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Plenarprotokoll 17/69

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

69. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 27: Tagesordnungspunkt 28:


Erste Beratung des von den Fraktionen der Antrag der Abgeordneten Dr. Edgar Franke,
CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent- Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abge-
wurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des ordneter und der Fraktion der SPD: Patienten-
Rechts der Sicherungsverwahrung und zu schutz statt Lobbyismus – Keine Vorkasse
begleitenden Regelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung
(Drucksache 17/3403) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7437 A (Drucksache 17/3427) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7455 B
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7455 C
Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . 7437 B Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7457 A
Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7438 C Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 7457 C
Dr. Günter Krings (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7440 B Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7459 D
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7442 B Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . 7461 D
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7444 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7463 B
Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7446 A Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7465 B
Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . 7447 B Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . 7466 B
Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7467 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7447 C
Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7468 C
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7448 A Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7470 D

Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7448 B Hilde Mattheis (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7471 A

Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 7448 D Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7472 C

Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 7450 B Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . 7473 A

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 7452 A Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7473 D

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/


DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7452 C
Tagesordnungspunkt 29:
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7454 C Erste Beratung des von den Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent-
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 7454 D wurfs eines Gesetzes zur Ermittlung von
II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Regelbedarfen und zur Änderung des – zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias
Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz- W. Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dit-
buch trich, weiterer Abgeordneter und der Frak-
(Drucksache 17/3404) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7474 C tion DIE LINKE: Verbesserung der Ren-
tenanwartschaften von
Langzeiterwerbslosen
in Verbindung mit
– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias
W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiterer Abgeordneter und der
Zusatztagesordnungspunkt 8:
Fraktion der DIE LINKE: Schutz bei Er-
Antrag der Abgeordneten Fritz Kuhn, Markus werbsminderung umfassend verbes-
Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordne- sern – Risiken der Altersarmut verrin-
ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gern
NEN: Menschenwürdiges Dasein und Teil-
habe für alle gewährleisten – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.
(Drucksache 17/3435) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7474 D Wolfgang Strengmann-Kuhn, Katrin Göring-
Eckardt, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordne-
Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 7474 D ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN: Mindestbeiträge zur Renten-
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7476 A
versicherung verbessern, statt sie zu
Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7477 A streichen
Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7478 C (Drucksachen 17/1747, 17/1735, 17/256,
17/1116, 17/2436, 17/3477) . . . . . . . . . . . . . . 7491 B
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7480 A Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 7491 C
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0000 A
7492 D
BMAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7481 D
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . 7494 B
Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . 7482 D
Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7483 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . 7495 C

Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7485 A Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . 7496 D
Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . 7486 A
Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7498 A
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . 7487 A
Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 7499 A
7488 B
Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7489 D Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7499 B

Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . 7490 C

Tagesordnungspunkt 31:
Tagesordnungspunkt 30: Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Geset-
Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- zes zur erbrechtlichen Gleichstellung nicht-
schusses für Arbeit und Soziales ehelicher Kinder
– zu dem Antrag der Abgeordneten Anton (Drucksache 17/3305) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7500 A
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD: Das Risiko von Altersarmut durch Tagesordnungspunkt 32:
veränderte rentenrechtliche Bewertun-
gen von Zeiten der Langzeitarbeitslo- Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Britta
sigkeit und der Niedriglohn-Beschäfti- Haßelmann, Ute Koczy, weiterer Abgeordne-
gung bekämpfen ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN: Aufbauoffensive für Freiwilligendienste
– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias jetzt auf den Weg bringen – Quantität,
W. Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Qualität und Attraktivität steigern
Bunge, weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 17/3436) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7500 B
Fraktion DIE LINKE: Risiken der Al-
tersarmut verringern – Rentenbeiträge
für Langzeiterwerbslose erhöhen in Verbindung mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 III

Zusatztagesordnungspunkt 9: – Unterrichtung: Berufsbildungsbericht 2010


Antrag der Abgeordneten Sönke Rix, Petra (68. Sitzung, Tagesordnungspunkt 8)
Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeord-
Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7510 A
neter und der Fraktion der SPD: Chancen
nutzen – Jugendfreiwilligendienste stärken
(Drucksache 17/3429) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7500 C
Anlage 3
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7500 C
Beratung:
Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 7501 D
– Antrag: Bundesrechtliche Konsequenzen
Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7503 A aus der Rücknahme des deutschen Vorbe-
halts gegen die UN-Kinderrechtskonven-
Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . 7504 B tion ziehen
Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . 7505 D – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 7507 A Anträgen:
– Kinderrechte stärken – Erklärung zur
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7508 C UN-Kinderrechtskonvention zurückneh-
men
Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7508 D – UN-Kinderrechtskonvention umfassend
umsetzen
– UN-Kinderrechtskonvention unverzüg-
Anlage 1
lich vollständig umsetzen
Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7509 A
(68. Sitzung, Tagesordnungspunkt 24 a und b)
Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7511 D
Anlage 2
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur
Anlage 4
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts zu: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung
des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur erb-
– Antrag: Qualitätsoffensive in der Berufs-
rechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder
ausbildung
(Tagesordnungspunkt 31)
– Antrag: Berufliche Bildung als Garant zur
Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 7512 B
Sicherung der Teilhabechancen junger
Menschen und des Fachkräftebedarfs von Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7513 C
morgen stärken
Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 7514 A
– Antrag: Verordnungsermächtigung in § 43
Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 7514 D
Absatz 2 des Berufsbildungsgesetzes-
entfristen Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7515 B
– Antrag: Konsequenzen aus dem Berufsbil-
dungsbericht ziehen – Ehrliche Ausbil- Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär
dungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7516 A
für alle ermöglichen
– Antrag: Mehr Jugendlichen bessere Aus-
Anlage 5
bildungschancen geben – DualPlus unver-
züglich umsetzen Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7516 D
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7437

(A) (C)

Redetext

69. Sitzung

Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Beginn: 9.00 Uhr

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zum Jahr 2008 gab es immer wieder Änderungen bzw.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- Verschärfungen. Dies geschah meistens vor dem Hinter-
ginnen und Kollegen! grund ganz konkreter Einzelfälle, die zu aufgeregter Dis-
kussion in der Öffentlichkeit geführt haben. Deshalb ist
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
es gut, richtig und wichtig, dass nun versucht wird, diese
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Dauerbaustelle durch einen in sich geschlossenen Neu-
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines bau zu ersetzen, und zwar unter Berücksichtigung
Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der zweier wichtiger Anliegen. Auf der einen Seite sind
Sicherungsverwahrung und zu begleitenden rechtsstaatliche Kriterien strikt zu beachten; denn wer
Regelungen seine Strafe verbüßt hat, kann nur in Ausnahmefällen
nachträglich eingesperrt werden. Auf der anderen Seite
– Drucksache 17/3403 – sind die berechtigten Sicherheitsinteressen der Bevölke-
Überweisungsvorschlag: rung in jede Überlegung einzubeziehen.
(B) Rechtsausschuss (f) (D)
Innenausschuss Drittens ist es notwendig, ein größeres, in sich neu
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit ausgerichtetes und widerspruchsfreies Konzept auf den
Tisch zu legen. Denn aufgrund des Urteils des Europäi-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schen Gerichtshofs für Menschenrechte – es ist im Mai
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt dieses Jahres rechtskräftig geworden – ist es zur Entlas-
es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann sung einzelner als gefährlich eingestufter Straftäter ge-
ist das so beschlossen. kommen. Ich glaube, wir alle erinnern uns an die Be-
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- richterstattung, an die Sorgen und Nöte. Daher besteht
nerin das Wort der Bundesministerin Sabine die Notwendigkeit, sich jetzt ruhig, sachlich und rechts-
Leutheusser-Schnarrenberger. staatlich mit diesen Herausforderungen zu befassen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Dies geschieht durch den Gesetzentwurf der Koali-
der CDU/CSU) tionsfraktionen in drei Punkten. Die Sicherungsverwah-
rung wird für die Zukunft neu ausgerichtet. Die primäre
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- Sicherungsverwahrung wird auf den notwendigen Be-
ministerin der Justiz: reich beschränkt, und zwar im Kern auf Gewalt- und Se-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- xualdelikte sowie gemeingefährliche Straftaten. Gewalt-
gen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll ein ganz lose Vermögensdelikte nicht mehr zu den Anlasstaten für
sensibler Bereich neu justiert und ausgerichtet werden. die Anordnung von Sicherungsverwahrung zu zählen,
Es ist notwendig, dies zu tun, und zwar in dreierlei Hin- kann ja nur Konsens in diesem Hause sein und ist rechts-
sicht. staatlich geboten.

Erstens muss die Sicherungsverwahrung wegen des (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tiefen Eingriffs in das Leben eines Verurteilten, der seine der CDU/CSU)
Strafe verbüßt hat, streng rechtsstaatlich ausgestaltet
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Erwach-
sein. Sie muss letztes Mittel der Kriminalpolitik, also
sene wird auf einen engen Bereich begrenzt und sonst im
Ultima Ratio, bleiben.
Grundsatz abgeschafft. An ihr haben sich immer wieder
Zweitens ist am Recht der Sicherungsverwahrung in viele Debatten entzündet, aber sie spielt letztlich in der
den letzten Jahren immer wieder – ich kann es nicht an- Praxis nicht die Rolle, die ihr immer zugemessen wird.
ders formulieren – herumgebastelt worden. Von 1995 bis Außerdem gibt es vor dem Hintergrund der Vereinbar-
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Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) keit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention ten neu ausrichtet, der aber auch eine Antwort auf aktu- (C)
berechtigte Zweifel und anhängige Verfahren, sodass ei- elle Probleme gibt.
gentlich mit ihr eher mehr Probleme bestehen, als mit ihr
gelöst werden. Deshalb richten wir die primäre und die Recht herzlichen Dank.
vorbehaltene Sicherungsverwahrung neu aus. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung wird aus-
gedehnt – sie kann bei schweren Delikten auch auf Erst- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
täter angewandt werden –, und es wird die Frist verlän- Das Wort hat jetzt der Kollege Olaf Scholz von der
gert, innerhalb derer bei einer vorbehaltenen SPD-Fraktion.
Sicherungsverwahrung ein Gericht entscheiden kann, ob
die Voraussetzungen bei Haft und nach Haftverbüßung (Beifall bei der SPD)
vorliegen oder nicht.
Olaf Scholz (SPD):
Wir ergänzen dieses Konzept mit einer weiteren Maß- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
nahme im Bereich der Führungsaufsicht, einer elektro- Kollegen! Wir diskutieren über ein sehr ernstes Thema,
nischen Aufenthaltsüberwachung, die ja Sicherungs- über die Sicherungsverwahrung, eine Angelegenheit, die
verwahrung nicht ersetzt, sondern ein Hilfsmittel, eine juristisch nicht einfach ist und die es auch immer not-
Unterstützung in angemessenen Situationen sein kann. wendig macht, sorgfältig darüber nachzudenken, was der
Ich denke, damit werden wir auch dem berechtigten An- Staat in dieser Hinsicht tut und wie er seine Gesetze or-
liegen derjenigen, die sich mit diesen Aufgaben zu be- ganisiert und ausrichtet. Es herrscht weitgehend große
fassen haben, gerecht. Wir kennen alle die Bilder vom Einigkeit darüber, dass wir in Deutschland so etwas wie
Einsatz von 20 Polizeibeamten, um einen als gefährlich die Sicherungsverwahrung benötigen. Sie ist in den letz-
eingestuften Täter, der entlassen worden ist, so zu über- ten Jahren im Rahmen mehrerer Gesetzentwürfe be-
wachen und zu betreuen, dass es nicht zu Taten kommen schlossen worden, zwar in ganz unterschiedlichen politi-
kann. schen Konstellationen, aber immer in der Überzeugung,
Ein weiterer und auch wichtiger Baustein ist der Ent- dass es im Prinzip richtig ist, so etwas wie die Siche-
wurf eines Gesetzes zur Therapierung und Unterbrin- rungsverwahrung zu haben.
gung psychisch Gestörter als Übergangslösung für so- Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs
genannte Altfälle, also für die Personen, die durch das für Menschenrechte hat uns vor eine ganz neue Heraus-
Straßburger Urteil vom Mai dieses Jahres betroffen sind forderung gestellt, die wir bewältigen müssen. Das Pro-
(B) und aus Sicherungsverwahrung schon entlassen worden blem, das den Gesetzgeber immer wieder dazu bewegt (D)
sind oder bei denen diese Entlassung bevorsteht. hat, Gesetze zur Sicherungsverwahrung auf den Weg zu
bringen, ist damit allerdings nicht vom Tisch. Deshalb
Wir alle kennen das Urteil des Europäischen Ge- muss dringend eine Lösung gefunden werden.
richtshofs für Menschenrechte und die engen Vorgaben,
die dort gemacht worden sind. Deshalb wird hier ein Viele Bürgerinnen und Bürger fühlen sich bedroht
Aliud, etwas anderes, als Möglichkeit zur Therapierung aufgrund der Gefahren, die von denjenigen ausgehen
und Unterbringung gewählt. Das ist nicht Sicherungs- können, die von Gerichten in eine Sicherungsverwah-
verwahrung, sondern es ist ein besonderes Verfahren, ein rung verbracht worden sind. Wir als Gesetzgeber müssen
Zivilverfahren vor den Zivilkammern mit zwei externen dem Bundesverfassungsgericht, das sich demnächst mit
Gutachtern, die darüber zu entscheiden haben, ob die diesem Thema befassen wird, unsere Vorstellungen im
eng gefassten Voraussetzungen für eine mögliche Unter- Hinblick auf eine künftige Regelung mitteilen; der Präsi-
bringung zur Therapie in geeigneten Einrichtungen vor- dent des Bundesverfassungsgerichts hat per Zeitungs-
liegen. Das ist eine große Herausforderung für die Län- interview ausdrücklich darum gebeten.
der, die für diese geeigneten Einrichtungen zuständig
sind, in denen Therapie erfolgen muss. Es kann eben (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja! Das ist
nicht Strafvollzug und es kann auch nicht eine Zelle ne- ungewöhnlich!)
ben dem Strafvollzug sein, ohne dass das inhaltliche An- Insofern müssen wir das, was wir uns jetzt vornehmen,
gebot geändert worden ist. auch tun.
Dieses Verfahren ist eng mit ganz strikten und immer Wir müssen ein Gesetz auf den Weg bringen – auch
wieder greifenden Rechtsbehelfsmöglichkeiten auf der dies will ich nicht unerwähnt lassen –, das den Vorgaben
Grundlage des Art. 5 der Europäischen Menschenrechts- des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ent-
konvention ausgestaltet. In den Debatten haben wir spricht. Wir müssen einen guten Umgang mit dem Euro-
wirklich sehr intensiv diskutiert, abgewogen und haben päischen Gerichtshof für Menschenrechte pflegen. Denn
uns letztlich für diesen eng begrenzten Rahmen entschie- die größte Demokratie in Europa hat die wichtige Auf-
den, der in meinen Augen nicht mehr Spielraum für wei- gabe, sicherzustellen, dass die Entscheidungen, die er
tere Ausweitungen insgesamt lässt. trifft, respektiert und beachtet werden.
Ich denke, es ist ein Gesetzentwurf, der wirklich ein (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef
ausgewogenes Gesamtkonzept beinhaltet, der Siche- Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
rungsverwahrung strikt nach rechtsstaatlichen Konzep- NEN])
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7439
Olaf Scholz
(A) Zu dem Thema, über das wir zu diskutieren haben, Wenn man ihn geht, ist es leichter, eine Sicherungs- (C)
gehört auch die Frage, wie wir dabei miteinander umge- verwahrung zu beschließen, sich ihre Anordnung vorzu-
hen. Ich will ausdrücklich sagen, dass mich bedrückt, behalten und noch während der Strafhaft den Vollzug der
wie lange es gedauert hat, bis wir zu diesem Gesetzge- Sicherungsverwahrung festzusetzen. Es geht also um
bungsverfahren gekommen sind. Das wäre schneller drei Entscheidungen, die vor dem Hintergrund der Be-
nötig und auch schneller möglich gewesen. schränkung der Fälle, in denen eine Sicherungsverwah-
rung angeordnet werden darf, gut begründet sein müs-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef sen. Allerdings – ich sage es noch einmal – ist dies im
Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vorliegenden Gesetzentwurf keineswegs in allen Einzel-
NEN] – Jörg van Essen [FDP]: Das ist nun heiten geschehen und gelungen. Deshalb muss man die
einmal eine äußerst komplexe Materie!) geplanten Regelungen noch einmal daraufhin überprü-
Es wäre auch deshalb schneller möglich gewesen, fen, ob sie wirklich passgenau sind.
weil nicht nur die sozialdemokratischen Abgeordneten, Wir sind bereit, weiterhin mit Ihnen zu diskutieren
sondern auch alle anderen Oppositionsfraktionen in die- und uns konstruktiv einzubringen, wenn es darum geht,
sem Parlament wiederholt gesagt haben: Wir sind bereit, eine Lösung im Hinblick auf psychisch gestörte Ge-
konstruktiv mitzuarbeiten und mitzuhelfen. Wir glauben, walttäter bzw. die sogenannten Altfälle dieser Art zu
dieses Problem ist nicht nur ein Problem der Regierung, finden.
sondern es betrifft das gesamte Parlament und alle, die
Verantwortung tragen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Schlimm!)
Wir waren ein bisschen irritiert, wie lange dieser Pro-
zess gedauert hat und wie wenig der Versuch unternom- Das wird nicht einfach; denn es ist nicht gerade leicht,
men wurde, die Opposition und die Länder in den Ent- eine Lösung für diese Fälle zu finden. Es wäre ganz ein-
scheidungsprozess einzubinden. Das ist ein Problem, fach, wenn alle Oppositionsfraktionen sagen würden:
weil mit den gewählten Lösungen auch Konsequenzen, Das Problem haben ja nicht wir, soll die Regierung doch
zum Beispiel für die Länder, verbunden sind. Die Länder sehen, wie sie damit zurande kommt. – Das kann es
müssen jetzt schnell mitmachen, damit es nicht an Zü- nicht sein.
gigkeit mangelt. Insofern glauben wir, dass man das Ganze sorgfältig
beraten muss und dass wir in den konkreten Diskussio-
(Otto Fricke [FDP]: Aber interessiert scheinen
nen über den Gesetzentwurf schauen müssen, ob das
sie nicht zu sein!)
funktioniert. Wir raten uns selbst und auch den Regie-
(B) Es wäre gut gewesen, wenn man rechtzeitig darauf ge- rungsparteien und der Regierung, den Sachverständigen, (D)
achtet hätte, sie in diesen Prozess einzubinden. Ich hoffe, die angehört werden, genau zuzuhören. Es kann sein,
dass dies noch geschieht und man sich aktiv darum be- dass wir hinsichtlich der Frage, was man tun kann, zu
müht. Im Übrigen will ich Ihnen gerne versichern, dass veränderten Erkenntnissen im Detail kommen. Im Gro-
wir uns von der fehlenden Einbindung der Länder in die- ßen und Ganzen ist es aber vernünftig, dass wir jetzt
sen Diskussionsprozess nicht abschrecken lassen, son- nicht einfach zuschauen, wie gefährliche Täter in der
dern uns weiterhin konstruktiv beteiligen. Bundesrepublik möglicherweise Straftaten verüben und
Bürgerinnen und Bürger in Gefahr bringen, weil wir
(Beifall bei der SPD) nicht überlegt haben, was man tun kann, und wir deswe-
gen keine Handhabe dagegen haben.
Zur Sache. Der Weg, der im vorliegenden Gesetzent-
wurf vorgeschlagen wird, ist ein Weg, den wir für gang- Wir haben genau hingeschaut und sind deshalb der
bar halten und den wir gerne mitgehen wollen. Es ist Meinung, dass es eine berechtigte Hoffnung der Bundes-
notwendig, eine Neuregelung zur Sicherungsverwah- regierung und der antragstellenden Fraktionen ist, dass
rung zu treffen, und es ist richtig, dass wir die nachträgli- das Ganze auch mit der Europäischen Konvention für
che Sicherungsverwahrung mit Blick auf künftige Fälle Menschenrechte vereinbar ist.
abschaffen und durch ein anderes System, das auch uns
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
geeigneter erscheint, ersetzen. Insofern findet der Weg,
NEN]: Das wird es nicht!)
der im vorliegenden Gesetzentwurf vorgeschlagen wird,
unsere Unterstützung, zwar nicht in allen Details – da- Das ist aber kein leichter Weg; denn wir haben Regelun-
rüber muss in den Ausschüssen und Anhörungen beraten gen für die psychisch Gestörten – für die psychisch
werden; das ist eine notwendige Debatte –, aber im Kranken gibt es sie schon – zu treffen. Darüber kann
Grunde. man als Jurist und Juristin sorgfältig streiten. Wir glau-
ben, dass die Regelungen vertretbar sind, wollen in den
Ich glaube, dass es vernünftig ist, die Fälle, in denen konkreten Beratungen aber sehr genau überprüfen und
eine Sicherungsverwahrung angeordnet wird, auf Straf- schauen, ob man das auch in allen Details so machen
taten, die gegen die körperliche Unversehrtheit, das Le- kann, wie das jetzt mit dem Gesetzentwurf vorgelegt
ben und die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen worden ist.
gerichtet sind, zu beschränken. Es ist noch zu prüfen, ob
diese Maßgabe im vorliegenden Gesetzentwurf durch- Mein Rat zum weiteren Umgang mit diesem Gesetz-
gängig eingehalten wird. Im Großen und Ganzen ist aber entwurf und hinsichtlich der Beratungen, die jetzt fol-
genau dieser Weg richtig. gen, lautet deshalb: Wir sollten ruhig bleiben – das ist
7440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Olaf Scholz
(A) notwendig –, wir sollten sehr ernst bleiben – das ist auch (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
notwendig –, und wir sollten bereit sein, zu akzeptieren, NEN]: Beileibe nicht erreicht!)
dass vielleicht nicht alles, was in dem heute erstmals be-
ratenen Gesetzentwurf steht, am Ende auch so stehen Das Recht der Sicherungsverwahrung wird endlich ein
bleibt. Die Regierungsparteien und die Regierung sollten Recht aus einem Guss, und wir bieten den Menschen
schon bei den Beratungen des Bundestages und parallel mehr Schutz vor hochgefährlichen Tätern.
dazu auch gemeinsam mit den Ländern den Versuch ma-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
chen, einen Weg zu finden, wie das möglichst zügig
dann auch gemeinschaftlich getragen werden kann. Dass wir hier bei aller gebotenen Sorgfalt trotzdem
Ich will deshalb zum Schluss ein Plädoyer für die zügig handeln mussten, hängt in der Tat mit den Ent-
16 Länder der Bundesrepublik Deutschland halten und scheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
auf ihre Probleme und Fragen hinweisen. Die Lösung, Menschenrechte zusammen. Dieser hat – auch das
die gerade für die psychisch gestörten Gewalttäter ge- muss hier noch einmal erwähnt werden – in der vergan-
funden worden ist, führt dazu, dass bei den Ländern genen Woche in dankenswerter Klarheit das Rechtsinsti-
Mehrausgaben entstehen und dass neue Aufgaben zu er- tut der Sicherungsverwahrung in Deutschland bestätigt
füllen sind. Ich glaube, dass man jetzt nicht sagen kann, und als mit der Menschenrechtskonvention vereinbar er-
das sei ganz alleine deren Problem. Es wird wichtig sein, klärt. Aber er hat im vergangenen Jahr – das hat er im
dass man diesen Prozess als eine gemeinsame nationale Mai dieses Jahres noch einmal bestätigt – für eine be-
Aufgabe begreift, dass sich also bei der Beratung dieser stimmte Gruppe hochgefährlicher Täter eine Sicherungs-
Dinge ein entsprechendes Verhältnis zwischen der Re- verwahrung und auch ihre Verlängerung abgelehnt,
gierung und der Opposition und vielleicht auch zwischen wenn die gesetzliche Grundlage dafür erst nach der Tat
dem Bund und den Ländern entwickelt, indem gesagt geschaffen wurde.
wird: Wir sollten dieses Problem jetzt nicht einfach auf- Meine Damen und Herren, wenn insbesondere die
einander abschieben, sondern wir sollten versuchen, es grüne Fraktion am gestrigen Abend nicht versucht hätte,
gemeinsam zu lösen. das unserem Parlamentsrecht unbekannte System des Fi-
Wenn dieser Weg beschritten wird, dann können wir libusterns in die Tradition des deutschen Parlaments ein-
bei einem so schwierigen und ernsten Thema auch etwas zuführen, hätten wir gestern Abend eine interessante
Gutes für das Land und für die Strafrechtskultur dieses Debatte zum 60. Jahrestag der Europäischen Menschen-
Landes tun. rechtskonvention am 4. November führen können. Sie
musste leider abgesetzt werden. Das hätte gestern Abend
Schönen Dank. – das tue ich aber gerne hier – Gelegenheit gegeben, auf
(B) die Bedeutung dieser Menschenrechtskonvention und (D)
(Beifall bei der SPD)
darauf hinzuweisen, dass auch schmerzhafte Urteile wie
das zu einem strengen Rückwirkungsverbot von uns
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: selbstverständlich akzeptiert und befolgt werden, zumal
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Günter Krings von Deutschland nicht nur von Anbeginn bei der Menschen-
der CDU/CSU-Fraktion. rechtskonvention dabei war, sondern auch für diese Eu-
ropäische Menschenrechtskonvention immer geworben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) hat.

Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Ich sage es aber ganz deutlich: Zu einem offenen
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Grundrechtsdialog in Europa gehört auch, dass wir Judi-
Herren! Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur kate des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
Sicherungsverwahrung legen wir dem Hause ein wichti- kritisch begleiten dürfen und müssen.
ges Vorhaben der christlich-liberalen Regierung auf dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gebiet der Rechtspolitik vor.
Weiter sage ich in aller Offenheit – und im Einklang
Unterschiedliche Koalitionen mit unterschiedlichen
mit weiten Teilen auch der deutschen Strafrechtswissen-
Mehrheiten – auch unter Beteiligung der Grünen – haben
schaft – sehr deutlich, dass die Urteile des Europäischen
in den letzten über zehn Jahren viele Ergänzungen und
Menschenrechtsgerichtshofs vom Dezember letzten Jah-
Erweiterungen des bewährten und schon relativ alten
res und vom Mai dieses Jahres kein Ruhmesblatt in der
Rechtsinstituts der Sicherungsverwahrung vorgelegt.
Geschichte dieses Menschenrechtsgerichtshofs waren.
Das war jeweils – darin stimme ich Ihnen ausdrücklich
zu, Herr Kollege Scholz – gut begründbar. Es ist aber ein (Christoph Strässer [SPD]: Hört! Hört! – Jerzy
kompliziertes – manche sagen sogar: verworrenes – Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na
Konglomerat aus strafrechtlichen Regelungen entstan- so was! Der Schutz der Menschenrechte!)
den. Die christlich-liberale Bundesregierung ist gemäß
dem Koalitionsvertrag bereits mit dem Ziel angetreten, Die Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung mit
dieses Rechtsinstitut übersichtlich neu zu ordnen und Strafhaft hat aus meiner Sicht ganz zentral damit zu tun,
Schutzlücken zu schließen. Genau diese beiden Zielset- dass sich das Gericht in Bezug auf die Fakten nicht aus-
zungen erreichen wir mit dem heute vorgelegten Ent- reichend mit der Praxis und dem System des deutschen
wurf. Strafrechts befasst hat.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7441
Dr. Günter Krings
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – terschied zwischen uns und anderen Stimmen in der (C)
Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Debatte war, dass wir nicht resigniert und nicht immer
Ja, ja! Machen Sie nur so weiter!) nur gesagt haben, was alles nicht geht. Es gibt in der Tat
enge Grenzen. Es gibt Begrenzungen, aber wir müssen
Es stimmt mich auch befremdlich, dass ein so folgen- uns auf die verbleibenden Möglichkeiten konzentrieren.
schwerer Eingriff in ein Herzstück einer nationalen
Strafrechtsordnung nicht einmal von der Großen Wir halten Resignation für den falschen Ratgeber bei
Kammer des Gerichts entschieden wurde. diesem für die Sicherheit unserer Gesellschaft so wichti-
gen Thema. Deshalb haben wir von Anfang an versucht
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So
und es mit dem Gesetzesvorhaben auch geschafft, alle
schlecht war die Argumentation!) Möglichkeiten der Europäischen Menschenrechtskon-
Meine Damen und Herren, als Folge dieser Entschei- vention auszuschöpfen, um Freilassungen zu verhindern
dungen ist inzwischen eine größere Zahl hochgefährli- und bereits Freigelassene wieder in Verwahrung zu neh-
cher Straftäter entlassen worden. Es sind Täter, die von men.
Gerichten und Gutachtern übereinstimmend und klar für Dafür haben wir das Gesetz zur Therapierung und
ein großes Sicherheitsrisiko gehalten werden. Sobald sie Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter vor-
in Freiheit sind, müssen sie in der Regel rund um die Uhr gesehen. Denn wir nehmen die Europäische Menschen-
von Polizisten überwacht werden. Ich kann deshalb der rechtskonvention nicht nur da ernst, wo sie uns beson-
Deutschen Polizeigewerkschaft nur beipflichten, wenn dere Grenzen auferlegt, die über das nationale Recht
sie erklärt, dass solche – so das Zitat – „tickende Zeit- hinausgehen, sondern auch dort, wo sie vielleicht neue
bomben“ nicht in Freiheit, sondern hinter Gittern gehö- Möglichkeiten und Handlungsspielräume eröffnet, die
ren. das nationale Recht bisher nicht eröffnet hat, zum Bei-
Als Beispiel will ich nur auf die Situation im Südwes- spiel über die PsychKG-Gesetzgebung.
ten unserer Republik – in Freiburg – hinweisen. Dort (Beifall bei der CDU/CSU)
sind aufgrund von Entscheidungen des Oberlandesge-
richts Karlsruhe inzwischen sechs Sicherungsverwahrte Die Ministerin hat darauf hingewiesen: Als Unter-
in Freiheit gekommen. Einer von ihnen wurde 1975 zu bringungsgrund verlangt Art. 5 der Europäischen Men-
15 Jahren Haft wegen Mordes in Tateinheit mit dem se- schenrechtskonvention eben keine psychische Erkran-
xuellen Missbrauch eines Kindes verurteilt. Schon zuvor kung, wie es unsere Landesgesetze in der Regel
war er wegen zwei Vergewaltigungen, zwei versuchter vorschreiben. Vielmehr reicht nach der Europäischen
Vergewaltigungen und einer Reihe weiterer Delikte ver- Menschenrechtskonvention – wenn man ihren Wortlaut
urteilt worden. ernst nimmt, was wir tun – jede spezifische Störung der
(B) (D)
Persönlichkeit, also auch ein gestörtes Verhältnis zur Se-
Vier weitere Sexualstraftäter sind nach zahlreichen xualpräferenz, Pädophilie und Ähnliches. Diese weitere
einschlägigen Taten zu je fünf Jahren Haft verurteilt Regelungsmöglichkeit erfasst auch bereits entlassene
worden. Diese fünf müssen rund um die Uhr von mehre-
Täter und erstreckt sich in unserem Entwurf darauf,
ren Polizisten überwacht werden. Sie sind jederzeit rück- diese zur Begutachtung wieder vorläufig festzuhalten.
fallgefährdet. Ein sechster Gewalttäter muss jedenfalls
zeitweise überwacht werden. Hierfür werden zurzeit Allen eben erwähnten Sexualstraftätern aus Freiburg
181 Polizeibeamte im Einsatz benötigt. Sie haben bis- wurde eine Therapie angeboten. Alle diese Täter haben
lang knapp 16 000 Dienststunden rein zu diesem Zweck die Therapie abgelehnt. Für mich sind das klassische
geleistet. Weit über eine halbe Million Euro Kosten sind Anwendungsfälle für das neue Gesetz.
hier angefallen. Das gehört auch zur Wahrheit, wenn wir
Unterbringung und Therapie verfolgen auch das Ziel,
an dieser Stelle über die Kosten und Lasten der Länder
den Betroffenen in Aussicht zu stellen, als geheilt und
reden.
ungefährlich entlassen zu werden. Wer meint, dieses
Aber ich sage ganz klar: Die personellen Ressourcen, neues Instrument sei eine bloße Umetikettierung der Si-
die man einsetzt, und auch die Kosten sind gar nicht das cherungsverwahrung, der ignoriert nicht nur das Schutz-
entscheidende Problem. Das muss ein Rechtsstaat in be- interesse der Allgemeinheit, sondern tritt auch die Be-
stimmten Fällen vielleicht leisten. Wir verlangen von un- handlungschancen der betroffenen Schwerverbrecher
seren Polizeibeamten – das ist das Problem – aber etwas mit Füßen.
Unmögliches. Wir wollen, dass sie uns wirklich lücken-
Meine Damen und Herren, unser Rechtsstaat hat eine
los vor diesen gefährlichen Straftätern schützen, die auf-
Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgern. Freiheit, kör-
grund ihrer Anlage jederzeit losschlagen können. Das
perliche Unversehrtheit und Leben müssen aktiv und ef-
können wir von ihnen beim besten Willen und bei höchs-
fektiv verteidigt werden. Genau das ist der Leitgedanke
tem Engagement einfach nicht erwarten. Wir können,
unseres Gesamtkonzepts, das die Sicherheitsverwah-
um es auf den Punkt zu bringen, von einem Polizisten in
rung insgesamt neu ordnet. Ich will das mit drei Stich-
Freiburg nicht erwarten, dass er allein die Schutzlücken
punkten aufzeigen: Wir haben deutliche Verbesserungen
wieder stopft, die ein Richter in Straßburg aufgerissen
und Erweiterungen bei der vorbehaltenen Sicherungs-
hat.
verwahrung vorgesehen. Wir verdoppeln die Frist für die
Für CDU und CSU war bei der Debatte von vornhe- Rückfallverjährung bei gefährlichen Sexualstraftätern
rein klar, dass wir alles versuchen müssen, um diese Tä- auf zehn Jahre. Und wir schaffen unter anderem die
ter wieder hinter Schloss und Riegel zu bringen. Der Un- Möglichkeit einer „elektronischen Fußfessel“. Die
7442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Dr. Günter Krings


