gestaltet haben, als es Finanzausschuss
noch vor wenigen Minuten der Fall war. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

(Heiterkeit) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-


sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Dazu
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- gibt es offenkundig keine Einwände. Es handelt sich um
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf die Reden der Kolleginnen und Kollegen Thomas Bareiß,
Drucksache 17/3181. Der Ausschuss empfiehlt unter Dr. Georg Nüßlein, Rolf Hempelmann, Klaus Breil,
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme Dorothée Menzner und Oliver Krischer.1)
des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
der Drucksache 17/2331 mit dem Titel „Todesstrafe Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
weltweit ächten und abschaffen“. Hierzu liegt ein Ände- wurfs auf der Drucksache 17/3182 an die in der Tages-
rungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, ordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt
über den wir zuerst abstimmen. es andere Vorschläge, Einwände, Widerstände? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-
sache 17/3235? Tagesordnungspunkt 18:
(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das ist die Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
qualitative Mehrheit!) gierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten
Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immis-
– Das ist jedenfalls nicht die Mehrheit. Wer stimmt da-
sionsschutzgesetzes
gegen? – Wer enthält sich? – Der Änderungsantrag ist
mit Mehrheit abgelehnt. – Drucksachen 17/2866, 17/3034 –
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung ab. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- heit (16. Ausschuss)
lung ist mit Mehrheit angenommen.
– Drucksache 17/3169 –
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktionen der SPD und des Berichterstattung:
(B) Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2114 mit Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) (D)
dem Titel „Todesstrafe weltweit abschaffen“. Wer Ute Vogt
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Michael Kauch
dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die Be- Ralph Lenkert
schlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Hans-Josef Fell
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch- Auch hier wird interfraktionell vorgeschlagen, die
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2131 geben. – Einwände sind nicht erkennbar. Es handelt sich
mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe weltweit“. um die Reden der Kolleginnen und Kollegen
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer Dr. Michael Paul, Ute Vogt, Michael Kauch, Ralph
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die Lenkert und Hans-Josef Fell.2)
Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung.
Unter dem Tagesordnungspunkt 17 b geht es um die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
rechte und Humanitäre Hilfe zum Antrag der SPD-Frak- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
tion mit dem Titel „Folter bekämpfen und Folteropfer Drucksache 17/3169, den Gesetzentwurf der Bundesre-
unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- gierung auf den Drucksachen 17/2866 und 17/3034 in
schlussempfehlung auf Drucksache 17/3180, den Antrag der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
der SPD-Fraktion auf Drucksache 17/2115 abzulehnen. die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage-
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch hier ist die gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in
Beschlussempfehlung mehrheitlich angenommen. zweiter Beratung angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 16: Dritte Beratung


Erste Beratung des von den Abgeordneten Oliver und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Krischer, Britta Haßelmann, Ingrid Nestle, weite- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich von ihren Plätzen
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Energiewirt- 1) Anlage 5
schaftsgesetzes 2) Anlage 6
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6935
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Der Gesetzentwurf ist mit gleicher Mehrheit gegen die Ich wiederhole an dieser Stelle zunächst gerne, dass (C)
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. die Vorgehensweise der Entscheidungsträger angemes-
sen und zu jedem Zeitpunkt richtig war. Der Bundes-
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 auf: minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung hat sich
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, bei seinen gemeinsam mit der Deutschen Flugsicherung
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und dem Deutschen Wetterdienst abgestimmten Ent-
scheidungen zur Sperrung des Luftraums an den interna-
Biologische Vielfalt für künftige Generationen tionalen rechtlichen Rahmenbedingungen orientiert. Die
bewahren und die natürlichen Lebensgrundla- für den weltweiten zivilen Luftverkehr geltenden Sicher-
gen sichern heitsstandards der Internationalen Zivilluftfahrtorgani-
– Drucksache 17/3199 – sation, die in einer Ausnahmesituation wie dem Vulkan-
ausbruch gelten, haben die Freigabe der betroffenen Ge-
Die hierzu vorgesehenen Reden sollen zu Protokoll biete aufgrund der Kontaminierung des Luftraums nicht
gegeben werden. – Dazu stelle ich Einvernehmen fest. zugelassen. Auch der im Lage- und Informationszentrum
Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol- der Deutschen Flugsicherung eingerichtete Krisenstab
legen Josef Göppel, Dr. Matthias Miersch, Angelika konnte nicht zuletzt durch den Zugriff auf die vor Ort vor-
Brunkhorst, Sabine Stüber und Undine Kurth.1) handene technische Infrastruktur und den unmittelbaren
Wir kommen zur Abstimmung. Kontakt mit dem BMVBS, dem Bundesaufsichtsamt für
Flugsicherung, dem Deutschen Wetterdienst, allen DFS-
Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von CDU/ Niederlassungen und Eurocontrol entscheidend zum Ma-
CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf der nagement der Ausnahmesituation beitragen. Nicht zu-
Drucksache 17/3199? – Alle beteiligten Fraktionen. Wer letzt hat insbesondere die schnelle und unbürokratische
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Bei Enthaltung Realisierung von eigenen Messflügen des Deutschen
der Fraktion Die Linke ist dieser Antrag angenommen. Zentrums für Luft- und Raumfahrt mit dem Forschungs-
flugzeug „Falcon“ die Ermittlung aussagekräftiger und
Tagesordnungspunkt 19: verlässlicher Messwerte ermöglicht.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Diese Maßnahmen belegen das hervorragende Kri-
Gottschalck, René Röspel, Dr. Hans-Peter Bartels, senmanagement der Bundesregierung, die zu jedem
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zeitpunkt der Krisensituation der Sicherheit der Passa-
Die richtigen Lehren aus dem Ausbruch des is- giere allerhöchste Priorität eingeräumt hat. Die Vorbe-
ländischen Vulkans Eyjafjallajökull ziehen – halte im vorliegenden Antrag, die Reaktion der Regie-
(B) Klimaforschung und Geowissenschaften stär- rung sei unzureichend und eine politische Führung sei (D)
ken und die Voraussetzungen für ein nationa- nicht vorhanden gewesen, sind dementsprechend halt-
les und europäisches Krisenmanagement im los. Gerade weil der Vulkanausbruch für alle beteiligten
Luftverkehr schaffen Entscheidungsträger eine neue Situation dargestellt hat,
ist das gelungene Krisenmanagement der Regierung
– Drucksache 17/3174 – umso höher zu bewerten.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rückblickend betrachtet hat die Naturkatastrophe
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Deutschland und ganz Europa überraschend getroffen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und Regelungslücken sichtbar gemacht, die vorher nicht
Ausschuss für Bildung, Forschung und ersichtlich waren. Die betreffenden Herausforderungen
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union im zukünftigen Umgang mit Vulkanausbrüchen werden
nun seit der Wiederaufnahme des regelmäßigen Flugbe-
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die triebes entschieden und konsequent verfolgt. Der Bun-
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die desverkehrsminister hat hierzu eine Expertenrunde in-
Reden der Kolleginnen und Kollegen Peter Wichtel, stalliert, die einen entsprechenden Maßnahmenkatalog
Ulrike Gottschalck, René Röspel, Torsten Staffeldt, entwickelt und bereits spürbare Fortschritte erzielt hat.
Herbert Behrens und Winfried Hermann. Der Zirkel, der neben Entscheidungsträgern der Minis-
terien und Verbände auch den DWD, die DFS, die Luft-
Peter Wichtel (CDU/CSU): verkehrswirtschaft und Triebwerkshersteller vereint, ist
Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö- erst vor wenigen Wochen im September zu seiner dritten
kull war eine Naturkatastrophe besonderen Ausmaßes, Sitzung zusammengekommen und wird auch weiter ef-
die sowohl die Bundesregierung als auch die Beteiligten fektiv und nachhaltig arbeiten. Zudem werden im Bun-
der Luftverkehrsbranche vor dem Hintergrund der Kon- desministerium derzeit in einer verkehrsträgerübergrei-
taminierung des deutschen Luftraumes mit Vulkanasche fenden Arbeitsgruppe Notfallkonzepte und Strategien
vor bis dahin noch unbekannte Herausforderungen ge- zur Krisenbewältigung erarbeitet, die insbesondere ein
stellt hat. Der vorliegende Antrag der SPD-Fraktion koordiniertes Vorgehen und die Optimierung des Infor-
fordert nun dazu auf, die richtigen Lehren aus dieser mationsmanagements für den Fall eines Komplettaus-
Ausnahmesituation zu ziehen. falls eines Verkehrsträgers zum Inhalt haben.
Der Anschein des vorliegenden Antrages, die Lehren
1) Anlage 7 aus dem Ausbruch des Vulkans seien bisher nicht gezo-
6936 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Peter Wichtel
(A) gen worden, ist dementsprechend nicht richtig. Der Bun- Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund betonen wir (C)
desverkehrsminister hat seit der Ausnahmesituation ge- deutlich unsere Auffassung, dass in erster Linie die
meinsam mit seinem Haus mit Nachdruck an den Flugzeug- und Triebwerkhersteller in der Verantwor-
bestehenden Herausforderungen gearbeitet und wird tung stehen, sichere Betriebsbedingungen für ihre Pro-
dies auch weiterhin tun. Dieses Engagement wird von dukte zu bestimmen. Intensive Forschungsbemühungen
der CDU/CSU-Fraktion anerkannt, begrüßt und nach- seitens der Industrie sind unerlässlich für das Gewinnen
haltig unterstützt. von belastbaren Grenzwerten. Nur so können die Aus-
wirkungen von Vulkanasche auf Triebwerke und die
Die Zielsetzungen der installierten Expertenrunde Flugsicherheit erarbeitet und eine europaweite Festle-
verdeutlichen das konsequente und plausible Vorgehen gung auf verbindliche Grenzwerte vorangetrieben wer-
der beteiligten Akteure. So benötigt der Luftverkehr ge- den. Wir begrüßen dementsprechend ausdrücklich, dass
sicherte Erkenntnisse und zuverlässige Vorhersagen die Expertenrunde des Bundesverkehrsministeriums
über die Ausbreitung und Konzentration von Vulkan- hierzu eng mit den Herstellern von Triebwerken zusam-
asche, die nur durch ein dichtes Messnetz, die Verknüp- menarbeitet. Ich betone diesen Aspekt bewusst deutlich,
fung von Messdaten und die Verbesserung von Modell- da wir die Generierung verlässlicher Angaben zu siche-
berechnungen erreicht werden können. Erste Vorschläge ren Betriebsbedingungen der Triebwerke als zentralen
der Expertengruppe skizzieren ein nationales Mess- Bestandteil der Vorsorgemaßnahmen für die Zukunft
system, das Teil eines auf EU-Ebene diskutierten ein- verstehen. Wir teilen dabei die Ansicht der Bundesregie-
heitlichen europäischen Messsystems sein könnte. Die rung, dass eine letztendliche Festlegung belastbarer
fortgeschrittenen Bestrebungen für ein nationales Mess- Grenzwerte von der EASA in enger Abstimmung mit den
netz fußen auf dem bereits existierenden Ceilometer- Herstellern vorgenommen werden sollte.
Messnetz des Deutschen Wetterdienstes, das für die Auf-
gabe einer Messung von Vulkanaerosolen qualifiziert Ein dritter und zentraler Punkt, den wir ebenso wie
ist. Zudem sollen Hochleistungslidarsysteme helfen, die die Bundesregierung und das Expertengremium als we-
Ceilometermessungen zu kalibrieren und verlässliche sentlich im Bezug auf die zukünftige Vorgehensweise bei
Aussagen über die Vulkanaschebelastung der Luft zu er- Vulkanausbrüchen erachten, ist ein international ein-
möglichen. Zusätzlich soll mit Satellitensensorik die flä- heitliches Vorgehen der Luftfahrtbehörden. Vor dem
chenhafte Verteilung der Vulkanasche überwacht und Hintergrund des internationalen Charakters des Luft-
mit den Ergebnissen der Computersimulationen vergli- verkehrs müssen einheitliche Verfahren entwickelt wer-
chen werden. Auch Flugzeugmessungen sollen durchge- den, um in einer vergleichbaren Situation wie im April
führt und mit Messungen der bodengestützten Systeme dieses Jahres angemessen und rechtssicher reagieren zu
sowie der Flächeninformation aus Satellitendaten ver- können.
(B) glichen werden. (D)
Erste richtungsweisende Maßnahmen, die bereits we-
nige Wochen nach der Naturkatastrophe auf europäi-
Dieser Einblick verdeutlicht das Engagement der scher Ebene durch das Engagement des Bundesver-
Bundesregierung, ein dichtes Messnetz, die Verknüpfung kehrsministers und dessen Amtskollegen aus den EU-
aller Mess- und Modellinformationen sowie die Verbes- Staaten getroffen wurden, begrüßen wir an dieser Stelle
serung computergestützter Ausbreitungsprognosen für ausdrücklich. So orientieren sich die Luftüberwa-
eine zuverlässige Bewertung der Gefährdung der Luft- chungsbehörden aller EU-Länder gegenwärtig an dem
fahrt durch Vulkanasche zu installieren. Dieses Vorha- vom Londoner Vulcan Ash Advisory Center und Euro-
ben, das in stetiger Abstimmung mit den europäischen control entwickelten „Drei-Zonen-Modell“, das eine an-
Entscheidungsträgern umgesetzt wird, unterstützen wir gemessene Risikobewertung und Entscheidungsfindung
ausdrücklich. im Falle eines Vulkanausbruches ermöglicht. Das Sys-
Neben den gesicherten Erkenntnissen und zuverlässi- tem definiert je nach der vorhergesagten Aschekonzen-
tration drei Gebiete, die sich in eine Flugverbotszone,
gen Vorhersagen über die Ausbreitung und Konzentra-
eine Zone mit erweiterten Verfahren und eine Normal-
tion von Vulkanasche benötigt der Luftverkehr zudem
zone aufteilen und alle sechs Stunden neu definiert wer-
verlässliche Angaben über die Auswirkungen von Vulkan-
den. So wird ein größerer Zugang zum europäischen
asche auf die Flugzeuge, insbesondere auf die Trieb-
Luftraum unter uneingeschränkter Gewährleistung des
werke. Eine Festlegung verbindlicher Grenzwerte für
höchsten Sicherheitsniveaus ermöglicht, und alle EU-
sichere Betriebsbedingungen von Triebwerken und Luft-
Mitgliedstaaten sind in der Lage, auf gemeinsamer Ba-
fahrzeugen im Falle einer Kontamination der Luft mit
sis ihrer Verantwortung bezüglich ihres Luftraumes und
Vulkanasche ist ebenso hilfreich wie notwendig. Wir be-
einer Entscheidung über die Luftraumschließung nach-
grüßen vor diesem Hintergrund die auf europäischer
zukommen.
Ebene bereits sichtbaren Bestrebungen, gemeinsam mit
der Europäischen Agentur für Flugsicherheit mögliche Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag
Grenzen für eine akzeptable Vulkanaschekontamination unterstützt diese Methodik ebenso wie das Vorhaben der
zu ermitteln. Die Anhebung eines Grenzwertes von 2 mg/m3 Europäischen Kommission, das gegenwärtig als Emp-
auf 4 mg/m3 Asche durch einzelne EU-Mitgliedstaaten fehlung für die Mitgliedstaaten bestehende System ge-
ohne nachvollziehbare, methodisch belastbare Ableitung setzlich zu verankern. Auch die Bundesregierung hat im-
wird von der Bundesregierung allerdings zu Recht nicht mer wieder mit Nachdruck darauf gedrängt, ein
mitgetragen. Auch die Hersteller von Flugzeugtriebwer- einheitliches Vorgehen aller Luftfahrtbehörden auf die
ken stützen dies ausdrücklich nicht. Grundlage abgestimmter Verfahren zu stellen. Wir be-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6937
Peter Wichtel
(A) grüßen es daher ausdrücklich und bewerten es als weite- wie sich komplexe gesetzgeberische Rahmenbedingun- (C)
ren Erfolg, dass Deutschland in der momentan laufen- gen für ein europaweites oder gar internationales Vor-
den 37. Versammlung der Internationalen Zivilluftfahrt- gehen der Luftfahrtbehörden nicht kurzfristig installie-
Organisation in Montreal darauf hingewirkt hat, dass ren lassen. Das Zusammenspiel zwischen Politik,
auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse inter- Forschung und Industrie oder zwischen Entscheidungs-
national einheitliche Verfahren zum Umgang mit Luft- trägern auf nationaler, europäischer und internationaler
kontaminationen herbeigeführt werden. Auch wenn die Ebene kann nicht nach wenigen Wochen bereits ab-
ICAO-Versammlung zurzeit noch läuft, ist bereits er- schließende und rechtssichere Resultate liefern. Dass
sichtlich, dass die von der EU vorgeschlagene ICAO- aber mit Nachdruck an den Herausforderungen gearbei-
Strategie zum Umgang mit Gefährdungen der Luftfahrt tet wird, belegen die überaus ermutigenden Resultate,
durch Vulkanasche angenommen wurde. Die besagte die zum jetzigen Zeitpunkt bereits vorliegen. Nicht zu-
Strategie schreibt der ICAO eine Führungsrolle mit dem letzt die hervorragende Arbeit der Expertenrunde des
Ziel zu, ein weltweit harmonisiertes Vorgehen zu ermög- Bundesministeriums verdeutlicht, dass sowohl die Ziel-
lichen. Die geltenden ICAO-Vorschriften werden nun setzungen als auch die Realisierung der Vorhaben abso-
dementsprechend überarbeitet. lut stimmig sind. Aus diesem Grund werden wir den vor-
liegenden Antrag ablehnen.
Die Rolle der Bundesregierung bei den Verhandlun-
gen auf europäischer Ebene und in der Versammlung Die Bundesregierung hat es als ihre Aufgabe verstan-
der ICAO ist an dieser Stelle gesondert hervorzuheben. den, die Lehren aus der Vulkanaschewolke zu ziehen und
Bundesminister Dr. Ramsauer hat gemeinsam mit sei- sich nachhaltig mit den Vorsorgemaßnahmen und Vorge-
nem Haus seit der Ausnahmesituation im April überaus hensweisen in der Zukunft auseinanderzusetzen. Nicht
engagiert auf ein zeitnahes einheitliches Vorgehen der zuletzt die erfolgreiche Arbeit des Bundesverkehrsminis-
Luftfahrtbehörden hingearbeitet und mit der von der ters belegt, dass dies geschehen ist und die Sicherheit
ICAO angenommenen Strategie einen weiteren großen der Passagiere – die von Beginn an immer im Mittel-
Schritt in diese Richtung getan. Ich betone ausdrücklich, punkt des Engagements gestanden hat – auch in Zukunft
dass die CDU/CSU-Fraktion diesen Einsatz begrüßt, gewährleistet sein wird.
unterstützt und zu schätzen weiß.
Zusammenfassend betrachtet wird deutlich, dass die Ulrike Gottschalck (SPD):
Bundesregierung ebenso engagiert wie erfolgreich da- Der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajö-
ran arbeitet, ein effektives und nachhaltiges nationales kull liegt jetzt einige Monate zurück. Die Auswirkungen
Konzept für den Umgang mit einer vergleichbaren Aus- dieses Naturereignisses beschäftigen uns heute noch.
nahmesituation zu installieren. Durch den Aufbau einer Die durch diesen Vulkanausbruch notwendig geworde- (D)
(B)
Expertengruppe und einer verkehrsträgerübergreifen- nen Flugverbote haben Schätzungen zufolge 1,2 Millio-
den Arbeitsgruppe werden die drei vorrangigen Ziele ei- nen Passagiere pro Tag betroffen. Wir müssen davon
nes zur Bewertung der Gefährdung benötigten dichten ausgehen, dass die volkswirtschaftlichen Kosten dieses
Messnetzes, verlässlicher Angaben über die Auswirkun- Ausbruchs mehrere Milliarden Euro betragen. Allein die
gen von Vulkanasche auf Triebwerke und eines einheitli- Luftverkehrsunternehmen hatten laut Schätzungen
chen Vorgehens der europäischen Luftfahrtbehörden mit 1,3 Milliarden Euro Verlust zu verkraften.
Nachdruck verfolgt. Die ersten Ergebnisse des Engage-
ments, die teilweise bereits wenige Wochen nach der Na- Ein wesentliches Kennzeichen dieses Naturereignis-
turkatastrophe vorzuweisen waren, belegen den Erfolg ses war das Fehlen politischer Führung in der Krise.
der Arbeit des Bundesverkehrsministeriums. Die Wei- Keiner wollte die Verantwortung übernehmen, bis sie
chen für nachhaltige Vorsorgemaßnahmen zur Reduzie- schließlich abgewälzt wurde auf die schwächsten Glie-
rung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum der der Kette, die sich nicht entziehen konnten, weil sie
sind gestellt, die Entwicklungen werden auch weiterhin Angst um ihren Job hatten. Diese Glieder der Kette wa-
konsequent verfolgt werden. Die Fraktion der CDU/ ren die Fluglotsen und die Flugkapitäne. Wir alle haben
CSU begrüßt das bisherige Engagement der Bundesre- noch den Begriff kontrollierte Sichtflugverfahren im
gierung und unterstützt deren weitere Vorgehensweise. Ohr. Während der Beeinträchtigungen des deutschen
Luftverkehrs haben die deutschen Fluggesellschaften
Zugleich wird ebenso deutlich, dass der vorliegende Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren beim Luft-
Antrag dem Engagement der Bundesregierung und allen fahrt-Bundesamt beantragt und durchgeführt. Das Luft-
Beteiligten nicht gerecht wird. Nicht nur die Argumenta- fahrt-Bundesamt ist dem Bundesministerium für Ver-
tion, das Krisenmanagement sei unzureichend gewesen, kehr, Bau und Stadtentwicklung nachgeordnet. Es hat
sondern insbesondere der erweckte Eindruck, die Leh- diese Flüge im kontrollierten Sichtflugverfahren als un-
ren aus dem Ausbruch des isländischen Vulkans Eyja- bedenklich gewertet. Der Bundesminister für Verkehr,
fjallajökull seien bisher noch nicht gezogen worden, de- Bau und Stadtentwicklung Herr Dr. Peter Ramsauer hat
cken sich nicht mit den Tatsachen. Zwar sind nicht alle sich jedoch im ARD-Magazin „Report München“ am
Ziele der Bundesregierung bis heute voll und ganz er- 17. Mai 2010 von der Zustimmung zur Durchführung
reicht worden. Das ist aber schlicht der Tatsache ge- dieser kontrollierten Sichtflüge distanziert.
schuldet, dass die zu bewältigenden Aufgaben in jegli-
cher Hinsicht komplex sind. Ein verbindlicher Dieses Szenario dokumentiert die Hilflosigkeit und
Grenzwert für sichere Betriebsbedingungen von Trieb- Führungslosigkeit, denen wir in dieser Krise ausgesetzt
werken lässt sich ebenso wenig in kurzer Zeit ermitteln, waren. Ein einheitliches und koordiniertes Krisenma-

Zu Protokoll gegebene Reden


6938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Ulrike Gottschalck
(A) nagement fand weder innerhalb Deutschlands noch auf Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten for- (C)
europäischer Ebene statt. Die Einführung eines so ge- dern in dem vorliegenden Antrag die Bundesregierung
nannten Drei-Zonen-Modells der europäischen Flug- auf, die Voraussetzungen für ein nationales, europäi-
sicherungsorganisation Eurocontrol hatte lediglich sches und internationales Krisenmanagement zu schaf-
empfehlenden Charakter. Zu dem unkoordinierten Han- fen. Für den Fall eines erneuten Ausbruchs eines Vul-
deln auf politischer Ebene kam das Fehlen von Fakten- kans in Europa soll die Bundesregierung einen
wissen, mangels fundierter und wissenschaftlich beleg- nationalen Krisenstab beim Bundesminister für Verkehr,
ter Daten und Fakten als notwendige Grundlage für Bau und Stadtentwicklung entwickeln und einrichten.
politische Entscheidungen zum Beispiel über die Not- Wir fordern die Erarbeitung und Festlegung eines ein-
wendigkeit der Durchsetzung oder Aufhebung von Flug- heitlichen Messystems zur Erhebung von Messdaten
verboten – hinzu. über Konzentration, Verbreitung und örtlicher Verände-
rung von Vulkanasche. Wir müssen die Umsetzung des
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wol- Einheitlichen Europäischen Luftraums – Single Euro-
len aus den Erfahrungen in dieser Krise lernen und die pean Sky – vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass
notwendigen Vorkehrungen treffen, damit zukünftig auf der Abschluss des Staatsvertrages zur Errichtung des
ähnliche Ereignisse professioneller und für alle Beteilig- funktionalen Luftraumblocks FABEC noch in diesem
ten zielführender reagiert werden kann. Wir setzen uns Jahr erfolgt.
daher in dem vorliegenden Antrag für die Stärkung der Besonders wichtig ist die Unterstützung von For-
Klimaforschung und Geowissenschaften und für die schungsprojekten und die Entwicklung von Maßnahmen,
Schaffung eines nationalen und europäischen Krisenma- die bei zukünftigen Vulkanausbrüchen und dem Auftre-
nagements im Luftverkehr ein. ten von Aschewolken eine Gefährdung des Luftverkehrs
vermeiden und solch ein Ausmaß an Chaos und Vakuum,
Der Ausbruch des Eyjafjallajökull war, wenn auch
wie wir es im April und Mai diesen Jahres erleben muss-
der spektakulärste und bekannteste Vorfall, nur einer
ten, verhindern. Durch verstärkte auch finanzielle Un-
von insgesamt vier bekannt gewordenen Ereignissen, bei
terstützung der Forschung sowie durch eine bessere Zu-
denen es im Luftverkehr zu Problemen mit Vulkanasche sammenarbeit national, international, politisch und
gekommen ist. In der Sondersitzung des Verkehrsaus- zwischen den Fachleuten, Ingenieuren und Wissen-
schusses des Deutschen Bundestages am 20. April 2010 schaftlern können wir bei zukünftigen Vulkanausbrü-
wurde sehr deutlich, dass vor allem zu wenig Erkennt- chen und ähnlichen Krisen für eine sichere Flugplanung
nisse darüber vorliegen, welche Folgen Vulkanasche auf sorgen und Aschekonzentrationen besser vorhersagen.
Flugzeugtriebwerke hat und welche Faktoren – zum Bei- Außerdem müssen wir für die betroffenen Passagiere
(B) spiel Flugdauer, Partikelkonzentration usw. – sich in bessere Möglichkeiten für alternative Transportwege (D)
welcher Form qualitativ wie quantitativ auswirken. Die finden und für sie fundierte Informationen und Unter-
Einrichtungen der Atmosphären- und Klimaforschung stützung bereitstellten. So können wir es möglich ma-
sowie der Geowissenschaften und der Deutsche Wetter- chen, bei einer ähnlichen Krise nicht wieder so hilflos zu
dienst haben die Herausforderung durch den Ausbruch sein wie beim Ausbruch des Eyjafjallajökull in diesem
des Eyjafjallajökull angenommen und wichtige Daten Frühjahr.
und Fakten zur Fundierung weitreichender, politischer
Entscheidungen gesammelt. Es hat sich aber ganz deut- René Röspel (SPD):
lich gezeigt, dass die vorhandenen Kapazitäten und
Anfang des Jahres brach der Vulkan Eyjafjallajökull
Strukturen nicht ausreichen. auf Island aus und ganz Europa stand still – nun ja, still
In diesem Zusammenhang begrüße ich, dass die Bun- vielleicht nicht. Es war über den europäischen Flughä-
desregierung die Forschungsförderung zum Klima- fen stiller als sonst, auf Autobahnen und Bahnhöfen
wandel in den nächsten drei Jahren um zusätzliche herrschte hingegen Hektik bis Chaos. Denn der gesamte
255 Millionen Euro erhöhen will. Die Förderung der Er- Flugverkehr in Europa musste aufgrund der Vulkan-
asche für mehrere Tage eingestellt werden. Die plötzli-
forschung des Klimawandels und der Geowissenschaf-
che Ruhe freute die Anwohner von Flughäfen. Die pro
ten kann uns nicht nur darin unterstützen, koordinierter
Tag circa 1,2 Millionen betroffenen Fluggäste fanden es
durch unerwartete Krisen, wie einen Vulkanausbruch, zu
hingegen weniger angenehm, von den Fluggesellschaf-
kommen, sondern trägt auch zur Stärkung des Innova- ten und von den vom Flugverkehr abhängigen Industrie-
tionsstandortes Deutschland bei. zweigen ganz zu schweigen. Insgesamt geht man heute
Wir fordern die Bundesregierung auf, die Grenzwerte davon aus, dass die mehrtägige Luftraumsperrung einen
für Luftfahrzeuge und Triebwerke wissenschaftlich fun- finanziellen Schaden von mindestens 1,3 Milliarden
diert und verbindlich auf Ebene der EU festzulegen und Euro verursacht hat.
diese Definition auf internationaler Ebene rechtsver- Hätte man dieses Chaos vermeiden können? Ja und
bindlich zu verankern. Eine gute Gelegenheit hierfür nein. Ja, weil, wie meine Kollegin Ulrike Gottschalck in
wäre die Generalversammlung der Internationalen ihrem Redebeitrag darstellen wird, auf der Ebene des
Zivilluftfahrt-Organisation gewesen, die gegenwärtig in Bundesministeriums in den Tagen einiges schiefgelaufen
Montreal tagt und morgen endet. Auf diese Art hätte eine ist und enormer organisatorischer Verbesserungebedarf
wichtige rechtliche Regelungslücke geschlossen werden besteht. Nein, da vonseiten der Forschung alles zu die-
können. sem Zeitpunkt Machbare getan wurde.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6939
René Röspel
(A) Es ist nicht das erste und ganz bestimmt nicht das der dazugehörigen Wissenschaften dank der For- (C)
letzte Mal, dass in Europa Vulkane ausbrechen. Jeder schungsförderung des Bundes sehr gut aufgestellt.
Vulkanausbruch ist aber anders. Das Außergewöhnliche Eyjafjallajökull hat aber auch gezeigt, welche Bereiche
an dem Ausbruch von Eyjafjallajökull war die Produk- weiter ausgebaut werden müssen. Ich bitte Sie deshalb,
tion besonders kleinkörniger Asche, die wiederum län- unserem Antrag zuzustimmen, damit die vor uns lie-
ger als andere Vulkanasche in der Luft blieb. Hinzu kam gende Arbeit schnell angepackt werden kann. Denn der
die Windrichtung, welche die Aschewolke über das euro- Nachbarvulkan von Eyjafjallajökull scheint ebenfalls
päische Festland trieb. nicht zu schlafen.
Im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt, ei-
nem Institut der Helmholtz-Gemeinschaft, wurde diese Torsten Staffeldt (FDP):
Entwicklung frühzeitig wahrgenommen. Ihre Erkennt- Der Eyjafjallajökull hat uns in dramatischer Art und
nisse erhielten sie durch den von DLR maßgeblich ent- Weise vor Augen geführt, wie schnell unsere hochtech-
wickelten und betriebenen Erdbeobachtungssatelliten nologisierte, arbeitsteilig organisierte Welt in Bedräng-
TerraSAR-X. Den Wissenschaftlerinnen und Wissen- nis gebracht werden kann. Wir sollten dies nutzen, um
schaftlern war klar, welche Auswirkungen die Asche- innezuhalten und uns die Frage zu stellen, ob und wie
wolke für den europäischen Flugverkehr haben könnte. wir mit derartigen „Ausbrüchen“ umgehen können.
Neben Satelliten betreibt das DLR mehrere Forschungs- Dazu gibt es selbstverständlich unterschiedliche mögli-
flugzeuge. Eines davon, die Falcon 20E, war bereits in che Reaktionsweisen: von Fatalismus – nach der
Saharastaub geflogen und bot sich deshalb für die Devise: „Da kann man nichts dran machen“ – bis zu
Durchführung von Tests in der Nähe der Aschewolke an. aufgeregtem Aktionismus, wie er im Antrag der SPD
Die Mitarbeiter des DLR machten sich sofort an die festzustellen ist. Wir als FDP halten eine sachgerechte
Arbeit, um das Flugzeug, das ansonsten für andere For- und realistische Betrachtung der Vorgänge für nötig.
schungszwecke genutzt wird, mit den nötigen Instrumen- Wir halten das Ableiten von vernünftigen Maßnahmen
ten zu bestücken. aus den Vorgängen im April für sinnvoll, und wir sind si-
cher, dass diese Regierung und der Bundesverkehrs-
In dieser Situation erwies es sich als großes Glück,
minister Peter Ramsauer auch genau dies machen.
dass das DLR aufgrund der Forschungsgelder des Bun-
des im Bereich Atmosphärenforschung gut aufgestellt Kommen wir zu den einzelnen Punkten. Aufgrund ei-
ist. Denn erst durch die Messdaten der Falcon konnten ner bisher nicht erlebten Sicherheitslage ist im April des
die im Modell berechneten Eckdaten der Aschewolke Jahres der Luftraum über Deutschland zeitlich befristet
überprüft werden. Die Ergebnisse wurden dann an die gesperrt gewesen. Dies ist verantwortliches Handeln.
nationalen, europäischen und internationalen Luftfahrt- Alles andere hätte in Anbetracht der Lage, für die es (D)
(B)
stellen weitergegeben, führten am Ende zur Festlegung keine Erfahrungswerte gab, zu Recht einen Aufschrei
von Grenzwerten und zur Öffnung des Luftraums. Ohne der Bevölkerung und des Parlaments bewirkt. Daraus zu
den Einsatz des deutschen Forschungsflugzeugs wäre schlussfolgern, dass das Krisenmanagement unzurei-
der Luftraum wohl noch viel länger geschlossen geblie- chend war oder politische Führung fehlte, ist durchsich-
ben. Den vielen helfenden Händen im DLR gilt deshalb tiges Oppositionsgetöse. Die Einrichtung eines nationa-
unser besonderer Dank. len Krisenstabes, wie gefordert von der SPD, ist blanker
Was bedeutet der Vulkanausbruch forschungspoli- Aktionismus, der nichts, aber auch gar nichts an der
tisch für die Zukunft? Es zeigt einmal mehr, dass Er- Lage und den Entscheidungen geändert hätte. Man kann
kenntnisse der Grundlagenforschung sehr schnell auch vermuten, dass SPD-Politiker solche Situationen gerne
in der Anwendung konkrete Bedeutung erlangen können. nutzen, um sich als Retter in der Not darzustellen. Bei-
Die Grundlagenforschung finanziell auszubauen und spiele dafür gibt es ja bei den Überschwemmungs-
dabei auch „Orchideenfächer“ wie die Vulkanologie zu katastrophen zu Genüge. In solchen Situationen geht es
unterstützen, ist deshalb dringend geboten. Die schnelle nämlich nicht darum, sich als Retter medial zu inszenie-
Einsatzbereitschaft der Falcon war ein Glücksfall und ren, sondern sachgerechte, fundierte Entscheidungen zu
ist dem Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter treffen. Das können die Deutsche Flugsicherung und
des DLR zu verdanken. Es fehlt aber eine institutionelle das BMVBS mit den beteiligten Fachleuten sicher bes-
Lösung. Denn für Vulkanausbrüche – aber auch Wald- ser.
brände oder Großunfälle können ähnliche Wolken her- Andere Länder wie die Schweiz, die im Übrigen nur
vorbringen – besitzen wir keine jederzeit einsetzbaren einen äußerst geringen Bereich des deutschen Luft-
Forschungsflugzeuge. Krisenmanagement und For- raums über die Schweizer Flugsicherung Skyguide ab-
schung eng miteinander zu verzahnen, hat sich in diesem deckt, mögen zu anderen Ergebnissen kommen, insbe-
Fall als großes Glück erwiesen. Die Stationierung eines sondere auch, da der Süden weniger beeinträchtigt war.
solchen Flugzeugs, wozu immer eine Crew und erfah- Im Übrigen sollte Skyguide, wie der Unfall über Über-
rene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Aus- lingen vom 1. Juli 2002 bedauerlicherweise bestätigte,
wertung von Daten gehören, bei einem Forschungsinsti- nicht unbedingt als Referenz für verantwortliches Han-
tut wie dem DLR macht deshalb Sinn. Dafür müsste das deln herangezogen werden.
DLR aber einen klaren Auftrag aus der Politik erhalten,
der sich auch finanziell im Budget niederschlägt. Jetzt Die weitere Argumentation des SPD-Antrags läuft
müssen schnelle Entscheidungen getroffen werden. ähnlich weiter. Mit einer gefährlichen Mischung aus
Deutschland ist im Bereich Forschungsflugzeuge und Halbwissen, aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten

Zu Protokoll gegebene Reden


6940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Torsten Staffeldt
(A) und populistischen Forderungen versucht dieser Antrag hat als starker Mann mit der Wiederfreigabe des Luft- (C)
den Eindruck zu erwecken, dass das Handeln der Ver- raums politische Entscheidungen getroffen, also Ent-
antwortlichen nicht sachgerecht war. Das weise ich mit scheidungen auch zugunsten der Luftfahrtindustrie, zu-
Empörung zurück. Denn nachträglich erlangtes Wissen gunsten der gestrandeten Reisenden, jedoch nicht
über die Bedrohung des Flugverkehrs zu nutzen, um zugunsten der Piloten. Hier wurde keine vernünftige
situationsgerechte Entscheidungen anzugreifen, ent- Abwägung vollzogen. Wir lernen daraus, dass der
spricht nicht einer vernünftigen Aufarbeitung. Die Op- Minister noch einen Kurs in Krisenmanagement belegen
position vergibt hier die Chance, darzulegen, dass sie müsste. Darauf werden wir in Zukunft unser spezielles
zur Übernahme von Verantwortung fähig ist. Augenmerk richten.
Denn es muss doch festgestellt werden: Es gab und Die Bedrohung der modernen Welt durch immer kom-
gibt bisher so gut wie keine Erkenntnisse über das Ver- pliziertere Netze in Verkehr, Kommunikation, Logistik
halten von Flugzeugtriebwerken beim Einflug in Vulkan- und Elektrizität wird heute nicht durch ausreichende
aschewolken. Es gab und gibt glücklicherweise wenig staatliche Notfallpläne abgedeckt. Im Zuge des Vulkan-
vulkanische Eruptionen, anhand derer man die nötigen ausbruchs kam es zu einer Kettenreaktion, Tausende Ur-
Versuche an Flugzeugtriebwerken durchführen könnte. lauber saßen auf den Flughäfen, warteten auf die Aufhe-
Selbst bei Befolgung der im SPD-Antrag aufgelisteten bung der Luftraumsperrung und stritten um die vorhan-
zusätzlichen kostenintensiven Maßnahmen gibt es Rest- denen Steckdosen, um Handys, Laptops, iPhones und
risiken, die nicht erfasst werden können, wie zum Bei- andere Geräte zu laden. Geschäftsreisende erreichten
spiel die chemische Zusammensetzung von Vulkan- ihre Kunden nicht, Luftfracht blieben liegen, bei BMW
aschen unterschiedlicher Vulkane, die meteorologische in Dingolfing standen die Bänder still. Die Komplexität
Vorhersage von Aschewolken, deren Absinkverhalten in unserer hochtechnisierten Welt wurde selbst zum Sicher-
Abhängigkeit der Teilchendichte und -größe, mögliche heitsrisiko. Geradezu unverschämt war vor diesem Hin-
chemische Reaktionen in Wasserwolken, die Auswurf- tergrund das Auftreten von Lufthansachef Mayrhuber,
höhe der Vulkane usw. der das Aschechaos benutzte, die Aussetzung des Emis-
Die Vorschläge sind populistisch, zielen darauf, ein sionshandels für den Luftverkehr zu fordern.
gigantisches Programm mit hohen Kosten aufzusetzen,
versteigen sich gar darauf, eine Professur für Vulkano- Erst seit dem Jahr 1991 wissen wir, dass Vulkanaus-
logie zu fordern, und führen am Ziel vorbei. Vor allem brüche eine Gefahr für den Luftverkehr darstellen kön-
aber sind sie ohne vernünftige Abwägung des nutzbaren nen. An dieser Stelle helfen weder Demutsgesten ange-
Erkenntnisgewinns zu den eingesetzten Mitteln. Dies sichts der übermächtigen Mutter Natur noch das starke
sind wir von der SPD gewohnt, die aus fehlender Sach- Mann Gehabe von Verkehrsminister Ramsauer. Wie im
(B)
kenntnis heraus Steuermillionen in der Vergangenheit, Antrag der SPD richtig angemerkt wurde, fehlt es an (D)
und wenn es nach ihr gehen würde, auch in der Zukunft, Grundlagenforschung. Verschiedene Meldungen, was
aus dem Fenster werfen würde, und das, weil einmal in die Aschepartikel. genau in den Turbinen, auf der Au-
100 Jahren ein Vulkan ausbricht. ßenhaut und an den Instrumenten der Flugzeuge anrich-
ten können, widersprachen sich erheblich. Das einzige,
Das BMVBS unter Minister Ramsauer handelt ver- was man relativ klar feststellen konnte, war, dass siche-
antwortungsvoll, zieht die notwendigen Schlüsse aus rer Flugverkehr nicht mehr zu gewährleisten war.
dem Vorgang und bereitet mit Augenmaß die notwendi- Grundlagenforschung nicht nur in Bezug auf meteorolo-
gen Änderungen vor. Dazu zählen die auf der Verkehrs- gische Phänomene, sondern auch in Bezug auf ihre kon-
ministerkonferenz am 6. und 7. Oktober des Jahres und krete Auswirkung auf den Luftverkehr – ist dringend not-
vorher vorgestellten Vorsorgemaßnahmen zur Reduzie- wendig. Die Einschätzung, die das Verkehrsministerium
rung der Auswirkungen von Vulkanasche im Luftraum. nach der Veröffentlichung des Falcon-Reports traf,
Das ist Politik mit Augenmaß und Verstand. Das Gegen- wurde nicht von allen Meteorologen geteilt.
teil davon ist dieser SPD-Antrag.
Wir teilen die Einschätzung der SPD-Fraktion, dass
Herbert Behrens (DIE LINKE):
das deutsche Krisenmanagement schwach war. So wur-
den beispielsweise eigene Messdaten zu spät erhoben, es
Am 20. März brach der isländische Vulkan Eyjafjalla-
wurde kein richtiger Krisenstab gebildet und Fluglot-
jökull aus und überzog den europäischen Luftraum mit
senkapitäne und die Gewerkschaftsvereinigung Cockpit
der sogenannten Aschewolke. Dies ist Grund genug,
e.V. kritisierten die Übertragung der alleinigen Verant-
sich als Gesetzgeber mit den Folgen zu beschäftigen.
wortung auf die Piloten. Die Schweizer Flugsicherung
Der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull war ein Skyguide wickelte über deutschem Hoheitsgebiet weiter-
Akt höherer Gewalt und hat drei Probleme deutlich wer- hin den vollständigen Flugverkehr ab, eine Praxis, die
den lassen: Erstens. Unsere hochtechnisierte Gesell- unserer Meinung nach nicht mit dem Grundgesetz
schaft ist sehr anfällig; sie ist ein sensibles System ohne vereinbar ist. Die deutsche Helmholtz-Gemeinschaft, die
Netz und doppelten Boden, wenn kein entsprechendes unter ihrem Dach das Deutsche Zentrum für Luft- und
Krisenmanagement für Notfälle zur Verfügung steht. Raumfahrt und damit die besten deutschen Wissen-
Zweitens. In Europa sind Verfahren zur effizienten Be- schaftler beherbergt, ist als Betreiberin der Asse leider
wertung meteorologischer Probleme noch nicht genü- bereits negativ aufgefallen. Aufgrund der aktuellen
gend entwickelt, und es fehlt an Krisennotfallplänen. Debatte um Atomendlager und Standortauswahl müsste
Drittens. Dr. Ramsauer, Verkehrsminister der Koalition, man noch einmal überlegen, ob sie tatsächlich als Dach

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6941
Herbert Behrens
(A) für deutsches Krisenmanagement in ähnlichen Fällen für den einheitlichen europäischen Luftraum SES ange- (C)
fungieren kann. bracht! Denn nur so können sich zukünftig einheitliche
Verfahren bei der Datenerhebung und Messung, Abstim-
Kurz und gut: Wir unterstützen den Antrag der sozial- mungen im Flugverkehrsmanagement und Luftraum-
demokratischen Fraktion, auch wenn wir einige Schwer- sperrungen auf der Basis gemeinsam verabredeter
punkte anders setzen würden. Grenzwerte durchsetzen.

Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Weitere Lehren sind aus den Ereignissen zu ziehen.
Die Grundaussage des hier zu behandelnden Antrags Etwa muss zukünftig sichergestellt werden, dass Mess-
ist richtig: Die Politik muss aus dem Geschehen rund um und Beobachtungssysteme und entsprechend ausgerüs-
den Ausbruch eines isländischen Vulkans im April dieses tete Flugzeuge – wie die Falcon des DLR – bereit stehen.
Jahres einige Lehren ziehen, institutionelle Strukturen Und nicht, wie in der Krise dankeswerter Weise gesche-
etablieren, politische Handlungskonzepte präzisieren hen, von einer Vielzahl von Ingenieuren des DLR unter
und die Forschung rund um das Themenfeld Gefährdung anderem Institutionen unter Hochdruck erst umgerüstet
öffentlicher Infrastrukturen durch Naturkatastrophen werden müssen. Möglicherweise brauchen wir EU-weit
deutlich stärken. eine kleine Flotte solcher Messflugzeuge, die miteinan-
der vernetzt jederzeit aufsteigen können. Selbstverständ-
Gleichwohl schießt die SPD mit ihrem Angriff auf das lich müssen für die Zukunft dann aber auch Mittel be-
politische Management in der Krise weit über das Ziel reitgestellt werden, die etwa das DLR in die Lage
hinaus. Denn seien wir doch mal ehrlich: Bis zum versetzen, ein solches Flugzeug mit der entsprechenden
Ausbruch des Eyjafjallajökull war kein deutscher Ver- technischen Ausrüstung und hochqualifiziertem Perso-
kehrsminister egal welcher Parteienzugehörigkeit, kein nal quasi abrufbar vorzuhalten.
Deutscher Bundestag oder eine deutsche Flugsiche-
rungsorganisation mit einer derartigen Situation groß- Es gab zur recht Irritationen angesichts unterschied-
flächiger Kontamination des deutschen Luftraumes licher Vorgaben der UN-Zivilluftfahrtbehörde, ICAO,
durch Aschepartikel. konfrontiert. Alle einschlägigen bei der Unterscheidung von Sichtflug und Instrumenten-
politischen Akteure, auch die Airlines, die Flughäfen flug. Kein Wunder, ist doch in einer bestimmten Höhe
und nicht zuletzt die betroffenen Passagiere wurden von und bei bestimmtem Wetter (freier Sicht) der sogenannte
der Vulkanaschewolke nachgerade überrascht. Sichtflug auch im kontaminierten Luftraum erlaubt, hin-
gegen der Instrumentenflug nicht. Hier müssen Wider-
Vor diesem Hintergrund war die rasche Einrichtung sprüche im Regelwerk der ICAO entsprechend aufgelöst
des bestehenden Krisenstabes bei der für den Luftraum und im Sinne konsistenter und sicherheitswirksamer
verantwortlichen Deutschen Flugsicherung, DFS, in Regeln geändert werden. In Zukunft müssen ICAO und (D)
(B) Langen der richtige Schritt. Schließlich verfügt die Zen-
Flugüberwachsungsbehörden wie die europäische
trale der DFS im Gegensatz zum Bundesministerium für EASA klare Vorgaben zu Grenzwerte für Stoffeinträge
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Berlin über die (Asche) im Triebwerk machen können.
entsprechende technisch-instrumentelle Infrastruktur,
auch die Einbindung des Deutschen Wetterdienstes, des Die europäischen Verkehrsminister haben in diesem
Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung, des BMVBS Jahr eine Reihe von Maßnahmen zur Festlegung einer
und der Maastrichter Kontrollzentrale Eurocontrol neuen europäischen Methodik, eines kohärenten Vorge-
wurde so sichergestellt. hens bei der Bewertung und dem Management von
Sicherheitsrisiken, zur Definition einheitlicher Grenz-
Das politische Management in der Aschekrise war werte (mit Blick auf den risikofreien Betreib von Trieb-
geprägt vom „Handeln unter den Bedingungen größt- werken) und zur Optimierung technischer und methodo-
möglicher Unsicherheit“ in Bezug auf folgende Fragen: logischer Instrumente der ICAO verabschiedet bzw. auf
Wie bewegt sich die Aschewolke, welche Konzentration den Weg gebracht. An diesen Vorhaben muss mit Kon-
von Partikeln enthält sie, wie gefährlich ist welche Kon- zentration weitergearbeitet werden. Auch wurden mit
zentration für Flugzeugturbinen etc. Insofern war die dem Szenario „Option 3“ drei Flugzonen mit unter-
Entscheidung, den Luftraum zu sperren und so der schiedlichen Risiken für Flüge definiert. Im Kern der
Sicherheit von Flugpersonal und Passagieren höchste Emissionswolke der No-Fly Zone mit einer Aschekon-
Priorität einzuräumen und dabei kein Risiko einzuge- zentration über 4 000 Mikrogramm je Kubikmeter bleibt
hen, die richtige Entscheidung! der Flugverkehr künftig vollständig untersagt, abgestuft
Zweifellos ist bei der großflächigen Kontamination kann Flugbetrieb in den anderen beiden Zonen erfolgen.
des europaweiten Luftraumes eine EU-weite Abstim-
Wesentlich ist darüber hinaus die beschleunigte Um-
mung notwendig. Ein einheitliches Verfahren in solchen
setzung des luftverkehrswirtschaftlich in vielerlei – etwa
Krisenfällen garantiert nicht nur eine bessere Abschät-
klimapolitischer – Hinsicht bedeutsamen Projektes
zung der Gefahrenlage und die größtmögliche Sicher-
Single European Sky, SES II, sowie die Einrichtung
heit des europäischen Luftverkehrs, sondern ist auch un-
funktionaler Luftraumblöcke und Verbesserung des
ter wettbewerblichen Gesichtspunkten der richtige Weg.
Europäischen Air Traffic Managements, ATM. Durch
Dass in Europa unterschiedliche politische Entschei- den Vulkanausbruch auf Island und die Folgen für den
dungen mit Blick auf Öffnung oder Sperrung von hoheit- Flugverkehr in Europa ist überdeutlich geworden, dass
lichen Lufträumen gefällt wurden, hat viele zu Recht es über das Gefährdungspotenzial durch Vulkanasche
verwirrt. An dieser Stelle ist ein eindrückliches Plädoyer zahlreiche Erkenntnis- und Wissenslücken gibt. Diese

Zu Protokoll gegebene Reden


6942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Winfried Hermann
(A) bestehen vor allem an den Schnittstellen zwischen ver- nachdenken. Es hat sich gezeigt, dass sich manche Re- (C)
schiedenen Disziplinen und Technikwissenschaften. geln an Einzelfällen orientieren und dass es keine flä-
Gleichwohl haben insbesondere die Einrichtungen der chendeckende Lösung gibt. Auch hier gilt es nachzuar-
Atmosphären- und Klimaforschung sowie die Observa- beiten.
torien des Deutschen Wetterdienstes in engerer Koordi-
nation und Kooperation mit ihren europäischen und Fazit: Wesentliche Fragen sind in dem Antrag der
internationalen Partnern in beeindruckender Weise ge- SPD angesprochen, die Herausforderungen müssen jetzt
zeigt, wie wichtig trans- und interdisziplinäre Grundla- aufgearbeitet werden.
genforschung auch für aktuelle Ereignisse sein kann.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Systematische Forschungen in diesem Schnittstellen- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
bereich müssen gestärkt werden. Weiter gilt es spezielle der Drucksache 17/3174 an die in der Tagesordnung auf-
Studien zu Grenzwerten und Aschewirkungen in Trieb- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einwände? –
werken auf den Weg zu bringen. Denn Forschungsdefi- Keine. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
zite führten ja bisher zu erheblichen Problemen bei der
Festsetzung von Grenzwerten. Das konkrete Gefähr- Zusatzpunkt 5:
dungspotenzial hängt dabei von vielen Faktoren ab: zum
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Beispiel davon, welchen Ursprungs und Beschaffenheit
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
die Asche ist, welche Konzentration vorliegt, ebenso
der Unterrichtung
vom Zeitraum in dem die Triebwerke der Asche ausge-
setzt sind oder welche Art von Triebwerk überhaupt be- Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
troffen ist. Es steht unter den betroffenen Akteuren heute Parlaments und des Rates über die Europäi-
außer Frage, dass die Wissens- und Erkenntnisdefizite sche Ermittlungsanordnung in Strafsachen
ausgeräumt werden müssen, um zukünftig angemessen
reagieren zu können. Hier sind allerdings auch Eigen- Ratsdok. 9145/10
leistungen in der Forschung bei den Triebwerksherstel- – Drucksachen 17/2071 Nr. A.7, 17/3234 –
lern gefragt.
Berichterstattung:
Wir müssen die Rahmenbedingungen dafür verbes- Abgeordnete Ansgar Heveling
sern, dass zum Beispiel überschneidende Forschungs- Dr. Eva Högl
bereiche wie Vulkanologie, Meteorologie und Luft- Marco Buschmann
fahrttechnik bei ihren Forschungstätigkeiten verstärkt Raju Sharma
(B) miteinander zusammenarbeiten und ihre Ergebnisse ab- Ingrid Hönlinger (D)
stimmen können. Dabei ist von zentraler Bedeutung und
vielerorts längst Praxis, dass nicht jedes Land isoliert Hierzu hatten eigentlich die Kolleginnen und Kolle-
an den wissenschaftlich relevanten Fragestellungen ar- gen Ansgar Heveling, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann,
beitet, sondern in Absprache und in Kooperation mit den Raju Sharma und Jerzy Montag reden wollen. Sie geben
internationalen Partnern vorgeht. Forschungsbedarfe ihre Reden zu Protokoll.1) – Einwände dazu sind nicht
und neue Bedarfe an Forschungsinfrastruktur und For- erkennbar.
schungsprogrammen sollten daher international we- Wir kommen zur Abstimmung.
nigstens aber EU-weit abgestimmt werden.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
Zwar gibt es durch die europäischen Forschungsrah- empfehlung auf der Drucksache 17/3234, in Kenntnis
menprogramme gute Möglichkeiten, Messgeräte und der Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23
Messungen im Rahmen von zeitlich begrenzten Projek- Abs. 3 des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für
ten finanziell zu fördern. Wenn die Förderung aber aus- diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
läuft, fehlt häufig die Kontinuität, die man für eine Wer enthält sich? – Damit ist diese Beschlussempfeh-
dauernde Überwachung bräuchte. Bei Messungen und lung einstimmig angenommen.
Datenerfassung brauchen wir also deutlich mehr Verste-
tigung. Hierbei handelt es sich um keinen Routinevorgang.
Darauf möchte ich noch einmal ausdrücklich hinweisen.
Zum Schluss benötigen wir – auch das ist für mich Unbeschadet der Frage, ob und wann ein dazu in den
eine wichtige Konsequenz – einen Plan B für mögliche Verträgen vorgesehenes Quorum zustande kommt,
Katastrophen dieser Art. Wir haben quasi kein Konzept macht damit der Deutsche Bundestag zum ersten Mal
für den Fall, dass der Luftverkehr oder der Bahnverkehr einvernehmlich Bedenken gegen eine Regelungsabsicht
in einer Region oder in einem Staat plötzlich komplett der Europäischen Kommission deutlich. Wir erwarten,
ausfällt. Man kann daraus lernen, dass auch, mit Blick dass unabhängig von den statistischen Relationen die
auf die Sicherheit und Verfügbarkeit von Infrastruktu- Europäische Kommission diesen Hinweis so ernst
ren, Konzepte entwickelt werden müssen, die dann rasch nimmt, wie er von diesem Parlament offenkundig ge-
abrufbar und einsetzbar sind und auch solche Fragen meint ist.
beantworten, wie: wer ist zuständig und wer wickelt die
zum Beispiel die Rückführung von Passagieren ab, die (Beifall im ganzen Hause)
fern der Heimat gestrandet sind. Wir müssen daher auch
über die Verbrauchersituation und die Kundenrechte 1) Anlage 8
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6943
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 sowie den derungen in ihrer Aufgabenwahrnehmung gestellt hat. (C)
Zusatzpunkt 6 auf: Ziele der Neuorganisation sind unter anderen: keine Re-
duzierung der Personalstärke und durch Aufgabenbün-
20 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
delung „mehr Personal auf die Straße“ und somit mehr
Evaluierung der Neuorganisation der Bundes- Effektivität.
polizei durch einen wissenschaftlichen Sach-
verständigen Bei mehreren Besuchen bei den Bundespolizistinnen
und Bundespolizisten vor Ort habe ich neben der guten
– Drucksache 17/3068 – Arbeit und hohen Motivation auch eine teilweise auf-
Überweisungsvorschlag: kommende negative Stimmung zu einzelnen Folgen der
Innenausschuss Neuorganisation registriert. Darunter kann natürlich
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten sehr leicht auch das Engagement der Mitarbeiterinnen
Dr. Günter Krings, Dr. Hans-Peter Uhl, Reinhard und Mitarbeiter leiden.
Grindel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Da verschiedene Kritikpunkte über die Umsetzung
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela der Reform an die Bundestagsabgeordneten aller Frak-
Piltz, Dr. Stefan Ruppert, Hartfrid Wolff (Rems- tionen herangetragen wurden, fand im Deutschen Bun-
Murr), weiterer Abgeordneter und der Fraktion destag am 5. Juli 2010 eine öffentliche Anhörung zur
der FDP Thematik der Neuordnung der Bundespolizei statt. Alle
Neuorganisation der Bundespolizei erfolgreich angehörten Fachexperten waren der Meinung, dass die
fortsetzen – Bundespolizistinnen und Bundes- eingeleitete Reform notwendig war und diese auch bis
polizisten unterstützen zum Ende durchgeführt werden muss. Ein Nachjustieren
in einzelnen Punkten ist jedoch notwendig.
– Drucksache 17/3187 –
Überweisungsvorschlag: Hierzu gehört nicht nur die Stärkung in den Ballungs-
Innenausschuss (f) räumen und auf den Flughäfen, sondern auch eine aus-
Auswärtiger Ausschuss reichende personelle Besetzung der Inspektionen in den
Haushaltsausschuss
ländlichen Räumen und in den Grenzregionen. Gerade
Die Reden der Kollegen Günter Baumann, Stephan der Freistaat Sachsen, mit seinen 139 Kilometern
Mayer, Wolfgang Gunkel, Gisela Piltz, Petra Pau und Grenze zur Republik Polen und 453 Kilometern Grenze
Wolfgang Wieland werden zu Protokoll gegeben. zur Tschechischen Republik, ist von einem deutlichen
Anstieg der Kriminalität, insbesondere bei Autodieb-
(B) Günter Baumann (CDU/CSU): stählen und Einbrüchen, im Grenzbereich betroffen. In (D)
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wollen diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die
sicher leben und stellen mit Recht die Forderung an den Zusammenarbeit zwischen Bundespolizei, Landespolizei
Staat, dass dieser alles in seiner Macht Stehende hierfür und Zoll in der Praxis schon gut gelingt, jedoch muss
unternimmt. Unter den verschiedenen Sicherheitsbehör- man auch hier weitere Verbesserungen erreichen, um
den nimmt die Bundespolizei auch aufgrund ihrer beson- Doppelarbeit und Reibungsverluste zu vermeiden.
deren bundesländerübergreifenden Kompetenz eine Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundes-
Schlüsselposition ein. Ich möchte heute hier an dieser polizei wird ein hohes Maß an Flexibilität abverlangt.
Stelle die Gelegenheit nutzen, um mich bei den Bundes- Dies ist ein selbstverständlicher Teil des Berufsbildes,
polizistinnen und Bundespolizisten für ihre hervorra- da die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten mit
gende Arbeit, die sie täglich für unser aller Sicherheit dem Wissen leben, dass ihr Einsatzort in ganz Deutsch-
leisten, zu bedanken. land sein kann. Jedoch muss die letzte Phase der Struk-
Zu den verschiedensten Aufgaben der Bundespolizei turreform in der Bundespolizei gerade im Hinblick auf
gehören Kontrollen an den Binnengrenzen des Schen- die Um- und Versetzungen sozialverträglicher gestaltet
genraumes, bahnpolizeiliche Aufgaben, Kontrollen an werden. Sicherlich müssen Bundesbeamte bundesweit
Flughäfen, die Unterstützung von besonderen Einsätzen, einsetzbar sein, jedoch sollte der lokale Bezug zukünftig
wie zum Beispiel bei Fußballspielen oder bei Fanmei- bei der Nachwuchsgewinnung eine größere Rolle spie-
len. Erwähnt werden muss auch, dass die Bundespolizei len. Deshalb sehe ich das in Frankfurt geplante Modell-
nicht nur im Inland ihre wichtige gesetzliche Aufgabe projekt des Bundesministeriums des Innern als einen
erfüllt, sondern in vielen Auslandseinsätzen unter ver- Schritt in die richtige Richtung.
schiedenen Mandaten tätig ist.
Im Zuge der Neugründung des Bundespolizeipräsi-
Durch die Schengen-Osterweiterung sind entschei- diums in Potsdam sind Aufgaben aus dem Bundesminis-
dende Veränderungen der Bundespolizei und damit eine terium des Innern dahin übertragen worden. Wichtig ist
umfangreiche Neuorganisation notwendig geworden. in diesem Zusammenhang, dass ein Gleichgewicht zwi-
Die hierzu am 25. Januar 2008 im Deutschen Bundestag schen einer Zentralisierung und Entscheidungsbefugnis-
beschlossene Reform war richtig, und es gab hierzu sen für ein sachkundiges Vorgehen vor Ort vorherrschen
keine Alternative. Die Bundespolizei stand jedoch damit muss. Es kann nicht sein, dass ein Einsatzfahrzeug von
in wenigen Jahren vor ihrer dritten Reform, wobei diese der grünen Grenze zur Reparatur 120 Kilometer in die
nun die Beschäftigten der Bundespolizei vor die größten Werkstatt des zuständigen Präsidiums geschickt wird,
und einschneidendsten Veränderungen und Herausfor- wenn es vor Ort eine Werkstatt gibt.
6944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Günter Baumann
(A) Das heißt, dass nunmehr zum einen in der letzten fentliche Anhörung im Innenausschuss bereits ein sehr (C)
Phase der Bundespolizeireform die Kernkompetenzen gutes Abbild der derzeitigen Situation bei der Bundes-
des Bundespolizeipräsidiums durch das Bundesministe- polizei erhalten. Ergänzend darf ich anmerken, dass wir
rium des Innern klar umrissen und gestärkt werden zudem als CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag
müssen. Zum anderen sollte jedoch auch das Subsidiari- stets intensiven Kontakt zu den Inspektionen und Direk-
tätsprinzip bei der Aufgabenwahrnehmung wesentlich tionen vor Ort unterhalten.
stärker als bisher in den Fokus rücken.
Eine Versetzung stellt einen tiefgreifenden Einschnitt
Ich möchte nur eine Bemerkung zum Antrag der SPD in den persönlichen Lebensabschnitt eines Beamten dar.
machen, einen wissenschaftlichen Sachverständigen mit Aber auch eine zeitweilige dienstliche Abordnung, die
einer weiteren Evaluierung zu beauftragen. Wir haben mit mehrstündigen täglichen Reisezeiten verbunden sein
eine öffentliche Anhörung mit sieben Fachexperten ab- kann, kann letztlich zum gleichen Ergebnis führen – ei-
gehalten, die die Vorzüge, aber auch die Probleme und ner hohen psychischen und physischen Belastung für
Sorgen der Bundespolizistinnen und Bundespolizisten den Beamten und sein Umfeld. Auch wenn vielen Bun-
dargelegt haben. Hierauf haben wir mit unserem Antrag despolizisten ihre Verpflichtung zur Mobilität und Flexi-
reagiert. Eine weitere Evaluierung auf Kosten der Steu- bilität bewusst ist, stellt sie die derzeitige Situation vor
erzahler halte ich für obsolet. Deshalb kann man den große Herausforderungen. Lassen Sie mich das in einem
Antrag der SPD nur ablehnen. Der Antrag von CDU/ Beispiel näher ausführen: Selbst wenn sie einem festen
CSU und FDP weist in die Richtung, um die begonnene Standort im ländlichen Raum, wie beispielsweise Rosen-
Bundespolizeireform erfolgreich abzuschließen. heim, fest zugewiesen sind, kann für Sie die Verpflich-
tung bestehen, täglich am Flughafen München tätig zu
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): werden. Dies beruht auf dem nach wie vor vorhandenen
Es ist unstrittig, dass die Bundespolizei über eine Personalmangel – zahlreiche Dienstposten sind auch in
sehr hohe Kompetenz verfügt, national wie internatio- der Bundespolizeidirektion München unbesetzt –, aber
nal. Diese Kompetenz gilt es nicht nur zu erhalten, son- auch den noch nicht abgeschlossenen Versetzungsmaß-
dern auch für die Zukunft zu sichern und auszubauen. nahmen als Bestandteil der Reform der Bundespolizei.
Der vorliegende Antrag der christlich-liberalen Koali-
Der Wegfall der stationären Grenzkontrollen zu tion geht auf diese Belange ein und versucht, die für
Polen und Tschechien sowie die immer knapper werden- viele unbefriedigende Situation kurz- und mittelfristig zu
den Haushaltsmittel haben in den vergangenen Jahren verbessern. Er ist daher für mich ein richtiges Signal zur
den Reformdruck auf die Bundespolizei erhöht. Die im richtigen Zeit.
März 2008 begonnene Bundespolizeireform war daher
(B) logische Konsequenz dieser vorgenannten Ereignisse. Angesichts dessen, dass die meisten Aufgriffe von un- (D)
Ziel der Neuorganisation der Bundespolizei war es, die erlaubt Eingereisten derzeit an deutschen Flughäfen er-
Strukturen zu straffen, um Personalressourcen für ope- folgen, ist auch das im Antrag angeregte besondere Au-
rative Aufgaben zu gewinnen. Durch die Zusammenfas- genmerk auf die Personalsituation an den Flughäfen
sung und Aufwertung der bisherigen Bundespolizeiäm- nachvollziehbar. Schließlich reisten alleine am Flugha-
ter wurden die regionalen Zuständigkeiten auf allen fen Frankfurt am Main und dem Flughafen München in
Ebenen gebündelt und die vorhandenen Kräfte auf die den ersten sechs Monaten dieses Jahres fast 2 000 Men-
Schwerpunkte der bundespolizeilichen Arbeit verteilt. schen unerlaubt ein. Mehr als 100 davon wurden von or-
Die vorgenannten Reformziele haben sich bisher insbe- ganisierten Schleuserbanden in die Bundesrepublik
sondere auf die Behördenstruktur und somit natürlich Deutschland geschickt. Da in den nächsten Jahren mit
auch auf die Beschäftigten ausgewirkt. einem weiteren Anstieg der Passagierzahlen im grenz-
überschreitenden Flugverkehr zu rechnen ist, wird die
Sowohl die Stellungnahme des Bundesministeriums Situation an den Flughäfen sicher weiter fortbestehen.
des Innern als auch die Anhörung im Innenausschuss am
5. Juli 2010 haben gezeigt, dass die Umsetzung der Re- Ich warne jedoch davor, dass die Stärkung der Flug-
form nach wie vor andauert. Auch wenn viele Strukturen häfen zum Nachteil des ländlichen Raumes geschieht.
bereits aufgebaut wurden – beispielsweise das Bundes- Gerade die Aufgriffszahlen der Bundespolizeidirektion
polizeipräsidium in Potsdam –, befinden wir uns derzeit München für die deutsch-österreichische Grenze bele-
erst in der dritten von vier Phasen der Personalumset- gen, dass nach wie vor auch im ländlichen Raum viele
zung. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum jetzt Aufgriffe erfolgen. Alleine an dieser Grenze werden
durch einen unabhängigen Sachverständigen eine um- 40 Prozent aller illegal nach Deutschland auf dem
fassende Evaluation vorgenommen werden soll. Eine Landweg einreisenden Personen aufgegriffen. Aber
umfangreiche Bewertung käme aus meiner Sicht allen- nicht nur die Vielzahl, sondern auch die Qualität der
falls nach Abschluss der Reform in Betracht, aber doch Aufgriffe ist von besonderer Bedeutung. So konnten bei-
nicht mitten in der Phase der Personalumsetzung. Daher spielsweise mehrere Mitglieder der italienischen Mafia
ist der Antrag der SPD-Fraktion schlicht abzulehnen. Er in den letzten Monaten in Südbayern aufgegriffen wer-
ist zur Unzeit gestellt und würde nur zu einer Behinde- den.
rung des weiteren Vollzuges der Reform führen. Er ist
somit keineswegs dienlich. Insgesamt stieg die Anzahl der erfassten Verdächti-
gen im ersten Halbjahr 2010 gegenüber dem Vergleichs-
Im Übrigen haben wir sowohl durch den Bericht des zeitraum im Vorjahr sogar um fast 300 Prozent in Bay-
Bundesministeriums des Innern als auch durch die öf- ern. In absoluten Zahlen sind dies 2 364 Verfahren, die