(A) Ministerin hat recht: Das ist kein Ersatz für eine Verwah- ten und Begründung. Als Krönung kommt hinzu, dass (C)
rung. Aber in den Fällen, in denen es nicht angezeigt der Gesetzentwurf in Teilen anders aussieht als die Eck-
oder möglich erscheint, einen Täter in Verwahrung zu punkte und die Presseerklärung der Justizministerin.
nehmen, ist es eine Möglichkeit, die schwere Arbeit der Ich finde das nicht akzeptabel.
Polizei zu entlasten und die Sicherheit der Bürger zu er-
(Beifall bei der LINKEN)
höhen.
Reden wir über die Sicherungsverwahrung, dann reden
Leben und Gesundheit der Menschen müssen wir ge-
wir über ein hochsensibles und emotional aufgeladenes
rade vor Straftätern schützen. Das ist eine der Kernauf-
Thema. Ob Bild, BZ oder ein ehemaliger Bundeskanzler,
gaben unseres Staates und unsere Pflicht als Mitglieder
das Prinzip „Wegsperren für immer“ hat Hochkonjunktur,
des Parlaments, des Deutschen Bundestages. Es ist daher
mindestens seit 1998. Dabei wäre es Aufgabe der Politik,
aus meiner Sicht unverantwortlich, immer nur zu sagen,
insbesondere der Rechtspolitik, über schwierige Themen
was alles nicht geht, statt dieses Schutzbedürfnis ent-
sachlich und seriös zu debattieren. Das schließt populis-
sprechend ernst zu nehmen.
tische und stammtischorientierte Reden und Gesetze aus.
Diese Schutzpflicht speist sich übrigens nicht nur aus
(Beifall bei der LINKEN)
Art. 2 des Grundgesetzes, wenn es um Leben und Ge-
sundheit geht, sondern auch aus Art. 2 der Europäischen Die Sicherungsverwahrung wird in der Praxis tatsäch-
Menschenrechtskonvention. Wer das ausblendet, tut lich eher als zusätzliche Strafe wahrgenommen. Sie ist
nichts besonders Gutes für das Image der Europäischen – das wissen Sie alle – ein rechtlich höchst umstrittenes
Menschenrechtskonvention in Deutschland. Instrument. Die Strafverteidigervereinigung und der RAV
fordern die Abschaffung der Sicherungsverwahrung als
Für das Thema Freiheit und Sicherheit wäre schon Fremdkörper im Strafrecht. Sie sind nicht allein. Es
viel gewonnen, wenn diejenigen, die durchaus zu Recht handelt sich nicht um eine vom Himmel gefallende De-
auf die Grundrechte der Täter hinweisen, auch zur batte, die der Strafrechtswissenschaft unbekannt ist. 1934
Kenntnis nehmen würden, dass dieselben Grundrechte in unter den Nazis eingeführt, fristete die Sicherungsver-
ihrer Schutzpflichtenfunktion auch die Bürger schützen wahrung nach der Strafrechtsreform 1975 eher ein Schat-
und den Staat zum Schutzhandeln verpflichten. tendasein. Seit 1998, ergänzt 2002 und 2004, erlebte sie
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine Renaissance. Alle Parteien außer der FDP und der
neten der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Linken haben sich daran beteiligt. Nunmehr beteiligt sich
DIE GRÜNEN]: Das bestreitet doch über- auch die FDP an dieser Renaissance.
haupt niemand!) Nach der Koalitionsvereinbarung sollte die Siche-
(B) – Das ist ja schön. rungsverwahrung den Ausnahmecharakter beibehal- (D)
ten und auf schwerste Fälle beschränkt sein. Nach dem
Die Menschen in unserem Lande wissen, dass die in- vorliegenden Gesetzentwurf sage ich Ihnen: Die Koali-
nere Sicherheit bei der CDU/CSU gut aufgehoben ist. tionsvereinbarung ist das Papier nicht wert, auf dem sie
Wir richten unsere Politik darauf aus, dass aus Bürgern steht.
keine Opfer werden. In diesem Punkt arbeiten wir in der
christlich-liberalen Koalition gut zusammen. Dafür bie- (Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich
ten wir die Zusammenarbeit auch all jenen Kräften in [DIE LINKE]: Das ist aber nichts Neues!)
diesem Hause an, denen dieses Ziel ebenso wichtig ist Schon jetzt ist die Sicherungsverwahrung nicht Ultima
wie uns. Ratio. Entgegen dem medial vermittelten Bild sind eben
Vielen Dank. nicht nur Gewalt- und Sexualstraftäter betroffen. Auch
Straftäter, die wegen Betrugs- und Diebstahlsdelikten,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Brandstiftung und – in geringem Maße – sogar wegen
neten der FDP) Nötigung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
verurteilt worden sind, sitzen in Sicherungsverwahrung.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Voraussetzung für die Sicherungsverwahrung ist ein
Das Wort hat jetzt die Kollegin Halina Wawzyniak Hang zu gefährlichen Straftaten. Nach dem BGH handelt
von der Fraktion Die Linke. es sich um einen „eingeschliffenen inneren Zustand“, der
immer wieder zu Straffälligkeit führt. Voraussetzung für
(Beifall bei der LINKEN) die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist die Ein-
schätzung im Rahmen einer Prognoseentscheidung. Die
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): Hamburger Oberärztin Marianne Röhl bringt es auf die
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Formel: „Die Hälfte der Patienten sitzt zu Unrecht ein,
ren! Wir reden hier nicht über irgendetwas, sondern über aber welche Hälfte es ist, das weiß ich nicht.“ Genau das
den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts ist der Punkt. Niemand kann eine sichere Prognose über
der Sicherungsverwahrung. Das heißt, wir reden über zukünftige Straffälligkeit treffen. Trotzdem werden Men-
den schwersten und schwerwiegendsten Eingriff, den schen ihrer Freiheit beraubt.
das deutsche Strafrecht zur Verfügung stellt. Ich finde, es
(Beifall bei der LINKEN)
ist dem Thema völlig unangemessen, dass der Gesetz-
entwurf erst Dienstagabend zwischen 19.30 und 21 Uhr Kommen wir zum Gesetzentwurf. Trotz all dieser of-
im Intranet abrufbar war, ein Gesetzentwurf mit 98 Sei- fenen Fragen wollen Sie die Sicherungsverwahrung de
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7443
Halina Wawzyniak
(A) facto ausweiten. Sie sind da ganz offen und erwähnen Sie lassen die Katze aus dem Sack, indem Sie erklä- (C)
das auf Seite 53 des Gesetzentwurfs. Ich finde das sehr ren, dass die Ausweitung der primären und vorbehalte-
bemerkenswert; denn Sie benennen im Gesetzentwurf nen Sicherungsverwahrung die nachträgliche Siche-
überhaupt keinen Anlass für die Ausweitung. Mit dem rungsverwahrung ersetzt, und über Umwege setzen Sie
Prinzip der Ultima Ratio hat Ihr Gesetz jedenfalls nichts rechtstaatliche Hürden herab. Ich zitiere aus dem Ge-
zu tun. Das kann man auch nicht mit Rückfallzahlen und setzentwurf:
Gefährlichkeit begründen; denn dafür gibt es keine em-
Schließlich lässt sich durch den Ausbau der primä-
pirische Grundlage, ganz im Gegenteil. Sie alle kennen
die Studie von Michael Alex. Nicht nur diese Studie geht ren und vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für
„Neufälle“ auch die bei der nachträglichen Siche-
davon aus, dass sich die Quote der Rückfalltäter auf
rungsverwahrung … nahezu vorprogrammierte Si-
10 bis 15 Prozent beläuft.
tuation vermeiden, dass ein vom Gericht als gefähr-
Was macht Ihren Gesetzentwurf so inakzeptabel? Be- lich eingestufter Straftäter entlassen werden muss,
ginnen wir mit der anfänglichen Sicherungsverwahrung. weil die hohen, aber rechtstaatlich gebotenen An-
Sie ist nach dem Gesetzentwurf nicht letztes Mittel der ordnungsvoraussetzungen … nicht erfüllt sind.
Kriminalpolitik. Nach dem Gesetzentwurf sind Anlass-
straftaten für die Anordnung der Sicherungsverwahrung Der Höhepunkt des Gesetzes ist allerdings das Unter-
noch immer der Bandendiebstahl und der Wohnungsein- bringungsgesetz.
bruchsdiebstahl. Richtig absurd wird es, wenn man sich (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ja, das Ge-
darauf beruft, dass die Straftaten des 28. Abschnittes des setz besteht nur aus Höhepunkten!)
StGB ebenfalls dazugehören. Das sind unter anderem
Brandstiftungsdelikte und unterlassene Hilfeleistung. Ihr Damit umgehen Sie das Urteil des Europäischen Ge-
Anspruch ist, die Sicherungsverwahrung für schwerste richtshofes für Menschenrechte. Soweit mir ersichtlich,
Fälle zu regeln. Wenn aber die erwähnten Delikte als An- trifft dieses Unterbringungsgesetz – außer in den Reihen
lassstraftaten in Betracht kommen, dann offenbart das ein der Koalition – auf einhellige Ablehnung. Die Neue Rich-
eigenartiges Verständnis von schwersten Fällen. tervereinigung wirft Ihnen vor, Sie verlassen damit den
Boden der verfassungs- und menschenrechtlichen Vorga-
(Beifall bei der LINKEN) ben. Und tatsächlich wollen Sie mit diesem Unterbrin-
Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ist der ei- gungsgesetz eine Tätergruppe, die nach den Vorgaben der
gentliche Ausbau der Sicherungsverwahrung. Der schon Europäischen Menschenrechtskonvention in Freiheit zu
angesprochene Hang muss jetzt nur noch wahrscheinlich belassen ist, durch den weiten Begriff „psychische Stö-
und nicht mehr sicher sein. Das heißt, die Wahrschein- rung“ wieder einsperren.
(B) lichkeit eines Hangs zu schweren Straftaten reicht aus, (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Den haben (D)
um das Damoklesschwert der Sicherungsverwahrung wir nicht erfunden!)
über dem Strafgefangenen schweben zu lassen.
Schon in Freiheit befindliche Personen wollen Sie wie-
Die Neue Richtervereinigung – um nur ein Beispiel der in Anstalten bringen. Und Sie erklären nicht einmal
zu nennen – fordert die komplette Abschaffung der vor- das dogmatische Problem, das Sie haben, wenn jemand
behaltenen Sicherungsverwahrung und bezweifelt, dass als schuldfähig mit einer Strafe belegt, später aber als
hier die vom Europäischen Gerichtshof für Menschen- psychisch krank eingestuft wird.
rechte geforderte Verknüpfung zwischen Verurteilung
und Freiheitsentzug noch gegeben ist. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Nein, ge-
stört! Das ist ein schmaler Grat!)
Kommen wir zur nachträglichen Sicherungsver-
wahrung. Hierbei handelt es sich um eine Mogelpa- Das macht alles überhaupt keinen Sinn.
ckung. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung gilt (Beifall bei der LINKEN)
nämlich nur für Neufälle. Das heißt, erst wenn das Ge-
setz in Kraft getreten ist und danach Straftaten begangen Das Unterbringungsgesetz ist die neue Form der
werden, wird sie angewendet. In Ihrem Gesetzentwurf nachträglichen Sicherungsverwahrung. Mit diesem Ge-
schreiben Sie, bis sie sich auswirke, dauere es fünf bis setzentwurf lösen Sie kein tatsächliches oder vermeintli-
zehn Jahre. Viel absurder ist aber, dass die Altfälle noch ches Problem, sondern Sie wälzen es auf Richterinnen
nach der alten Regelung in Sicherungsverwahrung ge- und Richter und die forensischen Sachverständigen ab.
bracht werden können. Es wird herumgedoktert. Das Mindeste wäre gewesen,
eine Expertenkommission einzurichten, wie die Linke
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Es sind nicht
sie bereits in der letzten Wahlperiode gefordert hat.
die Altfälle!)
Richtiger Opferschutz sieht anders aus, denn erst mit der
Sie regeln also ein Gesetz neu, wenn aber heute einer Entlassung der Verurteilten beginnt die Arbeit.
eine Straftat begeht, wird er noch nach den alten Rege-
Lassen Sie mich mit dem Greifswalder Appell zur
lungen in Sicherungsverwahrung gebracht.
Reform der Sicherungsverwahrung enden. Darin heißt
(Christine Lambrecht [SPD]: Das ist genau es:
umgekehrt!)
Auch wenn es nicht leicht ist, muss unsere Gesell-
– Das ist nicht umgekehrt, wir können aber gern im De- schaft zum Schutz unserer verfassungsrechtlichen
tail darüber noch einmal reden. Grundwerte mit der kritischen Situation leben, dass
7444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Halina Wawzyniak
(A) vereinzelt Menschen in die Freiheit entlassen wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
den, auch wenn sie im Hinblick auf ihre Rückfall- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
gefahr nicht als vollkommen unbedenklich einge-
stuft werden können. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses hat es sich ver-
beten, in Zukunft Formulierungshilfen zu bekommen.
(Lars Lindemann [FDP]: Das ist doch nicht Ihr Sie selber haben lediglich einen Stempel auf die Vorlage
Ernst!) gesetzt.
Dieser Gesetzentwurf macht dies nicht, dieser Gesetz- In der Sache scheint hier in einem Punkt – hoffentlich –
entwurf weitet das Instrument aus. Sie machen es sich zu Einigkeit zu herrschen: Die Sicherungsverwahrung ist
leicht und gefährden leichtfertig ein weiteres Stückchen der schwerste Eingriff, der in unserem Rechtsstaat in ei-
Rechtsstaat. nem strafrechtlichen Verfahren möglich ist. Wegen der
(Beifall bei der LINKEN) schwierigen Prognoseentscheidungen ist er in einem ho-
hen Maße fehlerbehaftet. Thomas Feltes, einer der be-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kanntesten und renommiertesten Forscher auf dem Felde
der Sicherungsverwahrung, schreibt dieses Jahr von ei-
Das Wort hat jetzt der Kollege Jerzy Montag von
ner Fehlerquote von 90 Prozent. Das ist eine erschre-
Bündnis 90/Die Grünen.
ckende Zahl. Deswegen braucht es gerade auf dem Feld
der Sicherungsverwahrung gesetzliche Vorkehrungen
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gegen das Ausufern dieses Rechtsinstituts. Die gesetzli-
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- chen Vorgaben zur Begrenzung dieses Instituts sind eine
lege Krings, noch einmal vonseiten der Grünen an Ihre radikale Begrenzung der Anlasstaten und objektive An-
Adresse, an die Adresse der Koalition, zum Mitschrei- haltspunkte für die Bestimmung des Hangs und der Ge-
ben: fährlichkeit, die sich aus mindestens zwei Vorstrafen und
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wird heute aus einer kurzen Rückfallverjährung ergeben müssen.
kein Protokoll geführt?) Dazu hat die Bundesjustizministerin am 12. August die-
ses Jahres gesagt: Wir werden die Sicherungsverwah-
Jawohl, es gibt einige wenige Menschen, die sind aktuell rung so zuschneiden, dass wirklich nur Gewaltverbre-
so gefährlich für ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger, cher und nur Sexualtäter erfasst werden. Betrüger und
insbesondere für Frauen und Kinder, dass wir diese Ge- Diebe dürfen nicht mehr in die Sicherungsverwahrung
fahr nicht anders bannen können, als ihnen ihre Freiheit kommen.
zu nehmen. Insofern sagen wir Ja zu diesem letzten Mit-
(B) tel des Strafrechts, der Sicherheitsverwahrung. Aber ich Selbst in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs (D)
füge hinzu: Es ist bei einigen wenigen Menschen und schreiben Sie – das steht auf Seite 24 –:
nicht bei Hunderten oder gar Tausenden anzuwenden.
Durch dieses Erfordernis werden insbesondere sol-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wer spricht che Delikte dem Anwendungsbereich des § 66
von Tausenden?) StGB entzogen, die sich gegen das Vermögen …
richten und nicht mit der Anwendung von Gewalt
Ich werde auf die Frage der Fehlerhaftigkeit der Progno-
gegen Personen verbunden sind.
sen noch zu sprechen kommen.
Wir sagen an dieser Stelle mit Blick auf die Opfer und Wenn wir uns Ihren Gesetzentwurf anschauen, stellen
die potenziellen Opfer aber auch – Sie selber haben auf wir fest, dass dies ein weiterer großer Schwindel ist.
die Spannung zwischen Freiheit und Sicherheit hinge- Nach § 66 Abs. 1 Nr. 1 b StGB (neu) werden alle Straf-
wiesen –: In einem Rechtsstaat gibt es keine absolute Si- taten mit einer Höchststrafe von zehn Jahren einbezo-
cherheit. gen. Ich nenne Ihnen dazu einmal eine ganze Liste von
Straftaten – Herr Kollege Scholz, schreiben Sie mit; Sie
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wollen ja konstruktiv mitarbeiten –: Fälschungen von
Bezüglich der Täter gilt: Auch sie sind Grundrechtsträ- Zahlungskarten, Fälschungen von technischen Aufzeich-
ger. Sie haben Menschen- und Grundrechte, die wir ih- nungen, Fälschungen von Daten, Diebstahl, Hehlerei
nen in einem Rechtsstaat nicht nehmen dürfen. und Steuerhehlerei, Betrug, Computerbetrug, Subven-
tionsbetrug, falsche Verdächtigung, Verleitung zu miss-
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das hat nie- bräuchlichen Asylantragstellungen, Bestechlichkeit von
mand bestritten! – Dr. Günter Krings [CDU/ Richtern, landesverräterische Agententätigkeit. Das alles
CSU]: Das habe ich ausdrücklich gesagt!) sind Delikte, bei denen Sie zugesagt haben, dass sie in
die Sicherungsverwahrung nicht eingebunden werden.
Die Koalitionsfraktionen haben einen fast 100-seiti-
Meine Liste ist beileibe nicht vollständig. Ich könnte sie
gen Gesetzentwurf vorgelegt. Die Koalitionsfraktionen?
Das ist der erste Schwindel. Kein einziges Wort haben noch um etliche Paragrafen weiterführen.
sie selbst geschrieben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Falsch!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Alles ist eine Formulierungshilfe des Bundesjustizminis- Sie legen dem Bundestag hier also einen richtigen
teriums. Schwindel vor.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7445
Jerzy Montag
(A) Die vorbehaltene Sicherungsverwahrung weiten hend an eine Reform des Vollzugs zu gehen. Wäre das (C)
Sie auf Ersttäter aus. Das ist ein unverzeihlicher Fehler; passiert, brauchten wir uns jetzt mit der richtigen Ent-
schließlich ist klar, dass wir angesichts der unsicheren scheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
Prognose des Hangs zur Begehung von Straftaten ein ob- rechte nicht zu beschäftigen.
jektives Element der Begrenzung brauchen. Sie dehnen
die Rückfallverjährungsfrist auf zehn Jahre aus und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sprengen damit zumindest für einen Teilbereich der An- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
lasstaten eine enge Klammer, die notwendig ist, um ei- In der Sache ist es so, dass Sie den neuen Begriff der
nen objektiven Anhaltspunkt für die Gefährlichkeit einer psychischen Störung einführen. In der Sache ist es so,
Person zu haben. dass Sie bei dieser Therapieunterbringung die Zuständig-
Die nachträgliche Sicherungsverwahrung schaffen keit der Zivilgerichte statt der Strafgerichte festlegen –
Sie zwar ab, aber die Kollegin Wawzyniak hat völlig Verfahren nach dem Gesetz über die Angelegenheiten
recht: der freiwilligen Gerichtsbarkeit statt nach der Strafpro-
zessordnung. Die Voraussetzungen sind den Unterbrin-
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Danke!) gungsgesetzen der Länder vollständig nachgebildet. Als
Krönung wollen Sie mit diesem neuen Gesetz auch be-
Dadurch, dass Sie nur Straftaten für das neue Recht ak- reits Entlassenen ohne Zeitbegrenzung wieder die Frei-
zeptieren wollen, die ab dem Zeitpunkt der Verkündung heit nehmen, das heißt, Entlassene wollen Sie nach die-
dieses Gesetzes begangen werden, schaffen Sie in Zu- sem Gesetz auch noch nach Jahren, theoretisch nach
kunft auf Jahre, vielleicht auf Jahrzehnte wiederum zwei Jahrzehnten erfassen.
Kategorien von Sicherungsverwahrten bzw. von nach
dem Gesetz Behandelten – eine Ungleichbehandlung, (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das geht
die Ihnen vor die Füße fallen wird. doch gar nicht!)
Die ganze Neuordnung des Rechts der Sicherungsver- – Aber selbstverständlich, eine zeitliche Begrenzung
wahrung ist eine Beibehaltung, sogar eine Ausweitung gibt es in diesem Gesetz nicht. Deswegen sage ich Ih-
einer schlechten Entwicklung, gegenüber den Reform- nen: Sie und wir im Bund sind für eine solche Regelung
versprechen der FDP also ein einziger großer Schwindel. überhaupt nicht zuständig.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege!
Nun zum Therapieunterbringungsgesetz. Es war
(B) einmal so, dass die Sicherungsverwahrung ab 1976 auf (D)
zehn Jahre begrenzt war. 24 Jahre hat die Bundesrepu- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
blik Deutschland mit diesem Zustand gelebt, ohne dass Denn es handelt sich um eine reine Präventionsmaß-
der Rechtsstaat aus den Fugen geraten wäre. nahme, für die die Länder zuständig sind. Die Zustän-
digkeit dafür haben sie auch ausgeübt –
(Zuruf von der CDU/CSU: 22 Jahre!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Es war erst dem Vorwahlkampf des Jahres 1998 ge- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
schuldet, dass Ihre Vorgängerin, die damalige schwarz-
gelbe Koalition, die Zehnjahresfrist aus dem Gesetz ge-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
strichen hat. Es gab damals schon warnende Stimmen.
Ich verweise nur auf Herrn Ullenbruch, der bereits 1998 Herr Kollege Montag, bitte kommen Sie zum Schluss.
in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht geschrieben hat,
dies werde grundrechtlich und menschenrechtlich keinen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bestand haben. Genauso ist es gekommen. Jetzt – nach – mit den Gesetzen über die Inhaftierung und Frei-
zwölf Jahren – holt Sie, holt uns alle der Fehler ein, den heitsentziehung von psychisch Kranken und Gestörten.
die damalige Koalition 1998 gemacht hat.
Dieses Gesetz wird Ihnen recht bald vor die Füße fal-
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sagen Sie len. Es wird keine hohe Halbwertzeit haben. Wir werden
einmal, was Sie gemacht haben bei dem an diesem Gesetz nicht konstruktiv – wie Kollege Olaf
Thema! – Zuruf von der FDP: Wer war denn Scholz – mitarbeiten. Wir werden dieses Gesetz auch in
2004 in der Regierung?) den Ausschüssen kritisieren.
Dabei hätte man längst in den Ländern und auch im
Bund etwas tun können. Ich verweise nur darauf, dass Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
bereits 2005 der Europäische Ausschuss zur Verhü- Herr Kollege Montag, bitte!
tung von Folter und unmenschlicher oder erniedri-
gender Behandlung oder Strafe die Freiheitsentzie- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
hungsanstalten in der Bundesrepublik Deutschland Wir werden seine Schwächen aufzeigen und nach
untersucht hat. Er hat 2005 geschrieben, in welchem Möglichkeit dafür sorgen, dass es nicht ins Bundesge-
Ausmaß er den Vollzug der Sicherungsverwahrung für setzblatt kommt.
einen Skandal hält. Er hat geschrieben, die Organe der
Bundesrepublik Deutschland werden aufgerufen, umge- Danke schön.
7446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Jerzy Montag
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das hört jetzt (C)
und der LINKEN – Dr. Günter Krings [CDU/ auf!)
CSU]: Gibt es wieder so Klamauk wie ges-
Diese Entwicklung kann nicht hingenommen werden.
tern? In welcher Farbe kommen Sie dann? –
Sie ruft Unwohlsein hervor.
Iris Gleicke [SPD]: Zusammenarbeit hat nichts
mit Kritiklosigkeit zu tun!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir alle sind aufgerufen, einen vernünftigen Weg zu
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörg van Essen für die suchen. Dafür ist die Vorlage der Bundesjustizministerin
FDP-Fraktion. – ich danke dafür – eine richtige Wegweisung.
(Beifall bei der FDP) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Es ist eine Irreführung!)
Jörg van Essen (FDP): – Nein, nicht eine Irreführung, Herr Kollege Ströbele.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Dass Sie natürlich zu den Kritikern gehören, ist mir völ-
ist schon eine interessante Lage, in der wir uns im Au- lig klar.
genblick befinden. Wer die Beiträge zu dieser Debatte
sorgfältig verfolgt hat, konnte feststellen, dass sich die (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kollegin der Linkspartei große Sorgen um die Täter NEN]: Ja, warum wohl?)
macht. – Es ist mir völlig klar, warum der Kollege Ströbele zu
den Kritikern gehört: weil er genau die Erfahrung, von
(Zuruf von der LINKEN: Menschenrechte!)
der ich vorhin berichtet habe, eben nicht gemacht hat
Ich habe aber nicht ein einziges Mal auch nur ein einzi- und weil er immer wieder gezeigt hat, dass ihn die Täter
ges Wort über die Opfer der Straftaten gehört; ich habe interessieren und nicht die Opfer.
sorgfältig darauf geachtet.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU –
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Halina Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE
Wawzyniak [DIE LINKE]: Zuhören!) GRÜNEN]: Herr van Essen, das ist unterir-
disch! Eine Niveaulosigkeit und Stillosigkeit
Wir haben auch gehört, dass sich die Grünen nicht ohnegleichen!)
konstruktiv in die Debatte einbringen. Auch Ihnen ist of-
fensichtlich egal, dass in diesem Land brandgefährliche Ich möchte darauf hinweisen, dass wir wegen dieses
(B) Täter herumlaufen. Unwohlseins bereits in die Koalitionsvereinbarung auf- (D)
genommen haben, dass wir das Recht der Sicherungs-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – verwahrung reformieren wollen. Wir haben sorgfältig
Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE beraten. Der Vorwurf, dass es sich nicht um einen Ent-
GRÜNEN]: Ein Niveauverfall sondergleichen wurf der Koalitionsfraktionen handelt, ist völlig dane-
ist das! Stillosigkeit!) ben. Frau Voßhoff weiß, wie oft wir zusammengesessen
Deswegen bin ich dem Kollegen Scholz ganz außeror- und verhandelt haben. Deshalb hat es selbstverständlich
dentlich dankbar, dass er deutlich gemacht hat, dass sich einen ganz wesentlichen Beitrag beider Fraktionen gege-
die SPD-Fraktion konstruktiv einbringen wird. Das sind ben. Im Übrigen hat uns natürlich das Bundesjustiz-
wir unseren Bürgern auch schuldig. Vielen Dank, dass ministerium beratend zur Seite gestanden. Das war aber
Sie das zugesagt haben. auch bei allen anderen Koalitionen immer der Fall.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Entwurf der Fraktionen? Drei Sätze
Welche Verantwortung wir in diesem Bereich tragen, vielleicht!)
habe ich ganz persönlich einmal erlebt, als ich nach der
Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir den Euro-
Tat eines solchen Täters die Todesnachricht an die Eltern
päischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht kritisie-
des Kindes überbringen musste. Das war ein Erlebnis,
ren sollten.
das mich noch heute bewegt. Deswegen habe ich großes
Verständnis dafür, dass sich viele Eltern um ihre Kinder (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
sorgen und viele junge Mädchen Angst haben, zu Opfern NEN]: Einmal die Wahrheit sagen!)
zu werden. Wir müssen diese Sorgen ernst nehmen.
Ich hatte mir vielleicht ein anderes Urteil erhofft. Im
Wir müssen auf der anderen Seite sehen – auch das Hinblick auf andere Länder legen wir aber immer großen
gehört zu einer Betrachtung –, dass wir auch Verantwor- Wert darauf, dass sie sich an die Europäische Men-
tung für unseren Rechtsstaat tragen. In den Debatten der schenrechtskonvention halten. Deshalb tun wir gut da-
letzten Jahre, die wir aufgrund von Einzelfällen immer ran, dies auch zu tun.
wieder geführt haben, habe ich eines stets erwähnt: die
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
steigende Zahl der Sicherungsverwahrten. In den letzten
des Abg. Christoph Strässer [SPD])
14 Jahren haben wir eine Verdreifachung der Zahl der
Sicherungsverwahrten zu verzeichnen; darunter befin- Ich glaube, dass wir dies mit diesem Gesetzentwurf in
den sich auch Heiratsschwindler. gelungener Weise getan haben. Ich habe schon darauf
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7447
Jörg van Essen
(A) hingewiesen, dass wir insbesondere im Anwendungsbe- Lassen Sie mich abschließend hinzufügen: Ich per- (C)
reich Einschränkungen vornehmen werden. In Anbe- sönlich finde es einer liberalen Gesinnung nicht ange-
tracht der Kritik an der vorbehaltenen Sicherungsver- messen, die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit in die-
wahrung möchte ich an etwas erinnern: Praktiker sagen, ser Art und Weise zu diffamieren.
dass eine vorbehaltene Sicherungsverwahrung dazu bei-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
trägt, die Therapiewilligkeit derjenigen, denen die Si-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
cherungsverwahrung droht, zu erhöhen. Diese Personen
können dann aktiv dazu beitragen, keine Gefahr für die
Allgemeinheit mehr zu sein. Das ist etwas, was auch wir Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
uns wünschen. Die zweite Kurzintervention wird von dem Kollegen
Josef Winkler von Bündnis 90/Die Grünen gewünscht. –
(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: So ist Bitte, Herr Winkler.
es!)
Wir wollen, dass Täter nicht wieder Straftaten begehen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Deshalb ist das, wie ich finde, ein gutes und richtiges In- Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrter Herr van
strument. Essen, Sie wissen, dass ich Sie menschlich sehr schätze.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aber ich muss schon sagen, dass ich es nicht für beson-
ders angemessen halte, auf eine Rede, wie sie der Kol-
Sie haben darauf hingewiesen – das ist meine letzte lege Montag gehalten hat, so, ich sage einmal, derb zu
Bemerkung, Herr Präsident; ich gucke auf die Uhr –, antworten, wie Sie das getan haben.
dass das die Länder etwas kosten wird.
Kollege Montag ist sehr ausführlich auch auf die Op-
(Otto Fricke [FDP]: Das muss man wohl sa- ferperspektive eingegangen. Das tut meine Fraktion
gen!) von jeher. Nichtsdestotrotz: Den Opfern ist nicht gehol-
Sie scheinen aber nicht sonderlich an der Thematik inte- fen, wenn wir eine Regelung haben – diese Gefahr sehen
wir –, die nicht gerichtsfest ist und die erneut scheitern
ressiert zu sein. Deshalb habe ich Ihre Kritik nicht ver-
wird. Das ist die Hauptproblematik, die wir in Ihrem Ge-
standen, dass wir die Länder stärker hätten einbeziehen
setzentwurf sehen. Das sollte aus dem, was der Kollege
müssen. Sie selbst hätten durch Präsenz deutlich machen
Montag gesagt hat, eigentlich deutlich geworden sein.
können, dass sie einbezogen werden wollen. Wir sollten
es trotzdem tun. Auch das gehört zu einer vernünftigen Unabhängig davon bleibt es dabei, dass potenzielle
Beratung. Wir bieten ihnen an, dass wir zu guten Bera- Täter und Täter, die bereits Opfer hervorgebracht haben,
tungen kommen. Das sind wir den Bürgern schuldig. Die die grundlegenden Menschen- und Bürgerrechte behal-
(B) (D)
Gründe habe ich in meiner Rede genannt. ten und dass es eine sehr schwerwiegende Einschrän-
kung ihrer Bürgerrechte ist.
Vielen Dank.
Ich bitte Sie auch vor dem Hintergrund dessen, was
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
der Präsident des Bundestages gestern gesagt hat, dass
wir bitte nicht persönlich herabsetzend sein sollten – das
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gilt nicht nur gegenüber einzelnen Personen, sondern
Ich habe jetzt zwei Wünsche für Kurzinterventionen, auch gegenüber Fraktionen, die diesem Hause angehö-
wobei ich bitten würde, Herr van Essen, dass Sie dann ren – und die Debatte nicht in dieser Schärfe fortsetzen
auf beide eingehen. – Zunächst die Kollegin Halina sollten. Vielmehr sollten Sie akzeptieren, dass wir sagen:
Wawzyniak. Dieser Gesetzentwurf bietet nicht genug Ansatzpunkte
für uns, um wirklich konstruktiv mitzuarbeiten, damit
Halina Wawzyniak (DIE LINKE): wir ein einstimmiges Ergebnis bekommen. Nichtsdesto-
Herr van Essen, ich weise ausdrücklich die Unterstel- trotz werden wir uns in den Ausschussberatungen selbst-
lung zurück, dass von meiner Seite aus nichts zum verständlich mit Vorschlägen einbringen, die zu einem
besseren Ergebnis führen, als wir das nach diesem vor-
Opferschutz gesagt worden ist. Ich nehme zur Kenntnis,
gelegten Entwurf befürchten.
dass seit dem gestrigen Tag, als eine gesamte Fraktion,
nämlich die Fraktion der Grünen, in die Nähe der Vielen Dank.
NSDAP gerückt worden ist,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Otto Fricke [FDP]: Das ist doch Quatsch!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN –
ein unerträgliches Klima in diesem Saal herrscht. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Also doch
konstruktiv!)
(Beifall bei der LINKEN)
Niemand in diesem Haus vernachlässigt den Opfer- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
schutz. Wenn Sie bis zum Schluss zugehört hätten – ich Einen Moment, Herr van Essen. – Herr Ströbele, wie
kann es gerne wiederholen –, hätten Sie gehört, dass ich soll ich Ihre Wortmeldung interpretieren? – Sie möchten
ausdrücklich gesagt habe: Opferschutz sieht anders aus. eine Kurzintervention machen. Dann hat der Herr Kol-
Opferschutz beginnt mit der Entlassung. Opferschutz be- lege van Essen allerdings hinterher ausreichend Zeit, um
ginnt mit den Möglichkeiten von Therapie im Strafvoll- auf die drei Kurzinterventionen zu reagieren. – Bitte
zug und ambulant. schön.
7448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (C)
NEN):
Herr Kollege van Essen, ich stelle fest: Sie entwickeln Deshalb bleibe ich bei meinem Vorwurf.
sich immer mehr zum Oberpolemiker dieses Hauses. Herr Kollege Winkler, der Kollege Montag weiß – das
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) habe ich ihm schon persönlich gesagt –, wie sehr ich ihn
schätze. Ich bin froh, dass wir ihn im Rechtsausschuss
Das haben Sie gestern gezeigt, und das haben Sie heute haben. Ich schätze auch seine kritischen Bemerkungen.
gezeigt. Ich habe Sie einmal sehr geschätzt, weil Sie im- Ich habe ihm vorhin genau zugehört. Wir sind hier in der
mer sehr frei reden. Ich finde es gut, wenn man im ge- ersten Lesung. Ich muss ganz offen gestehen: Das eine
genseitigen Dialog versucht, etwas zu entwickeln. Nur, oder andere müssen wir nachschauen. Insofern ist es ak-
Sie belassen es inzwischen bei Polemik. zeptiert, dass von Ihnen Punkte aufgeführt worden sind,
Sie haben mich und meine anwaltliche Praxis ange- über die es zu diskutieren lohnt.
sprochen; Herr Kollege Montag, Folgendes hat mich gestört – ich
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Der 70er- wiederhole es –: Ich hätte mir, weil wir hier eine ganz
Jahre!) schwierige Aufgabe zu bewältigen haben, von Ihnen ge-
wünscht, dass es von Ihnen ein ähnliches Angebot wie
Sie kennen sie offenbar ganz genau. von der SPD gegeben hätte. Ich glaube, dass wir das un-
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die kennen seren Bürgern schuldig sind.
wir alle!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass ich mich beispiels-
weise ein halbes Jahr lang als Nebenklägervertreter vor Herr Kollege Ströbele, wenn Sie tatsächlich beispiels-
dem Oberlandesgericht Schleswig um einen Teil der Op- weise die Opfer von Mölln unterstützt haben, dann bin
fer des schlimmen Brandanschlags von Mölln geküm- ich Ihnen dafür außerordentlich dankbar. Das Ereignis
mert habe. Ich vermute, dass ich meine berufliche Tätig- von Mölln war ganz schlimm für unser Land. Ich will
keit mindestens genauso häufig auf der Seite der Opfer gar nicht in Abrede stellen, dass Sie dort etwas für Opfer
ausgeübt habe, wie Sie das möglicherweise als Ober- getan haben. Von mir persönlich herzlichen Dank dafür!
staatsanwalt getan haben. Ich habe mich aber nicht des- Ich habe immer nur gesehen, wie Sie sich verhalten ha-
halb gemeldet. ben, wenn wir hier im Bundestag über etwas diskutiert
haben und Sie zwischen Opferschutz und Täterinteres-
Ich erwarte von Ihnen – Sie müssten juristische Argu- sen zu entscheiden hatten. Da hätte ich mir eine stärkere
mente nachvollziehen können –, dass Sie zu den sehr Betonung des Opferschutzes gewünscht. In diesem (D)
(B)
konkreten Kritikpunkten, die Kollege Montag geäußert Punkt habe ich Sie kritisiert; das werde ich auch weiter
hat, Stellung nehmen. Die FDP und die Justizministerin tun.
haben sich zuerst aus dem Fenster gelehnt und gesagt:
So machen wir das überhaupt nicht. – Dann haben Sie Vielen Dank.
klare Richtlinien dazu vorgegeben, was in einem Gesetz
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung
stehen darf und was nicht. Nun hat Kollege Montag mit
Hinweis auf die einzelnen Paragrafen nachgewiesen, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dass die Richtlinien überhaupt nicht eingehalten worden Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lambrecht
sind, sondern das Instrument wiederum eine sehr weite von der SPD-Fraktion.
Anwendung finden soll. Dazu sagten Sie nicht ein einzi-
ges Wort. Sie hätten sagen können, er habe sich verlesen (Beifall bei der SPD)
oder es stimme in diesem oder jenem Punkt nicht. So et-
was kam aber in Ihrer Rede gar nicht vor, sondern nur Christine Lambrecht (SPD):
Polemik. So geht es nicht. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) möchte versuchen, die Diskussion über dieses schwie-
rige Thema ein wenig zu versachlichen. Sie alle wissen,
dass ich bei jeder anderen Gelegenheit, insbesondere in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
diesem Haus, gerne die politische Auseinandersetzung
Jetzt hat der Kollege van Essen die Möglichkeit, zu
suche; aber ich glaube, dieses Thema eignet sich dafür
antworten. Theoretisch haben Sie jetzt neun Minuten
überhaupt nicht. Vielmehr muss man bei diesem Thema
Zeit. Wir würden uns aber freuen, wenn Sie sie nicht
sachlich und konstruktiv miteinander arbeiten.
ganz ausschöpfen würden. Bitte schön.
Ich möchte konkretisieren, was der Begriff „konstruk-
Jörg van Essen (FDP): tiv“ für die SPD bedeutet; das habe ich auch schon in
Herr Präsident, ich werde selbstverständlich nur ei- meiner Haushaltsrede getan. Eine konstruktive Beglei-
nige kurze Bemerkungen machen. tung bedeutet keinen Persilschein.
Frau Kollegin Wawzyniak, wer Ihre Rede gehört hat, (Beifall bei der SPD – Jerzy Montag [BÜND-
der weiß, worauf Sie den Schwerpunkt gelegt haben; er NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein Glück, dass Sie
lag eindeutig nicht bei den Opfern. das sagen!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7449
Christine Lambrecht
(A) Selbstverständlich werden wir an diesem sehr umfang- gendliche umgehen wollen. Ich finde, dazu sollten wir (C)
reichen Gesetz mitarbeiten; wir werden uns einbringen. Stellung nehmen.
Wir werden aber auch Themen benennen, bei denen wir
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
den Eindruck haben, dass wir uns noch einmal zusam-
Die Koalition will das beibehalten!)
mensetzen und vieleicht das eine oder andere verändern
oder ergänzen müssen. Bitte verstehen Sie unsere An- – Das ist die Frage, die sich stellt. – Ich halte das für kei-
kündigung als Versprechen, konstruktiv mitzuarbeiten nen geschlossenen Entwurf. Wenn wir den Komplex der
und das Gesetzgebungsvorhaben kritisch zu begleiten. Sicherungsverwahrung überarbeiten wollen, können wir
Aber Sie sind auch nichts anderes von uns gewöhnt. nicht darauf verzichten, uns mit der Problematik des
Umgangs mit der Sicherungsverwahrung Jugendli-
Jetzt zum Thema. Wir haben die sehr schwierige Auf- cher zu beschäftigen.
gabe, unterschiedliche Interessen zusammenzuführen.
Selbstverständlich gibt es den Opferschutz. Selbstver- (Jörg van Essen [FDP]: Das müssen wir!)
ständlich müssen wir die Ängste und Sorgen der Men- Es muss eine klare Aussage dazu geben. Entweder las-
schen aufgreifen, die Angst vor denjenigen haben, die sen wir alles, wie es ist, oder im Zuge der Beratungen
die schwersten Straftaten, die man sich überhaupt vor- muss es eine entsprechende Veränderung, eine Ergän-
stellen kann, begangen haben. Die Fälle braucht man gar zung geben.
nicht auszumalen. Wir alle wissen, wer damit gemeint
ist. (Jörg van Essen [FDP]: Das müssen wir!)
Als Gesetzgeber müssen wir aber selbstverständlich – Es ist wunderbar, dass ich hier höre, dass wir uns damit
auch die Belange der Straftäter im Blick haben. Es geht beschäftigen müssen und werden. Dann können wir das
auch um das Grundrecht auf Freiheit und die Menschen- aufnehmen.
würde derjenigen, die von einer Sicherungsverwahrung, Zum Anwendungsbereich der Sicherungsverwahrung
die an und für sich als Ultima Ratio geplant war, betrof- ist einiges gesagt worden. Auch ich halte es für kritisch,
fen sein könnten. Auch das ist uns ins Stammbuch ge- dass die Sicherungsverwahrung generell anwendbar sein
schrieben worden. Diesem Spannungsverhältnis müs- soll, wenn die Tat im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von
sen wir mit einem solchen Gesetz gerecht werden. Es mindestens zehn Jahren bedroht ist. Wir hatten eigent-
stellt sich die Frage, ob dieser Entwurf dazu geeignet ist. lich eine andere Aussage. Es wurde nämlich angekün-
Ich freue mich, dass der Entwurf jetzt auf dem Tisch digt – das hat mir sehr gut gefallen; das habe ich unter-
liegt. Ich hätte mir gewünscht, das Ganze früher auf dem stützt –, die Sicherungsverwahrung auf Straftaten gegen
Tisch zu haben; denn dann hätten wir früher mit der Ar- die körperliche Unversehrtheit, das Leben und die sexu-
(B) beit anfangen können. Aber es ist, wie es ist. Lassen Sie elle Selbstbestimmung zu beschränken. Nun ist gesagt (D)
uns also beginnen. worden, dass auch andere Taten darunterfallen sollen.
Aufgrund des schwerwiegenden Eingriffs, den eine Si-
Die sogenannten Altfälle sind angesprochen worden. cherungsverwahrung darstellt, halte ich das nicht für an-
Dabei geht es nicht um diejenigen, die jetzt freigelassen gemessen. Wenn wir uns schon mit dem Thema beschäf-
wurden, sondern um diejenigen, die eine Straftat began- tigen, dann sollten wir den Entwurf grundsätzlich
gen haben. Im Gesetzentwurf ist, wie ich finde, relativ überarbeiten.
lapidar erklärt worden, dass in diesen Fällen die nach-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
trägliche Sicherungsverwahrung weiterhin gelten soll.
DIE GRÜNEN)
Ich finde, wir müssen noch einmal darüber nachdenken,
ob das tatsächlich angebracht ist; denn es geht auch um Im Zusammenhang mit den Tätern – über die machen
Täter, die Straftaten begangen haben, die nicht in dem wir alle uns Gedanken –, die im Nachgang dieses Urteils
eng gefassten Katalog, den sie aufnehmen wollen, aufge- entlassen wurden, haben Sie einen Vorschlag unterbrei-
führt sind. Das kann auch auf andere Täter zutreffen. Da- tet, den ich persönlich für sehr problematisch halte. Ich
her sollten wir uns dieses Thema noch einmal im Detail will nicht so weit gehen wie der Kollege Montag, der
vornehmen. sagt, dass das nicht halten wird. Vor Gericht und auf ho-
her See kann man sich nie sicher sein, wie die Sache
Es geht aber auch um die Gesamtproblematik. In der ausgeht. Ich glaube aber, wir begeben uns auf dünnes
Begründung des Gesetzentwurfs steht, wie kritisch die Eis, wenn wir jetzt den Begriff der psychischen Stö-
Bewertung der sogenannten Nova, also die Bewertung rung aufnehmen. In dem Gesetzentwurf wird er nicht
der neuen, unter Umständen erst während der Haft auf- definiert. Zumindest sehe ich keine eindeutige Defini-
getretenen Tatsachen zu sehen ist. Die Sicherungsver- tion. Momentan kommt ein Gewalttäter, der psychisch
wahrung würden wir für diese Altfälle quasi noch einmal krank ist, gar nicht ins Gefängnis, sondern gleich in die
möglich machen. Ich glaube, wir dürfen nicht lapidar da- Psychiatrie. Bei psychisch kranken und damit unzurech-
rüber hinweggehen, sondern müssen uns damit beschäf- nungsfähigen Tätern greift § 63 StGB, der die Unter-
tigen. bringung in einem psychiatrischen Krankenhaus vor-
(Beifall bei der SPD) sieht, weil der Täter zum Zeitpunkt der Tat
schuldunfähig war. Der § 20 StGB, in dem die Schuld-
Ich will ein weiteres Thema ansprechen, zu dem ich unfähigkeit definiert ist, enthält die Merkmale „krank-
im Gesetzentwurf nichts gefunden habe. Es geht um die hafte seelische Störung“, „Schwachsinn“ und „schwere
Frage, wie wir mit der Sicherungsverwahrung für Ju- andere seelische Abartigkeit“. Angesichts der Möglich-
7450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Christine Lambrecht
(A) keit, dass bei der Verurteilung eines Straftäters diese Wenn es also um Straftäter geht, die ihre schuldange- (C)
Merkmale noch nicht vorgelegen haben und sie sich erst messene Strafe verbüßt haben, bei denen aber erkennbar
während der Haft zeigen, sollten wir uns allerdings Ge- die Gefahr besteht, dass sie nach der Freilassung wieder
danken über die Ausgestaltung des Strafvollzugs ma- schwere Straftaten begehen werden, muss der Staat zum
chen. Auch diese Frage müssen wir uns im Rahmen der Schutz seiner Bürgerinnen und Bürger gleichwohl han-
Debatte stellen. deln. Eine Orientierung an der Schuld des Täters schei-
det an dieser Stelle selbstverständlich aus.
Ich habe es schon ausgeführt: Bei vielen Punkten in
diesem Entwurf, über die noch zu sprechen ist – Stich- Unser Strafrechtssystem ist daher durch eine Zwei-
wort: psychische Störung, – befinden wir uns auf sehr spurigkeit gekennzeichnet. Neben den schuldbezogenen
dünnem Eis. Ich würde gerne dabei mithelfen, dies zu Sanktionen gibt es die Maßregeln der Besserung und Si-
ändern. Dazu ist es aber erforderlich – das sage ich hier cherung, zu denen eben auch die Sicherungsverwahrung
ganz ohne Aufgeregtheit –, dass Sie uns mit einbinden. gehört. Mit ihrer Hilfe soll der Schutz der Bevölkerung
Versuchen Sie nicht, dieses Gesetzesvorhaben in einem dadurch gewährleistet werden, dass Straftäter nach Ver-
Hauruckverfahren durchzuziehen. Nehmen Sie unsere büßung ihrer schuldangemessenen Strafe im Falle fort-
Kritikpunkte auf, die keineswegs an den Haaren herbei- bestehender Gefährlichkeit durch freiheitsentziehende
gezogen sind und die auch nicht der politischen Profilie- Maßnahmen an der Begehung neuer schwerer Straftaten
rung dienen. Versuchen Sie nicht, zwei Tage nach einer gehindert werden.
Anhörung das Gesetzgebungsverfahren abzuschließen. So klar und zwangsläufig dieser Handlungsauftrag
Dafür eignet sich dieses Gesetz nicht. auch ist, so schwierig ist es im Detail, ihm adäquat nach-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zukommen; denn natürlich sind die Anforderungen an
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jerzy die Freiheitsentziehung auf der Grundlage einer prognos-
Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tischen Beurteilung der Gefährlichkeit ausgesprochen
ist von der Koalition längst vorgesehen!) hoch. Selbstverständlich bedarf es eines engmaschigen
rechtsstaatlichen Kontroll- und Überprüfungssystems,
Wenn Sie diese Voraussetzung erfüllen, dann garan- um Fehlentwicklungen vorzubeugen. Nur so lässt sich
tieren Olaf Scholz und ich im Namen der AG Recht, die Sicherungsverwahrung auch rechtssicher ausgestal-
dass wir an diesem Entwurf kritisch-konstruktiv mitar- ten. Mit einem einfachen und saloppen „Deswegen kann
beiten. es nur eine Lösung geben: Wegschließen – und zwar für
immer!“, wie wir es seinerzeit von Kanzler Schröder ge-
Vielen Dank.
hört haben, ist es, was die Kontrollsysteme angeht, si-
(Beifall bei der SPD) cherlich nicht getan. Das ist zu plakativ gewesen. Im
(B) (D)
Einzelnen bedarf es da sehr differenzierter Regelungen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Das Wort hat jetzt der Kollege Ansgar Heveling von Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
der CDU/CSU-Fraktion. NEN]: Die CDU hat damals nicht widerspro-
chen nach meiner Erinnerung!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Die Sicherungsverwahrung hat in den 90er-Jahren zu-
gegebenermaßen deutlich an Bedeutung gewonnen. Seit
Ansgar Heveling (CDU/CSU): dieser Zeit hat es eine ganze Reihe von Änderungen und
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Ergänzungen gegeben. Die vorbehaltene Sicherungsver-
gehört zu den essenziellen Grundlagen des freiheitlichen wahrung ist 2002 eingeführt worden, die nachträgliche
Rechtsstaats, dass der Entzug der persönlichen Freiheit Sicherungsverwahrung 2004. Durch das Gesetz zur Be-
nur in sehr engen Grenzen und ausschließlich unter kämpfung von Sexualdelikten von 1998, das 6. Gesetz
Wahrung der Verhältnismäßigkeit vorgenommen werden zur Reform des Strafrechts sowie das Gesetz zur Einfüh-
darf. Den entscheidenden Anknüpfungspunkt in unse- rung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind an
rem Sanktionssystem des Strafrechts bildet dabei norma- allen Vorschriften zur Sicherungsverwahrung Änderun-
lerweise die Schuld. Sie ist die Grundlage der Strafzu- gen vorgenommen worden. All das hat zugegebenerma-
messung. Somit ist dem Grunde nach auch nur ein ßen zu systematischen Unzulänglichkeiten, komplizier-
solcher auf Dauer angelegter Freiheitsentzug möglich, ten Formulierungen und auch lückenhaften Regelungen
der in einem angemessenen Verhältnis zur Schuld steht. geführt.
Damit aber stößt der freiheitliche Rechtsstaat in eini- Mit dem Koalitionsvertrag hatte sich die christlich-
gen Fällen an eine Grenze respektive gerät in Kollision liberale Koalition daher bereits darauf verständigt, eine
mit einem anderen ihn tragenden Prinzip: Der Staat hat Harmonisierung der gesetzlichen Anordnungsvorausset-
nämlich ebenso die Freiheit und die körperliche Unver- zungen europarechtskonform vorzunehmen und Schutz-
sehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. lücken im geltenden Recht zu schließen. Zu diesem von
Dazu bedarf es nicht nur der notwendigen gesetzlichen der Koalition selbstgesteckten Handlungsziel ist zwi-
Regelungen. Die Rechtsordnung muss vom Staat durch- schenzeitlich ein durch eine Entscheidung des Europäi-
gesetzt werden und dadurch das Vertrauen der Bevölke- schen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgelöster
rung in den Schutz der Rechtsordnung sichergestellt Handlungsdruck getreten. Er hat im Dezember des ver-
werden. gangenen Jahres und im Mai dieses Jahres in einem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7451
Ansgar Heveling
(A) Verfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ent- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
schieden, dass eine Sicherungsverwahrung weder nach- Herr Kollege Heveling, erlauben Sie eine Zwischen-
träglich angeordnet noch verlängert werden darf, wenn frage des Kollegen Montag?
die gesetzliche Grundlage hierzu erst nach der Tat ge-
schaffen worden ist. Das trifft im Hinblick auf die oben
beschriebenen Änderungen am Recht der Sicherungsver- Ansgar Heveling (CDU/CSU):
wahrung, die über die Jahre eingeführt worden sind, auf Ich würde gerne in meiner Rede fortfahren. Wir kön-
manche Täter allerdings zu. Auch daraus, dass mittler- nen in den Ausschussberatungen konstruktiv über die
weile einige Täter freigelassen werden mussten und nun- anstehenden Fragen diskutieren.
mehr – Herr Kollege Dr. Krings hat es beispielhaft aus-
geführt – rund um die Uhr polizeilich überwacht werden (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
müssen und dass weitere Entlassungen drohen, hat sich NEN]: Ich hätte Ihnen Gelegenheit gegeben,
ein unmittelbarer Handlungsdruck ergeben. noch mehr zu sagen!)

Durch die vorliegenden Gesetzentwürfe der CDU/ Da für die Anordnung der vorbehaltenen Sicherungs-
CSU und FDP kommt die christlich-liberale Koalition verwahrung Nova nicht erforderlich sind, wird den Ge-
den Handlungsaufträgen zeitnah nach. Neben einer Kon- richten ein einfacher zu handhabendes Instrument zur
solidierung der primären Sicherungsverwahrung wird Verfügung gestellt, das helfen kann, den Wegfall der
die vorbehaltene Sicherungsverwahrung ausgebaut, und nachträglich verhängten Sicherungsverwahrung auszu-
bestehende Schutzlücken werden geschlossen. Schließ- gleichen.
lich wird mit der Möglichkeit zur elektronischen Aufent- Mit der Möglichkeit der elektronischen Aufenthalts-
haltsüberwachung ein neues Instrument im Zusammen- überwachung im Rahmen der Führungsaufsicht wird
hang mit der Führungsaufsicht etabliert. schließlich ein neues Instrument zur Überwachung sol-
Durch den Gesetzentwurf der christlich-liberalen cher Gewalt- und Sexualstraftäter eingeführt, bei denen
Koalition werden im Einzelnen die folgenden Schutz- aufgrund der Entscheidung des Europäischen Gerichts-
lücken beseitigt: hofs für Menschenrechte eine freiheitsentziehende Maß-
nahme aus Rechtsgründen ausscheidet.
Erstens. Die Rückfallverjährung bei Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung wird von fünf auf zehn Keine Frage: Eine solche elektronische Aufenthalts-
Jahre verlängert. überwachung ist aus unserer Sicht kein gleichwertiger
Ersatz für eine sichere Verwahrung, und wir dürfen kei-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nesfalls den Eindruck erwecken, mit diesem Instrument
(B) NEN]: Das war keine Schutzlücke!) eine Möglichkeit zur Gewährleistung hundertprozentiger (D)
Sicherheit anzubieten. Da die Rechtslage es bei einigen
Damit reagieren wir auf Erkenntnisse kriminologischer
Personen indessen nicht zulässt, eine Unterbringung
Untersuchungen, die nahelegen, dass insbesondere Se-
durchzuführen, ist es immerhin ein Hilfsmittel, um die
xualstraftäter nicht ganz selten erst nach fünf bis zehn
dann notwendige Überwachungsarbeit der Polizei zu er-
Jahren in Freiheit rückfällig werden. Statt der bisherigen
leichtern.
generellen Verjährungsregel von fünf Jahren wird daher
die Rückfallverjährung speziell für Sexualstraftäter auf Unsere Rechtsordnung dient dem Schutz der Bürge-
zehn Jahre verlängert. rinnen und Bürger. Es ist Aufgabe des Staates, Straftaten
zu verfolgen und zu ahnden. Genauso ist es Aufgabe des
Zweitens. Bei der vorbehaltenen Sicherungsverwah-
freiheitlichen Rechtsstaates, die Freiheit seiner Bürgerin-
rung entfällt das Erfordernis der sicheren Feststellung ei-
nen und Bürger zu sichern. Der Staat muss aktiv das Le-
nes Hanges des Täters zu erheblichen Straftaten. An der
ben und die Unversehrtheit der Bevölkerung schützen.
Feststellung dieser Voraussetzung ist der Vorbehalt der
Sicherungsverwahrung in der Vergangenheit oftmals ge- Der vorliegende Gesetzentwurf dient dazu, dem Staat
scheitert. Diese Anforderung wird daher künftig aufge- die nötigen Instrumente rechtssicher an die Hand zu ge-
geben. ben, um diesem Schutzauftrag effektiv und angemessen
Drittens. Künftig kann die vorbehaltene Sicherungs- nachkommen zu können, natürlich unter Beachtung der
verwahrung auch für Ersttäter angeordnet werden. rechtsstaatlichen Anforderungen, die an freiheitsentzie-
Hierzu steht im bislang geltenden Recht ausschließlich hende Maßnahmen zu stellen sind. Auch wenn wir – be-
die nachträgliche Sicherungsverwahrung zur Verfü- dingt durch die Entscheidung des Europäischen Ge-
gung. Da für deren Anordnung jedoch die Feststellung richtshofs für Menschenrechte – unter zusätzlichen
neuer Tatsachen, sogenannter Nova, erforderlich ist, ist Handlungsdruck gesetzt wurden, ist der Boden für eine
es in der Vergangenheit wiederholt dazu gekommen, ordnungsgemäße und sachgerechte Beratung des Gesetz-
dass weiterhin hochgefährliche Täter nach dem Verbü- entwurfes gegeben. Eine Sachverständigenanhörung ist
ßen ihrer Strafe in die Freiheit entlassen werden muss- bereits terminiert.
ten, weil die Gefährlichkeit bereits zum Zeitpunkt der (Beifall bei der CDU/CSU)
Anlassverurteilung und noch am Vollzugsende gegeben
war. Somit lagen keine neuen Tatsachen vor. Für die An- Sicherlich wird über viele Fragen zu diskutieren sein.
ordnung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung sind Wir sollten zügig, aber in Ruhe, mit der gebotenen Sorg-
solche Nova nicht erforderlich. falt und vor allem konstruktiv beraten.
7452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Ansgar Heveling
(A) Ich lade noch einmal diejenigen dazu ein, die bisher (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C)
geäußert haben, dass sie dagegen sind bzw. nicht bereit
sind, sich konstruktiv einzubringen. Für einige gibt es Die Hälfte derjenigen, die sich in Sicherungsverwah-
offenbar nur zwei Möglichkeiten: Entweder man bringt rung befinden, sind Sexualstraftäter, etwas mehr als ein
sich gar nicht ein, oder man bringt sich destruktiv ein. Drittel sind Gewaltstraftäter; das war auch in der Ver-
Wir würden uns wünschen, dass wir zu einer konstrukti- gangenheit schon so. Diesem Personenkreis müssen wir
ven Beratung kommen und am Ende dafür sorgen, dass uns zuvorderst zuwenden.
der Staat seinem Schutzauftrag gegenüber den Bürgerin-
nen und Bürgern angemessen und effektiv nachkommen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
kann. Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Montag?
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
Selbstverständlich. Immer sehr gerne.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
erteile ich das Wort dem Kollegen Stephan Mayer von Bitte schön, Herr Montag.
der CDU/CSU-Fraktion.
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ich danke, Herr Präsident. – Ich danke auch Ihnen,
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Herr Mayer, dass Sie sich meine Frage anhören wollen
und Kollegen! Der heute in erster Lesung zu beratende und sie hoffentlich beantworten werden. Herr Kollege,
Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sie haben soeben darauf hingewiesen, dass der Prozent-
Sicherungsverwahrung ist aus meiner Sicht ein gelunge- satz derjenigen, die sich in Sicherungsverwahrung befin-
ner Kompromiss zwischen den Persönlichkeitsrechten den, im Verhältnis zu denen, die sich in Strafhaft befin-
von Strafgefangenen auf der einen Seite – Strafgefan- den, minimal ist. Das gestehe ich Ihnen zu.
gene, auch Sexualstraftäter, verfügen über Grundrechte Aber würden Sie mir zustimmen, dass in den letzten
und das Anrecht auf eine zweite Chance – und den be- zehn Jahren in Deutschland die Zahl der Sicherungsver-
rechtigten Sicherheitsbedürfnissen der Bürgerinnen und wahrten um 140 Prozent zugenommen hat, und zwar von
Bürger in Deutschland und der Anforderung an uns, sie unter 200 auf 490 Personen? Inzwischen sind es über
(B) vor schwersten und schändlichsten Straftaten zu schüt- 500 Personen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die (D)
zen, auf der anderen Seite. Bei dem einen oder anderen Kriminalität in den einschlägigen Bereichen dieser ganz
Gesetz mag man durchaus einkalkulieren, dass man auf schlimmen Gewaltkriminalität nicht steigt, sondern
Lücke geht. Bei diesem Gesetz dürfen wir beileibe nicht sinkt, dass die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik
auf Lücke gehen. Hier geht es darum, dass wir schänd- Deutschland nicht zunimmt, sondern abnimmt und dass
lichste und verwerflichste Straftaten in Deutschland ver- die Aufklärungsquoten steigen. Wenn man diese Zahlen
meiden müssen. zur Kenntnis nimmt, müssen wir also eigentlich feststel-
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Men- len: Wir haben einen exorbitant hohen Zuwachs bei der
schenrechte vom 17. Dezember letzten Jahres – es ist Zahl der Sicherungsverwahrten.
schon erwähnt worden – hat uns, gelinde gesagt, vor
große Herausforderungen gestellt. Ich glaube, dass wir Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
mit diesem Gesetzentwurf unter Beweis gestellt haben, Lieber Herr Kollege Montag, ich nehme zur Kennt-
dass wir diese Herausforderung ernst genommen haben. nis, dass die absolute Zahl derjenigen, die in Sicherungs-
Wir nehmen unseren Auftrag ernst, alles dafür zu tun, verwahrung sind, mit Sicherheit in den letzten Jahren ge-
dass keine Gefahr mehr von den Personen ausgeht, die in stiegen ist. Das bestreite ich gar nicht. Aber relativ
der Vergangenheit leider unter Beweis gestellt haben, gesehen ist – deswegen war es mir wichtig, die absoluten
dass sie nicht in der Lage sind, sich selbst davor zu be- Zahlen zu nennen – dieser Anteil im Verhältnis zu denje-
wahren, Mitmenschen, vor allem Kinder, Jugendliche nigen, die insgesamt in Deutschland in Strafhaft sind,
und besonders Mädchen, zu überfallen, zu vergewaltigen minimal.
und in einigen Fällen sogar zu ermorden.
Lieber Herr Kollege Montag, wir können uns schön
Ich möchte der Behauptung, die Sicherungsverwah- über Prozentzahlen und über den Anstieg von 200 auf
rung in Deutschland sei exorbitant ausgeufert, entgegen- 500 Personen unterhalten. Die Bevölkerung – davon bin
treten. Im Jahr 2009 gab es etwas mehr als 61 000 Straf- ich fest überzeugt – interessiert dies herzlich wenig. Wir
gefangene in Deutschland. Davon befanden sich 491 Per- haben die Aufgabe, alles dafür zu tun, dass von denjeni-
sonen in Sicherungsverwahrung. Also gerade einmal gen Sexualstraftätern, die gefährdet sind, wieder rückfäl-
0,8 Prozent derjenigen, die sich in Justizvollzugsanstal- lig zu werden, in Zukunft keine Gefahr mehr ausgeht.
ten in Deutschland befunden haben, waren Sicherungs- Eine Mutter oder einen Vater, die oder der betroffen ist
verwahrte. Ich denke, man kann beileibe nicht sagen, – lieber Herr Kollege Montag, ich habe einen derartigen
dass die Sicherungsverwahrung in den letzten Jahren ex- Fall bei mir im Wahlkreis –, interessiert es herzlich
orbitant ausgeufert ist. wenig, wenn Sie sagen, im Mittel sei die Kriminalität in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7453
Stephan Mayer (Altötting)
(A) Deutschland zurückgegangen, auch bei den einschlä- Rückfallverjährung nicht von 10 Jahren auf 15 oder viel- (C)
gigen Delikten, und es könne doch nicht sein, dass es leicht sogar auf 20 Jahre erhöht.
200 oder 300 Sicherungsverwahrte mehr in Deutschland
gebe. Ein weiterer Punkt, der sehr positiv anzumerken ist,
ist, dass jetzt der Zeitraum zwischen der Anlassverurtei-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lung und der letzten Möglichkeit zur Anordnung der Si-
NEN]: Aber Sie selber müsste es interessie- cherungsverwahrung deutlich verlängert werden soll.
ren!) Damit entsteht für die Staatsanwaltschaften und für die
Das ist lapidar. Diesen Vorwurf muss ich Ihnen machen. Vollstreckungsgerichte wesentlich mehr Flexibilität. Das
Lieber Herr Kollege Montag, gehen Sie bitte nicht so la- heißt, die Sicherungsverwahrung kann bis zur vollstän-
pidar mit den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen der digen Vollstreckung der Freiheitsstrafe angeordnet wer-
Bevölkerung in Deutschland um. den. Bislang war es so, dass dies nur bis sechs Monate
vor Vollzug der Zweidrittelstrafe möglich war. Dies war
Ich möchte einen Fall aus meinem Wahlkreis hier er- ein Hemmnis für die Vollstreckungsgerichte. Insoweit ist
wähnen. Ein 16-jähriges Mädchen ist von einem ein- das, glaube ich, eine sehr gute Neuerung.
schlägig vorbestraften Täter angegriffen worden.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das erzählen Sie jetzt dem Plenum!) Ein weiterer sehr wesentlicher Aspekt des vorliegen-
– Das gehört schon noch zu Ihrer Frage, lieber Herr Kol- den Gesetzentwurfes – auch dieser hat mit dem Fall in
lege Montag. Ich bitte darum, diesen konkreten Sachver- Töging in meinem Wahlkreis zu tun – ist, dass die Siche-
halt zur Kenntnis zu nehmen. – Ein 16-jähriges Mädchen rungsverwahrung in Zukunft auch angeordnet werden
ist mit 27 Messerstichen traktiert und mit Benzin über- kann, wenn im Anschluss an den Aufenthalt in einem
gossen worden. Der Täter hat versucht, das Mädchen zu psychiatrischen Krankenhaus noch eine Restfreiheits-
vergewaltigen. Es ist wirklich glücklichen, meines Er- strafe zu vollstrecken ist. Der konkrete Fall, den ich er-
achtens höheren Umständen zu verdanken, dass das wähnt habe, war so gelagert, dass der Täter nicht in Si-
Mädchen überlebt hat und mittlerweile wieder auf dem cherungsverwahrung genommen werden konnte, weil er
Weg der Besserung ist. genau unter den gerade beschriebenen Sachverhalt fiel.
Da dieser bislang nämlich noch nicht geregelt war,
Ich möchte Sie bitten, mit den Eltern des Mädchens konnte der BGH deshalb leider nicht anders handeln, als
ein Gespräch zu führen und den Eltern zu erzählen, die die Sicherungsverwahrung, die von der Staatsanwalt-
Sicherungsverwahrung habe in Deutschland exorbitant schaft beantragt war, abzulehnen. Diese Regelung des
(B) zugenommen, was bei einem parallel dazu verlaufenden vorliegenden Gesetzentwurfes ist also, wie man sieht, (D)
Rückgang der Kriminalität in Deutschland doch nicht eine für die Praxis sehr relevante Neuerung.
hinnehmbar sei. So einfach, lieber Herr Kollege Montag,
dürfen wir es uns beileibe nicht machen. Erfreulich ist ebenfalls, dass die vorbehaltene Siche-
rungsverwahrung auf den Kreis der Ersttäter erweitert
(Beifall bei der CDU/CSU)
wird. Außerdem wird auf die Regelung, dass ein Hang
Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetzent- des Betroffenen zur Begehung weiterer Straftaten vorlie-
wurf ist eine gute Grundlage. Mit Sicherheit – auch das gen muss, verzichtet. Der Umstand, dass ein Hang zur
sage ich ganz offen, Frau Kollegin Lambrecht – werden Begehung einer weiteren Straftat nicht mit Sicherheit
wir jeglicher konstruktiven Kritik offen gegenüberste- nachgewiesen werden konnte, war in der Vergangenheit
hen. Das ist selbstverständlich. Das ist ein Hauptcharak- häufig der Grund, warum keine Sicherungsverwahrung
teristikum der christlich-liberalen Koalition. Ich sage angeordnet werden konnte.
aber auch ganz offen: Wir werden nicht nur kritisch hin-
terfragen müssen, was an dem vorliegenden Gesetzent- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich möchte
wurf vielleicht noch zu liberalisieren ist, sondern wir nicht verhehlen, dass der Verzicht auf das Instrument
müssen den einen oder anderen Aspekt auch dahin ge- der nachträglichen Sicherungsverwahrung für Neu-
hend kritisch hinterfragen, ob wir nicht hinter den Erfor- fälle meines Erachtens bedauerlich ist, nehme aber zur
dernissen zurückgeblieben sind. Auch das sage ich ganz Kenntnis – das sage ich ganz offen –, dass dieses Instru-
ehrlich. ment in der Vergangenheit nur in sehr wenigen Fällen
Anwendung gefunden hat; die Fallzahl in ganz Deutsch-
(Christine Lambrecht [SPD]: Nennen Sie das land war einstellig. Vor diesem Hintergrund kann man
doch mal!) auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsver-
Ich denke zum Beispiel an den Bereich der Rückfall- wahrung vielleicht verzichten. Ich persönlich hätte zwar
verjährung. Die Rückfallverjährung ist zwar jetzt im gerne gesehen, dass es Bestandteil des Instrumentenkas-
Gesetzentwurf von 5 Jahren auf 10 Jahre erhöht worden, tens bleibt, damit im Fall der Not, wenn sich erst wäh-
aber Sie wissen aus der Praxis – das ist vom Kollegen rend des Strafvollzugs herausstellt, dass von einer Per-
Heveling schon erwähnt worden –, dass die zu kurze son größte Gefahr ausgeht, doch noch die nachträgliche
Rückfallverjährung von bislang 5 Jahren häufig ein Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Aber
Grund dafür war, dass die Sicherungsverwahrung nicht des Kompromisses wegen haben wir uns bereit erklärt,
angeordnet werden konnte. Ich sage ganz offen: Man auf das Instrument der nachträglichen Sicherungsver-
muss sich mit Sicherheit Gedanken machen, ob man die wahrung für Neufälle zu verzichten.
7454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Stephan Mayer (Altötting)


(A) Ich bin sehr froh, dass es mit dem Entwurf eines Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
setzes zur Therapierung und Unterbringung psychisch Nun möchte uns der Kollege Montag noch mit einer
gestörter Gewalttäter gelungen ist, den Umgang mit den abschließenden Kurzintervention erfreuen. Ich gebe ihm
sogenannten Altfällen europarechtskonform und verfas- dazu das Wort.
sungskonform zu regeln.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Das sehen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
wir noch, ob das europarechtskonform ist!) Ich danke Ihnen, Herr Präsident. – Herr Kollege
Mayer, Sie haben in der Beantwortung meiner Frage
Um es ganz klar zu sagen: Ziel der Unterbringung muss auch zu Dingen Stellung genommen, nach denen ich
immer sein, die Personen so zu therapieren, dass sie ir- nicht gefragt habe; das ist aber in Ordnung.
gendwann entlassen und in das Rechtsleben eingeglie-
dert werden können. Man muss deswegen stets den An- Ich will Ihnen sagen, dass ich den Ernst akzeptiere,
satz verfolgen, die Unterbringung so kurz wie möglich mit dem Sie über den schrecklichen Fall in Ihrem Wahl-
zu halten. kreis, den ich kenne, berichtet haben. Ich verzichte hier
an dieser Stelle darauf, ebenfalls über in meinem Wahl-
Ich bin auch froh – das ist ein ganz wesentlicher kreis vorgekommene schreckliche Vorfälle zu berichten,
Punkt, gerade mit Blick auf die innere Sicherheit –, dass
in die Regelungen des vorliegenden Gesetzentwurfes (Christine Lambrecht [SPD]: Danke schön!)
auch die Personen einbezogen werden können, die schon bitte Sie nur herzlich, Folgendes zur Kenntnis zu neh-
entlassen worden sind. Kollege Dr. Krings hat darauf men und in der weiteren Debatte zu beherzigen: Zwi-
hingewiesen: Einige sind schon wieder auf freiem Fuß. schen uns gibt es keine Differenz, wenn es darum geht,
Dadurch werden teilweise Hunderte von Polizeibeamten opferempathisch, den Opfern zugewandt, Rechtspolitik
gebunden. Es sind nämlich ungefähr 20 Polizeibeamte zu betreiben.
erforderlich, um einen Entlassenen rund um die Uhr zu
bewachen; dadurch entstehen Kosten, die in die Hun- Sie waren derjenige, der in seiner Rede die Zahlen an-
derttausende gehen. Mit dem Gesetz zur Therapierung gesprochen hat.
und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter wird
(Christine Lambrecht [SPD]: Ja!)
auch dieser Personenkreis erfasst. Ich glaube, dies ist
insbesondere im Hinblick auf die Sicherheitsbedürfnisse Sie waren derjenige, der in seiner Rede erklärt hat, die
ein ganz wichtiger Aspekt. Zahl der Sicherungsverwahrten sei verschwindend
gering. Deswegen habe ich mir erlaubt, Sie darauf hin-
Ich möchte nicht verhehlen, dass es aus meiner Sicht
zuweisen, dass 500 Sicherungsverwahrte gegenüber
durchaus überlegenswert ist, den Personenkreis, der un-
(B) 60 000 Strafgefangenen natürlich wenige sind. 500 Si- (D)
ter dem Gesetz zur Therapierung und Unterbringung
cherungsverwahrte sind gegenüber der Bevölkerungs-
psychisch gestörter Gewalttäter zu subsumieren ist, zu
zahl von 80 Millionen sogar verschwindend wenige,
erweitern. Aktuell umfasst er Personen, die psychisch
aber wir müssen uns die Tendenz im Rechtsinstitut der
krank sind.
Sicherungsverwahrung anschauen. Dabei stellen wir
(Christine Lambrecht [SPD]: Psychisch ge- eine eklatante Ausweitung fest, ohne dass es entspre-
stört!) chende Begleitindikatoren dafür gibt, wie eine zuneh-
mende Kriminalität oder irgendetwas anderes, durch die
Ich möchte anregen, intensiv darüber nachzudenken, ob das begründet würde. Bei gleichbleibenden äußeren Be-
es nicht notwendig ist, auch Personen einzubeziehen, dingungen und leicht sinkender Schwerstkriminalität
von denen konkret und mit hinreichender Wahrschein- steigt die Zahl der Sicherungsverwahrten exorbitant an.
lichkeit die Gefahr der Begehung einer potenziell schwe- Das muss uns als Rechtspolitiker berühren und befassen.
ren Straftat ausgeht. Dieses Recht müssen wir uns auf je-
den Fall nehmen. Bei aller Berechtigung der Sicht auf die Opfer und auf
den Schrecken der Verbrechen, die begangen werden:
Lieber Herr Kollege Scholz, ich hoffe, dass Sie nicht Wir können Rechtspolitik hier im Hohen Hause nicht
nur bereit sind, über eine Vereinfachung oder Liberali- ausschließlich aus diesem Blickwinkel heraus betreiben.
sierung dieses Gesetzentwurfes konstruktiv und kritisch
mit uns zu diskutieren, sondern auch dann, wenn es da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
rum geht, die eine oder andere vielleicht noch vorhan- bei der SPD und der LINKEN)
dene Lücke zu schließen.
Unter dem Strich kann man sagen: Der vorliegende Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Gesetzentwurf stellt einen ausgewogenen Kompromiss Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung, bitte.
dar, der eine gute Diskussionsgrundlage für den weiteren
Fortgang der Verhandlungen in diesem Hohen Hause Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU):
sein wird. In diesem Sinne glaube ich, dass wir auf den Lieber Herr Kollege Montag, wir kennen uns seit ge-
Gesetzentwurf, der heute vorgelegt wurde, stolz sein raumer Zeit und Sie wissen, dass ich Ihnen in keiner
können. Weise Ernsthaftigkeit und Seriosität abspreche, wenn es
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. um eine Debatte über derart schwierige Themen und vor
allem auch über derart gravierende und schwerwiegende
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schicksale geht. Ich habe die Zahlen nur deshalb ge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7455
Stephan Mayer (Altötting)
(A) nannt, um einmal zu verdeutlichen, dass wir nicht, wie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C)
häufig leider behauptet wird, Hunderte – manche be- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt
haupten sogar: Tausende – es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Niemand
behauptet das!) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der SPD-
Sicherungsverwahrte hier in Deutschland haben.
Fraktion das Wort.
Wir müssen aber auch die Praxis mitberücksichtigen.
Sie haben natürlich recht: Wir können uns bei unserer (Beifall bei der SPD)
Gesetzgebung und unseren Diskussionen nicht nur von
den praktischen Fällen und den Befindlichkeiten in der Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Bevölkerung leiten lassen. Ich bitte aber schon, auch zu Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
sehen, dass all das, was wir hier diskutieren und am Herren! Wir beschäftigen uns heute mit dem Thema
Ende auch verabschieden, zunächst einmal zwar abstrakt Kostenerstattung. Das haben wir in der Öffentlichkeit ja
ist, in der Lebenswirklichkeit draußen dann aber sehr „Vorkasse“ genannt. Ich werde gleich in meinem Vortrag
schnell konkret wird. Deswegen bitte ich darum – ich begründen, weshalb das angemessen ist, auch wenn das
weiß, dass Sie hier auch die notwendige Sensibilität an dem Minister nicht gefällt, weil er es lieber etwas anders
den Tag legen –, dass wir auch diese praktischen Fälle benannt hätte.
– ich habe mir erlaubt, nur einen ganz unaufgeregt und,
Es handelt sich um einen weiteren Vorschlag, den
wie ich denke, sachlich darzustellen – in unsere Ver-
Minister Rösler bzw. die Union und die FDP hier vortra-
handlungen mit einbeziehen. Das war mein Ansinnen.
gen, wie man den gesetzlich Versicherten das Geld aus
Ich weiß – hierüber haben wir uns in der Haushaltsde- der Tasche ziehen kann. Das ist das Thema, über das wir
batte ja auch schon einmal ausgetauscht –, dass es richtig heute sprechen.
ist, die Anzahl der Deliktarten zu reduzieren, für die eine
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Über das Sie spre-
Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Ich
chen!)
habe dies auch kurz erwähnt. Mir geht es in erster Linie
wirklich um die Sexualstraftäter und um die Gewalttäter. Es geht darum: Der Patient hat demnächst vermeint-
Ich möchte niemanden – das ist heute auch schon er- lich die Wahlmöglichkeit, die Leistung beim Arzt im
wähnt worden – wegen Heiratsschwindels, Betrugs oder Prinzip privat in Auftrag zu geben. Er unterschreibt da-
Diebstahls in Sicherungsverwahrung sehen. Hier haben für einen Behandlungsvertrag und bekommt dann später
Sie uns mit Sicherheit auf Ihrer Seite. einen Teil dieser Leistungen von der gesetzlichen Kran-
(B) (D)
(Christine Lambrecht [SPD]: Dann streichen kenkasse erstattet. Einen Teil muss er selbst bezahlen, er
Sie es doch!) muss auch eine Verwaltungsgebühr bezahlen, und er
muss solche Leistungen bezahlen, die er sonst niemals in
Insoweit haben wir wirklich eine gute Gesprächs- Anspruch genommen hätte. Ich fasse einmal zusammen,
grundlage für die weiteren Debatten, und ich denke, in wie das System funktioniert. Sie gehen zum Arzt, der
diesem konstruktiven Zusammensein werden wir dies Arzt macht mit Ihnen einen Vertrag. Dann wird die Leis-
weiter voranbringen. tung erbracht. Die Leistung wird von Ihnen teurer be-
Herzlichen Dank. zahlt, als wenn Sie in der gesetzlichen Kasse wären. Sie
zahlen nämlich einen Verwaltungsaufschlag und müssen
(Beifall bei der CDU/CSU) einen Teil der Kosten selbst tragen. Den anderen Teil der
Kosten müssen Sie sich selbst bei der Kasse besorgen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der Vorschlag beinhaltet sozusagen netto eine Mehrbe-
Ich schließe die Aussprache. lastung für den Versicherten, und es ist sehr bürokra-
tisch.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3403 an die in der Tagesord- In der Anhörung haben wir gehört, dass zum Beispiel
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es die AOK schätzt, dass man im Durchschnitt auf
andere Vorschläge? – Das scheint nicht der Fall zu sein. 50 Prozent der Kosten sitzen bleibt. Das bedeutet, dass
Dann ist die Überweisung so beschlossen. Sie zum Beispiel bei einer Herzkatheteruntersuchung auf
600 oder 700 Euro sitzen bleiben. Wenn Sie die Einsprit-
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 28 auf: zung eines Medikaments in die Augen vornehmen las-
Beratung des Antrags der Abgeordneten sen, um die Gefäße dort nicht wachsen zu lassen – viele
Dr. Edgar Franke, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, Patienten kennen das, Lucentis usw. –, dann müssen Sie
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD selbst 300 Euro bezahlen. Sie kriegen nur Teilbeträge
erstattet. Darauf läuft es hier hinaus.
Patientenschutz statt Lobbyismus – Keine
Vorkasse in der gesetzlichen Krankenversiche- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Muss doch keiner!)
rung Jetzt ist die Frage, weshalb ein solches Vorgehen
– Drucksache 17/3427 – überhaupt vorgeschlagen wird. Wer verlangt nach einem
Überweisungsvorschlag: solchen Vorschlag? Wer will einen solchen Vorschlag?
Ausschuss für Gesundheit Es ist ganz einfach: Minister Rösler und die FDP versu-
7456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Dr. Karl Lauterbach


(A) chen damit auf Kosten des Bürgers, ihr ramponiertes wird es in dieser Kleinstadt augenärztliche Leistungen (C)
Image bei den Ärzten wieder aufzupolieren. nur gegen Vorkasse geben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Maria Michalk [CDU/CSU]: Was haben Sie
DIE GRÜNEN) für ein Arztbild!)