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6945
Stephan Mayer (Altötting)
(A) nach durchgeführten Kontrollen eingeleitet werden falsch war, die Präsenz im ehemaligen Grenzgebiet zu (C)
konnten. Vergleicht man diese Zahl mit der vorgenann- reduzieren, denn es gibt einen signifikanten Anstieg von
ten Zahl an illegal Eingereisten an den beiden größten Eigentumsdelikten und illegaler Migration. Von dem
deutschen Flughäfen Frankfurt am Main und München, weiteren Reformziel, der so oft zitierten Bekämpfung des
wird die Relevanz der Kontrollen im ländlichen Raum internationalen Terrorismus, spricht der Bericht schon
sichtbar. Hinzu kommt, dass alle Routen illegaler Mi- gar nicht mehr.
gration, sei es über Italien oder den Balkan, letztlich
über die deutsch-österreichische oder aber die deutsch- An dieser Stelle ist bereits festzustellen, dass der
tschechische Grenze nach Bayern führen. Es ist bekannt Zweck der Reform nicht erreicht wurde. Aber auch die
und belegt, dass diese Routen vornehmlich für illegalen organisatorischen Ziele wurden weitestgehend nicht um-
Drogen- und Menschenhandel genutzt werden. Die Auf- gesetzt. Mit der Reform sollte die operative Basis deut-
griffszahlen aus dem letzten Jahr und den ersten Mona- lich gestärkt werden. Die Präsenz in der Fläche sollte
ten dieses Jahres belegen dies nachdrücklich. spürbar ansteigen. Die Losung lautete, 1 000 Beamtin-
nen und Beamte mehr auf die Straße zu bringen. Den-
Für mich muss daher auch der ländliche Raum aus noch wurde die Anzahl der Inspektionen von 128 auf 77
der Reform der Bundespolizei gestärkt hervorgehen. Die reduziert. Damit betreuen die Beamtinnen und Beamten
Höhe der Aufgriffszahlen belegt, dass die Kompetenz flächenmäßig ein viel größeres Gebiet; eine stärkere
und Erfahrung der Bundespolizei auch dort unverzicht- Präsenz in der Fläche ist damit nicht zu erreichen. Die
bar ist. zusätzlichen Reviere können dabei nur wenig Abhilfe
schaffen. Denn weil viele Aufgaben vom Bundespolizei-
Wolfgang Gunkel (SPD): präsidium in Potsdam gesteuert werden, wird der Ver-
Anfang März dieses Jahres legte uns das Bundesin- waltungsaufwand für die Beamtinnen und Beamten vor
nenministerium einen „Evaluationsbericht“ zur Neuor- Ort deutlich größer.
ganisation der Bundespolizei vor. Den Begriff „Evalua- Erschwerend kommt hinzu, dass eine große Anzahl
tionsbericht“ muss man an dieser Stelle mit Absicht mit von Beamtinnen und Beamten an Flughäfen abgeordnet
Anführungszeichen versehen, denn er ist kaum das Pa- wird – etwa 450 – oder im Auslandseinsatz – etwa 400 –
pier wert, auf dem er steht. Neben der dürftigen Fakten- ist. Außerdem gibt es zu wenig Neueinstellungen, sodass
lage, mit der er aufwartet, wird eines sehr deutlich: Die
sich die personelle Situation der Bundespolizei insge-
Schlüsse, die der Bericht aus den erhobenen Fakten
samt verschärft. Ausweislich des Bundeshaushaltes
zieht, stimmen in keiner Weise mit den polizeilichen Rea-
2005 Einzelplan 06 hatte die Bundespolizei im Jahr
litäten der Beamtinnen und Beamten vor Ort überein.
2004 nur 648 eingerichtete Beamtenplanstellen nicht
(B) Da sprechen die Ergebnisse der Beerlage-Studie der besetzt. Nach dem Bundeshaushaltsgesetz 2010 sind (D)
Hochschule Magdeburg-Stendal vom September 2009,
diese unbesetzten Beamtenplanstellen im Jahr 2009 auf
die jedem vierten Angehörigen der Bundespolizei das
inzwischen 1 195 Stellen angewachsen. Durch dieses ge-
Burn-Out-Syndrom attestiert, eine andere Sprache.
stiegene Fehl kann kaum von einer „Stärkung der ope-
Nach dieser Studie fühlen sich 65 Prozent der Beamtin-
nen und Beamten zu wenig mit ihrer Organisation ver- rativen Basis“ die Rede sein. Darüber hinaus hat die
bunden. Die umfangreiche Umstrukturierung der Orga- Bundespolizei 500 Dienstposten – Funktionen im ODP –
nisation, die mit der Reform einherging, hat diese mehr eingerichtet, als sie haushaltsmäßig über Planstel-
Probleme noch verschärft. Denn den Beamtinnen und len verfügt. Im Ergebnis werden dadurch nach der
Beamten wird mit Abordnungen, Mehrarbeit und der Er- kompletten personalwirtschaftlichen Umsetzung der
bringung von Kennzahlen sehr viel zugemutet. Die Zu- Neuorganisation mehr als 1 800 eingerichtete Arbeits-
friedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war zu plätze nicht besetzt sein.
keinem Zeitpunkt relevantes Organisationsziel der Re- Das Ziel, mehr Polizisten auf die Straße zu bringen,
form, die sich damit gravierend negativ von den Organi- wurde somit deutlich verfehlt. Es gibt eine Organisa-
sationszielen der Länderpolizeien unterscheidet. Im vor- tionsstruktur, die bezogen auf die breite Fläche misslun-
liegenden Bericht wird demnach auch nicht auf die
gen ist. Dort, wo jetzt Inspektionen sind, wären Reviere
Mitarbeiterzufriedenheit eingegangen.
vielleicht angebrachter und umgekehrt. Sicherheitsdefi-
Der damalige Bundesinnenminister Schäuble be- zite sind vorprogrammiert. Dem steht entgegen, dass die
gründete die Reform mit der veränderten Sicherheits- Anzahl der Plätze in den Direktionen, in den Leitungs-
lage im Zuge des weltweiten Terrorismus und des stäben und anderswo zum Teil um bis zu 200 Prozent
fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses. aufgestockt wurde. Das ist ein krasses Missverhältnis
Insbesondere die Tatsache, dass Deutschland seit 2007 und steht im Gegensatz zu dem, was Ansatz der Bundes-
nur noch von Ländern, die dem Schengen-Abkommen polizeireform war.
angehören, umgeben ist und deshalb die Grenzkontrol-
len wegfallen, war der Anlass, die bisherigen Strukturen Da die Aufgaben der früheren Präsidien nun einfach
zu überdenken und zu verschlanken. auf die neuen Direktionen übertragen werden, führte die
Abschaffung der Bundespolizeipräsidien als Mittelbe-
Jedoch wurde im Zuge der Reform eins nicht getan: hörde nicht zum gewünschten Erfolg. Die operative Ba-
Es wurde nicht evaluiert, wie sich die Lage nach der Öff- sis wurde nicht gestärkt. Es gibt entgegen der Ankündi-
nung der Grenzen verändern würde. Nun, mit Vorlage gung vor der Reform weniger Präsenz in der Fläche.
dieses Berichts, lässt sich unschwer erkennen, dass es Die Neuorganisation hat zu einem organisatorischen

Zu Protokoll gegebene Reden


6946 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Wolfgang Gunkel
(A) und personellen Chaos geführt, das schnellstmöglich kommt es zum Entzug von Polizeibeamten – vor allem (C)
beendet werden muss. des gehobenen Dienstes – aus der operativen Linie und
ihren Abordnung in die Ausbildungsorganisation, um
Dem drohenden Personalkollaps innerhalb der Bun- die Ausbildung sicherstellen zu können.
despolizei muss dringend Einhalt geboten werden. Es
kann nicht sein, dass immer weniger Beamtinnen und Wir Sozialdemokraten wollen, dass das Bundesinnen-
Beamte eine immer größere Fülle von Aufgaben erledi- ministerium das Versprechen von der sozialverträgli-
gen müssen. Der Bereich der Neueinstellungen wurde chen Umsetzung einhält und die Beamtinnen und Beam-
sträflich vernachlässigt. Hier gilt es, anzusetzen und ten zu ihrem Recht kommen. Wir fordern die schnellst-
verstärkt um Anwärterinnen und Anwärter zu werben. mögliche Besetzung der 1 195 unbesetzten Stellen bei
der Bundespolizei, um die Überbelastung der Beamtin-
Die Sozialverträglichkeit der Umsetzung war eine nen und Beamten abzubauen.
große Überschrift der Reform, sie wird aber nicht er-
reicht. In Wirklichkeit verspielt das Bundesinnenminis- Die Arbeitszeit – besonders für Schichtdienstleis-
terium mit dieser Reform die Einsatzfähigkeit der Bun- tende – muss wieder auf ein erträgliches Maß zurückge-
despolizei. Die Darstellung des Bundesinnenminis- führt werden. Wir fordern eine regelmäßige Untersu-
teriums, dass mit dem Abschluss von Dienstvereinbarun- chung der sozialverträglichen Umsetzung in Intervallen
gen für die Beamten und Tarifbeschäftigten die Neuor- von sechs Monaten. Aus unserer Sicht müssen sofort
ganisation sozialverträglich umgesetzt wird, entspricht Maßnahmen ergriffen werden, welche die Bezeichnung
nicht dem bisherigen Verlauf der Umsetzung der Neuor- „sozialverträglich“ auch verdienen. Der Bundesrech-
ganisation. Dass die Dienstvereinbarungen im Maßstab nungshof bestätigt mit seinem Prüfbericht, dass der
1 : 1 umgesetzt wurden, ist einzig und allein den zustän- Personalbedarf der sogenannten bundespolizeilichen
digen Personalvertretungen zu verdanken. Bei Ab- Schwerpunktdienststellen – wie Bahnhöfen und Flughä-
schluss des ersten und zweiten Schrittes der Reform war fen – nicht auf Dauer durch Abordnungen aus Dienst-
jeweils ein Beschluss des Bundespolizeihauptpersonal- stellen in den Personalabbaubereichen abgefedert wer-
rates erforderlich, um vor Beginn des nächsten Umset- den kann. Die massenhaften Abordnungen durch das
zungsschrittes die vereinbarten Bilanzierungen durchzu- Bundespolizeipräsidium müssen ein Ende haben und
führen. Es gibt eine Vielzahl berechtigter Beschwerden dürfen nicht noch stetig gesteigert werden. Familien
und Klagen von Beamtinnen und Beamten, die aus so- dürfen nicht vierteljährlich und wiederholt getrennt
zialen Gründen nicht versetzt werden wollen, trotzdem werden. Wenn Abordnungen erfolgen, dann müssen sie
aber versetzt werden sollen, um die Fehlorganisation ein logisches polizeitaktisches System erkennen lassen.
auszugleichen. Die Verwaltungsservicestellen, die bisher befristet wer-
den, sind umgehend zu entfristen und im ODP der Bun-
(B) Die soziale Betroffenheit derjenigen, die nach dem (D)
despolizei auf Dauer einzurichten.
sozialen Ausleseprozess von heimatferner Verwendung
betroffen sind und noch betroffen sein werden, mildern Mit den neuen sicherheitspolitischen Herausforde-
diese Vereinbarungen allerdings nicht. Besonders Be- rungen im Ausland und dem Wegfall der östlichen
schäftigte in unteren und mittleren Einkommensgruppen Schengen-Außengrenzen leiden die Flughäfen unter be-
laufen dabei Gefahr, ihre Existenz und ihre finanzielle sonderen Belastungen. Zum einen sind sie nun an Stelle
Zukunft zu riskieren. Das ist in unseren Augen keine So- der alleinig bisherigen Landesgrenzen neue Schengen-
zialverträglichkeit, sondern in vielen Fällen eine Zumu- Grenze, auf der anderen Seite bedienen überwiegend die
tung. Wenn sich Bedienstete dann gegen Zwangsverset- Flughafendienststellen die Auslandseinsätze der Bun-
zungen wehren oder krank werden, bleiben wichtige despolizei.
Planstellen unbesetzt.
Das Ergebnis der Organisationsüberprüfung aus dem
Extrem defizitär ist die Situation in der Aus- und Jahr 2008 wurde bis heute nicht umgesetzt, der Organi-
Fortbildung. Dieser Bereich wurde im Zuge der Vorbe- sations- und Dienstpostenplan dementsprechend nicht
reitung der Neuorganisation nicht tiefgründiger analy- angepasst. Das hat zur Folge, dass die Flughafendienst-
siert, was sich nun rächt. Die Bundespolizei hat seit Jah- stellen mit einem Organisations- und Dienstpostenplan
ren schlichtweg zu wenig Nachwuchs eingestellt und ist ausgestattet sind, der auf Daten zurückliegender Jahre
auch mit ihrer Struktur der Personalwerbung und der basiert. Auf wechselnde Bedingungen, wie zum Beispiel
Schwerpunktbestimmung von Werberäumen hoffnungs- Ausbauplanungen in Berlin und Frankfurt am Main und
los abgehängt. Insgesamt besteht das Problem der damit verbundene steigende Fluggastzahlen, kann somit
Überalterung der Bundespolizei, so sind über 2 500 Po- nicht reagiert werden. Im Ergebnis muss das Bundes-
lizeiobermeister älter als 40 Jahre. polizeipräsidium regelmäßig auf Abordnungen aus an-
deren Dienststellen oder der Bundesbereitschaftspolizei
Inzwischen gibt es extreme Kapazitätsengpässe. So zurückgreifen, um die Flughafendienststellen zu ver-
waren die Kapazitäten der Bundespolizeiakademie und stärken. Die im Bericht angesprochenen Abordnungen
der Aus- und Fortbildungszentren bereits im Jahr 2008 von Beamtinnen und Beamten aus den sogenannten Per-
zu 84 Prozent mit Ausbildungsaufgaben ausgelastet, im sonalüberhangbereichen der Direktionen Bad Bram-
Jahr 2009 zu 92 Prozent. Das führt dazu, dass bereits stedt, Berlin und Pirna an die Flughäfen sind kritisch zu
heute kaum noch zentrale Fortbildungsmaßnahmen an- betrachten.
geboten werden können. Es droht eine sich permanent
wandelnde Bundespolizei, die ihre Mitarbeiter aus Ka- Das bitter notwendige Umsteuern im System der Per-
pazitätsgründen nicht fortbilden kann. In der Folge sonalgewinnung und -steuerung für die Flughafen-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6947
Wolfgang Gunkel
(A) dienststellen wurde zwei Jahre lang nicht bearbeitet. len auch keine Dauerreform der Bundespolizei. Wir wol- (C)
Insgesamt sind gegenwärtig circa 850 Polizeibeamtin- len, dass die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten
nen und -beamte innerhalb ihrer Direktionen und circa im Interesse unserer Sicherheit ihren Job machen kön-
450 Polizeibeamtinnen und -beamte zu Dienststellen au- nen. Das brauchen wir – und nicht Unruhe und Unzu-
ßerhalb ihrer Direktionen – Flughäfen – abgeordnet. friedenheit.
Das entspricht in etwa dem Personalfehl, welches durch
sträfliche Vernachlässigung von Neueinstellungen ent- Diese Unruhe und Unsicherheit liegt vielleicht auch
standen ist. daran, dass die Reformvorhaben erst zu spät bei den
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, bei den Beamtinnen
Das Bundesinnenministerium versichert in seinem und Beamten angekommen sind, diese also quasi vor
Bericht, dass die Anzahl der erforderlichen Polizeivoll- vollendete Tatsachen gestellt wurden.
zugsbeamten grundsätzlich jährlich nach einheitlichen
Kriterien und auf Grundlage bundesweit gültiger Fach- Weil wir nicht wollen, dass nun auf die Reform die
Reform der Reform folgen soll und alles wieder auf den
konzepte überprüft werde. Dem steht entgegen, dass seit
Kopf gestellt wird, ist die christlich-liberale Koalition
den Vorfällen im Dezember 2009 – Stichwort: Detroit –
keine großen Veränderungen, die zur Verbesserung der der Überzeugung, dass Fehlentwicklungen begegnet
werden muss, aber innerhalb des nun vorgegebenen
Sicherheit beigetragen hätten, erfolgt sind. Damit ist
Konzepts. Denn das, was vielleicht in der Wirtschaft
diese Aussage des Bundesinnenministeriums anzuzwei-
feln. Sollte es wirklich eine derartige jährliche Überprü- üblich ist, dass eigentlich die Reorganisation der Nor-
malfall ist, das wollen wir den Mitarbeitern der Bundes-
fung geben, so müsste im Ergebnis zutagetreten, dass
der Organisations- und Dienstpostenplan und der damit polizei nicht zumuten, und das können wir nicht verant-
verbundene Dienstpostenansatz zukünftig anzupassen worten, weil es um die Sicherheit zum Beispiel an den
Grenzen und an den Flughäfen geht, die Verlässlichkeit
ist.
braucht.
Die Aufgabenwahrnehmung an den Flughäfen ist
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf – und
eine Kernkompetenz der Bundespolizei; sie muss auch
wir wissen, dass diese Forderungen vom Bundesinnen-
als solche behandelt werden. Wir wollen, dass die Stel-
ministerium aufgegriffen werden –, die Dinge zu ändern,
len langfristig fest besetzt sind und nicht durch Abord-
die aus der Reform einen Erfolg machen können.
nungen aus anderen Bereichen ersetzt werden. Die Per-
sonalzumessung muss so gestaltet sein, dass die Anzahl Wenn ich hier auf die SPD-Position schaue, dann
der Abordnungen so gering wie möglich ausfällt. In der muss ich mir hingegen verwundert die Augen reiben. Ich
Konsequenz fordern wir eine gezielte regionale Einstel- frage hier mal: Wer hat es erfunden? Das waren doch
(B) lungspolitik. Wir favorisieren dabei regionale Werbe- Sie, die SPD, in der vorigen Wahlperiode. Das waren (D)
maßnahmen zur Personalgewinnung für die Bundespoli- doch Sie, die SPD, die eine Reform mitgetragen hat, die
zei. Der Dienst nach der Ausbildung muss schon in der die Mitarbeiter nicht mitgenommen hat. Wo waren denn
Ausbildung regional planbar sein. Freie Dienstposten, da Ihre mahnenden Worte? Wo war denn die gelebte So-
die bis heute nicht vollständig besetzt sind, obwohl die zialdemokratie, als es um die Belange der Mitarbeiterin-
finanziellen Mittel, nämlich Planstellen, schon lange nen und Mitarbeiter ging, die vor den Kopf gestoßen
vorhanden sind, müssen als Erste besetzt werden. wurden? Jetzt verlangen Sie scheinheilig eine externe
Evaluation. Da hätten Sie vielleicht vorher mal – ganz
Es gibt noch viele Baustellen bei der Umsetzung die- intern – in sich gehen können, bevor Sie so ein Projekt
ser Reform, einer Reform, die ich schon von Anfang an absegnen.
kritisch begleitet und als überstürzt betrachtet habe. Die
von mir angesprochenen Problempunkte wurden von mir Wir, die FDP-Fraktion, haben die Bundespolizeire-
bereits vor zweieinhalb Jahren benannt. Die Sachver- form skeptisch gesehen. Das will ich gar nicht verheh-
ständigenanhörung am 5. Juli hat zum großen Teil len. Aber wir wollen die Bundespolizistinnen und Bun-
meine Ansichten bestätigt. Die Anhörung belegte zudem despolizisten, die sich gerade in der neuen Struktur
sehr deutlich, dass die Evaluierung der Reform nur sehr zurechtfinden wollen und müssen, nicht nochmals vor
unzureichend gelungen ist, der Bedarf an einer sachge- eine Reorganisation im Stile einer Umwälzung stellen.
rechten Bewertung ist sogar noch größer geworden. Es Vielmehr wollen wir nun ihre Bedenken, ihre Erfahrun-
steht nicht zu erwarten, dass eine erneute interne Unter- gen, ihre Anregungen aufnehmen, um es besser zu ma-
suchung objektivere Ergebnisse bringt. Wir fordern des- chen.
halb, dass die Bundespolizeireform durch einen wissen-
schaftlichen Sachverständigen untersucht wird, der im Denn die Bundespolizei muss ihre Aufgaben wahr-
Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag bestellt nehmen können – und dazu braucht sie engagierte Mit-
wird. Ich bitte um Unterstützung dieser Forderung und arbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich in ihrer Organi-
unseres Antrags. sation angenommen fühlen und sich einbringen, die ihre
Arbeit gut machen wollen und können. Genug zu tun gibt
es für die Bundespolizei dabei: Nach der Schengen-
Gisela Piltz (FDP): Osterweiterung sind die Aufgaben an den östlichen Bun-
Die Bundespolizei befindet sich derzeit noch in der desgrenzen ja nicht auf einmal weggefallen, sondern die
dritten großen Strukturreform. Reformen bringen immer Bundespolizei steht vor neuen Herausforderungen.
Unruhe, Verwirrungen und Unzufriedenheit mit sich. Durch die Zunahme des Reiseverkehrs an Flughäfen und
Die Reform ist noch nicht abgeschlossen, aber wir wol- die zunehmende Zahl von Menschen in Ballungsräumen

Zu Protokoll gegebene Reden


6948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Gisela Piltz
(A) stehen die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten bzw. eines Polizisten auch künftig attraktiv sein könnte. (C)
vor anspruchsvollen Aufgaben, für die stetig ausrei- Es fehlt ein Zukunftsplan.
chend Personal vorhanden sein muss.
Fehlende Ressourcen, demotiviertes Personal, man-
Notwendig ist auch ein langfristiges Personalent- gelnde Perspektiven und löchrige Sicherheit – ein
wicklungskonzept, damit die Bundespolizei sich für die schlechteres Zeugnis kann man einer sogenannten Re-
Zukunft richtig aufstellen kann. Dazu gehören die Nach- form nicht aussprechen. Ich will als Linke nicht uner-
wuchswerbung ebenso wie die Aufstiegschancen inner- wähnt lassen: einer Reform unter CDU-Führung. Die
halb der Bundespolizei, die Auslandseinsätze ebenso Fraktion Die Linke fordert daher dreierlei: Erstens, die
wie die Spezialisierung, die in einer zunehmend komple- Ergebnisse bzw. Mängel der bisherigen Reform der Bun-
xen Welt bei den Sicherheitsbehörden allenthalben er- despolizei sind durch unabhängige Sachverständige zu
forderlich ist. überprüfen. Zweitens, die Fehlentwicklungen, insbeson-
dere die, die zulasten der Beschäftigten gehen, sind un-
Verantwortung muss man übernehmen – und man verzüglich zu korrigieren. Drittens, bei allen weiteren
muss dafür auch die entsprechenden Freiräume haben, Schritten sind die Beschäftigten und ihre Gewerkschaf-
um sie auszufüllen. Deshalb wollen wir, dass das Bun- ten endlich ernst zu nehmen und einzubeziehen.
despolizeipräsidium in seinen Kernaufgaben gestärkt
wird, um seiner Verantwortung eigenständig auch nach- Abschließend will ich für die Fraktion Die Linke al-
kommen zu können, zugleich aber die Entscheidungs- lerdings noch einmal grundsätzlich unterstreichen: Alle
ebenen vor Ort in angemessener Weise berücksichtigt Gelüste, die öffentliche Sicherheit zunehmend privaten
werden, denn vieles muss nicht zentral geregelt werden. Anbietern anzudienen und die Polizei zweckfremd einzu-
Wir setzen uns nicht für zentralisierte Entscheidungen setzen, werden wir nicht hinnehmen. Ich sage das so all-
fernab der Belange vor Ort, fernab der Belange und der gemein und für manche auch kryptisch, weil bisher nie
Expertise der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihrer offen gesagt wurde, welchem Sinn und Zweck diese Re-
alltäglichen Arbeit ein, sondern wollen die Entschei- form der Bundespolizei eigentlich folgte und welche
dungskompetenz da verorten, wo sie hingehört. politischen Absichten möglicherweise wirklich dahinter
stecken. Wir erleben immer wieder Vorstöße, mit denen
Die Bundespolizistinnen und Bundespolizisten ver- die Trennungsgebote des Grundgesetzes zwischen Poli-
dienen unseren Respekt und unseren Dank für die Wahr- zeien, Bundeswehr und Geheimdiensten aufgeweicht
nehmung vielfältiger Aufgaben. Der Antrag der christ- werden sollen. Die Linke wird daher auch alle weiteren
lich-liberalen Koalition gibt diesem Ausdruck. Reformen der Bundespolizei mit genau diesem Argwohn
begleiten.
(B) Petra Pau (DIE LINKE): (D)
Die Reform der Bundespolizei, über die wir heute re- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
den, wurde 2008, vor nunmehr zweieinhalb Jahren, vom Als der damalige Bundesinnenminister Wolfgang
Bundestag beschlossen. Im Juni 2010, also vor vier Mo- Schäuble die Bundespolizeireform in Gang setzte, da
naten, fand im Innenausschuss eine Expertenanhörung dachte er, er bräuchte für dieses Vorhaben noch nicht
statt. Das Fazit: Keins der vorgegebenen Reformziele einmal ein Gesetz. Dem Organisationserlass folgte dann
wurde erreicht. Wie ein Sachverständiger es zuspitzte: doch noch ein Gesetz und Anfang des Jahres dann die
Die Geschichte dieser Reform ist ein Paradebeispiel da- erste Beurteilung der Folgen der Reform. In dieser Be-
für, wie man es nicht machen sollte. Kurzum, das Urteil urteilung kommt das Bundesinnenministerium – man
der Fachleute war mehr oder weniger vernichtend. kann das ruhigen Gewissens so zusammenfassen – zu
dem Ergebnis: Alle Ziele sind erreicht oder mindestens
Im Bundesinnenministerium sah man das natürlich
sehr weit gediehen, ein richtiger Plan wurde gut umge-
anders. Die interne Überprüfung habe ergeben, dass die
setzt, und die Zeit wird vielleicht doch noch verbliebene
Reform der Bundespolizei im Großen und Ganzen gelun-
Wunden schon heilen.
gen sei. Wir kennen dieselben Fehleinschätzungen auch
von anderen Beispielen, etwa von Überprüfungen der Den Leser dieser Bewertung beschlichen von Anfang
Sicherheitsgesetze. Deshalb noch mal ganz klar: Über- an die Zweifel, dass so ein großes Projekt so problemlos
prüfung bedeutet nicht, dass sich das Bundesinnen- umgesetzt werden kann. Denn mit der Reform wurde
ministerium selbst bescheinigt, es sei alle Zeiten super. gleichzeitig dreierlei getan: Erstens wurde die Organi-
sation massiv umgekrempelt, es wurden Standorte ge-
Ich will hier nur die offensichtlichsten Mängel kurz nauso verändert wie die ganze Struktur und die Zustän-
auflisten. Erstens, die Präsenz der Bundespolizei in der digkeiten. Zweitens wurde die Leitung neu gestaltet und
Fläche ist ebenso wenig gesichert wie die Sicherheit an vom Ministerium in eine neue Oberbehörde verlegt –
Brennpunkten, seien es Flughäfen oder Bundesgrenzen das Bundespolizeipräsidium in Potsdam. Drittens wur-
im Süden und im Osten. Zweitens, es gibt einen eklatan- den die Ziele und Aufgaben teilweise neu definiert. Das
ten Widerspruch zwischen dem, was an Personal und hat zur Folge, dass eine große Zahl von Polizistinnen
Ausstattung nötig wäre, und dem, was an Personal und und Polizisten neue Aufgaben an einem neuen Ort über-
Ausstattung gewährt wird. Drittens, beide Diskrepan- nehmen müssen, dass Verwaltungsabläufe neu gestaltet
zen, die mangelnde Präsenz und die Unterausstattung, werden müssen, dass Stellen noch zu besetzen sind.
werden auf Kosten der Beschäftigten und zulasten ihrer
Familien übertüncht. Viertens, praktisch unbeantwortet Dass alles im Fluss ist, spiegelt sich auch in den vie-
ist auch die Frage, wie der Beruf einer Bundespolizistin len, vielen Zuschriften und Stellungnahmen, die wir In-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6949
Wolfgang Wieland
(A) nenpolitiker erhalten haben. Praktiker aus den Inspek- Holger Haibach (CDU/CSU): (C)
tionen und den Revieren haben eine sehr viel kritischere Das politische und wirtschaftliche Modell Kubas ist
Einschätzung als das Innenministerium. Sie klagen über nicht zukunftsfähig und dringend reformbedürftig. Zu
einen regelrechten Bürokratieverhau an Vorgaben, For- dieser Einsicht ist mittlerweile sogar die kubanische
mularen, zu sammelnden Kennzahlen, über unbesetzte Führung selbst gelangt und hat daher kürzlich beschlos-
Stellen und darüber, dass die Reform insgesamt dazu ge- sen, stärker auf marktwirtschaftliche Elemente im Wirt-
führt hat, dass mehr Zeit am Schreibtisch verbracht wird schaftssystem des Landes zu setzen. In vielen Bereichen
und darunter die eigentliche Kernaufgabe, nämlich Si- der Wirtschaft ist nunmehr privates Unternehmertum
cherheit zu schaffen, leidet. Nicht zuletzt leiden auch möglich, gleichzeitig wird die aufgeblähte Zahl der
viele Beamtinnen und Beamte unter der Reform, sei es Staatsbediensteten drastisch reduziert. Manche Kom-
durch Umzüge oder durch Überstunden. mentatoren sehen hierin bereits den Beginn einer kuba-
nischen Perestroika. Einzig die Fraktion Die Linke stellt
Dass es diese Probleme gibt, haben unisono alle sich gegen die Zeichen der Zeit und legt uns heute einen
Sachverständigen bestätigt, die wir im Juli im Innenaus- Antrag vor, der sich liest, als wären wir noch in den
schuss angehört haben. Immerhin hat diese Einstimmig- sechziger Jahren und als würde sich das kommunisti-
keit bei der Bundesregierung zu der Einsicht geführt, sche und planwirtschaftliche System Kubas immer noch
dass wohl doch nicht alles von alleine geht. Das räumen als eine ernsthafte Konkurrenz zu liberalem Rechtsstaat
die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag ja auch mehr und sozialer Marktwirtschaft in der Region präsentie-
oder weniger freimütig ein. ren. Das kubanische System ist aber von Grund auf ma-
rode und eine grundlegende Verbesserung der Beziehun-
Um die Probleme nun ehrlich angehen zu können, gen zwischen Europa und Kuba kann nur die Folge
braucht es aber nicht das, was die Koalition will, näm- tiefgreifender Reformen und einer Öffnung des Landes
lich mehr Selbstbeurteilung des Ministeriums. Das führt sein.
vielleicht zur Lösung der auffälligsten Probleme. Aber
es ist nicht der richtige Weg, um wirklich zu erfassen, wo Es ist ja richtig, dass sich Kuba bemüht, uns ein Stück
die Probleme stecken und wie die Lösung aussehen weit entgegenzukommen. So muss wohl jedenfalls die
könnte. Deswegen unterstützen wir die Forderung der Freilassung der in dem Antrag erwähnten 52 Dissiden-
SPD, wissenschaftlichen Sachverstand hinzuzuziehen, ten verstanden werden. An sich wäre diese Freilassung
um eine umfassende, professionelle Evaluierung durch- ja auch zu begrüßen, wenn ihre Begleitumstände nicht
zuführen. Das darf nicht nur heißen, dass jemand das so tragisch wären. Was die Kollegen von der Linksfrak-
BMI berät, wie es sich am besten selbst evaluiert. Es tion in ihrem Antrag unter den Tisch fallen lassen, ist
muss bedeuten: Sachverständige evaluieren Organisa- nämlich, dass diese 52 Dissidenten nicht einfach nur aus
(B)
tion und Praxis der Bundespolizeireform. Nur so lassen ihren Zellen entlassen wurden. Sie wurden vielmehr di- (D)
sich die Missstände wirklich angehen. rekt nach ihrer Freilassung nach Spanien abgeschoben
und ihnen wurde de facto die Staatsbürgerschaft entzo-
gen. Solange das kommunistische Regime in Kuba
Präsident Dr. Norbert Lammert: herrscht, werden diese Menschen ihre Heimat nicht wie-
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen dersehen können. Einen solchen Umgang mit unliebsa-
auf den Drucksachen 17/3068 und 17/3187 an die in der men Menschen durch eine kommunistische Diktatur ken-
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. nen wir Deutschen aus unserer eigenen Geschichte, und
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann er ist weder zu begrüßen, noch sollte er von uns oder der
ist die Überweisung so beschlossen. EU belohnt werden. Wir müssen vielmehr weiterhin auf
Kuba einwirken, alle politischen Gefangenen bedin-
Tagesordnungspunkt 21: gungslos freizulassen und das Regime zu demokrati-
schen Reformen ermutigen. Das ist auch kein Verstoß
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim gegen das völkerrechtliche Nichteinmischungsgebot,
Dağdelen, Jan van Aken, Christine Buchholz, wie es in dem Antrag behauptet wird. Das Eintreten für
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE die weltweite Durchsetzung von Demokratie und Men-
LINKE schenrechten sollte vielmehr eine Selbstverständlichkeit
Für eine Normalisierung der Beziehungen der für alle Demokraten sein, und ich dachte bisher auch,
Europäischen Union zu Kuba dass es in diesem Haus darüber einen breiten und stabi-
len Konsens zwischen allen Fraktionen gibt. Wenn es
– Drucksache 17/3188 – aber wirklich die Meinung der Fraktion der Linken ist,
dass die Forderung nach Demokratie und Freilassung
Überweisungsvorschlag:
von politischen Gefangenen in Kuba ein illegitimer Ein-
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe griff in die staatliche Souveränität des Landes ist, dann
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und wirft sie damit die aktive Menschenrechtspolitik um
Entwicklung vierzig Jahre zurück. Mit solchen Ansichten können Sie
im 21. Jahrhundert keine glaubhafte Außenpolitik mehr
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Holger betreiben.
Haibach, Dr. Egon Jüttner, Klaus Barthel, Marina Schuster,
Sevim Dağdelen und Hans-Christian Ströbele ihre Reden Auch die Beurteilung der Rolle Kubas in der regiona-
zu Protokoll. len Integration stellt das Ausmaß der Realitätsverweige-
6950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Holger Haibach
(A) rung der Antragsteller heraus. Es ist eben so, dass Die menschenrechtlichen, wirtschaftlichen und politi- (C)
zunehmend deutlich wird, dass die ALBA keine Organi- schen Rahmenbedingungen in Kuba lassen eine Norma-
sation ist, von der Wachstumsimpulse für ihre Mitglieder lisierung der Beziehungen nicht zu. Bei der aktuellen
ausgehen, wie das in der EU der Fall ist, sondern dass Lage der Presse in Kuba kann man nicht von einer Ein-
dies eine Organisation zur gemeinsamen Verwaltung des schränkung der Pressefreiheit sprechen. Bei einer zu
Mangels ist. Der Einfluss, den Kuba auf die Region zu 100 Prozent staatlichen Presse ist die Pressefreiheit
nehmen versucht, ist unter diesen Vorzeichen eher als nicht eingeschränkt, sondern es gibt schlicht und einfach
schädlich zu betrachten. Versuche der kubanischen Re- keine Pressefreiheit. Der Freiheitsgrad der Presse auf
gierung, ihr System in andere Staaten zu exportieren, Kuba liegt bei null. Die absolute staatliche Kontrolle er-
müssen zum Scheitern verurteilt sein. streckt sich auf sämtliche Presseorgane. Sie macht auch
vor dem Internet nicht halt. Die Behörden sperren nach
Vollends skurril wird die Argumentation des Antrags, wie vor den Zugang zu Internetseiten von Bloggern und
wenn es um die Forderung nach einer Freilassung der Journalisten, die der Regierung kritisch gegenüberste-
sogenannten Miami Five geht. Diese Menschen werden hen. Sobald regierungsabweichende Publikationen im
nicht „in der USA gefangen gehalten“, wie es hier ge- Internet erscheinen, werden die Urheber unwürdiger
schrieben steht. Sie wurden in einem rechtsstaatlichen Verfolgung ausgesetzt. Nach wie vor hindert die Ein-
Verfahren wegen Spionagetätigkeit und Beihilfe zum schränkung der Bewegungsfreiheit Journalisten, Men-
Mord zu Gefängnisstrafen verurteilt. Sie hatten einen schenrechtsverteidiger und politisch engagierte Bürger
unabhängigen Richter, frei gewählte Verteidiger und ein an der Ausübung rechtmäßiger und friedlicher Aktivitä-
faires Verfahren mit der Möglichkeit, gegen die Urteile ten.
in Berufung zu gehen. All dies sind Dinge, von denen die Es mag zwar sein, dass sich dank der Vermittlung des
in Kuba eingekerkerten Dissidenten nicht einmal zu spanischen Außenministers Moratinos und der katholi-
träumen wagen können. Irgendwelche Parallelen zwi- schen Kirche die Situation in den letzten Wochen und
schen den „Miami Five“ und den eingesperrten Dissi- Monaten etwas gebessert hat und über 50 politische Ge-
denten in Kuba zu ziehen, ist daher mehr als hanebü- fangene freigekommen sind. Man darf aber nicht verges-
chen und eine Verhöhnung derjenigen Kubaner, die sich sen: Die menschenrechtliche Situation im Jahre 2009
unter Einsatz ihrer persönlichen Freiheit und auch ihrer und in der ersten Jahreshälfte 2010 hat sich extrem ver-
Gesundheit für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in schlechtert. Ein Beispiel dafür ist der Tod des politi-
ihrem Land einsetzen. schen Gefangenen Orlando Zapata Tamayo. Er starb im
Februar dieses Jahres infolge eines Hungerstreiks.
Aus all diesen Gründen ist der Antrag abzulehnen.
(B) Kuba ist kein normales Land, sondern immer noch eine Natürlich begrüßen wir die Freilassung politischer (D)
Diktatur, in der Menschen, die die Regierung kritisieren, Gefangener. Es ist aber nicht so, dass die Freigelasse-
weggesperrt werden. Solange noch über 200 Menschen nen nun unbehelligt in Kuba leben können und dort frei
aus politischen Gründen in Kuba eingesperrt sind, so- ihre Meinung äußern dürfen. Nein, sie müssen vielmehr
lange Menschen wie Juan Carlos Herrera Acosta und ihr Land verlassen. Sie haben mehrheitlich in Spanien
die anderen Mitglieder der „Gruppe der 75“ in Haft Zuflucht gefunden.
bleiben, weil sie sich für Demokratie und Menschen-
rechte einsetzen, solange kann die EU ihre Beziehungen Ist es nicht bezeichnend, dass gerade die freigelasse-
zu Kuba nicht normalisieren. Es ist nur zu begrüßen, nen Dissidenten, die ihre Dankbarkeit gegenüber Spa-
nien durchaus zum Ausdruck gebracht haben, dennoch
dass sich die Bundesregierung entsprechenden Bestre-
deutlich klar gemacht haben, dass sie den Vorstoß der
bungen vonseiten mancher unserer Partner entschlossen
spanischen Regierung, die Beziehungen zu Kuba zu ent-
entgegenstellt. Der Gemeinsame Standpunkt der EU
spannen, strikt ablehnen? Sie haben sowohl Spanien als
muss daher bestehen bleiben.
auch die gesamte Europäische Union zu mehr Härte ge-
genüber Kuba aufgefordert. Auch uns ist es nicht ver-
Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU): ständlich, dass nun die Fraktion Die Linke eine Norma-
Mit ihrem Antrag möchte die Fraktion Die Linke er- lisierung der Beziehungen verlangt, während diese
reichen, die Beziehungen der Europäischen Union zu Dissidenten aus eigenem Erleben des Systems einen här-
Kuba zu normalisieren. Selbst wenn man die politische, teren Umgang mit dem kommunistischen Inselstaat for-
wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Kuba in den dern.
vergangenen Monaten mit viel Wohlwollen betrachtet, Eine Normalisierung der Beziehungen ist auch im
kann dem unter keinen Umständen zugestimmt werden. Hinblick auf das derzeitige Engagement der EU in Kuba
Eine Normalisierung der Beziehungen würde der aktuel- nicht erforderlich. Allein zwischen 1993 und 2003 hat die
len Lage in Kuba in keiner Weise gerecht werden: So sind Kommission 145 Millionen Euro an Hilfsmaßnahmen fi-
die bürgerlichen und politischen Rechte in Kuba weiter- nanziert, davon 90 Millionen Euro im humanitären Be-
hin stark eingeschränkt. Regierungskritiker werden nach reich. Im Jahre 2009 hat Kuba weitere 36 Millionen Euro
wie vor inhaftiert. Freigelassene Häftlinge berichten, für die Bereiche Wiederaufbau, Grundversorgung mit
dass sie während der Haft geschlagen worden seien. Ein- Nahrungsmitteln, Umwelt und Klima sowie Management
schränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Kultur erhalten. Und schließlich hat die Europäische
sind an der Tagesordnung. Das Recht auf Vereinigungs- Kommission erst kürzlich 20 Millionen Euro für 2011 bis
und Versammlungsfreiheit ist stark beschnitten. 2013 im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit in

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6951
Dr. Egon Jüttner
(A) Aussicht gestellt. Hinzu kommt noch Soforthilfe, um auf Der Gemeinsame Standpunkt zu Kuba ist jetzt (C)
Notlagen durch Hurrikane zu reagieren. Man kann des- 14 Jahre alt und war damals von aktuellen Entwicklun-
halb nicht behaupten, die Europäische Union und ihre gen geprägt, vor allem von einer Zuspitzung wirtschaft-
Mitgliedstaaten sähen weg, wenn es um das Leiden der licher Probleme, von Konflikten und staatlichem Druck
kubanischen Bevölkerung geht. in Kuba, aber auch von Stimmungen und Strömungen
neuer Mehrheiten und neuer Regierungen in der EU, die
Wir halten den im Jahre 1996 festgelegten „Gemein- ein außenpolitisches Profil suchten. Die Frage, ob der
samen Standpunkt“ der EU weiterhin für richtig. Das europäische Standpunkt damals, 1996, angemessen war,
heißt: Kuba muss die Menschenrechte wahren, bevor ein kann aber heute offen bleiben.
direkter Dialog mit seiner Regierung eröffnet wird. Von
einem politischen oder gar von menschenrechtlichem Heute besteht eine andere Situation. Selbst die USA
„Tauwetter“ auf Kuba zu sprechen, halten wir für ver- überprüfen ihre Blockadepolitik. Eine Blockade übri-
fehlt. Über eine Normalisierung nachdenken können wir gens, die bei sämtlichen UN-Vollversammlungen fast
erst, wenn diese fundamentalen Bedingungen erfüllt einstimmig, mit den Stimmen einzelner EU-Mitglied-
sind. Der „Gemeinsame Standpunkt“ verstößt entgegen staaten, immer wieder verurteilt wurde, über die aber im
der Behauptung der Linken in dem Antrag auch nicht Gemeinsamen Standpunkt nichts zu lesen ist. Auch die
gegen das Nichteinmischungsverbot der Charta der Ver- Entwicklung in Kuba selbst muss man zur Kenntnis neh-
einten Nationen. Es ist legitim, an eine enge politische men. Alle Hoffnungen bzw. Befürchtungen, man könne
und wirtschaftliche Kooperation Bedingungen zu knüp- durch äußeren Druck, durch wirtschaftlichen Boykott,
fen. Nichts anderes macht der „Gemeinsame Stand- durch außenpolitische Isolierung, durch Einmischung
punkt“ aus dem Jahre 1996 mit seiner Forderung an die von außen einen Systemwechsel herbeiführen, sind ge-
kubanische Seite, die Menschenrechte zu achten. scheitert, auch nach weiteren 14 Jahren EU-Sanktionen.
Die Freilassung von 52 Gefangenen ist vor allem auf ei-
Der Vergleich mit den Beziehungen der Europäischen nen innerkubanischen Dialog unter Beteiligung der ka-
Union zu anderen lateinamerikanischen Ländern wie tholischen Kirche zurückzuführen, bei dem die spani-
Mexiko oder Kolumbien, den die Fraktion Die Linke in sche Regierung hilfreich vermitteln konnte. Die
ihrem Antrag aufstellt, kann so nicht hingenommen wer- kubanische Regierung selbst setzt wirtschaftliche Refor-
den. Meine Damen und Herren von den Linken, Sie las- men in Gang. Kuba wächst schließlich mehr und mehr in
sen dabei außer Acht, dass die staatliche Integrität die- die Staatengemeinschaft Lateinamerikas hinein. Längst
ser Länder durch Drogenkartelle und terroristische ist die Isolation in dieser Region durchbrochen und ei-
Organisationen ernsthaft gefährdet wird. Gerade Ko- ner Integration in regionale Bündnisse gewichen.
lumbien sieht sich seit Jahren mit einer terroristischen
(B) Organisation konfrontiert, die eine ernsthafte Bedro- Der uns vorliegende Antrag der Linksfraktion fordert (D)
hung für den Staat darstellt. Dennoch befinden sich daher zu Recht eine Korrektur der europäischen Kuba-
diese Länder auf einem guten Weg und sind im Unter- Politik und weist damit in die richtige Richtung. Auch
schied zu Kuba bemüht, trotz erheblicher Bedrohungen wir kritisieren die Haltung der Bundesregierung, entge-
freie Wahlen abzuhalten. Die Situation in Kuba ist doch gen den Bestrebungen Spaniens und anderer Mitglieds-
wirklich eine völlig andere. Dort regiert eine Partei, und länder am bestehenden Standpunkt festzuhalten. Das ist
wer sich ihrem Diktat nicht beugt, der ist nicht hinnehm- plumpe Kalte-Krieg-Mentalität, die belegt, dass CDU
baren, menschenverachtenden Einschränkungen ausge- und CSU rechtskonservatives Lagerdenken noch lange
setzt. nicht überwunden haben. So kann man aber keine inter-
nationale Politik machen. Und, ganz nebenbei, Außen-
Eine Normalisierung der Beziehungen, wie sie in dem minister Westerwelle kann seine Lateinamerika-Strate-
Antrag gefordert wird, wäre deshalb unseres Erachtens gie damit gleich wieder vergessen.
ein falsches Signal an die kubanische Führung.
Die Menschen, die sozialen Bewegungen und die Re-
Wir werden dem Antrag der Linken nicht zustimmen.
gierungen in der gesamten Region haben genug davon,
von den USA oder Europa gesagt zu bekommen, was sie
Klaus Barthel (SPD): zu tun und zu lassen haben. Dialog, Bi- und Multilatera-
Kaum ein Land erhitzt seit über 50 Jahren weltweit lität, gleiche Augenhöhe – das wird heute von uns er-
die Gemüter so wie Kuba. Für Freund und Feind übt die wartet. Das heißt nicht, dass wir kritikwürdige Zustände
Insel eine besondere Faszination aus. Dies ist nicht die nicht kritisieren dürfen oder dass wir Verstöße gegen
Stelle, das zu analysieren und sich in die Ursachen zu Demokratie und Menschenrechte einfach hinnehmen
vertiefen. oder verschweigen dürfen. Das gilt dann aber auch für
alle Länder, nicht nur für Kuba.
Auch die EU – sonst in vielen Fragen der internatio-
nalen Politik durchaus differenziert aufgestellt – hat es Insoweit können wir der Intention des Antrags folgen.
für nötig befunden, zu Kuba einen „Gemeinsamen Zweifel können erlaubt sein, ob es realistisch ist, die
Standpunkt“ zu formulieren. Das ist durchaus eine be- Aufhebung des Gemeinsamen Standpunktes zu fordern.
sondere Ehre für so ein kleines Land in weiter Ferne. Erstens würde der geforderte bilaterale Ansatz ja eben-
Aus europäischer Sicht wäre es sicher wünschenswert, falls einen Gemeinsamen Standpunkt erfordern, zwar ei-
für wichtigere Fragen in der internationalen Politik ei- nen anderen, einen überarbeiteten, aber eben doch ei-
nen Gemeinsamen Standpunkt zu entwickeln und umzu- nen solchen Standpunkt. Zweitens wäre es schon ein
setzen. großer Fortschritt, wenn der künftige EU-Standpunkt

Zu Protokoll gegebene Reden


6952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Klaus Barthel
(A) wenigstens eine Öffnung zugunsten eigener Aktivitäten jeder zehnte staatlich Beschäftigte. Begründet werden (C)
und Beziehungen der Mitgliedstaaten enthielte – was beide Maßnahmen mit einer Stärkung der Planwirt-
ohnehin der Realität entspräche. Dann würde sich sehr schaft. Da tun sich mir einige große Fragezeichen auf,
schnell eine neue Dynamik in den Beziehungen von EU- denn unter anderem ist doch auch die sozialistische
Mitgliedstaaten zu Kuba entwickeln. Wir begrüßen es Planwirtschaft ein Grund für die wirtschaftliche Misere.
auch, dass die Linksfraktion – meines Wissens erst-
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion,
malig – von „inhaftierten Dissidenten in Kuba“ spricht,
neben dieser offensichtlichen Widersprüchlichkeit der
ein Stück mehr Realismus auch an dieser Stelle.
kubanischen Wirtschaftspolitik wird doch eines wieder
Was Punkt I.7 bzw. II.4 des Antrags betrifft, kann man einmal offensichtlich: Ihre Doppelstandards in Ihrer
zwar dem Wunsch nach Freilassung der „Miami Five“ Menschenrechtspolitik. Sie kritisieren zum Beispiel die
folgen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, was das Vereinigten Staaten von Amerika für deren Hilfsmaßnah-
mit der Korrektur des europäischen Standpunktes zu tun men nach der Erdbebenkatastrophe auf Haiti. Aber dass
haben soll. Vieles wäre einfacher, wenn die Linke bei be- man mal ein Wort der Kritik hört, wie die kubanischen
rechtigten Anliegen darauf verzichten würde, das Anlie- Verantwortlichen mit Regimekritikern und Menschen-
gen selbst durch parteipolitische Profilierungssucht zu rechtsverteidigern umgehen, dazu kommt dann nicht
belasten. viel. Sie begrüßen in Ihrem Antrag, dass die kubanische
Regierung inhaftierte Dissidenten freigelassen hat, und
Vielleicht gibt es ja im Zuge der Beratungen noch hier das ist auch richtig so. Aber Sie verurteilen nicht, dass
und da ein Einsehen. Gespannt bin ich vor allem darauf, diese Menschen wegen ihrer politischen und gesell-
wie die Koalitionsfraktionen zur Haltung der Bundes- schaftlichen Kritik überhaupt in Haft saßen. Politische
regierung stehen und ob letztlich Kanzleramt oder Gefangene gehören leider zum System auf Kuba, und
Außenministerium die Kubapolitik bestimmen – oder das ist entschieden zu verurteilen.
vielleicht das Parlament. Es könnte dem Deutschen Bun-
destag als Ganzem gut anstehen, ein deutliches Signal Vor allem hört man dann oft von Ihnen: Ja, dafür hat
nach Brüssel zu senden und damit von seinen neuen Kuba aber gute Lehrer und Ärzte. – Das mag ja so sein,
Rechten in der europäischen Politik Gebrauch zu ma- nur heißt das doch nicht, dass man deswegen auf Mei-
chen. nungsfreiheit und auf die Gewährung von Menschen-
rechten verzichten kann.
Marina Schuster (FDP): Zudem möchte ich, dass wir uns als Parlamentarier
Betrachtet man die gesellschaftspolitische Lage auf die jüngsten Freilassungen genau ansehen. Und ich
Kuba, muss man nüchtern feststellen: möchte einen Punkt zu bedenken geben: Die Freilassung
(B) von Oppositionellen, um sie dann nach Spanien zu drän- (D)
Der Sozialismus unter Palmen ist endgültig geschei- gen, um sich damit quasi der lästigen Opposition zu ent-
tert. Zu diesem Schluss ist selbst Fidel Castro gekommen ledigen, ist keine echte Freilassung. Mit einer Freilas-
und gibt offen zu, dass der kubanische Sozialismus nicht sung, die wahren Willen zur Versöhnung zeigt und den
mal mehr auf Kuba funktioniert. Ich zitiere: „Das kuba- Weg für Reformen ebnet, hat das nicht viel zu tun. Mit
nische Modell funktioniert nicht einmal mehr bei uns.“ „Freilassung“ meine ich echte Freilassung aller politi-
Zitatende. Diese Erkenntnis ist ebenso richtig wie längst schen Häftlinge. Die Freiheit darf nicht an Bedingungen
überfällig. geknüpft werden. Es darf nicht sein, dass die Regierung
von Raul Castro die Dissidenten vor die Wahl „Gefäng-
Schauen wir uns die Tatsachen an: In Kuba nimmt
nis oder Exil“ stellt. Es darf nicht sein, dass die Men-
der Staat eine zu große Rolle im Wirtschaftsleben ein. So
schen nur deswegen ihre Freiheit zurückerhalten, weil
kontrolliert der Staat mehr als 95 Prozent der Wirtschaft
sie danach nicht mehr in ihrem Heimatland am Erstar-
und zahlt den Arbeitern einen Lohn von etwa 20 Dollar
ken der kritischen Stimmen in der Zivilgesellschaft teil-
pro Monat. Die immer mal wieder angekündigten wirt-
nehmen können.
schaftlichen Reformen müssen nun endlich auch ange-
packt und in die Tat umgesetzt werden. Kuba ist durch Ich erwarte, dass das kubanische Regime endlich Re-
die Weltwirtschaftskrise und Unwetterkatastrophen, formen für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
aber auch durch Korruption und sozialistische Miss- einleitet, die der kubanischen Bevölkerung zugutekom-
wirtschaft in eine schwere Krise geraten. Das Land men, und aufhört, die Menschenrechte zu verletzen.
muss unter anderem Lebensmittel für umgerechnet über
1 Milliarde Euro importieren. Und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, sollten endlich aufwachen und der Reali-
Die Pläne zur Aufweichung der Planwirtschaft, in- tät ins Auge sehen, statt auf dem linken Auge blind zu
dem in 178 verschiedenen Bereichen Kubaner künftig sein. Ihre Gesamtposition gegenüber Kuba ist unausge-
selbstständig werden können, sind begrüßenswert. Je- wogen und einseitig. Denn wir müssen unseren Blick
doch müssen wir sehen, dass sie auch aus der Not ge- auch werfen auf die desolate Lage der Menschenrechte,
wachsen sind: Damit muss auch die angekündigte Ent- den Druck auf Dissidenten, die rechtswidrige Inhaftie-
lassungswelle im Staatsdienst abgefedert werden; und rung der politisch Andersdenkenden, deren inhumane
was diese bedeutet, zeigen folgende Zahlen: Nach den Behandlung in den Gefängnissen und die Übergriffe auf
Plänen der Regierung verlieren in den ersten drei Mona- deren Familienangehörige. Die FDP wird nicht zulas-
ten des kommenden Jahres rund 500 000 Angestellte aus sen, dass man dies außer Augen lässt. Uns geht es da-
unproduktiven staatlichen Betrieben ihren Job – das ist rum, Kuba auf dem Weg in eine freie, demokratische Zu-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6953
Marina Schuster
(A) kunft zu unterstützen, um das Leid der kubanischen mittlerweile die Diskussion um eine solche trilaterale (C)
Bevölkerung endlich zu beenden. Kooperation auch in der EU-Kommission angekommen
ist. Millionen Menschen könnten davon profitieren,
Sevim Dağdelen (DIE LINKE): wenn ich zum Beispiel an die äußerst effektiven kubani-
schen Alphabetisierungsprogramme und die Augenbe-
Die geografische Nähe Kubas zu den USA hat für den
handlungen durch kubanische Ärzte in vielen Ländern
Inselstaat bislang wenig Gutes bedeutet. Doch auch die
geografische Ferne der EU und der Bundesrepublik Lateinamerikas denke.
Deutschland hat nicht gerade zu einer rationaleren Be- Doch statt dem Beispiel Norwegens zu folgen, ver-
ziehung geführt. Dafür wäre es notwendig, dass die sucht die Bundesregierung, Kuba in altbekannter Art
Sanktionen der EU nicht nur ausgesetzt, sondern end- und Weise zu diskreditieren. Und sie versucht, die sich in
gültig aufgehoben werden. Der Gemeinsame Standpunkt vielen EU-Mitgliedstaaten im Sinne einer Aufhebung
der EU zu Kuba, der nach wie vor gültige Grundlage der des Gemeinsamen Standpunktes ändernde Haltung ge-
Politik der EU gegenüber Kuba ist, muss endlich aufge- genüber Kuba zu blockieren.
geben und durch einen neuen Ansatz ersetzt werden. Die
Zeichen stehen gut. Denn die spanische Regierung drängt Vorgeschobener Grund für diese negative Haltung
nach der Freilassung von 53 Inhaftierten auf Kuba vehe- gegen Kuba ist die heuchlerische und selektive Behand-
menter auf eine Abschaffung des Gemeinsamen Stand- lung der Menschenrechte. Das haben wir erst kürzlich
punktes. Seit 1996 verknüpft der Gemeinsame Stand- wieder erlebt, als die Bundesregierung ihr neues Latein-
punkt die Bereitschaft der EU zur politischen und amerika-Konzept vorgestellt hat. Als einziges Land mit
wirtschaftlichen Kooperation mit Kuba ausdrücklich mit problematischer Menschenrechtslage wird dort Kuba
dem Ziel eines Systemwechsels. Die, die an diesem Ge- explizit genannt. Honduras, wo vor anderthalb Jahren
meinsamen Standpunkt festhalten, wollen, dass Kuba ein Militärputsch stattgefunden hat, wo seither Hun-
seine Suche nach einem eigenständigen Entwicklungs- derte Menschen ermordet, Tausende willkürlich verhaf-
weg, nach einer Alternative zum profitorientierten tet und teilweise schwerer Gewalt ausgesetzt worden
Gesellschaftsmodell aufgibt. Für die Linke ist die ag- waren; Kolumbien, wo weltweit die meisten Gewerk-
gressive politische Intervention, die im Gemeinsamen schafter ermordet und Menschenrechtsverteidiger jeden
Standpunkt zum Ausdruck kommt, keine akzeptable Tag bedroht werden, wo extralegale Hinrichtungen an
Grundlage für eine Zusammenarbeit. der Tagesordnung sind und nicht geahndet werden; oder
Bisher konnte Kuba seine Souveränität gegen vielfäl- Mexiko, wo die tödliche Gewalt zum Alltag für Millionen
tige Widerstände verteidigen. Und das ist gut so. Aufge- geworden ist – diese Länder werden nicht kritisch er-
ben würde Kuba mit einem Systemwechsel seine für die wähnt. Im Gegenteil: Sie sind Partner der deutschen La-
(B)
meisten Länder der sogenannten Dritten Welt beispiel- teinamerika-Politik gegen den sozialen Aufbruch, der (D)
haften Errungenschaften auf dem Gebiet des Bildungs-, sich derzeit in Lateinamerika vollzieht. So war es nach
Sozial- und Gesundheitswesens. Diese Errungenschaf- der FDP-Unterstützung für den Putsch in Honduras be-
ten hat es trotz US-Embargo und gravierender wirt- sonders bemerkenswert, dass sich die Bundesregierung
schaftlicher Schwierigkeiten bis heute aufrechterhalten. im Gegensatz zu Spanien, Frankreich und anderen Staa-
An den Errungenschaften des kubanischen Bildungs- ten zu dem letzte Woche in Ecuador stattgefundenen
und Gesundheitswesens hat nicht nur die kubanische Putschversuch gegen den demokratisch gewählten Prä-
Bevölkerung teil. So wurde durch das seit Dezember sidenten Rafael Correa erst nach dem Scheitern des Put-
1998 andauernde Engagement medizinischer Fach- sches erklärte. Diese Erklärung beinhaltete aber noch
kräfte aus Kuba in vielen haitianischen Gemeinden erst- nicht einmal eine eindeutige Verurteilung des Putsch-
mals ein Zugang zu medizinischer Versorgung ermög- versuchs.
licht.
Wer Menschenrechte sagt und Rohstoffe wie in
Diese Hilfe kam der Bevölkerung Haitis zuletzt bei Afghanistan und im Südsudan meint, wer politische
der Erdbebenkatastrophe zugute. Diese einmalige, Rechte für Bürgerinnen und Bürger in anderen Staaten
schnelle und unbürokratische Solidarität ist es, die Ku- einfordert und Menschen in Länder abschiebt, in denen
bas Ansehen insbesondere in den Ländern des Trikont ihnen Folter droht, wer zur Flüchtlingsabwehr mit Regi-
ausmacht und die darüber hinaus gute Anknüpfungs- men wie in Libyen kooperiert, wer Meinungsfreiheit an-
punkte für die Kooperation mit Kuba bietet – im Sinne derswo einklagt und mit Lügen Angriffskriege führt oder
einer trilateralen Kooperation, von der ärmere Dritt- vorbereitet, der verwandelt den Kampf um Menschen-
staaten wie Haiti profitieren könnten. Leider wurde der rechte in ein Instrument von Sozialraub, Krieg und im-
Appell des damaligen kubanischen Präsidenten Fidel perialer Politik. Menschenrechte sind nur dann von
Castro von 1998 an die Industriestaaten, das kubanische Dauer, wenn sie auf einer Wirtschafts- und Sozialord-
Engagement in Haiti mit eigenen Beiträgen wie der Be- nung beruhen, die die strukturellen Ursachen der an-
reitstellung von Medizintechnik, Material und Medika- dauernden Menschenrechtsverletzungen beseitigen.
menten zu unterstützen, seinerzeit nicht aufgegriffen.
Die Linke begrüßt aber sehr, dass Ende Januar 2010 die Wie Venezuela ist auch Kuba ein wichtiger Motor des
norwegische Regierung ein Abkommen mit Kuba unter- sozialen Wandels und der lateinamerikanischen Integra-
zeichnete, demzufolge Norwegen die Arbeit der kubani- tion und leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur
schen Ärztinnen und Ärzte in Haiti mit knapp Durchsetzung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller
900 000 US-Dollar unterstützt. Und wir begrüßen, dass Menschenrechte.