Das ist es, worum es hier geht: Abkassieren, um sich bei Das bedeutet, dass Sie dann wie gesetzlich Versicherte
den Ärzten – insbesondere bei den Fachärzten, die ja für behandelt werden, aber privat bezahlen. Darauf läuft die-
Sie eingetreten sind, Frau Flach, und von denen man ses System hinaus.
jetzt bei jeder Veranstaltung hört, dass sie niemals mehr (Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/
die FDP so unterstützen würden – wieder anzudienen. CSU]: Das geht doch gar nicht! So ein Hum-
Somit geben Sie hier – ich sage es mal so – etwas zu- bug!)
rück.
Was wollen Sie denn dagegen unternehmen, wenn ein
Aber was bedeutet das? Worauf wird das hinauslau- Arzt einem Patienten vorschlägt, ihm bevorzugt einen
fen? Na ja, wir sind am Vorabend der Einführung der Termin zu geben, wenn er bereit ist, Vorkasse zu leisten?
Dreiklassenmedizin. Demnächst wird Patient erster Dagegen können Sie nichts unternehmen, wenn es sich
Klasse der sein, der privat versichert ist. Dann kommt beispielsweise um den einzigen Orthopäden in der Stadt
der Patient zweiter Klasse, der in der Lage ist, in Vor- handelt.
kasse zu treten.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Beschmuddeln
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Sie immer mit Sie nicht Ihren eigenen Berufsstand!)
Ihren Horrorgeschichten!)
– In den Facharztforen ist doch schon zu lesen: Bei mir
Und dann kommt die Holzklasse. Das ist derjenige, der ab jetzt nur Termin gegen Vorkasse. – Verdummen Sie
nicht in Vorkasse treten kann oder will. Das ist das, wo- uns doch nicht. Stehen Sie zu dem, was Sie machen: Sie
rauf es hinausläuft: Dreiklassenmedizin – privat, gesetz- wollen den Ärzten ein Geschenk machen und beim Bür-
lich mit Vorkasse und Holzklasse. ger abkassieren. Etwas anderes zu behaupten, wäre eine
Verdummungspolitik, die eines solchen Plenums nicht
Sie werden dann einen Termin bekommen können, würdig ist.
wenn Sie ankündigen, dass Sie privat versichert sind. Sie
können einen Termin in Anspruch nehmen, wenn Sie an- (Beifall bei der SPD)
kündigen, dass Sie bereit sind, in Vorkasse zu treten. An-
Ich komme zum Schluss.
(B) sonsten sind Sie Bittsteller beim Arzt. Ein solches Sys- (D)
tem wird von uns, auch von der Bevölkerung, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist beruhigend!)
kategorisch abgelehnt. Sie machen hier Politik gegen die
Bevölkerung für eine kleine Gruppe von skrupellosen In der Summe ist nichts gegen eine Kostenerstattung ein-
Ärzten, zuwenden, bei der der Arzt die Rechnung direkt an die
Kasse schickt, somit also die Kasse direkt die Leistung
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ des Arztes bezahlt. Aber dass der Versicherte ausgenom-
CSU und der FDP) men wird, zum Beispiel ein Patient mit niedriger Rente
in Vorleistung treten und sein letztes Geld zur Verfügung
die nur bereit sind, Termine zu vergeben, wenn per Vor- stellen muss, um die medikamentöse oder schmerzlin-
kasse bezahlt werden kann. Das ist es, worum es Ihnen dernde Behandlung zu bekommen, ist in meinen Augen
geht, meine sehr verehrten Damen und Herren. unchristlich. Das sage ich in Richtung der Union. Das ist
(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ eine unchristliche, widerliche Abzocke beim Patienten.
CSU]: Können Sie einmal sagen, was wir ge- Das werden Sie nicht ungestraft umsetzen können.
meinsam mit Ihnen eingeführt haben?) Erinnern Sie sich an meine Worte! Es wird dazu füh-
Der Minister argumentiert dagegen und sagt – das ren, dass Vorkasse eine große Rolle spielen wird, weil
habe ich auch schon vom Kollegen Spahn gehört –: Das ansonsten die Menschen keine Termine mehr bekommen
ist eine freiwillige Angelegenheit, das muss man ja nicht werden. Dann werden wir Ross und Reiter nennen
machen, dazu ist man ja nicht gezwungen. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir haben es zu-
sammen eingeführt!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Maria Michalk [CDU/CSU]: Er weiß nicht und darauf hinweisen, dass das die Geschenke von FDP
mehr, dass er das eingebracht hat! – Heinz und Union an eine kleine Gruppe von Ärzten waren. Da-
Lanfermann [FDP]: Wer hat das denn einge- rum geht es hier. Sie sind aber nicht einmal Manns ge-
bracht?) nug, zu dem Vorschlag zu stehen.
Aber verdummen Sie uns doch hier bitte nicht. Was be- (Beifall bei der SPD – Lars Lindemann [FDP]:
deutet das denn? Wenn beispielsweise – das ist auch für Das steht doch heute schon im Gesetz – Jens
Sie wichtig, Herr Lanfermann – die drei Augenärzte ei- Spahn [CDU/CSU]: Wir haben es zusammen
ner Kleinstadt vereinbaren, dass sie nur gegen Vorkasse eingeführt, Herr Lauterbach! – Heinz
behandeln, wenn Sie sich entsprechend verhalten, dann Lanfermann [FDP]: Politische Demenz!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7457

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Von der SPD habe ich bisher keinen einzigen kon- (C)
Das Wort hat der Kollege Erwin Josef Rüddel von der struktiven Vorschlag gehört, weder zur Deckung des im
CDU/CSU-Fraktion. kommenden Jahr ansonsten drohenden Milliardendefi-
zits noch zur langfristigen Stabilisierung der finanziellen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundlagen unseres Gesundheitssystems.
neten der FDP)
(Heinz Lanfermann [FDP]: Wir haben eine
Erwin Rüddel (CDU/CSU): Kommission eingerichtet!)
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Sie kritisieren nur und wollen den Menschen einreden,
und Herren! Herr Lauterbach, Sie wissen genau, dass die die Gesundheitspolitik könne eine Art Wünsch-dir-was-
Welt eine andere ist. Sie und Ihre Fraktion versuchen, Programm sein, bei dem den einen ständig neue Wohlta-
die gesetzlich Versicherten in Angst und Schrecken zu ten versprochen werden und die anderen stets zahlen.
versetzen.
Ein besonders krasses Beispiel für die Kapriolen, die
(Iris Gleicke [SPD]: Nein, das machen Sie!) Sie dabei schlagen, ist die Deckelung des Arbeitgeber-
Das wird Ihnen aber nicht gelingen. beitrages bei 7,3 Prozent.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Auch der durchschaubare Versuch, jeden Halbsatz des Herr Kollege Rüddel, darf ich Sie kurz unterbrechen?
Ministers dazu zu nutzen, unter den Versicherten Verun- Frau Kollegin Vogler würde Ihnen gerne eine Zwischen-
sicherung zu verbreiten, wird Ihnen nicht gelingen. frage stellen.
(Iris Gleicke [SPD]: Er sagt ja auch immer nur
halbe! – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Warten Erwin Rüddel (CDU/CSU):
Sie ab!) Gern.
Ihr vorliegender Antrag ist ein weiterer Beweis dafür,
dass Sie auf dem falschen Weg sind. Die Wahrheit ist: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Wir haben das solidarische Gesundheitssystem mit ei- Bitte schön.
nem Reformpaket vor dem Kollaps bewahrt.
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) Kathrin Vogler (DIE LINKE):
Danke, Herr Präsident! – Herr Kollege, vielen Dank,
(B) Wir sorgen dafür, dass unser Gesundheitssystem funk- dass Sie eine Zwischenfrage zulassen. Mir wird nicht (D)
tionsfähig bleibt, und wir stellen sicher, dass das 2011 klar, worüber Sie eigentlich reden.
drohende Defizit in Höhe von 11 Milliarden Euro ausge-
glichen wird. Die christlich-liberale Koalition hat getan, (Heinz Lanfermann [FDP]: Der ist noch gar
was nötig war. nicht fertig!)
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ Wenn wir, voraussichtlich in der nächsten Sitzungswo-
DIE GRÜNEN]: Was hat die Vorkasse damit che, über den Entwurf eines GKV-Finanzierungsgeset-
zu tun?) zes diskutieren werden, können Sie Ihre Lobrede auf das
Gesetzespaket halten. Aber mir wird überhaupt nicht
Wir stabilisieren die Einnahmen, begrenzen die Ausga- klar, wie Vorkasse – über genau diesen Punkt diskutieren
ben, stellen die Finanzierung auf eine solide Grundlage, wir heute – zur Finanzierung der gesetzlichen Kranken-
schaffen die Voraussetzungen für mehr Wettbewerb und versicherung beitragen soll; denn weder hat die gesetzli-
sorgen für einen gerechten Sozialausgleich. che Krankenversicherung dadurch einen einzigen Euro
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Mehreinnahmen oder um einen einzigen Euro geringere
der FDP – Zurufe von der SPD) Ausgaben, noch haben die Versicherten irgendetwas da-
von. Die Leistungen, die die Ärzte erbringen, müssen
Der Erfolg unserer Bemühungen zeigt sich daran, nämlich im Prinzip die gleichen sein, nur dass die Versi-
dass die gesetzlichen Krankenkassen im kommenden cherten dann mehr dafür zahlen müssen, und das auch
Jahr keine Zusatzbeiträge erheben müssen. Das ist ein- noch aus der privaten Tasche.
deutig ein Verdienst unseres Reformpakets.
(Willi Zylajew [CDU/CSU]: Freiwillig!)
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wir reden jetzt gerade über Meine Fragen lauten: Wie soll eine Rentnerin mit ei-
Vorkasse!) ner Monatsrente in Höhe von 600 oder 800 Euro in Vor-
kasse treten?
Damit sind auch all jene widerlegt, die in den vergange-
nen Wochen und Monaten die Gesundheitsreform der (Beifall bei der LINKEN und der SPD)
Koalition teilweise maßlos kritisiert und damit die Bür-
gerinnen und Bürger unnötig in Angst versetzt haben. Was soll die Lidl-Verkäuferin dazu bewegen, einen Ver-
trag mit ihrer gesetzlichen Krankenversicherung über
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Vorkasse abzuschließen, wenn sie doch meistens schon
der FDP) am 20. eines Monats kein Geld mehr hat?
7458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Erwin Rüddel (CDU/CSU): wendig und deshalb politisch richtig und vernünftig war. (C)
Liebe Frau Kollegin, wir sichern derzeit die Basis da- Um unser Gesundheitswesen langfristig auf eine solide
für, dass unser Gesundheitssystem stabil bleibt. Wir finanzielle Grundlage zu stellen, werden wir noch in die-
müssen alte Denkmuster überwinden. Wir schaffen jetzt ser Legislaturperiode weitere Schritte unternehmen und
die Basis für strukturelle Veränderungen, um unser Sys- den Umbau von teilweise völlig verkrusteten Strukturen
tem in Zukunft noch transparenter und besser zu ma- in Angriff nehmen. Es sind also neue Ideen gefragt. Alte
chen. Die Kostenerstattung ist nur eine Möglichkeit und Denkmuster müssen überwunden werden, um unser Ge-
keine Pflicht. sundheitssystem zukunftsfest zu machen.
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ziehen Sie es (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Wer hat Ihnen
doch zurück!) denn das erzählt?)
Ich werde Ihnen in meinen weiteren Ausführungen bele- Und dann kommen Sie mit diesem Antrag! Schon die
gen, dass das dem einzelnen Patienten mehr Entschei- Wortwahl beweist, dass es Ihnen nicht um eine konstruk-
dungsfreiheit gibt und ihn nicht drangsaliert. tive, auch nicht um eine sachliche Debatte geht, sondern
um Panikmache und Denkverbote.
(Iris Gleicke [SPD]: Da klatscht nicht einmal die
eigene Fraktion! Das kann ich verstehen!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Ich komme zur Deckelung des Arbeitgeberbeitrags Zuerst zu der Panikmache: Tatsache ist, dass auch
bei 7,3 Prozent zurück: Diese Maßnahme wurde erst- künftig kein einziger Kassenpatient gezwungen sein
mals von der rot-grünen Regierung eingeführt und ist ab- wird, seine Behandlungskosten selbst zu zahlen und sich
solut sinnvoll. Sie leugnen aber mittlerweile die Urhe- anschließend um deren Erstattung bei der jeweiligen
berschaft. Krankenkasse zu kümmern.
Meine Damen und Herren, mir ist besonders wichtig, (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und
dass unser Gesundheitssystem sozial bleibt und trans- der LINKEN)
parenter wird. Mit unserem Reformpaket gibt es keine
Leistungseinschränkungen für Patienten. Alle Bürge- Wer das den gesetzlich krankenversicherten Menschen
rinnen und Bürger erhalten weiterhin die beste medizini- zu suggerieren versucht, verbreitet schlicht und einfach
sche Behandlung und haben am medizinischen Fort- die Unwahrheit.
schritt teil, und – auch das ist wichtig – alle Akteure im (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Gesundheitswesen müssen ihren Beitrag leisten. Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Stellen Sie sich
(B) Wenn Sie uns entgegenhalten, dass von allen Seiten doch nicht dumm!) (D)
Kritik an unserem Reformpaket geübt wird, dann kann
Dann zu den Denkverboten: Der Bundesgesund-
ich Ihnen nur antworten: Wenn Lobbyisten jeder Cou-
heitsminister hat von Überlegungen gesprochen, Kas-
leur, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kranken-
senpatienten künftig eine Wahlmöglichkeit einzuräu-
häuser, Apotheken, Krankenkassen und Pharmaindust-
men, die Behandlungskosten selbst zu begleichen und
rie, Ärzte- und Versichertenvertreter einträchtig ihre
den Betrag von der Kasse erstattet zu bekommen. Er hat
Unzufriedenheit kundtun, dann spricht das eigentlich nur
davon gesprochen, dass mehr Transparenz ins System
für die Ausgewogenheit dieser Reform und für die ge-
kommen muss, dass die Versicherten schwarz auf weiß
rechte Verteilung der Lasten.
sehen sollen, welche Leistungen ihr Arzt abgerechnet
(Beifall bei der CDU/CSU) hat. Er hat von Kostenbewusstsein gesprochen und da-
von, dass es versehentliche und absichtliche Falschbe-
Jeder weiß, dass die Menschen immer älter werden rechnungen zu vermeiden gilt. Weiter hat der Minister
und dass der medizinische Fortschritt zusätzliche Kosten von Wahltarifen gesprochen, die sowohl für die Patien-
mit sich bringt. ten als auch für die Kassen attraktiv sein können, indem
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ sie das System insgesamt flexibler machen und den
DIE GRÜNEN]: Eben! Und deshalb ist das Wettbewerb unter den Kassen zum Nutzen der Versi-
eine verfehlte Politik!) cherten fördern. Und schließlich hat der Minister ange-
regt, in kleinen Schritten Elemente aus der privaten Ver-
Eine alternde Gesellschaft, die zugleich medizinischen sicherung im System der gesetzlichen Kassen
Fortschritt und eine flächendeckende Versorgung will, auszuprobieren
muss wissen, dass die Gesundheitskosten auf Dauer
nicht billiger werden können. (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Jetzt kommen wir der Sache
(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist Ihre auf den Grund! – Elke Ferner [SPD]: Also
Klientelpolitik! Deshalb wird es immer teu- doch Privatisierung! – Weitere Zurufe von der
rer!) LINKEN)
Deshalb müssen wir, wenn wir weiter in die Zukunft und umgekehrt. Ich weiß wirklich nicht, was Sie gegen
schauen, künftig noch mehr tun. Wir verbinden mit un- diese Überlegungen haben.
serer Reform nicht den Anspruch, ein Jahrhundertwerk
vorgelegt zu haben. Wir haben vielmehr das umgesetzt, Ich bin zum Beispiel dafür, möglichst bald mit der ge-
was sachlich geboten, was finanziell unabweisbar not- nerellen Einführung von Arztquittungen zu beginnen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7459
Erwin Rüddel
(A) (Elke Ferner [SPD]: Das haben wir doch (Elke Ferner [SPD]: Wer schreibt Ihnen diese (C)
schon! – Doris Barnett [SPD]: Das ist jetzt Märchen auf!)
schon möglich!)
Wo sind die Alternativen? Ich sehe sie nicht, und ich
Dabei geht es nicht um eine Rechnung mit Kostenerstat- sehe sie erst recht nicht in Ihrem Antrag.
tung, sondern um einen Beleg, der den Versicherten über (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Mal lesen! Ein-
seine Behandlungskosten informiert. Das wäre eine gute mal die Brille putzen!)
Sache.
Was soll geschehen, wenn wir demnächst deutlich mehr
(Elke Ferner [SPD]: Herr Kollege, das gibt es Rentner, zugleich aber deutlich weniger Beitragszahler
schon!) haben?
Denn nur informierte Patienten sind mündige Patienten, (Elke Ferner [SPD]: Die Rentner bekommen die
und nur mündige Patienten können den Anbietern von Rente gekürzt, wenn es nach Ihnen geht!)
Gesundheitsleistungen auf gleicher Augenhöhe begeg-
nen. Sollen die Arbeitskosten weiter in die Höhe getrieben
werden und die Kassenbeiträge der Facharbeiter weiter
(Beifall bei der CDU/CSU) ins Uferlose steigen?
Das deckt sich übrigens mit entsprechenden Forderun- (Iris Gleicke [SPD]: Jetzt ist es gut!)
gen der Verbraucherzentralen. Was haben Sie also gegen
diese Vorschläge? Das sind doch die Fragen, um die es geht.

Meine Damen und Herren, wir brauchen mehr Trans- Wir werden jedenfalls auch ohne Sie die Aufgabe in
parenz bei Leistungen und Preisen, Angriff nehmen, unser Gesundheitssystem dauerhaft zu
sichern. Wir wollen dafür sorgen, dass wir jedem die
(Hilde Mattheis [SPD]: Eine neue Regierung!) beste medizinische Behandlung garantieren können, die
im individuellen Krankheitsfall benötigt wird, dass es
mehr Eigenverantwortung, mehr Wettbewerb, mehr in- keine Leistungseinschränkungen für die Versicherten
novative Angebote, mehr grenzüberschreitende Ele- gibt, dass insbesondere die gesundheitliche Vorsorge
mente zwischen gesetzlicher und privater Versicherung, auch im ländlichen Raum gewährleistet ist und dass alle
mehr Synergieeffekte und nicht zuletzt auch mehr Effi- Bürgerinnen und Bürger weiterhin in vollem Umfang am
zienz in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Ge- medizinischen Fortschritt teilhaben können. Dabei las-
sundheitswesens, wenn wir die flächendeckende Versor- sen wir uns von den Grundsätzen der Solidarität und
gung langfristig sicherstellen wollen, ohne dass uns die der Eigenverantwortung leiten. Ohne ein Mindestmaß (D)
(B) Kosten aus dem Ruder laufen.
an Eigenverantwortung geht es nicht; sonst ist Solidarität
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ auf Dauer nicht finanzierbar. Wer das leugnet, ist nicht
DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit Kosten- ehrlich zu den Versicherten.
erstattung zu tun?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Mit Denkverboten, wie Sie sie uns verordnen wollen, neten der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]:
kommen wir nicht weiter. Deshalb sage ich Ihnen, dass Filibuster!)
die Polemik gegen die Zusatzbeiträge in Ihrem uns vor-
liegenden Antrag nicht redlich ist. Sie haben doch mit Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
uns in der Großen Koalition die Einführung von Zusatz- Das Wort hat nun Kollege Harald Weinberg für die
beiträgen beschlossen, und ausgerechnet jetzt, wo wir Fraktion Die Linke.
die Zusatzbeiträge sozial abfedern, wo durch die Steuer-
(Beifall bei der LINKEN)
finanzierung des Sozialausgleichs auch Einkünfte aus
Unternehmensgewinnen, Kapitalerträgen und von Pri-
vatversicherten hinzugezogen werden, Harald Weinberg (DIE LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
(Elke Ferner [SPD]: Stimmt doch nicht! Lügen Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Sie sich doch nicht in die Tasche!) Rüddel, die gesetzlich Versicherten in Angst und Schre-
da stellen Sie sich öffentlich hin und beschwören den cken zu versetzen, das schafft diese Koalition schon al-
drohenden Untergang unseres solidarischen Gesund- leine.
heitssystems. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben doch beim letz- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
ten Mal den Sozialausgleich verhindert!) GRÜNEN)
Bei Ihren Ausführungen ist mir deutlich geworden:
Wir stellen die Finanzierung auf eine breitere Basis.
Diese Kostenerstattung muss wirklich ein ganz wunder-
Das ist gerechter als das alte System. Durch die Steuer-
bares Instrument sein. Was dadurch alles geschafft wird,
finanzierung wird jeder nach seiner tatsächlichen Leis-
das ist bemerkenswert.
tungsfähigkeit, auch mit seinen zusätzlichen Einkünften
und auch bei Einkommen oberhalb der Beitragsbemes- Nun zum Thema. Am Dienstag hatten die Innungskran-
sungsgrenze, seinen Beitrag leisten. kenkassen zu einer Veranstaltung rund um die Qualität in
7460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Harald Weinberg
(A) der Gesundheitsversorgung geladen. Die Einführungs- An diesem Punkt kommt der Einwand – wir haben es (C)
rednerin war die Staatssekretärin im Gesundheitsministe- schon gehört –, es werde niemand gezwungen; Vorkasse
rium. Ihre zentrale Aussage – ich teile sie ausdrücklich – und Kostenerstattung seien freiwillig.
war: Gesicherte, nachgewiesene Qualität soll die Regel
sein und nicht extra vergütet werden. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!)

Wie sieht die Politik der Bundesregierung in der Rea- Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Ärzte erst einmal mer-
lität aus? Sie will Ärztinnen und Ärzten ein höheres ken, wie viel mehr Geld sie damit verdienen bzw. erhal-
Einkommen sichern, gleichzeitig die bestehende Quali- ten können, werden sie den Patienten diese Kostenerstat-
tätssicherung der Kassen und kassenärztlichen Vereini- tung mehr oder weniger deutlich nahelegen. Dann wird
gungen durch Vorkasse und Kostenerstattung abschaffen es bei der Terminvergabe heißen: Geht es gegen Kosten-
oder stark einschränken. Die Bundesregierung will, dass erstattung oder gegen Kasse? – Kostenerstattung führt
stattdessen der einzelne Patient mit seiner Ärztin über zum schnellen Termin, Kasse kann warten.
Menge, Qualität und Preis verhandelt und nicht mehr die
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der
Krankenkassen. Ich sage Ihnen: Das können die Patien-
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
ten nicht.
NEN)
Erstens. Patienten sind deshalb Patienten, weil sie
krank sind. Bemerkenswert ist doch auch: Ein Arzt verhält sich in
einem wettbewerblichen System, welches Sie von der
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Ja!) Regierung ja wollen, völlig folgerichtig. Wer mehr zahlt,
Sie sind angewiesen auf den Arzt. Die Bundesregierung bekommt auch mehr und früher Leistung. Genau das
schafft aber Anreize für geschäftstüchtige Ärzte, diese wollen Sie; Sie wollen das System verwettbewerblichen.
Notsituation auszunutzen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Zweitens. Patienten sind dem Arzt in aller Regel fach- Die Linke bleibt bei der Ansicht: Die Gesundheit ei-
lich unterlegen. Wenn die Ärztin sagt: „Das ist die Dia- nes jeden Menschen ist gleich viel wert, egal ob reich
gnose; dafür brauchen wir die Therapien A, B und C“, oder arm. Deswegen müssen sich Terminvergabe, Dia-
kann der Patient weder die Richtigkeit der Diagnose gnose und Therapie nach medizinischen Kriterien rich-
noch die Notwendigkeit der einzelnen Therapien ab- ten und nicht nach dem Geldbeutel.
schätzen. Der Patient ist in erster Linie angewiesen auf
den Rat der Ärztin. Er wird nicht sagen: Na ja, die The- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
rapien B und C nehme ich; aber auf Therapie A ver- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
(B) zichte ich einmal. GRÜNEN) (D)
Drittens. Der Patient kann kaum beurteilen, ob die Der Einzige, der von den Kostenerstattungstarifen di-
Therapie in einer angemessenen, schlechten oder guten rekt etwas hat, ist der Arzt. Er rechnet ab nach der Ge-
Qualität erbracht wird. Er kann ein gutes oder schlechtes bührenordnung für Ärzte. Erstattet wird aber nur die
Gefühl bei der Behandlung haben, mehr nicht. Mit Qua- Kassenleistung. Die Patienten bleiben also auf den Zu-
litätssicherung hat das nichts, aber auch gar nichts zu satzkosten sitzen; das ist bereits angesprochen worden.
tun. Die Ärzte freuen sich, wenn denn die von ihnen ausge-
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- stellten Rechnungen – das Risiko tragen allerdings die
neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ärzte – auch bezahlt werden.
GRÜNEN) Für solche Fälle hat die Koalition gleich eine Lösung
Viertens. Der Patient kann nicht beurteilen, ob der parat: private Zusatzversicherungen. Kollege Spahn
Preis, den er für die Diagnose und die Therapie zahlt, an- hat auch eine solche Zusatzversicherung, und er gab zu
gemessen, zu hoch oder ein Sonderangebot ist. Der Pa- – ich zitiere wörtlich –, sie sei „schweineteuer“. Ich weiß
tient kann sich, wenn er krank ist, in aller Regel nicht nicht, was Kollege Spahn bezahlt, aber der Preis einer
umhören, welcher Arzt das beste Preis-Leistungs-Ver- solchen Versicherung richtet sich unter anderem nach
hältnis bietet. dem Alter. Kollege Spahn dürfte mit seinen 30 Jahren
doch noch relativ günstig davonkommen. Ich habe ein-
(Lars Lindemann [FDP]: Dafür gibt es die mal nachgeschaut: Ein 30-jähriger Mann zahlt für eine
GOÄ, Herr Kollege! – Gegenruf der Abg. Zusatzversicherung nur für den ambulanten Bereich
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: In wel- 76 Euro im Monat.
cher Welt leben Sie denn?)
(Lars Lindemann [FDP]: Was deckt die ab?)
Selbst wenn dies möglich wäre: Die Linke will, dass die
Patientinnen und Patienten weiterhin die freie Arztwahl Wäre Kollege Spahn eine Frau, könnte also schwanger
haben, ohne vorher das günstigste Angebot einholen zu werden, wären es schon 105 Euro.
müssen. Die Linke will, dass Ärzte Ärzte bleiben und die
Arztpraxis nicht zu einem Basar wird. (Heinz Lanfermann [FDP]: Da hat er Glück
gehabt!)
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Jens Ackermann [FDP]: Das Für eine 59-Jährige würde das Ganze schon 170 Euro
ist kompletter Unfug!) kosten – 170 Euro im Monat!
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7461
Harald Weinberg
(A) (Dr. Karl Lauterbach [SPD], an den Abg. Heinz (Heinz Lanfermann [FDP]: Und Sie wollen die (C)
Lanfermann [FDP] gewandt: Herr Lanfermann, Uhren verbieten!)
was kostet es bei Ihnen?)
Bei einer Uhr mag es ja vielleicht noch angehen, dass
Dafür, so werben die Versicherungen, würde man auch sich viele dann doch für Stahl, Plastik oder gar keine Uhr
erster Klasse, wie ein Privatversicherter, behandelt. Aber entscheiden müssen.
ich frage Sie: Wer hat denn so viel Geld? Rechnen Sie (Heinz Lanfermann [FDP]: Eine Zentraluhr
doch einmal aus, was das für eine komplette Familie reicht dann!)
kostet. Welche Familie kann sich das leisten? Für über
60-Jährige hat der Anbieter, bei dem ich mich erkundigt Aber im Gesundheitssystem haben solche Überlegungen
habe, gar keine Tarife im Angebot. Wer profitiert also und solche sozialen Unterschiede nichts, aber auch gar
neben dem Arzt noch von der Kostenerstattung? – Ge- nichts zu suchen.
nau, das Lieblingskind dieser Regierung, die private
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Krankenversicherung.
neten der SPD und der Abg. Maria Anna
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
neten der SPD – Jörn Wunderlich [DIE NEN])
LINKE]: Hört! Hört! Da haben wir die Ziel- Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Kostenerstat-
gruppe!) tung hat keinen einzigen Vorteil für die Versicherten und
Nun kann man über Vorkasse und Kostenerstattung das Gesundheitssystem als Ganzes. Es wird erstens teu-
verschiedener Auffassung sein. Ich denke, meine Auf- rer und ineffizienter, zweitens findet keine effektive
fassung ist klar geworden. Nur verstehe ich eines nicht: Qualitätssicherung statt, und drittens bekommen wir mit
Wenn man – wie die Bundesregierung – denkt, dass das Vorkasse und Kostenerstattung eine Dreiklassenmedi-
Prinzip der Kostenerstattung dem gängigen Sachleis- zin – es ist bereits darauf hingewiesen worden –, in der
tungsprinzip überlegen ist, dann sollte man es doch ver- nur diejenigen angemessen behandelt werden, die genug
pflichtend für alle einführen. Geld auf dem Konto haben.