Zu Protokoll gegebene Reden


6954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Sevim Dağdelen
Daðdelen
(A) Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich in- 1996 aufgehoben wird. Der Antrag geht von unzutreffen- (C)
nerhalb der Europäischen Union dafür einzusetzen, end- den Voraussetzungen aus. Ziel dieses Standpunktes war
lich den Gemeinsamen Standpunkt zu Kuba aufzuheben explizit, „einen Prozess des Übergangs in eine pluralis-
und diesen durch einen bilateralen Ansatz zu ersetzen. tische Demokratie und die Achtung der Menschenrechte
Es sollen Verhandlungen mit Kuba über ein Koopera- und Grundfreiheiten sowie eine nachhaltige Erholung
tionsabkommen eingeleitet werden, die gleichberechtigt, und Verbesserung des Lebensstandards der kubanischen
ohne Vorbedingungen und mit vollständigem Respekt für Bevölkerung“ zu erreichen. Es ging also um die Intensi-
die Souveränität der beteiligten Partner und das Nicht- vierung eines Dialoges vor allem zur Förderung der
einmischungsgebot der VN-Charta geführt werden. Achtung der Menschenrechte, insbesondere des Rechts
Auch sollte die Bundesregierung mit der kubanischen auf freie Meinungsäußerung. Von einem „Systemwech-
Regierung ohne Vorbedingungen Gespräche über Ent- sel“ ist keine Rede. Zwangsmaßnahmen wurden aus-
wicklungszusammenarbeit aufnehmen und dabei auch drücklich ausgeschlossen. Unter Berücksichtigung der
die Möglichkeit trilateraler Zusammenarbeit zugunsten Entwicklung in Kuba und der massiven Kritik interna-
Dritter erörtern. tionaler Organisationen wie Amnesty International an
den skandalösen Menschenrechtsverletzungen dort wie
Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung gegen- der Inhaftierung von Dutzenden sogenannter Dissiden-
über der Regierung der USA dafür einsetzt, dass diese ten und gar der Hinrichtung von drei Flüchtlingen im
eine ähnliche humanitäre Geste zeigt, wie dies Kuba mit Jahr 2003 ist diese Forderung nach wie vor aktuell.
der Freilassung der 53 Inhaftierten getan hat, damit die Auch nach der Freilassung von 52 Inhaftierten befinden
seit 1998 in den USA inhaftierten und als „Miami Five“ sich noch zahlreiche „Dissidenten“ im Gefängnis, die
bekannt gewordenen kubanischen Gefangenen Antonio Meinungsfreiheit ist nicht gewahrt und freie politische
Guerrero Rodríguez, Fernando González Llort, Gerardo Betätigung ist nicht möglich.
Hernández Nordelo, Ramón Labañino Salazar und René
González Sehwerert freigelassen werden. Bis zu dem Die Kritik und die Forderung nach der Achtung der
Zeitpunkt ihrer Freilassung muss die Bundesregierung Menschenrechte verstoßen auch nicht gegen ein Gebot
humanitäres Handeln der US-Regierung einfordern. der Nichteinmischung. Die Vereinten Nationen haben in
Dazu zählt, dass die Ehefrauen der kubanischen Inhaf- Resolutionen immer wieder festgestellt, dass es eine Ver-
tierten Besuchsrecht erhalten. antwortung aller Staaten für die Wahrung der Men-
schenrechte auch in anderen Staaten gibt und die Souve-
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ränität eines Staates und das Nichteinmischungsgebot
NEN): dem keineswegs entgegenstehen. Das Argument kann
Mein ganzes politisches Leben lang stand ich auf der die Antrag stellende Fraktion auch nicht ernsthaft vor-
(B) Seite Kubas, wenn es darum ging, Versuche des mächti- bringen. Damit widerspricht sie eigenen Anträgen etwa (D)
gen Nachbarn USA abzuwehren, Kuba mit militärischer zur Menschenrechtssituation in Kolumbien oder im
Gewalt, Mord und Totschlag oder Wirtschaftsboykott in Gaza-Streifen. In diesen hat sie selbst die Einmischung
die Knie zu zwingen. Das sehe ich auch heute nicht an- Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft in
ders, zumal das Embargo der USA und die Bedrohung die Belange anderer Staaten zur Wiederherstellung und
Kubas ja andauern. Aber Solidarität mit Kuba heißt Wahrung von Menschenrechten befürwortet und gefor-
doch nicht, Menschenrechtsverletzungen und Misswirt- dert.
schaft zu übersehen und totzuschweigen. Vielmehr ge- Die Forderung nach der Achtung der Menschen-
hört es dazu, solche Missstände zu kritisieren und sich rechte und der politischen Freiheitsrechte bleibt von
für die einzusetzen, die wegen ihrer Kritik in Gefäng- zentraler Bedeutung. Die Verletzung dieser Rechte kann
nisse gesteckt wurden und werden. Dies gilt unabhängig auch nicht durch eine Bedrohungslage gerechtfertigt
davon, dass Kuba seit Jahrzehnten unter der massiven werden. Zusammenarbeit und kritischer Dialog – auch
Bedrohung von außen, unter Boykott und Blockade lei- bilateral – sind jetzt die richtige Option, wie es auch der
det. Entwicklungsausschuss des EU-Parlaments gefordert
Aus Kuba hören wir jetzt Bemerkenswertes. Fidel hatte. Dabei sind die Entwicklungen in der Region und
Castro verurteilt die frühere Verfolgung von Homosexu- die bilateralen Kooperationserfahrungen Frankreichs
ellen im Land und kritisiert das alte verkrustete Wirt- und Spaniens von Bedeutung. Ein Einwirken der EU auf
schaftssystem scharf, das nicht mehr in der Lage sei, den die USA für ein Ende der Embargo-Politik wäre eine
Lebensstandard der Bevölkerung zu sichern. Aber die wichtige Unterstützung. Der EU-Rat hat sich bei Ver-
Verletzungen von Menschenrechten sind nicht nur dann besserungen im Menschenrechtsbereich auch zum Dia-
Menschenrechtsverletzungen, und Missstände der Wirt- log bereit erklärt. Die Entlassung und Ausreise eines
schaft nicht erst dann zu kritisieren, wenn der ehemalige großen Teiles der Inhaftierten ist ein erster wichtiger
Präsident Kubas dies öffentlich eingesteht. Schritt zur Wahrung der Menschenrechte.

Damit gibt er den Kritikern im eigenen Land, die für Eine Politik der Entspannung kann eher zu einer
solche Äußerungen verfolgt wurden und im Gefängnis Demokratisierung der Verbesserung der Menschen-
leiden, ebenso wie internationalen Menschenrechtsor- rechtslage beitragen, als Kuba zu isolieren. Das waren
ganisationen und auch der Europäischen Union recht. auch die deutschen Erfahrungen vor der Wende. Vor-
dringlichste Aufgabe der EU und bilateral muss sein,
Mit dem vorliegenden Antrag soll erreicht werden, auf allen Ebenen vorbehaltlos alle Möglichkeiten und
dass der „gemeinsame Standpunkt“ der EU zu Kuba von Gespräche mit Regierungsstellen und Sektoren der Ge-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6955
Hans-Christian Ströbele
(A) sellschaft für Bemühungen zur sofortigen Freilassung Dabei geht es ihnen weder um die Sache noch ernst- (C)
der übrigen Dissidenten zu nutzen. lich um Inhalte oder Personen. Sie wollen lediglich tak-
tisch motivierte Spielchen spielen, um Sand ins Getriebe
Zur Unteilbarkeit der Forderung nach der Achtung
einer Sache zu streuen, die ihnen ideologisch verhasst
der Menschenrechte gehört auch der Einsatz für die
ist.
Freilassung der sogenannten Miami Five aus US-Ge-
fängnissen. Rechtsstaatliche Haftbedingungen, wozu Davon werden wir uns nicht beeindrucken lassen. Wir
auch die Besuchsmöglichkeiten für die Ehefrauen gehö- unternehmen alles, um der Stiftung nun ein rasches Be-
ren, sind unerlässlich. Richtig ist deshalb die Aufforde- ginnen ihrer Arbeit zu ermöglichen, damit der Zweck des
rung des Parlaments an die Bundesregierung, sich bei Ganzen erfüllt wird: Versöhnung unter den Völkern dau-
der EU einzusetzen auch dafür, dass diese auch mit die- erhaft herzustellen.
sem Ziel tätig wird.
In der Hoffnung, dies zu erreichen und alle Be-
Wir verkennen nicht, dass auch in anderen Staaten denkenträger endgültig von der Sinnhaftigkeit des ver-
Lateinamerikas schlimmste Menschenrechtsverletzun- dienstvollen Unterfangens zu überzeugen, möchte ich
gen begangen wurden und werden, häufig mit viel mehr noch einmal den Sachverhalt beschreiben, der zur Stif-
Opfern und Leiden der Bevölkerung, etwa in Kolumbien tungsgründung führte.
oder Mexiko. Wir haben deshalb auch Anträge im Bun-
destag eingebracht, die die Bundesregierung auffor- In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut-
dern, sich etwa in Kolumbien und Venezuela für die Ein- sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem-
haltung dieser Rechte einzusetzen. Aber gerade weil ber 2006 wurde die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Ver-
Kuba das Land in Lateinamerika ist, an das ich selbst söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
lange Zeit hohe Erwartungen und Hoffnungen gesetzt Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
hatte und partiell noch setze und auf das noch heute Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
viele Völker Lateinamerikas hoffnungsvoll schauen, ist die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations-
es so wichtig, nicht nachzulassen und die Einhaltung der und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Menschenrechte und der politischen Rechte gerade dort Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
immer wieder einzufordern. Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
Präsident Dr. Norbert Lammert:
ihrer Folgen wachzuhalten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3188 an die in der Tagesordnung aufge- Die bisherige Stiftungsarbeit hatte indes gezeigt, dass
(B) führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Einwände sind die Komplexität der Aufgabenstellung und des Mei- (D)
nicht erkennbar. Dann ist das so beschlossen. nungsspektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates
und eine Modifizierung des Berufungsverfahrens für den
Tagesordnungspunkt 22:
Stiftungsrat angezeigt erscheinen ließen.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Claudia
Roth (Augsburg), Volker Beck (Köln), Agnes Die zentrale Neuerung der im Mai verabschiedeten
Krumwiede, weiterer Abgeordneter und der Frak- Novelle ist, die Berufung der Mitglieder in den Stiftungs-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rat fortan dem Bundestag zu übertragen, also der Legis-
lativen, statt sie wie bisher der Exekutiven anheimzustel-
Stiftungszweck der Stiftung Flucht, Vertrei- len. Dies verbreitert die Entscheidungsbasis erheblich
bung, Versöhnung erfüllen und objektiviert den Berufungsprozess.
– Drucksache 17/3064 – Auch die Einbeziehung verschiedener Gruppen wie
Überweisungsvorschlag: etwa der Kirchen und des Zentralrats der Juden bürgt
Ausschuss für Kultur und Medien (f) für Offenheit und Pluralität der gesamten Stiftungs-
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
arbeit.
Haushaltsausschuss
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja gewollte
Strobl, Klaus Brähmig, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, Lars Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlossen. Und
Lindemann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Claudia Roth genau das ist die Absicht der von uns erarbeiteten Neu-
ihre Reden zu Protokoll. zusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung.“
Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU): Noch einmal: Keine qualitativ-inhaltlichen Änderun-
Zum dritten Mal ergreife ich in dieser Legislatur- gen zur ersten Fassung des Gesetzes von 2008 waren be-
periode das Wort, um auf die Stiftung „Flucht, Vertrei- absichtigt. Bei der im Mittelpunkt der Novelle stehenden
bung, Versöhnung“ einzugehen. Dies ist nötig, weil unselbstständigen Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
Gegner der Stiftung nach wie vor den Stiftungszweck be- söhnung“ ist es um rein organisatorische, also formale
zweifeln, ohne dies wirklich begründen zu können. Ins- Änderungen gegangen. Beispielsweise hat sich der Stif-
besondere die Grünen, von denen der Antrag stammt, tungsrat von 13 auf 21 Mitglieder erhöht, und auch dem
über den wir heute diskutieren, suchen mit notorischer wissenschaftlichen Beraterkreis gehören nun mehr Per-
Penetranz angebliche Haare in der Suppe des Projekts sonen an, nämlich bis zu 15, statt bis zu 9 wie bisher. Da-
Aufarbeitung der Vertriebenengeschichte. durch ist die gewünschte Verbreiterung des wissen-
6956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Thomas Strobl (Heilbronn)


(A) schaftlichen Spektrums erreicht worden, insbesondere des nationalsozialistischen Deutschland und das gren- (C)
auch mit Blick auf eine internationale Besetzung. zenlose Leid, das dadurch über Europa gekommen ist.
Mein tiefes Mitgefühl gilt diesen Opfern.“ Die BdV-Prä-
Für die Aufnahme weiterer Gruppen, wie nun von den sidentin hat außerdem beim Jubiläum 60 Jahre Charta
Grünen gefordert, besteht kein Anlass. der Heimatvertriebenen betont, dass vom Nationalsozia-
Der oberste Stiftungszweck Versöhnung wird nach lismus geprägtes oder extremistisches Gedankengut nie-
meiner festen Überzeugung bei den gegebenen Verhält- mals Eingang in ihre Verbandspolitik gefunden habe.
nissen in bestmöglicher Form erreicht. Wir sollten die Trotzdem versucht die Linke, mit unsäglichen Nazi-Ver-
Stiftung deshalb nun ihre Arbeit tun, ihr Versöhnungs- gleichen Erika Steinbach in die rechte Ecke zu stellen.
werk vollbringen lassen, ohne ständig stets von neuem Wieder wird völlig vergessen, dass Frau Steinbach es
Details der Ausgestaltung zu hinterfragen. Das wäre war, die den Bund der Vertriebenen in die Mitte der Ge-
nicht zielführend und dem hehren Zweck der Stiftung sellschaft gebracht und in der Eigentumsfrage eine Null-
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in keiner Weise an- lösung propagiert hat. Ich weise deshalb nochmals sol-
gemessen. che Diffamierungen auf das Schärfste zurück!
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Klaus Brähmig (CDU/CSU): Grünen zielt nun in dieselbe Richtung wie ein Ände-
Das 20. Jahrhundert könnte zukünftig als das „Jahr- rungsantrag der Linken im Kulturausschuss des Bundes-
hundert der Vertreibungen“ in die Geschichtsbücher tages: Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
eingehen. An seinem Beginn stand der Genozid an den soll keinen „Neustart“ hinlegen – die Bundesvertriebe-
Armeniern durch die Türken 1915, an seinem Ende stan- nenstiftung soll am besten für immer gestoppt werden!
den „ethnische Säuberungen“ im zerfallenden Jugosla- Laut den Grünen habe etwa die „nicht abreißende Kette
wien Anfang der 90er-Jahre: insgesamt mussten 50 bis von Provokationen und Verwerfungen um die Stiftung“
70 Millionen Menschen fliehen, ihre Heimat für immer dazu geführt, dass alle ausländischen Vertreter den wis-
verlassen, wurden vertrieben oder deportiert. Die Ver- senschaftlichen Beirat verlassen hätten. Erstens wird
treibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrie- hier einfach unter den Teppich gekehrt, dass es die Op-
ges stellt dabei die größte Zwangsmigration der Ge- position ist, welche kräftig die Debatte anheizt mit der
schichte dar. Zwischen 1945 und 1949 sind über Absicht, das ganze Projekt zu torpedieren. Ich will an
14 Millionen Deutsche aus Ost-, Mittel- und Südost- dieser Stelle daran erinnern, dass im Dezember 2009 die
europa geflohen oder vertrieben worden, bis zu zwei Gegner der Vertriebenenstiftung selbst vor drastischen
Millionen Menschen kamen dabei ums Leben. Fälschungen nicht zurückschreckten: So wurden eine
„Es ist eines der erstaunlichen Phänomene der vielen gefälschte Internetseite der Bundeseinrichtung ins Netz
(B) (D)
Jahre, die seither vergangen sind“, resümierte der gestellt und Pressemitteilungen unter falschem Namen
Schriftsteller Arno Surminski in einem Aufsatz 2004 tref- versandt. Zweitens ist die Aussage über die ausländi-
fend, „dass ein so gewaltiger Stoff, ein Drama von bibli- schen Experten schlicht unwahr. Denn der ungarische
schen Ausmaßen, das nahezu jede Familie in Mittel- und Wissenschaftler Dr. Kristián Ungvary sitzt nach wie vor
Osteuropa direkt oder indirekt berührt hat, nur am im Beirat.
Rande behandelt wurde“. Daher hat der Deutsche Bun-
Zudem wird in dem Antrag Positives über die Stiftung
destag mit dem Beschluss 2008, die „Stiftung Flucht,
völlig ausgeblendet. So taucht an keiner Stelle der Hin-
Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin zu errichten, einen
weis auf das dreitägige internationale Symposium auf,
historischen Meilenstein für die Bewältigung unserer
welches der Direktor Professor Kittel mitorganisiert
nationalen Katastrophe am Ende des Zweiten Weltkrie-
hatte und an dem auch Wissenschaftler aus Polen oder
ges gesetzt. Ich betone noch einmal: Diese mit breiter
Tschechien teilgenommen haben. Dort stellte er die Eck-
Mehrheit getroffene Entscheidung war ein historischer
punkte der Konzeption für die Dauerausstellung vor,
Meilenstein!
welche eine erfreuliche Resonanz fanden. Selbst die
Es liegt in der Natur der Sache, dass über die Form „Frankfurter Rundschau“ räumte ein, dass Professor
des angemessenen Erinnerns an die Vertreibungen eine Kittel sich „streng an dem noch von der schwarz-roten
öffentliche Debatte absehbar war. Jeder konstruktive Koalition auf den Weg gebrachten Gesetzesentwurf für
Beitrag ist dabei willkommen und jeder vernünftige Dis- die Stiftung“ orientierte.
kutant kann zum Versöhnungsgedanken beitragen, in-
dem er sich tatsächlich an der historischen statt an einer Die Kritik der Opposition, hier gehe ferner es um
ideologischen Wahrheit orientiert. „Erpressung“ durch den BdV oder Geschichte solle um-
geschrieben werden, ist vollkommen ungerechtfertigt.
Aber was soll man davon halten, wenn, wie jüngst ge- Denn die Novellierung berührt weder die Mehrheitsver-
schehen, die innenpolitische Sprecherin der Linksfrak- hältnisse – der BdV kann mit lediglich sechs von
tion im Bundestag, Ulla Jelpke, der Präsidentin des 21 Stimmen nicht dominant sein – noch den Stiftungs-
Bundes der Vertriebenen unterstellt, sie hätte die deut- zweck.
sche Schuld am Zweiten Weltkrieg relativiert? Erika
Steinbach hat dies nachweislich nie getan! Noch in ihrer Die christlich-liberale Koalition hat mit der Novellie-
diesjährigen Rede zum Tag der Heimat erklärte sie aus- rung des Stiftungsgesetztes die nationale Bedeutung die-
drücklich: „Jeder im Land weiß, wer den Zweiten Welt- ser Erinnerungseinrichtung und ihre staatliche Aufgabe,
krieg begonnen hat. Jeder im Land kennt die Barbareien das millionenfache Schicksal der deutschen Heimatver-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6957
Klaus Brähmig
(A) triebenen zu dokumentieren, unterstrichen und wird sich Vertreibung arbeiten. Kürzlich wurde ein Ausstellungs- (C)
durch solche Ablenkungsmanöver nicht beirren lassen. konzept vorgestellt, das in Zusammenarbeit mit Histori-
kern aus Polen, Tschechien und der Slowakei erarbeitet
Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): wurde. Es gibt viele Vereine und Initiativen, die Versöh-
nung leben.
Über die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
haben wir hier schon so oft gesprochen, dass mittler- Das letzte, was die Stiftung jetzt braucht, ist ein Mo-
weile alle Argumente ausgetauscht sind. Wir teilen die ratorium – das wäre ihr Ende. Die Stiftung muss endlich
Kritik der Grünen an den vom BdV benannten stellver- anfangen, richtig zu arbeiten, und sollte sich dabei nicht
tretenden Stiftungsratsmitgliedern Arnold Tölg und von fatalen Äußerungen von Mitgliedern des BdV behin-
Hartmut Saenger. Das haben wir in der Bundestagssit- dern lassen.
zung am 8. Juli, in der die Liste der Stiftungsratsmitglie-
der beschlossen wurde, kritisiert. Genauso hat die SPD Für die Stiftungsratssitzung am 25. Oktober ist end-
die Erweiterung des Stiftungsrates und das Wahlverfah- lich die Vorlage des Ausstellungskonzepts angekündigt.
ren scharf kritisiert. Wir haben aber auch immer wieder Es ist wichtig, dass das Konzept im wissenschaftlichen
deutlich gemacht, dass wir grundsätzlich hinter dem Beirat und in der Öffentlichkeit und der Fachwelt disku-
Projekt Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ste- tiert wird, bevor der Stiftungsrat dem zustimmt. Für den
hen. Deshalb sind wir gegen ein Moratorium, wie es die wissenschaftlichen Beirat müssen renommierte Wissen-
Grünen fordern. Deshalb sind wir auch gegen die voll- schaftler gewonnen werden – nur so kann die Stiftung
ständige Streichung der Mittel für die Stiftung. Vertrauen und Legitimität gewinnen. Seit Beginn der
Debatte um die Stiftung fordern wir, dass es eine inter-
Nichtsdestotrotz halten auch wir die 2,5 Millionen nationale Tagung gibt, bei der zusammen mit Wissen-
Euro, die im Haushalt für die Stiftung eingestellt sind, schaftlern aus verschiedenen Ländern diskutiert wird,
für viel zu hoch. Bisher ist nicht ersichtlich, wofür die was in der Ausstellung gezeigt werden soll. Diese Ta-
Stiftung die Mittel verwendet, denn bisher liegt noch im- gung muss nach Vorlage des Konzepts endlich stattfin-
mer kein Konzept für die Ausstellung vor. Wenn die Stif- den. Damit ließe sich verlorenes Vertrauen wieder auf-
tung schon jetzt 2,5 Millionen Euro erhält, wie viel soll bauen – aber nur, wenn auch die Bereitschaft da ist,
sie bekommen, wenn sie erst mal richtig anfängt zu ar- Anregungen in das Ausstellungskonzept aufzunehmen.
beiten? Das Konzept der Regierung, auf das sich der Stiftungs-
Auch wir haben unsere Unterstützung für die Stiftung direktor Manfred Kittel immer beruft, bildet nur den
davon abhängig gemacht, dass sie den im Stiftungsge- Rahmen, innerhalb dessen das eigentliche Ausstellungs-
setz festgeschriebenen Zweck erfüllt – nämlich „im konzept erarbeitet und dann im wissenschaftlichen Be-
(B) Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Geden- ratungsgremium diskutiert werden soll. Gerade die wis- (D)
ken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im senschaftliche Expertise ist Voraussetzung dafür, dass
historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der die Ausstellung der Stiftung Akzeptanz auch bei unseren
nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungs- Nachbarn finden wird.
politik und ihren Folgen wachzuhalten“. Der Antrag der Grünen wird in den Fachausschüssen
Die bisherigen Querelen haben diesem Zweck extrem weiter diskutiert. Ich sage schon jetzt: ein Moratorium
geschadet. Mit dem Beharren auf Erika Steinbach und ist der falsche Weg. Die Stiftung muss endlich in die in-
der Benennung der beiden Stellvertreter hat der BdV der haltliche Offensive kommen und Offenheit für die inhalt-
Legitimität der Stiftung massiv geschadet und damit liche Diskussion beweisen.
auch die Arbeit vieler Vereine des BdV, die aktive Ver-
söhnungsarbeit leisten, in Misskredit gebracht. Der BdV Lars Lindemann (FDP):
muss endlich begreifen, dass die Stiftung „Flucht, Ver-
Der Antrag 17/3064 der Fraktion Bündnis 90/Die
treibung, Versöhnung“ nicht das „Zentrum gegen Ver-
Grünen beginnt mit der Forderung, zwei stellvertretende
treibung“ ist. Die Stiftung ist ein Projekt des Bundes.
Mitglieder des Stiftungsrates auszuschließen. Diese bei-
Mit dem Beschluss im Jahr 2008 hat der Bundestag die
den stellvertretenden Mitglieder – Hartmut Sänger und
Erinnerung an Flucht und Vertreibung zu seiner Sache
Arnold Tölg – haben sachlich betrachtet die Arbeit des
und damit zur Angelegenheit der gesamten Gesellschaft
Stiftungsrates vollumfassend gesehen und nicht nur ein-
gemacht.
seitig beleuchtet. Die Aufgabe und das Ziel der Arbeit
Wenn der BdV nicht möchte, dass die Stiftung des Stiftungsrates bestehen darin, dass ein sichtbares
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ scheitert, muss er Zeichen im Geiste der Versöhnung gesetzt wird, für alle
die beiden kritisierten Stellvertreter zurückziehen. Das noch immer Betroffenen.
ist Voraussetzung dafür, dass der Zentralrat der Juden
wieder für eine Mitarbeit gewonnen werden kann. Hier Beide betonen, dass die Nazis schlimme Verbrechen
ist die Regierungskoalition in der Verantwortung! an anderen Völkern begangen haben, aber auch nicht
vergessen werden darf, dass als Folge dieser Verbrechen
Das Ärgerliche an der Debatte um die Stiftung ist, Deutsche ebenfalls vertrieben, zwangsumgesiedelt und
dass die Diskussion über die Themen Flucht und Vertrei- an ihnen Verbrechen verübt wurden. Es wird damit
bung bereits viel weiter ist. Es gibt gemeinsame Histori- nichts verharmlost oder gar herabgesetzt. Der Hinweis
kerkommissionen mit Polen, Tschechen, Slowaken, die der beiden darauf, dass auch Deutsche von Vertreibung,
seit vielen Jahren gemeinsam an den Themen Flucht und Zwangsumsiedlung und Verbrechen am Ende des Zwei-

Zu Protokoll gegebene Reden


6958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Lars Lindemann
(A) ten Weltkrieges betroffen waren, lässt einen Ausschluss müsste ihre Arbeit aufgeben. Wir verlieren damit wert- (C)
aus dem Stiftungsrat nach meiner Auffassung nicht zu. volle Zeit.
Sinnvoll und angebracht wäre es derzeit, wenn end- Der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen empfehle ich
lich alle Stiftungsratsmitglieder und auch die Stellver- dringend einen Blick in das Gesetz, konkret in § 19 des
treter mit der eigentlichen Arbeit beginnen könnten. Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung. Der Deutsche
Sollte sich dann im Verlauf der eigentlichen Tätigkeit Bundestag wählt Abgeordnete, die im Stiftungsrat tätig
herausstellen, dass der eine oder andere – aus welchen werden sollen, aus. Somit ist gewährleistet, dass der
Gründen auch immer – für die Arbeit im Stiftungsrat un- Deutsche Bundestag Mitglieder aus allen Fraktionen
tragbar ist, kann über ein mögliches Ausschlussverfah- vorschlagen kann. Eine Änderung des Gesetzes ergibt
ren zu jedem Zeitpunkt gesprochen werden. Vorerst je- daher keinen Sinn, da die geforderte Möglichkeit bereits
doch stellt sich weder die Notwendigkeit noch die besteht.
Dringlichkeit, Mitglieder und stellvertretende Mitglie-
der auszuschließen. Vielmehr sollen hier durch den An- Auszug aus § 19 des Gesetzes:
trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Vorhinein
einzelne Beiträge für die gemeinsame Aufgabe in der (3) Die oder der Beauftragte der Bundesregierung
Stiftung ausgeschlossen werden. für Kultur und Medien leitet die Vorschläge nach
Absatz 2 Satz 1 Nummer 2 bis 4 und Satz 2 mit ei-
Ich vermisse an dieser Stelle die Sachargumente mei- nem entsprechenden Antrag zur Wahl der Präsiden-
ner Kollegen von der Faktion Bündnis 90/Die Grünen. tin oder dem Präsidenten des Deutschen Bundesta-
Sie verhindern mit ihren Vorhaltungen den Beginn der ges zu. Der Deutsche Bundestag wählt auf Grund
eigentlichen Arbeit des Stiftungsrates. Ich bin darüber der Vorschläge nach Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 bis 4
hinaus weiter der Auffassung, dass jetzt zunächst der und Satz 2 die Mitglieder und stellvertretenden Mit-
Stiftungsrat die Diskussion darüber zu führen hat. Dies glieder.
ist auch – aber nicht nur – eine Aufgabe der breiten Me-
dienöffentlichkeit. Würden wir dies zulassen, könnte der Auch wenn es die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Stiftungsrat nie mit der eigentlichen Arbeit beginnen. gerne anders darstellt, es gibt die Möglichkeit, einzelne
Der Antrag ist daher zurückzuweisen. Personen nicht zu wählen. Es mag sein, dass nur ein Ge-
samtvorschlag angenommen oder abgelehnt werden
Weiter fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, kann, dies bedeutet jedoch nicht, dass bei Ablehnung des
dass der Bundestag der Stiftung ein Moratorium aufer- Gesamtvorschlages einzelne Mitglieder nicht wieder
legt. Ihre Forderung bedeutet im Klartext, dass die Stif- aufgestellt werden können.
tung nicht arbeiten kann. Dies ist weder im Sinne der
(B) Bundesregierung noch der Stiftung noch der Mehrheit Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der An- (D)
hier im Bundestag. Die Stiftung hat einen klaren Auftrag trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vollumfäng-
erhalten. Sie als Antragsteller wollen eine weithin an- lich zurückzuweisen ist. Wir werden dem nicht zustim-
haltende medienöffentliche Diskussion über Personen, men.
aber nicht in der Sache!
Nicht nur der Direktor der Stiftung, Herr Professor Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE):
Dr. Kittel, sondern auch Kommissionsmitglieder aus Für die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
Deutschland, Polen, der Slowakei und Tschechien haben muss ein Neuanfang gefunden werden. So wie bisher
bereits erste Konzeptionen für die Stiftungsarbeit entwi- geht es nicht weiter. Das müsste allen Beteiligten inzwi-
ckelt. Diese werden am 25. Oktober 2010 dem Stiftungs- schen klar sein. Die Fraktion Die Linke hat bereits in ei-
rat vorgestellt. nem Änderungsantrag zum Einzelplan 04 gefordert, die
In dieser Konzeption, beispielsweise von Professor für die Stiftung für 2011 vorgesehenen Mittel von
Dr. Kittel, fokussieren sich inhaltliche Vorschläge zur 2,5 Millionen Euro zu streichen. Das bedeutet praktisch
Schaffung einer Dauerausstellung und Dokumentations- ein Moratorium. Und dieses Moratorium sollte genutzt
stätte, die in einem chronologischen Rundgang von der werden, die Stiftung in einem einvernehmlichen europäi-
Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die Zeit nach 1989 auf- schen Rahmen und im Geiste der Versöhnung neu zu
gebaut sein sollen. Fallstudien aus einzelnen Regionen positionieren.
sollen darin eingebettet werden. Um diese Neupositionierung zu ermöglichen, fordert
So weit der aktuelle Diskussionstand, lassen sie uns die Fraktion Die Linke:
darüber sprechen.
Eine Anhörung im Ausschuss für Kultur und Medien
Als ebenfalls unsinnig ist darum der Antrag der Frak- mit internationalen Wissenschaftlern, insbesondere aus
tion Bündnis 90/Die Grünen zu werten, die Mittel für die den Nachbarländern Polen, Tschechien und der Slowa-
Stiftung zu streichen. Würde diesem Antrag stattgege- kei. Außerdem sollte die Historikergruppe um Professor
ben, könnte die Stiftung ihre Arbeit nicht fortsetzen. Das Schulze-Wessel eingeladen werden, die in Zusammenar-
Ziel der Stiftung, ein Zeichen der Versöhnung zu setzen, beit mit der „Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slo-
das Bewusstsein um das tiefe menschliche Leid wachzu- wakischen Historikerkommission“ sowie der „Deutsch-
halten und die junge Generation an dieses Thema he- Polnischen Schulbuchkommission“ bereits ein Ausstel-
ranzuführen, wäre mit einer Streichung der Finanzie- lungskonzept zum Thema „Flucht, Vertreibung, Versöh-
rungsmittel nicht mehr durchführbar. Die Stiftung nung“ vorgestellt hat.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6959
Dr. Lukrezia Jochimsen
(A) Auch sollte im Rahmen der Anhörung geprüft werden, Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma haben das (C)
ob nicht doch ein anderer Standort für die Stiftung ge- sehr deutlich gemacht, als sie ihre Mitarbeit im Stif-
funden werden kann, zum Beispiel Görlitz/Zgorzelec tungsrat einstellten. Der Bundestag muss dringend han-
oder Wroclaw. deln, zumal die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel
in dieser Frage offenkundig handlungsunfähig sind.
Den in der Gesetzesnovelle vom 14. Juni 2010 festge- Sonst hätten sie das schändliche Schauspiel um die Stif-
legten Berufungsmechanismus für den Stiftungsrat im tung schon längst gestoppt.
Blockwahlverfahren aufzuheben. Die rein quantitative
Vergrößerung des Gremiums sollte durch eine qualita- Wir brauchen jetzt ein Moratorium, während dem die
tive Besetzung ersetzt werden. Neben Vertretern der Arbeit der Stiftung ruht und die Haushaltsmittel, die für
christlichen Kirchen sowie des Zentralrates der Juden in sie vorgesehen sind, gestrichen werden. In dieser Zeit
Deutschland sollte eine Vertretung der Sinti und Roma muß der Bundestag klären, ob und in welcher Form die
sowie der muslimischen Mitbürger gewährleistet sein. Arbeit der Stiftung noch einen Sinn macht. Denn von der
Wenn es um Vertreibungen im 20. Jahrhundert geht, kön- ursprünglichen Idee, hier einvernehmlich in einem euro-
nen besonders diese beiden Bevölkerungsgruppen Wich- päischen Netzwerk das Thema Flucht und Vertreibung
tiges für die Stiftungsarbeit beitragen. Außerdem finden im 20. Jahrhundert aufzuarbeiten, ist ja nicht mehr viel
auch wir, wie im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die übriggeblieben.
Grünen verlangt, dass alle Fraktionen des Bundestages
im Stiftungsrat vertreten sein sollten. Die ausländischen Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler, die ursprünglich mitgearbeitet haben, sind
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen längst aus dem wissenschaftlichen Beirat der Stiftung
stimmen wir zu. ausgetreten. Und Frau Steinbach betrachtet die Stiftung
inzwischen als Privatbesitz ihres Vertriebenenbundes.
Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sinti und Roma oder Muslime als Opfer von Flucht und
NEN): Vertreibung in Europa kommen nicht vor.
Der Streit um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver- Wenn die Arbeit der Stiftung noch einen Sinn machen
söhnung“ beschäftigt seit vielen Monaten den Bundes- soll, dann muß der gemeinsame europäische Rahmen für
tag und die breite Öffentlichkeit. Im Abstand von weni- die Arbeit geschaffen werden. Wer die Stiftung einfach
gen Wochen brechen immer wieder neue Konflikte auf, so weiterlaufen lässt, der ist mitverantwortlich dafür,
die die Arbeit der Stiftung und den Stiftungszweck der dass hier ein wahrer Schwelbrand in den Beziehungen
Versöhnung mit unseren Nachbarländern infrage stel- zu unseren Nachbarländern entsteht.
len. Inzwischen sind zwei Vertreter des Bundes der Ver-
(B) triebenen in den Stiftungsrat gewählt worden, die offen Ebenso dringlich ist die Abberufung von Tölg und (D)
revanchistische Positionen vertreten. Wir haben die Re- Saenger aus dem Stiftungsrat. Dafür muss der Bundes-
gierungskoalition vor der Wahl von Arnold Tölg und tag die rechtlichen Voraussetzungen schaffen – und da-
Hartmut Saenger eindringlich gewarnt und auf die Fol- bei auch das undemokratische Blockwahlverfahren ab-
gen hingewiesen, die das für die Stiftung und für das schaffen, in dem der Bundestag nur en bloc über eine
Ansehen unseres Landes haben würde. Die Regierungs- Liste von Stiftungsratskandidaten abstimmen kann, frei
koalition hat unsere Warnungen nicht ernst genommen. nach dem Motto: „Friss, Vogel, oder stirb!“ Dieses
Sie ist voll verantwortlich für die inakzeptable Zusam- Blockwahlverfahren hat es erleichtert, dass ungeeignete
mensetzung des Stiftungsrats. Kandidaten in den Stiftungsrat gelangen konnten.
Wenn Arnold Tölg, Landesvorsitzender des Bundes Die Zusammensetzung des Stiftungsrates ist insge-
der Vertriebenen in Baden-Württemberg, in einem Inter- samt so zu verändern, dass alle Gruppen, die von Flucht
view der rechtsextremen „Jungen Freiheit“ gegen die und Vertreibung betroffen sind, angemessen berücksich-
Zwangsarbeiterentschädigung wettert und die Schuld tigt werden. Und wir brauchen eine Vertretung aller
des NS-Regimes gegenüber Zwangsarbeitern mit dem Fraktionen des Bundestages im Stiftungsrat. Was in vie-
Verweis relativiert, dass andere Länder auch „Dreck am len anderen Bereichen ganz problemlos geht, muss auch
Stecken haben“, dann dient das nicht der Versöhnung, in einem Bereich möglich sein, in dem demokratische
sondern der Verhöhnung von NS-Zwangsarbeitern und Mitwirkung besonders wichtig ist.
Ländern, die Opfer der NS-Aggression geworden sind.
Und wenn Hartmut Saenger, der Sprecher der Pommer- Präsident Dr. Norbert Lammert:
schen Landsmannschaft, in einem Zeitungsbeitrag die Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Welt- Drucksache 17/3064 an die in der Tagesordnung aufge-
krieges relativiert – Äußerungen, die Vertriebenenpräsi- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
dentin Erika Steinbach mit den Worten unterstützt: „Ich verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
kann es auch leider nicht ändern, dass Polen bereits im beschlossen.
März 1939 mobil gemacht hat“ –, dann ist endgültig die
Grenze überschritten, an der der Bundestag die Not- Tagesordnungspunkt 23:
bremse ziehen muß.
Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem man die Dinge Röspel, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
nicht einfach weiter treiben lassen darf. Der Zentralrat Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
der Juden in Deutschland und das Dokumentations- und Fraktion der SPD
6960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) Die Friedens- und Konfliktforschung stärken – dens- und Konfliktforschung in die gesellschaftliche und (C)
Deutsche Stiftung Friedensforschung finan- politische Praxis einfließen zu lassen. In diesem Kontext
ziell ausbauen sind auch die schon vorhandenen Fördermöglichkeiten
im Rahmen des nationalen und europäischen Sicher-
– Drucksache 17/1051 –
heitsforschungsprogramms, die Verankerung des The-
Überweisungsvorschlag: mas im 7. Forschungsrahmenprogramm – Thema 8: So-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f) zial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften – und das
Auswärtiger Ausschuss Engagement der DFG in dieser Thematik zu sehen.
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Stiftungen sind in ihrer Fördertätigkeit in erster Linie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und auf ihre jährlichen Erträge aus ihrem Stiftungsvermögen
Entwicklung
angewiesen, aus denen die aufkommenden Ausgaben be-
Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Anette stritten werden. Die Lage am Finanzmarkt hat damit
Hübinger, René Röspel, Dr. Peter Röhlinger, Kathrin nicht unwesentlichen Einfluss auf die Höhe der Erträge.
Vogler und Krista Sager ihre Reden zu Protokoll. Neben der Einnahmeseite ist natürlich auch die Ausga-
benseite zu betrachten. Hier hat es, wie im Antrag rich-
Anette Hübinger (CDU/CSU): tig angeführt, in den letzten Jahren gestiegene Personal-
Die Deutsche Stiftung Friedensforschung, DSF, mit und Sachleistungskosten gegeben. Die Kombination bei-
Sitz in Osnabrück ist als gemeinnützige Stiftung bürger- der Faktoren kann eine Stiftung vor Probleme stellen.
lichen Rechts politisch und auch finanziell unabhängig. Auch dies ist unstrittig, trifft allerdings nicht nur auf die
Sie verfolgt als Einrichtung der Forschungsförderung DSF zu.
den Zweck, die außen- und sicherheitspolitische Bedeu- Natürlich sollten die aufgezeigten Faktoren bei einer
tung der Friedensforschung insbesondere in Deutsch- Stiftungsgründung berücksichtig werden und das Stif-
land dauerhaft zu stärken und zu ihrer politischen und tungskapital in seiner Höhe angemessen ausgestaltet
finanziellen Unabhängigkeit beizutragen. sein. Ich unterstelle einmal, dass auch die damalige rot-
Zehn Jahre nach ihrer Gründung können wir eine po- grüne Bundesregierung diese Weitsicht besessen hat, als
sitive Bilanz ihrer Förderaktivitäten ziehen. Insgesamt sie die Stiftung ins Leben gerufen und mit einem Startka-
stellte die DSF in diesem Zeitraum fast 13 Millionen pital in Höhe von damals 50 Millionen DM ausgestattet
Euro an Fördermitteln für die Friedens- und Konflikt- hat.
forschung bereit. Dabei ist die DSF mit ihren Förderan-
geboten auf eine sehr positive Resonanz in der Fach- Geht man also davon aus, dass durch das vorhandene
(B) community gestoßen. Ihre Förderstandards haben breite Stiftungsvermögen und die daraus zu erwartenden Er- (D)
Anerkennung gefunden. Diese Leistungen sind unstrittig träge grundsätzlich eine ausreichende Finanzausstat-
und dementsprechend zu würdigen. tung vorlag, stellt sich für mich die Frage, wie temporä-
ren Schwierigkeiten – beispielsweise durch niedrigere
Neben der DSF sind in Deutschland aber eine Reihe Erträge in Folge der Finanzmarktentwicklung – oder
weiterer Akteure – wie die Hessische Stiftung Friedens- dauerhaften Kostensteigerungen im Forschungsbereich
und Konfliktforschung, HSFK, oder das Institut für Frie- begegnet werden sollte. Eine Möglichkeit ist es natür-
densforschung und Sicherheitspolitik an der Universität lich, mehr Geld zu fordern. Dieser verständliche Reflex,
Hamburg, IFSH, in diesem Forschungsfeld tätig. Allen dem hier die Kollegen der SPD folgen, ist nicht meine
Akteuren, gleich ob Fördernde oder Forschende, ist der erste Devise. 5 Millionen Euro Finanzspritze durch den
Umstand gemein, mit mehr oder weniger begrenzten Bund sind nun mal kein Pappenstiel.
Mitteln auskommen zu müssen. Dies liegt in der Natur
der Sache. Wer sich nach Alternativen umschaut, wird schnell in
der Satzung der DSF fündig. Dort ist nachzulesen, dass
Darüber hinaus gibt es weitere Förderangebote des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, die un- auf Beschluss des Stiftungsrates aus dem Stiftungsver-
mittelbar die Kompetenzen der Friedens- und Konflikt- mögen für die Aufgaben der Stiftung jährlich bis zu
forschung ansprechen, wie die Förderung der Regional- 5 Millionen DM – in Euro also 2,56 Millionen – ver-
studien im Rahmen der Förderinitiative „Freiraum für wandt werden können. Dieser Passus beinhaltet die Ein-
die Geisteswissenschaften“ und die Förderung von For- schränkung, dass mindestens 10 Millionen DM, dies
schung zum Klimawandel im Rahmen des Programms entspricht nach heutigem Stand 5,11 Millionen Euro, des
„Forschung für nachhaltige Entwicklungen“. Stiftungsvermögens als Mindestbetrag ungeschmälert zu
erhalten sind. Für zeitlich beschränkte Schwierigkeiten
Des Weiteren ist die Verankerung der Friedens- und wäre dies ein Weg, den man gehen könnte.
Konfliktforschung im deutschen und europäischen Si-
cherheitsforschungsprogramm ein wichtiges Anliegen Aktuell beläuft sich das Stiftungskapital der Stiftung
der Bundesregierung. So fördert das BMBF aktuell die auf eine Höhe von 25,57 Millionen Euro. Es kann also
Konferenz „Internationales Symposium Religionen und nicht davon gesprochen werden, dass eine finanzielle
Weltfrieden. Zum Friedens- und Konfliktlösungspoten- Notlage vorliegt, die eine Finanzspritze des Bundes un-
tial von Religionsgemeinschaften“, die vom 20. bis abdingbar macht. Zu berücksichtigen ist auch, dass das
23. Oktober 2010 in Osnabrück stattfindet. Dies ist eine ursprüngliche Stiftungskapital in der Vergangenheit
von vielen Maßnahmen, um die Erkenntnisse der Frie- schon mehrfach aufgestockt wurde.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6961
Anette Hübinger
(A) Wenn im vorliegenden Antrag attestiert wird, dass die 1990 sogar zugenommen. Bei den Debatten über aktu- (C)
DSF über keine zusätzlichen Mehreinnahmen verfügt, elle Konflikte suchen wir Abgeordneten Antworten auf
um die Anhebung ihrer Förderhöchstbeträge zu stem- die Fragen von Gewalt. Dabei empfinden wir mitunter
men, ist dies zwar nicht falsch, die Konsequenz aus die- das Gefühl, nur noch zwischen Nichtstun und dem Mittel
ser Feststellung muss aber nicht zwangsweise in nur der Gegengewalt entscheiden zu können. Denn wenn wir
eine Richtung laufen. So kann die Einnahmeseite zusätz- uns im Plenum mit Krieg und Gewalt beschäftigen, ist
lich durch Drittmittel gestärkt werden. Dazu ist in der das Kind meist bereits in den Brunnen gefallen. Wir ver-
Satzung vorgesehen, dass alle Zuwendungen Dritter suchen dann die Symptome des Konflikts zu bekämpfen,
dem Stiftungsvermögen zufließen. Auch hier gilt: Erst um deren Ursachen wir uns hingegen oft nicht oder erst
sollte diese Möglichkeit der Mittelbeschaffung ausge- später kümmern können, weil die Symptome in Form von
reizt werden. Gewalt meist so brutal und unglaublich erscheinen und
für anderes keine Zeit mehr bleibt. Oft sind uns die ge-
Schwerpunktsetzungen und Aufgabenkritik sind in nauen Ursachen des Konflikts aber auch unklar, oder es
Bezug auf die eigenen Forschungsfördertätigkeiten wei- fehlt die nötige Sensibilität, die Zeit, das Geld oder das
tere Punkte, die dabei helfen können, mit den vorhande- Durchhaltevermögen.
nen Mitteln auszukommen. Schwerpunktsetzungen und
die damit verbundenen Entscheidungen für oder gegen Verantwortungsvoller, humaner und deutlich effekti-
bestimmte Projekte sowie die strategische Ausrichtung ver und kostengünstiger, nicht nur fiskalpolitisch gese-
der Stiftung betreffend sind zwar nicht immer leicht, hen, ist es, den Frieden bereits in Friedenszeiten zu un-
doch nach dem in der Satzung verankerten Grundsatz terstützen und zu festigen. Denn neben den Frieden
der sparsamen Mittelverwendung geradezu geboten. gefährdenden Mechanismen existieren zum Glück auch
Strukturen, die den Frieden stärken und Konflikte ver-
Wie aus den Gremien der DSF zu vernehmen ist, ist
hindern können. Dabei spielen demokratische und
eine Diskussion über die künftige Positionierung der
transparente Entscheidungsprozesse, soziale Rechte und
Stiftung als Einrichtung der Forschungsförderung ange-
die gerechte Verteilung von Ressourcen und Gewaltfrei-
laufen. Dieser Prozess ist gerade im Rückblick auf die
heit eine wichtige Rolle. Wir Parlamentarier wissen aus
zurückliegende zehnjährige Fördertätigkeit zu begrü-
unserer Arbeit, wie wichtig diese Aspekte auch für un-
ßen. Der angestoßene Diskussionsprozess rund um die
sere Demokratie in Deutschland sind. Diese Prozesse
zukünftige Ausrichtung der DSF kann nur förderlich
und die dazugehörigen Strukturen hier und weltweit zu
sein.
unterstützen, das ist Friedensarbeit.
Wie eingangs schon lobend festgestellt, hat die DSF
in den letzten zehn Jahren eine gute Arbeit geleistet. Ein Wie und unter welchen Umständen diese Strukturen
(B) zehnjähriges Jubiläum ist dabei aber auch eine geeig- aufgebaut, erhalten und gestärkt werden können, damit (D)
nete Wegmarke, um einerseits Bewährtes zu identifizie- beschäftigt sich die Friedens- und Konfliktforschung.
ren und andererseits Schwachstellen in der eigenen Aus- Dazu suchen die Wissenschaftlerinnen und Wissen-
richtung aufzudecken. Eine solche Aufgabenkritik kann schaftler die Ursachen für Konflikte, aber auch die sta-
eine Institution nur weiterbringen und kann – wie schon bilisierenden Faktoren einer friedlichen Gesellschaft.
gesagt – auch dazu führen, mit dem vorhandenen Budget Dabei gibt es grundlegende Aspekte, die in allen Gesell-
auszukommen. Dazu ist eine ausbalancierte Förder- schaften ähnlich sind. Jede einzelne Gesellschaft hat
struktur vonnöten, die sich beispielsweise stärker auf aufgrund ihrer Tradition und Geschichte aber auch ei-
kleinere Vorhaben konzentrieren könnte, die es bei ande- gene Strukturen der Friedenssicherung bzw. des Gewalt-
ren Förderern schwerer haben. Der aktuelle Diskus- potenzials. Diese gilt es ebenfalls herauszufinden.
sionsprozess innerhalb der DSF rund um das zukünftige Um die Friedens- und Konfliktforschung in Deutsch-
Förderrepertoire der Stiftung wird dazu beitragen, die land weiter zu festigen und zu unterstützen, wurde vor
DSF fit für die Zukunft zu machen. zehn Jahren durch die damalige rot-grüne Bundesregie-
Die DSF ist mit dem derzeitigen Stiftungsvermögen rung die „Deutsche Stiftung Friedensforschung“ ge-
gut aufgestellt. Sie kann mit den vorhandenen Mitteln gründet. Diese Stiftung betreibt keine eigene Forschung,
auch weiterhin alle Satzungsziele umsetzen, ohne in fi- sondern wählt förderwürdige Projekte aus und unter-
nanzielle Bedrängnis zu geraten. Eine weitere Mittelauf- stützt diese finanziell. Seit Gründung der Stiftung wur-
stockung ist somit nicht notwendig. Daher lehnen wir als den über 46 große und über 100 kleine Forschungs-
CDU/CSU-Fraktion den vorliegenden Antrag der SPD- vorhaben finanziert. Darunter sind zum Beispiel
Fraktion ab. Forschungsarbeiten zum Thema Parlamentsbeteili-
gungsgesetz, der Verwendung von nichtletalen Waffen
und der Rolle von Religion oder von föderalistischen
René Röspel (SPD): Strukturen in Konflikten.
Letzten Sonntag haben wir den 20. Jahrestag der
Deutschen Einheit gefeiert. Er symbolisiert auch das Neben der Finanzierung von Forschungsprojekten
Ende des Kalten Krieges. Im Deutschen Bundestag unterstützt die DSF auch Tagungen und Publikationen.
mussten wir in den seither vergangenen zwanzig Jahren Denn Aufgabe der Stiftung ist es auch, die Ergebnisse
trotzdem oft über Gewalt und Krieg sprechen. Denn mit der geförderten Forschungsvorhaben in die politische
dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Welt leider Praxis und Öffentlichkeit zu vermitteln. Für die parla-
nicht friedlicher geworden. Laut dem Heidelberger Kon- mentarische Ebene veranstaltet die DSF zum Beispiel in
fliktbarometer hat die Zahl der Konflikte weltweit seit regelmäßigen Abständen Parlamentarische Abende zu

Zu Protokoll gegebene Reden


6962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

René Röspel
(A) aktuellen Themen. Letzte Woche konnten wir Abgeord- einem entsprechenden Änderungsantrag zum Haushalt (C)
neten uns zum Beispiel mit den Experten aus der Wissen- flankiert. Diese Erhöhung ist nötig, damit die satzungs-
schaft über die Chancen und Risiken der Einbindung gemäßen Ziele der Stiftung weiterhin erfüllt werden kön-
von Gewaltakteuren in den Friedensprozess informie- nen. Derzeit reicht das Geld nicht aus, um zum Beispiel
ren. Die Friedensforscherinnen und Friedensforscher die wichtige Nachwuchsförderung fortzuführen. Grund
zeigten dabei anhand der Taliban- und Hamas-Gruppie- für die Finanzlücke sind unter anderem die in den letzten
rungen, welche Chancen für eine Einbindung dieser Jahren allgemein gestiegenen Kosten bei Sachleistun-
Gruppen in den politischen Prozess bestehen, aber lei- gen und Personal. Hier muss nun bei der DSF finanziell
der auch, welche Chancen zum Beispiel in Afghanistan nachgezogen werden.
bereits vertan wurden.
Wir hoffen, dass dieses Jahr in den Reihen von CDU/
Das sicherlich bekannteste Buchprojekt, das durch CSU und FDP doch ein wenig mehr Vernunft als letztes
die DSF finanziell unterstützt wird, ist das „Friedens- Jahr vorherrscht und sie in der Haushaltsbereinigungs-
gutachten“. Herausgeber sind die fünf großen deutschen sitzung für die DSF-Erhöhung stimmen. Denn die Gel-
Friedensforschungsinstitute. In der aktuellen Ausgabe der für die Friedens- und Konfliktforschung bereichern
beschäftigen sich die Autoren zum Beispiel mit der Situ- die deutsche Forschungslandschaft. Die Ergebnisse
ation in Afghanistan, dem Umgang mit Gewaltakteuren, wiederum liefern wichtige Entscheidungshilfen zur welt-
der Vision einer nuklearfreien Welt und den sicherheits- weiten Friedenssicherung und können kostspielige und
politischen Konsequenzen aus der Weltwirtschaftskrise. wenig effiziente Symptombekämpfung vermeiden. Wenn
Es ist wie immer ein sehr lesenswertes Jahrbuch – nicht Friedens- und Konfliktforschung auch nur einen Kon-
nur für Außen- und Sicherheitspolitiker. flikt verhindern, abmildern oder beenden kann, so hat
sich jeder Euro dafür gelohnt. Aber leider gibt es dafür
Einige Friedens- und Konfliktforscherinnen und -for- viel weniger Geld als für Waffen und Militär.
scher beschäftigen sich sehr intensiv mit den Themen
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.
Dabei spielen neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Dr. Peter Röhlinger (FDP):
neue Technologien eine große Rolle, einerseits als Mittel Nicht erst seit den weltweit zu spürenden Folgen des
der Begrenzung der Bedrohung, andererseits als mögli- Terroranschlages vom 11. September 2001 auf das
che Instrumente des Missbrauchs. Die DSF hat in die- World Trade Center in New York hat die Friedens- und
sem Bereich zum Beispiel eine Bewertung der Nanotech- Konfliktforschung die wissenschaftliche Bühne betreten.
nologien und einen Bericht über das Proliferationsrisiko Als Kind des Kalten Krieges und einer Zeit, in der die
von Spallationsneutronenquellen finanziell unterstützt. europäischen Kolonialmächte ihre ehemaligen Kolonien
(B) Da diese beiden Forschungsbereiche auch durch das in die Freiheit entließen, rückte sie schnell in das Be- (D)
Bundesforschungministerium finanziert werden, sollten wusstsein der Nach-Weltkriegs-Gesellschaften.
wir Forschungspolitiker uns diesen Berichten ebenfalls
widmen. Was sind die Ursachen von Konflikten, wie können sie
am Verhandlungstisch gelöst werden, und warum müs-
Ich denke, alle hier Anwesenden sind mit mir einig, sen Staaten auch heute noch zum letzten Mittel, dem
dass alle von der DSF finanzierten Projekte relevante Krieg, greifen? Ist der Krieg überhaupt noch das letzte
Forschungsfragen bearbeiten. Die Ergebnisse daraus Mittel der Wahl? Ist die Aussage des preußischen Gene-
sind für eine wissensbasierte politische Entscheidungs- rals Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, „Der Krieg
findung im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik, der ist eine bloße Fortsetzung der Politik unter Einbezie-
Entwicklungszusammenarbeit, der Forschungspolitik, hung anderer Mittel“ – siehe „Vom Kriege“, Buch I,
aber auch anderen Politikbereichen äußerst hilfreich. Kap. 1, Abschnitt 24 –, noch gültig? Ich meine Ja, denn
Auf der politischen Ebene existieren bereits erfolgreiche der Krieg ist so der Politik immer untergeordnet. Die
Instrumente, in die diese Ergebnisse einfließen können. Verantwortung liegt also im wahrsten Sinne des Wortes
Diese müssen dann nur noch nachjustiert bzw. richtig in unserer Hand. Der Deutsche Bundestag hat in jüngs-
eingesetzt werden. Einige Instrumente werden zum Bei- ter Zeit hierzu weitreichende Beschlüsse gefasst. Ich
spiel durch das Auswärtige Amt finanziert. Dass die denke dabei vor allen an die Einsätze der Bundeswehr in
schwarz-gelbe Regierung im aktuellen Haushaltsent- Afghanistan.
wurf die Mittel für Krisenprävention, Friedenserhaltung
und Konfliktbewältigung um fast 40 Millionen Euro kür- Die Friedens- und Konfliktforschung unserer Tage
zen will, ist deshalb eine Schande und absolut kurzfristig entwickelte sich in dem Maße, wie sich die Menschen
gedacht. Leider überraschen die Haushaltskürzungen der Gefahren einer atomaren Bewaffnung von sich ideo-
nicht. Bereits in der Haushaltsdebatte 2009 hat die logisch entgegenstehenden Staaten und ihren Bündnis-
SPD-Bundestagsfraktion unter anderem eine Erhöhung systemen bewusst wurden. Der Kalte Krieg jener Jahre
des Stiftungskapitals für die DSF gefordert. Diese For- ist spätestens seit dem Fall der Berliner Mauer und der
derung wurde von CDU/CSU und FDP abgelehnt. Be- Vollendung der deutschen Einheit vorbei. Aber leider ist
reits damals begann die Kürzungspolitik, die sich jetzt in auch unsere Zeit nicht gewaltfrei, auch wenn in ihren
den Budgets anderer Ministerien fortsetzt. zentralen Regionen weitgehend Friede herrscht!
Mit unserem heute debattierten Antrag fordern wir Nicht zu übersehen sind heute noch die Folgen des
eine Erhöhung des Stiftungskapitals der DSF um Kalten Krieges. Nach wie vor tragen Länder, die durch
5 Millionen Euro. Diese Forderung haben wir auch mit das eine oder andere Lager in dessen jeweilige Interes-

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6963
Dr. Peter Röhlinger
(A) senshemisphäre einbezogen wurden, ein schweres Erbe Hierzu gehören die Erkenntnisse und Erklärungsmo- (C)
und sind Schauplätze brutaler regionaler Kriege. delle der verschiedenen Disziplinen, wie zum Beispiel
das Staats- und Völkerrecht, die Spieltheorie des strate-
Auch in unserer Zeit muss der Frieden bzw. die Frie-
gischen Verhaltens und die Wachstumstheorie sowie de-
denssicherung täglich neu erkämpft werden! Das führt ren Abgleich untereinander. Die Friedens- und Konflikt-
mir zumindest deutlich vor Augen: Der Frieden ist nicht forschung hat im deutschen Wissenschaftssystem einen
allein durch die Abwesenheit von Krieg gekennzeichnet.
festen Platz eingenommen. Sie wird zum großen Teil auf
Vielmehr muss er auch zum Beispiel durch ökonomische gutem Niveau durch die öffentliche Hand des Bundes
Teilhabe der Länder der sogenannten Dritten Welt, und der Länder finanziert.
durch Gleichberechtigung der Geschlechter, durch Sä-
kularisierung und durch die Überwindung nationaler Jetzt komme ich zum Antrag der SPD. Sicherlich hat
und ethnischer Stereotype sicherer gemacht werden. Das Rot-Grün in seiner Regierungszeit mit der Gründung
bedeutet auch, Konfliktursachen genau zu untersuchen, der Deutschen Stiftung Friedensforschung, DSF, ein
zu beschreiben und daraus Schlüsse zu ziehen. redliches Ziel verfolgt. Die Stiftung hat durch ihre Arbeit
und durch ihre Vermittlertätigkeit zwischen den Institu-
Was kann heute nicht alles Bedrohungsängste und
tionen der Friedens- und Konfliktforschung und durch
Angriffslust auslösen? Weltweit identifizierte Konflikt-
direkte Projektförderung einen anerkennenswerten Bei-
felder, die internationale Terrorismusbekämpfung durch
trag geleistet. Sie hat durchaus eine institutionelle Lücke
die Vereinten Nationen, der forcierte Unilateralismus
zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und Politik ge-
der USA, aber auch der Wandel der Bündnisverpflich-
schlossen.
tungen innerhalb der NATO setzen eine objektive wis-
senschaftliche Begleitung, Betrachtung und Wertung Meine Fraktion hat aber bereits in den Gründungs-
durch die Friedensforschung in Deutschland voraus. jahren immer wieder gesagt: Die Stiftung muss ihren
Beitrag für ihre politische und finanzielle Unabhängig-
Friedens- und Konfliktforschung muss auch ein In-
keit leisten und sie darf dieses Ziel nie aus dem Auge
strument wissenschaftlicher Politikberatung sein. Der
verlieren. Die Stiftung wurde mit dem notwendigen
Einsatz der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan
Grundkapital in Höhe von 25,57 Millionen Euro ausge-
und die daraus resultierenden möglichen Veränderun-
stattet. Der Bund hat auch danach noch „zugestiftet“.
gen der Kräfteverhältnisse im Nahen Osten bedingen ei-
Jetzt ist sie finanziell und politisch unabhängig. Sie fi-
nen zeitnahen und effizienten Transfer von Forschungs-
nanziert sich aus Erträgen des Stiftungskapitals und
ergebnissen zu den politischen Entscheidungsträgern.
durch Zustiftungen. In dieser Phase muss sie zeigen, wie
Dabei darf es nicht nur darum gehen, den wissen- tief sie im Bewusstsein der Gesellschaft verankert ist.
schaftlichen Erkenntnisgewinn den Bedürfnissen von Die Anerkennung zeigt sich heute letztendlich im bür-
(B) (D)
Entscheidungsträgern in Regierungen, Parlamenten, gerschaftlichen Engagement der Stifter, in ihrer persön-
Parteien und Organisationen anzupassen und ihn darauf lichen Identifikation mit dem Stiftungsgedanken und in
abzustimmen. Vielmehr muss die Friedensforschung ihrem persönlichen Beitrag.
Theorien über die Ursachen von Krisen und Konflikten,
über Krisenprävention und Konfliktbewältigung entwi- Sicherlich sollten wir gemeinsam über die Stellung
ckeln, der Politik Empfehlungen zu Handlungsmöglich- der Stifter und deren Behandlung weiter nachdenken.
keiten geben und deren Konsequenzen aufzeigen. Und genau dafür treten auch unsere Stiftungsratsmit-
glieder, wie der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Die Friedens- und Konfliktforschung ist konkret. Je Herr Dr. Werner Hoyer, die Parlamentarische Staatsse-
genauer die Fragestellungen, desto klarer sind die Ant- kretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
worten. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit sammenarbeit und Entwicklung, Frau Gudrun Kopp,
möchte ich an dieser Stelle einige Fragen stellen: und die Kollegin Frau Marina Schuster ein.
Welche Auswirkungen hat zum Beispiel das scheinbar Meine Damen und Herren von der SPD, von einer auf
freie Spiel der Kräfte auf den Finanzmärkten für die Sta- Dauer angelegten Subventionierung durch die öffentli-
bilität der Volkswirtschaften und für den Welthandel? che Hand war nie die Rede. Daher können wir dem An-
Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Auswirkun- trag der SPD nicht unsere Zustimmung geben.
gen der Finanzkrisen mit Blick auf die Weltpolitik gezo-
gen werden? Welche Gefahren sind mit der geringen Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Verfügbarkeit von Trinkwasser in bestimmten Gebieten
Für die Fraktion Die Linke bedanke ich mich beim
unserer Erde verbunden? Welche Folgen bringt die Ver-
Kollegen Röspel und der SPD-Fraktion für diesen An-
knappung von Rohstoffen und vor allem ihre geopoliti-
trag. Ich will begründen, warum ich ihn für notwendig,
sche Verfügbarkeit für die Industrieländer mit sich? Auf
aber nicht hinreichend halte. Friedensforschung ist für
welchen seltenen Rohstoffen basieren die neuen Techno-
uns untrennbar verbunden mit großen Wissenschaftlern
logien und wie wird die Versorgungssicherheit der Wirt-
wie Albert Einstein, Joseph Weizenbaum bis hin zu
schaft gewährleistet?
Hans-Peter Dürr und den Göttinger Achtzehn. Dies sind
Die deutsche Friedensforschung ist gut aufgestellt. Menschen, die sich aus humanistischer und pazifisti-
Sie hat zu einer objektiven und interdisziplinären Beur- scher Überzeugung in ihrer Wissenschaft und der Frie-
teilung der Konflikte beigetragen. Sie hat belastende densforschung über alle Anfeindungen hinweg für den
ökonomische, ideologische, konfessionelle und religiöse Frieden forschend und lehrend engagierten. So heißt es
sowie ethnische Strömungen in der Welt aufgezeigt. in der Erklärung der Göttinger Achtzehn von 1957, zu

Zu Protokoll gegebene Reden


6964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Kathrin Vogler
(A) denen unter anderem die Nobelpreisträger Heisenberg, ses Modell für ein umfassendes Vertragswerk zur Ab- (C)
Hahn und Born sowie Carl Friedrich von Weizsäcker schaffung aller Atomwaffen wurde bei der letzten Über-
zählten: „Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichner be- prüfungskonferenz von der großen Mehrheit der Staaten
reit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem der Welt unterstützt – leider noch nicht von der Bundes-
Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteili- regierung, trotz der wiederholten Bekenntnisse von Au-
gen.“ ßenminister Westerwelle zu einer atomwaffenfreien
Welt.
Eine solche Absage ist heute aktueller denn je. Nach
Auskunft des Friedensforschungsinstituts SIPRI werden Ganz persönlich wünsche ich mir ein großzügig ge-
jedes Jahr in Deutschland zwischen 5 und 7 Milliarden fördertes, interdisziplinäres Forschungsprogramm für
Euro öffentliche Mittel für die Rüstungsforschung an öf- eine „Bundesrepublik Deutschland ohne Armee“. Die
fentlich geförderten Instituten ausgegeben. Gegenüber Linke setzt sich dafür ein, dass die Vorschläge der For-
diesen Milliarden wirkt der Antrag der SPD-Fraktion scherinnen und Forscher auch in der politischen Praxis
von einmalig 5 Millionen Euro für die Deutsche Stiftung berücksichtigt werden. Friedensforschung ist keine El-
Friedensforschung noch deutlich zu bescheiden. Die fenbeinturmwissenschaft, sondern Anleitung zum Han-
Stiftung wird im Jahr 2011 für friedenswissenschaftliche deln für eine bessere, friedlichere Welt.
Projekte circa 600 000 Euro ausgeben können, für
Kriegsforschung stehen Milliardenbeträge bereit. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Finanzielle Prioritäten zeigen den politischen Willen Es war ein mühseliger Prozess, bis es im Jahr 2000
der Handelnden. Wieder werden nach Bertolt Brecht zur Errichtung der Deutschen Stiftung Friedensfor-
mehr „erfinderische Zwerge, die man für alles mieten schung kam. Mein ehemaliger Kollege Winfried Nachtwei,
kann“, an den Hochschulen herangezogen als enga- der sich sehr für die Stiftung eingesetzt hat, könnte da-
gierte junge Menschen, die sich zu Hause und in der von sicher manches Liedchen singen. Umso erfreulicher
Welt für den Frieden engagieren. Es hat doch nicht erst ist es, dass sich dieses rot-grüne „Baby“ so positiv ent-
des gescheiterten Krieges in Afghanistan bedurft, um er- wickelt hat und inzwischen als wohlgeratenes Kind einer
neut zu beweisen, dass Krieg und damit auch Kriegsfor- parteiübergreifenden Großfamilie angesehen wird.
schung kein Problem dieser Welt löst. Wenn der Arbeitskreis Außen- und Sicherheitspolitik
Die Friedensforschung steht heute vor der großen der CSU Fachgespräche mit der Stiftung Friedensfor-
Aufgaben. Die Zusammenhänge zwischen Klimaverän- schung durchführt, kann man wohl davon ausgehen,
derung, Ernährungsunsicherheit, Wasser- und Ressour- dass die Kompetenz der Stiftung inzwischen allgemein
cenknappheit, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen anerkannt ist.
(B) erfordern neue Konzepte und Lösungsansätze im Sinne (D)
Die Gründung der Deutschen Stiftung Friedensfor-
ziviler Krisenprävention und nichtmilitärischer Kon- schung fiel nicht zufällig in eine Zeit, in der – nach
fliktbeilegung. Das sind enorme Zukunftsherausforde- Überwindung der Blockkonfrontation – durch eskalie-
rungen für Generationen junger Wissenschaftlerinnen rende ethnische und nationalistische Konflikte die Frage
und Wissenschaftler. Und wir diskutieren über eine Ka- nach der Prävention und Friedenserhaltung verstärkt
pitalerhöhung von 5 Millionen Euro, die pro Jahr nicht ins politische Bewusstsein gerückt war.
mehr als 200 000 Euro Ertrag für Projekte bringen
würde. Notwendig und sachgerecht wäre schon jetzt eine Der krisenpräventive Ansatz spielt nach wie vor eine
Verdopplung des Stiftungskapitals um 25 auf 50 Millio- zentrale Rolle in der Mission und Arbeit der Stiftung. Wie
nen Euro. Ein Zigfaches solcher Summen haben die ver- kann die gewaltsame Eskalation von Konflikten vermie-
schiedenen Mehrheiten dieses Hauses in den letzten den und wie kann nach einer gewaltsamen Auseinander-
Jahren etwa für die Kostensteigerungen bei den Rüs- setzung wieder eine friedliche Entwicklung ermöglicht
tungsprojekten Eurofighter, Kampfhubschrauber oder werden? Diese Themen sind für die wissenschaftliche
Airbus A400M, ohne mit der Wimper zu zucken, durch- Forschung von ungeschmälerter Relevanz.
gewinkt.
Mit der Gründung einer gemeinnützigen Stiftung Bür-
Ein deutlicher Anstieg der Förderung für die Frie- gerlichen Rechts wurde eine möglichst große Unabhän-
densforschung gehört für die Linke zu dem notwendigen gigkeit für die Stiftung Friedensforschung angestrebt,
Paradigmenwechsel deutscher Politik hin zu einer zivil und zwar sowohl politisch, wissenschaftlich, aber auch
ausgestalteten, aktiven Friedenspolitik. Dazu sollten finanziell. Um dies zu gewährleisten, wurde die DSF mit
nach meiner Auffassung auch Friedenswissenschaft und einem Stiftungskapital ausgestattet, das diese Unabhän-
Friedensbewegung noch enger zusammenarbeiten. gigkeit zumindest ein Stück weit sichert, dessen Erträge
Dazu gehört auch, dass sich die Friedenswissenschaft aber keine großen Sprünge erlauben. Durch steigende
noch stärker grundsätzlicheren friedenspolitischen Fra- Sach- und Personalkosten werden die Spielräume für
gen widmet, etwa der Erforschung der großen, vom neue Forschungsprojekte zunehmend eingeschränkt, ob-
Friedensnobelpreisträger Joseph Rotblat formulierten wohl mit dem Stiftungskapital durchaus sorgsam umge-
Vision, „die Institution Krieg von diesem Planeten zu gangen wurde.
verbannen“.
Dabei sind die Erwartungen und Ansprüche an die
Trotz der geringen Mittel leistet die Friedensfor- Stiftung eher gewachsen. So ist es zu begrüßen, dass die
schung heute schon Beeindruckendes. Erinnert sei nur Stiftung neben der Projektförderung auch mit Stiftungs-
an die Ausarbeitung der Nuklearwaffenkonvention. Die- professuren und Masterstudiengängen institutionelle

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6965
Krista Sager
(A) Lehr- und Forschungsstrukturen geschaffen hat, die zur weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (C)
nachhaltigen Etablierung der Friedenswissenschaft bei- SPD
tragen. Es wäre höchst bedauerlich, wenn die Stiftung
sich gezwungen sähe, sich zum Beispiel aus der Promo- Die Steinkohlevereinbarung gilt
tionsförderung für den wissenschaftlichen Nachwuchs – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer,
dauerhaft zurückzuziehen. Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Die Stiftung leistet auch wichtige Beiträge zu aktuel-
len Debatten, zum Beispiel mit dem internationalen Für einen geordneten und sozialverträglichen
Symposium „Religionen und Weltfrieden“, und riskiert Ausstieg aus dem subventionierten Stein-
unerwartete, aber interessante Perspektiven, wenn sie kohlebergbau
nach dem Friedens- und Konfliktlösungspotenzial von
Religionsgemeinschaften fragt. Dies sind gute Gründe, – Drucksachen 17/3043, 17/3044, 17/3231 –
weshalb wir uns immer wieder dafür eingesetzt haben,
Berichterstattung:
die Handlungsmöglichkeiten der Stiftung zu erhalten
Abgeordneter Rolf Hempelmann
und zu fördern. Auch in den diesjährigen Haushaltsbe-
ratungen haben wir einen entsprechenden Antrag einge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
bracht. Krischer, Fritz Kuhn, Markus Tressel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
Mit Sorge haben wir aber auch in den letzten Jahren DIE GRÜNEN
beobachtet, dass die Unterstützung für die Stiftung im-
mer wieder im Parteienstreit unterzugehen drohte. Das Subventionierten Steinkohlebergbau sozialver-
wäre wirklich schade, und das hätte die Stiftung Frie- träglich beenden
densforschung auch nicht verdient. Sowohl ihre Unab-
hängigkeit als auch ihre gute wissenschaftsgeleitete – Drucksache 17/3201 –
Praxis hat sie inzwischen hinlänglich unter Beweis ge- Hierzu geben die Kolleginnen und Kollegen Thomas
stellt. Bareiß, Rolf Hempelmann, Klaus Breil, Ulla Lötzer und
Oliver Krischer ihre Reden zu Protokoll.
Sie verfügt über einen sinnvollen Mix an Förderins-
trumenten, einen 18-köpfigen wissenschaftlichen Beirat,
hat ein professionelles Begutachtungsverfahren eta- Thomas Bareiß (CDU/CSU):
bliert und orientiert sich konsequent an Exzellenz. Sie Wieder einmal reden wir über ein energiepolitisches
(B) gibt Anregungen, macht aber keine Vorgaben, sorgt aber Thema, das die Opposition instrumentalisiert. Dieses (D)
zum Beispiel dafür, dass nationale und internationale Mal ist die Steinkohle und deren Subventionierung Ge-
Friedensforscher auf Fachtagungen und Konferenzen genstand der Diskussion. Die SPD und die Linken for-
einen intensiven Austausch pflegen können. dern in ihren Anträgen die Bundesregierung auf, sich in
Brüssel für ein Weiterbestehen des Steinkohlefinanzie-
Dass durch die Arbeit der Stiftung Friedensforschung rungsgesetzes einzusetzen. Der Antrag der Grünen zielt
ein erweitertes Sicherheitsverständnis und die zivile Kri- darauf ab, die Förderung des Steinkohlebergbaus früh-
senprävention und -bearbeitung ein stärkeres außen- zeitig zu beenden.
politisches Gewicht bekommen haben, ist ebenfalls zu
begrüßen und dürfte sicher kein parteipolitisches Son- Wie in den anderen zahlreichen Anträgen im energie-
deranliegen sein. Ich würde mich deshalb freuen, wenn politischen Bereich sieht die Opposition die Thematik
im Zuge der weiteren Beratungen es doch noch zu einer allerdings zu kurzsichtig.
gemeinsamen Unterstützung der Deutschen Stiftung
Friedensforschung durch alle Fraktionen des Deutschen Vorneweg möchte ich klarstellen: Im Steinkohlefinan-
Bundestages kommen sollte. zierungsgesetz von 2007 hat sich die Große Koalition
darauf geeinigt, die subventionierte Förderung der
Steinkohle in Deutschland bis 2018 zu beenden. Die
Präsident Dr. Norbert Lammert: CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht zu diesem Ent-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf schluss. Der Ausstiegsplan ist sozial ausgereift und wird
Drucksache 17/1051 an die in der Tagesordnung aufge- von Bund und Ländern getragen. Es gibt keinen Grund,
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch das ist offen- von diesem Fahrplan abzuweichen.
kundig einvernehmlich. Dann können wir die Überwei- Bereits im Jahr 2007, als das Steinkohlefinanzie-
sung so beschließen. rungsgesetz von der Großen Koalition auf den Weg ge-
Ich rufe die Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf: bracht wurde, war allerdings allen Beteiligten klar, dass
für den Zeitraum 2011 bis 2018 keine beihilferechtliche
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Genehmigung der EU vorlag. Mit einer Entscheidung
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- der EU zum Ende des Jahres 2010 musste daher gerech-
nologie (9. Ausschuss) net werden. Diese sieht nun in Form des aktuellen EU-
Kommissionsvorschlags ein Auslaufen der deutschen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Subventionierung von Steinkohle bereits im Jahr 2014
Hempelmann, Ingrid Arndt-Brauer, Doris Barnett, vor.
6966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Thomas Bareiß
(A) Ich begrüße den Vorstoß unseres Bundeswirtschafts- Vor dem Hintergrund des Klimaschutzes spielt in die- (C)
ministers Rainer Brüderle, zu prüfen, ob ein vorzeitiger sem Zusammenhang die CCS-Technologie – Carbon
Ausstieg aus der Steinkohlesubventionierung zum Jahr Capture and Storage – eine wichtige Rolle. Deshalb
2014 überhaupt Geld einspart. müssen wir jetzt alles daransetzen, dass das CCS-Gesetz
so schnell wie möglich verabschiedet wird, um in einem
Die Absatzbeihilfen, gegen die die EU-Kommission ersten Schritt erste Demonstrationsvorhaben zu ermög-
vorgehen will, gehen kontinuierlich zurück. Dagegen lichen. Hinzu kommt, dass viele Staaten auch in Zukunft
wachsen die Zuschüsse zu Stilllegungen und zu dem Auf- bei ihrer Energieversorgung auf Kohle setzen werden.
wand für die Alt- und Ewigkeitslasten. In den Jahren
2015 bis 2018 würden die vom Steinkohlefinanzierungs- Dabei bieten sich im Bereich der CCS-Technologie
gesetz gesicherten Absatzbeihilfen in der Summe nur für die deutsche Wirtschaft zukunftsträchtige Ex-
noch circa 2 Milliarden Euro erreichen. Ein vorzeitiger portchancen. In China gehen jede Woche mehrere Koh-
Ausstieg hätte frühzeitige Stilllegungen und betriebsbe- lekraftwerke ans Netz. Obwohl die Chinesen bereits der
dingte Kündigungen von mehreren Tausend Bergleuten größte Steinkohleförderer weltweit sind, importieren sie
zur Folge. Hinzu kommen weitere Faktoren, wie prakti- sogar Steinkohle aus anderen Ländern. Auch die massi-
sche und technische Probleme, die Bergwerke früher zu ven Investitionen der USA in CCS und die Entscheidung
schließen. der EU für CCS sind ein Zeichen dafür, dass die Stein-
kohle im Zusammenhang mit CCS durchaus Zukunft hat.
Es ist also durchaus erst einmal infrage zu stellen, ob Deutschland darf als Exportnation diesen technologi-
der von der EU-Kommission vorgesehene Ausstieg aus schen Trend nicht verschlafen und muss technologiefüh-
den staatlichen Hilfen für den Steinkohlebergbau bereits rend bleiben.
2014 tatsächlich günstiger wird. Vor diesem Hinter-
grund hat die Bundesregierung einen Prüfvorbehalt ein- Nicht zum ersten Mal beschäftigt uns das Thema
gelegt. Steinkohleförderung im Plenum. Schließlich ist es nicht
zuletzt auch ein sehr emotionales. Dies hat verschiedene
Entscheidungen sollten nämlich erst getroffen wer- Gründe. Zum einen entsteht diese Emotionalisierung
den, wenn die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst durch die große Bedeutung von Kohle in unserem der-
dann macht es Sinn, über weitere Schritte nachzuden- zeitigen Energiemix und zum anderen durch die langjäh-
ken. Die Oppositionsanträge leisten hierbei keinen kon- rige Tradition in Deutschland und ihre Bedeutung als
struktiven Beitrag und müssen daher abgelehnt werden. langjährig wichtigster Wirtschaftsfaktor für das Ruhrge-
biet.
Nochmals will ich hervorheben, dass nicht in erster
Linie inhaltliche Gründe im Vordergrund stehen, son- Immerhin liegt Deutschland bei der Steinkohleförde-
(B)
dern vor allem verfahrenstechnische. Der Zeitpunkt der rung hinter Polen auf Platz zwei in Europa. In unserem (D)
Entscheidung über das weitere Vorgehen wird noch deutschen Energiemix hat die Steinkohle einen Anteil
kommen. Gerne will ich aber natürlich unabhängig von von rund 18 Prozent an der Bruttostromerzeugung. Ge-
diesen beiden Anträgen auf die Thematik eingehen. Da- meinsam mit der Braunkohle beträgt der Anteil am
bei möchte ich zunächst das Thema Kohle grundsätzlich Stromkuchen über 40 Prozent.
in den Rahmen des von der Bundesregierung jüngst be- Insbesondere die Menschen in der Region haben eine
schlossenen Energiekonzepts setzen. besondere Verbundenheit damit. Das hat unter anderem
historische Gründe. Das Ruhrgebiet ist eine der bedeu-
In dem Energiekonzept stehen die drei Eckpfeiler Kli- tendsten deutschen und europäischen Industrieregionen.
mafreundlichkeit, Verlässlichkeit und Wirtschaftlichkeit Dies wäre ohne den Steinkohleabbau nie möglich gewe-
im Vordergrund. Trotz ihres oftmals schlechten Rufs wird sen. Die heimische Steinkohle hat über Jahrzehnte ent-
Kohle auch mittelfristig aus verschiedenen Gründen scheidend zum Aufbau unseres Landes und der Steige-
noch eine bedeutende Rolle im Energiemix einnehmen. rung unseres Wohlstandes beigetragen.
Die Verlässlichkeit spielt dabei eine große Rolle, Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Steinkohle-
schließlich ermöglicht der starke Ausbau der erneuerba- finanzierungsgesetz und dem Auslaufen der Steinkohle-
ren Energien in Deutschland zwar höhere Minderungs- förderung sagen. Mit dem Gesetz aus dem Jahr 2007
ziele für den CO2-Ausstoß. Er macht gleichzeitig aber wurde eine wichtige ordnungspolitische Grundsatzent-
auch den Neubau von hocheffizienten Kohlekraftwerken scheidung getroffen und der größte Subventionsabbau
notwendig. Diese werden als Grundlastkraftwerke zur seit Bestehen der Bundesrepublik beschlossen. Deutsch-
Ergänzung des je nach Sonnen- oder Windaktivität land ist damit das einzige Land, das ein schlüssiges, so-
schwankenden Angebots an erneuerbaren Energien zialverträgliches und wirtschaftliches Gesamtkonzept
dringend gebraucht und ersetzen alte ineffiziente Kraft- zur Beendigung der heimischen Steinkohleförderung
werke. hat.
In unserem Energiekonzept haben wir dies berück- Der deutsche Steinkohlebergbau ist seit vielen Jahren
sichtigt: Zur Modernisierung des fossilen Kraftwerks- aufgrund seiner ungünstigen geologischen Bedingungen
parks wird die im europäischen Energie- und Klimapa- international nicht mehr wettbewerbsfähig. Milliarden-
ket vereinbarte Möglichkeit genutzt, ab 2013 den Neu- schwere Subventionen, fast 2 Milliarden Euro pro Jahr
bau von CCS-fähigen, hocheffizienten Kraftwerken mit in den letzten Jahren, waren bisher notwendig, damit der
bis zu 15 Prozent der Investitionskosten zu unterstützen. deutsche Steinkohlebergbau wettbewerbsfähig bleibt.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6967
Thomas Bareiß
(A) Das Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007 trägt be- die damit entstandene Planungssicherheit und das Ver- (C)
reits dem Umstand Rechnung, dass deutsche Steinkohle trauen in die getroffene Regelung nicht zerstören.
in absehbarer Zeit eine Wettbewerbsfähigkeit nicht er-
reichen wird. Bei der Versorgung der deutschen Wirt- Angesichts der Größe der Branche, über die wir re-
schaft überwiegen die Importe. Steinkohle kann jederzeit den, brauchen wir einen sozialverträglichen Ausstieg
aus sicheren Lieferländern bezogen werden. Dies soll aus der Steinkohleförderung, wenn man den betroffenen
nicht heißen, dass die Förderung von Steinkohle in Menschen eine vernünftige Perspektive bieten will.
Deutschland nicht mehr politisch gewollt ist, sondern Wegen der genannten Gründe würde ich es für sinn-
dass die Förderung unter der Prämisse der Wirtschaft- voll erachten, an dem im Jahr 2007 beschlossenen Aus-
lichkeit stehen muss, was übrigens für alle Energieträ- stieg aus der Steinkohleförderung bis 2018 festzuhalten.
ger gilt. Wie ich zu Beginn dargelegt habe, müssen wir jetzt auf-
Der Ausstiegsbeschluss von 2007 war somit richtig grund der aktuellen Entwicklungen in Brüssel besonnen
und wichtig und stellt meines Erachtens einen gelunge- agieren und einen vernünftigen Kompromiss anstreben,
nen Kompromiss zwischen der Notwendigkeit des Sub- der eine Förderung bis 2018 weiter ermöglicht. Der von
ventionsabbaus und dem Schutz der Arbeitnehmer in der Bundesregierung gewählte Weg des Prüfvorbehalts
dieser Branche dar. ist in diesem Zusammenhang richtig.
Mit der Kommissionsentscheidung stehen wir nun vor Eine Entscheidung sollte erst getroffen werden, wenn
einer neuen Situation, die wir besonnen zu prüfen haben die Kosten beider Szenarien klar sind. Erst dann kann
werden, wie ich eingangs bereits erwähnt habe. Ein sich über mögliche weitere Schritte entschieden werden. Da-
anbahnender Kompromiss mit der Kommission könnte bei bin ich sehr zuversichtlich, dass es uns gelingen
lauten, dass die Förderung, wie im Steinkohlefinanzie- wird, mit Brüssel auf einen gemeinsamen Nenner zu
rungsgesetz vereinbart, bis zum Jahr 2018 – und nicht kommen.
wie von der EU gefordert bis 2014 – ausläuft.
Im Gegenzug müsste die Revisionsklausel des Geset- Rolf Hempelmann (SPD):
zes überdacht werden. Diese Klausel besagt, dass dem Wir beraten heute gleich drei Anträge zum deutschen
Deutschen Bundestag bis spätestens 30. Juni 2012 ein Steinkohlebergbau – von SPD, Grünen und von der Lin-
Bericht zugeleitet wird, auf dessen Grundlage nochmals ken. Das allein zeigt schon den Stellenwert des Themas
geprüft wird, ob der Steinkohlebergbau unter Beachtung für alle Parteien bis auf die der Regierung angehörigen
der Gesichtspunkte der Wirtschaftlichkeit, Sicherung Fraktionen. Die Bundesregierung hat es verschlafen,
der Energieversorgung und der übrigen politischen auf EU-Ebene eine Folgegenehmigung ab 2011 für den
(B) Ziele über das Jahr 2018 hinaus gefördert werden soll. vereinbarten Anpassungsprozess im deutschen Steinkoh- (D)
lebergbau bis zum Jahr 2018 zu erwirken.
Wie ich in Gesprächen mit Brüsseler Kollegen erfah-
ren haben, könnte sich die Kommission vorstellen, die Die Europäische Kommission hatte sich bislang
Förderung bis 2018 zu erlauben, wenn die Option der grundsätzlich offen gezeigt, die laut Steinkohlevereinba-
Revisionsklausel gestrichen wird. Damit könnte die För- rung bis 2018 auslaufende subventionierte Förderung
derung wie geplant bis 2018 laufen. auch über 2011 hinaus zu genehmigen. Nach der Neube-
setzung des EU-Gremiums scheint jedoch nunmehr das
Ich denke, dass eine solche Förderung unter diesen Kostenargument ausschlaggebend zu sein. Der im Juli
Umständen Sinn machen würde. Schließlich ist eine der vorgelegte Verordnungsentwurf stützt sich allein auf das
wichtigsten Komponenten der Wirtschaftspolitik, stabile Vorhaben, staatliche Beihilfen abzubauen, und sieht ein
Rahmenbedingungen zu schaffen, auf die sich die Unter- vorzeitiges Auslaufen der Steinkohleförderung im Jahr
nehmen, Mitarbeiter und Bürger verlassen können. Es 2014 vor. Die Kommission argumentiert, ein vorzeitiger
wurde seinerzeit eine gute Regelung getroffen, auf die Ausstieg liege „auch im Interesse des Steuerzahlers und
sich die Region und die Menschen dort verlassen. Die- der stark strapazierten Staatskassen“.
sen Vertrauensschutz und die Planungssicherheit sollten
wir auf keinen Fall gefährden. Im Sinne einer verlässli- Anderen Gesichtspunkten wird offensichtlich keine
chen Wirtschaftspolitik halte ich ein Festhalten an einer Beachtung geschenkt. Unbeachtet bleibt, dass es sich
Förderung bis 2018 daher für richtig. bei unserem Steinkohlekompromiss um einen sorgsam
austarierten Kompromiss handelt, der einen sozialver-
Mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz von 2007
träglichen Übergang gewährleistet. Außen vor bleibt
wurde ein historischer Schritt in Richtung Subventions-
auch, dass die Steinkohlevereinbarung einen Weg auf-
abbau getan. Damit wurde ein vernünftiger Konsens mit
zeigt, wie ein Auslaufpfad bis 2018 einschließlich der
allen Beteiligten – Beschäftigten, Unternehmen und
sogenannten Ewigkeitslasten des Steinkohlebergbaus in
Politik – geschlossen, der seine Berechtigung hat. Diese
unternehmerischer Verantwortung von der RAG AG be-
Regelung beendet die Subventionierung im deutschen
wältigt werden kann. Schließlich spielt auch die in einer
Steinkohlebergbau auf sozialverträgliche Weise. So
Studie festgestellte Klimaneutralität der Steinkohleför-
stellt der vereinbarte Ablaufzeitraum bis 2018 sicher,
derung keine Rolle, die daher rührt, dass die in EU-Län-
dass betriebsbedingte Kündigungen im Steinkohleberg-
dern nicht mehr abgebaute Steinkohle lediglich durch
bau vermieden werden können.
Importkohle aus Drittländern ersetzt werden wird. Die
Ferner sollten wir die durch langwierige politische Beendigung der heimischen Steinkohleförderung wird
Entscheidungen seinerzeit erzielten Kompromisse und damit nicht automatisch zu einer Reduzierung der fossi-

Zu Protokoll gegebene Reden


6968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Rolf Hempelmann
(A) len Stromerzeugung und der damit zusammenhängenden Das von EU-Kommissar Oettinger vorgeschlagene (C)
Treibhausgasemissionen führen. „deutliche Zeichen aus Deutschland …, dass 2018 end-
gültig Schluss ist mit den Beihilfen“, werten wir aller-
Das Kostenargument aber relativiert sich mit Blick dings als ein Signal dafür, dass die Revisionsklausel in
auf den in Deutschland seit den 1990er-Jahren eingelei- Brüssel bereits auf der Kippe steht. Die Regierung hat
teten Subventionsabbau bei der Steinkohle. Die Förde- den Karren so weit vor die Wand gefahren, dass die un-
rung wurde bis 2009 um mehr als die Hälfte reduziert. ter massivem Handlungsdruck stehenden Beteiligten,
Eine weitere Zahl macht die Dimensionen greifbar: Der aber auch die Betroffenen, am Ende sogar bereit sein
Anteil der Steinkohlehilfen am gesamten Subventionsvo- werden, auf die Revisionsklausel zu verzichten, um noch
lumen in Deutschland lag nach den Untersuchungen des schlimmeres Übel zu verhindern. Denn letztlich wird es
Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Kiel, bereits 2007 un- darum gehen, die Sozialverträglichkeit eines Auslauf-
ter 2 Prozent. pfads bis 2018 zu wahren und die Finanzierungsbasis
von RAG-Stiftung und der heutigen Evonik Industries
Gegen potenzielle Einsparungen für den Bundes-
AG nicht zu gefährden.
haushalt müssen ehrlicherweise auch die sozialen Kos-
ten eines überstürzten Abbaus der Förderung, der Ver- Als SPD-Fraktion stehen wir zu den im Steinkohlefi-
lust an Versorgungssicherheit und die Gefährdung des nanzierungsgesetz verankerten Vereinbarungen. Der
Finanzierungsfahrplans für die Ewigkeitslasten in An- Steinkohlekompromiss darf weder der Haushaltskonso-
schlag gebracht werden. Diese Risiken wiegen schwer. lidierung geopfert noch gegen den Klimaschutz ausge-
Und manches, wie Arbeitsplatzverlust und Perspektivlo- spielt werden. Die Gründe dafür habe ich bereits ge-
sigkeit, in die Bergleute und Beschäftigte der nachgela- nannt.
gerten Branchen mit einem frühzeitigen Ausstieg aus der
Vereinbarung gestürzt würden, lässt sich nicht in Zahlen Die Bundesregierung steht jetzt in der Pflicht, zu han-
ermessen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unver- deln. Sie hat sich in eine äußerst heikle Lage gebracht,
ständlich, in welche Lage uns die Bundesregierung auf die erfordert, dass eine Nachfolgeregelung für die Ende
EU-Ebene manövriert hat. 2010 auslaufende Verordnung des Rates über staatliche
Beihilfen im Steinkohlebergbau unter erschwerten Be-
Es ist unglaublich, dass der deutsche EU-Kommissar, dingungen und unter massivem Zeitdruck durchgesetzt
der fachlich auch noch für das Energieressort zuständig wird.
ist, bei den entscheidenden Abstimmungsprozessen mit Wir erwarten von der Bundeskanzlerin, dass sie in-
Abwesenheit glänzte! Und es ist untragbar, dass es die nerhalb ihres Kabinetts zügig für eine einheitliche Linie
aktuelle Bundesregierung zulässt, dass die Steinkohle- sorgt und auf EU-Ebene mit allen Mitteln gegen eine
(B) vereinbarung von 2007 von den eigenen Reihen ausge- vorzeitige Beendigung der Steinkohlebeihilfen vorgeht. (D)
höhlt wird. Wo andere betroffene EU-Länder wie Rumä-
nien und Spanien ihre Interessen mittels Widerspruch Es ist der Regierung nicht anzuraten, die Debatte um
klar verteidigen, legte Brüderle lediglich einen Prüfvor- die Zukunft der Kohleförderung wieder aufzumachen.
behalt ein, und das, obwohl die Datenlage doch lange Diesen Knoten hatten wir 2007 unter Beteiligung aller
klar ist. Der FDP-Wirtschaftsminister sitzt das ihm un- Betroffenen – der damaligen Bundesregierung und der
angenehme Thema also aus. Landesregierungen NRW und Saarland, der Industrie-
gewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der RAG
Der Energiekommissar fabuliert kurz vor Zwölf über AG – gelöst. Die Steinkohlevereinbarung von 2007 darf
mögliche Wege, die Vereinbarung so aufzuweichen, dass nicht einfach aufgekündigt werden.
sie auf EU-Ebene noch durchzubringen sei. Im Interview
mit der „Bild“-Zeitung sagte er kürzlich: „Ich schlage Es ist absehbar, dass die Kanzlerin diesen Job Mitte
vor, diese Revision in den nächsten Wochen schnell vor- Dezember auf dem Europäischen Rat selbst erledigen
zuziehen und den Ausstieg 2018 zu bekräftigen. Das muss. Wir erwarten, dass sie das durchsetzt, was wir in
würde auch die Skeptiker überzeugen, dass keine weitere Deutschland beschlossen haben und was die Kommis-
Verlängerung beantragt wird.“ Das heißt, der Kommis- sion zwischenzeitlich schon einmal zu ihrer eigenen
sar wünscht sich formal eine vorgezogene Überprüfung Politik gemacht hatte.
des Steinkohlebeschlusses, gibt aber gleichzeitig schon
das Ergebnis vor – den endgültigen Ausstieg im Jahr Klaus Breil (FDP):
2018. Damit wird die „Revision“ ad absurdum geführt. Mit dem Kohlekompromiss ist 2007 in Deutschland
das Auslaufen des subventionierten heimischen Stein-
Mit Blick auf die Lage an den Weltmärkten wäre es kohlebergbaus zum Ende des Jahres 2018 beschlossen
ein Armutszeugnis, die Revisionsklausel leichtfertig den worden.
Verhandlungen mit EU-Mitgliedsländern preiszugeben.
Die Wahrung einer Fortführungsperspektive der heimi- Damit wurden einvernehmlich zwei Ziele umgesetzt:
schen Steinkohleförderung ist eine Frage der Versor-
Zum einen soll die Beendigung des Steinkohleabbaus
gungssicherheit. Auf den Weltmärkten verschärft sich
sozialverträglich erfolgen: Auf betriebsbedingte Kündi-
die Verknappungssituation für energetische und nichten-
gungen wird verzichtet.
ergetische Rohstoffe. Die wachsende Lücke zwischen
Angebot und Nachfrage führt zu teilweise erheblichen Zum anderen wird mit der Gründung der RAG-Stif-
Preissteigerungen, die den Erhalt eines Sockelbergbaus tung das Ziel verfolgt, Kapital anzusammeln, mit dem
wirtschaftlich machen könnten. die sogenannten Ewigkeitskosten des Bergbaus bedient

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6969
Klaus Breil
(A) werden. Gemeint sind hier die Kosten für Maßnahmen, auch nach 2018 betreiben zu wollen, ist hier mehr als (C)
die für die Nachsorge eines Bergwerkes nötig sind: Vor kontraproduktiv und schädlich.
allem Wasserhaltung und Versorgung der betroffenen
Flächen. Gleichwohl liegt es bei den Mitgliedstaaten der EU
und beim Europäischen Parlament, eine gangbare Eini-
So wurde ein richtungsweisender Anpassungsprozess gung zu finden. Und wir können nicht die Europäische
ermöglicht. Mithilfe aller zur Verfügung stehenden so- Einigung allseits fordern, bei konkreten Maßnahmen
zial- und personalpolitischen Instrumente werden die aber behaupten, dies ginge uns nichts an, oder wie es
Konsequenzen des Ausstiegs für die Bergleute aufgefan- der Antrag der Linken fordert, unseren nationalen Ver-
gen. Zudem sollen die betroffenen „Kohlerückzugs- trägen auf der EU-Ebene – gefälligsterweise – Geltung
gebiete“ ausreichend Zeit haben, die regionalökono- zu verschaffen.
mischen Folgen eines Auslaufbergbaus abzufedern. Die
Anders sieht es da bei dem Antrag der Grünen aus:
Vorgaben dieses Rahmens werden seit Jahren nun unter-
Sie stehen zum Ausstieg 2018, zumindest im Bund. In
nehmerisch schrittweise umgesetzt. Darüber hinaus
NRW allerdings sieht für die Grünen die Sache wieder
wurde beschlossen, die Option auf den Erhalt eines So-
einmal ganz anders aus. Hier zeigt sich ihre janusköp-
ckelbergbaus offen zu halten – will heißen, dass der
fige Gesinnung: Vorne „hü“, hinten „hott“! Will doch
Deutsche Bundestag den Auslaufbeschluss im Jahr 2012
der rot-grüne Regierungspakt in NRW nichts Geringe-
revidieren kann.
res, als dass die Optionen auf Beendigung und Fort-
Dies alles haben wir Ende 2007, Anfang 2008 durch setzung der Steinkohleförderung gleichberechtigt bei
das neue Steinkohlefinanzierungsgesetz und ein beglei- weiteren Aktivitäten und Planungen des Bergbaues bei-
tendes Vertragswerk rechtlich fixiert. Bedeutsam dabei behalten werden.
ist, dass hier in einmaliger Weise das Ende einer Sub- Für die FDP liegt die Situation eindeutig auf der
ventionierung im industriellen Bereich beschlossen Hand – die Entscheidungsträger sind klar benannt.
wurde. Man tauschte Subventionen gegen soziale Si- Diesbezügliche Anträge erübrigen sich. Auch deshalb
cherheit und wurde sich einig. lehnen wir diese ab. Sollte nun die EU aber das Auslau-
fen der Beihilfen für 2014 vorgeben, wird die christlich-
Hier sollten wir – meine ich – einen Moment innehal-
liberale Koalition die Kumpel nicht im Regen stehen las-
ten und uns darüber klar werden, welche paradigmati-
sen.
sche Ausstrahlung von diesem Kompromiss ausgeht. Zu-
dem möchte ich einen berühmten und unvergessenen
Politiker aus meinem Wahlkreis zitieren, der den alten Ulla Lötzer (DIE LINKE):
(B) römischen Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ in Es handelt sich um eine Premiere: Die Linke im Bun- (D)
den Mittelpunkt einer politischen Diskussion rückte: Es destag bringt heute einen CDU-Antrag aus dem Landtag
ging seinerzeit um die Ostverträge. Diese mündeten NRW ein, der dort mit den Stimmen von CDU, SPD,
dann bekanntlich in der deutschen Wiedervereinigung. Grünen und Linken verabschiedet wurde. Nur die FDP
Auch wir sollten an geschlossenen Verträgen festhalten! sprach sich im Landtag dagegen aus, am Steinkohle-
kompromiss festzuhalten, und nimmt damit Massenent-
Der nun vorliegende EU-Verordnungsvorschlag lassungen bei den Bergleuten in Kauf. Die Bergleute ha-
wurde Ende September dieses Jahres in der Ratsarbeits- ben letzte Woche machtvoll in Brüssel demonstriert.
gruppe Wettbewerb auf Fachebene beraten. Zur Diskus- Mittlerweile gibt es klare Beschlüsse des Bundesrates,
sion steht, Subventionen für nicht wettbewerbsfähige eu- und gestern hat auch der DGB noch einmal das Festhal-
ropäische Steinkohlebergwerke bereits 2014 auslaufen ten am Steinkohlekompromiss gefordert.
zu lassen. Festzuhalten ist dabei, dass es bisher bei wei-
tem keine europäische Einigkeit hinsichtlich eines End- Die Vorgänge um das Steinkohlefinanzierungsgesetz
datums für diese Betriebsbeihilfen gibt. Sehr dankbar zeigen nicht nur die Inkompetenz der Bundesregierung
bin ich diesbezüglich, dass die Bundesregierung alles bei der Interessenvertretung in den europäischen Insti-
unternimmt, hier eine einvernehmliche Lösung zu fin- tutionen. Sie zeigen auch zum wiederholten Male die
den. Sie hat in diesem Zusammenhang auf den deutschen Ignoranz des Bundeswirtschaftsministers gegenüber
Steinkohlekompromiss hingewiesen und einen Prüfvor- dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der Bedeutung
behalt zur Frage des Enddatums eingelegt. von Industriearbeitsplätzen, wobei Nordrhein-Westfalen
stets besonders schlecht wegkommt. Herr Brüderle nutzt
Auch unser EU-Energiekommissar Günther das jahrelange europarechtliche Vakuum, das die Bun-
Oettinger lässt positiv aufhorchen, wenn er in der Presse desregierung geschaffen hat, um sich über die deutsche
verlautbaren lässt: „Für die deutschen Kumpel ist noch Gesetzeslage hinwegzusetzen. Das ist ein seltsames De-
nicht Schicht im Schacht“. Seinen Hinweis, es gebe gute mokratieverständnis und das ist ein weiterer Schlag ins
Argumente für die Kohleförderung bis 2018 – vor allem Gesicht der Bergleute.
wenn der Ausstieg zum besagten Datum glaubwürdig ist –,
sollten wir auf jeden Fall sehr ernst nehmen. Insofern Der über Jahrzehnte für NRW und das Saarland prä-
liegt es insbesondere an uns, deutliche Zeichen zu set- gende Bergbau und seine Zulieferer brauchen die Zeit
zen, dass 2018 auch wirklich Schluss ist: bis 2018, um den Strukturwandel zu schaffen. Die Linke
im Bundestag will diesen Strukturwandel ohne Entlas-
Wir sind also wieder beim „pacta sunt servanda“. sungen bewältigen. Die Linke will die ökologischen Alt-
Der Einwurf des SPD-Antrages, einen Sockelbergbau lasten des Bergbaus verantwortlich und möglichst ohne

Zu Protokoll gegebene Reden


6970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Ulla Lötzer
(A) weitere Belastung der öffentlichen Kassen in Bund und benen Steinkohlekraftwerke ginge auch nur einen Tag (C)
Ländern angehen. Das ist eine gesamtgesellschaftliche früher vom Netz, wenn sich die EU mit ihrer Kahlschlag-
und strukturpolitische Aufgabe, denn die Wirtschaftsge- politik durchsetzt. Wer von Kanzlerschaft träumt, der
schichte Deutschlands war nun einmal lange von Stein- sollte zumindest einen Grundkurs in sozialer Verantwor-
kohle, Koks, Eisen und Stahl geprägt. Der notwendige tung belegen. Ich empfehle zur innergrünen Weiterbil-
Übergang zu nichtfossilen Energieträgern muss sozial- dung dazu die Rede des Fraktionsvorsitzenden der Grü-
verträglich erfolgen, der Übergang zur nachhaltigen nen im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Rainer
Produktion muss die Facharbeiterinnen und Facharbei- Priggen. Die Steinkohlebeihilfen können ein wichtiger
ter und die Ingenieurinnen und Ingenieure mitnehmen Baustein sein, um die Energiewende hin zu regenerati-
und darf sie nicht auf die Straße setzen. ven Energieträgern sozialverträglich, das heißt ohne
Massenentlassungen, zu organisieren. Das ist zukunfts-
EU-Kommissar Oettinger erklärte vorgestern, es sei fähige Industriepolitik auch für die Zulieferer und nicht
noch nicht Schicht im Schacht; er sehe gute Chancen für wie bei den Grünen so oft einfach Marktgläubigkeit und
eine Verlängerung der Steinkohlesubvention bis 2018. bloße Hoffung auf große Exportoffensiven für neue
Umso wichtiger wäre eine gemeinsame Erklärung aller Technologien.
Fraktionen im deutschen Bundestag, sich hinter die Ver-
einbarungen im Steinkohlekompromiss zu stellen und ein Die Linke im Bundestag lehnt jeden Kuhhandel mit
deutliches Signal nach Brüssel zu geben. Ich wollte ih- Brüssel ab. Die Revisionsklausel steht nicht zur Debatte.
nen gestern im Ausschuss die Möglichkeit dazu mit dem Schauen Sie sich doch einmal an, wie die Kokspreise in
verabschiedeten Antrag aus NRW geben. Stattdessen ist den letzten Monaten gestiegen sind. Fragen sie doch
die CDU im Ausschuss aus Koalitionsdisziplin und Par- einmal nach bei den Zechen, wie begehrt das technolo-
teiinteressen eingeknickt. Zehntausende Bergleute in gische Know-how weltweit ist. Wir fordern in den nächs-
NRW und im Saarland hatten sich auf das Gesetz verlas- ten Wochen ein deutliches, abgestimmtes Auftreten der
sen. Es geht deshalb nicht nur um Kohlepolitik, es geht Bundesregierung in Brüssel mit dem Ziel, Massenent-
um Vertragstreue und Verlässlichkeit der Demokratie. lasssungen im Bergbau zu verhindern. Das deutsche
Die Schuld dafür trägt aber nicht zuerst die EU-Kom- Steinkohlefinanzierungsgesetz muss endlich europa-
mission, wie uns Herr Brüderle gerne glauben lassen rechtlich abgesichert werden. Die Kanzlerin muss end-
möchte. Die beiden Bundesregierungen und auch lich von ihrer Richtlinienkompetenz Gebrauch machen.
Schwarz-Gelb in NRW haben es in den letzten Jahren Der deutsche EU-Kommisar muss endlich aufhören,
verschlampt – anders kann man es nicht sagen –, das schwäbisch zu schwätzen und handeln. Eine gemein-
Gesetz auch europarechtlich abzusichern. Ex-Wirt- same Erklärung im Parlament wäre ein guter Schritt
schaftsminister Glos hatte klugerweise bereits in der dorthin. Deshalb fordere Sie alle auf, ihre Entscheidung
(B) Presseerklärung vom 28. Dezember 2007 vermerkt: (D)
im Wirtschaftsausschuss zu revidieren und dem Antrag
„Die Beihilfen stehen unter dem Vorbehalt der Geneh- zuzustimmen.
migung durch die EU-Kommission. Die Bundesregie-
rung hat das gesamte Auslaufpaket mit einer konkreten
Planung für die bis zum Ende des Jahres 2018 stillzule- Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
genden Steinkohlebergwerke bei der EU-Kommission Mal ehrlich: Es gibt eine Debatte über den Steinkoh-
notifiziert.“ Und was ist danach passiert? Offensichtlich lebergbau, und die antragstellende SPD lässt zu Proto-
nichts, bis die EU-Kommission dann im Juli 2010 nach koll geben. Früher hätten Sie das zur Kernzeit gemacht
einer Reihe von Konsultationen die Schließung der und die Bergleute zur Demo herangekarrt. Ist das ein
Bergwerke für den 1. Oktober 2014 vorschlägt und da- weiteres Indiz, dass die SPD bei ihrem Traditionsthema
mit die Beihilfen eben nicht bis 2018 notifiziert. Warum langsam, aber sicher in der Realität ankommt? Der Sa-
dann in der Regierungskoalition ein offener Konflikt che wäre es zu wünschen.
zwischen dem zuständigen Wirtschaftsminister Brüderle
und der Kanzlerin losbricht, ist hingegen mehr als Aber der Reihe nach. Es ist gut, dass die Debatte der
durchschaubar. Wie schon im Falle Opel macht die EU-Kommission am 20. Juli dieses Jahres über das
Kanzlerin auf der innenpolitischen Bühne Zusagen, die Ende der Steinkohlesubventionen in Deutschland eine
ihr marktwirtschaftlicher Wirtschaftsminister einfach große Diskussion ausgelöst hat. Das war überfällig. Wir
nicht umsetzt. Sogar das Handelsblatt schreibt wörtlich, brauchen in Deutschland endlich eine definitive Ent-
dass Deutschland bei den Verhandlungen in Brüssel scheidung, wann Schluss ist mit dem subventionierten
nicht das beste Bild abgegeben habe. Anstatt die Pläne Steinkohlebergbau.
für 2014 klar zu stoppen, legt der Wirtschaftsminister ei-
nen schwächlichen Prüfvorbehalt ein. So weit zum skan- Auch der zuständige deutsche EU-Energiekommissar
dalösen Agieren der Bundesregierung und, an vorders- Günther Oettinger scheint die Bedeutung des Themas
ter Front mal wieder, des Bundeswirtschaftsministers. erkannt zu haben. Noch im Juli glänzte er mit Abwesen-
heit bei der entscheidenden Sitzung der EU-Kommission
Wichtig bei dem Thema ist – und das sage ich vor al- und schien die Bedeutung des Themas völlig falsch ein-
lem an die Adresse von Herrn Trittin und den Grünen, geschätzt zu haben. Dass so etwas passiert, ist eine
die sich in ihrem Antrag mit der FDP verbünden –, dass desolate Handwerksleistung der Bundesregierung. Of-
die Steinkohlebeihilfen nichts mit Kohlekraftwerken und fensichtlich ist die Brisanz des Themas in der Bundesre-
damit der Verstromung von Kohle zu tun haben. Keines gierung überhaupt nicht präsent – frei nach dem Motto:
der längst überwiegend mit billiger Importkohle betrie- Die EU wird schon tun, was Deutschland will. Ein

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6971
Oliver Krischer
(A) schlimme Fehleinschätzung und eine Arroganz gegen- trag der SPD „Die Steinkohlevereinbarung gilt“ ist da- (C)
über den europäischen Institutionen. bei ein Schritt in die falsche Richtung. Die Forderung
des Sockelbergbaus konterkariert den vereinbarten Aus-
Immerhin fand jetzt Herr Oettinger – fast drei Monate stieg aus den Steinkohlesubventionen und die damit ver-
nach der Kommissionsentscheidung – in einem Zei- bundene Entlastung für den Steuerzahler. Diese Position
tungsinterview klare Worte: Er spricht sich für das Vor- ist nicht realitätstauglich; denn der deutsche Steinkohle-
ziehen der Revisionsklausel im Steinkohlebeihilfenge- bergbau ist aufgrund der immer schwieriger werdenden
setz noch in diesem Jahr aus und fordert das definitive geologischen Verhältnisse in den Lagerstätten meilen-
Ende der Steinkohlesubventionen bis 2018. weit davon entfernt, zu Weltmarktpreisen produzieren zu
Wir begrüßen diese Linie von Herrn Oettinger. Bei können. Es ist angesichts der Lage der öffentlichen
der Steinkohle ist er auf dem richtigen Weg. Genau das Haushalte unverantwortlich, einen dauerhaften steuer-
sagt auch der Antrag der grünen Bundestagsfraktion, finanzierten Sockelbergbau zu wollen, der zudem immer
der heute zur Abstimmung steht. Und wenn wir es schaf- neue Alt- und Ewigkeitslasten produziert, wo wir schon
fen, sozialverträglich und ohne zusätzliche Kosten auch heute nicht sicher sein können, ob die Mittel der RAG-
schon vor 2018 aus dem subventionierten Bergbau he- Stiftung zur Finanzierung der bis heute aufgelaufen Alt-
rauszukommen, umso besser. und Ewigkeitslasten ausreichen.