(Ulrike Flach [FDP]: Das würde euch so pas- Dem heute zu debattierenden Antrag der SPD ist des-
sen!) halb zuzustimmen. Meine Fraktion wird ihn selbstver-
ständlich unterstützen. Ich freue mich auch deswegen
Wenn man aber wie die Linke und 99,8 Prozent der Ver- außerordentlich über diese richtige Initiative der SPD,
sicherten aus guten Gründen der gegenteiligen Auffas- weil die SPD selbst gemeinsam mit Grünen und Union
(B) sung ist, sollte man die Finger davon lassen und diese die Vorkasse und Kostenerstattung für Pflichtversicherte (D)
Regelung ganz streichen. 2004 gegen den Widerstand der damaligen PDS-Abge-
ordneten eingeführt hatte.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten der SPD) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Davon gab es hier gar keine! – Heinz
Was macht aber die Koalition? Sie verkürzt die Bin- Lanfermann [FDP]: Das hat er verschwiegen!)
dungsfrist, senkt den Anteil, den die Kassen für die zu-
sätzliche Bürokratie berechnen dürfen, und streicht die Die Kostenerstattung ist aus unserer Sicht ein weite-
schriftliche Bestätigung für die Aufklärung durch den rer Schritt, um die noch überwiegend solidarische Kran-
Arzt. Die Regierung sagt, die Kostenerstattung sei nach kenversicherung in Richtung Privatversicherung und
wie vor freiwillig. Sie senkt aber die Hürden für die Vor- Kommerzialisierung zu verschieben. Eine weitere Ver-
kasse und erhöht damit den Druck auf die Versicherten. wettbewerblichung des Gesundheitssystems, eine wei-
tere Privatisierung ist schon immer auf unseren entschie-
Klar ist: Die Regierung will das Sachleistungsprin- denen Widerstand gestoßen. Gesundheitsversorgung
zip schwächen, will aber für die Folgen offensichtlich muss ein Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge
nicht verantwortlich gemacht werden. Immer dann, bleiben. Dafür wird die Linke immer streiten.
wenn man gegen die Kostenerstattung argumentiert,
Vielen Dank.
heißt es: Wir zwingen doch keinen dazu. – Das ist fast
so, wie ein bisschen schwanger zu sein – auf freiwilliger (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Basis, versteht sich. neten der SPD)
(Heiterkeit bei der LINKEN)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Jetzt kommt in aller Regel das Totschlagargument Das Wort hat nun Kollege Heinz Lanfermann für die
– wir haben es gerade auch wieder gehört –: Selbstbe- FDP-Fraktion.
stimmung und Eigenverantwortung der Versicherten. Je-
der und jede soll frei entscheiden können, ob ihm oder (Beifall bei der FDP)
ihr die Gesundheit ein paar Dutzend Euro mehr im Mo-
nat wert ist oder nicht. Ja, so ist das in Ihrer Welt. Jeder Heinz Lanfermann (FDP):
hat schließlich in diesem Land das Recht, völlig frei ent- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
scheiden zu können, ob er sich eine Uhr aus Gold kaufen ren! Der SPD-Antrag, über den wir heute sprechen, ist
will oder ob die aus Platin vielleicht noch schöner ist. erstaunlich dünn und schmalbrüstig. Herr Kollege
7462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Heinz Lanfermann
(A) Lauterbach, Sie haben die entsprechende Einführungs- tens mithilfe einer Schiedsstelle – zu fairen Preisen füh- (C)
rede dazu gehalten. Ich kann Ihnen nur sagen: Es handelt ren.
sich in gewissem Sinne um einen Phantomantrag, da das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
von Ihnen gewählte und hier nicht sehr erfolgreich ver-
der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Ja, für die
teidigte Wort „Vorkasse“ ein Phantomwort ist.
Pharmaindustrie!)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wir führen die Beitragsautonomie der Krankenkassen
Wenn Sie sich tatsächlich mit dem Thema auseinan- wieder ein, und wir machen die Beiträge zukunftsfähig.
dergesetzt hätten, hätten Sie sich die Gesetzentwürfe an- (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Reden Sie
gesehen, die wir zurzeit im Ausschuss beraten und über zum Thema, Herr Lanfermann!)
die in zwei Wochen hier debattiert wird. Außerdem hät-
ten Sie erwähnen müssen, dass es sich um eine rein frei- Wir wollen uns darum kümmern, dass es durch die Ab-
willige Angelegenheit handelt. An Herrn Weinberg ge- koppelung von den Lohnkosten zu konjunkturunabhän-
richtet: Wir gehen nicht hin und verbieten ein Angebot, gigen Mehreinnahmen kommt. Damit sichern wir Ar-
weil irgendwo irgendjemand von Ihnen verdächtigt wird, beitsplätze. Wir machen auch den Weg frei für mehr
damit Missbrauch zu treiben. Wir eröffnen den Men- Eigenverantwortung, für Wahlfreiheit – eben auch für
schen vielmehr die Chance, etwas freiwillig zu machen. GKV-Versicherte – und für neue Tarife. Entsprechende
Dies geschieht natürlich nach Beratung und in Kenntnis Entwürfe werden wir in Zukunft noch vorlegen.
aller Umstände. Sie aber legen einen Antrag vor, der wirklich erstaun-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lich ist. In 19 Zeilen, die mit „Feststellungen“ über-
der CDU/CSU) schrieben sind, findet sich keinerlei Tatsachendarstel-
lung. Es findet sich aber ein Wortgeklingel, in dem sich
Herr Lauterbach, Sie haben vergessen, zu erwähnen, zum Beispiel folgende Worte finden: „wird“, „werden“,
dass auch Sie an der Einführung dieses Instruments be- „plant“ – alles auf die Regierung bezogen –, „Ihr Ziel
teiligt waren. Sie haben auch vergessen, dass in den An- ist“, „vor allem … lockt die Chance“, „am Ende stehen“,
trägen, über die wir sprechen werden, verbesserte Bedin- „am Ende sind“, „die geplanten Änderungen“ und „sie
gungen für die Versicherten vorgesehen sind. Zum führen“. Es handelt sich dabei um reine Spekulationen
Beispiel soll der Verwaltungsanteil, den die Patienten und um lauter Unterstellungen. Sie konstruieren dadurch
bezahlen müssen, nicht mehr zwangsweise 10 Prozent auch ein völlig falsches Bild von den Ärzten. Wenn ich
betragen, sondern nur noch bis zu 5 Prozent. Das ist ers- Sie so höre, dann wundere ich mich, dass in Deutschland
tens weniger und eröffnet zweitens den Kassen die Mög- noch jemand den Mut hat, zu einem Arzt zu gehen.
(B) lichkeit, damit Wettbewerb zu betreiben. Den Wettbe- (D)
werb aber haben Sie quasi abgeschafft, und wir werden (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ihn für die Kassen stückweise wieder einführen. Herr Lauterbach, Sie haben hier nur Dinge erwähnt,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten die fern der Realität sind. Sie haben den Menschen
der CDU/CSU) Angst gemacht.
Es ist in diesen Tagen eine seltsame Zweiteilung der (Elke Ferner [SPD]: Sie machen den Men-
Gesundheitspolitik zu beobachten. Nach einem Jahr fah- schen Angst!)
ren wir, die Koalition, nun die Erfolge der von uns ge- Sie haben nicht erwähnt, dass es sich um ein freiwilliges
leisteten Arbeit ein; Angebot handelt, das wir den Menschen bieten wollen.
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie leiden sozusagen an einem Vorkassephantom-
NEN]: Was denn? Sie haben doch gar nichts schmerz;
getan!) (Lachen bei Abgeordneten der SPD und der
Herr Kollege Rüddel hat sie alle aufgezählt: Das Defizit LINKEN)
von 11 Milliarden Euro wurde bewältigt. Das Gesund- das gilt im Übrigen auch für Herrn Weinberg und Frau
heitssystem wurde gesichert. Es wurde dafür gesorgt, Vogler. Sie bilden sich etwas ein und behaupten etwas,
dass die gute Versorgung auch in Zukunft bezahlbar ist. das völlig aus der Luft gegriffen ist. Anschließend sagen
Wir haben im Bereich der Arzneimittel einen Struktur- Sie, dass das die Pläne der Koalition seien. Das ist eine
wechsel vollzogen. böswillige Unterstellung, Herr Lauterbach. Ich kann nur
sagen: Damit werden Sie nicht allzu weit kommen.
(Elke Ferner [SPD]: Das ist lächerlich!)
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
Wir haben etwas geschafft, was Sie jahrzehntelang nicht
DIE GRÜNEN]: Wo ist der Unterschied zwi-
geschafft und vielleicht sogar – so mein Eindruck – gar
schen Kostenerstattung und Vorkasse? Führen
nicht gewollt haben: Die Pharmaindustrie konnte bisher
Sie das doch einmal aus!)
bestimmte Preise völlig frei festsetzen. Sie haben das ge-
duldet. Und Sie haben in der Vergangenheit im Übrigen Sie kommen deswegen nicht allzu weit, weil Sie sich
auch gedealt. Wir haben das jetzt geändert, indem wir das nicht konstruktiv mit den Themen beschäftigen, die für
neue System auf den Weg gebracht haben, nach dem die einen Strukturwandel im Gesundheitswesen wirklich
Hersteller die Preise mit den Krankenkassen aushandeln wichtig sind. Wir wollen doch nicht vergessen, dass das
müssen. Diese Verhandlungen werden am Ende – spätes- Gesundheitssystem das Bürokratischste und Dirigis-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7463
Heinz Lanfermann
(A) tischste ist, was wir uns in Deutschland leisten. Daran (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C)
gilt es, zu arbeiten. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
KEN)
(Beifall bei der FDP – Mechthild Rawert
[SPD]: Sie bauen die Bürokratie doch auf! – Er hat zwei wichtige Punkte herausgehoben, nämlich
Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zum einen, dass es sich bei der Abkehr vom Sachleis-
NEN]: Dann wird es doch erst richtig bürokra- tungsprinzip um eine Qualitätsfrage handelt. Es stellt
tisch!) sich folgende Frage: Wie stellen wir sicher, dass sich alle
Patienten, alle Versicherten darauf verlassen können,
Wir müssen die Dinge einfacher gestalten. Das gilt dass sie wirklich eine qualitätsgesicherte, gute Versor-
auch für die Honorare. Das gilt auch für die Frage, wie gung bekommen, dass sie sich vertrauensvoll an den
wir zum Beispiel die Versorgung im ländlichen Raum si- Arzt wenden und sicher sein können, dass sie die gemes-
cherstellen. Dies alles sind Themen, an denen man arbei- sen am hippokratischen Eid richtige Heilungs- und The-
ten muss. rapieempfehlung bekommen und dabei finanzielle
Was haben Sie uns in dem einen Jahr geboten? Gründe keine Rolle spielen? Ich finde, das ist ein ganz
wichtiges Prinzip, das wir in unserer gesetzlichen Kran-
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ kenversicherung zum Schutz der Patienten eingerichtet
DIE GRÜNEN]: Sie haben uns jedenfalls haben, worauf wir zu Recht stolz sind. 70 Prozent der
keine neue Versorgungsplanung geboten!) Bevölkerung sagen zu Recht: Ich will auf jeden Fall das
Sachleistungsprinzip, weil es sicherstellt, dass ich auch
Es gab mehrfach Versprechungen zu einer Sache, von
und gerade in einer Phase existenzieller Not, in einer
der niemand weiß, was Sie damit eigentlich meinen.
sehr empfindlichen und verletzlichen Phase in meinem
Dazu gibt es das schöne Wort von der Bürgerversiche-
Leben vertrauensvoll begleitet werde.
rung, die im Grunde nie fertig wird. Ich glaube, es wäre
besser gewesen, Sie hätten in der Kommission mitgear- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
beitet, die der SPD-Bundesvorstand hierzu eingerichtet sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
hat, anstatt hier einen solch dünnen Antrag vorzulegen, KEN)
der von der Sache her überhaupt nichts bringt.
Aber das wollen Sie mit der Ausweitung der Kostener-
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stattung infrage stellen.
NEN]: Legen Sie doch erst einmal etwas vor!
Es ist Ihr Ministerium!) Die FDP – Herr Lanfermann, dazu haben Sie heute
keinen einzigen Ton gesagt – will die vollständige Ab-
(B) Trotzdem werden wir ihn gerne im Ausschuss beraten, kehr vom Sachleistungsprinzip. (D)
um Ihnen einmal Zeile für Zeile zu zeigen, wo die Reali-
tät liegt. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Eben!)
Zur Bürgerversicherung, Herr Lauterbach, kann ich
nur sagen: Werden Sie endlich wach! Stellen Sie sich der Das ist Ihre Programmlage beim Umbau des gesetzli-
Realität! Laufen Sie nicht einem Traum hinterher, der chen Gesundheitssystems.
von der Öffentlichkeit schon jetzt zu Recht als Schild- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
bürgerversicherung verspottet wird. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN-
Vielen Dank. KEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Nur wer es sich leisten kann, geht
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zum Arzt!)
Das haben Sie aber in keinster Weise angeführt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun die Kollegin Maria Klein-Schmeink (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben nicht zu-
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. gehört! Ich habe von der Freiwilligkeit gespro-
chen!)
Maria Anna Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE – Ja, von der Freiwilligkeit. Aber Sie sagen doch von der
GRÜNEN): FDP, dass Sie die gesetzliche Krankenversicherung ins-
Liebe Kollegen hier im Plenum! Besonders mit Blick gesamt in Richtung Vorkasse, in Richtung Kostenerstat-
auf die Argumente meiner Vorredner muss ich Herrn tungsprinzip umbauen wollen. Das ist Ihre Programm-
Weinberg für seinen Beitrag großen Respekt zollen; lage.
denn ich finde, er hat die Problemlage rund um die Vor-
kasse und die Kostenerstattung sehr differenziert darge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
legt. Jens Spahn [CDU/CSU]: So ein Quatsch! –
Heinz Lanfermann [FDP]: Erst sagen Sie, ich
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE hätte nichts gesagt, und dann unterstellen Sie
LINKE]) mir etwas!)
Das will ich an dieser Stelle ausdrücklich sagen. Großer Herr Rösler hat keine Gelegenheit ausgelassen, zu be-
Respekt! tonen, dass das, was er jetzt vorlegen wird, nur ein erster
7464 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Maria Anna Klein-Schmeink


(A) Baustein auf diesem Weg ist. Da müssen wir uns nichts Der Patient zahlt für die Behandlung im Schnitt ein Drit- (C)
vormachen. tel mehr als normalerweise die GKV, und auf diesen
Kosten bleibt er sitzen. Das muss er wissen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir sind doch auch
noch da!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
bei der SPD und der LINKEN)
Insofern geht es keinesfalls um eine Phantomdebatte,
sondern es geht darum, dass Sie den vollständigen Um- Das wollen wir auf keinen Fall. Im Gegenteil: Bei unse-
bau der gesetzlichen Krankenversicherung hin zu einer rer Bürgerversicherung ist das Sachleistungsprinzip ei-
PKV vorbereiten. nes der zentralen Prinzipien. Dabei muss es bleiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
sowie bei Abgeordneten der SPD – Jens Spahn bei der SPD und der LINKEN)
[CDU/CSU]: Wir passen da schon auf!) Jetzt komme ich zu einem anderen Aspekt: Patien-
Zum Zweiten. Sie haben in dieser ganzen Debatte tenschutz. Wir haben einen Patientenbeauftragten; ei-
kein einziges Argument liefern können, warum es für gentlich müsste er heute hier sitzen. Er müsste sich ei-
den Patienten eigentlich gut ist, das Modell der Kosten- gentlich um die Frage kümmern, wie die vertragliche
erstattung zu wählen. Kein einziges Argument habe ich Gestaltung beim ausgeweiteten Instrument der Kostener-
von Ihrer Seite gehört. stattung aussehen wird.
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Ja, eben! Das tut
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
er auch!)
bei der SPD und der LINKEN)
Ihnen fällt zunächst nichts anderes ein, als die Pflicht zur
Auch wenn die Grünen damals dem Gesundheitskonsens schriftlichen Beratung und Information über die Bedin-
beipflichten mussten, weil sie nicht anders konnten, gungen des Vertrags, der eingegangen wird, abzuschaf-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Oh!) fen. Sie haben tatsächlich die Stirn, diese Pflicht abzu-
schaffen, mit dem Argument, sie bringe zusätzliche
und damit unter anderem die Kostenerstattungsregelung Bürokratie und mache das Instrument der Kostenerstat-
in der Krankenversicherung als Möglichkeit eingeführt tung unattraktiv. Das ist doch nicht zu glauben. Das ist
wurde, heißt das noch lange nicht, dass sie ein richtiges ein echter Kniefall vor der Ärzteschaft, die sich darüber
Instrument ist. beschwert hat, dass sie bei einer Umsetzung zusätzliche
bürokratische Aufgaben erfüllen müsste. Es gibt in kei-
(B) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie stimmen also nem anderen Bereich der Wirtschaft Vertragsbeziehun- (D)
falschen Dingen zu!) gen, bei denen man einen Vertrag unterschreiben muss,
Wir wissen auch – das hat der Bericht ganz deutlich ge- obwohl man die Kautelen nicht genau kennt. Ich halte
zeigt –: 0,2 Prozent aller Versicherten wählen diesen Ta- das, was Sie uns da letztens auf den Tisch gelegt haben,
rif, wohl wissend, dass es keine wirklich günstige Option wirklich für eine Zumutung. Ich halte das unter dem Ge-
für sie ist. sichtspunkt des Verbraucherschutzes für eine Frechheit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist denn das Pro-
und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
blem?)
der SPD)
Herr Spahn, das Problem ist, dass Sie jetzt die Kosten- Ich möchte einen weiteren Punkt betonen: Sie greifen
erstattung ausweiten wollen; das wissen Sie. Nicht um- in massiver Weise in das Vertrauensverhältnis zwi-
sonst ist die Ausweitung der Kostenerstattung in Ihren schen Arzt und Patient ein.
Reihen hoch umstritten; denn Sie wissen, dass Sie mit
der Ausweitung dieses Prinzips eine Dreiklassenversor- (Lars Lindemann [FDP]: Jetzt wird es ganz ab-
gung schaffen, bei der nicht mehr sichergestellt ist, dass surd!)
jeder Versicherte den gleichen Anspruch auf rechtzeitige
und bestmögliche Behandlung durchsetzen kann. Viel- Das ist für mich die zweite große Sünde, die Sie da bege-
mehr führen Sie verschiedene Klassen ein. Zugleich hen. Sie machen den Patienten zum Kunden und verfüh-
schaffen Sie ein Anreizsystem für die Versicherungen, ren den Arzt dazu, auf eine Abrechnung über höher ver-
entsprechende Zusatztarife zu schaffen. gütete private Tarife hinzuwirken. Der Arzt könnte
versuchen, den Patienten im Gespräch davon zu über-
Das spiegelt sich auch in den Anträgen wider, die Sie zeugen, eine therapeutische Zusatzleistung in Anspruch
uns letztens auf den Tisch gelegt haben. Ich muss sagen: zu nehmen, wohl wissend, dass dann eine private Ab-
Sie wollten diese Regelung klammheimlich einführen, rechnung möglich ist.
indem Sie nämlich nicht gerade deutlich ausgeführt ha-
(Lars Lindemann [FDP]: Noch absurder geht
ben, dass die Regelung für den Patienten bedeutet, dass
es nicht!)
er mehr zahlt.
Das hat langfristig massive Auswirkungen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Beim Kollegen
Weinberg hat sich das sogar sehr deutlich an- Zusätzlich wird Ihre Regelung dazu führen, dass die
gehört!) Arztpraxen zu Inkassounternehmen werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7465
Maria Anna Klein-Schmeink
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN korrupt und unmoralisch darstellen? Das ist unverant- (C)
sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- wortlich.
KEN – Lars Lindemann [FDP]: Zu Inkassoun-
ternehmen haben Sie sie mit der Praxisgebühr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
gemacht! – Heinz Lanfermann [FDP]: Sie ha- neten der FDP – Swen Schulz [Spandau]
ben aber ein schlechtes Gedächtnis!) [SPD]: Das ist doch nicht wahr!)

– Sie haben die Praxisgebühr nicht abgeschafft. Das ist Der Antrag der SPD ist in vielerlei Hinsicht irrefüh-
eine weitere Baustelle, die Sie angehen könnten. – Sie rend.
werden die Arztpraxen damit konfrontieren, dass Rech- (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie führen in
nungen nicht bezahlt werden, dass den Patienten nicht die Irre!)
klar war, welche Verbindlichkeiten sie eigentlich einge-
gangen sind. Da geht es in der Regel um hohe Rechnun- Sie wollen den Leuten einreden, dass allen Versicherten
gen, die Menschen mit kleinem Einkommen sehr schnell der gesetzlichen Krankenversicherung der Umstand
überfordern. Das wird tatsächlich dazu führen, dass die droht, in Zukunft Geld auf den Arzttisch legen zu müs-
Zahl der Inkassovorgänge ansteigt. sen, bevor sie behandelt werden. Das ist absolut falsch.
Das ist nicht richtig. Alle, die sich an dem Antrag betei-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist denn der Un- ligt haben und hier dazu geredet haben, wissen, dass das
terschied zum Status quo? Erzählen Sie uns falsch ist. Der Antrag ist in einem Stil formuliert, der der
das doch!) Sache überhaupt nicht angemessen ist. Sie erwecken den
Man kann das insgesamt nicht gerade als Bürokratie- Eindruck, dass die Einführung der Kostenerstattung et-
abbau bezeichnen; es ist genau das Gegenteil: Es kommt was Unanständiges ist.
zu einer höheren bürokratischen Belastung der Praxen (Beifall des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD] –
und der Versicherungen, die die Rechnungen abgleichen Jens Spahn [CDU/CSU], an den Abg. Dr. Karl
müssen. Insgesamt stellen Sie das solidarische System, Lauterbach [SPD] gewandt: Wir haben sie ge-
das wir bisher haben, massiv infrage. Sie haben nicht ei- meinsam eingeführt! Darüber sollten Sie ein-
nen einzigen guten Grund dafür genannt. Ich kann nur mal nachdenken!)
mit Herrn Straubinger sagen: Die Kostenerstattung
bringt auf der einen Seite keine zusätzliche Transparenz Ich zitiere die erste Forderung aus Ihrem Antrag:
und keine Kosteneinsparung; aber sie bringt die Patien-
1. keine Ausweitung der Kostenerstattung in der
ten in eine Situation, die sie überfordern wird.
gesetzlichen Krankenversicherung vorzunehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(B) Diese Forderung ist widersprüchlich; denn die Kosten- (D)
bei der SPD und der LINKEN)
erstattung gab es bereits unter einer SPD-Gesundheits-
ministerin. Das haben Sie alle mitgetragen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Kollegin Maria Michalk für die (Beifall bei der CDU/CSU – Bärbel Bas
CDU/CSU-Fraktion. [SPD]: Ich nicht!)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zur Erinnerung: Vor Inkrafttreten des GKV-Wettbe-
neten der FDP) werbsstärkungsgesetzes zum 1. April 2007 konnten ge-
setzlich Versicherte die Kostenerstattung wählen, und
zwar entweder für alle Leistungen oder beschränkt auf
Maria Michalk (CDU/CSU):
die ambulante ärztliche Versorgung. Ganze 122 000 ge-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen setzlich Versicherte, 0,17 Prozent der gesetzlich Versi-
und Kollegen! Der Antrag der SPD greift einen Punkt cherten, haben sie gewählt. Daran sehen Sie, über wel-
aus einem riesengroßen Gesetzespaket heraus. ches Segment wir hier reden.
(Mechthild Rawert [SPD]: Einen wichtigen! – (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Dann lassen
Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wir passen
Sie es doch sein!)
auf!)
Seit dem 1. April 2007 haben die Versicherten zwi-
Deshalb sage ich Ihnen: Er ist mager. Darauf gehe ich
schen verschiedenen Leistungsbereichen die Wahlmög-
gleich noch einmal ein. Vieles ist zwar schon gesagt
lichkeit. Diese haben Sie mit eingeführt. Unter Frau
worden, aber offensichtlich ist bei Ihnen Wiederholung
Schmidt wurde die Kostenerstattung um die persönliche
die Mutter des Erfolgs. Also nehme ich den Antrag noch
Entscheidungsmöglichkeit erweitert. Diese bleibt weiter-
einmal auseinander.
hin bestehen. Man kann sie auf die ambulante ärztliche
(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Dann machen bzw. zahnärztliche Versorgung beschränken oder zusätz-
Sie einmal!) lich für veranlasste Leistungen bzw. Krankenhausbe-
handlungen wählen. Deshalb frage ich: Wieso ist die
Bevor ich das aber tue, stelle ich im Anschluss an die Ausweitung der individuellen Entscheidungsmöglichkeit
Reden der Oppositionskollegen die Frage: Welches Bild der Versicherten 2007 richtig gewesen,
zeichnen Sie von der Ärzteschaft in diesem Land? Wol-
len Sie junge Ärzte dazu bewegen, sich auf dem Land (Harald Weinberg [DIE LINKE]: War sie
niederzulassen, indem Sie den ganzen Berufsstand als nicht!)
7466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Maria Michalk
(A) während heute die Anpassung an die aktuelle Situation Facharzt – beispielsweise einem HNO-Arzt – ein Vier- (C)
unter gleichen Prämissen – die Wahlfreiheit der Versi- teljahr auf einen Termin warten müssen. Viertens. Ge-
cherten bleibt erhalten – nicht richtig sein soll? setzlich Versicherten, die mit solchen Problemen in
meine Sprechstunde kommen, helfen wir natürlich.
(Beifall des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU])
Denn so darf kein Arzt handeln. In akuten Fällen muss
Ihr Antrag ist in sich absolut widersprüchlich. die Behandlung jederzeit sichergestellt sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie sollten solche
Fälle melden, Frau Volkmer!)
2007 wurde im Zusammenhang mit § 13 SGB V dem
GKV-Spitzenverband der Auftrag erteilt, nach zwei Jah- Ich will noch einmal auf den uns vorliegenden Be-
ren über die Erfahrungen zu berichten. Das ist, wie Sie richt zurückkommen. Er zeigt klar, dass die Menschen
wissen, geschehen. Deshalb wissen wir heute, dass seit- mit dem Instrument der Kostenerstattung im Rahmen der
dem nur 10 000 Menschen mehr diese Kostenerstattung gesetzlichen Möglichkeiten sehr verantwortungsvoll, ja
gewählt haben. Was ist schlimm daran? In 1, 2, 5 oder vorsichtig umgehen. Andererseits lehrt uns der Bericht,
10 Jahren – je nachdem, welchen Zeitraum Sie wählen – dass es durchaus persönliche Situationen geben kann, in
werden wir sehen, wie viele Menschen diese Möglich- denen das Kostenerstattungsprinzip die optimale Mög-
keit in Anspruch genommen haben. Wir lassen den Men- lichkeit ist. Dann sind die Versicherten bereit, diese Op-
schen diese Möglichkeit. Wovor haben Sie von der SPD tion zu wählen. Warum wollen Sie die Menschen von
eigentlich Angst? dieser Wahlmöglichkeit ausschließen? So verstehe ich
Ihren Antrag. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will
(Heinz Lanfermann [FDP]: Vor sich selbst!)
keine Bevormundung und auch keine Einschränkung.
Niemand muss die Kostenerstattung wählen. Wir stel- Wir wollen Entscheidungsmöglichkeiten für die Versi-
len Kosteneinsparüberlegungen an, um Spielraum für cherten.
eine weiterhin gute medizinische Versorgung aller Men-
(Zuruf von der LINKEN: Sie wollen das
schen zu haben, und zwar unabhängig von Alter, Ein-
Geld!)
kommen, Vorerkrankungen oder Wohnlage. Der medizi-
nische Fortschritt soll auch in Zukunft jedem Man entscheidet sich ja nicht erst dann, wenn man
zugutekommen. akut erkrankt ist. Mit der Wahlmöglichkeit beschäftigen
sich Versicherte schon dann, wenn sie sich mit diesem
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Thema – sei es im Rahmen von Gesprächen mit der
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Krankenversicherung – auseinandersetzen. Vielleicht be-
schäftigen sich aufgrund der heutigen Debatte – das ist
(B) Kollegin Volkmer? (D)
der einzig positive Punkt dabei – mehr Menschen mit
diesem Thema als vorher. Wir wollen, wie gesagt, dass
Maria Michalk (CDU/CSU):
sich die Versicherten mit dieser Möglichkeit auseinan-
Gerne.
dersetzen. Wir wollen verhindern, dass sie erst dann ak-
tiv werden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefal-
Dr. Marlies Volkmer (SPD): len ist.
Frau Michalk, kommen in Ihre Bürgersprechstunde
Menschen, die Ihnen davon berichten, dass sie bei einem Ich will diesen Punkt zusammenfassen: Es bleibt
Facharzt zeitnah keinen Termin bekommen, nur weil sie beim Prinzip der Freiwilligkeit. Die Versicherten können
Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung sind? selbst wählen und können das Für und Wider gründlich
abwägen. Das heißt, sie können sich für oder gegen die
(Zuruf von der FDP: Wo gibt es das?) Kostenerstattung entscheiden. An dieser Gesetzeslage
Berichten Ihnen Menschen, dass sie kurzfristig einen soll sich nichts ändern.
Termin bekommen, wenn sie sich am Telefon als Privat- (Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])
versicherte vorstellen?
Ich will noch einen weiteren Punkt erwähnen. Bislang
Wenn die Kostenerstattung möglich ist, werden viele waren Versicherte an ihre Entscheidung, die Kosten-
Ärzte diese Möglichkeit ausnutzen, indem sie den Pa- erstattung zu wählen, ein Jahr gebunden. Die Mindest-
tienten sagen: Ja, ich nehme Sie ohne lange Wartezeit an bindungsfrist wird auf ein Kalendervierteljahr verkürzt.
die Reihe, aber nur dann, wenn Sie die Kostenerstattung Behaupten Sie jetzt nicht, das sei im Interesse der Versi-
wählen und Vorkasse leisten. – Glauben Sie nicht auch, cherten keine Qualitätsverbesserung. Dass es für die
dass es sich so verhalten wird? Kassen bei ihrer Kalkulation gewisse Schwierigkeiten
gibt, ist in der Anhörung zwar deutlich zum Ausdruck
Maria Michalk (CDU/CSU): gekommen. Das hat aber nichts mit Lobbyismus zu tun,
Liebe Frau Kollegin Volkmer, darauf möchte ich Ih- den Sie uns in Ihrem Antrag vorwerfen. Ganz im Gegen-
nen Folgendes antworten: Erstens. Ja, in meine Sprech- teil: Wir treffen Regelungen zugunsten der Versicherten.
stunde kommen Menschen, die mir von solchen Vor-
(Elke Ferner [SPD]: Das wäre ja das erste
kommnissen berichten. Zweitens. Ich bin ein wenig
Mal!)
entsetzt, welches Verhalten Sie den Ärzten zutrauen.
Drittens. Es gibt auch Privatversicherte, die sich in mei- Die Mindestbindungsfrist für Wahltarife wird grund-
ner Sprechstunde darüber beklagen, dass sie bei einem sätzlich von drei Jahren auf ein Jahr reduziert. Auch mit
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7467
Maria Michalk
(A) dieser Regelung werden wir uns in der nächsten Sit- höhung von Beiträgen und der Wegfall der Deckelung (C)
zungswoche noch auseinandersetzen und darüber reden, der Zusatzbeiträge. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik ge-
wie wir sie optimieren können. Die Verkürzung der Min- wesen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie
destbindungsfrist auf ein Jahr ist aus meiner Sicht eben- angekündigt haben. Mehr Netto vom Brutto sieht anders
falls ein Qualitätsmerkmal. aus.
Zusätzlich wird die Kontrolle des Verbots der Quer- Herr Lanfermann, Sie haben von den großen Erfolgen
subventionierung durch die Aufsichtsbehörden der dieser Gesundheitspolitik nach einem Jahr gesprochen.
Länder mit der Verpflichtung der Krankenkassen zu ei- Angesichts der Umfrageergebnisse gerade in Bezug auf
nem regelmäßigen Wirtschaftsprüfertestat der Risikobe- die FDP frage ich mich allerdings: Wenn das Erfolge
urteilung wesentlich vereinfacht. Meinen Sie nicht auch, sind, wie sehen dann Ihre Niederlagen aus, Herr
dass das ein zusätzliches Kontrollinstrument ist? Lanfermann?
Ich denke schon, dass der Ansatz dieser Kostenerstat- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Beifall
tungsmöglichkeit, die ja frei gewählt werden kann, ein bei Abgeordneten der LINKEN und des
gutes Qualitätskriterium im Sinne der Versicherten ist. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb finden wir Ihren Antrag absolut unnötig und
polemisch. Wir werden ihn im Ausschuss natürlich ab- Jetzt wird die Sau Kostenerstattung durch das gesund-
lehnen. heitspolitische Dorf getrieben. Was bewirkt denn eine
Kostenerstattung, die wir Vorkasse nennen? Sie bewirkt
Vielen Dank. doch nur, dass der Arzt direkt ins Portemonnaie der Pa-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tienten greifen kann. Das ist doch das, was die Vorkasse
ausmacht.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das Wort hat nun Edgar Franke für die SPD-Fraktion.
Man hört ja manchmal die Argumente, Vorkasse
(Beifall bei der SPD) führe erstens zu weniger Arztbesuchen und zu höherem
Kostenbewusstsein. Der Kollege Straubinger ist leider
Dr. Edgar Franke (SPD): nicht mehr da. Ich darf ihn aber – mit Ihrer Erlaubnis,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heu- Herr Präsident – zitieren. Herr Straubinger von der CSU
tige Diskussion hat für mich vor allen Dingen eines deut- hat gesagt:
lich gemacht: Die Koalition ist in der Gesundheitspolitik Für das Gesundheitssystem bringt das keine Erspar-
ohne Kurs und Kompass, nis, und die Patienten zahlen im Extremfall immer (D)
(B)
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was?) nur drauf.
und wenn der politische Kompass einmal ausschlägt, Ich kann sagen: Herr Straubinger hat recht.
Herr Spahn, wie bei den Änderungsanträgen zum AMNOG
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und zum GKV-FinG sowie bei der Erweiterung der Kos-
der LINKEN)
tenerstattung, dann in die vollkommen falsche Richtung,
nämlich in Richtung einer Politik, in der eben nicht die Wie läuft das in der Praxis? Nach der GOÄ kann der
Interessen der Normalverdiener und der Mitglieder der Arzt bis zum 3,5-Fachen liquidieren.
GKV, sondern die Interessen Ihrer Klientel im Fokus ste-
hen, (Zurufe von der FDP: Oje!)

(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Das sind – das ist ja einfach auszurechnen – bei
Warum sparen wir eigentlich 10 Milliarden? – 300 Euro bis zu 1 050 Euro. Und wer bleibt auf dem Dif-
Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir hatten, glaube ferenzbetrag zwischen der Rechnung und dem Erstat-
ich, eine größere Klientel bei der letzten Wahl tungsbetrag hängen? Der Versicherte. Wie kann er das
als ihr!) Risiko mildern? Indem er eine Zusatzversicherung ab-
schließt. Deshalb kann man sagen: Teurer wird es auf je-
und zwar nicht nur der üblichen Verdächtigen – Apothe- den Fall. Die Einzigen, die davon profitieren, sind der
ker oder Pharmaindustrie –, sondern gerade bei der Vor- Arzt und die PKV.
kasse auch bestimmter Ärztegruppen und vor allen Din-
gen der privaten Krankenversicherung. (Ulrike Flach [FDP]: Da klatschen noch nicht
mal die eigenen Leute!)
Der geschätzte Kollege Rüddel hat gesagt, die SPD
würde Angst und Schrecken verbreiten. Aber ich glaube, Zweitens habe ich heute gehört, durch die Vorkasse
dass es eher Ihre Politik ist, die Angst und Schrecken würde die Transparenz erweitert. Der Kollege Rüddel
verbreitet. hat erwähnt, dass man vielleicht Patientenquittungen
verpflichtend einführen könne. Derzeit ist es zumindest
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ so, dass eine solche Quittung vom Patienten beantragt
DIE GRÜNEN) werden kann.
Was war ursprünglich geplant? Geplant hatte die Ko- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Beantragt!)
alition eine tiefgreifende Strukturreform; das habe ich
noch im Ohr. Was ist herausgekommen? Eine simple Er- Insofern ist die Transparenz bereits gegeben.
7468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Dr. Edgar Franke


(A) Ein weiteres Problem bei der Vorkasse ist: Die Kran- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
kenkassen haben keinen Einfluss mehr auf Qualität und Das Wort hat nun Kollege Erwin Lotter für die FDP-
Kostenentwicklung. Das ist der Unterschied zwischen Fraktion.
dem Sachleistungsprinzip und der Vorkasse.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Drittens. Herr Lanfermann, Sie haben gesagt, wir der CDU/CSU)
würden eine Phantomdiskussion führen, weil die Vor-
kasse freiwillig sei. Dr. Erwin Lotter (FDP):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
(Heinz Lanfermann [FDP]: So ist es!) Meine Damen und Herren! „Patientenschutz statt Lob-
byismus – Keine Vorkasse in der gesetzlichen Kranken-
Natürlich ist die Vorkasse bzw. die erweiterte Kostener-
versicherung“ – wen wollen Sie mit dieser billigen Pole-
stattung freiwillig.
mik an der Nase herumführen? Ihr Vorstoß zeugt von
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Noch! Wer Unkenntnis ebenso wie von der Tatsache, dass Sie die
weiß, wie lange!) Intelligenz der Versicherten in geradezu peinlicher
Weise unterschätzen.
Das Beispiel wurde heute genannt; Frau Volkmer hat da (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Bleiben Sie
ja nachgefragt. Wenn ein Arzt sagt, dass man nur einen einmal sachlich!)
Termin bekommt, wenn man Privatpatient ist oder in
Vorkasse geht, also die Kostenerstattung wählt, wird in- Ich möchte Ihnen das erläutern: Vorkasse ist, wenn
direkt Druck auf den Patienten ausgeübt. ich etwas bezahle und die Gegenleistung später viel-
leicht bekomme. Die einzige Institution, die momentan
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das macht er ja Vorkasse betreibt, ist die gesetzliche Krankenkasse. Die
nicht! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist wi- Kassen sammeln die Beiträge von den Versicherten und
derrechtlich!) den Arbeitgebern ein, und keiner, der einzahlt, weiß, ob
er im Falle einer Erkrankung die Leistung, die er
Wenn die erweiterte Kostenerstattung im Gesetz geregelt braucht, bekommt. Um es ganz deutlich zu machen: Die
wird, werden ganz viele Menschen dieses Modell wäh- Kostenerstattung ist keine Vorkasse. Die ärztliche Leis-
len und eine Zusatzversicherung abschließen. Insofern tung wird erbracht. Sie wird in Rechnung gestellt, und es
bekommen wir dann die von vielen beschriebene Drei- gibt ein Zahlungsziel. Die meisten Patienten zahlen
klassenmedizin. dann, wenn die Krankenversicherung die Leistung er-
stattet hat.
(B) (Heinz Lanfermann [FDP]: Genau so gehen (D)
Phantomdebatten! Erst einmal wird etwas un- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
terstellt, dann werden Schlussfolgerungen da- der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Oder
raus gezogen! Gehen Sie von Fakten aus und auch nicht! – Heinz Lanfermann [FDP]: Ge-
nicht von Unterstellungen!) nau so ist es! Das kennen alle Beamten!)

– Herr Lanfermann, schauen Sie einmal in Internetforen. Unser Ziel ist, dass die Patienten frei entscheiden kön-
Dort diskutieren Fachärzte darüber, wie man Patienten nen, ob sie das bisherige Prinzip der Sachleistung beibe-
Vorkassenmodelle schmackhaft machen kann. Sie müs- halten oder die Kostenerstattung wählen wollen. Ent-
sen nur nachschauen. Deswegen ist das keine Phantom- scheidend ist die Transparenz; diese gibt es jetzt nicht,
debatte. Frau Klein-Schmeink.
Sehen wir uns die weiteren Vorteile an. Patienten kön-
(Beifall bei der SPD – Maria Michalk [CDU/ nen differenzieren. Ihre Regelleistungen werden von ih-
CSU]: Das ist die freiheitliche Grundord- rer Kasse erstattet, Zusatzleistungen müssen sie selber
nung!) ausgleichen. Beim System der Kostenerstattung wissen
Wenn künftig nicht nur Privatpatienten, sondern auch sie, wie viel sie für welche Therapie aufbringen müssen.
gesetzlich Versicherte, die sich die Kostenerstattung leis- (Elke Ferner [SPD]: Wissen sie nicht! Sie wis-
ten können, bevorzugt behandelt werden, ist das keine sen nicht, wie viel sie von der Kasse erstattet
solidarische Gesundheitsversorgung. Deswegen fordern bekommen!)
wir als SPD Sie von der Koalition auf: Halten Sie am
Sachleistungsprinzip fest. Es darf keine Ausweitung der Ferner können auch gesetzlich Versicherte solche Ärzte
Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversiche- aufsuchen, die nur nach dem privatärztlichen Vergütungs-
system liquidieren. Für Patienten, die nur knapp über der
rung geben. Wir müssen eine Gesundheitspolitik für alle
Versicherungsgrenze liegen und eine Familie haben,
Menschen in der Krankenversicherung in unserem Land
könnte die gesetzliche Krankenversicherung attraktiver
machen. In der Gesundheitspolitik muss es um den Pa-
werden.
tienten gehen und nicht darum, dass bestimmte Ärzte-
gruppen und die PKV mehr Geld verdienen. (Elke Ferner [SPD]: Das glaubt Ihnen keiner!)
Ich danke Ihnen. Die Mitversicherung der Familie ist ein enormer Vorteil
der GKV. Der Patient kann jederzeit prüfen, welche
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Leistungen in Rechnung gestellt wurden, und die Rech-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7469
Dr. Erwin Lotter
(A) nung mit der tatsächlichen Behandlung vergleichen. Im (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (C)
Bereich der ärztlichen Kosten herrscht dann Transpa- Mechthild Rawert [SPD]: Ihnen laufen in der
renz. Patienten werden in die Verantwortung für die In- PKV die Kosten weg!)
anspruchnahme von Leistungen eingebunden. Es rührt mich nahezu auch zu Tränen, wenn Sie sich
(Elke Ferner [SPD]: Aha!) um das Inkassorisiko der Ärzte sorgen. Wenn das ein
Problem wäre, würde ja wohl jeder Mediziner Privatpa-
Dadurch wird der Patient ernst genommen und nicht tienten am liebsten gleich wieder wegschicken. Die wah-
mehr für dumm verkauft. ren Umsatzausfälle entstehen doch dadurch, dass das
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten GKV-System durch politische Entscheidungen alle paar
der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Iris Gleicke Jahre durcheinandergewirbelt wird mit einer steten Ab-
[SPD]) folge von Zumutungen und Deckelungen.