Die Debatte zeigt, dass Deutschland offensichtlich Der Antrag, den die Linken hier stellen, ist im We-
den Druck aus Brüssel braucht, um sich endgültig von sentlichen der Beschluss des Landtags NRW auf Antrag
der teuren und schädlichen Subventionierung des Stein- von CDU, SPD und Grünen. Es ist ihr gutes Recht, wenn
kohlebergbaus zu verabschieden. auch nicht gerade ein feiner Stil, ohne Hinweis auf die
Urheberschaft hier die breit getragenen Beschlüsse an-
Im Jahr 2007 hatten sich die damalige Große Koali- derer Parlamente einzubringen, die naturgemäß Kom-
tion im Bund, die Länder, RAG und IG BCE auf eine Be- promisse sind. Deshalb werden wir uns deshalb bei die-
endigung des subventionierten Steinkohlebergbaus bis sem Antrag enthalten.
zum Jahr 2018 geeinigt. Zwischen 2007 und 2018 sollen
demnach 13,9 Milliarden Euro Subventionen für den Ehrlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Lin-
Steinkohlebergbau bereitstehen. Insgesamt arbeiten in ken, wäre es, wenn Sie hier auch Ihren Entschließungs-
den letzten fünf Zechen noch 25 000 Beschäftigte. Die antrag aus dem Landtag von NRW eingebracht hätten.
damalige Bundesregierung und auch die damalige Die Linken im Landtag von NRW fordern nämlich noch
schwarz-gelbe Landesregierung in NRW haben es dabei offener als die SPD einen steuerfinanzierten nationalen
jedoch versäumt, das deutsche Steinkohlefinanzierungs- Steinkohlesockel. Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-
(B) gesetz von 2007 auch europarechtlich abzusichern – ob- gen der Linksfraktion: Wem soll man denn nun Glauben (D)
wohl es vonseiten der EU-Kommission eine Zustimmung schenken? Mit Ihrem heute zur Abstimmung vorliegen-
für ein Fortführen der Subventionen nur bis 2011 gab. den Antrag machen Sie sich unglaubwürdig. Sagen Sie
Die Haltung, die EU wird schon tun, was Deutschland uns die Positionen der Linken im Bundestag: Wollen Sie
sagt, rächt sich nun. 2014 ist angesichts dessen schon wie Ihre Kollegen in NRW einen nationalen Steinkohle-
ein Entgegenkommen der EU-Kommission. sockel?
Das Datum 2014 wirft in Deutschland jedoch auch Wie schon erwähnt, begrüßen wir die Positionierung
Probleme auf. Denn es bedeutet, dass die bis heute ver- des Energiekommissars Oettinger zum Ausstieg aus den
bliebenen fünf Bergwerke mit über 25 000 Beschäftigten Steinkohlebeihilfen. Unser Antrag „Subventionierten
in nur vier Jahren geschlossen werden müssen, mit all Steinkohlebergbau sozialverträglich beenden“, der
den Konsequenzen für die Beschäftigten. Ob dieses heute zur Abstimmung steht, entspricht im Kern genau
überhaupt praktisch umsetzbar ist und im Ergebnis für dieser Position. Diesem Antrag zuzustimmen und damit
die öffentliche Hand billiger wird, erscheint angesichts ein Signal in Richtung EU zu senden, dass spätestens
der notwendigen Kosten zur Gewährleistung der Sozial- 2018 mit dem Steinkohlebergbau Schluss ist und die Re-
verträglichkeit zumindest fraglich. Die Verantwortung visionsklausel fällt, wäre genau das, was alle Beteiligten
für die Verunsicherung der Bergleute und der betroffe- brauchen, um das Problem zu lösen. Die Anträge von
nen Kommunen trägt damit die Bundesregierung, die SPD und Linken sind da keine Hilfe.
sich vorwerfen lassen muss, hier fahrlässig untätig ge-
wesen zu sein. Anstatt sich zunächst um einen Konsens Von der Bundesregierung und den Koalitionsfraktio-
mit der Kommission und eine Mehrheit im Rat zu küm- nen erwarten wir, dass sie dann schnell darangehen, die
mern, wurde nach dem Motto geplant: Europa hat das zu deutsche Rechtslage endlich in Übereinstimmung mit
akzeptieren, was Deutschland entscheidet. Die Empfeh- den Rechtsgrundlagen der Europäischen Union zu brin-
lung der EU-Kommission, die Steinkohlesubventionen gen. Das heißt: endgültiger Schluss spätestens 2018 und
2014 auslaufen zu lassen, ist aus Sicht anderer Länder ernsthafte Überprüfung, ob nicht auch ein früherer Aus-
bereits ein Kompromiss. Die jetzige EU-Regelung sieht stieg möglich ist. Dies würde auch ein Ende der reali-
lediglich eine Beihilfe bis zum 31. Dezember 2010 vor. tätsfremden Träumereien von SPD und Linken von
einem sogenannten dauerhaft steuerfinanzierten natio-
Wir diskutieren heute hier über den sozialverträgli- nalen Steinkohlesockel bedeuten. Vor allem aber dürfen
chen Ausstieg aus den Steinkohlesubventionen, der nicht durch einen fortgesetzten Bergbau über 2018 hinaus
nur ökonomisch, sondern auch ökologisch sinnvoll er- nicht immer neue und zusätzliche Altlasten und Ewig-
scheint. Doch der heute zur Abstimmung stehende An- keitskosten produziert werden.

Zu Protokoll gegebene Reden


6972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: deren Beziehungen zwischen Deutschland und Israel (C)
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- sind ein tragender Pfeiler der deutschen Außenpolitik.
empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- Eine Aufkündigung der Zusammenarbeit hätte weitrei-
logie auf der Drucksache 17/3231. chende und nachteilige Folgen für das Gleichgewicht in
der Region des Nahen Ostens, insbesondere bei der fort-
Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp- schreitenden Aufrüstung des Irans und der von ihm
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der angestrebten Profilierung als Hegemonialmacht. Die
SPD-Fraktion auf Drucksache 17/3043 mit dem Titel unerträglichen verbalen Angriffe des iranischen Präsi-
„Die Steinkohlevereinbarung gilt“. Wer stimmt für diese denten Ahmadinedschad gegenüber Israel müssen
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer höchste Wachsamkeit auslösen.
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit der
Mehrheit der Koalition und des Bündnisses 90/Die Grü- Mögliche Szenarien eines mit Nuklearwaffen ausge-
nen angenommen. statteten Iran waren Inhalt einer vor kurzem in Berlin
abgehaltenen Konferenz des Aspen-Instituts. Dabei
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
wurde festgestellt, dass sich die Machtgeometrie der
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Welt insgesamt verändern würde, wenn der Iran seine
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3044 mit dem Ti-
möglicherweise dann atomar bestückten Trägerraketen
tel „Für einen geordneten und sozialverträglichen Aus-
gegen die benachbarten Araber und Israelis, die USA
stieg aus dem subventionierten Steinkohlebergbau“. Wer
oder gegen Europa richtet. Infolge wäre der Atomwaf-
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
fensperrvertrag nur ein nutzloses Stück Papier, und ein
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
nukleares Wettrüsten in den dem Iran benachbarten ara-
lung ist mit der Mehrheit der Koalition angenommen.
bischen Staaten würde einsetzten. Auf der anderen Seite
Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Abstim- ist nicht davon auszugehen, dass das Regime im Iran in
mung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die absehbarer Zeit ein Testverbot von Nuklearwaffen ratifi-
Grünen auf der Drucksache 17/3201 mit dem Titel „Sub- zieren wird. Die gesamte arabische und westliche Welt
ventionierten Steinkohlebergbau sozialverträglich been- ist deshalb in großer Sorge und aufs Äußerste darauf be-
den“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- dacht, eine dauerhafte und sichere Lösung des Konfliktes
gen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mehrheitlich herbeizuführen. Aus diesem Grund ist es sehr zu begrü-
abgelehnt. ßen, dass die Bundesregierung trotz der Ausführungen
des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad auf der
Tagesordnungspunkt 25: diesjährigen UN-Vollversammlung in New York weiter-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang hin auf einen offenen Dialog mit dem Iran setzt und sich
(B) Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, wei- auch die NATO in ihrem neuen Strategiekonzept für eine (D)
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit der
iranischen Führung ausspricht.
Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Ostens
einstellen – Militärische Zusammenarbeit be- Die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
enden – Atomwaffenfreie Zone befördern Osten, die auf ägyptische Initiative seit 1974 betrieben
wird und die seit 1990 auf das von der Bundesregierung
– Drucksache 17/2481 – unterstützte Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien
Überweisungsvorschlag: Zone Naher Osten erweitert wurde – „Mubarak-Initia-
Auswärtiger Ausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
tive“ –, kam angesichts der Lage in der Region auch
Verteidigungsausschuss 2009 nicht voran. Sowohl in der Internationalen Atom-
energie-Organisation als auch im NVV-Überprüfungs-
Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Joachim prozess – NVV: Vertrag über die Nichtverbreitung von
Hörster, Roderich Kiesewetter, Heidemarie Wieczorek- Kernwaffen – drängen die arabischen Staaten, und hier
Zeul, Christoph Schnurr, Wolfgang Gehrcke und Katja vor allem Ägypten, mit zunehmender Vehemenz auf Fort-
Keul werden zu Protokoll gegeben. schritte, während Israel weiterhin auf eine zuvor erfor-
derliche Friedenslösung verweist. Die 8. Überprüfungs-
Joachim Hörster (CDU/CSU): konferenz, die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York
Der Antrag der Fraktion Die Linke liefert keine tagte, hat sich erstmals seit dem Jahr 2000 wieder im
neuen Erkenntnisse und übersieht meines Erachtens ei- Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt, das ei-
nen entscheidenden Punkt, nicht durch den Stopp von nen vorwärtsschauenden Aktionsplan mit konkreten
Rüstungsexporten wird ein tragfähiges Sicherheits- und Schritten zu allen drei Pfeilern des Vertrags – nukleare
Friedenskonzept für den Nahen Osten auf den Weg ge- Abrüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung –
bracht, sondern nur durch den Willen der Konfliktpar- sowie zur Schaffung einer von Kernwaffen und anderen
teien, sich zum Frieden zu bekennen und ihn auch durch- Massenvernichtungswaffen freien Zone im Nahen Osten
setzen zu wollen. enthält.
Des Weiteren halte ich die offenkundig einseitigen Die Bundesregierung ihrerseits übt neben einer kon-
Forderungen bezogen auf den Staat Israel, gerade vor fliktlösenden Außenpolitik eine verantwortungsvolle
dem Hintergrund der besonderen Beziehungen zwischen Politik bei der Kontrolle von Rüstungsexporten aus. Sie
Deutschland und Israel sowie der historischen Verant- entscheidet im jeweiligen Einzelfall nach einer sorgfälti-
wortung Deutschlands, für nicht vertretbar. Die beson- gen Prüfung unter Berücksichtigung aller vorliegenden
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6973
Joachim Hörster
(A) Umstände. Grundlage dafür sind die „Politischen ständigte, innerhalb von 12 Monaten ein Rahmenab- (C)
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von kommen zu den Endstatusfragen zu erarbeiten. Eine
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ vom nachhaltige Lösung des Konflikts im Nahen Osten kann
19. Januar 2000 und der Verhaltenskodex der EU vom nach deutscher und europäischer Auffassung nur in
8. Juni 1998 bzw. der entsprechende Gemeinsame einer Zweistaatenlösung und der Anerkennung Israels
Standpunkt, der am 8. Dezember 2008 durch den Rat durch seine arabischen Nachbarstaaten liegen. Ob die
verabschiedet wurde. Wesentlicher Bestandteil der Poli- Gespräche nach dem Ende des Siedlungsbaumoratori-
tischen Grundsätze ist die rechtliche Regelung des deut- ums für das Westjordanland weitergehen, entscheidet
schen Rüstungsexportes durch das Grundgesetz, das Ge- sich nach den Beratungen zwischen dem Palästinenser-
setz über die Kontrolle von Kriegswaffen und das präsidenten Abbas und der Arabischen Liga in diesem
Außenwirtschaftsgesetz in Verbindung mit der Außen- Monat.
wirtschaftsverordnung. Wichtige Kriterien jeder Ent-
scheidung sind dabei die Konfliktprävention sowie die Neue Bemühungen um innerpalästinensische Aussöh-
Kriegsgefährdung in der jeweiligen Region. nung nach der Zurückweisung des letzten von Ägypten
vorgelegten Vermittlungsvorschlags durch die Hamas
Von einer akuten Kriegsgefährdung, welche alle ara- 2009 zeigen sich in den aktuellen Gesprächen im Sep-
bischen Staaten des Nahen Ostens einschließt, ist nicht tember 2010 zwischen Hamas-Führung und Fatah-De-
auszugehen, da gerade auch die arabische Seite erkannt legation in Damaskus. Hamas-Chef Chalid Maschal
hat, dass ein Frieden in der Region nur durch eine aktive sagte dazu am 27. September: Beide Gruppen haben
Beteiligung bei der Lösung des Nahostkonfliktes zu er- „ernste und tatsächliche Schritte“ in Richtung Aussöh-
reichen ist. Das beste Beispiel ist die Friedensinitiative nung unternommen. Der Ausgang dieser Gespräche ist
aus dem Jahr 2002, auf die ich mich in jeder meiner Re- offen.
den zur Lösung des Nahostkonfliktes beziehe. Diese Ini-
tiative kann zum Erfolg führen, denn sie ist nicht vom Fest steht jedoch, dass die Bundesregierung bzw. die
Westen übergestülpt. EU auch weiterhin mit den regionalen Akteuren zusam-
menarbeiten muss, um auf eine dauerhafte und sichere
Der damalige saudische Kronprinz und heutige sau- Lösung des Nahostkonfliktes hinzuwirken. In seiner Er-
dische König Abdallah präsentierte im Jahr 2002 beim klärung vom 21. September 2010 wies der Europäische
Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut einen Frie- Rat auf Initiative Deutschlands ausdrücklich darauf hin,
densplan, der entscheidende Neuerungen zu allen frühe- dass „gerechter, dauerhafter und umfassender Friede im
ren Erklärungen erkennen ließ. Der Plan sieht vor, dass Nahen Osten“ nur unter Einbindung der arabischen
Israel sich vollständig aus allen 1967 besetzten Gebie- Staaten möglich ist. In einer ausschließlich umfassenden
(B) ten zurückzieht: dem Westjordanland, dem Gaza-Strei- Friedensordnung liegt die Lösung der Konflikte im Na- (D)
fen und Ostjerusalem. Dort soll ein unabhängiger hen Osten.
Palästinenserstaat mit Ostjerusalem als Hauptstadt ge-
Der Antrag der Linken ist nicht geeignet, den Frieden
gründet werden. Was die im Krieg von 1948 aus dem
in der Region auch nur einen Schritt näher zu bringen.
heutigen Israel vertriebenen Araber angeht, soll eine
„faire Lösung“ für die Rückkehr in ihre Heimat gefun-
den werden. Jeder weiß, dass eine Rückkehr in das heu- Roderich Kiesewetter (CDU/CSU):
tige Israel ausgeschlossen ist, da dies den Staat Israel in Das Bundeskabinett hat am 31. März 2010 den vom
seinen Fundamenten zerstören würde. Aber eine „faire Bundesminister für Wirtschaft und Technologie vorge-
Lösung“ eröffnet auch andere Möglichkeiten als Rück- legten zehnten Bericht über die Exportpolitik für kon-
führung. Jedenfalls steht das Existenzrecht des Staates ventionelle Rüstungsgüter der Bundesregierung für das
Israel für uns alle in diesem hohen Hause außer Frage. Berichtsjahr 2008 verabschiedet und dem Bundestag zu-
geleitet. Hier wird deutlich:
Der Abdallah-Friedensplan wurde auf verschiedenen
Gipfeltreffen im März und Juni 2007 in Riad und Genehmigungen wurden erst nach eingehender Prü-
Scharm-el-Scheich wiederbelebt und floss auch in die fung im Einzelfall erteilt und nachdem insbesondere si-
Internationale Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis chergestellt wurde, dass deutsche Rüstungsgüter nicht
im November 2007 mit ein, wo die Verpflichtung der is- für Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden
raelischen und palästinensischen Behörden gegenüber oder zur Verschärfung von Krisen beitragen. Die Geneh-
der internationalen Gemeinschaft zur Wiederaufnahme migungsentscheidungen richteten sich nach dem Ge-
über alle Fragen, die den Endstatus der palästinensi- meinsamen Standpunkt der EU für Waffenausfuhren, der
schen Gebiete betreffen, eingegangen wurde und die im Dezember 2008 verabschiedet wurde und den Verhal-
Zweistaatenlösung in direkten Gesprächen innerhalb ei- tenskodex der EU zu Rüstungsexporten aktualisiert,
nes Jahres herbeigeführt werden sollte. ergänzt und rechtlich verbindlich gemacht hat. Ferner
gelten die teilweise noch strikteren Politischen Grund-
Aufgrund des Scheiterns der Annapolis-Gespräche sätze der Bundesregierung zum Rüstungsexport von
begrüße ich umso mehr das aktuelle Engagement der 2000.
Bundesregierung, die zusammen mit dem Nahost-Quar-
tett erstmals nach zwei Jahren wieder gemeinsame Ge- Zu Israel und dem Nahen Osten kann für uns als
spräche zwischen Israelis und Palästinensern initiieren Union Folgendes festgehalten werden: Israels legitime
konnte. Seit dem 2. September 2010 fanden wieder di- Sicherheitsinteressen müssen vollständig gewahrt wer-
rekte Verhandlungen statt, in denen man sich darauf ver- den. Deutschland hat in der Frage der Sicherheit Israels

Zu Protokoll gegebene Reden


6974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Roderich Kiesewetter
(A) eine historische Verpflichtung, eine besondere Verant- sich im Konsens auf ein Abschlussdokument verständigt. (C)
wortung gegenüber Israel als jüdischem Staat. Es ist Ein vorausschauender Aktionsplan mit konkreten Schrit-
nach unserer tiefen Überzeugung Teil der deutschen ten zu allen drei Pfeilern des Vertrags – nukleare Ab-
Staatsräson, die Sicherheit des Staates Israel zu garan- rüstung, Nichtverbreitung und friedliche Nutzung der
tieren. Kernenergie – sowie zur Schaffung einer von Kernwaf-
fen freien Zone im Nahen Osten ist das Ergebnis.
Wie aus dem Jahresabrüstungsbericht 2009 hervor-
geht, hat Israel seine militärischen Schwerpunkte auf Dieser Erfolg stärkt den NVV als Fundament der in-
den Kampf gegen den Terrorismus und die Bedrohung ternationalen Nichtverbreitungs- und Abrüstungsarchi-
durch Massenvernichtungswaffen gesetzt. Drei vorran- tektur und überwindet die infolge der gescheiterten
gige Ziele wurden definiert: Steigerung der taktischen Überprüfungskonferenz von 2005 und Belastung des
und strategischen Aufklärungsfähigkeit, Verbesserung NVV durch Proliferationsfälle eingetretene Stagnation.
der Präzision der Waffensysteme, vor allem im Bereich
der Landstreitkräfte, und Digitalisierung sowie Be- Das Ergebnis war angesichts erheblicher inhaltlicher
fähigung zur vernetzten Operationsführung der Land- Positionsunterschiede unter den Teilnehmern und Belas-
streitkräfte. Ferner ist Israel auch an dem Erwerb von tung durch die Entwicklungen im Iran bis zum letzten
Abwehrsystemen für den Einsatz gegen ballistische Moment offen. Der Abschluss eines neuen START-Ver-
Flugkörper kurzer Reichweite interessiert. trags im April und die Ankündigung zur Offenlegung des
US-Nukleararsenals durch Außenministerin Clinton zu
Der zugrunde liegende Konflikt, der auch zu stetigen Konferenzbeginn trugen jedoch zu einer sachorientier-
Rüstungsimporten in der gesamten Region führt, kann ten Debatte bei.
nur durch einen politischen Prozess auf der Grundlage
der Roadmap, den Initiativen des Nahost-Quartetts und Wichtige Elemente des Aktionsplans und damit auch
der arabischen Friedensinitiative gelöst werden. Nur so für die Schaffung einer kernwaffenfreien Zone im Nahen
kann ein tragfähiger Frieden im Nahen Osten erreicht Osten sind die klare Zielsetzung der vollständigen Ab-
werden. Wir fordern daher die Bunderegierung auf, die schaffung aller Kernwaffen unter Einbeziehung aller
von den USA initiierten „Proximity Talks“ zu unterstüt- Arten von Nuklearwaffen in den weiteren Abrüstungs-
zen und sich gegenüber Israel und den Palästinensern prozess sowie das Bekenntnis zur Reduzierung der Rolle
dafür einzusetzen, dass beide diese konstruktiv führen, von Kernwaffen in den Sicherheitsstrategien der Kern-
damit eine rasche Aufnahme direkter Friedensgesprä- waffenstaaten.
che mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung möglich
Von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der
wird.
Überprüfungskonferenz war die Einigung zur Ingangset-
(B) (D)
Deutschland ist an Israels Seite. Der Iran missachtet zung eines Prozesses, die – vor allem von den arabischen
seit Jahren die Auflagen des Sicherheitsrates der Verein- Staaten angemahnte – Verpflichtung der Verlängerungs-
ten Nationen und der Internationalen Atomenergie-Or- konferenz von 1995 zur Schaffung einer massenvernich-
ganisation. Das Land schafft keine Transparenz über tungswaffenfreien Zone Nahost konkret anzugehen. An
sein Atomprogramm. Die Resolution des Sicherheitsra- einer unter anderem vom Generalsekretär der Vereinten
tes zum iranischen Atomprogramm ist eine klare und Nationen 2012 auszurichtenden Konferenz sollen alle
ausgewogene Antwort auf die anhaltende Weigerung des Staaten der Region teilnehmen.
Iran, die Zweifel an der friedlichen Natur seines Atom-
Die EU hat mit dem erstmaligen Auftritt der Hohen
programms auszuräumen. Dabei hatte die Staatenge-
Repräsentantin Catherine Ashton in der Generaldebatte
meinschaft dem Iran über einen langen Zeitraum hinweg
sowie den erfolgreich arbeitenden Vorsitzenden der
immer wieder die Möglichkeit gegeben, Klarheit zu
Unterausschüsse zu nuklearer Abrüstung und zur Nah-
schaffen.
ost-Frage Profil gezeigt. Zentrale Forderungen aus dem
Als Partner und als Freunde Israels haben wir Deut- zur Überprüfungskonferenz verabschiedeten EU-Stand-
sche vor dem Hintergrund der Drohgebärden des Iran in punkt und dem darin auf Initiative Deutschlands hin ver-
dieser Frage eine ganz besondere Verantwortung. Die ankerten Prioritätenkatalog konnten umgesetzt werden.
Resolution ist ein deutliches Signal der internationalen Deutschland hat sich stark für Präsenz und geschlosse-
Gemeinschaft, dass eine atomare Bewaffnung des Iran nes Auftreten der EU eingesetzt, ein wirksamer diploma-
nicht akzeptabel ist. Die Resolution richtet sich nicht ge- tischer Erfolg für unser Land. Die deutsche Delegation
gen die Menschen im Iran, sondern gegen die staatli- hat auch in der schwierigen Endphase der Verhandlun-
chen Träger des Nuklearprogramms. gen zum Konferenzerfolg beigetragen.

Unser aller Ziel bleibt aber eine diplomatische Lö- Langfristig sollten wir gemeinsam mit unseren Part-
sung. Die Tür für Zusammenarbeit und Transparenz ist nern intensiv an einer massenvernichtungswaffenfreien
weiter offen. Es ist jetzt an der Zeit, dass alle Staaten des Zone im Nahen Osten arbeiten. Die Unterstützung der is-
Nahen Ostens endlich ihrer Verantwortung gerecht wer- raelischen konventionellen Verteidigungsfähigkeit liegt
den und zur Entspannung beitragen. allerdings in unserem ureigensten sicherheitspolitischen
Interesse; deshalb lehnen wir den Antrag der Fraktion
Die vom 3. bis 28. Mai 2010 in New York tagende Die Linke „Rüstungsexporte in Staaten des Nahen Os-
8. Konferenz der Vertragsparteien zur Überprüfung des tens einstellen – Militärische Zusammenarbeit beenden –
Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen hat Atomwaffenfreie Zone befördern“ ab.

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6975

(A) Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): völlig ungeeignet. Wenn der Antrag suggeriert, dass (C)
Viele der Beschlusspunkte des Antrags teilen wir deutsche Rüstungsexporte in die Region, die sich insbe-
nicht. Ich möchte aber die Beratung des Antrags in ers- sondere auf Israel fokussieren, zum arabisch-israeli-
ter Beratung zum Anlass für zwei grundlegende Bemer- schen Konflikt beitrügen, ist dies völlig verfehlt.
kungen zur Frage der Genehmigungspraxis für Waffen- Lassen Sie mich daher zunächst einige grundsätzli-
exporte und zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone che Bemerkungen zur deutschen Rüstungsexportpolitik
im Nahen Osten machen. Im schwarz-gelben Koalitions- machen. Danach möchte ich auf die Rolle deutscher
vertrag kündigt die Bundesregierung an, die Genehmi- Rüstungsexporte in den Nahen Osten – insbesondere
gungspraxis in der EU für Rüstungsgüter „auf hohem nach Israel – eingehen. Ferner werde ich einige Bemer-
Niveau harmonisieren“, „bürokratische Hemmnisse ab- kungen machen zur Frage der Verbreitung von Massen-
bauen“ und „Verfahren beschleunigen“ zu wollen. vernichtungswaffen in der Region. Ich werde schließen
Diese Aufweichung der politischen Grundsätze soll an- mit einigen grundsätzlichen Anmerkungen zur aktuellen
geblich „faire Wettbewerbsbedingungen“ ermöglichen Situation im Nahen Osten.
und lässt eine gefährliche Steigerung der Rüstungs-
exporte befürchten. Als Maßgabe wird auch nur noch Wie wir alle wissen, unterliegen deutsche Rüstungs-
von einer „verantwortungsbewussten“ und nicht mehr exporte neben den Vorgaben aus dem Außenwirtschafts-
von einer „restriktiven“ Genehmigungspolitik gespro- gesetz, dem Kriegswaffenkontrollgesetz und den Politi-
chen. Damit besteht die Gefahr, dass die politischen schen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export
Grundsätze, die Frieden sichern und Gewaltprävention von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern auch
ermöglichen sollen, schlicht übergangen beziehungs- den Bestimmungen des Gemeinsamen Standpunktes der
weise real ausgehöhlt werden. EU zu diesem Bereich.
Die notwendige Transparenz der Rüstungsexportpoli- Die christlich-liberale Bundesregierung wird – wie
tik muss hergestellt werden, indem das Parlament nicht auch die Vorgängerregierungen – insbesondere den Ex-
nur nachträglich und auf verschlungene Weise über ge- port von Rüstungsgütern in Länder, die nicht Mitglied
troffene Exportentscheidungen informiert wird. Die Mit- der NATO und der Europäischen Union oder diesen
wirkung des Deutschen Bundestages muss gestärkt Ländern gleichstellt sind, weiterhin restriktiv handha-
werden. Dies kann erreicht werden, indem Kriegswaf- ben. Die Genehmigung für eine Ausfuhr wird, wenn
fenexporte gegenüber dem Auswärtigen Ausschuss und überhaupt, nur nach intensiver Einzelfallprüfung erteilt
dem Wirtschaftsausschuss offengelegt werden müssen werden.
oder indem, nach dem Vorschlag der Gemeinsamen Eben diesem Verfahren unterliegen auch Entschei-
Konferenz Kirche und Entwicklung der evangelischen dungen über Rüstungsexporte in die Region des Nahen
(B) und katholischen Kirche (GKKE), der Unterausschuss (D)
und Mittleren Ostens. Sie werden daher nur nach sorg-
„Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ fältiger Abwägung der außen-, sicherheits- und mensch-
des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Ge- rechtspolitischen Belange im Einzelfall getroffen.
nehmigungsverfahren einbezogen wird. Deutschland hat als einer der weltweit größten Rüs-
Vom 3. bis zum 28. Mai hat dieses Jahr in New York tungsexporteure eine besondere Verantwortung zu Zu-
die 8. Überprüfungskonferenz des Vertrages über die rückhaltung und Augenmaß, auch mit Blick auf eine
Nichtverbreitung von Atomwaffen stattgefunden. Eines langfristig angelegte Sicherheitspolitik.
der innovativsten Ergebnisse der Konferenz ist die For- Im Hinblick insbesondere auf Israel möchte ich un-
derung nach einer kernwaffenfreien Zone im Nahen Os- terstreichen, dass Deutschland vor dem Hintergrund
ten. Der UN-Generalsekretär erhält dazu den Auftrag, seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für die
einen Koordinator für eine von Nuklear- und allen ande- Existenz und Sicherheit des Staates Israel hat. Deutsch-
ren Massenvernichtungswaffen freie Zone zu bestimmen. land hat sich stets offen zu dieser Verantwortung be-
Dieser Koordinator soll eine Konferenz der Staaten der kannt. Daher ist diese deutsche Rolle auch von allen
Region für 2012 vorbereiten. Außerdem wird im Be- Ländern der Region akzeptiert und bildet das Funda-
schluss der Friedensprozess im Nahen Osten begrüßt ment für die hohe Glaubwürdigkeit, die Deutschland bei
und als ein Beitrag zur Schaffung einer kernwaffenfreien allen Konfliktparteien genießt.
Zone im Nahen Osten anerkannt. Die Bundesregierung
ist aufgefordert, diese Perspektiven nachhaltig und mit Diese deutsch-israelische Sonderbeziehung schließt
eigenen Initiativen zu unterstützen. ein, dass Deutschland eine enge Zusammenarbeit mit Is-
rael auch im Verteidigungsbereich betreibt. Der Antrag
Christoph Schnurr (FDP):
der Linken berücksichtigt in keiner Weise diese Sonder-
beziehungen, die Deutschland mit dem Staat Israel
Die Fraktion der Linken hat einen Antrag vorgelegt, pflegt. Diesen Aspekt zu unterschlagen, ist schlicht un-
der vorgeblich zur Verminderung der politischen Span- verantwortlich und nicht redlich. Insbesondere aus die-
nungen im Nahen Osten die deutschen Rüstungsexporte sem Grund werden wir den Antrag ablehnen. Deutsch-
in die Region – insbesondere nach Israel – und die deut- land muss an seiner Verantwortung für die Sicherheit
sche Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbe- Israels festhalten und in diesem Zusammenhang auch
reich beenden will. Auch wenn das Ziel einer nachhalti- den Export von Rüstungsgütern nach Israel fortsetzen.
gen politischen Entspannung im Nahen Osten von allen
Fraktionen im Deutschen Bundestag geteilt wird, ist der Zum Thema Rüstungskooperation mit Israel möchte
von der Fraktion Die Linke vorgelegte Antrag hierzu ich jedoch noch die Bemerkung machen, dass dies keine

Zu Protokoll gegebene Reden


6976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Christoph Schnurr
(A) Einbahnstraße ist. Auch Deutschland profitiert von der würde die Verlässlichkeit der deutschen Politik in der (C)
Zusammenarbeit mit Israel im Verteidigungsbereich. Region durch eine abrupte Kehrtwende gefährden.
Die in Israel hergestellten Drohnen, welche die Bundes-
wehr nutzt, tragen wesentlich zur Verbesserung des La- Zusammenfassend ist festzustellen, dass Deutschland
gebildes der Bundeswehr in Afghanistan und somit zur eine verantwortungsvolle und zurückhaltende Rüstungs-
Erhöhung der Sicherheit unserer Soldatinnen und Sol- exportpolitik verfolgt. Dies gilt insbesondere für den
daten im Einsatzgebiet bei. Hierauf zu verzichten, wäre spannungsgeladenen Nahen Osten. Im Verhältnis zu Is-
rücksichtslos gegenüber der Bundeswehr. rael verbindet uns eine vor dem Hintergrund unserer
Geschichte gewachsene Sonderbeziehung, die sich auch
Der Antrag der Linken behandelt ferner Aspekte der auf den Sicherheitsbereich erstreckt. Diese infrage zu
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen im Nahen stellen, wie die Linken es in ihrem Antrag vorschlagen,
Osten. Diese Problematik ist in größerem Kontext zu wäre in höchstem Maße unverantwortlich. Daher wer-
analysieren. Die Überprüfungskonferenz zum nuklearen den wir den Antrag ablehnen.
Nichtverbreitungsvertrag im vergangenen Mai war ein
elementarer Erfolg. Die Stärkung aller drei Säulen des Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE):
Vertrages – Abrüstung, nukleare Nichtverbreitung und Wer Waffen in ein Spannungsgebiet liefert, zündelt an
friedliche Nutzung der Kernenergie – durch das einstim- einem brüchigen Frieden. Dass der Frieden im Nahen
mig verabschiedete Abschlussdokument ist ein wichtiger Osten brüchig ist, wird niemand bestreiten. Verschie-
und zukunftsweisender Schritt auf dem Weg in eine Welt denste Konflikte überlagern sich und bewegen sich ne-
ohne Kernwaffen. beneinander und gegeneinander. Es sind Konflikte in
Das zentrale Vorhaben im Abschlussdokument ist die den Gesellschaften wie zum Beispiel in Ägypten, Jorda-
Initiative zur Durchführung einer UN-Konferenz zur nien, im Libanon, Iran, Irak und in vielen anderen Län-
Schaffung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone dern. Zunehmend werden solche Konflikte auch in der
im Nahen und Mittleren Osten. Die Bundesregierung hat israelischen Gesellschaft sichtbar. Es sind auch Kon-
dieses Ziel begrüßt, und ich bin überzeugt, dass der Bun- flikte zwischen Staaten, und es gibt Konflikte, die aus
desaußenminister sich intensiv sowohl bilateral als auch vergangenen Kriegen resultieren. Israel hält entgegen
im Rahmen der EU dafür einsetzen und daran arbeiten allen Beschlüssen der Vereinten Nationen noch immer
wird, dass alle Staaten in der Region an der Konferenz palästinensische Gebiete in der Westbank und in Jerusa-
teilnehmen werden. lem besetzt, die syrischen Golanhöhen oder das Gebiet
der Shabaa-Farm, das zum Libanon gehört. Die israeli-
Denn das Ziel einer massenvernichtungswaffenfreien sche Besatzungspolitik ist ein Kern der Spannungen im
(B) Zone im Nahen und Mittleren Osten kann nur durch das Nahen Osten. (D)
konstruktive Engagement und die Mitwirkung aller
Staaten der Region – auch Israels – gelingen. Die Linke verfolgt eine Politik, Spannungen abzu-
bauen und im konkreten Fall durch eine Zwei-Staaten-
Bereits die ersten Schritte zur Realisierung einer sol- Lösung zumindest ein geregeltes Nebeneinander von
chen Zone können vertrauensbildende Wirkung entfalten Israel und Palästina zu ermöglichen. Auch deshalb ist
und so einen Beitrag zur Stabilisierung und zum Abbau unsere Forderung: keinerlei deutsche Waffenlieferungen
von Spannungen in der Region leisten. Gerade deshalb in den Nahen Osten und Beendigung aller Formen mili-
müssen wir uns dagegen verwahren, dass dieses wich- tärischer Zusammenarbeit mit Staaten in dieser Region!
tige Vorhaben vonseiten Irans instrumentalisiert und zur Dazu haben wir einen Vorschlag eingebracht.
Ablenkung von der mangelnden Einhaltung seiner nicht-
Wer Waffen liefert, das Geschäft mit dem Tod betreibt,
verbreitungspolitischen Verpflichtungen genutzt wird.
ist ungeeignet als Vermittler. Deutschland kann vermit-
Hier gilt es wachsam zu sein und nicht auf das Taktieren
teln. Deutschland könnte dazu beitragen, dass eine Ver-
aus Teheran hereinzufallen.
einbarung über Sicherheit und Frieden durch Koopera-
Grundsätzlich befindet sich der Friedensprozess im tion zwischen den Staaten in Nahost zustande kommt.
Nahen Osten derzeit in einer entscheidenden Phase. Der Unser Vorschlag für eine Konferenz über Sicherheit und
offene Dialog zwischen Israelis und Palästinensern über Zusammenarbeit im Nahen Osten ist nicht neu, aber er
die Modalitäten einer Zweistaatenlösung sind der ein- ist richtig. Wer aber im Waffengeschäft steckt, ist un-
zige Weg, um zu einer nachhaltigen Friedenslösung zu tauglich, solche Vorschläge zu kommunizieren.
gelangen. Nur durch Kompromissbereitschaft auf beiden Israel verlangt von der Palästinensischen Autono-
Seiten wird ein Ende der jahrelangen Gewaltspirale zu miebehörde, die besetzten Gebiete zu entwaffnen. Abge-
bewerkstelligen sein. Dieser Verhandlungsprozess erfor- sehen davon, dass diese dazu gar nicht in der Lage ist,
dert von allen Beteiligten Geduld, diplomatisches wäre ein vernünftiger Vorschlag aus meiner Sicht, einen
Fingerspitzengefühl und guten Willen. Jetzt geht es un- Vertrag über Gewaltverzicht mit klaren Schutzregeln für
mittelbar darum, nach dem Ende des israelischen Bau- die ganze Region auf die Tagesordnung zu setzen. Da-
stopps in der Westbank einen vorzeitigen Abbruch des rüber sollte nachgedacht und verhandelt werden. Wer
gerade erst aufgenommenen direkten Gesprächsfadens aber Waffen liefert, ist nicht glaubwürdig, wenn es um
zu verhindern. Hier wird Deutschland gemeinsam mit Gewaltverzicht geht.
seinen europäischen Partnern seinen Anteil zur vertrau-
ensvollen Vermittlung leisten. Auch vor diesem Hinter- Ein wichtiger Beschluss der UNO-Überprüfungskon-
grund ist der Antrag der Linken schädlich, denn er ferenz zum Atomwaffensperrvertrag aus dem Mai dieses

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6977
Wolfgang Gehrcke
(A) Jahres ist der Vorschlag zu einer Konferenz über eine genehmigungsfähig. Wo bestehende Spannungen und (C)
atomwaffenfreie Zone in Nahost. Die Linke will nicht, Konflikte durch den Export aufrechterhalten oder ver-
dass der Iran und andere Staaten zu Atomwaffen greifen, schärft werden oder der Ausbruch bewaffneter Aus-
und wir wollen auch nicht, dass Israel an seinen Atom- einandersetzungen droht, dürfen solche Waffen nur im
waffen festhält. Es wäre wichtig, dass sich Deutschland Selbstverteidigungsfall nach Art. 51 der VN-Charta ge-
für eine solche Konferenz einsetzt. Ein von Atomwaffen liefert werden.
freier Naher Osten ist der Weg, auch die Konflikte mit
dem Iran zu lösen. Nicht Drohungen und Sanktionen, Der Libanonkrieg 2006 und der Gazakrieg 2009 ha-
sondern Verhandlungen Schritt für Schritt helfen voran. ben deutlich gemacht, dass dies der Maßstab ist, der für
Wie kann man aber glaubwürdig für ein anderes, nicht Exporte in den Nahen Osten angewendet werden muss.
militärisches Sicherheitskonzept werben, wenn man Bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts darf
selbst Waffen liefert bzw. Waffenlieferungen zulässt. und muss sich Israel auf Deutschlands Unterstützung
Warum hat die deutsche Regierung nicht längst und verlassen können. Deutschland hat vor dem Hintergrund
ganz deutlich dem US-Präsidenten gesagt, dass das ge- seiner Geschichte eine besondere Verantwortung gegen-
plante Waffengeschäft mit Saudi-Arabien in Höhe von über dem Existenzrecht Israels und der Sicherheit seiner
fast 20 Milliarden Dollar Rüstung im Nahen Osten neu Bürgerinnen und Bürger. Dies bedeutet jedoch nicht,
ankurbeln muss? dass Deutschland alle Forderungen der israelischen Re-
gierung erfüllen muss. Es gibt keine historische Ver-
Unser Antrag richtet sich an alle Konfliktparteien im pflichtung, Israel aufzurüsten. Waffen können auch de-
Nahen Osten. Oftmals wird Die Linke kritisiert, sie sei stabilisierend und langfristig gewaltfördernd wirken.
einseitig. Ja, diese Feststellung ist richtig. Wir sind ein-
seitig – für Frieden, für Abrüstung und für Gerechtig- Die Entscheidung über den Export von Rüstungsgü-
keit. Wir müssen uns zum Beispiel nicht entscheiden zwi- tern in den Nahen Osten muss einer äußerst kritischen
schen Israel und Palästina. Wir müssen uns aber Prüfung unterliegen. Voraussetzung ist dabei, dass die
entscheiden, Nein zu sagen, wenn vorhandene Spannun- Einhaltung völker- und menschenrechtlicher Standards
gen durch immer neue Waffenlieferungen nur weiter an- für alle gleichermaßen verpflichtend ist. Der Einsatz aus
geheizt werden. Der Nahe Osten braucht politische Lö- Deutschland gelieferter Rüstungsgüter in den Sied-
sungen und nicht immer neue Waffenexporte. lungsgebieten oder unter Verletzung des Kriegsvölker-
rechts muss ausgeschlossen werden.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hermesbürgschaften für Rüstungsexporte oder gar
Niemand wird bestreiten, dass der Nahe Osten durch staatliche Finanzierung von Kriegswaffenexporten wie
einen Konflikt geprägt ist, der in seiner Komplexität im Falle von U-Booten für Israel lehnen wir ab. Die Be- (D)
(B)
kaum zu übertreffen ist. Kein anderer Konflikt strahlt in gründung für eine Genehmigung muss durch die Bun-
vergleichbarer Weise politisch und religiös so weit über desregierung in jedem Einzelfall detailliert dargelegt
die betroffene Region hinaus. Mit mehr oder weniger werden. Wichtig sind dabei transparente Entscheidungs-
Elan bemüht sich die internationale Gemeinschaft seit verfahren. Wir Grünen fordern daher schon seit langem,
Jahrzehnten um eine Verhandlungslösung. Einen nach- dass mit der Geheimniskrämerei der Bundesregierung
haltigen Erfolg konnte sie jedoch bisher nicht verzeich- bei der Genehmigung von Rüstungsexporten endlich
nen. Mauern – ob real oder in den Köpfen – verhindern Schluss ist. Der Bundestag muss besser informiert und
eine effektive Friedensregelung. Positiv zu bewerten ist, eingebunden werden. Ein Widerspruchsrecht des Parla-
dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Obama der ments, wie es bereits in anderen Ländern besteht, muss
Region wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. eingeführt werden.
In Abwesenheit eines neuen strategischen Ansatzes für
die Wiederbelebung eines zielführenden Friedenspro- Frieden im Nahen Osten wird nachhaltig nicht durch
zesses ist ein Durchbruch jedoch noch nicht absehbar. militärische Mittel gewährleistet werden können. Politi-
sche Initiativen müssen darauf abzielen, die Rahmenbe-
Die Linke greift in ihrem Antrag unter anderem die dingungen für eine umfassende Abrüstung der Region zu
wichtige Frage nach der Vertretbarkeit von Rüstungs- schaffen. Ein Friedensschluss ist dafür unabdingbare
exporten in diese Region auf. Die Rüstungsexportrichtli- Voraussetzung. Durch positive und negative Anreize
nien der Bundesregierung erlauben den Export von Rüs- müssen die Konfliktpartien dazu bewegt werden, zu di-
tungsgütern in Länder, die weder EU- noch NATO- rekten und substanziellen Friedensgesprächen zurück-
Mitglieder sind, also auch in den Nahen Osten nur, wenn zukehren. Den Sicherheitsbedürfnissen der Konfliktpar-
die Belange der Sicherheit, des friedlichen Zusammenle- teien muss begegnet werden, um ihnen die gefühlte
bens der Völker oder der auswärtigen Beziehung nicht Notwendigkeit der Entwicklung und Beschaffung neuer
gefährdet sind. Bei bewaffneten internen Auseinander- tödlicherer Waffen zu nehmen.
setzungen oder dem hinreichenden Verdacht, dass die
Güter für Menschenrechtsverletzungen oder innere Re- Die Ratifizierung der Bio- und Chemiewaffenkonven-
pression missbraucht werden, ist der Export von Rüs- tionen und vor allem der Beitritt zum Nichtverbreitungs-
tungsgütern jeder Art nicht genehmigungsfähig. Noch vertrages für Atomwaffen durch die Länder der Region
strikter ist die Regelung für Kriegswaffen wie beispiels- sind wichtige Meilensteine mit dem Ziel eines atomwaf-
weise U-Boote. Derartige Exporte sind nur im Einzelfall fenfreien Nahen Ostens fest im Blick. Diesen Weg einzu-
bei besonderen außen- oder sicherheitspolitischen Inte- schlagen, hatten bereits die Teilnehmer der NVV-Über-
ressen der Bundesrepublik Deutschland ausnahmsweise prüfungskonferenz gefordert. Die Bundesregierung ist

Zu Protokoll gegebene Reden


6978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Katja Keul
(A) aufgefordert, hier nun aktiv und mit Nachdruck zu unter- Sowohl die CDU/CSU-Bundestagsfraktion als auch (C)
stützen. die unionsgeführte Bundesregierung haben dieses Pro-
jekt stets nicht nur wohlmeinend begleitet, sondern auch
Der Antrag enthält viele richtige Forderungen. Wir dort insgesamt unterstützt, wo es rechtlich möglich war,
unterstreichen allerdings das Selbstverteidigungsrecht allen voran unser Bundestagspräsident Norbert
Israels und unterstützen die vom Libanon und von Israel Lammert, der erst im vergangenen Jahr erklärt hat, dass
gemeinsam gewünschte UNIFIL-Mission. Vor diesem diese Fläche bis mindestens 2019 geschützt ist, und der
Hintergrund werden wir diesen Antrag in unserer Frak- sich auch für die Förderung dieses Platzes verwandt
tion ergebnissoffen diskutieren. hat. Wir sehen deshalb keinen aktuellen Handlungsbe-
darf.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Die Fraktionen schlagen die Überweisung der Vorlage Das „Parlament der Bäume“ kann sich auch unserer
auf Drucksache 17/2481 an die in der Tagesordnung auf- finanziellen Unterstützung gewiss sein. Für die Umge-
geführten Ausschüsse vor. – Das Plenum ist offenkundig staltung des Ortes hat der Bund fast 50 000 Euro, das
auch mit diesem Vorschlag einverstanden. Dann ist das Land Berlin weitere 190 000 Euro zur Verfügung ge-
so beschlossen. stellt. Mithilfe dieser Unterstützung konnten wichtige
Baumaßnahmen, Gartenarbeiten sowie die Einzäunung
Schließlich rufe ich Tagesordnungspunkt 26 auf: des Areals und die Verlegung von Wasserleitungen reali-
siert werden. Auch das klingt nicht nach einer Gefähr-
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
dung des Gedenkortes.
richts des Ausschusses für Kultur und Medien
(22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- Es ist gerade einmal eine Woche her, da hat sich Kul-
ten Agnes Krumwiede, Katrin Göring-Eckardt, turstaatsminister Bernd Neumann, MdB, bei der Wieder-
Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der eröffnung des Ortes wie folgt geäußert: „Mit seiner ein-
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zigartigen Mischung aus Charme, Begeisterung und
Hartnäckigkeit hat Ben Wagin für die Umsetzung seines
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und
Projektes viele Mitstreiter gewonnen – so auch mich.“
Gewalt“ muss dauerhaft geschützt werden
Das Gelände „Parlament der Bäume“ befindet sich
– Drucksachen 17/1580, 17/3115 – auf dem Grundstück des Deutschen Bundestages. Es ist
Berichterstattung: planungsrechtlich durch den Bezirk Mitte von Berlin für
Abgeordnete Christoph Poland Erweiterungsbauten des Deutschen Bundestages ausge-
Dr. h. c. Wolfgang Thierse wiesen.
(B) Reiner Deutschmann (D)
Die zuständige Kommission des Ältestenrates des
Dr. Lukrezia Jochimsen Deutschen Bundestages für Raumangelegenheiten hat
Agnes Krumwiede im April 2003 einstimmig – also mit den Stimmen aller
Hierzu haben die Kolleginnen und Kollegen Wolfgang Fraktionen, das heißt der Fraktionen von SPD, CDU/
Börnsen, Christoph Poland, Dr. Wolfgang Thierse, Reiner CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP – folgenden Be-
Deutschmann, Dr. Lukrezia Jochimsen und Agnes schluss gefasst:
Krumwiede nachdenkenswerte Reden vorbereitet, die Die Raumkommission hält daran fest, dass das
alle im Protokoll nachgelesen werden können. Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parla-
ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befin-
Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): det, wie bisher als Sondergebiet zur Bebauung für
Allein der Titel des Antrages der Fraktion Die Grü- Zwecke des Deutschen Bundestags ausgewiesen
nen, über den wir heute beraten, unterstellt, dass das wird. Darüber hinaus bekräftigt die Raumkommis-
„Parlament der Bäume“ nicht ausreichend geschützt ist. sion die Feststellung der Baukommission vom
Dies entspricht nicht der Wirklichkeit, und deshalb be- 12. Juni 2002, dass das Kunstwerk in absehbarer
darf es gleich zu Beginn einiger wichtiger Klarstellun- Zeit nicht gefährdet ist.
gen.
Dieser einstimmige Beschluss erfolgte auf Vorschlag
Wir haben in den vergangenen Jahren immer – intern der damaligen Vorsitzenden der Kommission, der Abge-
und öffentlich – das große persönliche Engagement und ordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Mitglied der an-
Verdienst von Herrn Ben Wagin und seines Lebenswer- tragstellenden Fraktion Die Grünen.
kes „Parlament der Bäume“ anerkannt. Auf dem Ge-
Dieser Beschluss hat offensichtlich für die heutige
lände im Regierungsviertel befinden sich Originalreste
Fraktion Die Grünen keine Gültigkeit mehr, für uns, die
der Berliner Mauer, um die Bäume gepflanzt wurden.
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, schon.
Eingravierte Namen erinnern an die Mauertoten, die
Bäume symbolisieren den Frieden. Es ist ein Mahnmal Warum werden die gewichtigen Gründe, die
gegen Krieg und Gewalt. Irmingard Schewe-Gerigk damals leiteten, heute von
derselben Partei vom Tisch gewischt?
Das „Parlament der Bäume“ – und in Person Herr
Ben Wagin – leistet damit einen einzigartigen Beitrag Auch der derzeitige Vorsitzende der Kommission, der
für unsere Erinnerungskultur, die gerade uns Christde- SPD-Kollege Wolfgang Thierse, hat verlauten lassen,
mokraten am Herzen lag und liegt. dass es derzeit keiner neuen Beschlussfassung bedürfe.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6979
Wolfgang Börnsen (Bönstrup)
(A) Daher ist dieser Beschluss für uns bindend, solange kein steinen, Sachzeugnissen, Bildern und Texten ist. Es (C)
anderer Beschluss gefasst wird. handelt sich um Umwelt- oder Aktionskunst, die das Ver-
hältnis der Menschen zur Natur thematisiert. Darin
Man mag gefühlsmäßig und aus Kunstneigung für spiegelt sich die künstlerische Arbeit von Ben Wagin wi-
das Projekt sein – alles zugestanden –, aber die Kultur der, die seine Arbeit seit Jahrzehnten prägt. Ben Wagin
befindet sich wie alle Politikfelder nicht in einem rechts- feierte in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag und enga-
freien Raum. Gerade als Abgeordnete des Deutschen giert sich bereits seit 20 Jahren für dieses Projekt. Wir
Bundestages haben wir eine Vorbildverantwortung für möchten ihm an dieser Stelle in Anbetracht seiner lang-
rechtsklares Handeln. jährigen Verdienste danken.
Es gibt aktuell auch keinerlei Anlass zu der Befürch-
tung, dass etwaige Bebauungspläne des Bundes den Ge- Das „Parlament der Bäume“ befindet sich auf einer
denkort gefährden. Ganz im Gegenteil: In der Antwort Fläche, die im Bebauungsplan als Sondergebiet zur Be-
auf die Anfrage der Grünen vom 23. September 2010 bauung für Zwecke des Bundestages ausgewiesen ist.
stellt der Bund aktuell klar – so wörtlich –: „Derzeit Aufgrund des notwendig gewordenen Neubaus des
werden keine Veräußerungsflächen für die benannte Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses, wurde das „Parlament
Fläche angestellt.“ der Bäume“ geringfügig verkleinert und einige der
Bäume wurden umgesetzt. Ziel der Grünen ist es, das
Nicht nur der Bund steht bei diesem Projekt in der bundeseigene Grundstück des „Parlaments der Bäume“
Verantwortung und Pflicht, sondern auch das Land Ber- aus der Bauvorhabenplanung des Bundes herauszuneh-
lin. Der Berliner Senat hat das „Parlament der Bäume“ men und den Gedenkort zum Kulturdenkmal zu erklären.
bisher nicht unter Denkmalschutz gestellt. Nach deren Sollte das „Parlament der Bäume“ unter Denkmal-
Einschätzung ist das „Parlament der Bäume“ ein ent- schutz gestellt werden, hat dies Einschränkungen der
wicklungsoffenes, sich stets veränderndes Kunst- Bebauungsmöglichkeiten des Grundstücks zur Folge.
ensemble. Das Anliegen Ben Wagins kann man durchaus nachvoll-
ziehen, aber die sich daraus ergebenden Einschränkun-
Allein aus Respekt vor der Verfassungsentscheidung,
gen für den Bund bei einem Filetgrundstück in der Mitte
dass die Kompetenz im Bereich Denkmalschutz bei den
Berlins sind ebenfalls zu berücksichtigen.
Ländern liegt, kann und wird der Bund hier nicht aktiv
werden. Auf jeden Fall genießt das Denkmal auf zehn Jahre
Ich fasse zusammen: Diese Klarstellungen führen aus Bestandsschutz. Zu erwähnen ist ebenfalls: Der Bund
unserer Sicht hoffentlich dazu, dass über die Zukunft des kümmert sich schon um die Anlage. Im November 2009
Gedenkortes „Parlament der Bäume“ objektiver und gab der Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsminis-
(B) differenzierter diskutiert und berichtet wird. Dazu ge- ter Bernd Neumann, die Zusage, mit 49 500 Euro die (D)
hört auch gegenseitiger Respekt. Niemand von uns lässt Komplementärfinanzierung für die bauliche Unterhal-
sich gern als „Trillerpfeife“ bezeichnen, wie es unlängst tung des „Parlaments der Bäume“ zu sichern. Aus die-
Herr Wagin getan hat. Dafür nehmen wir – da spreche sen Mitteln konnten Toranlage, Heckeneinfriedung, Be-
ich sicher für alle Kollegen und Kolleginnen hier im Ho- leuchtung, Wasseranschluss und Bodenmodellierung für
hen Haus – unsere Aufgabe und unsere Mehrheitsbe- das Denkmal am historischen Ort finanziert werden.
schlüsse viel zu ernst. Was die Kunst- und Kulturförde- Weitere 190 000 Euro wurden von Berlin über die
rung der Bundesregierung angeht, belegen allein die Lottostiftung mitgetragen. Entsprechend hat 2008
Haushaltszahlen für 2011, dass hier sehr wohl Verant- Dr. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundes-
wortung wahrgenommen wird. tages, versichert, dass der Bund die Zugänglichkeit zum
„Parlament der Bäume“ sicherstellen und die Anlage
Wir sind daher für eine sachliche Debatte und stim- gärtnerisch pflegen wird.
men der Beschlussempfehlung des Kulturausschusses
zu. Deswegen halte ich abschließend fest: In der Sitzung
der Kommission des Ältestenrates für die Raumvertei-
lung vom 2. April 2003 ist festgelegt worden, dass das
Christoph Poland (CDU/CSU): Grundstück, auf dem sich das Kunstwerk „Parlament
Das „Parlament der Bäume“ wurde von Ben Wagin der Bäume gegen Krieg und Gewalt“ befindet, wie bis-
in der Wendezeit 1989/1990, genauer am 9. November her als Sondergebiet zur Bebauung für Zwecke des
1990, gegenüber dem Reichstag am Schiffbauerdamm Deutschen Bundestages ausgewiesen wird. Darüber hi-
ins Leben gerufen, anlässlich der ersten Plenardebatte naus bekräftigt die Raumkommission die Feststellung
des wiedervereinigten Bundestages. Auf dem Gelände der Baukommission vom 12. Juni 2002, dass das Kunst-
lagern sowohl 58 originale Mauersegmente als auch werk in absehbarer Zeit nicht gefährdet ist.
Steinplatten mit den Namen von 258 der über 900 Men-
schen, die an der innerdeutschen Grenze von 1948 bis
1989 getötet wurden. Damit ist es nach der East-Side- Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD):
Gallery das längste Mauerstück an originaler Stelle. Es Vor einer Woche wurde das „Parlament der Bäume
ist aber auch der einzige Gedenkort im Regierungsvier- gegen Krieg und Gewalt“ von Ben Wagin feierlich wie-
tel, der authentisch an die deutsche Teilung und die dereröffnet, nachdem es mit Geldern der Stiftung Klas-
Mauertoten erinnert. So findet sich auf einer Fläche von senlotterie und des BKM umgestaltet wurde. Ben Wagin
1 450 Quadratmetern ein Mahnmal, das eine Installa- hat 1990 Mauerteile gesichert, Bäume gepflanzt und da-
tion aus Bäumen, ehemaligen Grenzanlagen, Gedenk- mit auf dem ehemaligen Grenzstreifen ein Erinnerungs-

Zu Protokoll gegebene Reden


6980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) zeichen gegen Krieg und Gewalt geschaffen. Dafür gilt hen hat. Der ist, erheblich authentischer, in der Ber- (C)
ihm Dank und Respekt. Für sein großes Engagement hat nauer Straße nachgezeichnet.
Ben Wagin den Verdienstorden des Landes Berlin erhal-
Aus diesen Gründen bin ich skeptisch, ob das Kunst-
ten.
werk von Ben Wagin unter Denkmalschutz gestellt wer-
Der Bundestag hat das Werk Ben Wagins für weitere den sollte. Deshalb hat sich die SPD bei der Abstimmung
zehn Jahre gesichert. Ziel des Antrags der Grünen ist es im Kulturausschuss der Stimme enthalten. Nichtsdesto-
jetzt, das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge- trotz gilt dem Engagement von Ben Wagin und seiner un-
walt“ dauerhaft zu sichern und es unter Denkmalschutz ermüdlichen Ausdauer, mit der er sich für seinen Erinne-
zu stellen. So sehr ich das Anliegen nachvollziehen rungsort einsetzt und ihn pflegt, meine Hochachtung.
kann, bin ich skeptisch, ob das „Parlament der Bäume“ Als Vorsitzender der Bau- und Raumkommission muss
als Erinnerungsort durch Denkmalschutz dauerhaft ge- ich aber auch auf die Interessen des Bundestages hin-
sichert werden sollte. Warum? Aus meiner Sicht ist nicht weisen. Die Fläche befindet sich im Eigentum des Bun-
ganz klar, was das „Parlament der Bäume gegen Krieg des und wird freigehalten für einen Erweiterungsbau.
und Gewalt“ eigentlich sein will und als was es dauer- Solange nicht gebaut wird, kann das „Parlament der
haft geschützt werden soll. Ist es ein Kunstwerk oder ein Bäume“ weiter dort bleiben. Es ist ja für mindestens
Gedenkort? Erinnert es an die Mauer und die Mauerto- zehn weitere Jahre gesichert – aber es ist eben kein au-
ten oder an die Opfer von Krieg und Gewalt? Für beide thentisches Denkmal, das für immer gesichert werden
Anliegen gibt es in unmittelbarer Nähe weitere Gedenk- muss.
orte. An Opfer von Krieg und Gewalt wird mit der Neuen
Wache gedacht, der zentralen Gedenkstätte der Bundes-
republik Deutschland für die Opfer von Krieg und Ge- Reiner Deutschmann (FDP):
waltherrschaft. Außerdem gibt es das Holocaust-Mahn- 20 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands
mal, das Homosexuellen-Mahnmal und das Mahnmal sind die Spuren von über 40 Jahren deutscher Teilung
für die ermordeten Sinti und Roma. kaum noch zu erkennen. Der Todesstreifen, der sich wie
eine menschenverachtende Narbe durch unser Land ge-
Ebenso viele Mauergedenkstätten gibt es in der Nähe. zogen hat, ist inzwischen zu Europas längstem Grün-
Im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus ist ein Teil des Denk- streifen geworden. In Berlin, der Stadt der Teilung, kann
mals von Ban Wagin integriert. Das Mauermuseum am man die Mauer nur noch sehen, wenn man genau weiß,
Checkpoint Charly ist nicht weit. Im U-Bahnhof Bran- wo man suchen muss. Man findet sie zwar als Markie-
denburger Tor gibt es eine Erinnerungsstätte. Demnächst rung auf Straßen und Gehwegen, doch nur wenige Mau-
wird im „Tränenpalast“ vom Haus der Geschichte eine erreste sind noch am Originalschauplatz zu besichtigen:
(B) Ausstellung zu Teilung und Grenze im Alltag der DDR so zum Beispiel an der Gedenkstätte Berliner Mauer in (D)
errichtet. In der Bernauer Straße befindet sich die zen- der Bernauer Straße, in der Nähe der Topographie des
trale Mauergedenkstätte. Hier ist der Schrecken der Terrors in der Niederkirchnerstraße oder an der East-
Mauer am ehesten erfahrbar, weil ein langer Teil des To- sidegallery in Berlin-Friedrichshain.
desstreifens sichtbar ist, und hier wird darüber infor-
miert, was die Mauer im Leben der Menschen bedeutete, Zu den wenigen Orten mit Mauerresten gehört aber
was es hieß, in einer geteilten Stadt zu leben. auch „Das Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge-
walt“ im Berliner Regierungsviertel. Ben Wagin hat die-
Es ist nicht einfach, für ein Denkmal eine passende ses beindruckende Kunstwerk unter Einbeziehung der
Sprache, eine passende Gestalt zu finden. Das zeigen die Mauer Anfang der 90er-Jahre geschaffen. Ohne sein En-
vielen künstlerischen Wettbewerbe zur Gestaltung von gagement wäre vielleicht auch dieses Stück Berliner
Denkmälern und die Debatten darum. Ich denke dabei Mauer nicht mehr existent. Ben Wagin erinnert mit sei-
an das Holocaust-Mahnmal oder erst kürzlich an das nem Projekt an die Mauertoten und mahnt zugleich zum
Freiheit- und Einheitsdenkmal. Hier war der erste Wett- Frieden, versinnbildlicht durch verschiedene Baum-
bewerb gescheitert, weil die Aufgabe – gleichzeitig an arten. Zu Recht kann man hier vom Lebenswerk Wagins
die deutsche Freiheitsgeschichte und an die friedliche sprechen, der weltweit über 50 000 Bäume gepflanzt
Revolution von 1989 zu erinnern – eine außerordentli- bzw. dazu angeregt hat.
che Herausforderung ist.
Leider musste das „Parlament der Bäume“ für einen
Beim „Parlament der Bäume gegen Krieg und Ge- Erweiterungsbau des Deutschen Bundestages bereits
walt“ hat es keinen Wettbewerb gegeben. Ich vermute, einmal verkleinert werden. Dies geschah unter Einbezie-
dieser wäre auch gescheitert, denn die Aufgabe, sowohl hung und mit Zustimmung Ben Wagins. Damals wurde
an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern als auch deutlich gemacht, dass eine nochmalige Verkleinerung
an den Mauerfall, ist eine ebenso große Herausforde- des Projekts nicht in Betracht zu ziehen ist.
rung. Das Mahnmal befindet sich zwar an einem authen-
Die FDP-Bundestagsfraktion unterstützt ausdrück-
tischen Ort und besteht teilweise aus historischen Teilen, lich das Parlament der Bäume und wird sich für dessen
aber das Denkmal selbst ist nicht authentisch. Die Be-
Weiterbestand einsetzen.
malung der Mauerteile ist nicht historisch, sie wurde
von Künstlern gestaltet. Die Zusammenstellung der Der vergangene Woche nach der Umgestaltung wie-
Mauerteile mit anderen Elementen des Grenzstreifens dereröffnete Park ist einzigartig in Deutschland und wo-
entspricht nicht der Geschichte – für Besucher aber ent- möglich in Europa. Dass sich dieses Kunstwerk in un-
steht der Eindruck, dass so der Grenzstreifen ausgese- mittelbarer Nachbarschaft zum Deutschen Bundestag

Zu Protokoll gegebene Reden


Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6981
Reiner Deutschmann
(A) befindet, macht seinen ganz besonderen Reiz aus und Das „Parlament der Bäume“ ist „ein Kunstwerk am (C)
schafft eine gute Erreichbarkeit auch für Besucher der authentischen Ort, einzigartig in der Haltung gegen
Bundeshauptstadt, die zuvor zum Beispiel das Reichs- Krieg und Gewalt“, wie es in der Begründung des vor-
tagsgebäude besucht haben. Der Bund hat ein deutliches liegenden Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Zeichen für den Erhalt dieses Ensembles gesetzt, indem so richtig heißt.
er den Umbau mit knapp 50 000 Euro gefördert hat.
Bei der feierlichen Wiedereröffnung hat Staatsminis-
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zum „Parla- ter Neumann viele Worte des Lobes gefunden, und es
ment der Bäume“ beschreibt die Wichtigkeit und Einma- wäre mehr als passend gewesen, wenn er – dem vorlie-
ligkeit des Werkes von Wagin zutreffend. Inhaltlich ist genden Antrag entsprechend – dem Gedenkort auf dem
dem Antrag nicht zu widersprechen. Er hat meine volle Grundstück des Bundestages eine Sicherstellung für die
Sympathie. Allerdings halten wir Liberale die Denkmal- Zukunft hätte garantieren können; denn diese Sicher-
schutzforderung derzeit für nicht notwendig. Auch wenn stellung gibt es nicht.
das Grundstück dem Deutschen Bundestag gehört und
dieser rein theoretisch dort kraft eines Bebauungsplanes Aus dem Jahr 2003 stammt ein Beschluss der Bau-
Gebäude errichten könnte, hat doch die Bau- und Raum- und Raumkommission des Ältestenrates, dass das Kunst-
kommission des Deutschen Bundestages mit Beschluss werk „auf absehbare Zeit“ nicht gefährdet ist. Das ist
vom April 2003 ganz deutlich gemacht, dass das Kunst- sieben Jahre her. Was heißt heute „absehbare Zeit“?
werk auf absehbare Zeit nicht gefährdet ist, da der Deut- Und wenn dieser Beschluss heute noch so gilt wie vor
sche Bundestag keine Pläne habe, das Grundstück für sieben Jahren, dann kann man doch ohne Schwierigkeit
eine bauliche Verwendung freizugeben. Dieser Be- jetzt einem Gesetzesantrag zustimmen, der das „Parla-
schluss ist immer noch gültig. ment der Bäume“ von jeglicher Bebauung in Zukunft
freihält.
Der Deutsche Bundestag hat keine Einwände gegen
die Nutzung des Areals für das „Parlament der Bäume“, Aber: Die Fraktionen von CDU/CSU und FDP ver-
übernimmt vielmehr sogar im Rahmen der Möglichkei- weigern sich dem Anliegen. Im Frühjahr sollte ein frak-
ten die Pflegearbeiten des Grundstückes. tionsübergreifender Gruppenantrag das „Parlament der
Die FDP-Bundestagsfraktion wird darauf achten, Bäume“ schützen. Dieser Plan wiederum scheiterte an
dass dieser Beschluss weiterhin gültig bleibt und dass der SPD, die sich nun auch bei der ersten Abstimmung
auch in Zukunft von einer Bebauung abgesehen wird. über den vorliegenden Antrag im Kulturausschuss ent-
halten hat – während ein Tag später der Berliner SPD-
Positiv ist zu werten, dass die Stiftung Berliner Mauer Kulturstaatssekretär André Schmitz öffentlich das Pro-
(B) ihre Bereitschaft erklärt hat, ab 2011 eine Patenschaft jekt enthusiastisch feierte. (D)
für das Kunstwerk Wagins zu übernehmen. Die FDP-
Bundestagsfraktion begrüßt dieses Engagement aus- Das alles verstehe, wer will. Das „Parlament der
drücklich, verfügt die Stiftung doch schon über eine be- Bäume“ muss für alle Zukunft gesichert und geschützt
sondere Expertise in Angelegenheiten der Pflege und sein. Es müssten geregelte Besuchszeiten für dieses ein-
Bewahrung von Mauerresten, wie sie eindrucksvoll an malige Denkmal organisiert werden. Zurzeit kann es nur
der Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße besucht werden, wenn der Künstler selbst oder ehren-
unter Beweis stellt. Damit ist das „Parlament der amtliche Helfer anwesend sind. Ein Unding für solch ei-
Bäume“ sicherlich in guter Betreuung. nen historischen Gedenkort.
Bei aller Sympathie für den Antrag von Bündnis 90/ Die Fraktion Die Linke unterstützte den Antrag der
Die Grünen wird die FDP-Bundestagsfraktion wegen Grünen, das „Parlament der Bäume“ dauerhaft zu
der derzeit gesicherten Rechtslage und den Zusicherun- schützen, jedenfalls von Anfang an und tut das auch
gen des Deutschen Bundestages den Antrag ablehnen. heute.
Ein tibetisches Sprichwort sagt: „Ein Baum, der fällt,
macht mehr Krach als ein Wald, der wächst.“ Wir sor- Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
gen dafür, dass die Bäume weiter in Ruhe gedeihen kön- Als Theaterstück inszeniert, wäre die jüngste Ge-
nen. Lärm gibt es im politischen Berlin schon genug. schichte um Ben Wagins „Parlament der Bäume“ eine
entlarvende Satire auf den schwarz-gelben Regierungs-
Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): stil. In der Realität gibt es Buhrufe für diese schlechte
Am 30. September ist das in Berlin einmalige Denk- Daily-Soap live aus dem Deutschen Bundestag: Es ist
mal „Parlament der Bäume“ in neuer Gestaltung wie- ein politisches Trauerspiel.
dereröffnet worden.
Letzte Woche haben die Vertreter der Koalitionsfrak-
Der von Ben Wagin auf einem Reststück der ehemali- tionen im Ausschuss für Kultur und Medien einstimmig
gen innerstädtischen Grenzmauer mit Bildern, Skulptu- gegen unseren Antrag zur dauerhaften Unterschutzstel-
ren, einem Baumhain und Steinplatten entlang des ehe- lung des „Parlaments der Bäume“ votiert. Unser Antrag
maligen Patrouillenweges angelegte Ort der Erinnerung enthielt die Forderungen, das „Parlament der Bäume“
gedenkt deutscher und sowjetischer Soldaten des Zwei- durch eine entsprechende Bauleitplanung zu schützen
ten Weltkrieges und Menschen, die an der innerdeut- und die Aufnahme als Kulturdenkmal in die Landesdenk-
schen Grenze getötet wurden. malliste Berlin anzuregen.