Vollkommen widersprüchlich ist, dass die SPD dar- (Elke Ferner [SPD]: Gerade jetzt von Ihnen
legt, die gesetzlichen Krankenkassen würden Qualitäts- und Ihrem Minister!)
standards festlegen, die für die Kostenerstattung nicht Es geht Ärzten auch nicht darum, Patienten irgendet-
gelten. Versicherte mit Kostenerstattung haben den glei- was aufzuschwatzen.
chen Status wie Privatpatienten. Sind Sie denn der Mei-
nung, für Privatpatienten gäbe es keine Qualitätsstan- (Elke Ferner [SPD]: Nein!)
dards? Es geht ihnen darum, sie gut zu informieren. Patienten
(Elke Ferner [SPD]: Genauso ist es!) merken sehr wohl, wenn sie abgezockt werden sollen.
Vertrauen entsteht, wenn man sich gegenseitig auf Infor-
Denken Sie, die PKV-Patienten würden schlechter be- mationen verlassen kann.
handelt? Meinen Sie das mit Dreiklassenmedizin? Das
(Elke Ferner [SPD]: Genau!)
ist doch abwegig.
Die Ärzte, meine Damen und Herren, wollen keine Vor-
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
kasse, sie wollen schlicht und einfach eine Vergütung ih-
Das ist doch das Problem der PKV!) rer Rechnungen.
Die Patientenquittung ist kein Ersatz für eine formelle (Elke Ferner [SPD]: Mehr Geld, ja! Sagen Sie
Rechnung. es doch!)
(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wenn Ihnen, liebe Abgeordnete der SPD, dieser einfache
NEN]: Warum laufen denn die Preise so da- Anspruch nicht passt, dann können wir die freien Arzt-
(B) von!) praxen gleich schließen und die Versicherten anonymen, (D)
Durch die Kombination von einem Pauschalsystem und staatsgeführten Versorgungsstrukturen anvertrauen.
einem komplexen Punktesystem, die je nach Finanzlage (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
zu unterschiedlichen Quartalserträgen führt, spiegelt Oh, oh!)
diese Quittung im Zeitpunkt ihrer Ausstellung nicht den
tatsächlichen Umsatz wider. Das ist dann das Ende der freien Ärzteschaft, und als Li-
berale werden wir das gerade auch im Interesse der Pa-
(Mechthild Rawert [SPD]: Aha, aber die Kos- tientinnen und Patienten nicht zulassen.
tenerstattung schon!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Bezeichnend ist auch die Behauptung in Ihrem Antrag, der CDU/CSU)
die Patienten könnten ihre Therapien überhaupt nicht be-
urteilen. Also sind Patienten nach Ihrer Ansicht unmün- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
dig und der Weisheit der Ärzte ohnmächtig ausgeliefert. Das Wort hat nun Dietrich Monstadt für die CDU/
(Mechthild Rawert [SPD]: Nein, wir wollen CSU-Fraktion.
nur nicht, dass die falschen Strukturen ge-
schaffen werden!) Dietrich Monstadt (CDU/CSU):
Das, meine Damen und Herren, ist doch obrigkeitsstaat- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
liches Denken. gen! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute
über einen Antrag der SPD, mit dem sie sich pauschal
Geradezu ergreifend ist es, wie sich die SPD in ihrem gegen jede Kostenerstattungsregelung in der gesetzli-
Antrag um die wirtschaftliche Situation der PKV und der chen Krankenversicherung wendet.
Ärzte sorgt. Die PKV wolle weg vom System der Kosten-
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
erstattung, heißt es.
Anders ist der Antrag nicht zu verstehen.
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Von wegen Kostentransparenz!) Dies ist insofern überraschend, meine Damen und
Herren, als die SPD in der Vergangenheit in diesem
Die Belastungen der PKV ergeben sich doch aus ganz Haus wiederholt für gesetzliche Kostenerstattungsrege-
anderen Aspekten: aus zu hohen Zugangshürden und lungen gestimmt hat,
dem Basistarif, den eine Regierung unter SPD-Beteili-
gung eingeführt hat. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)
7470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Dietrich Monstadt
(A) und zwar sowohl bei der Gesundheitsreform 2003 mit gen Behandlungen unterworfen und möglicherweise (C)
dem GKV-Modernisierungsgesetz als auch bei der nicht einmal lege artis behandelt, das aber immerhin so-
Gesundheitsreform 2007 mit dem GKV-Wettbewerbs- fort und ohne Wartezeit. Meine Damen und Herren von
stärkungsgesetz. der SPD, in Ihrem Antrag beschreiben Sie eine Halbwelt
in Weiß. Meine Erfahrungen mit Ärzten sind andere.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)
Aber, meine Damen und Herren, wir haben in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Haus zumindest im Bereich der Gesundheitspolitik Ich habe Vertrauen zu meinen Ärzten und lasse mir die-
schon häufiger feststellen müssen, dass sich die SPD an ses durch die SPD-Positionen nicht nehmen. – So viel
ihr eigenes Tun nicht mehr erinnert. zum Antrag der SPD.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Politische Demenz!) Lassen Sie uns nun zu den Fakten zurückkehren. Zum
Im Einzelnen: Im Jahr 2003 wurde die Kostenerstat- Thema Kostenerstattung liegen zwei Änderungsanträge
tungsoption in § 13 Abs. 2 SGB V von dem überschau- zum GKV-Finanzierungsgesetz vor.
baren Kreis der freiwillig Versicherten uneingeschränkt Erstens. Wir wollen eine Verbesserung zugunsten der
auf alle Versicherten ausgedehnt. Das kann man quanti- optierenden Versicherten, indem die Verwaltungskosten-
tativ als drastische Ausweitung ansehen. abschläge auf 5 Prozent begrenzt werden, indem die Ab-
Mit der Gesundheitsreform 2007 haben die Kranken- schläge wegen fehlender Wirtschaftlichkeitsprüfungen
kassen die Möglichkeit erhalten, ihren Versicherten wegfallen und indem wir die Mindestbindefrist auf ein
Wahltarife anzubieten, darunter Kostenerstattungstarife. Vierteljahr verkürzen. Damit wird die Position des Versi-
cherten gestärkt.
(Heinz Lanfermann [FDP]: Zu der Zeit von
Ulla Schmidt!) (Elke Ferner [SPD]: Nein! Damit wird das
Portemonnaie des Arztes gestärkt!)
Sowohl 2003 als auch 2007, Herr Lanfermann, hieß die
Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, und sowohl 2003 Zweitens. Wir wollen den Krankenkassen ermögli-
als auch 2007 hat die SPD für diese Ausweitungen von chen, mehr ergänzende Versicherungen zu vermitteln.
Kostenerstattungsregelungen gestimmt.
Auf der Tagesordnung der jüngsten Sitzung des Ge-
(Elke Ferner [SPD]: 2003 und 2007 war es die sundheitsausschusses stand der Bericht des GKV-Spit-
CDU, die das wollte!) zenverbandes zur Kostenerstattung. Diesem konnten wir
Wenn die SPD heute jede Kostenerstattung verteufelt, entnehmen, dass nur wenige Menschen von der Kosten-
(B) obwohl ihre Verantwortung für den früheren Ausbau sol- erstattungsoption Gebrauch machen. Anders als die SPD (D)
cher Regelungen unübersehbar ist, dann folgt sie strin- befürchtet, bleiben 99,81 Prozent der Versicherten bei
gent dem bekannten – ich will es einmal so nennen – Sachleistungen.
Vergesslichkeitsphänomen. Die paritätische Finanzie-
rung wurde 2004 unter Rot-Grün verlassen, als der Son- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
derbeitrag von 0,9 Prozent eingeführt wurde, den die Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Versicherten allein tragen. Kollegin Klein-Schmeink?
(Heinz Lanfermann [FDP]: Hört! Hört!)
Dietrich Monstadt (CDU/CSU):
Auch die Möglichkeit von Zusatzbeiträgen ist unter
einer SPD-Gesundheitsministerin Nein.

(Elke Ferner [SPD]: Die wollte Ihre Kanzlerin, (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
Herr Kollege!) DIE GRÜNEN]: Schade!)
mit großer Zustimmung der SPD-Fraktion eingeführt Damit ist dieser Bereich durchaus überschaubar. So
worden. Jetzt also hat die SPD – welche Überraschung! – viel, Herr Dr. Lauterbrach, zu der von Ihnen erwähnten
ihre frühere Haltung zur Kostenerstattung vergessen. Dreiklassenmedizin. Der Antrag der SPD bietet keinen
Zusatznutzen für eine ernsthafte gesundheitspolitische
(Heinz Lanfermann [FDP]: Die schreiben die Auseinandersetzung.
Geschichtsbücher um!)
(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
Meine Damen und Herren von der Opposition, wel- DIE GRÜNEN]: Sie haben noch immer nichts
ches Bild haben Sie von der Ärzteschaft? dazu gesagt, was die Union eigentlich davon
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Gute Frage! – Maria hält! Kein einziges Wort!)
Michalk [CDU/CSU]: Ich sage nur: Götter-
Meine Damen und Herren, wir sind angetreten, um
dämmerung!)
unser Gesundheitssystem angesichts demografischer
So wie man Sie verstehen muss, erwartet den Kostener- Entwicklung, medizinisch-technischen Fortschritts und
stattungspatienten in der Praxis des Arztes seines Ver- wachsender Kosten zukunftsfest zu machen und für alle
trauens ein wahres Haifischbecken. Der Patient wird fi- Versicherten den Zugang zu hochwertigen Leistungen zu
nanziell abkassiert – nach Herrn Dr. Lauterbach wird erhalten. Im Gesundheitsausschuss beraten wir zu die-
ihm das Geld aus der Tasche gezogen –, er wird unnöti- sem Zweck derzeit unsere Gesetzentwürfe zum Arznei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7471
Dietrich Monstadt
(A) mittelmarkt und zu den GKV-Finanzen. Wir sind auf ei- Lars Lindemann [FDP]: Das hätten Sie doch (C)
nem guten Weg. machen können!)
Gerade in jüngster Zeit hatte ich im Gesundheitsaus- Aber darum geht es Ihnen nicht. Ihnen geht es um die
schuss manchmal den Eindruck, dass die SPD gelegent- Hinzuverdienstmöglichkeiten der Ärzte. Meine Fraktion
lich so etwas wie Anerkennung für unsere Anstrengun- und ich sagen: Wir möchten nicht, dass in Zukunft vor
gen erkennen lässt. Herr Kollege Dr. Lauterbach, auf immer mehr Arztpraxen Schilder angebracht sind, auf
diesem Weg sollten Sie voranschreiten. denen steht: Facharzt, gesetzlich Versicherte nur gegen
Vorkasse. – Das ist mit uns nicht zu machen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: So
Mechthild Rawert [SPD]: Anstrengen tun Sie ein Schild habe ich noch nie gesehen! Malen
sich ja! Aber der Erfolg bleibt aus!) Sie doch nicht solche Horrorbilder an die
Wand! – Heinz Lanfermann [FDP]: Wo haben
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Sie denn so ein Schild gesehen?)
Das Wort hat nun Kollegin Hilde Mattheis für die
SPD-Fraktion. Wenn Sie sagen, es gehe Ihnen um Konsumenten-
souveränität, dann muss ich erwidern: Gerade im Ge-
(Beifall bei der SPD) sundheitsbereich kann es keinen Vertrag auf Augenhöhe
geben. Denken Sie sich einfach einmal in das Wartezim-
Hilde Mattheis (SPD): mer eines Arztes hinein. Da sitzt der schon ältere Herr,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir der Angst hat, dass seine körperlichen Schwächen offen-
legen heute einen Antrag vor, in dem wir einen wichti- bart werden. Da sitzt eine Frau mittleren Alters mit Vor-
gen Punkt, der in den kommenden Beratungen sonst informationen von ihren Freundinnen und aus Zeitschrif-
wahrscheinlich untergehen würde, hervorheben. ten zu bestimmten Symptomen, die Angst hat, dass sich
eine mit diesen Symptomen verbundene Krankheit be-
(Heinz Lanfermann [FDP]: Was? In Ihrem An- stätigt.
trag steht doch gar nichts drin!)
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ein
Dieser Aspekt ist ein Beispiel dafür, wie Sie das Gesund- schlechtes Beispiel!)
heitssystem umgestalten wollen. Alle Maßnahmen, die
Sie ergreifen, dienen dem Ziel, die Solidarität aufzuhe- Da sitzt die junge Mutter, die mit ihrem Kind auf eine
ben und die Individualisierung des Krankheitsrisikos Behandlung wartet und befürchtet, der Arzt könne ihr
(B) herbeizuführen. womöglich vorhalten, etwas falsch gemacht zu haben. (D)
Glauben Sie denn, dass diese Menschen in das Sprech-
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Quatsch!) zimmer hineingehen und ein Gespräch auf Augenhöhe
So wollen Sie die Interessen einzelner Lobbygruppen führen können? Auf gar keinen Fall!
bedienen. Darum geht es Ihnen. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es geht uns darum, die Patientenrechte zu stärken
der LINKEN – Lars Lindemann [FDP]: Erklä- – richtig –, es geht uns darum, das Sachleistungsprinzip
ren Sie uns doch mal, warum Sie damals keine zu stärken – richtig –, und es geht uns darum, dass die
Kostenerstattung eingeführt haben! Das kön- Patientinnen und Patienten und die Ärztinnen und Ärzte
nen Sie nämlich nicht!) für das Eigentliche Zeit haben, was im Gesundheitswe-
sen so wichtig und richtig ist, nämlich für das Gespräch
Die Kostenerstattung wird von nur wenigen Men-
miteinander und für die Therapie.
schen, nämlich von nur etwa 0,2 Prozent der Patienten,
angenommen; das ist richtig. Wir sollten aber auch ein- (Lars Lindemann [FDP]: Mir kommen die Trä-
mal über die Frage nachdenken, warum nur so selten nen!)
Patientenquittungen angefordert werden.
– Sie sagen: „Mir kommen die Tränen.“ Ich muss Ihnen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sagen: Uns kommen die Tränen, wenn wir sehen, wie
Sie mit diesem hohen Gut in unserer Gesellschaft umge-
Patientenquittungen würden Transparenz schaffen. Aber
hen.
nur 8 Prozent der Menschen, die zum Arzt gehen, for-
dern eine Patientenquittung an. Nur 20 Prozent der Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schen wissen überhaupt, dass dies ihr gutes Recht ist.
Das ist nämlich ein hohes Gut, das die Leute behalten
Wenn es Ihnen tatsächlich um mehr Transparenz ginge,
und bewahren wollen, und das gefährden Sie.
müssten Sie an genau diesem Punkt ansetzen und eine
Pflicht zur Ausstellung einer Patientenquittung einfüh- (Lars Lindemann [FDP]: Das haben Sie mit
ren. Ihrer Politik systematisch kaputtgemacht!
Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Deswegen betrachten wir in diesem Antrag einen all
Warum haben Sie denn nicht dazu einen An- der Bausteine, mit denen genau diese Daseinsvorsorge in
trag eingebracht? Das steht Ihnen doch frei! – unserem Land ausgehöhlt werden kann, und deswegen
7472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Hilde Mattheis
(A) ist es uns so wichtig, dass wir uns heute hier mit diesem Hilde Mattheis (SPD): (C)
Antrag auseinandersetzen. – nicht in einer Dreiklassenmedizin zu landen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jens Herzlichen Dank.
Spahn [CDU/CSU]: Gut, Ende!)
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Sie meinen allen Ernstes, dass es Ihnen auch um Ein-
sparungen in unserem System geht und dass diese Ein-
sparungen womöglich an die Patientinnen und Patienten Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
weitergegeben werden. Das ist an Zynismus nicht zu Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
überbieten. Sie müssen doch berücksichtigen, dass es legen Lothar Riebsamen von der CDU/CSU das Wort.
Menschen geben wird, die sich für ein Vierteljahr zur
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vorkasse verpflichtet haben und dann feststellen müssen,
dass sie zum Beispiel für die Behandlung des Grünen
Stars über 300 Euro aus eigener Tasche zahlen müssen, Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
weil die gesetzliche Krankenversicherung nur 72 Euro Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
dafür erstattet. Diese Menschen werden sich womöglich Kollegen! Wenn dieser Antrag, den wir jetzt schon seit
keinen weiteren Arztbesuch in diesem Vierteljahr mehr einer Stunde debattieren, überhaupt einen Sinn macht,
erlauben können. Darum wird es nämlich gehen. dann vielleicht, um als Anschauungsmaterial zu dienen,
wie man Schreckgespenster bzw. Popanze aufbaut.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
Sie werden dann nicht mehr zum Arzt gehen, weil sie sa- Harald Weinberg [DIE LINKE]: Ich lach mich
gen: Ich habe schon 300 Euro bezahlen müssen; ich tot!)
kann mir nichts Weiteres leisten.
Der Antrag ist absurd. Er zeigt, dass Sie nicht verstanden
Ich glaube, Sie sollten auch einmal mit der PKV re- haben, um was es geht, oder – das ist eigentlich noch
den. Ich weiß nicht, ob Sie das in dem Fall – ich sage
schlimmer – dass Sie gar nicht wissen wollen, um was es
nur: in dem Fall – intensiv getan haben.
geht.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die sechs Minuten
Es geht schlicht und ergreifend um nicht weniger als
sind aber ganz schön lang!)
das Wahlrecht der Patienten,
Sie überlegt nämlich schon längst, wie sie vom Prinzip
(Harald Weinberg [DIE LINKE]: Genau!)
(B) der Kostenerstattung abweichen kann, weil die Kosten (D)
für die PKV steil ansteigen. Das ist der Punkt. ob sie eine Kostenerstattung wollen oder nicht. In ver-
schiedenen Redebeiträgen heute Morgen wurde schon
(Beifall bei der SPD)
ausgeführt, dass Sie mit dabei waren, als wir dieses
Ich rate Ihnen auch, einfach einmal mit verschiedenen Wahlrecht 2003 eingeführt haben; aber die Patienten ha-
Verbänden von Fachärzten zu diskutieren und nachzufra- ben diese Möglichkeit in der Vergangenheit zu wenig ge-
gen, ob sie alle das so sehen oder ob es ihnen nicht eher nutzt.
darum geht, sichere Einnahmen zu erzielen. Oder geht es
(Elke Ferner [SPD]: Sie wollten das doch un-
Ihnen nur darum, die Funktionäre der Ärzte zu bedie-
bedingt haben! Schieben Sie uns das doch
nen?
nicht in die Schuhe!)
Wir als SPD sagen: Mit uns ist das nicht zu machen.
Wir gestalten dieses Wahlrecht jetzt attraktiv. Wahlrecht
(Maria Michalk [CDU/CSU]: Sie haben es ist Patientenrecht.
doch schon gemacht!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir wollen eine Stärkung des Sachleistungsprinzips und
Transparenz im System. Deshalb muss es darum gehen, Wenn Sie dies nicht anerkennen, dann enthalten Sie dem
für mehr Aufklärung zu sorgen, zum Beispiel dadurch, Patienten ein Recht vor. Um es auf den Punkt zu brin-
dass die Menschen Patientenquittungen verlangen. gen: Sie torpedieren ein Patientenrecht.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: So viel Redezeit Ihr Antrag setzt voraus, dass wir Vorkasse wollen. Es
haben Sie doch eigentlich gar nicht!) wurde aber schon mehrfach ausgeführt, dass es über-
haupt nicht um Vorkasse geht. Das ist der Popanz. Wir
Wir wollen keine Aushöhlung unseres Systems, das sich haben noch nicht einmal in der privaten Krankenversi-
bewährt hat, weil alle Menschen gleichermaßen Zugang cherung eine Vorkasse. Zunächst kommt die Leistung,
haben und alle gesetzlich Versicherten – es geht dabei dann die Bezahlung. Die Möglichkeit der Bezahlung hat
um 90 Prozent aller Versicherten – die Sicherheit haben, man, wenn das Geld von der Krankenkasse eingegangen
auch behandelt zu werden und – ist. Es gibt also keine Vorkasse.
Dann weisen Sie auf den Informationsvorsprung hin
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: – da haben Sie durchaus recht –, den die Ärzte bzw.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Leistungserbringer gegenüber den Patienten haben.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7473

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir alle nehmen an vielen Diskussionen bzw. Podi- (C)
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des umsdiskussionen teil oder halten Vorträge. Wir sagen
Kollegen Lauterbach? den Menschen – so weit sind wir uns meistens einig –,
dass das Gesundheitswesen in Deutschland aufgrund der
demografischen Entwicklung und des medizinischen
Lothar Riebsamen (CDU/CSU): Fortschritts teurer werden wird. Wenn wir die Maßnah-
Bitte schön. men schildern, wie wir dem begegnen wollen, gehen die
Meinungen schon etwas auseinander. Die Besucher die-
Dr. Karl Lauterbach (SPD): ser Veranstaltungen stellen sich dann die Frage, was sie
persönlich tun können, um dem zu begegnen. Darauf
Vielen Dank. – Noch einmal ganz konkret: Ich ver- möchten wir mit dem Wahlrecht eine Antwort geben.
misse nach wie vor eine Antwort auf die Frage, wie Sie
verhindern wollen, dass beispielsweise ein älterer (Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/
Mensch, der Rückenschmerzen hat und zum Orthopäden DIE GRÜNEN]: Das ist keine Antwort!)
möchte – um noch einmal das Beispiel aufzugreifen, das
Sie trauen den Patienten nichts zu. Herr
ich selbst gebracht habe – und wenig Geld hat, auf die
Dr. Lauterbach hat von Verdummung gesprochen. Sie
Frage, ob es einen Termin gibt, von dem Orthopäden mit verdummen doch die Patienten, indem Sie ihnen nichts
der Antwort konfrontiert wird: „Sind Sie in der Lage, zutrauen. Sie haben in dieser Frage, und nicht nur darin,
sind Sie willig, Vorkasse zu zahlen?“. Wie wollen Sie schlicht und ergreifend ein anderes Menschenbild als
sicherstellen, dass so etwas in der Praxis nicht vor- wir.
kommt? Was sagen Sie einem solchen Menschen, wenn
der Orthopäde schlicht sagt: „Ich behandle bevorzugt ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der
gen Vorkasse“? Das ist ja nach Rechtslage, wenn ich das FDP – Elke Ferner [SPD]: Gott sei Dank!)
richtig verstehe, erlaubt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ist es nicht!)
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, diesmal des Kollegen Schaaf?
Lothar Riebsamen (CDU/CSU):
Ich sage diesem Patienten: Gehen Sie zu Ihrer Kran- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Er ist doch gerade
kenkasse und beschweren Sie sich; erst gekommen! Da braucht er nicht schon
Fragen zu stellen! Er ist während der ganzen
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Genau!) Debatte nicht da gewesen!)
(B) denn genau das ist nicht erlaubt. – Das war in der Ver- (D)
Anton Schaaf (SPD):
gangenheit nicht erlaubt und wird es auch in Zukunft
nicht sein. Herr Kollege, es ist, wie üblich, eine unverschämte
Behauptung, zu sagen, ich hätte die Debatte nicht ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) folgt. Ich habe nämlich die ganze Zeit vor dem Fernseh-
gerät zugehört. Ich habe mich dann beeilt, hierherzu-
Auch das ist ein Popanz, den Sie permanent aufbauen. kommen, um eine Frage zu stellen, die weder von der
Das entspricht schlicht und ergreifend nicht den Tatsa- FDP noch von der Union beantwortet worden ist.
chen.
Die untauglichen Versuche, uns allein das Thema
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist schon fast Vorkasse aus der Vergangenheit zuzuschieben, blendet
Volksverhetzung!) aus, dass Sie über den Bundesrat immer beteiligt waren.
Aber lassen wir das beiseite.
Wenn Sie jetzt über den Ärztemangel diskutieren wollen,
müssen Sie einen anderen Antrag schreiben; darum geht Das einzige Argument, das die Regierungskoalition
es heute nicht. zugunsten des Vorkassenprinzips vorgebracht hat, war
die Transparenz.
Schauen Sie sich dieses Wahlrecht an. Es beinhaltet,
dass die Patienten zukünftig die Möglichkeit haben, nicht (Jens Spahn [CDU/CSU]: Es gibt kein Vor-
nur über alles hinweg ein Wahlrecht auszuüben, sondern kassenprinzip!)
auch, auszuwählen: Will ich dieses Wahlrecht nur beim Dafür hätte man die Debatte über die obligatorische Pa-
Zahnarzt, oder will ich es auch beim Hausarzt? – All tientenquittung weiterführen können; aber das ist auf der
diese Möglichkeiten gibt es sozusagen á la carte und fle- rechten Seite des Hauses auf massive Verweigerung ge-
xibel. Als weitere Verbesserung ist vorgesehen, die Bin- stoßen. Versuchen Sie bitte, mir zu erklären, welchen
dungsfrist von einem Jahr auf drei Monate zu verkürzen. Vorteil der Patient von dem Vorkassenprinzip hat, wenn
Damit kann der Patient erst einmal ausprobieren, ob das man von der Transparenz absieht, die kein taugliches Ar-
Modell gut für ihn ist. gument ist. Sie haben das Hohelied auf die Ärzteschaft
gesungen, die keine Unterschiede in der Behandlung
Des Weiteren werden künftig nicht mehr zwangs- macht: Ob man Vorkasse wählt oder nicht, die Ärzte be-
weise 10 Prozent Verwaltungskosten abgezogen. Den handeln alle gleich. – Welchen Vorteil hat der Patient
Krankenkassen wird stattdessen die Möglichkeit gebo- von diesem Prinzip?
ten, nur 5 Prozent abzuziehen. Auch dies ist eine Kann-
bestimmung. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
7474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Lothar Riebsamen (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (C)
Ich habe das bereits ausgeführt. Wahrscheinlich ha-
ben Sie nicht richtig zugehört. Die Kostenerstattung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
wird dazu führen, dass Patient und Arzt mehr miteinan- Ich schließe die Aussprache.
der über die Therapie reden müssen, als es in der Ver-
gangenheit der Fall war. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3427 an die in der Tagesordnung aufge-
(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
Wenn in der Vergangenheit die Tabletten nicht ange- verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
schlagen haben, dann hat die Patientin oder der Patient die Überweisung so beschlossen.
sie einfach weggeschmissen. In Zukunft wird sie oder er Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 29 sowie Zu-
den Arzt aufsuchen satzpunkt 8 auf:
(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das ist doch kein 29 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
Basar!) CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
und ihm sagen, dass die Therapie nicht funktioniert und Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen
eine andere Möglichkeit gefunden werden muss. und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch
(Mechthild Rawert [SPD]: Geld als medizini-
sches Sanktionsmittel!) – Drucksache 17/3404 –
Überweisungsvorschlag:
Wir werden nicht nur mehr Transparenz schaffen, son- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
dern auch dazu beitragen, dass sich Patient und Arzt auf Innenausschuss
gleicher Augenhöhe begegnen. Das ist der entschei- Sportausschuss
dende Punkt des Wahlrechts. Rechtsausschuss
Finanzausschuss
(Elke Ferner [SPD]: Einfach nur peinlich, Herr Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Kollege!) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ich war bei unserem Verhalten in Diskussionen und Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
der Frage stehengeblieben, ob wir den Patienten etwas Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
zutrauen. Wenn der Patient Sie in einer solchen Diskus- Ausschuss für Kultur und Medien
sion fragt, was er tun könne, dann sagen Sie, dass er Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
nichts tun kann und es lieber Vater Staat überlassen soll,
(B)
der schon immer alles geregelt hat. Das nehmen uns die ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fritz (D)
Bürgerinnen und Bürger nicht mehr ab. Sie wollen wis- Kuhn, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer
sen, worum es geht und wie viel sie für was bezahlen Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
müssen. DIE GRÜNEN
(Elke Ferner [SPD]: Sie haben schon bezahlt!) Menschenwürdiges Dasein und Teilhabe für
alle gewährleisten
Sie wollen mehr Transparenz.
– Drucksache 17/3435 –
Im Übrigen sind – das räume ich gerne ein – Sachleis-
Überweisungsvorschlag:
tungen nicht unbedingt ein Gegensatz zu dem Vorhaben, Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
das wir in Angriff nehmen. Was die Sachleistungen an- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
geht, ist bei den Krankenkassen durchaus Fachkompe-
tenz vorhanden. Die Krankenkassen achten auf Wirt- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
schaftlichkeit; das wird gar nicht in Zweifel gezogen. Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre dazu kei-
Auch medizinische Evidenz ist bei den Kassen vorhan- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
den. Aber sie geben bisher keine Antworten, was die Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Transparenz und den mündigen Bürger angeht. Deswe- Karl Schiewerling von der CDU/CSU-Fraktion das
gen wollen wir das System weiterentwickeln. Das Tot- Wort.
schlagargument gegen die Vorauskasse trifft nicht zu. Es
hilft nicht weiter. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen den Weg der Wahlmöglichkeit weiterge- Karl Schiewerling (CDU/CSU):
hen. Wir wollen ein besseres Verständnis der Patienten
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
für das gesamte System mit dieser Maßnahme erwirken.
Kolleginnen und Kollegen! Die Koalitionsfraktionen
Ihren Antrag braucht niemand, weder die Krankenkas-
von Union und FDP bringen heute den Entwurf eines
sen noch die Ärzte und erst recht nicht die Patienten. Die
Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Än-
Wege, die Sie aufzeigen, sind nichts anderes als
derung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-
Schreckgespenster. Wir werden den Weg der Transpa-
buch in die Beratungen des Deutschen Bundestages ein.
renz konsequent weitergehen. Wir werden auch in Zu-
Hinter diesem Titel, der etwas sperrig klingt, verbergen
kunft Lobbyisten für die Patientinnen und Patienten sein.
sich sehr viele komplizierte Fragen. Als im Dezember
Herzlichen Dank. 2004 SPD und Grüne, die damals die Mehrheit im Bun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7475
Karl Schiewerling
(A) destag hatten, sowie Union und FDP, die damals die zu Beginn der Beratungen sehr deutlich sagen – außeror- (C)
Mehrheit im Bundesrat hatten, im Vermittlungsaus- dentlich dankbar bin. Sie hat das Urteil des Verfassungs-
schuss das SGB II auf den Weg gebracht haben, gerichtes vom 9. Februar 2010 nicht als Belastung ange-
sehen, sondern beschreitet mit vollem Herzen neue
(Elke Ferner [SPD]: Aha!) Wege, um Kindern, die sich in diesem Leistungsbezug
hat wohl niemand geahnt, wie komplex dieses Sozial- befinden, eine Perspektive für Bildung und Teilhabe an
gesetzbuch werden wird und dass man sich im Laufe der unserer Gesellschaft zu ermöglichen.
Jahre permanent mit Veränderungen und Neuerungen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
auseinanderzusetzen haben wird. Im Sozialgesetzbuch
werden die Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik, die Damit wird ein Zeichen gesetzt, das im Zusammenhang
Familiensituation und die Bildungssituation – erst recht mit dem Sozialgesetzbuch II zwingend notwendig ist:
nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Wir investieren mit diesem Paket – in Höhe von immer-
9. Februar dieses Jahres – zusammengeführt. An der hin 700 Millionen Euro – in die Zukunft dieser Kinder
Ausführung sind Bund, Länder und Kommunen betei- und damit auch in die Zukunft unserer Gesellschaft.
ligt. Das macht nicht nur die Komplexität des Gesetzes Die Grundprinzipien des Zweiten Buches Sozialge-
aus, sondern bereitet auch beim Vollzug Schwierigkei- setzbuch bleiben unverändert. Es geht um Fordern und
ten. Fördern; es geht um den Grundsatz: keine Leistung ohne
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Urteile ge- Gegenleistung. Wir wissen auch, dass mit der Verab-
fällt und dem Gesetzgeber gesagt, dass Korrekturbedarf schiedung dieses Gesetzes eine besondere Herausforde-
besteht. Das erste Urteil betraf die Organisation. Diese rung für die Jobcenter entsteht; denn sie werden mit
haben wir, Union, FDP, SPD und Grüne, im Sommer neuen Aufgaben konfrontiert, die nicht unbedingt zum
dieses Jahres gemeinsam in Ordnung gebracht. Das Erfahrungsschatz eines Berufsvermittlers gehören. Ich
zweite Urteil vom 9. Februar besagt, dass die Bedarfs- bin aber sicher, dass die Jobcenter – so gut, wie sie in
sätze sowohl für die Erwachsenen als auch für die Kin- den letzten Jahren ihre Aufgaben wahrgenommen haben –
der transparent und nachvollziehbar ermittelt werden sich auch dieser neuen Aufgabe erfolgreich stellen wer-
müssen. Es wurde keine Kritik an der Methode und der den. Ich bin auch sicher, dass die Kommunen froh sein
Höhe der Bedarfssätze geäußert. Es wurde die Forde- werden, dass sie hierdurch im Laufe der nächsten Jahre
rung erhoben, die Bedarfe genau zu ermitteln, und zwar neue Handlungsmöglichkeiten erhalten.
für Erwachsene und Kinder getrennt. Des Weiteren hat Meine Damen und Herren, im Mittelpunkt bleibt: Je-
das Bundesverfassungsgericht als maßgeblich mitgeteilt: der muss zunächst einmal tun, was er kann. Wir haben
Ihr müsst sehen, dass die Kinder, die im Leistungsbezug 6,5 Millionen Menschen, die sich im Leistungsbezug der
(B) des SGB II sind, eine Perspektive bekommen. Ihr müsst (D)
Grundsicherung für Arbeitsuchende befinden. Das ist
außerdem jedem individuelle Hilfe zukommen lassen. – aber beileibe kein monolithischer Block. Die Menschen
Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen der vor- befinden sich in höchst unterschiedlichen Lebenssitua-
liegende Gesetzentwurf erarbeitet wurde und mit denen tionen und bringen höchst unterschiedliche Lebensper-
wir uns zu befassen haben. Damit treten wir in die spektiven mit. Deswegen müssen wir ihnen auch indivi-
zweite Phase der Runderneuerung des Zweiten Buches duell und möglichst passgenau helfen. Dem dient dieses
Sozialgesetzbuch ein. Die dritte Phase wird im Frühjahr Gesetz; dem dient das Handeln der Koalitionsfraktionen
kommenden Jahres anstehen, wenn wir uns um die ar- und der Bundesregierung. Aber es bleibt der Grundsatz:
beitsmarktpolitischen Instrumente kümmern. Jeder muss zunächst einmal tun, was er kann. Jeder muss
Es geht darum, Hilfen aus einer Hand zu geben; das sich anstrengen. Dann hat er auch ein Recht auf Hilfe
ist die Intention. Das haben wir organisatorisch sicherge- und Unterstützung. – Von diesem Grundsatz dürfen wir
stellt. Es geht aber auch darum, alles zu tun, dass Men- auch vor dem Hintergrund unseres Menschenbildes nie
schen wieder in Beschäftigung kommen. Das Zweite abweichen.
Buch Sozialgesetzbuch beinhaltet zunächst nichts ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
res als eine Grundsicherung, hat aber zum Ziel, Men-
schen wieder in Beschäftigung zu bringen. Diese Rah- Zu Beginn der parlamentarischen Beratungen möchte
menbedingungen müssen wir wahren. ich ausdrücklich SPD und Grüne, die mit uns gemein-
sam das Sozialgesetzbuch II mit den Strukturen, die jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verändert werden müssen, auf den Weg gebracht haben,
Der vorliegende Gesetzentwurf greift das Urteil des herzlich dazu einladen, in den nächsten Wochen auf die-
Bundesverfassungsgerichts auf; aber wir gehen über das, sem Weg konstruktiv mitzuarbeiten, damit wir uns ge-
was uns darin aufgetragen wurde, noch hinaus. Wir ha- meinsam den Aufgaben für die Zukunft dieser Menschen
ben Regelsätze vorgelegt, die transparent, nachvollzieh- stellen können.
bar und realitätsgerecht ermittelt wurden. Was mich hoffnungsfroh stimmt, ist die Wirtschafts-
(Elke Ferner [SPD]: Das glauben Sie doch sel- entwicklung und damit die positive Entwicklung am Ar-
ber nicht!) beitsmarkt. Menschen brauchen Arbeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt; ich denke, das ist das eigentliche Ziel. Wir
Wir haben erstmals auch eigene Regelsätze für die Kin- müssen ihnen helfen. Keiner kann nichts, keiner kann al-
der ermittelt, und wir haben etwas getan, für das ich der les, jeder hat Begabungen und Fähigkeiten – wir brau-
Bundesarbeitsministerin – das möchte ich heute schon chen jeden für unsere Gesellschaft.
7476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Karl Schiewerling
(A) Herzlichen Dank. Das ist keine saubere Arbeit. Schon der Referentenent- (C)
wurf war das nicht. Das macht das Ganze nicht nachvoll-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ziehbarer.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Beifall bei der SPD)
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion. Darüber hinaus rechnen Sie in kleinlichster Weise
(Beifall bei der SPD) Ausgabepositionen heraus, um den Hartz-IV-Regelsatz
um 5 Euro – das war ja die Grenze, die man Ihnen offen-
Elke Ferner (SPD): kundig gesetzt hat – erhöhen zu können. Ich möchte
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Der noch einmal das Beispiel der 67 Cent für die chemische
Gesetzentwurf, der uns hier vorliegt, ist mehr Schein als Reinigung heranziehen. Dabei geht es nicht nur um die
Sein. Um was geht es tatsächlich? Sie haben Regelsätze Regelsätze für Erwerbsfähige, sondern auch um die Re-
ermittelt, die eher den Anschein haben, dass es Regel- gelsätze für diejenigen, die eine Grundsicherung bezie-
sätze nach Kassenlage sind, als dass sie in einem trans- hen. Es geht also auch um den Regelsatz der Rentnerin,
parenten, nachvollziehbaren und vor allen Dingen reali- die eine Minirente hat und ergänzend Grundsicherung
tätsgerechten Verfahren ermittelt worden sind. Sie haben erhält. Nennen Sie mir bitte einmal eine Rentnerin, die
ein Bildungspäckchen statt eines Bildungspaketes ge- einen Wintermantel hat, der nicht in die chemische Rei-
schnürt, und Sie streichen derzeit im Rahmen der Haus- nigung muss. Wenn sie dafür nur 67 Cent monatlich be-
haltsberatungen die Mittel der aktiven Arbeitsmarktpoli- kommt, muss sie anderthalb Jahre ansparen. Was Sie
tik rigoros zusammen. – Wenn Herr Schiewerling sich vorhaben, ist kleinlich und zeigt, wohin die Reise geht:
jetzt hierhin stellt und sagt, wir müssten etwas tun, damit Ihnen ging es darum, die Höhe der Regelsätze an der
die Menschen in Arbeit kommen und gar nicht erst auf Kassenlage auszurichten, und nicht um eine realitätsge-
Transferleistungen angewiesen sind, frage ich mich, wie rechte Bemessung.
das überhaupt zusammenpasst. – Außerdem erhöhen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Zahl derer, die hilfebedürftig werden, indem Sie die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Zuverdienstgrenzen anheben und sich gleichzeitig der
Einführung von flächendeckenden Mindestlöhnen ver- Ein weiterer Punkt sind die Kinderregelsätze. Wenn
weigern. Das ist Ihre Politik. man sich einmal anschaut, wie viel bei der Berechnung
dieser Regelsätze auf validen Daten beruht, dann kann
(Beifall bei der SPD) einem nur schwindelig werden. Ich kann Sie nur auffor-
Ich finde, man darf sich nicht hierhin stellen und mit dern – wir werden das auch im parlamentarischen Ver-
(B) einer Scheingenauigkeit – sie versuchen auch noch, ihre fahren verlangen –, hier einen Plausibilitätscheck durch- (D)
Angaben mit Tabellen zu belegen, in denen zugegebe- zuführen. Was die Berechnung der Regelsätze für die
nermaßen ein paar valide Zahlen stehen; was die Kinder- Null- bis Sechsjährigen angeht, beruhen gerade einmal
regelsätze angeht, wimmeln diese Tabellen nur so von zwei Drittel dieser Regelsätze auf validen Daten, also
Strichen und Klammern – verkünden: Das ist alles trans- auf der Untersuchung von mehr als 100 Haushalten. Was
parent und nachvollziehbar. Ich wiederhole: Sie liefern die Berechnung der Regelsätze für die 14- bis 18-Jähri-
hier eine Scheingenauigkeit ab und nichts, was transpa- gen angeht, beruhen noch nicht einmal mehr 50 Prozent
rent und nachvollziehbar ist. Ich will Ihnen das an ein auf validen Daten. Man schaue sich das Ganze an einzel-
paar Beispielen deutlich machen. nen Positionen an. Beispielsweise werden für Kinder
von 14 bis 18 Jahren für Schuhe im Jahr weniger als
Zur Ermittlung der Regelsätze reduzieren Sie bei den 70 Euro zur Verfügung gestellt. Wer Kinder in diesem
Einpersonenhaushalten die Referenzgruppe willkürlich Alter hat, weiß, was für Schuhe ausgegeben wird. Auch
auf 15 Prozent; bisher umfasste sie 20 Prozent. In der hier stimmt die Berechnung hinten und vorne nicht.
Referenzgruppe belassen Sie Menschen, die aufsto-
ckende Leistungen beziehen, auch wenn sie nur ganz ge- Das Bildungspaket ist ein Bildungspäckchen. Wir er-
ring sind. Das hat zum Ergebnis, dass diejenigen, die ar- warten da mehr. Wir erwarten beispielsweise, dass nicht
beiten und nicht genug Geld haben, um mit ihrem nur die Kinder, deren Eltern im SGB-II-Bezug sind oder
Arbeitseinkommen über die Runden zu kommen, am für die ein Kinderzuschlag gezahlt wird, davon profitie-
Ende möglicherweise weniger als das Existenzminimum ren. Wir wollen, dass auch die Niedrigverdiener davon
übrig haben, weil natürlich auch Aufwendungen für ihre profitieren. Wir wollen, dass etwa Mittel für die Teilhabe
Erwerbstätigkeit anfallen. Bei den Familienhaushalten in Vereinen usw. nicht auf Kinder bis zum 18. Lebens-
mit einem Kind nehmen Sie ohne Begründung 20 Pro- jahr beschränkt sind. Was macht das denn für einen
zent als Referenzgruppe. Was ist daran transparent und Sinn? Soll ein Mädchen, das Leistungsträgerin in ihrem
nachvollziehbar? Fußballverein ist, oder ein Junge, der gut Klavier spielt,
das Ganze sein lassen, nur weil das Alter von 18 Jahren
Frau von der Leyen – Sie haben noch ein bisschen Zeit, erreicht worden ist?
bis Sie ans Rednerpult treten –, schauen Sie sich einmal
die Seiten 145 und 146 Ihres Gesetzentwurfs an – da zeigt Auch beim Thema Mindestlohn haben wir Ge-
sich wieder, dass man irgendwo in Ihrem Ministerium die sprächsbedarf. Es kann eben nicht sein – das hat auch
Grundrechenarten nicht beherrscht –: Dort wird anstelle das Verfassungsgericht deutlich gesagt –, dass der Maß-
eines Minuszeichens ein Pluszeichen verwendet. Sie wei- stab das niedrigste Einkommen ist und dass darunter das
sen 20 Prozent aus, obwohl es nur um 15 Prozent geht. Existenzminimum liegen muss. Der Maßstab ist das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7477
Elke Ferner
(A) Existenzminimum. Das Existenzminimum plus X ergibt (Elke Ferner [SPD]: Habe ich das gesagt?) (C)
den Lohn, den jemand verdienen muss, damit er oder sie
am Ende des Monats davon leben kann, ohne auf Sozial- sondern deren Herleitung, und eine transparente Herlei-
tung gefordert hat. Wir haben einen transparenten Ent-
leistungen angewiesen zu sein.
wurf vorgelegt;
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt nicht! Dass
Sie nicht rot werden bei den Worten!)
Ich will zu dem Gesprächsangebot nur so viel sagen:
Frau Merkel ist das Thema offensichtlich nicht wichtig er ist so transparent, wie es ein Entwurf zu Ihren Zeiten
genug, als dass sie sich mit an den Tisch setzt. Gesprä- niemals gewesen ist. Wir scheuen uns auch nicht, die
che machen nur Sinn, wenn wir auch Signale bekom- politischen Wertentscheidungen zu treffen, zu denen uns
men, dass Sie sich in unsere Richtung bewegen. Eine das Bundesverfassungsgericht explizit aufgefordert hat,
Schauveranstaltung, bei der wir alle nett an einem Tisch denen Sie sich verweigert haben. Wir sagen eindeutig,
sitzen und schöne Fernsehbilder produzieren, aber in der dass Tabak und Alkohol nicht zum Grundregelbedarf,
Sache nichts weiter bewegt wird, macht keinen Sinn. nicht zum Existenzminimum gehören,
Dann ist ein reguläres Verfahren eher angesagt, und zwar (Elke Ferner [SPD]: Aber methodisch rechnen
ein reguläreres Verfahren als das, das wir gestern bei den Sie es falsch raus! Falsche Methode!)
Gesetzen zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke
erlebt haben. und scheuen uns auch nicht, dies den Menschen deutlich
zu sagen. Genauso wenig gehören nach unserer Ansicht
Schönen Dank. motorbetriebene Gartengeräte dazu.
(Beifall bei der SPD) (Mechthild Rawert [SPD]: Was ist mit den
67 Cent? – Elke Ferner [SPD]: Wie soll denn
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: die Oma das Grab pflegen? – Weiterer Zuruf
Das Wort hat Pascal Kober für die FDP-Fraktion. von der SPD: Das ist doch ein Ablenkungsma-
növer!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Im vorliegenden Gesetzentwurf wird aber eine weitere
Priorität dieser Regierungskoalition deutlich. Uns geht
Pascal Kober (FDP): es darum, die Menschen zu ertüchtigen und zu befähi-
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen, sich mit unserer Hilfe aus der Arbeitslosigkeit zu
Liebe Frau Ferner, ich möchte Sie doch einmal daran er- befreien oder gar nicht erst in die Arbeitslosigkeit zu ge-
(B) raten. (D)
innern – Sie haben mit vielen Worten Kritik am vorlie-
genden Gesetzentwurf geübt –, dass das Bundesverfas- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
sungsgericht Ihre Gesetzgebung kritisiert hat der CDU/CSU)
(Elke Ferner [SPD]: Sie waren doch dabei! Liebe Kolleginnen und Kollegen aller Fraktionen,
Das hat Herr Schiewerling doch eben gesagt! dass es in diesem Sozialstaat so etwas wie sich verer-
Zeigen Sie doch nicht mit dem Finger auf uns! bende Sozialhilfebiografien gibt, ist eine Entwicklung,
Das ist doch billig!) die uns alle nicht ruhen lassen darf und die diese Regie-
und aufgrund Ihrer Gesetzgebung diese Regierungsko- rungskoalition nicht hat ruhen lassen. Wir haben einen
alition aufgefordert hat, einen transparenten und nach- ersten Schritt in die richtige Richtung getan.
vollziehbaren Gesetzentwurf vorzulegen. (Anton Schaaf [SPD]: Ist da noch mehr zu be-
(Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Im fürchten?)
Gegensatz zu Ihnen war ich schon im Bundes- Wir haben den Kindern, deren Eltern Langzeitarbeitsu-
tag zu der Zeit!) chende sind, ein Bildungspaket zur Verfügung gestellt.
– Frau Ferner, ich weiß nicht, ob Sie sich daran erinnern, Wir investieren in die Bildung dieser Kinder, damit sich
was der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grü- Langzeitarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit generell
nen in der vergangenen Ausschusssitzung gesagt hat. Er nicht vererbt und damit auch diesen Kindern der Einstieg
hat gesagt, dass er zugeben müsse, dass sich diese Regie- ins Berufsleben gelingt.
rungskoalition bei der Bemessung der Regelsätze mehr (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Mühe gegeben habe als die damalige rot-grüne Bundes- der CDU/CSU)
regierung bei der Einführung der Hartz-IV-Regelsätze.
Wir vergessen auch nicht die Kinder, deren Eltern von
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der
kleineren Einkommen leben. Wer den Kinderzuschlag
CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Hört! Hört!)
erhält, profitiert ebenfalls von den Leistungen des Bil-
Dieser Aussage des Kollegen Markus Kurth stimme ich dungspakets. Hier wird sehr deutlich, was wir möchten:
ausdrücklich zu. Wir wollen Chancen für alle Kinder in dieser Gesell-
schaft.
Ich möchte auch noch einmal daran erinnern, dass das
Bundesverfassungsgericht nicht die Höhe der Regelsätze (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Uwe
kritisiert hat, Schummer [CDU/CSU])
7478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Pascal Kober
(A) In Zukunft werden Kinder dort, wo es ein gemeinsa- Katja Kipping (DIE LINKE): (C)
mes Schulmittagessen gibt, daran teilnehmen können. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manch-
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mal vermittelt Schwarz-Gelb den Eindruck, dass man
NEN]: Und was essen die anderen?) das Land mit sozialen Wohltaten überschüttet, nur weil
im Haushalt das Bildungspaket und die läppische 5-Euro-
Sie werden am kulturellen und sportlichen Leben teilha- Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze eingeplant werden.
ben können, und sie werden die Möglichkeit haben, bei Man muss klar festhalten: Das ist ein falscher Eindruck,
eintägigen Klassenfahrten mitzufahren. Wir werden erst- und das ist eine verkehrte Darstellung. Denn tatsächlich
mals sicherstellen, dass die Leistungen direkt bei den kürzen Sie im Zusammenhang mit Ihrem Bildungspaket
Schwächsten in unserer Gesellschaft, bei den Kindern, vor allen Dingen bei den Ärmsten. Ich möchte das ein-
ankommen. Wir werden diesen Sozialstaat treffsicher mal ins Verhältnis setzen: Das Fünffache der Summe,
gestalten. die für das Bildungspaket und die läppische Erhöhung
(Thomas Oppermann [SPD]: Zielgenau! Treff- eingeplant ist, wird im Bereich Hartz IV gekürzt. Das
sicher ist missverständlich!) heißt im Klartext: Sie kürzen bei den Ärmsten.
Das ist im Interesse beider Seiten: derjenigen, die den Ich möchte das einmal bildhaft ausdrücken: Wenn
Sozialstaat finanzieren und die Leistungen erwirtschaf- man eine Klimaanlage auf minus 5 Grad Celsius einstellt
ten, und danach großzügig um ein Grad nach oben reguliert,
dann ändert diese großzügige Regulierung um ein Grad
(Elke Ferner [SPD]: Mövenpick und Co.!)
nach oben nichts daran, dass immer noch minus 4 Grad
aber auch derjenigen, die auf die Leistungen dieses So- Celsius und somit Frosttemperaturen herrschen. Unter
zialstaats angewiesen sind. dem Strich bleibt zu sagen: Schwarz-Gelb fördert die so-
ziale Kälte in diesem Land.
Ziel der Sozialpolitik der christlich-liberalen Koali-
tion ist es, mehr Menschen in Beschäftigung zu halten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
und zu bringen. Ziel unserer Sozialpolitik ist es, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Menschen zur Teilhabe an der Gesellschaft zu befähi-
gen. Ziel ist es, den Menschen Brücken aus der Abhän- Hinzu kommt: Im Windschatten der Neuberechnun-
gigkeit von den sozialen Unterstützungssystemen zu gen bringen Sie jede Menge Verschlechterungen ein. Um
bauen. nur eine von vielen zu benennen: Bisher musste vor der
Verhängung von Sanktionen eine Rechtsbehelfsbeleh-
(Beifall bei der FDP)
rung erfolgen. Das ist nun nicht mehr nötig. Jetzt kann
(B) Nicht nur die aktuellen Arbeitsmarktzahlen zeigen hier man einfach darauf verweisen, dass es irgendwo in ei- (D)
die erfolgreiche Arbeit unserer Politik. nem der langen Flure des Jobcenters einen Aushang
dazu gibt. Willkürlichen Kürzungen sind hier also Tür
Liebe Frau Ferner, Sie haben die Erhöhung der Zu-
und Tor geöffnet. Die Linke sagt dazu ganz klar: Solche
verdienstgrenzen kritisiert. Folgendes wurde nicht von
Willkür ist mit unserem Verständnis von einem Rechts-
der christlich-liberalen Koalition, sondern von der Bun-
staat nicht zu vereinbaren.
desagentur für Arbeit, die uns den Zusammenhang deut-
lich gemacht hat, festgestellt: Wem es gelingt, 800 Euro (Beifall bei der LINKEN)
zu verdienen, dem gelingt binnen zwei Jahren zu
90 Prozent der Sprung in die voll sozialversicherungs- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war ein-
pflichtige Beschäftigung. deutig. Das Grundrecht auf gesellschaftliche Teilhabe
für Bedürftige ist zu garantieren. Im Zuge dessen müs-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!)
sen die Hartz-IV-Regelsätze neu und nachvollziehbar
Diesen Zusammenhang müssen wir sehen. Deshalb berechnet werden.
haben wir uns vorgenommen, die Zuverdienstgrenzen
jetzt in einem ersten Schritt und 2012 in einem zweiten (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Aber
Schritt zu erhöhen. nicht erhöht werden!)
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wie aber geht Schwarz-Gelb mit einem solchen Urteil
NEN]: Sie haben gar nichts gemacht!) um? Sie rechnen so lange herum, bis eine läppische Er-
höhung von 5 Euro herauskommt. Wir sagen: Ein Regel-
Das ist ein Zeichen sozialer Arbeitsmarktpolitik, wie wir
satz, der ohne Tricks berechnet worden ist, und ein Re-
sie verstehen. Wir müssen für die Menschen Brücken in
gelsatz, der sowohl gesunde Ernährung als auch den
die Beschäftigung bauen.
Kauf eines Monatstickets ermöglicht, fällt deutlich hö-
Vielen Dank. her aus.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das wussten Sie
Das Wort hat nun Kollegin Katja Kipping für die schon kurz nach der Verkündigung des Urteils,
Fraktion Die Linke. ohne eine Zahl zu kennen!)
(Beifall bei der LINKEN) – Wir hatten schon vorher nachgerechnet.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7479
Katja Kipping
(A) Die Linke berät sich gegenwärtig mit Fachleuten, So- sich einen Weihnachtsbaum zu leisten. Da sage ich: (C)
zialverbänden und Betroffenen. Wir werden in den Fröhliche Weihnachtszeit!
nächsten Wochen eine Übersicht veröffentlichen, in der
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten
dargestellt wird, wie hoch der Regelsatz ohne Ihre Tricks
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
ausfallen würde. Um nur einen Rechentrick zu erläutern:
Das Bundesverfassungsgericht hat uns den Auftrag ge- Ein weiterer Mythos, den Sie hier so schön pflegen,
geben, die verdeckt Armen herauszurechnen. Zur Erläu- lautet, der Regelsatz sei von den kleinen Einkommen ab-
terung: Die verdeckt Armen sind diejenigen, die eigent- geleitet. Danach wird über die Friseurin und die Verkäu-
lich Anspruch auf Sozialleistungen hätten, diese aus ferin geredet, und es wird der Eindruck erweckt, hier
Scham oder Unwissenheit aber nicht in Anspruch neh- gehe es um die Einkommen der Verkäuferinnen, von de-
men. Diese Herausrechnung ist nicht erfolgt. Schwarz- nen das abgeleitet ist. Tatsache ist – das haben wir von
Gelb hat die verdeckt Armen nicht herausgerechnet. der Regierung schwarz auf weiß bekommen –: In der
Referenzgruppe – „Referenzgruppe“ meint die Haus-
Wir von der Linken und die gesamte Opposition ha- halte, deren Ausgaben bei der Berechnung des Regelsat-
ben im Ausschuss gemeinsam gefordert, dass eine ent- zes herangezogen worden sind – sind gerade einmal
sprechende Berechnung in Auftrag gegeben wird. Es 20 Prozent Erwerbstätige. Der Rest sind Rentner mit
ging dabei nur um eine Berechnung. Es ging noch nicht niedrigen Einkommen, Studierende und Arbeitslose.
einmal um die Festlegung auf eine Zahl. Doch wie geht Also gerade einmal jeder Fünfte in dieser Referenz-
Schwarz-Gelb damit um? Sie blockieren es. In Mafiama- gruppe ist überhaupt ein Beschäftigter. Das beweist
nier verhindern Sie Transparenz. Ich sage Ihnen: Das doch, dass es hier Zirkelschlüsse nach unten gibt. Sie
wird Ihnen noch leidtun. Die Art und Weise, wie Sie al- missbrauchen die geringen Renten, die geringen Ein-
ternative Berechnungen verhindert haben, wird Ihnen kommen von Studierenden und die Armut von Arbeits-
spätestens dann leidtun, wenn es zu einer Klage in Karls- losen, um den Regelsatz so niedrig wie möglich zu hal-
ruhe kommt. ten. Das ist eine Sauerei!
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN –
Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihr
Die Krönung war im Übrigen Ihre Begründung. Da Wortschatz ist sehr begrenzt! Da kommt im-
hieß es von Schwarz-Gelb ganz wunderbar: Wir ver- mer wieder das Wort „Sauerei“ vor! – Uwe
trauen der Regierung vollkommen. – Es ist entlarvend, Schummer [CDU/CSU]: Sie gehören nicht
wenn CDU/CSU und FDP meinen, parlamentarisches dazu!)
Agieren beschränkt sich darauf, die Vorlagen der Bun- (D)
(B)
desregierung abzunicken. Dann kann man hier in Zu- – Lassen Sie sich, wenn Sie sich schon über das Wort
kunft auch einfach Abnickdackel hinsetzen. Damit wür- „Sauerei“ beschweren, Folgendes sagen: Es gibt Leute,
den wir einiges an Diäten einsparen. die mit dieser Sauerei leben müssen. Das finde ich viel
schlimmer, als sich dieses Wort anhören zu müssen.
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em-
Die nächste Sauerei ist, dass Sie gesagt haben: Es gibt mendingen] [CDU/CSU]: Wenn man über
doch kaum verdeckt Arme in der Referenzgruppe. – ALG II spricht, könnte man wenigstens eine
Wenn Sie sich da so sicher sind, hätten Sie es doch aus- andere Sprache wählen!)
rechnen lassen können. Sie hätten uns doch beweisen
können, dass ich mich irre. Mir liegen nämlich andere Schwarz-Gelb hat im Bundestag eine Mehrheit. Die
Untersuchungen vor. Mir liegen Untersuchungen vor, Regierung kann sich darauf verlassen – das haben wir im
wonach es in diesem Land fast 6 Millionen verdeckt Ausschuss erlebt –, dass die Koalitionsfraktionen fleißig
Arme gibt. Aber schon allein was das anbelangt, scheuen abnicken. Spätestens im Bundesrat wird es komplizier-
Sie eine seriöse Berechnung. ter. Dort haben Sie nämlich keine Mehrheit, und der
Zeitplan ist relativ eng.
(Beifall bei der LINKEN) Nun stellt sich die Frage, wie man damit umgeht.
Ein weiterer Rechentrick ist, dass Sie bei den Ab- Man kann es auf einen Crash ankommen lassen und in
schlägen immer so tun, als ob es nur um Zigaretten und Kauf nehmen, dass danach heilloses Chaos herrscht. Ich
Alkohol ginge. Es sind schon andere Berechnungen ge- glaube, verantwortungsvolles Handeln über alle politi-
nannt worden. schen Differenzen hinweg sieht so nicht aus. Deswegen
schlägt die Linke in diesem Zusammenhang vor: Hören
Ich möchte zusammenfassen. Tatsache ist, dass wir auf mit irgendwelchen Deals und Verabredungen,
30 Prozent aller Ausgaben der ärmsten Haushalte als die in Hinterzimmern stattfinden, leiten Sie hier – das
nicht regelsatzrelevant gelten. Das ist Behördendeutsch wäre mein Vorschlag an Sie, Frau von der Leyen – eine
und meint, sie werden auf den Regelsatz nicht aner- öffentliche, eine transparente Schlichtung ein! Stutt-
kannt; sie werden sozusagen abgezogen. Unter der Über- gart 21 macht es vor. Es ist möglich, dass man Betrof-
schrift „Schnittblumen“ befindet sich auch die Position fene, dass man alle beteiligten Parteien an einen Tisch
„Ausgaben für den Weihnachtsbaum“. Im Klartext: holt, um sich zu verständigen, wie ein gesellschaftlich
Diese Partei, die ein C im Namen trägt, meint: Wer auf akzeptiertes soziokulturelles Existenzminimum aussehen
Hartz IV angewiesen ist, der hat nicht das Recht darauf, soll. Eine solche Beratung müsste natürlich im Internet
7480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Katja Kipping
(A) und im Fernsehen übertragen werden. Daran müssten Wenn ich ein Achtel Wein im Jahr trinke, dann ist (C)
nicht nur die Parteien, sondern auch Sozialverbände und das viel. Aber zwei, drei Weizenbier am Tag – die
Betroffeneninitiativen beteiligt werden. müssen einfach sein
Wir meinen, das unwürdige Schauspiel, das bei der (Thomas Oppermann [SPD]: So hören sich
Einführung von Hartz IV stattgefunden hat – in gehei- seine Reden manchmal auch an!)
men Verhandlungen sind in letzter Minute gravierende
Was ich mit diesem Zitat sagen will: Sie können doch
Veränderungen vorgenommen worden; Sie haben hinter-
nicht einerseits den Menschen, die von Arbeitslosen-
her in Karlsruhe mehrmals Ohrfeigen bekommen –, darf
geld II leben, sagen, dass sie am Wochenende kein Bier
sich nicht wiederholen, wenn es um die soziale
trinken gehen dürfen, und andererseits das Biertrinken
Grundabsicherung und den sozialen Frieden geht. Da
zum männlichen Staatsritual erklären. Das ist doch völ-
muss Schluss sein mit Hinterzimmermauscheleien!
lig absurd; das können Sie nicht begründen.
Besten Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Unser Vorwurf lautet: Sie haben die Kriterien an das an-
gepasst, was die Kasse von Herrn Schäuble erfordert;
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: das entspricht aber nicht den Vorgaben aus Karlsruhe.
Liebe Kollegin, nur eine kleine persönliche Bemer-
kung: Die ständige Wiederholung eines bestimmten Zweitens. Mit dem Urteil von Karlsruhe hat sich et-
Wortes muss nicht immer dessen Bedeutungsgehalt ver- was geändert. Ich will es anhand des Beispiels des Lohn-
dichten. abstandsgebots darlegen. Nach dem Urteil des Verfas-
sungsgerichts reicht es nicht mehr aus, den Regelsatz so
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und festzulegen, dass er nicht zu hoch ist, um das Lohnab-
der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE standsgebot zu erfüllen. Karlsruhe hat ein Grundrecht
GRÜNEN]: Können Sie das noch einmal wie- auf ein menschenwürdiges Existenzminimum ausge-
derholen? Ich habe das nicht verstanden!) sprochen, abgeleitet aus der Unantastbarkeit der Men-
Das Wort hat nun Kollege Fritz Kuhn für die Fraktion schenwürde und dem Sozialstaatsgebot. Das heißt, Sie
Bündnis 90/Die Grünen. müssen auch bei Menschen, die dauerhaft arbeitslos
sind, diese Vorgabe erfüllen und ihre Existenz sichern.
Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und bei der SPD)
(B) Kollegen! Jetzt haben Sie für einige hier noch ein Rätsel Dafür haben Sie nicht gesorgt; denn Sie kneifen an einer (D)
aufgegeben. Aber das kann man später noch vertiefen. anderen Stelle der Politik, nämlich beim gesetzlichen
Ich möchte vorneweg sagen, dass wir nicht der Über- Mindestlohn. Das Lohnabstandsgebot zu verwirklichen,
zeugung sind, dass der Gesetzentwurf so, wie er jetzt heißt, endlich einen gesetzlichen Mindestlohn einzufüh-
vorliegt, ein menschenwürdiges Existenzminimum an- ren.
gemessen sicherstellt. Sie haben zwar Ihre Kriterien of- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
fengelegt – das hat Karlsruhe verlangt –, aber darin ist bei der SPD und der LINKEN)
viel Willkür enthalten. Es ist schon fast wundersam, wie
Sie zu den 5 Euro mehr kommen. Wir teilen die Annah- So einfach ist die Laube. Davor drücken Sie sich, und
men, die Sie treffen, nicht. dies, obwohl 1,2 Millionen Menschen in Deutschland
weniger als 5 Euro in der Stunde verdienen.
Es ist nicht durch eine neue Erkenntnis zustande ge-
kommen, die Sie vernünftig dargelegt hätten, dass Sie Die Mindestlohndebatte gehört also zur Debatte über
der Berechnung des Regelsatzes für einen Alleinstehen- die Regelsätze dazu, nicht nur weil Rot und Grün gerne
den nun die unteren 15 Prozent der Referenzgruppe zu- darüber reden, weil wir davon überzeugt sind, dass wir
grunde legen, nicht mehr die unteren 20 Prozent. Viel- einen Mindestlohn brauchen, sondern weil Sie sonst das
mehr zielen Sie damit auf ein bestimmtes Ergebnis. Ich Lohnabstandsgebot nicht vernünftig erfüllen können.
glaube, so kann man das Urteil aus Karlsruhe nicht um-
Drittens. Bei allen Jubelzahlen haben wir immer noch
setzen.
900 000 Langzeitarbeitslose. Das wurde bei der schönen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsentation von vorgestern vergessen. Eine Regierung
und bei der SPD) müsste da ansetzen und konkret etwas dagegen tun. Das
tun Sie aber nicht. Sie kürzen bis 2014 6 Milliarden Euro
Da wäre mehr Inhalt verlangt gewesen.
beim Eingliederungstitel des SGB II. Es geht doch nicht,
Das gilt übrigens auch für Ihren Umgang mit dem Be- dass Sie diese Operation gleichzeitig vornehmen. Des-
darf an Alkohol und Tabak, der eine sozialpaternalisti- wegen wird da kein Schuh daraus.
sche Tendenz aufweist. Sie kürzen die Mittel dafür um
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
19 Euro im Monat; so viel war bisher dafür vorgesehen.
sowie bei Abgeordneten der SPD)
Sie müssen schon hinschauen, was sonst in der Gesell-
schaft los ist. Ich darf Herrn Kauder, Ihren Fraktionsvor- Uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass Sie bei den
sitzenden, zitieren, der als „Botschafter des Bieres“ auf Kindern zu kurz springen. Sie führen die eine oder an-
dem Berliner Oktoberfest sagte: dere neue Leistung nach dem Sachleistungsprinzip ein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7481
Fritz Kuhn
(A) Wir finden, dass das oft nicht ausreicht. Ich will das am spiel durch Aufhebung des Kooperationsverbotes, zu ei- (C)
Beispiel der Musikstunde deutlich machen. In Deutsch- ner Bildungsrepublik Deutschland, die auch eine Inte-
land erhält man für 20 bis 40 Euro im Monat Instrumen- grationsrepublik sein soll, zu kommen – ja oder nein?
tenunterricht in der Gruppe. Sie wollen das jetzt mit
10 Euro unterstützen. Das funktioniert nicht. Man kann (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
es an vielen Beispielen belegen: Schulessen, Nachhil- bei der SPD und der LINKEN)
feunterricht usw. Sie springen zu kurz, weil Sie nicht in Wir wollen darüber reden, ob es einen Zusammenhang
der Lage sind – Sie wollen es auch nicht –, Instrumente zwischen dem Mindestlohn und der Höhe des Regelsat-
zu schaffen, um eine flächendeckende Infrastruktur für zes gibt. Wir wollen auch über die Frage reden, mit wel-
Kinder sicherzustellen, damit ihnen ein integratives Ler- chen Angeboten man Langzeitarbeitslosen wirklich aus
nen auf allen Ebenen und eine gesunde Ernährung in der der Arbeitslosigkeit heraushelfen kann. Durch eine Kür-
Schule ermöglicht wird, egal aus welcher sozialen zung in Höhe von 6 Milliarden Euro bei der Bundes-
Schicht sie kommen. agentur schafft man das mit Sicherheit nicht.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Dies sind große, zentrale Fragen, die die Bereiche So-
bei der SPD und der LINKEN) ziales und Bildung und damit die Zukunft der Bundesre-
Dazu sind Sie nicht in der Lage. Sie denken nur im Käst- publik Deutschland betreffen. Deswegen haben wir er-
chenschema: Was gehört in den Bereich des Ministe- wartet, dass die Kanzlerin die Fraktions- und
riums von Frau von der Leyen? Sie sehen aber nicht das Parteivorsitzenden einlädt, damit man den Rahmen für
Ganze. vernünftige Verhandlungen abstecken kann, um danach
mit den Fachpolitkern ins Detail zu gehen. Zuvor muss
Das ist für uns ein entscheidender Punkt: Welche aber der Rahmen dessen abgesteckt werden, was in
Chance hat das Urteil aus Karlsruhe für eine Politik, die Deutschland möglich ist.
anpackt, eröffnet? Das ist eine gigantische Chance. Man
hätte sagen können: Jetzt beheben wir die Bildungsdefi- Mensch, Sie hätten die Chance gehabt, aus der Ent-
zite und Integrationsdefizite in Deutschland; jetzt schaf- scheidung von Karlsruhe einen ganz großen Wurf für
fen wir – die Grünen verlangen das in ihrem Antrag – Deutschland zu machen. Im Verhältnis zu dieser Chance
eine flächendeckende Infrastruktur im Bereich der Bil- ist das, was herausgekommen ist, nur Klein-Klein.
dung, sodass alle immer wieder die Chance haben, zu
Ich danke Ihnen.
lernen und sich zu qualifizieren, um aus der sozialen Ab-
wärtsspirale herauszukommen, die heute leider immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
noch mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II verbunden und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
(B) ist. LINKEN) (D)
Sie haben diese Chance nicht einmal ansatzweise er-
griffen. Deswegen haben wir in unserem Antrag klarge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
macht, dass wir regionale Bildungspartnerschaften über- Das Wort hat nun Bundesministerin Ursula von der
all in Deutschland wollen. Wir wollen, dass eine Leyen.
Infrastruktur geschaffen wird, in der Integration, von der
wir immer reden, auch möglich ist. Konkret bedeutet das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
zum Beispiel die flächendeckende Einführung von
Ganztagsschulen und ein Mittagessen für alle Schüler Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
dieser Schulen. Ihr Problem ist, dass Sie das alles gar Arbeit und Soziales:
nicht hinkriegen können, weil nur ein Drittel dieser Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat
Schulen in der Lage ist, ein Schulessen anzubieten. Des- ist das eine große Chance. Mit diesem Gesetzentwurf
wegen ist das, was Sie machen, Flickwerk. schlagen wir ein völlig neues Kapitel der Sozialgesetz-
Jetzt komme ich zu einem letzten Punkt, der uns gebung in Deutschland auf. Wir diskutieren nicht mehr
wichtig ist. Wir wollen nicht nach dem Motto „Klein- darüber, wie wir mit der Gießkanne Geld verteilen kön-
Klein“ verhandeln. Wir sind vielmehr der Meinung, dass nen, sondern wir reden zum ersten Mal konkret darüber:
wir in der Bundesrepublik Deutschland jetzt bei den Was braucht ein bedürftiges Kind? Wie kann man seine
Themen Mindestlohn, Bildungsinfrastruktur und Höhe Lebenschancen verbessern? Und vor allem: Wie können
der Regelsätze zu einer Verständigung kommen müssen. wir vor Ort dafür sorgen, dass die Hilfe beim Kind auch
Deswegen haben Ministerpräsident Beck, der Vorsit- ankommt? Das ist das Neue an diesem Gesetzentwurf.
zende der SPD-Fraktion und unsere beiden Fraktions- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
vorsitzenden einen Brief an Kanzlerin Merkel geschrie- Ferner [SPD]: Dann müssen aber die Kinder-
ben. Er ist – ich will es einmal vorsichtig formulieren – regelsätze anders aussehen!)
ausweichend beantwortet worden. Der Tenor war: Redet
erst mal mit der Arbeitsministerin. Das Spannende ist, dass wir jetzt die Chance haben
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Die – das ist der Geist dieses Gesetzes –, darüber zu reden:
ist ja auch zuständig!) Was brauchen bedürftige Kinder? Wie kann man ihr in-
dividuelles Recht auf Teilhabe und Bildung umsetzen?
Nichts gegen Sie, Frau von der Leyen, aber wir wollen Wie kann man ihr Recht auf Lebenschancen, durch Auf-
über die Frage reden, ob es die Chance gibt, zum Bei- stieg, durch Bildung, umsetzen?
7482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- versuchen müssen, das nachzuholen, was wir am Anfang (C)
NEN]: Stimmt ja gar nicht! Sie gehen ja gar versäumt haben. Aus diesen Gründen wird diese Investi-
nicht in die Struktur! – Hubertus Heil [Peine] tion an der richtigen Stelle getätigt.
[SPD]: Warme Worte, Frau von der Leyen!
Keine Taten! Nicht ablenken!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