Zu Protokoll gegebene Reden


6982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

Agnes Krumwiede
(A) Einen Tag später fanden die Feierlichkeiten zur Neu- Seit Jahren kämpft Ben Wagin dafür, solche Eingriffe (C)
gestaltung des „Parlaments der Bäume“ statt. Die Ent- in sein Werk für die Zukunft auszuschließen – bislang
scheidung der Koalition vom Tag zuvor gegen einen ohne Erfolg.
dauerhaften Erhalt des Kunstwerks schien vergessen:
Zu Ben Wagnis 80. Geburtstag im März dieses Jahres
Vor den Vertretern der Presse und in Anwesenheit Ben häuften sich die Lippenbekenntnisse von Politikern, das
Wagins würdigte Kulturstaatsminister Neumann sal- „Parlament der Bäume“ unter Denkmalschutz stellen zu
bungsvoll die Arbeit des Künstlers. Am selben Tag er- wollen. Sogar ein Gruppenantrag aller im Bundestag
klärte der Kulturstaatsminister, dessen Parteifreunde vertretenen Parteien war geplant. Viel Lärm um nichts:
24 Stunden zuvor den dauerhaften Schutz des „Parla- Das Zustandekommen des Gruppenantrags scheiterte
ments der Bäume“ abgelehnt hatten, in einer Pressemit- an den Mehrheiten aus Reihen der CDU/CSU und der
teilung: „Für die Umsetzung seines Projekts gewinnt SPD.
Ben Wagin mit seiner einzigartigen Mischung aus
Wenn es um die verbindliche Zusage zur dauerhaften
Charme, Begeisterung und Hartnäckigkeit – so auch
Unterschutzstellung des Kunstwerkes geht, kneifen die
mich.“ Eine Würdigung in Worten allein wird jedoch
verantwortlichen Politiker. Das hat die schwarz-gelbe
nichts zum dauerhaften Schutz des „Parlaments der
Koalition erst letzte Woche mit der Ablehnung unseres
Bäume“ beitragen. Oder, um es mit Ben Wagins Worten
Antrags im Kulturausschuss demonstriert. Auch anläss-
zu sagen: „Die schwingen immer alle nur große Reden,
lich des 20. Jahrestages der deutschen Einheit wird es
aber wenn es drauf ankommt, kneifen sie.“
folglich keinen Denkmalschutz für das „Parlament der
Es sind nicht schöne Worte, sondern unsere Hand- Bäume“ geben.
lungen, die Veränderungen bewirken. 1990 war der
Das „Parlament der Bäume“ darf keine Baulandre-
Aktionskünstler Ben Wagin einer, der durch sein Han-
serve und kein „Gedenkort auf Zeit“ bleiben. Die Bun-
deln das heutige „Filetstück“ beim Elisabeth-Lüders-
desregierung muss endlich dafür sorgen, das Grund-
Haus künstlerisch verändert hat. Trotz der Euphorie
stück, auf welchem sich das „Parlament der Bäume“
über die Deutsche Wiedervereinigung setzte er sich ge-
befindet, in Zukunft von der Bauleitplanung auszuneh-
gen den Abriss dieses Mauerstücks ein und bewahrte da-
men und Ben Wagins „Parlament der Bäume“ unter
mit einen im Regierungsviertel einzigartigen Erinne-
Denkmalschutz zu stellen. Mündliche Versprechungen
rungsort deutscher Geschichte.
zur Unterschutzstellung des Kunstwerkes bis 2018 rei-
In der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich chen uns nicht. Das „Parlament der Bäume“ muss als
für das Niemandsland des Grenzstreifens keiner verant- Erinnerungsstätte für nachfolgende Generationen er-
wortlich fühlte, entstand gegenüber dem Reichstag am halten bleiben. Dafür ist eine verbindliche schriftliche
(B) Schiffbauerdamm das „Parlament der Bäume gegen Zusage vonseiten der Regierung notwendig. (D)
Krieg und Gewalt“. Hier verwandelte Ben Wagin ein
Andernfalls schweben die Baukräne des Bundes wie
Reststück der ehemaligen innerstädtischen Grenzmauer
ein Damoklesschwert über Ben Wagins „Parlament der
zu einem „Erinnerungsgarten“. Es entstand eine krea-
Bäume“.
tive Geschichtsoase aus Bildern, Skulpturen, einem
Baumhain und Steinplatten mit den eingravierten Na-
men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen Präsident Dr. Norbert Lammert:
Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien auf
Außerdem hält das „Parlament der Bäume“ den Tod Drucksache 17/3115. Bevor ich darüber abstimmen
Tausender Soldaten in Erinnerung, die am Ende des lasse, weise ich darauf hin, dass es eine Erklärung nach
Zweiten Weltkriegs bei der Erstürmung des Reichstags § 31 der Geschäftsordnung der beiden Kolleginnen Petra
von einer SS-Einheit hinterrücks erschossen wurden. In Merkel und Monika Grütters zu diesem Tagesordnungs-
der Nachkriegszeit wurden hier Kartoffeln angebaut. punkt gibt.
Den einzig übrig gebliebenen Baum, eine Eiche, will
Ben Wagin unter Denkmalschutz stellen. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrages der Fraktion Bündnis
Ben Wagins Werk ist ein Beispiel für die friedvolle 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/1580. Wer stimmt
Macht der Kunst, die länger währt als Diktaturen. Das für die Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Kunstwerk ist an seinem authentischen Ort einzigartig Wer enthält sich? – Damit ist der Antrag mit der Mehr-
in der Haltung gegen die Trennung der Stadtteile und ein heit der Koalition angenommen.
Mahnmal gegen Krieg und Gewalt und auch ein Mahn-
mal gegen die Mauern in unseren Köpfen. Das „Parla- Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
ment der Bäume“ ist eine künstlerische Erinnerungs-
Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
stätte gegen das Vergessen.
von Cramon-Taubadel, Marieluise Beck (Bre-
Trotz des Zuspruchs, den Ben Wagin und sein Werk men), Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter
seit seiner Entstehung erfahren, ist das „Parlament der und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bäume“ dauerhaft in seiner Existenz bedroht. 2001 Kirgisistan unterstützen – Den Frieden si-
mussten von ursprünglich 400 gepflanzten Bäumen chern
300 für neu entstandene Bundesgebäude weichen; denn
das Kunstwerk befindet sich auf Baugrund des Bundes. – Drucksache 17/3202 –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6983
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Überweisungsvorschlag: vorgeschlagen. Sind Sie auch damit einverstanden? – (C)
Auswärtiger Ausschuss (f) Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss sen.
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Manfred Grund, Franz Thönnes, Michael Link, Sevim Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Dağdelen und Viola von Cramon-Taubadel haben ihre destages auf morgen, Freitag, den 8. Oktober 2010,
Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird 9 Uhr, ein.
Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 17/3202
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen gemütlichen Abend.
1) Anlage 9 (Schluss: 21.11 Uhr)

(B) (D)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6985

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 07.10.2010 Schreiner, Ottmar SPD 07.10.2010

Binder, Karin DIE LINKE 07.10.2010 Dr. Seifert, Ilja DIE LINKE 07.10.2010

Bleser, Peter CDU/CSU 07.10.2010 Senger-Schäfer, Kathrin DIE LINKE 07.10.2010

Bülow, Marco SPD 07.10.2010 Dr. Solms, Hermann FDP 07.10.2010


Otto
Friedhoff, Paul K. FDP 07.10.2010
Dr. Steinmeier, Frank- SPD 07.10.2010
Fritz, Erich G. CDU/CSU 07.10.2010* Walter

Götz, Peter CDU/CSU 07.10.2010 Strenz, Karin CDU/CSU 07.10.2010*

Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010 Toncar, Florian FDP 07.10.2010

Groth, Annette DIE LINKE 07.10.2010* Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 07.10.2010

Heil, Hubertus SPD 07.10.2010 Werner, Katrin DIE LINKE 07.10.2010*

Höger, Inge DIE LINKE 07.10.2010** Widmann-Mauz, CDU/CSU 07.10.2010


Annette
(B) Hörster, Joachim CDU/CSU 07.10.2010* (D)
Wieczorek-Zeul, SPD 07.10.2010
Krestel, Holger FDP 07.10.2010 Heidemarie
Liebich, Stefan DIE LINKE 07.10.2010** Zöllmer, Manfred SPD 07.10.2010
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 07.10.2010 sammlung des Europarates
** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
Dr. Maizière de, Thomas CDU/CSU 07.10.2010 sammlung der OSZE

Marks, Caren SPD 07.10.2010

Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 07.10.2010 Anlage 2


DIE GRÜNEN
Erklärung nach § 31 GO
Nestle, Ingrid BÜNDNIS 90/ 07.10.2010 der Abgeordneter Dr. Dagmar Enkelmann (DIE
DIE GRÜNEN LINKE) zur Abstimmung über die Zweite Be-
schlussempfehlung des Wahlprüfungsausschus-
Özoğuz, Aydan SPD 07.10.2010
ses: zu Einsprüchen gegen die Gültigkeit der
Oswald, Eduard CDU/CSU 07.10.2010 Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. Sep-
tember 2009 (Tagesordnungspunkt 34 g)
Pflug, Johannes SPD 07.10.2010
Ich stimme der Annahme der aus der Anlage 9 er-
Ploetz, Yvonne DIE LINKE 07.10.2010 sichtlichen Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsaus-
schusses auf Bundestagsdrucksache 17/3100 zu, weil der
Rupprecht SPD 07.10.2010* Bundestag im Rahmen der Prüfung der Wahleinsprüche
(Tuchenbach), nach seiner ständigen Praxis vorrangig die Einhaltung
Marlene der bestehenden wahlrechtlichen Vorschriften prüft.
Nach diesen bestehenden Regelungen war ein Wahlfeh-
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 07.10.2010 ler hinsichtlich der Auswahl und Einrichtung von barrie-
refreiem Wahlraum nicht zweifelsfrei feststellbar.
6986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Ich muss zu dieser Abstimmung Folgendes erklären: [Neufassung] (inkl. 12386/10 ADD 1 und 12386/10 (C)
ADD 2) (ADD 1 in Englisch) (Tagesordnungs-
Die Gemeinden bemühen sich zwar, barrierefreie punkt 7)
Wahlräume zur Verfügung zu stellen. Bei einem Anteil
von beispielsweise etwa zwei Dritteln nichtbarrierefreier Zur Abstimmung zum Antrag der Fraktionen der
Wahllokale in der Stadt Dresden muss der Bundestag aus CDU/CSU und FDP für eine Subsidiaritätsstellung-
meiner Sicht aber die Schlussfolgerung ziehen, dass das nahme nach § 93 a Abs. 1 GO-BT zum Vorschlag für
gesetzliche Ziel der Gleichstellung behinderter Men- eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Ra-
schen durch barrierefreie Wahlräume mit den bestehen- tes über Einlagensicherungssysteme (Neufassung),
den Regelungen bisher nicht erreicht wurde. Die Rege- KOM(2010) 368 endg. erkläre ich Folgendes:
lungen müssen deshalb zwingender ausgestaltet werden.
Der Binnenmarkt stellt eine der Hauptgesetzgebungs-
Es ist nach meiner Einschätzung – und diese Einschät-
kompetenzen der EU dar. Mit dem vorliegenden Richtli-
zung teilt meine Fraktion – für unsere Demokratie kein
nienvorschlag sollen mittels einer Harmonisierung die
tragbarer Zustand, wenn ein so hoher Anteil der Wahllo-
während der Finanzkrise zutage getreten Schwachstellen
kale nicht barrierefrei ist.
in den bestehenden Einlagensicherungssystemen besei-
Es ist nicht hinnehmbar, wenn Menschen, die wählen tigt werden. Mit der Schaffung eines europaweit hohen
wollen, dies nur deshalb nicht tun, weil sie kein barriere- Niveaus des Einlagenschutzes wird Inhabern von Einla-
freies Wahllokal vorfinden. Zwar könnten diese Wahlbe- gen ein schnellerer und effizienterer Schutz gewährt.
rechtigten mit Wahlschein in einem anderen, barriere- Dies fördert das Vertrauen der Bürger in das Finanzsys-
freien Wahllokal oder per Briefwahl wählen – das tem und ist damit auch für die Stabilität des nationalen
bedeutet aber zusätzlichen bürokratischen Aufwand. und europäischen Finanzmarkts von besonderer Bedeu-
Dies ist nicht zumutbar. Allen Wahlberechtigten muss tung. Dieses Ziel kann meines Erachtens nicht in glei-
– unabhängig von einer Mobilitätsbeeinträchtigung oder cher Weise auf nationaler Ebene erreicht werden.
Behinderung – die Wahl vor Ort im Wahllokal ermög- Nationalen Besonderheiten der Finanzmarktstruktur
licht werden. und der Gefahr einer Verzerrung des Wettbewerbs im
EU-Binnenmarkt wird dadurch genügend Rechnung ge-
Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf
tragen, dass lediglich die Rahmenbedingungen der je-
barrierefreie Wahllokale und öffentliche Einrichtungen.
weiligen Einlagensicherungssysteme – „Level Playing
Das VN-Übereinkommen über die Rechte von Men-
Field“ – harmonisiert werden. Die Europäische Kom-
schen mit Behinderungen verpflichtet dazu genauso wie mission beabsichtigt keine Maximalharmonisierung und
das Grundgesetz. Hinzu kommt: Das Durchschnittsalter gewährt den Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum
(B) der Wahlberechtigten wird immer mehr zunehmen. Auch (D)
bei der näheren Ausgestaltung.
deshalb haben die Auswahl und die Einrichtung barriere-
freier Wahllokale eine besondere Bedeutung für mich Selbst falls man die vorgetragenen Bedenken hin-
und meine Fraktion. sichtlich der inhaltlichen Detailausgestaltung der Richt-
linie teilt, so wäre auch unter dieser Prämisse die Sub-
Der Bundestag steht aus meiner Sicht in der Verant- sidiaritätsrüge das falsche Instrument.
wortung, die Wahlvorschriften nicht einfach nur im Rah-
men der Wahlprüfung anzuwenden, sondern sie im Be- Die Subsidiaritätsrüge ist schon formal in ihren Er-
darfsfalle – in seiner Funktion als Gesetzgeber – zu folgsaussichten von dem Zustandekommen eines Mehr-
ändern. heitsquorums unter den mitgliedstaatlichen Parlamenten
abhängig. Dies verspricht jedoch geringe Aussicht auf
Ich werde der Beschlussempfehlung zustimmen, weil Erfolg. Damit käme es auf die materielle Prüfung der
dort auf der Grundlage der geltenden Wahlvorschriften Rüge schon gar nicht mehr an.
vertretbar argumentiert wurde. Ich setze mich zugleich
für meine Fraktion im Wahlprüfungsausschuss für eine Die Subsidiaritätsrüge stellt neben der Subsidiaritäts-
Änderung der Wahlvorschriften ein. Ziel ist die Prüfung klage das schärfste Schwert dar, welches dem Bundestag
der gesetzlichen Vorgaben hinsichtlich barrierefreier durch den Vertrag von Lissabon zur Überprüfung der
Wahlräume durch die Bundesregierung und eine zügige Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips an die Hand gege-
Änderung der Vorschriften. ben wurde. Ich halte es für europapolitisch nicht oppor-
tun, für die erstmalige Ausübung eines so wichtigen
Rechts einen Anwendungsfall zu wählen, der schon aus
oben genannten Gründen wenig Aussicht auf Erfolg hat.
Mit einer Stellungnahme gemäß Art. 23 Abs. 3 GG
Anlage 3
könnte man dagegen Bedenken hinsichtlich der inhaltli-
Erklärung nach § 31 GO chen Detailausgestaltung der Richtlinie ebenso äußern,
und zwar unabhängig von einem vorliegenden Subsidia-
des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur ritätsverstoß. Mit einer solchen Stellungnahme könnte
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu die Bundesregierung direkt aufgefordert werden, die
der Unterrichtung: Vorschlag für eine Richt- vorliegenden Bedenken in ihre Verhandlungslinie mit zu
linie .../.../EU des Europäischen Parlaments und übernehmen, und auch europapolitisch das richtige
des Rates über Einlagensicherungssysteme Signal gesendet werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6987

(A) Anlage 4 sen 400 Bäumen stehen heute noch 100. Der Kolonnen- (C)
weg und 58 Mauersegmente sind an originaler Stelle
Erklärungen nach § 31 GO
noch erhalten.
zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung
Der künstlerisch gestaltete Ort im Regierungsviertel
zu dem Antrag: Das „Parlament der Bäume ge-
erinnert zudem an die sowjetischen Soldaten, die im Mai
gen Krieg und Gewalt“ muss dauerhaft ge-
1945 hier aus dem Hinterhalt erschossen wurden, sowie
schützt werden (Tagesordnungspunkt 26)
an die ersten Mauertoten, die genau an dieser Stelle bei
dem Versuch, über die Spree aus der DDR zu flüchten,
Petra Merkel (Berlin) (SPD): Hiermit erkläre ich, ums Leben kamen.
dass ich dem Antrag zustimme, da ich das Werk des
Künstlers Ben Wagin für dauerhaft schützenswert halte. Ergänzt wird das heutige Kunstwerk durch den be-
Der Deutsche Bundestag sollte die Nutzung des Gelän- rühmten Spruch des sowjetischen Staats- und Parteichefs
des dauerhaft gewährleisten. Ebenso sollte die Landes- Michail Gorbatschow, den er anlässlich seines Besuches
regierung Berlin aufgefordert werden, dieses Mahnmal zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am
gegen Krieg und Gewalt in die Landesdenkmalliste auf- 7. Oktober 1989 formulierte: „Wer zu spät kommt, den
zunehmen bestraft das Leben.“
Das „Parlament der Bäume gegen Krieg und Gewalt“
Monika Grütters (CDU/CSU): „Ja, Berlin ist eine ist nach der East Side Gallery das längste noch im Ori-
Sandwüste, aber wo sonst findet man Oasen?“ – Passen- ginal erhaltene Stück Hinterlandmauer und der einzig
der als der von mir verehrte Dichter Jean Paul hätte man noch an originaler Stelle verbliebene Mauerrest im Re-
nicht beschreiben können, was der kleine Ort des „Parla- gierungsviertel. Es ist das Verbindungsglied zu den
ments der Bäume“ ist: eine Oase der Erinnerung, der Mauerresten im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und zur
Kunst und der Selbstreflexion des Parlaments in der in- Mauermarkierung im Bundespressehaus. Die sichtbar
nerstädtischen Wüste Berlins und des Regierungsvier- gemachte Erinnerung in diesen beiden Gebäuden wäre
tels. ohne das „Parlament der Bäume“ nicht erklärbar.
Hinter dem Bundespressehaus an der Ecke Schiffbau- Im November 2008 hat Bundestagspräsident Norbert
erdamm/Reinhardtstraße, befindet sich dieses „Parla- Lammert, der sich mehr als seine Vorgänger für das
ment der Bäume gegen Krieg und Gewalt“. Es entstand Denkmal engagiert, entschieden, dass der Bundestag die
in der Zeit der politischen Wende 1989/90, als sich für gärtnerische Pflege der Anlage übernimmt und die Zu-
das „Niemandsland“ des Grenzstreifens keiner verant- gänglichkeit zum „Parlament der Bäume“ garantiert.
wortlich fühlte. Bernd Neumann, der Beauftragte für Kultur und Medien
(B) (D)
im Kanzleramt, BKM, hat Mittel bereitgestellt und so
Der Künstler Ben Wagin, seine Freunde, Künstler wie gemeinsam mit dem Senat von Berlin die Einzäunung,
Tadeusz Kantor, Klaus Staeck, Otto Dressler und Mit- die Beleuchtung, die öffentliche Beschilderung und die
glieder des Baumpatenvereins verwendeten die einzel- Einbettung in das Mauerkonzept für das Denkmal am
nen Segmente der Hinterlandmauer – die Grenze verlief historischen Ort sichergestellt.
am westlichen Spreeufer –, um auf ihnen das Jahr und
die Anzahl der Mauertoten aufzulisten. Auf dem Ge- Der Antrag, der heute zur Abstimmung steht, fordert
lände lagern nun Steinplatten mit den eingravierten Na- die Bundesregierung nun auf, in Zusammenarbeit mit
men der über 900 Menschen, die an der innerdeutschen dem Senat von Berlin im gemeinsamen Ausschuss von
Grenze in den Jahren 1948 bis 1989 getötet wurden. Ben Bund und Berlin nach § 247 BauGB den gültigen Be-
Wagin ergänzte die Dokumentation durch Bilder und bauungsplan für das Regierungsviertel – I-210 – so zu
Gedichte. ändern, dass eine künftige Bebauung des Grundstücks,
auf dem sich das „Parlament der Bäume gegen Krieg
Ursprünglich gehörten zu dem Kunstwerk drei Berei- und Gewalt“ von Ben Wagin befindet, verhindert wird
che: die 16 Bäume, die von den Ministerpräsidenten ge- und das Kunstwerk unter Denkmalschutz gestellt wird.
pflanzt wurden und die 16 Bundesländer symbolisieren Die Baukommission des Deutschen Bundestages hat
sollten, das grüne Denkmal „Europa Erde werde“, das dies im Hinblick auf den Wert des Grundstücks zunächst
dem Neubau des Bundespressehauses weichen musste, abgelehnt.
und das Ensemble der 400 Bäume.
Ich habe Respekt vor dieser Entscheidung, denn sie
Diese wurden im Herbst 1990 von den Senatorinnen ist aus der Sicht der Baupolitiker sicher gut nachvoll-
und Senatoren aus Ost- und West-Berlin zusammen mit ziehbar. Auch die Haltung des Bundestagspräsidenten
dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, der und des Staatsministers für Kultur und Medien, die beide
Parlamentspräsidentin des Deutschen Bundestags Rita darauf verweisen, dass das Gelände bis 2018 nicht ange-
Süßmuth, der Präsidentin des Berliner Abgeordneten- tastet wird, und die davon ausgehen, „dass es von Dauer
hauses Hanna-Renate Laurien und dem SPD-Vorsitzen- ist“ – so Bernd Neumann bei der Einweihung des Doku-
den Hans-Jochen Vogel sowie zahlreichen Bundestags- mentationsortes am 30. September 2010 –, ist nachvoll-
abgeordneten anlässlich der ersten Plenarsitzung im ziehbar.
Reichstagsgebäude entlang dem Kolonnenweg ge-
pflanzt. Engagiert haben sich ebenso Bundespräsident Ich werde dem Antrag zur Änderung des Bebauungs-
Johannes Rau, die Bundesminister Klaus Töpfer, planes und zur Unterdenkmalschutzstellung des „Parla-
Wolfgang Mischnick und Wolfgang Schäuble. Von die- ments der Bäume“ dennoch zustimmen, weil ich es für
6988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) ein schönes und bedeutendes Signal gehalten hätte, Zudem ist der Netzkauf nicht die einzige Möglichkeit, (C)
wenn sich der Deutsche Bundestag zum 20. Jahrestag um sich als Kommune einen größeren Einfluss auf die
der Deutschen Einheit und zum 80. Geburtstag des Netze zu sichern. Angesichts der hohen Kosten eines Er-
Künstlers Ben Wagin jetzt, im Jahr 2010, zu diesem Zu- werbs sind durchaus auch die kostengünstigeren Beteili-
geständnis an den Wert und die Würde des authentischen gungsmodelle oder im Einzelfall auch die Gründung von
Gedenkortes, des Kunstwerkes auf seinem eigenen Ge- Kooperationen in Erwägung zu ziehen.
lände und des Parlaments der Bäume, hätte durchringen
können. Das Problem, das die Grünen schildern, wird mit dem
Antrag meines Erachtens nicht gelöst, da andere Aspekte
ausgeblendet werden. Die Grünen sagen in dem Antrag,
dass in den nächsten Jahren Tausende Konzessionsver-
Anlage 5 träge zwischen Kommunen und Energieversorgungsun-
Zu Protokoll gegebenen Reden ternehmen zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnet-
zen auslaufen. Im derzeitigen EnWG sei nicht
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur gewährleistet, dass ein einfacher Wechsel zu anderen
Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes Betreibern möglich ist. Die Hürden eines Wechsels seien
zu groß, da zum Beispiel die bisherigen Netzbetreiber
nicht verpflichtet seien, umfassend über den Wert des
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Heute reden wir über
Netzes zu berichten.
den Antrag der Grünen-Fraktion zur Änderung des Ener-
giewirtschaftsgesetzes vor dem Hintergrund auslaufen- Es muss in dem Zusammenhang aber auch gesehen
der Konzessionsverträge im Strom- und Gasnetzbereich. werden, dass viele der in den kommenden Jahren auslau-
Ausnahmsweise reden wir damit heute einmal über ei- fenden Konzessionsverträge vor Inkrafttreten des EnWG
nen energiepolitischen Oppositionsantrag, der nichts mit 1998 geschlossen wurden. Diese Verträge enthalten so-
der Kernenergie zu tun, worüber ich mich sehr freue. genannte Endschaftsklauseln, die Details über die Aus-
stiegsbedingungen regeln.
Wie in anderen zahlreichen Anträgen im energiepoli-
tischen Bereich sieht die Opposition die Thematik aller- Ich bin der Meinung, dass bestehende vertragliche
dings zu kurzsichtig. Eine differenziertere Betrachtung Regelungen zu achten sind. Die Politik sollte nur ein-
ist hier vonnöten. greifen, wenn es zwingend notwendig ist. Daher müssen
wir sicherlich genau prüfen, in welcher Weise dies not-
Dazu gehört zunächst einmal die grundsätzliche wendig sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die
Frage, was hinter dem Wunsch der Kommunen, Energie- Informationspflicht über Zustand und Wert der Netze –
(B) politik zu machen, steckt. Es ist nämlich durchaus zu be- Stichwort Transparenz. (D)
fürchten, dass hier weitreichende finanzielle Belastun-
gen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf Ohnehin haben wir in der Koalition vereinbart, im
nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen nächsten Jahr im Zuge der Umsetzung des dritten Bin-
mit dieser Aufgabe übernehmen. nenmarktpakets das Energiewirtschaftsgesetz zu novel-
lieren. In diesem Zusammenhang werden wir in aller
Grundsätzlich möchte ich davor warnen, dass den Ruhe über die Notwendigkeit gesetzgeberischen Han-
großen Herausforderungen im Bereich des Stromnetz- deln entscheiden. Wirklich erforderliche Änderungen in
ausbaus nicht in ausreichendem Maße Genüge getan § 46 EnWG werden dann vorgenommen. Mit der Über-
wird. Gerade im Verteilnetzbereich stehen wir vor wich- weisung an den zuständigen Wirtschaftsausschuss wer-
tigen Aufgaben. Dazu gehört zunächst einmal die Inte- den wir die Möglichkeit haben, über diese Frage zu dis-
gration der erneuerbaren Energien, deren Anteil stetig kutieren. Dabei kann auch das berechtigte Anliegen der
wächst. In diesem Jahr wird es Schätzungen zufolge al- Kommunen aufgegriffen werden, im Rahmen einer Ver-
lein im Bereich Photovoltaik zu einem Zubau in Höhe änderung der Stromnetzentgeltverordnung den Kauf-
von rund 10 000 Megawatt kommen. preis zu prüfen, um für mehr Rechtssicherheit zu sorgen.
Uns allen muss klar sein, dass wir unsere ambitionier- Abschließend möchte ich nochmals kurz auf das ein-
ten Ausbauziele im Bereich der erneuerbaren Energien gangs erwähnte energiepolitische Gesamtkonzept der
nur erreichen können, wenn wir in Sachen Netzausbau Bundesregierung zu sprechen kommen. Darin haben wir
mitziehen. in einem eigenständigen Kapitel die großen Herausfor-
derungen beim Netzausbau dargestellt und aufgezeigt,
Ein weiterer Punkt in dem Zusammenhang ist die welche Handlungen notwendig sind, wenn wir es ernst
Entwicklung von intelligenten Netzen, Smart Grid. Auf- meinen mit dem Weg ins Zeitalter regenerativer Ener-
grund des je nach Sonnen- oder Windaktivität schwan- gien.
kenden Angebots an erneuerbaren Energien ist dieses In-
strument dringend notwendig. Damit einher geht der Neben dem enormen Ausbaubedarf bei den Übertra-
Einsatz von intelligenten Zählern, Smart Meter. Ich will gungsnetzen im Hochspannungsbereich gehört dazu vor
die Aufzählung an dieser Stelle beenden, aber es sollte allem auch die Notwendigkeit, massivst in die Verteil-
klar sein, dass wir hier vor großen Herausforderungen netze im Niedrigspannungsbereich zu investieren. Mit
stehen, die auch mit massiven Investitionskosten ver- jedem Megawatt an Photovoltaikzubau fallen entspre-
bunden sind. Dieser Verantwortung müssen sich die chende zusätzliche Investitionen im Verteilnetzbereich
Kommunen bewusst sein. an.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6989

(A) Wenn wir über Ziele und Maßnahmen reden, müssen es notwendig ist, in der im Antrag geschilderten Art und (C)
wir auch so ehrlich sein zu sagen, was uns das kostet, Weise den Gemeinden beizuspringen. Sie haben nämlich
und zugleich dazu stehen, dass uns dies wert ist. Unsere mit der Auslegung des § 46 Abs. 2 Satz 2 EnWG höchs-
ambitionierten Ausbauziele bei den erneuerbaren Ener- tens mittelbar insofern zu tun, als sich ein Rechtsstreit
gien dürfen nicht daran scheitern, dass wir den Gesamt- zwischen den Energieversorgern entfachen könnte.
rahmen aus den Augen verlieren, und dazu gehört der Demgegenüber behaupten die Grünen, dass der Wechsel
Ausbau der Verteilnetze. Diesen Punkt dürfen wir bei nicht erfolgen würde, weil die Gemeinden angeblich
dieser Diskussion um das Energiewirtschaftsgesetz nicht „drohende juristische Auseinandersetzungen mit einem
vergessen. mächtigen und finanzkräftigen Energiekonzern“ fürch-
ten.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Unsere Strom- und Meine Damen und Herren, im Gesetzgebungsverfah-
Gasnetze sind in der Tat ein wichtiges Thema. Ohne eine ren hat der Gesetzgeber trotz entsprechender Vorschläge
leistungsfähige Netzinfrastruktur werden wir unser Ziel, davon abgesehen, eine ausdrückliche Verpflichtung zur
den Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttostrom- Eigentumsübertragung aufzunehmen. Eine Verpflich-
verbrauch bis 2050 auf 80 Prozent zu erhöhen, nicht er- tung zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeigne-
reichen. Deshalb haben wir dieses Thema auch in unse- tes, aber milderes Mittel, um dem neuen Netzbetreiber
rem Energiekonzept umfassend berücksichtigt, etwa eine Verfügungsmacht über die für den Netzbetrieb not-
indem wir planen, intelligente Netze zu schaffen oder wendigen Anlagen einzuräumen, was sich dann auch in
ein „Zielnetz 2050“ zu entwickeln. der wirtschaftlich angemessenen Vergütung niederschla-
Was nun den debattengegenständlichen Antrag der gen wird. Soweit praktische Probleme bei einer Netz-
Grünen angeht, so ist zunächst richtig: Städte und Ge- überlassung ohne Eigentumsübertragung möglich sind
meinden entscheiden im Rahmen eines Konzessionsver- – zum Beispiel die Pflicht zur Weiterübertragung des
trages, wer der örtliche Strom- bzw. Gasverteilnetzbe- Netzes nach Ablauf des neuen Konzessionsvertrages –,
treiber sein soll. Konzessionsverträge können für können diese vertraglich bei der Gebrauchsüberlassung
maximal 20 Jahre abgeschlossen und müssen öffentlich geregelt werden.
ausgeschrieben werden.
Mit Festschreibung einer wirtschaftlich angemesse-
In den nächsten Jahren laufen die Konzessionsver- nen Vergütung soll sichergestellt werden, dass der Ver-
träge bundesweit überwiegend aus. Das betrifft circa sorgerwechsel nicht an einer eben prohibitiv hohen Ver-
2 000 Konzessionsverträge, die in den kommenden zwei gütung scheitert. Über die konkrete Höhe müssen sich
Jahren neu abgeschlossen werden müssen. die Parteien im Verhandlungswege einigen. Die Fest-
(B) schreibung eines konkreten Verfahrens zur Ermittlung (D)
Entscheidend ist auch: Die auslaufenden Konzessions- der Vergütungshöhe würde einen Eingriff in die Ver-
verträge schaffen gute Voraussetzungen für Wettbewerb tragsfreiheit darstellen – und den wollen wir eben nicht.
im Verteilnetzbetrieb. Die mit dem Auslaufen der Kon- Wenn teilweise sogar eine Begrenzung der Vergütung
zessionsverträge verbundenen Ausschreibungen beflü- auf den kalkulatorischen Restwert gefordert wird, wäre
geln diesen, ja sind Voraussetzung für einen Wettbewerb dies bei abgeschriebenen Netzen faktisch eine Verpflich-
um den effizienten Verteilnetzbetrieb, der so in Stufen tung zur „Zwangsschenkung“. Auch das wollen wir
realisiert wird. nicht, deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Nun zur Kritik der Grünen an der bestehenden Geset-
zeslage: Sie kritisieren die geltende Regelung des § 46 Rolf Hempelmann (SPD): Der Antrag der Grünen
Abs. 2 EnWG als unzureichend, weil insbesondere zu geht im Kern um die Stärkung der kommunalen Energie-
unbestimmt. Im Gesetz heißt es nämlich, dass bei Nicht- wirtschaft. Damit sprechen die Grünen ein Thema an,
verlängerung eines Konzessionsvertrags der bisherige das auch der SPD-Fraktion am Herzen liegt. Die kom-
Netzbetreiber verpflichtet ist, die Verteilungsanlagen im munalen Unternehmen haben in der Vergangenheit be-
Gemeindegebiet dem neuen Energieversorger gegen wiesen, jedenfalls viele von ihnen haben das getan, dass
Zahlung einer angemessenen Vergütung zu überlassen. sie kundenorientierte Energiedienstleistungen mit inno-
Sie haben insofern Recht, als hier unter anderem un- vativen Konzepten voranbringen können. Damit schaf-
bestimmte Rechtsbegriffe verwandt werden. Dies ist al- fen sie die Voraussetzungen für mehr Energieeffizienz
lerdings dem Umstand geschuldet, dass bewusst keine auf der Angebots- und auf der Nachfrageseite, eine Ent-
Einzelfallregelung getroffen, sondern ein weiter Anwen- wicklung, die wir brauchen, um ohne Lebensqualitäts-
dungsbereich eröffnet werden soll. Falsch ist die verlust mit weniger Energie auskommen zu können.
Schlussfolgerung, dass diese offene Regelung, die im
Einzelfall verhandelt werden muss und darf, Gemeinden Konkret geht es dem Antragsteller um die Schaffung
vom Wechsel des Konzessionärs abhalten würde. In der von Rechtssicherheit bei der Übertragung von Verteil-
Praxis, die ich auch als aktiver Kommunalpolitiker netzen von Strom und Gas. Im Antrag ist zutreffend be-
kenne, entscheidet die Gemeinde über den Konzessionär. schrieben, welche Schwierigkeiten in den letzten Jahren
Die Verhandlungen auf Basis des § 46 Abs. 2 Satz 2 immer wieder beim Wechsel von Konzessionsverträgen
EnWG müssen anschließend Alt- und Neukonzessionär aufgetreten sind. Wir teilen die Auffassung, dass eine
miteinander führen. Sie pflichten mir doch bei, dass dies wesentliche Ursache in den rechtlich unbestimmten Be-
zwischen den Energieversorgern im Regelfall auf Au- grifflichkeiten zum Konzessionswechsel in § 46 EnWG
genhöhe geschehen dürfte. Ich kann nicht erkennen, dass begründet sind. Dadurch begünstigt die jetzige Gesetzes-
6990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) lage die Fortsetzung des Status quo, führt also häufig zwischen den Beteiligten mit verpflichtenden Vertrau- (C)
dazu, dass Kommunen ihr Netz nicht rückerwerben, son- lichkeitsvereinbarungen regeln, deren Verletzung aller-
dern dem alten Konzessionär weiter überlassen. dings mit hohen Konventionalstrafen belegt sein muss.
Neben den unklaren Wechselregelungen in § 46 spie- Mit diesen Ergänzungen findet der Gesetzentwurf un-
len auch andere vom Antragsteller angeführte Aspekte sere Unterstützung. Allerdings gehen wir davon aus,
eine den Wechsel behindernde Rolle. So fehlen in der dass die Initiative in den breiteren Kontext der Novellie-
Tat kaufinteressierten Kommunen oft maßgebliche In- rung des Energiewirtschaftsgesetzes eingebettet werden
formationen über die technische und wirtschaftliche Si- sollte. Diese muss ohnehin zeitnah erfolgen. Sie bietet
tuation des Netzes, Informationen, die für die Bewertung Gelegenheit, weitere, gerade die Verteilnetze betreffende
eines Netzkaufs oder Netzrückkaufs aber unbedingt er- Fragen zu klären, zum Beispiel die Anpassung der Netz-
forderlich sind. Auch die in § 46 vorgegebene „wirt- regulierung an neue Herausforderungen wie Smart Grids
schaftlich angemessene Vergütung“ als Grundlage zur und horizontale Stadtwerkekooperationen.
Berechnung des Netzkaufpreises ist zu unbestimmt und
unklar. Viel zu oft bestehen Meinungsverschiedenheiten Wir werden entsprechende Vorlagen und Empfehlun-
zwischen Käufer und Verkäufer darüber, welches Entgelt gen formulieren, die wir unsererseits kurzfristig in das
für die Übernahme eines Netzes tatsächlich angemessen parlamentarische Verfahren einspeisen.
ist.
Klaus Breil (FDP): Der Gesetzentwurf der Grünen
Was ist die Folge dieser Unklarheiten und Regelungs-
verfolgt zwei Ziele:
lücken? Eine der Folgen jedenfalls ist, dass eine Vielzahl
von Fällen vor Gericht geklärt werden muss. Das führt Erstens soll die kommunale Energiewirtschaft ge-
zu jahrelanger Rechtsunsicherheit aufseiten der Kommu- stärkt werden – das ist super.
nen und nährt die Befürchtung, dass notwendige Investi-
tionen in die betroffenen Netzabschnitte ausbleiben. Zweitens soll Rechtssicherheit bei der Übertragung
von Verteilnetzen für Strom und Gas geschaffen werden.
Wie ich eingangs dargestellt habe, unterstützt die SPD Das ist auch super – so weit unterschreiben wir beides:
den Rekommunalisierungstrend im Bereich der Strom- Wettbewerb und Rechtssicherheit – toll! Auf Rechtssi-
und Gasverteilnetze und sympathisiert insofern auch cherheit folgt nämlich Planungssicherheit. Genau das
grundsätzlich mit dem vorliegenden Antrag. Wir glau- brauchen unsere Unternehmen. Und genau das haben
ben allerdings, dass noch einige Ergänzungen notwendig wir ihnen durch unser Energiekonzept für die nächsten
und sinnvoll wären. Jahre gegeben.
(B) Erstens. Zwar fordert der Antragsteller zu Recht, ge- Verwechseln Sie Planungssicherheit aber bitte nicht (D)
stützt durch mehrere OLG-Urteile, dass zur Bestimmung mit Planwirtschaft. In diese Richtung versuchen die Grü-
des Kaufpreises das Ertragswertverfahren vorgegeben nen uns nämlich ständig bei der Energiepolitik zu drän-
werden sollte. Dies wäre auch deshalb sinnvoll, weil auf gen. Dass das nur wenig bringt, zeigt der Zwischenbe-
diese Weise die Kostenanerkennung durch die Bundes- richt der „Ökohauptstadt Freiburg“. Dort wurde das
netzagentur weitgehend gesichert wäre. Um allerdings Planziel einer regenerativen Stromerzeugung von
zu vermeiden, dass quasi schrottreife Netze zu überhöh- 10 Prozent für 2010 mit 3,7 Prozent nur ganz knapp ver-
ten Preisen den Besitzer wechseln, muss gewissermaßen fehlt.
als Korrektiv – auch das schlagen die Oberlandesge-
richte vor – aus unserer Sicht der Tagesneuwert berück- Aber zurück zum Anfang – Stichwort Wettbewerb:
sichtigt werden, also der tagesaktuelle Zustand des Net- Mehr Wettbewerb bei der Energieerzeugung – das ist
zes. Nur so wäre tatsächlich ein angemessener Kaufpreis eine der Ur-Forderungen der FDP. Wie ich finde, bekom-
sichergestellt und der bisherige Eigentümer auch bei ei- men die Mittelständler der Energiewirtschaft das bis
nem anstehenden Konzessionswechsel motiviert, weiter- dato ganz gut hin. Sie denken fortschrittlich. Sie inves-
hin notwendige Investitionen vorzunehmen. tieren, zwar nicht ausschließlich – aber doch ganz be-
achtlich – in klimaschonende Erzeugungskapazitäten.
Zweitens. Ein weiterer Punkt, der unseres Erachtens Und sie stellen sich breit auf, unter anderem mit Biogas-
einer pragmatischen Lösung bedarf, betrifft die zum Teil und Biomasseanlagen, Erdgas-BHKWs, Windkraftanla-
jahrelange Dauer und die hohen Kosten der gerichtlichen gen, onshore wie offshore, und mit KWK-Anlagen.
Auseinandersetzungen zwischen den Beteiligten. Hier
schlagen wir die Einführung einer Verpflichtung vor, Damit tragen sie schon heute zu 8 Prozent
spätestens ab einem halben Jahr Verfahrensdauer und ab- – 50 TWh – zur deutschen Stromerzeugung bei. Und
sehbaren erheblichen Zeitverzögerungen eine Schlich- das wird nicht weniger werden. Im Gegenteil: Stadt-
tungsstelle anrufen zu müssen. werke können über Beteiligungen an Offshore-Wind-
parks durch das 10-Punkte-Sofortprogramm des Ener-
Drittens. Auch wenn wir die Forderung nach einer giekonzeptes diesen Anteil noch weiter ausbauen.
umfassenden Informationsweitergabe frühzeitig vor
Auslaufen einer Konzession unterstützen, legen wir auf- Gleiches kann die Förderung CCS-fähiger fossiler
grund der Vielzahl betriebswirtschaftlich relevanter und Kraftwerke für Akteure mit weniger als 5 Prozent
sensibler Daten Wert darauf, dass die Informationen Marktanteil schaffen. Ich glaube, dass wir den Stadtwer-
nicht quasi am Schwarzen Brett ausgehängt werden und ken damit mehr Rückenwind für ihre Entwicklung geben
anschließend frei vagabundieren können. Dies lässt sich konnten. – So weit, so gut auf der Erzeugungsseite.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6991

(A) Aber zwischen Erzeuger und Verbraucher steht noch fahrens. Jede Kommune kann die Konzessionsinhaber (C)
der Verteiler – also das Netz. Mehr und mehr Kommu- vertraglich verpflichten, bei Auslaufen der alten Konzes-
nen haben in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert. sion die potenziellen Mitbewerber ausreichend mit In-
Das war für sie – in schweren Zeiten – ein probates Mit- formationen zu über das Netz zu versorgen. Beim Wech-
tel gegen Geldnot. Man hat dann Energieunternehmen sel des Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen
durch Konzessionsverträge den Aufbau und Betrieb der Versorgung“ gibt es im Energiewirtschaftsgesetz eine
Versorgungsnetze erlaubt – sale and lease back. In den Überlassungspflicht. Entgegen Ihrer Argumentation gibt
kommenden Jahren laufen viele dieser langfristig ange- es darin sehr wohl eine eindeutige Regelung zur Übertra-
legten Verträge aus. Manche Kommune sieht darin die gung der Anlagen an einen Neukonzessionär. Allerdings
Möglichkeit, politischen Einfluss auf die lokale Energie- hat man damals davon abgesehen, eine ausdrückliche
versorgung zurückzugewinnen. Verpflichtung zur Eigentumsübertragung aufzunehmen.
Eine Verpflichtung zur Gebrauchsüberlassung ist ein
Ist das die einzige Motivation zur Rekommunalisie- ebenso geeignetes, aber weitaus milderes Mittel. Auch
rung der Verteilnetze? Die Kommunen wollen trotz so wird einem neuen Betreiber die Verfügungsmacht
klammer Kassen ihre Netze zurückkaufen. Gleichzeitig über die notwendigen Anlagen eingeräumt.
kritisieren sie via Verbände die Netzentgelte als zu nied-
rig. Da stellt sich mir die Frage: Weshalb möchte man Außerdem: Mit Festschreibung einer wirtschaftlich
ein Investment machen, das sich augenscheinlich nicht angemessenen Vergütung stellen wir sicher, dass der
lohnt? Finanziell kann das so attraktiv doch nicht sein – Versorgerwechsel nicht an einer verboten hohen Vergü-
erst recht nicht, wenn man die Mittel dafür nicht locker tung scheitert. Wir lehnen eine allgemeine Begrenzung
hat. der Vergütung auf den kalkulatorischen Restwert ab. Bei
abgeschriebenen Netzen bedeutet das nämlich eine Ver-
Was ist es aber dann? Ein auslaufender Konzessions-
pflichtung zur Zwangsschenkung. An dieser Stelle sei an
vertrag, der nicht verlängert wird. Und eine Kommune,
Art. 14 des Grundgesetzes erinnert – unzulässiger Ein-
die ihr Netz selbst wieder betreiben kann. Beide ändern
griff in die Eigentumsfreiheit.
nichts an den Regeln für den Wettbewerb auf dem Ener-
giemarkt. Jeder Kunde kann schon heute seinen Energie- Daher lehnen wir Ihren Gesetzesentwurf ab.
lieferanten frei wählen. Ihm ist es also völlig egal, wer
per Konzessionsvertrag für den Netzbetrieb verantwort-
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Die Koalition
lich ist.
will – ich zitiere aus ihrem zweifelhaften Energiekon-
Jetzt führen Sie bitte nicht an, Rekommunalisierung zept – „den Wettbewerb und eine marktwirtschaftliche
diene dem Klimaschutz. Die Kommunen haben auch so Orientierung auf den Energiemärkten stärken.“ Dass es
(B) schon die Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösun- ihr dabei ausschließlich um die Stärkung des Wettbe- (D)
gen und erneuerbare Energien zu investieren. Dafür werbs für die vier Atomkonzerne geht, ist im ganzen
brauchen sie keine eigenen Netze. Und „eigene“ meine Land bekannt. Nicht umsonst spricht auch der Deutsche
ich im Sinne Ihres Gesetzesentwurfes. Sie möchten, dass Städtetag im Zusammenhang mit der Laufzeitverlänge-
die Kommunen wieder Eigentümer der Netze werden. rung von einer „Gefährdung der Wirtschaftlichkeit der
Investitionen von Städten und ihrer Unternehmen in Er-
Da sehen wir einiges anders als Sie: Wir wollen einen neuerbare Energie“.
echten Wettbewerb um Konzessionen. Was wir aber
nicht wollen, ist, das Energiewirtschaftsgesetz zu einem Die Linke hat ein Gegenkonzept zu dieser Agenda für
Schutzgesetz für die Kommunen zu machen. Das hat be- die Energiekonzerne – gegen das schwarz-gelbe Ener-
reits das OLG Düsseldorf in aller Klarheit festgestellt – giekonzept – mit der Forderung nach einer umfassenden
ich zitiere –: Rekommunalisierung des Energiesektors. Der Energie-
sektor muss als Bereich der öffentlichen Daseinsvor-
Der Zweck des Energiewirtschaftsgesetzes besteht
sorge unter demokratische Kontrolle gestellt werden.
nicht in dem Schutz der Gemeinde, etwa um die
Wer sollte das besser bewerkstelligen als die Kommunen
Entscheidungsfreiheit der Gemeinde zu erweitern,
selbst? Viele Konzessionsverträge zwischen großen
sondern in der Ermöglichung des Wettbewerbs
Energieunternehmen und den Kommunen laufen dem-
durch Dritte.
nächst aus. Genau da setzt ein Hebel an, der den Umbau
Wir wollen keine Staatsnetze. Wir wollen, dass sich zu erneuerbaren Energien wesentlich antreiben kann,
der effizienteste Netzbetreiber im Wettbewerb um die denn Gemeinden können in Konzessionsverträgen fest-
Konzessionen durchsetzt. Das bedeutet Transparenz und schreiben, dass Gewinne in erneuerbare Energien inves-
Gleichbehandlung für alle potenziellen Bewerber um die tiert werden können; sie können Vorgaben für den
Netzkonzession. Die Kommune muss daher bei einer Stromeinkauf machen. Sie können mit dem Auslaufen
Neuausschreibung der Konzession alle Bewerber mit In- der Konzessionen also auf vielfältige Weise bestimmen,
formationen versorgen. Sie darf nach dem Sinn des Ge- wie der regionale Strommix aussehen soll.
setzes sich selbst dabei nicht bevorzugen, wenn sie das
In vielen Städten wollen die örtlichen Stadtwerke die
Netz übernehmen will. Denn natürlich benötigt jeder
Netze selbst nutzen. Viele Stadtwerke mit mehrheitlich
Wettbewerber um die Konzession Informationen über
kommunaler Beteiligung haben den Wunsch, die Bürge-
das Netz, bevor er seine Entscheidung trifft.
rinnen und Bürger mit regional erzeugtem erneuerbaren
Statt zu klagen, sollten die Kommunen selbst etwas Strom zu versorgen. Es ist die Aufgabe von Bundespoli-
zur Besserung der Lage tun. Sie sind die Herren des Ver- tik, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen,
6992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) um genau solchen Stadtwerken die Übereignung der Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In (C)
Energienetze so einfach wie möglich zu gestalten – für Deutschland laufen aktuell und in den kommenden Jah-
einen nachhaltigen Klimaschutz, für Bürgerbeteiligung ren Tausende sogenannter Konzessionsverträge zwi-
und für die Wertschöpfung in regionalen Wirtschafts- schen Kommunen und Energieversorgungsunternehmen
kreisläufen. Es kann deshalb nicht sein, dass sich Ener- zum Betrieb von Strom- und Gasverteilnetzen aus. Das
giekonzerne hinstellen und bei Auslaufen der Konzes- bietet Kommunen die Chance, ihre Netze in Zukunft
sionsverträge horrende und völlig utopische Summen für wieder in Eigenregie oder aber in Kooperation mit ande-
die zum Teil völlig überalterten Netze verlangen. Dass ren Kommunen betreiben zu können oder einfach nur
das Ende von Konzessionen regelmäßig in Jahre andau- einen anderen Netzbetreiber zu wählen. Das ist Wettbe-
ernden Rechtsstreitigkeiten mündet, zeugt von der werb um die Netze, das ist originärer Handlungsspiel-
Dreistigkeit und der Profitgier der Konzerne gegenüber raum von Kommunen, den wir stärken sollten.
Kommunen. Ein Beispiel: Die Stadt Wolfhagen hat als Viele Kommunen wollen mit den Verteilnetzen als
erste Stadt in Nordhessen ihr Stromnetz von Eon zurück- Rückgrat bei der Energiezeugung selbst aktiv werden:
gekauft. Sie will bis 2015 ihren gesamten Strombedarf dezentral, mit erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-
aus erneuerbaren Energien decken. Die Kaufsumme für Kopplung vor Ort. Dabei wollen wir sie unterstützen.
die Netze von 2,4 Millionen Euro lag nach Einschätzung Wir brauchen Kommunen mit Stadtwerken als Akteuren
der Stadtwerke 180 Prozent über dem tatsächlichen im Energiemarkt. Doch leider legt das Energiewirt-
Wert. Dort hat erst der Gang vor das Bundesverwal- schaftsgesetz in seiner aktuellen Fassung den Kommu-
tungsgericht eine Lösung schaffen können. Noch ein nen einen großen Stein in Form von § 46 Abs. 2 EnWG
Beispiel: RWE musste auf Drängen des Oberverwal- in den Weg, wenn sie am Ende der Laufzeit von Konzes-
tungsgerichts 2,8 Millionen D-Mark an die Gemeinde sionsverträgen wieder an ihre Netze kommen wollen.
Nürnbrecht in Nordrhein-Westfalen zurückzahlen.
So ist der aktuelle Netzbetreiber zum Beispiel nicht
Solche Beispiele gibt es noch einige, und ohne eine verpflichtet, der Kommune relevante Daten über das
klare Regelung zur Festsetzung des wirklichen Wertes Netz und dessen Zustand zur Verfügung zu stellen. Wie
regionaler Energienetze steht eine Flut von gerichtlichen ich aus vielen Kommunen höre, geschieht dies in den al-
Auseinandersetzungen bevor – allerdings nur, wenn lermeisten Fällen auch nicht oder die Informationen
Kommunen durch die Dreistigkeit der Konzerne nicht kommen unvollständig und mitunter viel zu spät und
abgeschreckt werden und die Gerichtskosten vorstrecken müssen oft erst über das Gericht eingeklagt werden. Den
können. Es ist ganz klar, dass hier massiver Handlungs- Kommunen fehlt damit jegliche Grundlage, über die Zu-
bedarf besteht, der die Kommunen bei ihrem Streben kunft ihrer Netze entscheiden zu können.
(B) nach erneuerbaren Energien und Selbstbestimmung un- Aber es gibt noch mehr Probleme. Bei der Feststel- (D)
terstützt. Deshalb begrüßt die Linke den Gesetzentwurf lung eines Kaufpreises sieht das Energiewirtschaftsge-
von Bündnis 90/Die Grünen; wir halten ihn aber noch setz eine „angemessene wirtschaftliche Vergütung“ vor,
nicht für weitgehend genug. den die Kommunen oder ein neuer Netzbetreiber an den
bisherigen zu zahlen haben. Was ist denn bitte eine „an-
Kommunen, genossenschaftliche Bürgerinitiativen gemessene wirtschaftliche Vergütung“? Die Forderun-
und auch andere regionale Energieanbieter oder Vereini- gen liegen oft 100 Prozent auseinander, und ich kenne
gungen müssen jederzeit in der Lage sein, sich gegen keinen Fall, wo die Sache nicht am Ende vor Gericht ge-
Atomkraft, gegen Kohlekraft, gegen überzogene Lei- landet wäre. Deshalb geschieht es leider nur all zu häu-
tungsgebühren, gegen dubiose Strombörsenspekulatio- fig, dass eine Kommune sich nur deshalb wieder für den
nen und für erneuerbare Energien, für Kraft-Wärme- gleichen Netzbetreiber entscheidet, weil sie die gerichtli-
Kopplung, für Energieeffizienz, für Klimaschutz und für che Auseinandersetzung scheut. Das können wir nicht
demokratische Mitbestimmung zu entscheiden. In den wollen; wir wollen kommunale Entscheidungsfreiheit
Kommunen selbst müssen die Bürgerinnen und Bürger und Wettbewerb um die Netze.
durch viel niedrigere Hürden bei Bürgerbegehren und
Volksentscheiden selbst entscheiden können, ob sie wei- Ich habe die Bundesregierung schriftlich gefragt, ob
terhin Strom und Gas vom fossil-nuklearen Großanbieter sie gedenkt, an der unbefriedigenden Formulierung des
beziehen wollen oder ob sie die Sache selbst in die Hand § 46 Abs. 2 EnWG etwas zu ändern. Die Antwort der
nehmen. Dafür müssen sie Konzessionsverträge jeder- Bundesregierung war so knapp wie unmissverständlich:
zeit kündigen können und die Energienetze zu Konditio- Sie antwortete mit einem Wort: „Nein“. So grandios
nen übereignet bekommen, die der Realität entsprechen. setzt sich die Bundesregierung für die Rechtssicherheit
Wenn die Koalition es mit der Wettbewerbsfähigkeit der Kommunen ein. Aber das passt genau ins Bild, denn
ernst nimmt, dann erhört sie die Hilferufe aus den Ge- es sind in der Regel RWE & Co., welche die Verteilnetze
meinden und Städten und beendet endlich ihre unsägli- jetzt betreiben und diese natürlich nicht hergeben wol-
len.
che Lobbypolitik für die Energiekonzerne. Denn was
entgegen des Atom- und Kohlewahnsinns der Koalition Mit unserem Gesetzentwurf ließen sich diese Pro-
tatsächlich verbraucherfreundlich und preisdämpfend bleme lösen. Wir schlagen vor, den § 46 EnWG dahin
wirkt, ist die Rekommunalisierung – wie in Ahrensburg, gehend zu konkretisieren, dass der Kaufpreis für die
wo der rekommunalisierte Gasanbieter nach dem ersten Netze nach dem Ertragswertverfahren definiert wird.
Abrechnungsjahr 1,4 Millionen Euro an die Kunden zu- Das ist sachgerecht und entspricht am ehesten dem Wert
rückzahlen konnte. der Netze. Außerdem wollen wir klarstellen, dass der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6993

(A) bisherige Nutzungsberechtige und Konzessionsnehmer der gesamten in den Verkehr gebrachten Kraftstoffe (§ 37a (C)
das Netz dem neuen Konzessionsnehmer nicht nur wie Abs. 3 BImSchG). Mit E5 allein war diese Quote nicht
im gültigen EnWG formuliert überlässt, sondern über- erreichbar. Durch die Einführung von E10 ist es nun-
eignet und damit alle Rechte am Netz dauerhaft aufgibt. mehr möglich, die durch das Biokraftstoffquotengesetz
Damit die Kommune überhaupt mit ausreichendem zeit- vorgeschriebenen Biokraftstoffanteile zu erfüllen.
lichen Vorlauf in die Lage versetzt wird, den Wert des
Netzes und daraus resultierende wirtschaftliche Perspek- Bioethanol wird aus dem nachwachsenden Kohlen-
tiven des Netzbetriebes für sich selbst und für Dritte ein- stoffträger Biomasse oder den biologisch abbaubaren
zuschätzen, soll der bisherige Konzessionsnehmer ver- Anteilen von Abfällen hergestellt. Durch die zuneh-
pflichtet werden, drei Jahre vor Vertragsende alle mende Beimischung von Bioethanol werden dement-
diesbezüglichen Informationen zur Verfügung zu stellen. sprechend weniger fossile Kraftstoffe verbrannt. Bei ent-
Nur mit einem solchen Vorlauf können seriöse Verhand- sprechender umweltfreundlicher Herstellung, die durch
lungen auf einer soliden Grundlage an Daten und Infor- entsprechende Zertifizierung des Bioethanols nachge-
mationen geführt werden. wiesen wird, verbessern wir dadurch die Klimabilanz
nachhaltig.
Im Sinne der betroffenen Kommunen und für mehr
Wettbewerb im Energiemarkt angesichts Tausender aus- Die Bundesregierung hat am 28. September 2010 ein
laufender Konzessionsverträge brauchen wir eine umfassendes Energiekonzept zur Sicherstellung einer
Neufassung des § 46 EnWG. In diesem Sinne hoffe ich, zuverlässigen, wirtschaftlichen und umweltverträglichen
dass wir in den Ausschüssen im Unterschied zum kate- Energieversorgung beschlossen. Damit liegt zum ersten
gorischen „Nein“ der Bundesregierung konstruktiv über Mal seit 20 Jahren ein ideologiefreies, technologieoffe-
das Thema sprechen und vielleicht sogar einen Konsens nes und marktorientiertes Energieprogramm vor, das alle
erreichen. energiewirtschaftlich relevanten Bereiche anspricht,
auch den Verkehrsbereich.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt die im Energie-
Anlage 6 konzept aufgeführten Ziele für die Verminderung von
Treibhausgasen, für den Anteil erneuerbarer Energien
Zu Protokoll gegebenen Reden und für Energieeffizienz. Die vorgegebenen Reduktions-
zu Beratung des Entwurfs eines Neunten Geset- ziele für den CO2-Ausstoß sind ehrgeizig: 40 Prozent
zes zur Änderung des Bundes-Immissions- weniger CO2-Ausstoß ab 1990 bis 2020 und 80 bis
schutzgesetzes (Tagesordnungspunkt 18) 95 Prozent weniger CO2-Ausstoß bis 2050. Ferner ist für
den Verkehrssektor im Energiekonzept ausdrücklich die
(B) Steigerung des Anteils von Biokomponenten in Kraft- (D)
Dr. Michael Paul (CDU/CSU): 50 Millionen Kraft- stoffen festgeschrieben. Die Zielvorgaben für die Dekar-
fahrzeuge fahren auf den deutschen Straßen. Insgesamt bonisierung werden schrittweise anspruchsvoller. Zu-
beträgt der Energieverbrauch im Verkehrssektor dem ist die Treibhausgasbilanz des Kraftstoffs ein
28 Prozent. Dieser Energiebedarf wird fast ausschließ- zentraler Bestandteil für die künftige Begünstigung be-
lich durch Mineralölprodukte gedeckt: durch Ottokraft- sonders förderungswürdiger Biokraftstoffe.
stoffe und Dieselkraftstoffe. Es ist an der Zeit, auch in
diesem Bereich den Weg hin zu den erneuerbaren Ener- Mit der gesetzlichen Regelung soll zum einen dem
gien zu beschreiten, sowohl um knappe Ressourcen zu Klimaschutz durch eine Verringerung der Verbrennung
schonen als auch, um das Klima zu schützen. mineralischer Kraftstoffe Rechnung getragen werden.
Zum anderen soll durch den Ausbau der Biokraftsstoff-
Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung, den wir industrie eine Basis für die Versorgungssicherheit mit
heute beraten, wird nun die Möglichkeit flankiert, ab Kraftstoffen geschaffen werden. Versorgungssicherheit
2011 Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumenprozent ist neben Klimaverträglichkeit und Wirtschaftlichkeit
Bio-Ethanol in Verkehr zu bringen. Anstatt wie bisher ebenfalls ein Ziel im Zieldreieck unserer Energieversor-
nur Kraftstoff mit der zulässigen Beimischungsgrenze gung. Wir können so unsere Abhängigkeit von impor-
für Bio-Ethanol von 5 Volumenprozent, werden die Au- tiertem Öl senken.
tofahrer künftig Kraftstoff mit 10 Prozent Ethanolanteil
an ihrer Tankstelle tanken können. Zur Einführung von E10-Kraftstoff soll das Neunte
Gesetz zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzge-
Durch die Einführung von E10 wird der Biokraftstoff- setzes die Verordnungsermächtigungen des BImSchG
anteil pro Liter Kraftstoff erhöht. Dies wird es überhaupt erweitern. Die Bundesregierung wird zum einen ermäch-
erst ermöglichen, dass die anspruchsvollen, durch das tigt, sogenannte Bestandsschutzsorten bei Kraftstoffen
Biokraftstoffquotengesetz vorgeschriebenen Biokraft- zu regeln. Darüber hinaus wird die Bundesregierung er-
stoffanteile erfüllt werden können. Das Biokraftstoff- mächtigt, die Datenerhebung bei Mineralölunternehmen
quotengesetz schreibt seit dem 1. Januar 2007 eine Min- zur Erstellung einer Ökobilanz der Treibstoffe zu regeln.
destbeimischung von Biokraftstoffen zu Motorenbenzin
und Dieselkraftstoff vor. Es verpflichtet die Mineralöl- Bei der Einführung von E10-Kraftstoffen muss dafür
wirtschaft, einen jährlich festen und mit den Jahren an- Sorge getragen werden, dass ältere Fahrzeuge, die mög-
wachsenden Mindestanteil von Biokraftstoffen in den licherweise E10-Kraftstoff nicht vertragen, keinen Scha-
Verkehr zu bringen. Dieser Anteil stieg jährlich an und den nehmen. Aus diesem Grund ist sicherzustellen, dass
beträgt in diesem Jahr 6,25 Prozent des Energiegehalts an jeder Tankstelle weiterhin eine Bestandschutzsorte
6994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) angeboten wird; also eine Sorte Kraftstoff, die problem- lage für das Ziel der Verringerung der Treibhausgas- (C)
los von allen Fahrzeugen „vertragen“ wird. Die Rege- emissionen.
lung dieser Bestandsschutzsorten-E5, die wie bisher nur
Sicher ist der uns vorliegende Gesetzentwurf nur ein
bis zu 5 Prozent Bioethanol enthalten, ist notwendig, um
winziger Baustein in einer notwendigen Reihe von
die kontinuierliche Versorgung aller auf dem Markt be-
Maßnahmen, um dem Ziel der CO2-Reduktion näher zu
findlichen Fahrzeuge mit geeignetem Kraftstoff sicher-
kommen. Unter diesem Aspekt stellt sich deshalb auch
zustellen. Nach Angaben der Hersteller sind etwa drei
die Frage, warum sich die Bundesregierung bis heute
Millionen Fahrzeuge E10-unverträglich, das heißt, sie
Zeit gelassen hat, einen Vorschlag einer Umsetzung der
können nur mit E5 betrieben werden. In der Hauptsache
EU-Richtlinie in nationales Recht vorzulegen. Schließ-
handelt es sich um ältere Fahrzeuge. Für den einzelnen lich muss die Verordnung laut Vorgabe der EU bis zum
Autofahrer muss leicht und schnell erkennbar sein, ob 31. Dezember 2010 in allen Mitgliedstaaten umgesetzt
sein Auto E10 verträgt oder nicht verträgt. Dazu müssen sein. Es ist jedoch zu begrüßen, dass nun endlich eine
die Hersteller, die Importeure und diesmal auch der Umsetzung der Richtlinie erfolgt und der Einführung
ADAC einen Weg finden. Es kann nicht sein, dass hie- von E10 nichts mehr im Wege steht. Außerdem wird der
rüber erst im letzten Moment oder gar nicht Auskunft Bestandsschutz für ältere Fahrzeuge gewährleistet, in-
gegeben wird. Die Einführung von E10 war 2008 nicht dem auch weiterhin Kraftstoff mit einer geringeren Bei-
zuletzt daran gescheitert; dies darf sich nicht wiederho- mischung von Bioethanol im Umlauf bleibt.
len.
Die Grundlagen, die wir heute legen, können zu Ver-
Der Gesetzentwurf dient im Wesentlichen der Umset- besserungen des Klimaschutzes beitragen. Wir sollten
zung der EU-Kraftstoff-Richtlinie im Hinblick auf die sie jedoch lediglich als kleinen Baustein auf dem Weg
Spezifikationen für Otto-, Diesel- und Gasölkraftstoffe der Reduktion von CO2 sehen. Denn ernst zu nehmen ist
und die Einführung eines Systems zur Überwachung und die Kritik verschiedener Umweltverbände, dass Bioetha-
Verringerung der Treibhausgasemissionen. Darüber hi- nol nicht in letzter Konsequenz „Bio“ und klimaneutral
naus erfolgt bei dieser Gelegenheit eine redaktionelle ist. Der in Deutschland hergestellte Biokraftstoff ent-
Anpassung von § 13 BImSchG an das neu nummerierte spricht ökologischen Standards – was bedauerlicher-
Wasserhaushaltsgesetz. weise in vielen anderen Ländern der Welt aber nicht der
Fall ist. Wir brauchen deshalb als Konsequenz auf die
Die EU-Kraftstoffrichtlinie verpflichtet die Mitglied- Umsetzung der Verordnung rechtlich verbindliche Krite-
staaten, bis Ende des Jahres 2010, das Inverkehrbringen rien für Kraftstoffe, die gewissen Nachhaltigkeitskrite-
von Ottokraftstoff mit bis zu 10 Prozent Bioethanol zu rien entsprechen. Ein Weg ist es, in Bioethanol nicht die
ermöglichen. Darüber hinaus sieht die Richtlinie vor, Lösung der deutschen Treibhausgasemissionen zu sehen (D)
(B) dass für Fahrzeuge, deren Motoren einen Anteil von
und alternativen Kraftstoffen ebenfalls eine Chance ein-
10 Prozent Bioethanol im Kraftstoff nicht vertragen, si- zuräumen. Bei Einsatz eines Hektars an Ackerfläche zur
cherzustellen ist, dass mindestens bis zum Jahr 2013 Produktion von flüssigen bzw. gasförmigen, biogenen
Kraftstoffe mit einem maximalen Sauerstoffgehalt von Kraftstoffen, kann beispielsweise ein mit Biomethan be-
2,7 Prozent und einem maximalen Ethanolgehalt von triebener Pkw eine bis zu rund dreimal so lange Strecke
5 Prozent in Verkehr gebracht werden. Zur Umsetzung zurücklegen wie ein mit Bioethanol betriebener.
der konkreten Anforderungen der Richtlinie soll in
Deutschland die Kraftstoffqualitätsverordnung geändert Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die mit die-
werden. Die Regelung von Bestandsschutzsorten in ei- ser Gesetzesänderung geschaffene Berichtspflicht für
ner novellierten 10. BImSchV setzt eine Ergänzung der Kraftstoffvertreiber nicht ein weiteres bürokratisches
bereits in § 34 BImSchG vorhandenen Verordnungser- Monstrum wird, sondern dass die gewonnenen Erkennt-
mächtigungen voraus, die mit diesem Gesetzentwurf ge- nisse zeitnah in aktuelle Politik einfließen. Die für sie
schaffen werden soll. neuen, sehr umfangreichen Berichtspflichten dürfen bei
Kraftstoffvertreibern nicht den Eindruck hinterlassen, sie
Die Umsetzung der EU-Richtlinie bis zum Jahresende werden nur um des Datensammelns willen erfasst. Es
ist für die Mitgliedsländer Pflicht. Ich bitte Sie daher um müssen Taten folgen und entsprechende Maßnahmen
die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf der Bundesre- umgesetzt werden – und auch weiterhin alternative Me-
gierung. thoden, die zur Verminderung von Treibhausgasemissio-
nen beitragen können, verfolgt werden.
Ute Vogt (SPD): Der vorliegende Gesetzentwurf hat Es ist ein erster Schritt, über die neu geschaffene Be-
– unter anderem – die „Einführung eines Systems zur richtspflicht Fakten über Kriterien von Biokraftstoffen
Überwachung und Verringerung von Treibhausgasemis- zu erhalten. Aber Datensammeln allein hilft noch nichts.
sionen“ zum Ziel, wie es die EU-Richtlinie 2009/30/EG Es muss in einem zweiten Schritt die gleiche Anforde-
vom 23. April 2009 vorsieht. Ein zentraler Punkt dabei rung an fossile Kraftstoffe gelten. Denn nur so ist eine
ist die Einführung einer verpflichtenden Berichterstat- echte Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeit der verschie-
tung der Kraftstoffvertreiber über Menge, Art, Erwerbs- denen Kraftstoffarten gegeben.
ort und Ursprung des Treibstoffes sowie die Mitteilung
über die Lebenszyklustreibhausgasemissionen pro Ener- Michael Kauch (FDP): Der vorliegende Gesetzent-
gieeinheiten an den Bund. Die Informationspflicht, die wurf schafft die Ermächtigungsgrundlage zur Änderung
damit neu geschaffen wird, ist eine notwendige Grund- der 10. Bundes-Immissionsschutzverordnung dahin ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6995

(A) hend, dass insbesondere die Beimischungsgrenze für Etha- verdrängen dann selbstständige Bauern. So werden so- (C)
nol im Ottokraftstoff von bisher 5 Prozent auf 10 Prozent ziale Gefüge zerstört, so haben 925 Millionen Men-
erhöht werden kann. Dies ist ein richtiger Schritt. Denn schen nicht genug zu essen, und alle sechs Sekunden
der Straßenverkehr trägt einen erheblichen Anteil zu den verhungert ein Kind, weil ausreichend Land für den
Treibhausgasemissionen in Deutschland und Europa bei. Nahrungsmittelanbau fehlt. Der Druck, neues Ackerland
Durch das Gesetz wird die Möglichkeit eröffnet, einen auf bisher ungenutzte Flächen zu gewinnen, steigt – Ur-
höheren Anteil regenerativer Energien im Straßenverkehr wälder werden gerodet, und Grünland wird zu Acker-
einzusetzen. In der letzten Wahlperiode ist die Beimi- land für Monokulturen. Die Artenvielfalt sinkt, und beim
schung von 10 Prozent Ethanol im Benzin mit der Be- Pflanzenanbau für Alkohol im Tank gibt es kaum Be-
gründung abgelehnt worden, dass es zu Problemen mit schränkungen für den Einsatz von Chemikalien und gen-
der Motorentechnik kommen kann. Im Koalitionsvertrag manipuliertem Saatgut. Damit zerstört dieses Gesetz die
haben Union und FDP daraufhin beschlossen, die Einfüh- Lebensgrundlagen von Mensch und Tier. Auch Zertifi-
rung von E10 als Option zu ermöglichen. Diese Möglich- zierungen helfen da nichts. Was nutzt es, wenn Alkohol
keit wird eröffnet durch eine klare Kennzeichnung, so für Europa aus zertifiziertem Anbau stammt und die ur-
dass jeder Fahrer entscheiden kann, welchen Kraftstoff er sprünglich dort angebauten Pflanzen für andere Ab-
tankt. Dies ist ein Schritt zu mehr Klimaschutz im Ver- nehmer dann auf frischen Rodungsflächen wachsen
kehr und schafft zugleich Sicherheit für die Autofahrer. müssen? Wir in der Bundesrepublik müssen die Beimi-
schung von Import-Alkohol in Benzin verhindern, so-
Für mehr Umweltschutz im Verkehr beschreitet die Ko- lange noch ein Mensch auf der Erde hungert.
alition drei Wege: mehr und bessere Biokraftstoffe,
Elektromobilität und Weiterentwicklung der Brennstoff- Ein Problem kommt auch auf die Nutzer älterer Pkw,
zellentechnik. Als FDP wollen wir zudem nicht nur die die sich neue Autos nicht leisten können, zu. Ältere Mo-
Beimischung von Biokraftstoff erleichtern, sondern auch toren werden durch den hohen Alkoholanteil zerstört.
den Markt für reine Biokraftstoffe wiederbeleben. Damit Ab 2014 ist dies nach dem Auslaufen der Übergangsfrist
meinen wir es ernst: Die von SPD-Finanzminister Peer unvermeidlich. Die Autohändler haben bereits Dollar-
Steinbrück ursprünglich zum 1. Januar 2010 vorgese- zeichen in den Augen. Auch der Benzinpreis steigt durch
hene Steuererhöhung für reine Biokraftstoffe haben wir die Alkoholkosten und die Beimischungskosten an.
deshalb gestoppt. Mit dem Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz haben wir einen Beitrag zur Marktfähigkeit von Im Öko-Mäntelchen steigern Sie die Mehrwertsteuer-
reinen Biokraftstoffen geleistet. Mit der Novellierung einnahmen für den Finanzminister. Durch dieses Gesetz
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes schaffen wir nun wird Natur zerstört werden; viele Menschen werden ihre
die Grundlage für eine erweiterte optionale Beimischung Existenz verlieren. Wer sich hohe Benzinpreise und neue
(B) von Ethanol. Autos nicht leisten kann, verliert Mobilität. – Das alles (D)
ist nicht hinnehmbar. Von diesem Gesetz profitieren
Agrarkonzerne, Genmanipulatoren aus der Chemiein-
Ralph Lenkert (DIE LINKE): Heute sprechen wir dustrie und Pkw-Hersteller. Wer dieses Gesetz so verab-
über legalen Alkohol im Auto. Es geht nicht um die Pro- schiedet, zeigt Herz für Konzerne und den Menschen die
mille beim Fahrer, sondern um den erzwungenen Alko- kalte Schulter. Daher sagt die Linke Nein zu diesem Ge-
holkonsum für Motoren; denn Ethanol, aus nachwach- setz, zu diesem Öko-Kolonialismus.
senden Pflanzen gewonnen, wird als CO2-neutraler
Treibstoff eingestuft. Deshalb sollen ab 2011 zwangs-
weise 10 Prozent Alkohol in die Kraftstoffe gemischt Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
werden; das wäre ein Alkoholanteil im Benzin wie bei grüne Fraktion begrüßt, dass nun die Möglichkeit ge-
Wein. Damit hofft die Bundesrepublik die Klimaziele zu schaffen wird, Ottokraftstoff mit bis zu zehn Volumen-
erreichen. prozent Ethanol – also E10 – in Verkehr zu bringen.
Ebenfalls begrüßen wir, dass dabei Nachhaltigkeits- und
Aber gerade beim Klimaschutz muss man komplex in Qualitätskriterien berücksichtigt werden. Der Bundesrat
globalen Maßstäben denken. Ein Problem der Zwangs- hat darauf hingewiesen, dass es Möglichkeiten gäbe, bei
beimischung von Alkohol in diesen Mengen ist, dass Sicherstellung der Nachhaltigkeit die Kontrolle dieser
dieser aus Biomasse gewonnen wird. Zuckerrohr wird Kriterien mit weniger bürokratischem Aufwand zu be-
angebaut, zu Alkohol destilliert, und dann wird alles ver- werkstelligen. Hier sollte die Bundesregierung noch
brannt. In Europa stehen wegen Biogasnutzung, Lebens- nacharbeiten.
mittelproduktion und Agrarrohstoffversorgung bereits
heute keine ausreichenden Flächen zur Verfügung. Also Wie wir alle wissen, handelt es sich hier nur um eine
wird der Alkohol aus der Dritten Welt importiert. Da die Pflichtaufgabe seitens der EU. Da, wo die Regierungs-
Kraftstoffanbieter diesen Alkohol verpflichtend brau- parteien selbst handeln müssten, versagen sie; da wo sie
chen, kaufen sie die notwendigen Agrarpflanzen auf. handeln, machen sie alles schlimmer. Nichts ist geblie-
ben von dem Versprechen des Koalitionsvertrages, die
Dieses Gesetz führt in den Entwicklungsländern zur reinen Biokraftstoffe wieder wettbewerbsfähig zu ma-
Umstellung der Nahrungsproduktion auf Energiepflan- chen. Die Besteuerung ist aktuell immer noch zu hoch
zenanbau. Außerdem sind die großen Kraftstoffanbieter für eine Wirtschaftlichkeit; dies belegt selbst der Bio-
organisatorisch nicht in der Lage, mit Tausenden Klein- kraftstoffbericht der Bundesregierung. Aber es kommt
bauern einzelne Lieferverträge abzuschließen. Also ar- noch schlimmer: Immer noch ist geplant, die reinen Bio-
beiten sie mit Agrargroßunternehmen zusammen; diese kraftstoffe zukünftig so hoch wie Diesel und Benzin zu
6996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) besteuern. Wer soll hier noch auf die Politik vertrauen Konferenz zu Klimaschutz und biologischer Vielfalt hier (C)
und investieren? im Bundestag gesagt, und sie hat es mit einem ein-
drucksvollen Beispiel belegt: Durch den klimawandelbe-
Sie haben zwar die Wiederbelebung des realen Bio-
dingten Anstieg der Meeresspiegel stehen die Korallen-
kraftstoffmarktes in den Koalitionsvertrag geschrieben.
riffe buchstäblich vor dem Untergang. Dieses Beispiel
Bisher ist keine Umsetzung erfolgt. Im Energiekonzept
der Bundesregierung findet sich eben keine Aussage zu zeigt, wie die Dinge zusammenhängen. Frau Merkel hat
einer Steuererleichterung für die reinen Biokraftstoffe. zugleich deutlich gesagt: „Mit jedem Jahr, das wir ver-
Sind Sie endlich ehrlich: Eine Wiederbelebung des lieren, ist die Anstrengung nachher um so größer.
Marktes für reine Biokraftstoffe wird es unter Schwarz- Nichtstun wird sich bitterlich rächen.“ Wir alle wissen,
Gelb nicht geben. die Ursachen und Folgen des Artenschwundes sind auf
vielfache Weise mit den Ursachen und Folgen des Kli-
Aber die Union und die FDP schauen nicht nur zu, mawandels verbunden. Ein im Aufbau befindlicher At-
wie der Reinkraftstoffmarkt für Biokraftstoffe vor die las der UNEP zeigt, wie Gebiete mit besonders hohem
Hunde geht, sondern sie arbeiten auch im Quotenmarkt Artenreichtum und Gebiete mit überdurchschnittlicher
für die Konzerne. Wem außer den Mineralölkonzernen CO2-Speicherung zusammenhängen. Es gilt deshalb,
ist geholfen, wenn zukünftig die Hydrierung in der dem Verlust an biologischer Vielfalt mit gleicher Priori-
Quote erlaubt wird? 3 Prozent Hydrierungsanteil beim tät entgegenzutreten wie den Ursachen für den Klima-
Diesel bedeuten, dass der Mittelstand aus diesem Markt- wandel.
segment gedrängt wird. Statt Rapsöl aus deutschen Lan-
den gibt es zukünftig Palmöl aus Indonesien. „Pack den Ich halte es, in Zeiten massiver Auseinandersetzun-
Regenwald in den Tank“ ist wohl das Leitmotiv der Bio- gen und Konflikte in der Atom- und Energiepolitik, für
kraftstoffstrategie von Röttgen und Aigner. Die Regie- äußerst bemerkenswert, dass es in kürzester Zeit gelun-
rung ist wieder den Konzern-Lobbyisten auf den Leim gen ist, einen so umfassenden und fundierten gemeinsa-
gegangen. men Antrag zur Bewahrung der biologischen Vielfalt
Das sogenannte Energiekonzept ist das passende und zum Schutz unserer Lebensgrundlagen auf den Weg
Stichwort, Konzeptionslosigkeit ist das oberste Leitmo- zu bringen. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen
tiv. In dem ganzen Papier gibt es dutzende Prüfaufträge, bedanken, die konstruktiv zu diesem Erfolg beigetragen
aber keine einzige Aussage dazu, wie reine Biokraft- haben. Der gemeinsame Antrag ist nicht nur ein gutes
stoffe wieder einen Markt bekommen sollen. Ebenfalls Zeichen für das deutsche Parlament, er ist auch ein ein-
eine Fehlanzeige gibt es beim nationalen Aktionsplan deutiges Signal an unsere Partner im Kampf gegen den
der Bundesregierung für erneuerbare Energien, der im Klimawandel und den Artenschwund. Ich bin der festen
(B) Sommer nach Brüssel geschickt wurde. Darin wird zwar Überzeugung, dass der Erhalt der Artenvielfalt nicht nur (D)
von steigenden Anteilen von Biokraftstoffen berichtet, eine ethische Verpflichtung zur Bewahrung der Schöp-
es gibt aber keine Maßnahme, die das unterlegen würde. fung ist, sondern auch eine existenzielle Bedeutung für
das Wohlergehen heutiger und künftiger Generationen
Die einzig wirkungsvolle Maßnahme für den Ausbau hat.
der erneuerbaren Energien, die etwas Positives bewegen
wird, ist ein schnellstmöglicher Regierungswechsel. In wenigen Tagen wird die internationale Konferenz
Dies hat offenbar selbst die bayerische Staatsregierung zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt in
verstanden. Diese hat einen Antrag in den Bundestag Nagoya, Japan, stattfinden. Der gemeinsame Antrag
eingebracht, der sich in den meisten Punkten gar nicht so kommt somit genau zum richtigen Zeitpunkt. Lassen Sie
schlecht liest. Leider dient der Antrag nur, in Bayern Ak- mich drei Punkte herausgreifen, die zeigen, warum die-
tivität vorzugaukeln. Die Unions-Abgeordneten sollten ser Antrag so bedeutend ist. Erstens, wir brauchen ein
ihren Job tun und das umsetzen, was sie längst verspro- klares Biodiversitätsziel im strategischen Plan der Kon-
chen haben. An der FDP sollte es eigentlich nicht liegen. vention. Der strategische Plan ist der Teil der Konven-
Die hatte noch bis zur letzten Bundestagswahl die glei- tion, in dem verbindliche Ziele definiert werden. Zwei-
chen Versprechen abgegeben. Jetzt müssten Sie nur ihre tens, wir brauchen eine wirksame, gerechte und
eigenen Versprechen halten – und die Biokraftstoffe hät- völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft für den Zu-
ten in Deutschland wieder eine Zukunft. gang zu genetischen Ressourcen und den Vorteilsaus-
gleich. Ein Großteil der natürlichen Vielfalt befindet sich
in den Entwicklungsländern, die nicht über die notwen-
Anlage 7 digen Finanzmittel verfügen, um die Artenvielfalt mit all
Zu Protokoll gegebene Reden ihren Wohlfahrtsleistungen aus eigener Kraft zu schüt-
zen. Zugleich ist die biologische Vielfalt der Regenwäl-
zur Beratung des Antrags: Biologische Vielfalt der ein Schatz für die Forschung und Wirtschaft in vie-
für künftige Generationen bewahren und die len Industrieländern. Drittens, wir brauchen einen
natürlichen Lebensgrundlagen sichern (Zusatz- langfristigen und verlässlichen Finanzierungsmechanis-
tagesordnungspunkt 4) mus für die Errichtung und dauerhafte Sicherung eines
weltweiten Schutzgebietsnetzes. Dazu gehört elementar
Josef Göppel (CDU/CSU): „Wir müssen Klima- auch der Waldschutz. Deutschland hat 500 Millionen
schutz und Biodiversität gemeinsam denken“, hat Frau Euro bis 2012 und ab 2012 jährlich 500 Millionen für
Bundeskanzlerin Merkel gestern in ihrer Rede auf der den Erhalt und die nachhaltige Entwicklung bedrohter
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6997

(A) Ökosysteme, insbesondere Wälder, zugesagt. Diese Mit- seinen Beitrag zum Schutz des Klimas und der biologi- (C)
tel müssen nun auch eingesetzt werden. schen Vielfalt leisten kann. Auf die konkreten Maßnah-
men kommt es an. Wir müssen jetzt handeln. Ich glaube,
Man kann die Frage stellen, warum sollen wir hier in dass wir mit dem heutigen Antrag auf dem richtigen
Deutschland für den Erhalt der tropischen Urwälder be- Weg sind. Wir erwarten deshalb von der Bundesregie-
zahlen. Die Antwort ist: So wie die europäischen Land- rung, dass den Worten Taten folgen. Ich wünsche Frau
wirte erwarten, von der Allgemeinheit für Leistungen Merkel, Herrn Umweltminister Röttgen und der deut-
des Umweltschutzes entschädigt zu werden, genauso er- schen Delegation viel Erfolg bei den Verhandlungen in
warten die Menschen in den Entwicklungsländern finan- Nagoya.
ziellen Ausgleich für den Schutz der Artenvielfalt, deren
wirtschaftliche Vorteile hauptsächlich den Industrielän-
dern zugutekommen. Norwegen gibt für den Schutz der Dr. Matthias Miersch (SPD): Ich freue mich, dass es
tropischen Wälder seit 2007 jährlich 500 Millionen US- uns gelungen ist, gerade noch rechtzeitig einen interfrak-
Dollar und in diesem Jahr nochmals eine Milliarde US- tionellen Antrag zur 10. Vertragsstaatenkonferenz über
Dollar zusätzlich aus. die biologische Vielfalt in den Deutschen Bundestag ein-
zubringen. Dieser Antrag war zugegebenermaßen eine
Der Biodiversitätsverlust trifft die wirtschaftlich schwierige Geburt. Nichtsdestotrotz möchte ich betonen,
schwächsten Regionen der Erde am stärksten. Die biolo- dass ich froh über die Einigung innerhalb dieses Hauses
gische Vielfalt leistet besonders in Entwicklungs- und bin, denn eine weitere Zeitverschwendung lässt die aktu-
Schwellenländern einen unverzichtbaren Beitrag zur elle Situation nicht mehr zu.
nachhaltigen Entwicklung, Armutsbekämpfung, Ernäh-
rungssicherung, Trinkwasserschutz, Klimaschutz und Es ist klar, dass die europäischen, aber auch die inter-
Anpassung an den Klimawandel. Wer Leistungen für die national zugesagten Biodiversitätsziele nicht erreicht
Gesellschaft erbringt, muss dafür besser gestellt sein als werden. Der Verlust biologischer Vielfalt schreitet dra-
derjenige, der nur die gesetzlichen Mindestanforderun- matisch voran, und je schneller wir dem Artensterben
gen erfüllt oder zur Zerstörung der Artenvielfalt beiträgt. und dem Verlust von Lebensräumen entgegenwirken,
desto besser wäre es. Bundeskanzlerin Merkel hat auf
Auch in unserem Land gibt es Artenverluste. Nur ein dem gestrigen Kongress der Unionsfraktionen zur Bio-
Beispiel: Nach dem Auslaufen der EU-Flächenstille- diversität ebenfalls auf den bedenklichen Verlust von Le-
gungsprogramme steht heutzutage eine der bekanntesten bensräumen 20 Jahre nach der Rio-Konferenz hingewie-
Vogelarten der offenen Kulturlandschaft, die Feldlerche, sen. Sie hat darauf hingewiesen, dass es bei der nach wie
auf der Roten Liste. In Deutschland hat der Bestand zwi- vor zu hohen Flächeninanspruchnahme noch viele Pro-
schen 1980 und 2005 um etwa 30 Prozent abgenommen. bleme zu lösen gibt, dass wir ein Netzwerk von Meeres- (D)
(B) Bei der Neuregelung der gemeinsamen Agrarpolitik
schutzgebieten benötigen, dass wir ein Protokoll zum
muss deshalb der Schutz der biologischen Vielfalt be- gerechten Vorteilsausgleich verabschieden müssen und
rücksichtigt und honoriert werden. Mit dem kooperati- vieles mehr. Viele Worte – und die Bundeskanzlerin hat
ven Naturschutz, wie er mit den Landschaftspflegever- die Lage ja auch richtig erkannt –, aber wo bleiben die
bänden heute schon praktiziert wird, haben wir ein Taten, Frau Merkel?
brauchbares Instrument, um die biologische Vielfalt in
Deutschland zu stabilisieren. Betrachtet man die Realität im Handeln der Bundes-
regierung, fällt auf, dass die Entwürfe der Haushalts-
Ich möchte zum Schluss nochmals auf die Worte von
pläne 2011 für das Bundesumweltministerium und das
Frau Merkel zurückkommen, des gesagt hat: „Wir müs-
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
sen Klimaschutz und Biodiversität gemeinsam denken.“
die auf dem Kopenhagen-Gipfel zugesagten zusätzlichen
Ich füge hinzu, wir müssen Biodiversität und Wald-
Mittel in Höhe von jährlich 420 Millionen Euro nicht
schutz gemeinsam denken und wir müssen Biodiversität
enthalten. Mit diesem Geld sollten unter anderem An-
und Landwirtschaft gemeinsam denken. Das Thema bio-
passungsmaßnahmen an den Klimawandel sowie der
logische Vielfalt muss deshalb in allen Politik- und Wirt-
Waldschutz finanziert werden. Bereits im Haushaltsjahr
schaftsbereichen wie zum Beispiel der Haushalts-, Wirt-
2010 wurden neu und zusätzlich nur 35 Millionen Euro
schafts-, Agrar-, Fischerei-, Wald-, Klima-, Verkehrs-
jeweils im BMU- und BMZ-Haushalt für den internatio-
und Bau- sowie der Bildungs- und Forschungspolitik ko-
nalen Klimaschutz eingestellt. Für die restlichen
operativ verankert werden.
350 Millionen Euro wurden bestehende Klimaschutz-
Erlauben Sie mir an dieser Stelle eine Anmerkung zur projekte einfach umdeklariert. Diese Taschenspielerei
europäischen Wasserrahmenrichtlinie: Die Wasserrah- muss ein Ende haben. Die Bundeskanzlerin ist gut bera-
menrichtlinie ist ein Positivbeispiel, wie die nachhaltige ten, dafür zu sorgen, dass die von ihr zugesagten Mittel
Nutzung und der Erhalt der Fließgewässer kombiniert in voller Höhe und vor allem als „frisches Geld“ in den
werden können. Die Wasserrahmenrichtlinie sollte des- Haushalt eingestellt werden.
halb in größerem Umfang für Artenschutzziele genutzt
werden. International versprechen, national brechen – damit
setzt die Bundesregierung Deutschlands Glaubwürdig-
Der Blick auf die weltweite Verantwortung darf nicht keit bei internationalen Verhandlungen aufs Spiel.
den Blick für das konkrete Verhalten im eigenen Lebens- Deutschland läuft Gefahr, ein unzuverlässiger Vertrags-
bereich verdecken. Trotz der gigantischen globalen He- partner zu werden. Das sind denkbar schlechte Voraus-
rausforderungen dürfen wir nicht vergessen, dass jeder setzungen für die anstehenden Verhandlungen, nicht nur
6998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) in Nagoya, sondern auch bei den Klimaverhandlungen in erreichen. Wie der 3. Bericht zur globalen Lage der bio- (C)
Mexiko. logischen Vielfalt jedoch belegt, ist dies bislang nicht
gelungen. Tag für Tag verschwinden weitere fünf Arten
Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen: Bun- von unserer Erde. Teilweise sind sie uns bekannt, teil-
desminister Dirk Niebel hat in seinen Haushalt keine weise handelt es sich um noch unbekannt Arten. Einige
Mittel für das Gebiet ITT im Yasuni-Nationalpark in sind ein Verlust aufgrund ihrer Attraktivität, andere auf-
Ecuador eingestellt. Es soll mit finanziellen Zusagen der grund ihrer möglichen Heilkraft.
Industrieländer vor Beeinträchtigungen durch die Förde-
rung von Öl geschützt werden. Mit seiner ablehnenden Die Gründe für das Verfehlen des Biodiversitätsziels
Haltung gegenüber dem Projekt brüskiert Minister sind vielfältig. Ein großes Problem ist die mangelnde
Niebel nicht nur die ecuadorianische Regierung, die gu- Verankerung der Biodiversität in allen Sektorpolitiken.
ten Willens ist, das Projekt zu einem vernünftigen Ende
Zudem mangelt es – vor allem in vielen Entwick-
zu führen, sondern auch die Parlamentarier von Union,
lungs- und Schwellenländern – an finanziellen Mitteln
SPD und Grünen, die sich in einem gemeinsamen An-
für den Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt.
trag für die Unterstützung des ITT-Projektes eingesetzt
haben. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, Unter der CBD-Präsidentschaft Deutschlands wur-
dass die FDP-Politiker diesen Antrag nicht mittragen den in den vergangenen Monaten einige zielführende
wollten. Initiativen angestoßen. Vor allem mit der Initiierung der
internationalen Studie zum ökonomischen Wert der Bio-
Und noch ein Beispiel: Ich hätte mir in unserem An- diversität hat das Thema eine bislang nie da gewesene
trag mehr Mut in der Agrarpolitik gewünscht. Aber das öffentliche wie auch politische Aufmerksamkeit erreicht.
war mit den Agrarpolitikern aus den Koalitionsfraktio-
nen nicht zu machen. Ich hätte mir einen wichtigen Mit dem von Deutschland auf den Weg gebrachten
Schritt in der Fischereipolitik gewünscht, aber auch hier Grundsatzbeschluss zur Einrichtung eines internationa-
gab es keine Einigung. Natürlich muss sich die Bundes- len Wissenschaftsrates, IPBES, haben wir eine weitere
regierung trotzdem für eine nachhaltige Agrar- und Fi- wichtige Etappe erreicht. Vergleichbar dem IPCC, der
schereipolitik in Deutschland, aber auch auf europäi- den Klimawandel ins Bewusstsein der Menschen rückte,
scher Ebene einsetzen. Die Meere sind überfischt. soll IPBES Politik und Bürger für das Artensterben sen-
Darunter leidet die Biodiversität, aber auch die indige- sibilisieren. Denn nur wer Zusammenhänge erkennt, ist
nen Völker und lokale Gruppen, die vom küstennahen auch bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Fischfang leben und denen die Lebensgrundlage durch
die europäischen Trawler genommen wird. Doch auch in Unter der deutschen Präsidentschaft haben wir uns
weiter für die Einrichtung eines weltweiten Netzwerkes
(B) der Agrarpolitik geht dieser Bundesregierung die Bedie- von Schutzgebieten starkgemacht. Diese Schutzgebiete (D)
nung von Lobbyinteressen vor den Interessen des Natur-
und Umweltschutzes. sind eine zentrale Voraussetzungen zum Erhalt der glo-
balen biologischen Vielfalt und damit zur Umsetzung
Dennoch ist es wichtig, dass es diesen Antrag gibt; des Übereinkommens über die biologische Vielfalt,
der Erhalt der Biodiversität und damit der Schutz unserer CBD. Zur Unterstützung des Schutzgebietsnetzwerkes
Lebensgrundlagen ist ein so bedeutendes Thema, dass wurde die globale Schutzgebietsinitiative „LifeWeb“ ins
das Parlament dazu Stellung beziehen muss. Es bleibt Leben gerufen.
also viel zu tun. Ein wegweisender Schritt auf der Kon-
ferenz in Nagoya wäre dazu ein wichtiges Signal. Taten Auf internationaler Ebene haben wir uns massiv für
statt Worte, Frau Bundeskanzlerin! die Regelung des Zugangs und des gerechten Vorteils-
ausgleichs bei der Nutzung genetischer Ressourcen,
ABS-Regime, eingesetzt. Unser Ziel ist es, jetzt konkret
Angelika Brunkhorst (FDP): Die Artenvielfalt auf in Nagoya ein international verbindliches Abkommen zu
der Erde ist immens – die Zahl der Arten, die täglich verabschieden.
ausstirbt, jedoch auch. Flora und Fauna auf unserem Pla-
neten werden in bedrohlichem Maße kleiner. Täglich Vom 18. bis 29. Oktober 2010 wird die 10. Vertrags-
sterben rund 150 Tier- und Pflanzenarten aus: Pflanzen, staatenkonferenz des Übereinkommens über die Biologi-
Vögel, Fische und andere Lebewesen, die wir für immer sche Vielfalt in Nagoya tagen. Hier gilt es, greifende
verlieren werden. Maßnahmen für den Zeitraum bis 2020 festzuzurren. Im
Zentrum der Verhandlungen stehen die Verabschiedung
Für das drastische Artensterben ist fast immer der eines umsetzbaren Protokolls zum Zugang und gerech-
Mensch verantwortlich. Durch den Raubbau an der Na- ten Vorteilsausgleich bei der Nutzung genetischer Res-
tur, die Zerstörung der Regenwälder, die Versiegelung sourcen, das sogenannte Access und Benefit Sharing,
der Landschaft, die Monokulturen und durch intensive ABS, die Frage der Finanzierung des globalen Biodiver-
Landwirtschaft wird vielen Arten der Lebensraum und sitätsschutzes sowie die Festlegung eines neuen interna-
damit die Lebensgrundlage entzogen. Sie verschwinden tionalen Biodiversitätszieles einschließlich der Verab-
unwiederbringlich. schiedung einer aktionsorientierten internationalen
Biodiversitätsstrategie von 2011 bis 2020.
Bislang führten alle Versuche, dieser Entwicklung
entgegenzutreten, nicht zum gewünschten Erfolg. Mit Die negativen Folgen für die Vielfalt des Lebens kön-
dem globalen Biodiversitätsziel wollten wir bis 2010 nen nur abgewendet werden, wenn die Staatengemein-
eine spürbare Reduktion des weltweiten Artenrückgangs schaft rasch wirksame Maßnahmen zur Erhaltung und
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 6999

(A) nachhaltigen Nutzung der biologischen Vielfalt ergreift. logische Vielfalt auf Geldwerte festzulegen. Das sind für (C)
Deshalb begrüße ich, dass es uns im Hinblick auf die an- uns die neuen Gefahren: die Ökonomisierung der Natur,
stehende Konferenz in Nagoya gelungen ist, einen inter- die Betrachtung der biologischen Vielfalt als Dienstleis-
fraktionellen Antrag zur 10. CBD gemeinsam abzustim- tungscenter für den Menschen. Das passt zu dieser Ge-
men und auf den Weg zu bringen. sellschaft, das ist ein urkapitalistischer Ansatz: Was
nichts kostet, ist nichts wert. In Ihrem Antrag, klingt das
Es gilt, die Vielfalt des Lebens auf der Erde zu schüt- dann so: „Der Bundestag fordert die Bundesregierung
zen, zu sichern und deren nachhaltige Nutzung so zu or- auf, aufgrund der fundamentalen Bedeutung der Bio-
ganisieren, dass möglichst viele Menschen heute und diversität und ihrer Leistungen für das menschliche
auch in Zukunft davon leben können. Im Bundestag ist Wohlergehen den Schutz der biologischen Vielfalt als
es uns gelungen, mit diesem Antrag über die Parteigren- Querschnittthema ihrer Politik im Sinne der Empfehlung
zen hinweg ein Zeichen zu setzen. Ich hoffe, dass wir in der TEEB-Studie weiterzuentwickeln.“
Nagoya im Kampf gegen den Verlust von Artenvielfalt
umsetzbare Strategien finden, um kommenden Genera- Hier wird mit einer verblüffenden Ausschließlichkeit
tionen einen vielfältigen Planeten überlassen zu können. künftiges politisches Handeln der Bundesregierung pos-
tuliert. Dem können wir nicht zustimmen. Die Naturgü-
ter werden zu Geldwerten gemacht, so tickt Kapitalis-
Sabine Stüber (DIE LINKE): Dass wir heute im Ple-
mus. Aber so werden wir die Probleme weder global
num doch noch über die biologische Vielfalt beraten,
noch im eigenen Land lösen.
lässt mich zumindest erst einmal hoffen. Allerdings
spricht es Bände, dass der Antrag so kurzfristig – er liegt
seit gestern vor – auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Undine Kurth (Quedlinburg) (BÜNDNIS 90/DIE
Über all dem Hin und Her, wie man die Laufzeitverlän- GRÜNEN): Es ist ein gutes Zeichen, dass es gelungen
gerung für AKW am Bundesrat vorbeimogeln kann, ist, auf der Grundlage des von der Fraktion Bündnis 90/
hatte die Koalition die Vertragsstaatenkonferenz zur bio- Die Grünen im Mai in den Bundestag eingebrachten An-
logischen Vielfalt im Oktober in Japan wohl vergessen. trages „Biodiversität national und international konse-
quent schützen“, Bundestagsdrucksache 17/2005, einen
Drei Punkte möchte ich ansprechen. Erstens, es ist zu interfraktionellen Antrag zum Thema biologische Viel-
spät, um der Bundesregierung noch einen parlamentari- falt zu vereinbaren. Der Verlust an biologischer Vielfalt
schen Auftrag für Nagoya mitzugeben. Wir können nur schreitet nahezu ungebremst voran. Ihr Schutz braucht
hoffen, dass die Vorbereitung der Konferenz im Sinne das deutliche Engagement aller in diesem Haus vertrete-
des zu beratenden Antrages gelaufen ist. Wir haben in nen Parteien. Wir brauchen verstärkte Anstrengungen
diesem Jahr schon oft über die biologische Vielfalt ge- des Bundes, der Länder, der Kommunen, der Europäi-
(B) sprochen, ob hier im Plenum oder auch in den Ausschüs- schen Union und auf internationaler Ebene. (D)
sen. Was Frau Merkel allerdings nun wirklich im Gepäck
für Japan hat? Wir, die Abgeordneten, wissen es nicht. Auch wenn uns viele Zahlen präsent sind, war es doch
Der Bundesumweltminister, der sich angesichts des drit- erschreckend, in diesem Jahr den dritten Globalen Aus-
ten globalen Berichts zur biologischen Vielfalt fragt, ob blick der Biodiversitätskonvention CBD zu lesen. Von
wir genug und ob wir das Richtige getan haben, weiß es den im April 2002 von den Vertragsstaaten des UN-
diesmal hoffentlich. Übereinkommens über die biologische Vielfalt für das
Jahr 2010 formulierten 21 Teilzielen wurde kein einziges
Meine zweite Anmerkung betrifft die Ignoranz. Ich erreicht. Hinter jeder Zielbewertung steht der Halbsatz:
möchte niemandem zu nahetreten, aber ich kann Ihnen „Im globalen Maßstab nicht erreicht“.
ein Zitat des US-Amerikaners Luther Burbank an dieser
Stelle einfach nicht ersparen: „Wer nicht gerne denkt, Das Jahr 2010 als internationales Jahr der biologi-
sollte wenigstens von Zeit zu Zeit seine Vorurteile um- schen Vielfalt steht so leider für die vielen verpassten
gruppieren.“ Chancen der Vergangenheit, unsere eigenen Lebens-
grundlagen zu schützen, Lebensräume zu erhalten, den
Die Linke ist mit 76 Abgeordneten nicht mehr die Artenverlust zu stoppen und die genetische Vielfalt auf
kleinste Fraktion im Bundestag. Darüber sollten Sie ein- unserer Erde zu sichern. Ein aktuelles Beispiel: Die Öl-
mal nachdenken. Denn es geht nicht mehr um das Tafel- katastrophe im Golf von Mexico ist noch nicht einmal
silber, dass verspielt wird. Es geht längst um unser Haus, vollends verstanden, geschweige denn bewältigt, da sind
in dem wir wohnen; es geht um unsere Zukunft. Da ist die Überlegungen zu einem Moratorium gegen Tiefsee-
Ausgrenzung nur noch kontraproduktiv. Die Linke wäre bohrungen schon wieder vom Tisch. Die Öl-Konzerne
bei dem Antrag heute gerne eine der antragstellenden machen einfach weiter und die Welt guckt hilflos zu. Es
Fraktionen. Ein gemeinsamer Antrag aller Fraktionen ist unfassbar.
des Bundestages wäre der Problematik angemessen ge-
wesen. Nichtsdestotrotz begrüßen wir den Antrag, der Von der globalen bis zur lokalen Ebene muss der
auch durch die unterschiedlichen Handschriften weitge- Schutz der Leistungen von Ökosystemen stärker als ge-
hend unsere Zustimmung hat. Hätten wir mitwirken dür- samtgesellschaftliche und ressortübergreifende Aufgabe
fen, hätten wir gerne für einen Aspekt Ihren Blick ge- verstanden werden. Also ist es gut, dass wir das heute
weitet. noch einmal als Auftrag an die Bundesregierung formu-
liert haben. Ich freue mich auch, dass wir – obwohl die-
Damit sind wir beim dritten Punkt unserer inhaltli- ses Ziel ja gesetzlich verankert ist – ein Bekenntnis der
chen Kritik. In der TEEB-Studie wird versucht, die bio- Koalitionsfraktionen zum 10-Prozent-Ziel bei der Ein-
7000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) richtung eines nationalen Biotopverbundes auf der Lan- klärt wird. Da ist es nicht hilfreich, wenn die Bundes- (C)
desfläche haben. Noch schöner wäre es natürlich, wenn regierung zugesagte Mittel für Klimaschutz, Biodiversi-
die Bundesregierung bei einer meiner nächsten Nachfra- tätsschutz und Entwicklungshilfe sich immer wieder
gen auch in der Lage wäre, mir zu sagen, wie weit wir gegenseitig anrechnet und so das Kriterium der Zusätz-
bei der Umsetzung dieses Zieles sind. Noch ist sie dazu lichkeit umgeht. Mehr Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit
ja nicht in der Lage. an dieser Stelle sind zu wünschen.
Ich denke, dass es überhaupt Zeit ist, ernsthaft über Bei ABS geht es um die Unterbindung von Biopirate-
die Einrichtung eines nationalen Monitoringzentrums zu rie, ein für die Entwicklungsländer und indigene Grup-
diskutieren. Wir brauchen die Erfassung der biologi- pen enorm wichtiges Anliegen. Dem stehen die wirt-
schen Vielfalt an zentraler Stelle, wir brauchen auch schaftlichen Interessen der Industrieländer gegenüber,
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die diese Daten die die Ressourcen der Entwicklungsländer kommerziell
interpretieren, die ökologischen, ökonomischen und so- nutzen. Es muss einen fairen Ausgleich geben.
zialen Folgen der Veränderungen untersuchen und Ge-
genstrategien zu negativen Entwicklungen formulieren. Nicht vergessen dürfen wir auch das Biosafety-Proto-
Was wir auch dringend benötigen, ist eine Verbesserung koll. Beim Thema biologische Sicherheit haben wir uns
der erschreckenden Situation bei der Aus-, Weiter- und leider nicht einigen können, so dass der interfraktionelle
Fortbildung von Taxonominnen und Taxonomen. Wir Antrag dieses Anliegen ausspart. Gentechnik gehört
Grünen erwarten hier eine Initiative der Forschungs- zwar noch nicht zu den Hauptursachen des Verlustes an
ministerin und kein tatenloses Zusehen, wie immer mehr biologischer Vielfalt, aber hier gilt es, den Anfängen prä-
Wissen über Arten verloren geht. ventiv zu wehren. Gentechnisch veränderte Pflanzen
sind ein Risiko, das geeignet ist, größte Schäden in unse-
Biologische Vielfalt steht für Nahrung, Baustoffe, Fa- ren Ökosystemen anzurichten. Auf ihre Anwendung
sern, Energie, Arzneimittel, sauberes Wasser und sau- sollte verzichtet werden. Zumindest brauchen wir drin-
bere Luft. Sie liefert technische Vorbilder, stabilisiert das gend eine verbindliche Regelung der Haftungsfragen.
Klima, schützt vor Extremereignissen und dient sogar
Wir Grünen unterstützen es, dass die UNEP, das Um-
noch der Entsorgung vieler unserer Abfälle. Deshalb
weltprogramm der Vereinten Nationen, ein internationa-
geht es nicht um das eine oder andere possierliche Tier-
les Wissenschaftlergremium für Biodiversität einrichten
chen oder die eine oder andere exotisch-schöne Pflanze.
will. Damit würde für politische Entscheidungsträger ein
Es geht um unsere Lebensgrundlagen und die der Gene-
zuverlässiges und glaubwürdiges Gremium eingerichtet.
rationen nach uns. Die Studie über die Ökonomie von
Wir Grünen können uns auch sehr gut mit dem Gedan-
Ökosystemdienstleistungen und biologischer Vielfalt,
ken anfreunden, dass das IPBES, so der Name des neuen
(B) TEEB, liefert uns dafür anschauliches Zahlenmaterial Gremiums, auf dem afrikanischen Kontinent angesiedelt (D)
und Handlungsempfehlungen für die unterschiedlichen
wird. Aber ich betone: Entscheidend wird sein, wie wir
Zielgruppen. Dies ist auch ein Ergebnis der deutschen
alle uns verhalten. Wir haben heute keinen Mangel an
Präsidentschaft, unter der die Studie auf den Weg ge-
Wissen, sondern uns fehlt die Bereitschaft entschieden
bracht wurde.
zu handeln. Daher mahne ich mit Goethe: „Der Worte
Die während der 9. Vertragsstaatenkonferenz 2008 in sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten se-
Bonn verabschiedete Agenda für die deutsche Präsident- hen.“
schaft enthält allerdings auch noch mehrere bis heute of-
fene Punkte. Die Bundesregierung wird der künftigen ja-
panischen Präsidentschaft also Altlasten übergeben. Dies Anlage 8
betrifft insbesondere die noch ausstehende Einigung auf
einen strategischen Plan für die Zeit nach 2010, die Ver- Zu Protokoll gegebene Reden
abschiedung eines völkerrechtlich bindenden Abkom- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
mens über den Zugang und gerechten Vorteilsausgleich Berichts: Initiative für eine Richtlinie des Euro-
bei der Nutzung genetischer Ressourcen und schließlich päischen Parlaments und des Rates über die
die Mobilisierung zusätzlicher finanzieller Ressourcen, Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsa-
um die Konventionsziele erreichen zu können. So viel chen Ratsdok. 9145/10 (Zusatztagesordnungs-
Zeit, wie es einige meinen, haben wir leider nicht mehr punkt 5)
für die Erfüllung dieser Ziele. Die bevorstehende
10. Vertragsstaatenkonferenz im japanischen Nagoya
muss von der Bundesregierung und der Europäischen Ansgar Heveling (CDU/CSU): „Jemand musste
Union energisch genutzt werden, wirklich voranzukom- Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Bö-
men. Der heute vorgelegte fraktionsübergreifende An- ses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Mit
trag richtet sich daher nicht nur an die Bundesregierung diesen Worten beginnt Franz Kafkas „Der Prozess“. Die-
in ihrer Eigenschaft als noch amtierende Präsidentschaft ser Anfangssatz löst sicherlich bei jedem, der ihn liest,
der CBD, sondern auch als verantwortungsvolle Ver- ein beklemmendes Gefühl aus. Mir geht es jedenfalls
handlungspartnerin in Nagoya. immer wieder so, wenn ich das Buch zur Hand nehme.
Diese 19 Worte spielen auf die Urangst eines jeden an:
Der strategische Plan ist vor allem den Industrielän- die Sorge, in die Mühlen eines Verfahrens zu geraten,
dern wichtig. Die Entwicklungsländer werden dem aber aus dem man sich, einmal darin verstrickt, nicht wieder
nur zustimmen, wenn die Finanzierung verbindlich ge- herauslösen kann, eines Verfahrenes, das, weil seine Re-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7001

(A) geln nicht bekannt sind, entgrenzt ist und deswegen im päischen Haftbefehl gibt es auch bereits einen ersten um- (C)
Gegenzug den Einzelnen klaustrophobisch einengt. gesetzten Rechtsakt, der diesem Prinzip folgt. Erlassen
wurde auch schon der Rahmenbeschluss zur Europäi-
Es ist eine der Errungenschaften des Rechtsstaates, schen Beweisanordnung. Dieser wurde indessen in vie-
dass uns dieses beklemmende Gefühl heutzutage nur li- len Mitgliedstaaten, so auch in der Bundesrepublik, noch
terarisch begegnet und wir hier bei uns nicht die Sorge nicht umgesetzt.
haben müssen, real in eine Verfahrensmühle zu geraten,
wie Josef K. in Kafkas „Der Prozess“. Recht und Gesetz Angesichts der Tatsache, dass Vertrauen Zeit braucht,
binden Polizei und Strafverfolgungsbehörden, sie gelten um zu wachsen, erscheint es übereilt, wenn mit einer Ini-
gegenüber jedermann gleichermaßen, jeder kann sich tiative zur Europäischen Ermittlungsanordnung jetzt
auf seine Rechte berufen, und bei Rechtsverletzungen schon der nächste Schritt begonnen werden soll. Sinn-
besteht für jedermann die Möglichkeit, Rechtschutz in voller ist es, zunächst die Umsetzung des vorhergehen-
Anspruch zu nehmen. Bei uns können die Menschen den Rahmenbeschlusses zur Europäischen Beweisanord-
mithin darauf vertrauen, dass die rechtsstaatlichen Re- nung abzuwarten und die Erkenntnisse der Umsetzung
geln eingehalten werden – bei uns und auch in den und Anwendung dann in eine etwaige Initiative zur Eu-
27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union insgesamt. ropäischen Ermittlungsanordnung einfließen zu lassen.
So selbstverständlich, wie alle Mitgliedstaaten der Auf diese Weise kann sich das notwendige Vertrauen mit
Europäischen Union Rechtsstaaten mit einem außeror- der Zeit entwickeln.
dentlich hohen Schutzniveau sind, so selbstverständlich Wir unterstützen daher die gemeinsame Initiative für
ist aber auch, dass jedes Land seine eigene Rechtstradi- eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 3 des Grundge-
tion hat. Gerade das Strafrecht und das Strafverfahrens- setzes. Es ist gut, dass wir über die Fraktionsgrenzen
recht gehören zum Kernbereich der einzelstaatlich gere- hinweg eine gemeinsame Linie gefunden haben und auf
gelten Rechtsmaterien. diese Weise als Parlament wahrnehmbar unsere Stimme
Natürlich ist es richtig, im Zuge des europäischen erheben können.
Harmonisierungsprozesses auch zu einer Harmonisie-
rung strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Re- Dr. Eva Högl (SPD): Wenn heute Ermittlungs- und
gelungen in Europa zu kommen und das bisherige Sys- Strafverfolgungsbehörden in der EU für ihre Tätigkeit
tem der Rechtshilfe durch neue Instrumente abzulösen. Beweismittel im europäischen Ausland beschaffen müs-
Als Kehrseite zur Freiheit, die wir in Europa genießen sen, ist dies langwierig und aufwendig. Vor diesem Hin-
dürfen, machen Kriminalität und Straftaten an den Gren- tergrund hat Belgien eine Initiative für eine Richtlinie
zen der Einzelstaaten nicht halt. Hier müssen Polizei und zur Europäischen Ermittlungsanordnung in Strafsachen
(B) Strafverfolgungsbehörden selbstverständlich in ganz Eu- gestartet. (D)
ropa in die Lage versetzt werden, schnell, adäquat und
effektiv handeln zu können. Bisher greifen die Strafverfolgungsbehörden auf das
Instrument der Rechtshilfe zurück, das auf europäischer
Weil Straf- und Strafverfahrensrecht aber zum Kern- Ebene auf dem Rechtshilfeübereinkommen des Europa-
bereich rechtsstaatlichen Handelns gehören, bedarf es rats von 1959 und dem der Europäischen Union von
bei der Harmonisierung in diesem Bereich der besonde- 2000 basiert. Daneben haben wir mit dem Rahmenbe-
ren Sensibilität. So hat das Bundesverfassungsgericht in schluss über die Vollstreckung von Entscheidungen über
seinem Lissabon-Urteil ausgeführt, dass „wegen der be- die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder
sonders empfindlichen Berührung der demokratischen Beweismitteln innerhalb der Europäischen Union von
Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnor- 2003 sowie dem Rahmenbeschluss über die Europäische
men … die vertraglichen Kompetenzgrundlagen … Beweisanordnung von 2008 Rechtsinstrumente auf der
strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen (sind) ... Das Basis der gegenseitigen Anerkennung. Im Gegensatz zur
Strafrecht in seinem Kernbestand dient nicht als rechts- Europäischen Beweisanordnung soll die geplante Euro-
technisches Instrument zur Effektuierung einer interna- päische Ermittlungsanordnung nicht nur für bereits erho-
tionalen Zusammenarbeit, sondern steht für die beson- bene Beweismittel, sondern auch zur Beschaffung neuer
ders sensible demokratische Entscheidung über das Beweise gelten und hat damit einen erweiterten Gel-
rechtsethische Minimum“. Ein wesentlicher Faktor hier- tungsbereich.
bei ist, dass Vertrauen in die rechtsstaatlichen Gewähr-
leistungen bestehen muss. Dieses Vertrauen in die Bei der Europäischen Ermittlungsanordnung würde
rechtsstaatlichen Gewährleistungen in den Einzelstaaten ein Standardformular ausreichen, mit dem die jeweiligen
ist über Jahrzehnte gewachsen. Und so muss es auch in Behörden einander ersuchen könnten, bestimmte Ermitt-
Europa gehen: Das Vertrauen muss wachsen können. Es lungen durchzuführen oder Beweismaterial zu sammeln
lässt sich nicht verordnen. und auszutauschen. Die Veranlassung etwa von Zeugen-
befragungen oder Hausdurchsuchungen könnte deutlich
So ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass der Europäi- einfacher in die Wege geleitet werden.
sche Rat mit den Schlussfolgerungen von Tampere 1999
beschlossen hat, den Grundsatz der gegenseitigen Aner- Entscheidend für die Verwertbarkeit der im Ausland
kennung, der ursprünglich als Instrument zur Herstel- angeforderten Beweise ist das Vertrauen auf ihre recht-
lung des Binnenmarkts entwickelt wurde, im Bereich der mäßige Erhebung. Gerade wegen der besonderen Bedeu-
justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen tung von Beweisen im Strafverfahren sind konkrete An-
einzuführen. Mit dem Rahmenbeschluss über den Euro- forderungen an ihre Erhebung zu stellen. Nur wenn eine
7002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Behörde sicher sein kann, dass die von Partnerbehörden Es freut mich daher, dass es uns im Rechtsausschuss (C)
anderer EU-Länder gewonnenen Beweise den rechtli- des Deutschen Bundestags gelungen ist, fraktionsüber-
chen Anforderungen im eigenen Land genügen, ist es für greifend und einstimmig eine Stellungnahme abzugeben,
sie sinnvoll, das Instrument der Europäischen Ermitt- in der die kritische und gleichwohl konstruktive Haltung
lungsanordnung anzuwenden. Das hierfür notwendige deutscher Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu-
gegenseitige Vertrauen speist sich aus vergleichbaren sammengefasst ist. Wir begleiten damit den Prozess der
Standards. Richtlinienentstehung mit konkreten Vorschlägen und
geben der Bundesregierung inhaltliche Empfehlungen an
Schon 2004 hatte der Deutsche Bundestag zum Vor- die Hand.
schlag für die Europäische Beweisanordnung festge-
stellt, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerken- Mit der Verabschiedung der Stellungnahme haben wir
nung im Bereich des Strafrechts an bestehenden als Deutscher Bundestag die Chance, als starke Stimme
Unterschieden der Rechte von Beschuldigten scheitert. in Europa Gehör zu finden. Ich bin sicher, dass unsere
Er hat seinerzeit darauf bestanden, dass bei Eingriffen in Vorschläge und Anregungen in zukünftige Verhandlun-
die Rechte von Beschuldigten jeweils gesondert festzu- gen ebenso einfließen werden wie in den angekündigten
stellen ist, ob und inwieweit die Voraussetzungen für den Entwurf einer Richtlinie von Justizkommissarin Viviane
Verzicht auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit Reding. Wir können der engeren justiziellen Zusammen-
bestehen. Dem hatte sich im Übrigen auch die Bundesre- arbeit in Strafsachen in Europa optimistisch entgegenbli-
cken und werden uns weiterhin engagiert in die Debatte
gierung in einer Erklärung mit entsprechendem Vorbe-
auf nationaler und europäischer Ebene einbringen.
halt angeschlossen.
Leider können wir heute noch nicht das notwendige Marco Buschmann (FDP): Vorliegend befassen wir
Maß an Einheitlichkeit dieser Standards in Europa fest- uns mit der Initiative für eine Richtlinie des Europäi-
stellen. Solange dieser Zustand besteht, bedarf es eines schen Parlaments und des Rates über die Europäische
allgemeinen Versagungsgrundes, damit keine Verpflich- Ermittlungsanordnung in Strafsachen. Es geht hier im
tung zur Anerkennung und Ausführung von Ermittlungs- Kern um die Frage, wann und unter welchen Vorausset-
anordnungen statuiert wird, deren Erlass und Vollstre- zungen ein Mitgliedstaat die Anordnung zu einer straf-
ckung nach nationalem Recht nicht zulässig wäre. prozessualen Ermittlungsmaßnahme eines anderen Mit-
gliedstaates exekutieren muss.
Wir sind der Auffassung, dass vor Einführung eines
neuen umfassenden Rechtsinstruments zur grenzüber- Bei Fragen strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen
schreitenden strafrechtlichen Erhebung und Verwertung ist höchste Wachsamkeit geboten. Denn es handelt sich
(B) von Beweisen der Bedarf dafür gründlich geprüft und mitunter um tiefe Grundrechtseingriffe. Nicht umsonst (D)
geklärt werden sollte. Erst wenn sichergestellt ist, dass sprechen wir in Deutschland stets davon, dass es sich
eine Neuregelung Vorteile gegenüber den traditionellen beim Strafprozessrecht um konkretisiertes Verfassungs-
Instrumenten der Rechtshilfe bringt, sollte diese einge- recht handelt. Wir sind in Deutschland stolz auf das hohe
führt werden. Die notwendige Prüfung muss auch mögli- rechtsstaatliche Niveau, das wir im Strafprozess prakti-
che Defizite der bisherigen Rahmenbeschlüsse und die zieren. Dieses hohe Niveau schlägt sich insbesondere in
Ergebnisse der Befragung der Mitgliedstaaten durch die der Rechtsstellung des Beschuldigten sowie in der Syste-
Europäische Kommission zum Grünbuch zur Beweiser- matik der Beweiserhebungs- und Beweisverwertungs-
langung in Strafsachen einschließen. verbote nieder.
Gerade als überzeugte Europäer sagen wir Liberale:
Die Europäische Kommission selbst hat 2009 im
Auch im Bereich der Strafverfolgung muss es eine bes-
Stockholmer Programm dargelegt, dass der Anerken-
sere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten geben. Aber es
nung, Durchsetzung und Evaluierung der bestehenden darf keine Harmonisierung um jeden Preis geben, jeden-
Instrumente europäischer Zusammenarbeit im Straf- falls dann nicht, wenn die Errungenschaften unseres li-
rechtsbereich besondere Aufmerksamkeit gewidmet beralen Rechtsstaates in Deutschland in Gefahr geraten
werden soll. Die Richtlinie zur Europäischen Beweisan- könnten. Denn dies würde nicht nur dem deutschen
ordnung selbst trat erst Anfang 2009 in Kraft und ist in Rechtsstaat, sondern auch der europäischen Idee scha-
den Mitgliedstaaten bis Januar 2011 umzusetzen. den. Die Europäische Union gründet auf Vertrauen, und
Als überzeugte Europäerin liegt mir nicht daran, die solches Vertrauen könnte in Gefahr geraten, wenn die
rechtspolitische Integration bzw. vertiefte Zusammenar- Mitgliedstaaten um ihre Identität fürchten müssen. Dass
beit in der Europäischen Union zu bremsen. Ich sehe je- der Bereich des Straf- und des Strafprozessrechts für
diese Identität besonders wichtig ist, hat das Bundesver-
doch die Gefahr, dass eine vorschnelle Ausdehnung des
fassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil unterstri-
Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf die Be-
chen.
weiserhebung noch vor Anerkennung und Einführung
gemeinsamer Mindeststandards zum Verlust von bereits Mit diese Sorge sind wir nicht allein: Das kann schon
entstandenem Vertrauen und Akzeptanz führen und sich deshalb jedermann erkennen, da wir diese Sorge in ei-
daher kontraproduktiv auswirken kann. Das für die ef- nem gemeinsamen Antrag der Fraktion der CDU/CSU,
fektive Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen FDP, SPD und Bündsnis 90/Die Grünen zum Ausdruck
Anerkennung notwendige Vertrauen muss erst erworben gebracht haben. Auch die Fraktion der Linken teilt diese
und kann nicht vorausgesetzt werden. Sorge, wie wir aus den vorangegangenen Beratungen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7003

(A) wissen. Das Haus ist sich hier einig. Einig sind wir uns verurteilen? Wenn der Weltbürger ein Ideal ist, so gilt (C)
auch mit dem Bundesrat, der bereits dieser Sorge mit ei- das selbstverständlich auch für den Europäer. Unsere
ner eigenen Stellungnahme Ausdruck verliehen hat. Kritik richtet sich also nicht gegen das Zusammenwach-
Auch außerhalb der obersten Staatsorgane besteht diese sen der Staaten an sich, sondern lediglich gegen manche
Sorge. Das lässt sich beispielsweise den Stellungnahmen Regel, die für diesen Verbund aufgestellt wird. Wir hal-
des Deutschen Richterbundes, des Deutschen Anwalt- ten es für undemokratisch, wenn das einzige von den
vereins und der Bundesrechtsanwaltskammer entneh- EU-Bürgern direkt gewählte Organ kein Recht auf Ge-
men. setzesinitiative hat. Wir wenden uns dagegen, dass wirt-
schaftliche Freiheiten über soziale Rechte gestellt wer-
Vor diesem Hintergrund empfiehlt Ihnen der Rechts- den, und statt einer Militarisierung der EU wünschen wir
ausschuss des Deutschen Bundestages, zu der Initiative uns eine Verpflichtung zur Abrüstung.
für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des
Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung in Für Regelungen im Detail gilt dasselbe. Manche
Strafsachen eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Richtlinie, welche die Harmonisierung in Europa voran-
Grundgesetzes abzugeben, in der wir Wege aufzeigen, treiben soll, ist gut gemeint, im Ergebnis aber kein Ge-
diese Sorgen auszuräumen. winn. So ist es auch mit der Ermittlungsanordnung in
Strafsachen, deren Ziel die gegenseitige Anerkennung
Wichtig sind aus meiner Sicht dabei insbesondere fol- von strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen ist. Das ist
gende Punkte. Wichtig ist, dass Mindeststandards für für Strafverfolgungsbehörden natürlich eine verführeri-
Beschuldigte oder Drittbetroffene eingehalten werden. sche Vorstellung: Das Amtsgericht Hohenschönhausen
Nur so können wir das bereits geschaffene Vertrauen der ordnet in Palermo eine Hausdurchsuchung an und keinen
Bürger in Europa stärken. Solche einheitlichen Mindest- Tag später ist sie in vollem Gange. Das Ganze hat aller-
standards existieren jedoch noch nicht für alle Mitglied- dings einen Haken: Was in einem Land übliche Ermitt-
staaten. Unser Ziel muss es sein, erst die Mindeststan- lungspraxis ist, kann im anderen ein schwerer Verstoß
dards zu verwirklichen, bevor wir den Grundsatz der gegen Verfahrensgrundsätze sein. Diesen Unterschieden
gegenseitigen Anerkennung ausdehnen. aber schenkt die Initiative, wie sie jetzt vorliegt, kaum
Ein zweites wichtiges Anliegen ist meiner Ansicht Beachtung. Versagungsgründe für den Vollstreckungs-
nach die Schaffung eines allgemeinen Versagungsgrun- staat bestehen so gut wie keine, verfahrensrechtliche
des, wonach die Vollstreckung der angeordneten Maß- Mindeststandards existieren nicht. Zu befürchten wäre
nahmen versagt werden kann, wenn diese nach nationa- im Ergebnis ein Absinken des Strafverfahrensrechts auf
lem Recht unzulässig wäre. Ein Strafverfahren, in das den niedrigsten Level. Das aber ist gerade im grund-
wir Vertrauen haben können, kann nur dann gewährleis- rechtsrelevanten Bereich des Strafrechts nicht hinnehm-
(B) tet sein, wenn etwa der bei uns verfassungsrechtlich be- bar. Denn hier geht es nicht um den freien Austausch (D)
gründete Richtervorbehalt nicht unterlaufen werden von Gurken oder Glühbirnen, hier geht es um die Frage,
kann. ob am Ende eines Verfahrens ein Mensch seine Freiheit
verliert. Nicht ohne Grund hat die Bundesrepublik des-
Ein drittes wichtiges Anliegen ist der Datenschutz. Im halb ein hohes Maß an Beschuldigtenrechten und strenge
Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung sollen Regeln zur Erhebung und Verwertung von Beweisen ge-
besonders sensible Daten ausgetauscht werden. Bei- schaffen.
spiele dafür sind etwa DNA-Daten, Fingerabdrücke, In-
formationen über Vermögensverhältnisse oder – wie im Erfreulicherweise gab es in der Hochschätzung unse-
Fall der Wohnraumüberwachung – Daten aus dem res Strafverfolgungsrechts eine ungewohnte Überein-
höchstpersönlichen Umfeld der betroffenen Personen. stimmung mit den Koalitionsfraktionen. Denn die
Der Schutz dieser Daten muss auf hohem Niveau erfol- Rechte von Beschuldigten und verurteilten Straftätern
gen. stehen bei der Union ja nicht immer so hoch im Kurs.
Ich erinnere nur an die Sicherungsverwahrung. Da kann
Lassen Sie uns heute einen Schritt gehen, um das Ver- schon mal der Eindruck entstehen, einige der Hardliner
trauen in Europa zu stärken. Lassen Sie uns unsere Sor- in der CDU setzen das Strafrecht mit einem hohen Straf-
gen für die Standards unseres Strafverfahrensrechts kon- rahmen gleich und kennen den Resozialisierungsgedan-
struktiv in Richtung der Europäischen Institutionen ken nur vom Hörensagen.
artikulieren – nicht weil wir gegen jede Harmonisierung
in diesem Bereich sind, sondern weil wir uns für Rechts- Bei den interfraktionellen Verhandlungen über die
staatlichkeit und Grundrechtsschutz einsetzen. Ermittlungsanordnung war hiervon jedoch nichts zu
spüren. Stattdessen wurde konstruktiv und mit überein-
stimmender Zielrichtung diskutiert, die Vorschläge aller
Raju Sharma (DIE LINKE): Uns wird ja immer wie- Fraktionen wurden ernsthaft erwogen und flossen in den
der nachgesagt, wir würden Europa boykottieren. Das ist Antrag ein. Genau so stelle ich mir gelungene parlamen-
natürlich völliger Unsinn. Im Gegenteil: Wir Linken sind tarische Arbeit vor: getragen vom Interesse an der
ausgesprochene Europa-Fans. Wie sollten wir als Frie- Sache, vom Willen, die bestmögliche Lösung zu finden,
denspartei auch etwas Schlechtes darin sehen, wenn offen für Argumente des politischen Gegners und selbst-
Völker, die sich vor siebzig Jahren noch erbittert be- bewusst genug, um eigene Irrtümer einzuräumen.
kämpft haben, heute friedlich miteinander leben? Wie
könnten wir, die wir für internationale Solidarität eintre- Schade ist nur, dass dieser positive Geist nicht bis
ten, das Verblassen nationaler Grenzen und Egoismen zum Ende anhielt. Bei dem von allen erarbeiteten Antrag
7004 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) durfte die Linke als Urheber wieder nicht erscheinen, fahren. Die mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen (C)
ideologische Vorbehalte der Union überwogen den Wil- sind noch sehr unterschiedlich, dadurch kann es im Ein-
len, der gemeinsamen Arbeit Rechnung zu tragen und zelfall zu empfindlichen Rechtslücken kommen. Gerade
geschlossen gegenüber Brüssel aufzutreten – was der Sa- das dürfen wir nicht zulassen, denn es wird dem europäi-
che nicht gerade zuträglich ist. Dabei haben die gemein- schen Projekt schaden und die Entfremdung der Bürge-
samen Verhandlungen doch gezeigt, dass es anders geht. rinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union
Es wäre schön, wenn die CDU das zum Anlass nähme, weiter vergrößern.
ihre Haltung gegenüber der Linken endlich zu überden-
ken. Dann wäre der Antrag zur Ermittlungsanordnung Wir müssen ein faires Strafverfahren gewährleisten
nicht nur seinem Inhalt nach, sondern auch in seinem können. Dafür ist es unerlässlich, dass nationale Beweis-
Entstehen Anstoß zu mehr Demokratie – hier und in erhebungs- und Beweisverwertungsverbote sowie natio-
Europa. nale Verfahrensbestimmungen nicht durch Ermittlungs-
anordnungen unterlaufen werden können und dem Be-
troffenen so im Einzelfall Rechte vorenthalten werden.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die In Deutschland wären dies zum Beispiel der verfas-
Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten sind gefallen. sungsrechtlich begründete Richtervorbehalt, die Beleh-
Das ist gut für die Bürgerinnen und Bürger in der Union, rungspflichten gegenüber Beschuldigten und Zeugen so-
aber leider profitieren davon auch Straftäter, die sich wie deren Aussageverweigerungsrechte. Es darf auch
ungehindert zwischen den Mitgliedstaaten bewegen kön- nicht sein, dass deutsche Behörden verpflichtet werden,
nen. Die Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten eine Ermittlungsanordnung gegen einen nach deutschem
wollen deshalb – und das ist nachvollziehbar – besser Recht noch nicht strafmündigen Beschuldigten zu voll-
und effizienter zusammenarbeiten. Strafverfolgung strecken. Für solche Fälle ist es unerlässlich, einen allge-
durch Polizei und Justiz erfolgt jedoch nicht gegen über- meinen Versagensgrund vorzusehen, wenn die Vollstre-
führte Straftäter, sondern gegen – mehr oder weniger – ckung der Ermittlungsanordnung nach nationalem Recht
Verdächtige. Ein Verdacht kann grundsätzlich gegen unzulässig wäre.
jede und jeden entstehen. Deshalb gilt für alle Verdächti-
gen die Unschuldsvermutung; deshalb haben Verdäch- Es ist derzeit auch noch nicht möglich, völlig auf die
tige grundrechtlich und menschenrechtlich gesicherte Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit zu verzichten.
Rechte, die von den Ermittlungsbehörden zu achten sind. Die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen
nach wie vor große Unterschiede auf. Daher sollte auch
Die Initiative von sieben Mitgliedstaaten zur Schaf- weiterhin nur bezüglich der Deliktsgruppen auf die Prü-
fung einer Europäischen Ermittlungsanordnung will ein fung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet werden,
umfassendes Instrument zur Beweisgewinnung über auf die man sich in den bisherigen Instrumenten der ge- (D)
(B)
Staatengrenzen hinweg schaffen, um die Zusammenar- genseitigen Anerkennung geeinigt hat. Des Weiteren
beit der Strafverfolgungsbehörden innerhalb der Euro- sollten diese Deliktsgruppen näher präzisiert werden, um
päischen Union effizienter zu gestalten. Der Richtli- mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
nienentwurf sieht eine sehr weitgehende Anerkennung
und Beachtung von Beweisgewinnungsersuchen von ei- Da im Bereich der Ermittlungsanordnung besonders
nem Mitgliedstaat zum anderen vor. Voraussetzung der sensible Daten ausgetauscht werden, ist es wichtig, einen
Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger in der Europäi- hohen Datenschutzstandard zu garantieren. Der derzei-
schen Union für ein solches Vorgehen ist ein grundsätzli- tige Schutz, der noch auf der Europaratskonvention
ches Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der jeweiligen Nr. 108, Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei
Strafrechtsordnungen. Dieses Vertrauen ist von essen- der automatischen Verarbeitung personenbezogener Da-
zieller Bedeutung für das Gelingen der Europäischen ten, aus dem Jahre 1981 beruht bzw. auf dem Rahmenbe-
Union als Ganzer und für den äußerst sensiblen Bereich schluss des Rates 2008/977/JI des Rates vom 27. No-
der Justiz- und Innenpolitik im Besonderen. Ich meine vember 2008 über den Schutz personenbezogener Daten,
nicht nur das Vertrauen der Mitgliedstaaten in die jeweils die im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusam-
anderen Mitgliedstaaten und ihre Rechtsordnungen, son- menarbeit in Strafsachen verarbeitet werden und dessen
dern auch und insbesondere das Vertrauen der Bürgerin- Umsetzungsfrist im November 2010 endet, ist nicht aus-
nen und Bürger der Europäischen Union in die Rechts- reichend. Der vorgenannte Rahmenbeschluss stellt nur
staatlichkeit der jeweiligen anderen Staaten und in die einen absoluten Minimalkonsens dar, der Ausdruck der
Europäische Union als Ganzes. Prä-Lissabon-Regelungen – Einstimmigkeit im Rat und
lediglich Anhörung des Europäischen Parlaments – war.
Nur durch ein solches Vertrauen können die teils gro-
ßen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und Auch darf die Praxis mitgliedstaatlicher Initiativen
den Traditionen der Mitgliedstaaten überbrückt werden. nicht dazu führen, dass Vorschläge mit nicht ausreichend
Aber dieses Vertrauen muss erworben werden, es kann qualifizierten und substanziellen Begründungen zur Ver-
nicht einfach vorausgesetzt werden. Der vorliegende einbarkeit der Vorhaben mit den Grundsätzen der Subsi-
Richtlinienentwurf wird aber gerade das nicht leisten diarität und der Verhältnismäßigkeit vorgelegt werden.
können. Ganz im Gegenteil: Dieses Instrument greift Zwar ist das Initiativrecht einer Gruppe von Mitglied-
zwar nicht in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten staaten in diesem Bereich sinnvoll und richtig. Die An-
ein, aber es kann im Einzelfall empfindlich in die Rechte forderungen an gute Gesetzgebung inklusive Folgenab-
der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Denn wir haben schätzung und umfassender Begründung dürfen dabei
leider noch keine gemeinsamen Standards im Strafver- aber nicht vernachlässigt werden. Schließlich sollten erst
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7005

(A) einmal die Umsetzung der bereits beschlossenen Euro- Dadurch allein wird sich jedoch die Schwäche der (C)
päischen Beweisanordnung – die Frist endet im Januar Regierungsinstitutionen nicht überwinden lassen.
2011 – und die Erfahrungen mit diesem Instrument ab- Schwach ist die Kontrolle der Regierung insbesondere
gewartet werden, bevor ein neues, wesentlich weiterrei- über den Süden des Landes, wo Anhänger Bakijews
chendes Instrument geschaffen wird. nach wie vor über Rückhalt verfügen, wo das organi-
sierte Verbrechen – vor allem durch den Drogenhandel –
Aus allen diesen Gründen wenden wir – alle Fraktio- stark ausgeprägt ist und wo das Zusammenleben zwi-
nen des Deutschen Bundestages – uns gegen diese Initia- schen Kirgisen und Usbeken spannungsvoll ist. Wie es-
tive einiger Mitgliedstaaten über die Europäische Ermitt- kalationsträchtig die Lage ist, zeigte sich an den massi-
lungsanordnung in Strafsachen. Wir fordern die ven Ausschreitungen gegen die usbekische Minderheit
Bundesregierung auf, im Sinne dieser Stellungnahme an in Osch und anderen Orten des Südens, die im Juni zu
den weiteren Verhandlungen teilzunehmen und die Auf- Hunderten von Toten und Zehntausenden von Flüchtlin-
fassung des Bundestages zu achten. gen führten. Wie ohnmächtig die Regierung diesen Ge-
Zum Schluss möchte ich allen Berichterstattern für waltausbrüchen gegenüberstand, zeigten ihre Bitten um
die konstruktive Zusammenarbeit danken. Ich möchte internationale militärische Unterstützung, vor allem an
aber auch noch einmal darauf hinweisen, dass ich es ge- die Adresse Russlands.
rade in europäischen Angelegenheiten für sinnvoll er- Dieser Mangel an Autorität und Durchsetzungskraft
achte, dass bei einem interfraktionellen Antrag des Deut- der staatlichen Institutionen stellt das größte Risiko für
schen Bundestages auch alle im Bundestag vertretenen den politischen Fortschritt in Kirgistan dar. Deshalb
Fraktionen beteiligt werden, wenn sie sich denn auf eine kommt es jetzt in erster Linie auf die Stabilisierung und
Position einigen können. Konsolidierung der Staatsmacht sowie auf den Ausbau
und die Stärkung ihrer Organe an. Gelingt dies nicht, be-
steht die sehr reale Gefahr, dass über kurz oder lang die
Anlage 9 Vertreter korrupter und krimineller Interessen die Macht
übernehmen oder eine andauernde politische Instabilität
Zu Protokoll gegebene Reden Kirgisistan zum Einfallstor für islamistische Kämpfer
zur Beratung des Antrags: Kirgisistan unter- macht.
stützen – Den Frieden sichern (Zusatztagesord- Kirgistan wird internationale Unterstützung brauchen.
nungspunkt 7)
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre eine deutli-
che Verbesserung der regionalen Kooperation zwischen
(B) Manfred Grund (CDU/CSU): Seit seiner Unabhän- den Staaten Zentralasiens, die unter anderem zum Abbau (D)
gigkeit im Jahr 1991 haben sich in Kirgistan, mehr als in ethnischer Spannungen zwischen den Volksgruppen bei-
anderen Ländern der Region, immer wieder demokrati- tragen könnte. Vor allem von Kasachstan sind bislang
sche Bestrebungen behauptet. Aber die Folge war auch Initiativen für eine Intensivierung der regionalen Koope-
eine Instabilität, die die Entwicklung des Landes ge- ration ausgegangen. Jedoch versuchen die Staaten Zen-
hemmt hat. Autoritäre Tendenzen wurden wiederholt tralasiens nach wie vor eher, sich gegenüber negativen
durch politische Umstürze beendet, auf die demokrati- Entwicklungen bei ihren Nachbarn abzuschotten, als die
sche Reformen folgten. Aber die Begleiterscheinung Probleme gemeinsam zu lösen.
dieser Entwicklungen liegt in der fortdauernden Schwä-
che der staatlichen Institutionen. Korruption und organi- Kirgistan wird neben zivilen Hilfen auch polizeiliche
sierte Kriminalität konnten sich entfalten, die wirtschaft- und gegebenenfalls militärische Unterstützung zur Stabi-
liche Entwicklung war enttäuschend. Viele Kirgisen sind lisierung der Lage brauchen. Der kasachische Vorsitz ist
arm geblieben. Mit der Frustration der Bevölkerung ha- dabei in der Verantwortung, die Hilfen der OSZE zu ko-
ben die ethnischen Spannungen zugenommen. ordinieren. Wenn es zur Entsendung einer Friedens-
truppe kommt, müsste sie durch den der Sicherheitsrat
Nach dem Sturz Präsident Bakijews im April hat die der VN legitimiert werden. Doch je kritischer sich die
neue Regierung unter Übergangspräsidentin Otunbajewa Lage entwickeln mag, desto mehr würde es darauf an-
eine ambitionierte Verfassungsreform begonnen, die ein kommen, dass eine Friedensmission entsprechend robust
parlamentarisches Regierungssystem etablieren soll. In ist. Dafür müsste ein solcher Einsatz von einem Mit-
dem Referendum vom 27. Juni konnte sie sich dafür eine gliedsland getragen und geführt werden, das die erfor-
breite Unterstützung der Bevölkerung sichern. Die Re- derlichen Fähigkeiten zur Verfügung stellen kann. Das
gierung konnte sich so eine demokratische Legitimation könnte nach Lage der Dinge nur Russland sein.
verschaffen. Die Tatsache, dass eine erneute Kandidatur
von Rosa Otunbajewa bei den für Dezember 2011 ange- Ein konzertiertes Vorgehen der internationalen Ge-
setzten Wahlen ausgeschlossen wurde, war ein wichtiger meinschaft ist in dieser Situation besonders wichtig. Die
Schritt zur Vertrauensbildung. Die vergleichsweise lange Wirksamkeit unserer Strategie wird entscheidend von ei-
Zeit ihrer Übergangspräsidentschaft ist angesichts der ner engen Abstimmung mit Russland abhängen. Je mehr
politischen Instabilität im Lande gerechtfertigt. Die für die USA und die EU, Russland – und auch China – mit
das kommende Wochenende angesetzten Parlaments- unterschiedlichen Ansätzen gegeneinander konkurrie-
wahlen sollen bereits zuvor für eine demokratisch ge- ren, desto stärker werden wir unsere konstruktiven Ein-
wählte Regierung sorgen. flussmöglichkeiten auch gegenseitig beschneiden.
7006 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) In Zentralasien verfügt Russland aus geografischen sie bislang nicht in der Lage, die vollständige Sicherheit (C)
wie historischen Gründen über politische Möglichkeiten, im Süden zu erreichen. Für die Tage um die Wahlen he-
die die EU nicht besitzt. Weder die Europäer noch die rum kann nicht ausgeschlossen werden, dass es erneut zu
Amerikaner werden in Zentralasien entschieden und mit einer Verschlechterung kommt. Bislang ist dies den Be-
der notwendigen Nachhaltigkeit als Ordnungsmacht auf- richten nach aber Gott sei Dank noch nicht so.
treten können, wenn Krisen in der Region ein Eingreifen
Es ist gut, dass die Übergangsregierung ihre Zusage
internationaler Partner erfordern. Russland hat eine
eingehalten hat, dass nun am kommenden Sonntag Neu-
Schlüsselrolle. Nur im engen Zusammenwirken mit
wahlen des kirgisischen Parlamentes stattfinden. Hoffen
Russland werden wir – nicht nur in der Theorie, sondern
wir, dass diese Wahlen ungestört vonstattengehen und
auch in der Praxis – einen wichtigen konstruktiven Bei-
auch in der Zeit eine ruhige Atmosphäre bestehen wird.
trag zur Stabilisierung Kirgistans leisten können.
Gleichwohl gilt – egal welches Resultat das Wahler-
Franz Thönnes (SPD): Am 10. Oktober 2010 wird gebnis erbringt –, dass die Staatengemeinschaft, die Eu-
in Kirgisistan gewählt. Damit steht dieses Land nach ei- ropäische Union und die Regierung der Bundesrepublik
ner spannungsgeladenen Entwicklung vor einer erneuten Deutschland gefordert sind, Aktivitäten und Maßnah-
Bewährungsprobe. Denn nach dem Sturz des autokrati- men zu ergreifen, die zur Stabilität Kirgisistans beitra-
schen Präsidenten Kurmanbek Bakijew im April dieses gen. Bisher eingeleitete Unterstützungen sind da sehr
Jahres durch die Opposition, wurde eine Übergangsre- wohl noch ausbaufähig. Ja, ausbaunotwendig.
gierung mit Rosa Otunbajewa an der Spitze gebildet, die Zwar ist umfangreiche humanitäre und finanzielle
das Parlament für aufgelöst erklärte und baldige Neu- Hilfe geleistet worden, die Bundesregierung zum Bei-
wahlen versprach. spiel hat 500 000 Euro für die Versorgung der Flücht-
Im Juni 2010 erschütterten schwere ethnische Unru- linge zur Verfügung gestellt und die Zentralasienbeauf-
hen zwischen Kirgisen und der usbekischen Minderheit tragte in die Region entsandt. Insgesamt aber müssen im
den armen Süden des Landes. Es starben Hunderte Men- Rahmen eines langfristigen Prozesses gemeinsame Ini-
schen, überwiegend Usbeken, und Tausende mussten tiativen ergriffen werden, um neue Eskalationen der Ge-
fliehen. walt zu verhindern.

Berichte informierten uns darüber, dass es durch die So gehört natürlich die Situation in Kirgisistan auf die
Unruhen des Junis 2010 in Dschalalabad – der Heimatre- Tagesordnung der Vereinten Nationen. Stabilität und Si-
gion des gestürzten Präsidenten Bakijew, über 370 Tote cherheit in diesem Land bedürfen mit geeigneten Maß-
und gut 2 300 Verletzte gegeben habe. 30 000 Menschen nahmen zur Friedenssicherung dem verstärkten Engage-
ment der Staatengemeinschaft. Dabei tragen auch die
(B) ergriffen die Flucht. Für die Ursachen des Konflikts gibt (D)
es die unterschiedlichsten Mutmaßungen. So werden Länder der Region im Sinne einer stabilisierenden Mit-
Anstachelungen durch entmachtete Regierungsvertreter wirkung eine wesentliche Mitverantwortung. Und es ist
ebenso vermutet wie die Planung einer gezielten Vertrei- unumstritten, dass eine zu entsendende OSZE-Mission
bung der wohlhabenderen usbekischen Minderheit durch abzusichern ist.
die land- und arbeitslose kirgisische jüngere Generation. Die EU ist selbstverständlich aufgefordert, ihrer Ver-
Davon blieb natürlich auch die Übergangsregierung antwortung im Sinne der eigenen EU-Zentralasienstrate-
nicht verschont. Kritiker warfen ihr vor, nicht ausrei- gie gerecht zu werden. Zur Aufarbeitung der Unruhen
chend für Stabilität gesorgt zu haben. im Juni und zur Gewährleistung der Stabilität wird es
auch notwendig sein, eine internationale Untersuchung
Am 27. Juni 2010 haben bei dem erfolgreich und rela-
durch die Beauftragten für Menschrechte bzw. nationale
tiv friedlich verlaufenden Verfassungsreferendum über
Minderheiten der Vereinten Nationen oder der OSZE
90 Prozent der Wähler, bei einer Wahlbeteiligung von
einzuleiten.
rund 70 Prozent, für den Verfassungstext gestimmt. Die-
ser sieht die Stärkung der parlamentarischen Kontroll- Wir alle wissen, dass nach derartigen Entwicklungen,
rechte und die Beschränkung der Befugnisse des Präsi- wie sie die Menschen und die Gesellschaft in Kirgisistan
denten vor. Rosa Otunbajewa wurde mit diesem erfahren haben und wie wir sie von außen beobachten
Referendum als Präsidentin bis Dezember 2011 bestä- konnten, eine lange Wegstrecke eines Prozesses des Dis-
tigt. Damit hat die Übergangsregierung eine gute Grund- kurses und der Versöhnung bis zu einem neuen, bis zu
lage, einen glaubwürdigen Prozess der Reformen und einem friedlichen Miteinander vor uns liegt. Dafür ist
der Demokratisierung anzustoßen. natürlich ein politischer Prozess erforderlich, der alle an
den Konflikten beteiligten Parteien, die friedens- und
Aber die politische Lage in Kirgisistan bleibt kritisch. stabilitätswillig sind, mit einbezieht. Die Vereinten Na-
Im Süden gibt es weiterhin Spannungen zwischen Kirgi- tionen, die Europäische Union und die Bundesrepublik
sen und Usbeken. Die genauen Hintergründe der Unru- Deutschland haben das Know-how für eine konstruktive
hen zu ermitteln, insbesondere ob kirgisische Politiker Begleitung und Absicherung dieser Wegstrecke. Sie soll-
und Ordnungskräfte darin verwickelt waren, bleibt ten dies anbieten und sich dementsprechend einbringen.
schwierig. Hinzu kommt das große Wirtschaftsgefälle
zwischen Norden und Süden und das Ausmaß organi- Auch ist der Forderung zuzustimmen, dass sowohl
sierter Kriminalität im Süden Kirgisistans. Es wird ange- OSZE wie auch EU helfen müssen bei einer Politik der
zweifelt, ob und inwieweit die neue Regierung die Kon- Good Governance und der Herstellung von Rechtsstaat-
trolle über alle Sicherheitskräfte im Land hat. Auch war lichkeit. Dem Recht des Stärkeren gilt es die Stärke des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7007

(A) Rechts entgegenzusetzen. Dazu ist einerseits eine refor- andere Spannungen, welche die Region immer wieder (C)
mierte und durchsetzungsfähige Polizei erforderlich wie erschüttern, nur durch Demokratie und Interessenaus-
ebenso auch der organisierte und wirkungsvolle Schutz gleich entschärft werden. Dies liegt ebenfalls im Inte-
der Rechte von Minderheiten. resse Deutschlands und der Europäischen Union. Jedoch
steht der Demokratisierungsprozess sowie der Aufbau
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geht funktionierender Institutionen in Kirgistan erst am An-
nun in den Ausschuss. Die SPD-Bundestagfraktion sieht fang.
in vielen Bereichen eine Übereinstimmung mit den darin
wiedergegebenen Inhalten und wird sich mit ihren Posi- Deshalb sollte Deutschland gemeinsam mit den euro-
tionen an den Beratungen im Ausschuss mit dem Ziel, zu päischen Partnern alles Mögliche tun, um das neu ge-
einer breiten Übereinstimmung zu kommen, beteiligen. wählte Parlament und die neue Regierung zu unterstüt-
Noch viel wichtiger aber sind jetzt bereits konkrete ver- zen. Die Erfahrung hat leider gezeigt, dass dazu vor
stärkte internationale Aktivitäten der Bundesregierung allem Geduld erforderlich ist. Für eine nachhaltige Sta-
für Stabilität und Sicherheit in der Region, die über das bilisierung des Landes müssen alle Ethnien in den Pro-
bisherige Maß hinausgehen. zess der Nationswerdung einbezogen werden. Wir müs-
sen gleichwohl darauf vorbereitet sein, dass nach den
Kirgisistan kann aber nur dann eine demokratische Wahlen abermals unruhigere Zeiten anbrechen können.
und in Frieden lebende Republik werden, in der vor al- Daraus ergibt sich für mich auch die Notwendigkeit die-
lem die Menschen im Süden eine bessere Zukunft haben ses Antrags. Und daraus ergibt sich auch die Wichtigkeit
und in der die usbekische Minderheit in Sicherheit leben einer erfolgreichen Umsetzung der Zentralasienstrategie
kann, wenn mit der Kraft der ganzen internationaler So- der Europäischen Union.
lidarität hieran verantwortungsvoll gearbeitet und damit
auch die Stabilität in der ganzen Region gewährleistet Das Ziel der EU sollte es vor allem sein, in den zen-
wird. tralasiatischen Staaten Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus
und ein friedliches Miteinander zu fördern. Es ist noch
Michael Link (Heilbronn) (FDP): Meiner Rede nicht lange her, dass Kirgistan am Rande eines Staatszer-
möchte ich voranstellen, dass die FDP-Bundestagsfrak- falls stand. Die schrecklichen Nachrichten, die uns
tion den Grundgedanken des Antrags der Grünen-Frak- jüngst in diesem Jahr aus Kirgistan erreichten, belegen
tion teilt, einen für die noch sehr junge und gebrechliche auf bedrückende Weise, wie schnell die Situation in die-
kirgisische Demokratie unterstützenden Antrag zu ver- sem Land blutig eskalieren kann. Bis heute sind die ge-
abschieden. Vieles, was in dem Antrag steht, können wir nauen Hintergründe der Juni-Unruhen nicht geklärt.
unterschreiben. Einige Passagen erfordern Redebedarf, Zahlreiche Indizien sprechen für eine Verwicklung der
organisierten Kriminalität in die damaligen, pogromähn-
(B) gleichwohl bietet der Ausschuss noch Gelegenheit dazu. (D)
lichen Zustände.
Kirgistan benötigt in seiner aktuellen Situation Unter-
stützung, aber man sollte ebenfalls zur Kenntnis neh- Glücklicherweise ist es Rosa Otunbajewa und ihrer
men, dass das jüngst abgehaltene Referendum durchaus Übergangsregierung zumindest teilweise gelungen das
als ein Erfolg zu werten ist. Zwar ist die Lage noch nicht damalige Chaos zu begrenzen und nicht wieder aufflam-
im ganzen Land stabil, aber die Verfassung schafft mehr men zu lassen. Jedoch muss es das Ziel sein, dass die
Demokratie als im jeden anderen Land der Region, wenn neue Regierung die Kontrolle über das gesamte Land,
auch ihre Implementierung mit schmerzhaften und wi- also auch über den Süden, und den kompletten Verwal-
dersprüchlichen Prozessen verbunden ist. tungsapparat gewinnt.

Das Land hat in den letzten Monaten eine Phase in- Nun steht Europa gegenüber Kirgistan in der Verant-
tensiver politischer Auseinandersetzung und Debatten wortung zu beweisen, dass es Zentralasien nicht ledig-
erlebt. Es wurde dabei – neben der Personalisierung – lich aus energiepolitischer Perspektive sieht. Es muss al-
auch über politische Konzepte und Alternativen disku- les unternommen werden, dass der eingeschlagene,
tiert. Der Ausgang der Wahlen am Sonntag ist ungewiss. kirgisische Weg in Richtung Stabilität und Demokratie
Und – wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben – schon fortgesetzt werden kann. Hierfür bedarf es eines kohä-
dies ist eine für diese Region ungewöhnlich erfreuliche renten und entschlossenen Auftretens der EU, damit sich
Situation. nicht nur in Kirgistan, sondern mittelfristig in der ge-
samten Region stabile und gerechte Gesellschaften ent-
Eine ebenfalls positive Nachricht – lassen Sie mich wickeln können.
dies noch hinzufügen – ist die Verhaftung zweier Ver-
dächtiger, die im Zusammenhang mit der brutalen Er- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): In Zentralasien ver-
mordung des kirgisischen Journalisten Gennadi Pawliuk sinkt ein Staat im Chaos, und die Welt ist ratlos. Wir alle
stehen sollen. wissen, dass sich die Minderheitenkonflikte in Kirgisien
In Kirgistan wird der Versuch einer parlamentari- schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. Vie-
schen Demokratie gemacht – zum ersten Mal in dieser len ist auch klar, dass wir es in Zentralasien längst mit ei-
Region in dieser Konsequenz. Es gibt eine Chance, dass nem Flächenbrand zu tun haben. In dessen Zentrum und
Kirgistan beweisen kann, dass präsidentielle Systeme in dessen Auslöser ist der NATO-Krieg in Afghanistan. Die
autoritärer Ausprägung nicht die einzige Option für die wenigsten aber wollen die Destabilisierung, die vom Af-
Länder Zentralasiens sind und dass mehr Demokratie ghanistankrieg auch für Usbekistan und Kirgisien aus-
möglich ist. Letztlich können ethnische, religiöse und geht, wahrhaben. Die Destabilisierung hingegen, die für
7008 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) Pakistan ausgeht, ist mittlerweile unumstritten, wie in militanten Islamisten oder der organisierten Kriminalität (C)
der Rede von der „AfPak-Region“ deutlich wird. Die anschließen würden und es bald zu Aufständen kommen
beiden offensichtlichen und weithin bekannten Ursachen würde.
für diese Destabilisierung sind die Tatsache, dass Pakis-
tan als Rückzugsgebiet islamistischer Kämpfer und als So ist es auch gekommen. Die Pogrome im Juni 2010
Hauptversorgungsroute der US-amerikanischen Streit- trafen vor allem die usbekische Minderheit und fanden
kräfte dient. Die völkerrechtswidrigen Angriffe der US- in unmittelbarer Nähe zur usbekischen Grenze statt.
Armee auf pakistanischem Boden mit unbemannten Viele befürchteten damals, der unberechenbare usbeki-
Drohnen und zuletzt auch bemannten Waffensystemen sche Präsident Karimow könnte seine Truppen mobili-
haben mittlerweile dazu geführt, dass Pakistan seine sieren und über die Grenze marschieren lassen. Diese
Eskalationsstufe wurde zum Glück vorerst noch nicht er-
Grenzen für die NATO-Transporte geschlossen hat. Die
reicht. Die Frage ist aber: Wie hätte die Bundesregierung
wartenden Lkw wurden von militanten Islamisten mehr-
sich hierzu verhalten können, die für ihren Einsatz der
fach angegriffen. Fast kann man von einem gemeinsa-
Bundeswehr in Afghanistan auf den Stützpunkt im usbe-
men Vorgehen der pakistanischen Sicherheitskräfte mit
kischen Termez angewiesen ist und hierfür selbst zu den
den Guerilla-Kämpfern ausgehen. Die Islamisten finden
schwersten Menschenrechtsverletzungen der usbeki-
breiten Rückhalt in der Bevölkerung und auch in Teilen schen Regierung schweigt?
der Armee, weil Pakistan und die pakistanische Regie-
rung von der NATO in einen Krieg gezwungen werden, Eine Schockstarre hat die internationale Gemein-
den Armee und Bevölkerung nicht unterstützen. schaft nach dem Umsturz im April in Kirgisien ergriffen,
und reflexartig – wie im vorliegenden Antrag der Grü-
Dasselbe ist in Kirgisien und Usbekistan der Fall. nen – werden altbekannte Rezepte hervorgekramt: die
Beide sind Rückzugs- und Rekrutierungsbasis für die Forderungen nach internationalen Polizei- und Militär-
Gegner der NATO in Afghanistan, und über beide wi- einsätzen. Doch bislang ist kein Land bereit, sich in die-
ckelt die NATO ihren militärischen Nachschub ab, wäh- ser Form in Kirgisien zu engagieren. Weil alle wissen,
rend gleichzeitig die Gegenseite ihre Drogen über diese dass sie die Lage nicht in den Griff bekommen werden,
Länder exportiert und damit die organisierte Kriminalität so lange die NATO in Afghanistan ist. Keiner will die
in diesen Ländern zu einer politischen Macht gedeihen Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat: nicht die
lässt. Da die NATO ihren fatalen Krieg in Afghanistan NATO, nicht die USA, die sich mit Osterweiterung, Af-
aber auf Gedeih und Verderb fortsetzen will und dazu die ghanistankrieg und der sogenannten Tulpenrevolution
Militärbasen in Termez und Manas aufgrund der jüngs- tief in den Einflussbereich Russlands eingegraben und
ten Spannungen mit und Angriffe in Pakistan noch Zentralasien zum Austragungsort eines „neuen Kalten
(B) dringlicher denn je braucht, kann sie in der Region keine Krieges“ mit Russland gemacht hat, und auch nicht (D)
deeskalierende, unabhängige Politik verfolgen. Die Staa- Russland selbst.
ten, die am Afghanistan-Krieg beteiligt sind, müssen auf
Biegen und Brechen mit jeder Regierung in Taschkent Doch die altbekannten Rezepte werden den Flächen-
und Bischkek zusammenarbeiten, egal wie korrupt diese brand nur beschleunigen. Die International Crisis Group,
ist, egal ob sie sich an die Macht geputscht hat und egal die bereits der militärischen Zerschlagung Jugoslawiens
wie sehr sie ihre eigene Bevölkerung unterdrückt. das Wort geredet hat, schreibt: „Unglücklicherweise
könnte es schon zu spät sein für alle Bemühungen, dem
Es ist ein Wunder, dass es in diesem Kontext zu Span- gespaltenen Land die Einheit wiederzugeben. Zu weit
nungen kommt. Die Herrschercliquen bereichern sich sind die Desintegrationsprozesse fortgeschritten, zu viel
maßlos an den Einnahmen, die sich aus der Kriegslogis- ist geschehen. Deshalb muss der Sicherheitsrat der Ver-
tik ergeben, die Familie des gestürzten Präsidenten einten Nationen eine Krisenintervention planen, sodass
Bakijew soll alleine 2009 Aufträge in Höhe von bis zu die Staatengemeinschaft in der Lage ist, kurzfristig und
80 Millionen US-Dollar für das Pentagon übernommen effizient auf alle Wellen der Gewalt und Flüchtlings-
haben. Gleichzeitig machte das organisierte Verbrechen ströme in der Region zu reagieren.“ Hier wird einer Tei-
Millionengewinne mit dem Opiumhandel. Für die einfa- lung Kirgisiens unter internationaler militärischer Bei-
che Bevölkerung hingegen gibt es keinerlei Perspekti- hilfe entlang ethnischer Linien das Wort geredet. Ein
ven, um der Armut zu entfliehen – außer der Emigration. Experiment, welches die NATO mit tatkräftiger Unter-
2008, vor Beginn der globalen Wirtschafts- und Finanz- stützung der Crisis Group bereits auf dem Balkan durch-
geführt hat und mit dem sie bereits dort grandios ge-
krise, bestand ein Viertel des kirgisischen Nationalein-
scheitert ist. In Zentralasien, wo instabile Regime eine
kommens aus Auslandsüberweisungen junger Kirgisen,
Vielzahl von Bevölkerungsgruppen umfassen, große
die überwiegend in Russland und Kasachstan beschäftigt
Rohstoffvorkommen existieren und das durch die NATO
waren. Die Arbeitsmigranten aus den zentralasiatischen
zum Schauplatz eines „neuen Kalten Krieges“ mit Russ-
Staaten waren diejenigen, die als erste und am härtesten
land gemacht wurde, ist das Eskalationspotenzial noch
von der Wirtschaftskrise betroffen waren. Millionen von ungleich höher.
ihnen kehrten mit der Wirtschaftskrise zurück, ge-
schätzte 500 000 alleine nach Kirgisien. Beobachter Die verfahrene Lage in Kirgisien und Zentralasien
warnten bereits Ende 2009, dass die kirgisische Wirt- muss zu einem wirklichen Umdenken führen. Die NATO
schaft diesen überhaupt keine Perspektive biete. Da jeg- muss ihre Niederlage in Afghanistan eingestehen und
liche politische Opposition unterdrückt werde, sei abzu- das Konfliktpotenzial, das von diesem Krieg für die ge-
sehen, dass sich viele Arbeitslose entweder den samte Region ausgeht, anerkennen. Der Abzug der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010 7009

(A) NATO aus Afghanistan muss einhergehen mit der Fest- Die UNO-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay (C)
stellung, dass dieses Militärbündnis seine Grenzen über- berichtete, dass die ersten Angriffe abgestimmt, gezielt
schritten hat, im wahrsten Sinne des Wortes eine Gefähr- und gut geplant stattfanden. Es ist offensichtlich, dass
dung des Weltfriedens darstellt und deshalb aufgelöst vorhandene ethnische Spannungen systematisch poli-
gehört. Der Westen muss aufhören, seinen Einflussbe- tisch instrumentalisiert wurden. Die Folge war, dass der
reich auch militärisch immer weiter in den Osten auszu- Süden Kirgisistans im Chaos versank und die Über-
dehnen – dies überfordert auch seine Kräfte –, und muss gangsregierung nicht in der Lage war, die usbekische
die legitimen Interessen Russlands anerkennen. Grund- Minderheit vor Angriffen zu schützen. Weit über 1 000
lage hierfür kann der von Russland vorgeschlagene euro- Tote, eine Massenflucht und die Zerstörung ganzer
atlantische Sicherheitsvertrag sein. Nur wenn die militä- Stadtviertel waren zu beklagen. Rosa Otunbajewa rief
rische Konfrontation beendet wird, kann kooperativ die Russland und die USA um militärische Unterstützung
wirtschaftliche Entwicklung und Demokratisierung Zen- an. Doch niemand wollte sich in den Konflikt hineinzie-
tralasiens unterstützt werden und sich diese Region sta- hen lassen.
bilisieren.
Obwohl das Referendum, bei dem am 27. Juni über
die neue demokratische Verfassung und über die Präsi-
Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/DIE dentschaft Otunbajewas abgestimmt wurde, ruhig ver-
GRÜNEN): Kirgisistan steht kurz vor dem Staatszerfall: lief, konnte die Übergangsregierung bis heute ihre
ethnische Spannungen, eine handlungsunfähige Regie- Macht im Süden des Landes nicht konsolidieren. So
rung und eine zusammengebrochene Wirtschaft – dies scheiterte etwa die Absetzung des nationalistischen und
sind die klassischen Symptome eines versagenden Staa- Bakijew-treuen Bürgermeisters von Osch am Wider-
tes. Das Land wird durch einen ethnischen und sozialen stand der Kirgisinnen und Kirgisen im Süden. Die usbe-
Konflikt förmlich zerrissen. Eine machtlose Präsidentin kische Minderheit lebt in ihren zum größten Teil zerstör-
ohne nennenswerte Unterstützung verliert zunehmend ten Wohnvierteln in Angst vor einem erneuten Übergriff
die Kontrolle über den Süden des Landes. Die Verliere- und ist politisch kaltgestellt. Human Rights Watch infor-
rin in diesem Konflikt ist die usbekische Minderheit, die mierte in einem Bericht vom 18. August über die ethni-
zunehmend marginalisiert und verfolgt wird. Im Juni sche Gewalt in Kirgisistan. Die mehrheitlich kirgisi-
dieses Jahres erschütterten Berichte über Hunderte Tote schen Sicherheitskräfte haben sich danach an den
und Tausende Flüchtlinge die Weltöffentlichkeit. Übergriffen auf Usbekinnen und Usbeken aktiv beteiligt.
Auch vormals gemäßigte Politikerinnen und Politiker
Wie kommt es zu dieser Verschärfung des Konflikts? nehmen kaum noch Partei für die usbekische Minder-
Kirgisistan ist eines der ärmsten Länder der Erde. Ein heit, Medien verbreiten nationalistische, antiusbekische (D)
(B)
Drittel der 5,3 Millionen Einwohner Kirgisistans lebt un- Parolen.
ter der Armutsgrenze. Eine Verdopplung der Strompreise
zu Beginn des Jahres und eine extrem hohe Arbeitslosig- Am 22. Juli beschloss die OSZE, 52 Polizistinnen und
keit führte im April dieses Jahres zur Erhebung der Be- Polizisten in den Süden Kirgisistans zu entsenden. Deren
völkerung gegen den autokratisch regierenden Präsiden- Präsenz sollte Übergriffe auf die usbekische Minderheit
ten Kurmanbek Bakijew. Am 7. April floh Bakijew unterbinden. Dies lehnte Rosa Otunbajewa ab, da sie für
zunächst in den Süden des Landes. Dort genießt er noch die Sicherheit der Polizistinnen und Polizisten nicht ga-
immer einen großen Rückhalt in der Bevölkerung. rantieren konnte. Es hatte unmissverständliche Drohun-
Schließlich verließ Bakijew das Land, nicht ohne seinen gen gegen ein OSZE-Polizeikontingent aus dem Süden
Anspruch auf das Amt des Präsidenten nochmals zu be- des Landes gegeben – ein weiteres Zeichen der Schwä-
kräftigen. che der Zentralregierung. Der Konflikt zwischen dem
Norden und dem Süden des Landes bleibt bestehen, die
Die im April gebildete Übergangsregierung ist sehr usbekische Minderheit lebt weiter in Angst und eine Es-
heterogen und damit konfliktanfällig. Präsidentin kalation der Lage scheint nur eine Frage der Zeit zu sein.
Otunbajewa ist es zudem nicht gelungen, ehemalige Un-
Am kommenden Sonntag stehen Parlamentswahlen
terstützer des gestürzten Präsidenten Bakijew mit in die
bevor. Der Wahlkampf trägt seit Wochen zur Eskalation
Regierung zu holen. Dies wäre notwendig gewesen, um
der Lage bei. Es ist mehr als fraglich, ob diese Wahlen
die Macht im Süden des Landes zu etablieren. Dort lebt
eine stabile Regierung hervorbringen, da die Wahlbe-
der Großteil der usbekischen Minderheit, die etwa
rechtigten unter 29 Parteien wählen können, von denen
15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Süden
keine ihre Vorstellungen von der wirtschaftlichen und
ist ihr Anteil jedoch weitaus höher. Die usbekische Min-
politischen Zukunft des Landes klar und deutlich formu-
derheit ist wirtschaftlich besser gestellt als die Mehrheit
liert. Weniger politische Programme als der Machtan-
der Bevölkerung, politisch ist sie jedoch schwach. Füh- spruch konkurrierender Clans prägen die Parteienland-
rungspositionen in Verwaltung, Politik und Wirtschaft schaft. Die usbekische Minderheit fühlt sich von keiner
sind hauptsächlich von ethnischen Kirgisinnen und Kir- Partei vertreten.
gisen besetzt. Politische und soziale Spannungen sind
die Folge. Diesen Konflikt machten sich Bakijew und Viele Beobachter erwarten neuerliche Gewaltausbrü-
sein Umfeld im Juni zu nutze, um die Übergangsregie- che. Das Fergana-Tal, willkürlich aufgeteilt zwischen
rung durch gezielte Aufwiegelung der ethnischen Grup- drei Staaten, ist der geografische Krisenherd. Nicht nur
pen schachmatt zu setzen. der Staat Kirgisistan, sondern die ganze Region ist be-
7010 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 65. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. Oktober 2010

(A) droht. Autoritäre Staaten mit ethnischen und sozialen halb ist die Befassung des UN-Sicherheitsrates mit der (C)
Konflikten, latente Spannungen zwischen ihnen und die Situation in Kirgisistan notwendig. Welche Maßnahmen
Bedrohung durch Drogenhandel und den terroristischen sinnvoll und angemessen sind, bedarf einer genaueren
Islamismus aus den südlichen Nachbarn Afghanistan Analyse. Auf deren Grundlage muss über ein Paket aus
und Pakistan machen diesen Teil Zentralasiens zu einer wirtschaftlicher Hilfe, politischen Verhandlungen und
Gefahr für sich selbst und uns alle. der Herstellung und Wahrung von Sicherheit für die
Es ist unerlässlich, besonders Kirgisistan bei seinem Menschen nachgedacht werden. Dessen Umsetzung ist
wirtschaftlichen Aufbau zu unterstützen, da nur so den Aufgabe der Vereinten Nationen. Die maßgebliche Be-
Nationalisten der Boden entzogen werden kann. Auslän- teiligung der Europäischen Union ist dabei sicher unum-
dische Polizistinnen und Polizisten können das Problem gänglich. Vor allem aber liegt sie in unserem eigenen In-
nicht lösen. Es bedarf eines komplexen Instrumentari- teresse. Kirgisistan braucht die Hilfe der internationalen
ums der Krisenprävention und der Friedenssicherung. Gemeinschaft jetzt und nicht erst dann, wenn der Kon-
Dazu sind nur die Vereinten Nationen in der Lage. Des- flikt eskaliert ist.

(B) (D)

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ISSN 0722-7980

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