War das der Fall, als Sie Verantwortung getragen haben? Herr Kuhn, weil Sie die große Frage aufgeworfen ha-
Wir sorgen im Rahmen der Hartz-IV-Gesetze, die aus Ih- ben – dieser Gedanke ist gar nicht falsch –, warum es
rer Feder stammen, dafür – das geschieht in der Sozial- nicht Ganztagsschulen mit einem warmen Mittagessen
gesetzgebung zum ersten Mal –, dass diese Kinder mit- für alle Kinder flächendeckend geben soll, will ich Sie
tags in der Schule mitessen können, wenn dort ein fragen: Wie wollen Sie das bis zum 1. Januar 2011
Mittagessen angeboten wird. schaffen? Das ist die ganz konkrete Frage, die sich aus
den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ergibt.
(Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aber wir kön-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer war denn
nen damit anfangen! – Elke Ferner [SPD]:
dabei? Wer hat denn die Küchen finanziert?
Wann wollen Sie anfangen, darüber zu reden?)
Jetzt geben Sie schon wieder an wie Bolle, ob-
wohl Sie es gar nicht waren! – Zuruf der Abg. – Wir sind dabei, das nachzuholen, was Sie versäumt ha-
Elke Ferner [SPD]) ben. Der erste Schritt ist getan. Gehen Sie doch mit!
Wir wollen, dass sie im Verein mitmachen können, dass (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi-
sie Lernförderung bekommen und an den Schulausflü- derspruch bei der SPD – Elke Ferner [SPD]:
gen teilnehmen können. Wir wollen mit diesem Gesetz Es sind doch Ihre Ministerpräsidenten gewe-
das Mitmachen möglich machen. Das ist der Paradig- sen, die das verhindert haben! – Hubertus Heil
menwechsel. [Peine] [SPD]: Sie saßen doch auf der anderen
Seite! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
GRÜNEN]: Da müssen Sie selber über sich la-
Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Sehr
chen! Zu viel Rhetorik und zu wenig inhaltli-
gut!)
ches Engagement!)
Ich finde, die Agenda 2010 war richtig. Das ist gar Entscheidend ist: Das Bundesverfassungsgericht hat
keine Frage. Aber es ist auffallend, dass in den Hartz- nicht gefordert, von Bundesseite zu klären, wie Länder-
Gesetzen damals mit überhaupt keinem Wort gesagt
aufgaben übernommen werden können. Das Bundesver-
(B) wurde, wie bedürftige Kinder eine reelle Chance bekom- fassungsgericht hat vielmehr gesagt: In der Landschaft, (D)
men können, das zu erhalten, was den gleichaltrigen wie sie sich heute für die Kinder darstellt – ich bin mit
Kindern in der Region zur Verfügung steht. Ihnen der Meinung, dass wir in diesem Punkt besser
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lässt Ihr werden müssen –, müssen wir, was bisher nicht der Fall
Entwurf aber mehr Fragen offen, als er Ant- gewesen ist, dafür sorgen, dass die bedürftigen Kinder
worten gibt!) wenigstens da mitmachen können, wo die anderen Kin-
der schon aktiv sind. Das ist etwas, wofür ich mich ein-
Dieses Versäumnis können wir jetzt heilen. Der Bund setze.
nimmt 700 Millionen Euro dafür in die Hand. Dabei geht
es um Aufgaben, die originär gar nicht in seinen Zustän-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
digkeitsbereich fallen. Die Verwaltungskosten dafür
werden 136 Millionen Euro ausmachen. Ich habe das Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Geschrei gehört: Was für eine Mühe! Was für ein Auf- Kollegen Heil?
wand! Diese Umsetzungskosten, die anfallen! – Das ist
nun einmal die andere Seite der Medaille. Wenn wir nur Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Geld auszahlen müssten, dann brauchten wir nur Über- Arbeit und Soziales:
weisungen zu tätigen und sozusagen den Hebel umzule- Gerne, Herr Heil.
gen. Dann können wir aber nur hoffen, dass irgendetwas
vor Ort passiert.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD]) Frau Ministerin von der Leyen, weil Sie vorhin den
Eindruck erweckt haben, Rot-Grün hätte für Kinder
Wir sagen denjenigen, die von großem Aufwand, ei- nichts getan, will ich Sie daran erinnern: Wir waren es,
nem Bürokratiemonster und dergleichen mehr sprechen: die das Ganztagsschulprogramm mit einem Volumen
Wenn wir etwas für diese Kinder verändern wollen, dann von 4 Milliarden Euro gegen Ihren Widerstand durchge-
müssen wir in Beziehungen und in Zuwendung investie- setzt haben.
ren, dann müssen wir in die Menschen investieren, die
ganz konkret vor Ort etwas verändern: in die Trainer, in (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Elke
diejenigen, die sich bei der Hausaufgabenhilfe engagie- Ferner [SPD]: Das Ganztagsschulprogramm
ren, und in die Jugendleiter. Das ist bestens investiertes wollte Koch nämlich nicht! – Renate Künast
Geld. Damit helfen wir schon am Anfang und müssen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie
kein Reparatursystem finanzieren, mit dem wir später sich! Wir könnten schon weiter sein!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7483
Hubertus Heil (Peine)
(A) Damit haben wir dafür gesorgt, dass es zum Ausbau (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C)
kam. Wir müssen allerdings gemeinsam feststellen, dass NEN]: Dann machen Sie es doch! Zeigen Sie
wir noch nicht weit genug sind. Sie sagen: Das ist zum mal, wie Sie es können! Sie geben an wie ein
1. Januar nicht umsetzbar. Sack Flöhe! Aber wie machen Sie es denn zum
1. Januar? Immer nur das ewige Gelächel! Sie
Meine konkrete Frage ist: Was wollen Sie tun, um das
hat noch nie gesagt, wie sie es machen will!)
Ganztagsschulangebot in Deutschland mit Unterstützung
des Bundes so auszubauen, dass nicht nur 20 Prozent der Da bin ich mit dabei.
bedürftigen Kinder am warmen Mittagessen teilnehmen
können? Sind Sie bereit, mitzuhelfen, dass wir im Rah- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
men dieser Gespräche Voraussetzungen schaffen, um die Frau Ministerin, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
Ganztagsschulen ausbauen und zum Beispiel bei der frage, diesmal von der Kollegin Ferner?
Schulsozialarbeit vorankommen zu können?
Ich habe viele warme Worte von Ihnen gehört, Frau Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
von der Leyen. Was Sie sagen, hört sich gut an. Sie sind Arbeit und Soziales:
schon immer eine Meisterin der PR gewesen; das wissen Bitte, Frau Ferner.
wir alle. Aber ich sage Ihnen mit den Worten der Bibel:
An den Taten sollt ihr sie erkennen. Ich frage Sie daher:
Elke Ferner (SPD):
Was tun Sie für die Ganztagsschulen außer warmen Wor-
ten, Frau Ministerin? Frau von der Leyen, würden Sie mir zustimmen, dass
die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozial-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hilfe im Bundestag, im Bundesrat, im Vermittlungsaus-
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schuss und dann hinterher von beiden Kammern ein-
LINKEN) vernehmlich beschlossen worden ist und dass weder
die B-Seite noch die A-Seite damals im Blick gehabt
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für hat, dass es zusätzliche Leistungen für die Kinder geben
Arbeit und Soziales: muss?
Lieber Herr Heil, ich habe mich damals als Sozialmi- Würden Sie mir ferner zustimmen, dass es höchste
nisterin in Niedersachsen – das kann ich offen sagen – Zeit gewesen wäre, sich direkt nach dem Urteil mit den
gefreut, als das Ganztagsschulprogramm kam. Dieses Ländern und den Kommunen an einen Tisch zu setzen,
Programm war der richtige Schritt; es hat, ganz unbe- und zwar nicht, um über die Höhe der Regelsätze, son-
nommen, viel in diesem Land bewegt. Vor Ihnen steht dern über die Frage zu reden, wie die Teilhabe der Kin- (D)
(B) eine Ministerin, die mit derselben Leidenschaft in der
der sichergestellt werden kann und wie die organisatori-
letzten Legislaturperiode gemeinsam mit Ihnen in die- schen Voraussetzungen geschaffen werden können? Wie
sem Haus dafür gesorgt hat, dass wir den Ausbau der soll das alles innerhalb der vier oder fünf verbleibenden
Kinderbetreuung, mit 12 Milliarden Euro unterlegt, vo- Sitzungswochen bis zum 1. Januar in einem Galoppver-
ranbringen konnten und dass wir jetzt ein Gesetz haben, fahren noch in ein Gesetz gegossen werden – inklusive
das den Rechtsanspruch für die Kinderbetreuung von un- der organisatorischen Vorarbeiten vor Ort –, damit der
ter Dreijährigen regelt. Teilhabeanspruch der Kinder bis zum 1. Januar realisiert
(Elke Ferner [SPD]: Sie wollten das am An- werden kann? Können Sie mir das einmal erklären?
fang doch gar nicht, Frau von der Leyen!)
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Das heißt, wir sind auf dem richtigen Weg.
Arbeit und Soziales:
Aber dabei handelt es sich nicht um die Hartz-Ge- Schön, dass Sie die Frage stellen, Frau Ferner. Das
setze. Ich muss den Finger in die Wunde legen und sa- Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass wir bis Ende
gen: dieses Jahres Zeit haben, um das Urteil umzusetzen.
Aber es hat ebenso konzediert, dass das Gesetzgebungs-
(Elke Ferner [SPD]: Aber wer hat denn im
verfahren erst in die Wege geleitet werden kann, wenn
Bundesrat das so haben wollen?)
die Zahlen vorliegen. Originalton des Gerichtes war:
Mit Blick auf die bedürftigen Kinder, also auf die Kinder Diese Zahlen liegen erst im Herbst vor.
von Langzeitarbeitslosen und Kinder von Sozialhilfe-
Wir haben den Gesetzentwurf im Herbst vorgelegt.
empfängern, frage ich Sie: Wo war Ihr Gesetzentwurf, in
Aber weil wir wissen, dass wir, wenn wir einen Paradig-
dem Sach- und Dienstleistungen für bedürftige Kinder
menwechsel wollen, wenn wir für die bedürftigen Kin-
enthalten waren? Darüber wurde niemals ein Wort verlo-
der vor Ort konkret etwas verändern wollen, sehr viel
ren.
früher ansetzen müssen, haben wir bereits im Februar
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) begonnen, gemeinsam mit Experten, Pädagogen, Schul-
leitern, Jobcentermitarbeitern konkret zu definieren, was
Das, was Sie nicht vorgelegt haben, kann der Bundesrat
bedürftige Kinder brauchen.
ja wohl nicht beschließen. Jetzt sind wir zum ersten Mal
an der Stelle, dass wir Sach- und Dienstleistungen für (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
die bedürftigen Kinder, also konkrete Hilfe vor Ort, an- NEN]: Dazu brauchen Sie doch die Zahlen gar
bieten können. nicht!)
7484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen


(A) Wir haben uns seit dem Sommer mit den Ländern, den keit, zu verzeichnen gehabt. Zum allerersten Mal ist jetzt (C)
kommunalen Spitzenverbänden, den Wohlfahrtsverbän- die Sockelarbeitslosigkeit, die verfestigte Arbeitslosig-
den, denjenigen, die vor Ort die Arbeit machen, zusam- keit, gesunken. Es sind heute 100 000 Langzeitarbeits-
mengesetzt. Jetzt befinden wir uns im Gesetzgebungs- lose weniger als vor der Krise. Das zeigt, was möglich
verfahren. Wir haben die Möglichkeit, einen Rahmen ist. Die Menschen müssen in Arbeit vermittelt werden;
dafür zu schaffen, dass tatsächlich zum ersten Mal für wir sollten nicht darüber diskutieren, wie wir sie in der
die bedürftigen Kinder in Deutschland nicht nur Bargeld Passivität halten, sondern darüber, wie wir ihnen im
ausgezahlt wird, sondern konkrete Hilfe bei den Kindern Zuge des Aufschwungs auf dem Arbeitsmarkt Chancen
vor Ort ankommt. Ich bitte Sie schlicht und einfach: Ma- geben.
chen Sie mit, blockieren Sie nicht, sondern seien Sie auf
diesem Weg an unserer Seite, und schreiten Sie mit uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
gemeinsam voran! Wir brauchen jeden. Wir gehen auf eine sehr riskante
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Fachkräftelücke zu. Wir wissen, dass die Arbeitsgesell-
schaft älter und zahlenmäßig geringer wird. Aber das
Mir ist bei dem Bildungspaket wichtig, dass wir eine muss kein unüberwindbares Problem sein, sondern es
Subjektförderung einführen können. Zum ersten Mal kann eine Chance sein für diejenigen, die bisher am
besteht die Möglichkeit, dass über die Förderung des Rand standen: für die Frauen, für Ältere, vor allem für
einzelnen Kindes das Geld genau in den Verein, in die benachteiligte Kinder und Jugendliche.
Musikschule, in die Lernförderung, in die Hausaufga-
benhilfe geht, wo man sich um die Kinder kümmert. (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber doch nicht, wenn
Wenn die Kinder kommen, fließt das Bundesgeld über Sie die Mittel für Qualifikation kürzen!)
diese Kinder dort hinein. Wenn die Kinder wegbleiben, Deshalb muss nach dem Fördern und Fordern der
bleibt auch das Bundesgeld weg. Zum ersten Mal erhal- Agenda 2010 – das ja richtig ist – das neue Thema für
ten die Institutionen nicht blindlings Mittel, egal ob sie das Jahr 2020 vor allem das Bildungspaket für bedürf-
sich um die Kinder kümmern oder nicht. Vielmehr geht tige Kinder sein;
das Geld über die Subjektförderung in genau die Ange-
bote vor Ort, bei denen Qualität und Nachhaltigkeit ga- (Bettina Hagedorn [SPD]: Aber die Mittel kür-
rantiert sind. Genau so sollten Bundesmittel effizient zen Sie doch!)
eingesetzt werden.
das muss das große Motto dieses Landes werden, meine
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Damen und Herren.

(B) In der Agenda 2010 ging es um Fördern und Fordern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (D)
das auch Sie angesprochen haben. Fördern und Fordern
ist immer noch richtig. Aber es reicht eben nicht. Der Ich sage noch einmal: Der Weg war richtig. Der Weg
Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Mittel zu dem robusten Arbeitsmarkt, den wir heute haben,
setzt sich zusammen aus den Arbeitsmarktreformen, die
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die Sie kür- damals von Bundesrat und Bundestag gemeinsam verab-
zen!) schiedet worden sind,
ist der richtige Ansatz. Wir kehren mit der zur Verfügung (Elke Ferner [SPD]: Ich dachte, das wäre der
gestellten Summe auf den Pfad zurück, Herr Heil, der Herr Brüderle alleine gewesen!)
2006 eingeschlagen wurde.
und einem klugen Krisenmanagement der Regierung
(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Merkel in den letzten fünf Jahren.
2006 ist doch kein realistisches Jahr!)
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danken Sie
Wir haben heute bereits 300 000 Bedarfsgemeinschaften doch mal Olaf Scholz! Damit würde Ihnen
weniger im SGB II, in der Langzeitarbeitslosigkeit als kein Zacken aus der Krone fallen!)
2006.
Wir sind aus der Krise stärker herausgegangen, als wir
(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danken Sie hineingegangen sind. Wir sollten heute anerkennen, dass
Olaf Scholz!) das hervorragend gewesen ist.
Das heißt, wir haben mehr Geld zur Verfügung für weni-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ger Menschen, die Hilfe brauchen. Die behutsame Zu-
rückführung der Mittel ist also richtig. In dem Geiste, dass man die großen Schritte nie al-
leine schafft – keiner hat den Stein der Weisen –, son-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
dern dass wir die Vernünftigen in der Mitte zusammen-
Die Chancen für die Langzeitarbeitslosen waren noch führen müssen, bitte ich Sie, dass wir uns frühzeitig
nie so gut wie heute. Der Arbeitsmarkt brummt, er ist ro- zusammensetzen, damit wir in den Verhandlungen etwas
bust, die Zahl der Arbeitslosen liegt unter der 3-Millio- Vernünftiges zustande bringen. Wir sollten nicht im Ver-
nen-Grenze. Was mir ganz wichtig ist: Wir haben bei je- mittlungsausschuss im Dezember bei Themen, die mitei-
der Krise in den vergangenen zwanzig, dreißig Jahren, nander nichts zu tun haben, Abmachungen treffen, son-
angefangen bei den Ölkrisen, einen konstanten Anstieg dern vernünftig und konkret an den großen Themen, an
der Sockelarbeitslosigkeit, der verfestigten Arbeitslosig- denen uns allen hier im Hohen Hause liegt, arbeiten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7485
Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
(A) Die Tür ist offen. Ich bin verhandlungsbereit. Kom- (Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Zwei! (C)
men Sie mit auf den Weg zu Aufstieg durch Bildung und 2,99 Euro! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner
zum Bildungspaket für die Kinder. Das muss das Motto [SPD]: Das kommt auf die Flaschengröße an!)
der nächsten zehn Jahre sein.
Ansonsten findet nichts statt. Was wird dank der Neube-
Danke schön. rechnung der Regelsätze für Kinder getan? Für alle gibt
es nur dieses Teilhabepaket. Wenn ich mir Ihren Vortrag
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von vorhin in Erinnerung rufe, frage ich mich nicht nur,
ob Sie Illusionen erweckt haben, sondern auch, ob Sie
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: tatsächlich in Illusionen leben. Dieses Teilhabepaket ist
Das Wort hat nun Anette Kramme für die SPD-Frak- objektiv betrachtet untauglich. Zunächst einmal löst es
tion. Verwaltungskosten von sage und schreibe 137 Millionen
(Beifall bei der SPD) Euro aus. Man kann sagen, dass diese Verwaltungskos-
ten zu akzeptieren sind, weil es letztlich Kindern zugute-
kommt.
Anette Kramme (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin:
Kollegen! Frau von der Leyen, Sie tricksen und manipu- Jawohl!)
lieren, Sie täuschen und wecken Illusionen. Wenn ich mir aber vor Augen halte, dass Kinder von
(Klaus Brähmig [CDU/CSU]: Ungeheuerlich- diesem Teilhabepaket nichts haben, wird es schlimm.
keit!) Aus diesem Teilhabepaket wird nur die Mitgliedschaft in
Vereinen finanziert, aber nicht die entsprechende Sport-
Sie gelten als Lichtschein dieser Ministerriege, tatsäch- ausrüstung. Sie schaffen die Möglichkeit der Mitglied-
lich sind Sie die Scheinheilige in dieser Ministerriege. schaft in einem Musikverein, aber zahlen nicht für ein
(Beifall bei der SPD – Peter Weiß [Emmendin- Musikinstrument. Sie ermöglichen nicht die Erstattung
gen] [CDU/CSU]: Oha lätz!) von Mobilitätskosten. Das heißt, der Geldbetrag, den Sie
in diesen Haushalt für das Paket einstellen, ist eine Luft-
Das fängt damit an, dass Sie fix an die Presse gehen und nummer. Denn dieses Teilhabepaket kann von Kindern
sich mit Arbeitsmarkterfolgen rühmen, mit denen Sie nicht in Anspruch genommen werden.
nichts zu tun haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(B) Vielmehr gehen die Arbeitsmarkterfolge auf Gerhard (D)
Schröder, Sie sagen, dass wir etwas für Langzeitarbeitslose tun
(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Er hat auch die müssen. Die Kanzlerin sagt sogar: Bildungsausgaben
Krise vorausgesehen!) müssen gesteigert werden. Aber wie sieht die bittere
Realität aus? Die Arbeitsmarktpolitik wird erbarmungs-
auf die hervorragende Kriseninterventionspolitik von los zusammengestrichen. Im nächsten Jahr werden allein
Peer Steinbrück und auf die Regelungen zum Kurzarbei- im Bereich des SGB II 1,5 Milliarden Euro fehlen. Sie
tergeld von Olaf Scholz zurück. haben recht: Wir brauchen eine Übergangslösung. An
(Beifall bei der SPD – Karl Schiewerling dieser Übergangslösung muss man mitarbeiten; das ist
[CDU/CSU]: Ihnen fehlen die inhaltlichen Ar- selbstverständlich.
gumente!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wer ist denn
Kommen wir zu den Regelsätzen. Das gerade ge- „man“?)
nannte Thema, bei dem Sie sich rühmen, ist nur begrenzt Aber es geht um viel mehr. Wir brauchen soziale Infra-
relevant; da geht es nur um Zahlen. Aber bei den Regel- struktur, die nicht nur Kindern aus dem SGB-II-Bezug
sätzen geht es um Inhalte. Was machen Sie dort? Wie ge- hilft, sondern allen Kindern aus bildungsfernen Haushal-
sagt: Sie tricksen und manipulieren. Sie verändern die ten.
Bezugsgruppe für das Ausgabeverhalten von den unte-
ren 20 auf die unteren 15 Prozent der Einkommensskala. (Beifall bei der SPD)
Das ist eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen
Das heißt beispielsweise, dass Sie den Kommunen,
Situation. Sie nehmen Aufstocker in die Bezugsgruppe,
statt sie weiter auszuräubern, endlich Geld dafür zur Ver-
also Menschen, die unter Umständen nur einen einzigen
fügung stellen können, damit sie das Kinderkrippenpro-
Euro mehr verdienen als die Empfänger von Regelsatz-
gramm umsetzen müssen. Das führt dazu, dass man zu-
leistungen. Sie schließen die verdeckt Armen nicht aus
vörderst ein Augenmerk auf Ganztagsschulen lenken
der Bezugsgruppe aus, obwohl das eine explizite Vor-
muss, die die Kinder individuell fördern. Dabei können
gabe des Bundesverfassungsgerichtes ist.
im Übrigen Vereine mit einbezogen werden. Dazu ge-
Vor allen Dingen wecken Sie den Anschein, dass Sie hört für mich auch, dass man nicht nur 20 Prozent der
für Kinder und Erwachsene etwas tun. Um was geht es SGB-II-Kinder ein Mittagessen stellt, sondern weitaus
da? Die Verbesserung für Erwachsene besteht darin, dass mehr Kindern. Das heißt, dass wir beispielsweise ein
sich diese pro Monat einen zusätzlichen Kasten Wasser Mensenprogramm in der Bundesrepublik Deutschland
kaufen können. brauchen.
7486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Anette Kramme
(A) Wenn wir uns das anschauen, kann man nur sagen: Denn Sie führen einen Regelsatz in Höhe von 420 Euro (C)
Sie versagen auf der ganzen Linie. an. Der von Ihnen vorgelegte Antrag lässt aber weitge-
hend offen, wie sich diese 420 Euro konkret begründen.
Vielen Dank.
(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NIS 90/DIE GRÜNEN]: Paritätischer Wohl-
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE fahrtsverband!)
GRÜNEN)
Ich gehe davon aus, dass dabei die Zahlen des Paritäti-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schen Wohlfahrtsverbands die Grundlage für Sie sind.
Das Wort hat nun Sebastian Blumenthal für die FDP- Hierzu möchte ich einmal ein paar Punkte aufgreifen;
Fraktion. denn die Differenz zwischen den vom DPWV errechne-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten 420 Euro und der Regelsatzhöhe von 364 Euro, die
wir hier aufgenommen haben, lässt sich an zwei Positio-
nen ganz konkret identifizieren. Der erste Posten sind
Sebastian Blumenthal (FDP): die alkoholischen Getränke und die Tabakwaren. Der
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kol- DPWV hat hier knapp 20 Euro berücksichtigt. Der
legin Kramme, zu Ihrem Beitrag muss ich sagen: Ich bin zweite Posten sind die Beherbergungs- und Gaststätten-
mir im Moment nicht sicher, ob eher die völlig schrille, dienstleistungen, die mit etwas über 25 Euro veran-
überdrehte Tonlage oder die billige Polemik abstoßender schlagt werden. Hier hat das Verfassungsgericht übri-
war. gens klargestellt, dass der Gesetzgeber einen freien
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Gestaltungsraum hat, den wir auch genutzt und entspre-
CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: chend begründet haben.
Halten Sie das für bürgerliche Erziehung, was (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Sie hier machen?) NEN]: Das kritisieren wir ja!)
Das war mit Sicherheit kein verantwortungsvoller Bei- Eine weitere Komponente ist der Posten Nachrichten-
trag zur Debatte, die wir heute in diesem Haus führen. übermittlungskosten. Das ist ein Punkt, den wir dort
Deshalb möchte ich auf den Antrag von Bündnis 90/ ergänzt haben. Wir ermöglichen eben auch die aktive
Die Grünen zu sprechen kommen – Herr Kuhn, Sie ha- Teilhabe an der Kommunikations- und Informationsge-
ben ihn ja angenehm sachlich eingebracht –, und dazu sellschaft. Wir haben dort den Regelsatz für Erwachsene
möchte ich ein paar Anmerkungen machen. mit 32 Euro pro Monat eingestellt.
(B) (D)
Zum einen stellen Sie in dem Antrag die Menschen- Aktuell erhalten Sie in allen Regionen in Deutschland
würde in den Mittelpunkt. Das ist eine Klarstellung, die Telefon- und DSL-Flatratetarife für 20 Euro, sodass wir
ich gern unterstreichen und hervorheben möchte. Ich der Meinung sind, dass wir bei einer Bemessung von
gehe davon aus, dass das auch die Meinung der hier im 32 Euro für Telefon, Internet und Porto von einer ange-
Plenum versammelten Allgemeinheit ist. Vor allem freut messenen Regelsatzdefinition sprechen können.
mich, dass diese Feststellung im Antrag der Fraktion Dann kommen wir zu einer Lücke, die ich in den Zah-
Bündnis 90/Die Grünen im Hinblick auf das Sozial- len des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, auf die Sie
gesetzbuch II aufgeführt wird. Unter Rot-Grün ist das ja sich ja beziehen, erkannt habe. Sie wählen hier als Refe-
2004 auf den Weg gebracht worden, und damals waren renzwert für die Berechnung der Regelsätze für Nach-
dazu keinerlei oder nur wenige Hinweise zu finden. richtenübermittlung bei den Kindern unter sechs Jahren
Ich darf jetzt einmal aus dem Beitrag zitieren, den wir 20 Euro pro Monat. Wir sprechen über die Altersgruppe
von der christlich-liberalen Koalition aufgeführt haben. der Kleinstkinder, also über noch nicht schulpflichtige
In § 1 Abs. 1 heißt es – ich zitiere –: Kinder. Diese haben mit Sicherheit ganz eigene Kom-
munikations- und Ausdrucksformen. Erfahrungsgemäß
Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es al- gehört der regelmäßige Umgang mit Telefonie und DSL-
len Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben Betrieb aber nicht zwingend dazu.
zu führen, das der Würde des Menschen entspricht.
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND- NEN]: Das steht aber auch nicht in unserem
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Das muss Antrag!)
dann aber auch unterlegt werden!)
Sie müssten uns schon einmal erklären, wie Sie zu dieser
– Es freut uns, dass das auch bei Ihnen Zustimmung fin- Position kommen, wie sich das im Detail zusammen-
det. setzt. Offensichtlich gibt es bei Ihnen noch Klärungsbe-
Meine Damen und Herren, wir möchten damit end- darf, auch was das Zahlenmaterial betrifft; auf diese Klä-
lich, nach über sechs Jahren, im SGB II eine Klarstel- rung freue ich mich.
lung formuliert sehen, die überfällig gewesen ist. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
In dem Antrag der Grünen, in dem Sie auch eine Neu-
regelung der Grundsicherung für Arbeitsuchende im De- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
tail aufführen, gibt es einen quantitativen Unterschied. Herr Kollege.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7487

(A) Sebastian Blumenthal (FDP): sätze herausgenommen, zum Beispiel Schmuck, (C)
Ich werde die weitere Debatte und die Beratungen im Lieferservice für Speisen und Getränke,
Ausschuss sehr aufmerksam begleiten.
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Weihnachts-
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. bäume!)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Geldstrafen und gebührenpflichtige Verwarnungen so-
wie Alkohol und Tabak.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und
Ich wollte Ihnen gerade die Chance zur Verlängerung Schnittblumen!)
Ihrer Redezeit geben. Die Kollegin Kipping würde Ihnen
nämlich gerne eine Frage stellen. Bei all dem ist nicht unbedingt und nicht notwendiger-
weise von einem Grundbedarf auszugehen.
Sebastian Blumenthal (FDP): Herr Kuhn, die Art und Weise, wie Tabak und Alko-
Ich verzichte auf die Frage und ermögliche uns so den hol von den Grünen bisweilen verteidigt worden sind,
weiteren Fortgang der Debatte. zeigt mir: Da ist offensichtlich keine Partei am Werke,
Vielen Dank. die sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlt,

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da ist NEN]: Ach, Herr Zimmer! Was soll denn
ja jemand ganz mutig!) das?)
sondern Sie benehmen sich an dieser Stelle wie Interes-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: senvertreter des Bundesverbandes deutscher Freizeit-
Dann erteile ich das Wort Kollegen Matthias Zimmer hedonisten.
für die CDU/CSU-Fraktion.
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) CDU/CSU und der FDP – Markus Kurth
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das ha-
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): ben Sie doch gar nicht nötig!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mir Wir haben bei der Berechnung der Regelsätze andere
scheint, dass die Diskussionen über das SGB II eine Ne- Elemente berücksichtigt – der Kollege hat sie eben er-
verending Story, eine immerwährende Geschichte, sind. wähnt –, zum Beispiel Kommunikationskosten, Gebüh-
(B) In diesem Jahr haben wir die Organisationsreform ren für Kurse und außerschulischen Unterricht. Auch (D)
durchgeführt. Mein herzlicher Dank gilt der SPD für die hier ist sicherlich nicht unbedingt von einem Grundbe-
Kooperation, die an dieser Stelle möglich war. Jetzt dis- darf auszugehen. Aber diese Kosten entstehen, wenn
kutieren wir über die Höhe der Bedarfssätze; diese De- sich Menschen bemühen, aus Hartz IV herauszukom-
batte ist einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts men. Dass diese Kosten bei der Berechnung der Regel-
geschuldet. Wir haben die Vorgaben des Bundesverfas- sätze berücksichtigt werden, ist wichtig und richtig. Wir
sungsgerichts erfüllt. Wir haben die Höhe der Bedarfs- wollen die Menschen, die von Hartz IV leben, ermuti-
sätze neu berechnet. Sie ist transparent und nachvoll- gen, diese Situation zu überwinden. Bildung ist – hier
ziehbar und wurde nicht ins Blaue hinein geschätzt. gebe ich der Ministerin recht – die Agenda 2020. Mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) diesem Gesetzentwurf legen wir sie vor.
Ich habe mich an der einen oder anderen Stelle ge- Ich möchte diese Aussage zuspitzen. Bei Ihnen gab es
fragt, ob es für die SPD nicht viel problematischer gewe- einen Lieferservice für Speisen und Getränke und steuer-
sen wäre, wenn die Bedarfsschätzung erheblich höher subventionierte Rausch- und Genussgifte, bei uns gibt es
ausgefallen wäre. Denn dann hätte sich die Frage ge- Bildung, Bildung, Bildung.
stellt: Wie habt ihr eigentlich 2006 die Bedarfssätze er- (Elke Ferner [SPD]: Ach! Sie kürzen doch
mittelt? mehr, als Sie neu hineintun! Rechnen Sie sich
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) doch die Welt nicht schön! Und Sie machen
das systematisch falsch!)
Es kam aber heraus: Das Ministerium hat damals sehr
sorgfältig gearbeitet und ist sehr nah an den tatsächli- Ich lade Sie ein, sich selbst einmal die Frage zu stellen,
chen Bedarf herangekommen. Es ist festzustellen: Die welch unterschiedliche Menschenbilder darin zum Aus-
Bedarfssätze sind sauber, nachvollziehbar und angemes- druck kommen und welches Menschenbild Ihrer Vorge-
sen berechnet. hensweise an dieser Stelle zugrunde liegt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ferner [SPD]: Alles Schätzungen!)
Meine Damen und Herren, wir trauen den Menschen
In Zuge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts etwas zu. In diesem Zusammenhang ist es, wie ich
hatten wir natürlich die Möglichkeit, bestimmte Wertun- glaube, sinnvoll, auf den Antrag der Grünen einzugehen,
gen vorzunehmen; das haben wir auch getan. Einige Be- über den wir in den parlamentarischen Beratungen in
standteile haben wir aus der Berechnung der Bedarfs- den Ausschüssen noch diskutieren werden. In diesem
7488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Dr. Matthias Zimmer


(A) Antrag findet sich viel neuer Wein in alten Schläuchen; (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie müssen uns (C)
das ist auch völlig in Ordnung. Aber über einen Aspekt ja nicht loben, aber das ist ein bisschen we-
lohnt das Nachdenken in der Tat, Herr Kuhn: über die nig!)
Aufhebung des Kooperationsverbotes im Bildungsbe-
reich. Diesen Gedanken finde ich sehr sympathisch. Er kommt viel zu spät, die Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichts, Herr Kollege Zimmer, werden nicht ein-
Wir alle sind uns einig: Es ist besser, zu arbeiten, als gehalten, und mit einer Regelsatzerhöhung von gerade
ALG II zu beziehen. Häufig ist nicht der Mangel an Geld einmal 5 Euro verhöhnen Sie die betroffenen Menschen.
das Problem, sondern der Mangel an Anerkennung und
der Mangel an Möglichkeiten der sozialen Interaktion, Ein so wichtiger Gesetzentwurf soll jetzt bis Januar
häufig auch das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu wer- 2011 im Schweinsgalopp durch den Bundestag und den
den. Dies ist das eigentliche Problem der Arbeitslosig- Bundesrat gepeitscht werden. Eine vernünftige Beteili-
keit. gung des Parlaments, der Verbände und vor allem auch
der Länder ist überhaupt nicht mehr zu erreichen. Monate-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lang wurde wertvolle Zeit mit Schein-Riesendiskussio-
nen um Chipkarten verplempert.
Deswegen freut es mich, dass wir in dieser Woche die
neuen Arbeitsmarktzahlen bekommen haben. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
(Elke Ferner [SPD]: Reden wir über Regel-
sätze oder über Arbeitsmarktzahlen?) Frau Ministerin, warum haben Sie diese Zeit nicht für
Verhandlungen mit den Ländern und vor allem mit der
Die Arbeitslosenzahl ist auf dem niedrigsten Stand seit SPD genutzt? Sie brauchen die SPD im Bundesrat; denn
1992. Die Experten sagen mittlerweile, Vollbeschäfti- sonst wird der Gesetzentwurf dort nicht verabschiedet.
gung sei möglich. Die Welt titelte am 28. Oktober 2010: Das ist ein Lichtblick; denn so besteht noch Hoffnung,
„Deutschland auf dem Weg in die Vollbeschäftigung“. mit unserer Hilfe einen „kranken“ Gesetzentwurf zu ku-
Die Bild-Zeitung schrieb am gleichen Tag: „Kommen rieren, obwohl es dazu schon fast einer Wunderheilung
jetzt zehn goldene Jahre?“ Dabei beruft sie sich auf bedarf.
Hans-Werner Sinn. Das Forschungsinstitut zur Zukunft
der Arbeit geht davon aus, dass die nächste Millionen- (Beifall bei der SPD)
marke schon in 2012 geknackt wird.
Wir sehen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Frau Kollegin Ferner, natürlich hat das auch – hiermit große Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit in
hat der ehemalige Bundeskanzler Schröder ja recht – et- Deutschland. Deshalb sind wir zu Verhandlungen bereit.
(B) was mit den Hartz-Gesetzen, mit der Agenda 2010, zu Eines ist aber ganz klar: Wir werden nur einem verfas- (D)
tun. Umso erstaunlicher ist es, dass große Teile der SPD sungskonformen Gesetzentwurf unsere Zustimmung ge-
nun drauf und dran sind, sich davon zu verabschieden. ben. Ich verstehe nicht, warum Sie auf unsere Bedenken
Ich fände es schön, wenn Sie diesen Weg, Menschen in bezüglich der Rechtmäßigkeit der Regelsätze überhaupt
Arbeit zu bringen, Menschen Hoffnung zu geben und sie nicht eingegangen sind.
ihnen nicht zu nehmen, gemeinsam mit uns weitergehen
„Transparenz“ ist für Sie bei diesem Gesetzentwurf
würden.
ein Fremdwort. Die Regierung verweigert dem Bundes-
Danke schön. tag die Angabe der Daten, auf denen die Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe basiert. Im Ausschuss haben
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wir diese Daten eingefordert. Sie haben das abgelehnt
und missachten damit das Parlament.
Herr Kollege, wollen Sie Ihre Redezeit verlängern?
Die Kollegin Kipping möchte Ihnen durch eine Zwi- (Beifall bei der SPD sowie des Abg.
schenfrage die Chance dazu geben. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN] – Elke Ferner [SPD]:
Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Schon wieder!)
Nein. Genau wie gestern bei der Diskussion über die Laufzeit-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) verlängerung der Atomkraftwerke demonstrieren Sie da-
mit eine Arroganz der Macht, die Ihnen nicht gut zu Ge-
sichte steht;
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Jetzt hat Kollegin Gabriele Hiller-Ohm für die SPD- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des
Fraktion das Wort. Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN])
(Beifall bei der SPD)
denn vor allem Sie, meine Damen und Herren von CDU/
CSU und FDP, müssen für die Verfassungsmäßigkeit des
Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Gesetzentwurfs geradestehen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von
CDU/CSU und FDP! Ich fange einmal mit dem Positi- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP –
ven an: Gut, dass Sie den Gesetzentwurf endlich einge- Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das sagen
bracht haben. – Das war es dann aber auch schon. Sie!)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7489
Gabriele Hiller-Ohm
(A) Wir bezweifeln, dass die Referenzgruppen für die Re- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
gelsätze richtig gewählt wurden. Wir glauben nicht, dass Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
die Berechnung der Kinderregelsätze verfassungskon-
form ist. Wir sind davon überzeugt, dass 12,50 Euro je Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Kind für die Teilhabe an Bildung nicht ausreichen wer- Warum nehmen Sie unseren Vorschlag vom März
den. nicht auf und richten eine Expertenkommission zur Er-
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Deswegen haben mittlung des Existenzminimums für Kinder ein?
Sie gar nichts gemacht!)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
12,50 Euro pro Monat und Kind für Lernförderung,
Frau Kollegin, kommen Sie zum Ende, bitte.
Sport und Musikunterricht: Das ist ein schlechter Witz.
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Das sind Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
12,50 Euro mehr, als Sie gemacht haben!) Bitte?
Erst dachte ich an einen Zahlendreher. Es wäre nicht der
erste im Gesetzentwurf. Möglicherweise ist das aber Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
auch ganz ernst gemeint. Wenn ich mir anschaue, was Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Sie alles tun, um die Löhne in Deutschland immer weiter
in den Keller zu drücken, dann muss sich der Musikleh- Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
rer vielleicht tatsächlich bald mit einem ganz kleinen Entschuldigung, ich dachte, es gäbe noch eine Zwi-
Geld zufrieden geben, und die geplanten 12,50 Euro rei- schenfrage.
chen aus.
(Heiterkeit)
Mit Ihrem Vorhaben, die Zuverdienstgrenze für lang-
zeitarbeitslose Menschen auszuweiten, machen Sie das Es ist aber leider nichts gekommen.
Tor für Dumpinglöhne und für ein Anwachsen des
Niedriglohnsektors weit auf, subventioniert mit Steuer- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
geldern. Ihre hartnäckige Verweigerung bei der Einfüh- Nein, ich wollte keine Zwischenfrage stellen.
rung von Mindestlöhnen trägt ebenfalls zum Lohnverfall
in Deutschland bei. Hören Sie endlich auf damit, schaf- Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
fen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn! Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
(B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ FDP, wir haben viele gute Vorschläge gemacht. Es wer- (D)
DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/ den in der nächsten Sitzungswoche weitere folgen. Hö-
CSU]: Sie haben nicht einen eingeführt!) ren Sie auf uns, dann kann aus dem Gesetz noch etwas
Gutes werden.
Für mehr Bildungsgerechtigkeit brauchen wir eine
groß angelegte Ausbauoffensive für Kitas und Ganztags- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schulen. Wir haben unter Rot-Grün mit dem 4-Milliar- DIE GRÜNEN)
den-Euro-Programm für die Ganztagsschulen gezeigt,
wie es geht. Tun Sie es uns nach. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Der Kollege Uwe Schummer hat das Wort für die
Wichtig ist auch, dass mit dem Gesetz keine kostspie- CDU/CSU-Fraktion.
ligen Doppelstrukturen geschaffen werden. In vielen
Kommunen – wie auch bei mir in Lübeck – gibt es be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
reits gute Netzwerke zur Förderung von Kindern. Diese
müssen gestärkt werden. Es kann nicht sein, dass die Uwe Schummer (CDU/CSU):
Jobcenter zu Hilfs-Jugendämtern für Hartz-IV-Kinder Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
umfunktioniert werden. Wir erkennen an, dass der Kabi- Das größte Armutsrisiko ist mangelnde Bildung. Das gilt
nettsentwurf an dieser Stelle auf eine bessere Schiene für den Einzelnen, dem Teilhabechancen verloren gehen,
gesetzt wurde. Jetzt muss aus der Schiene das richtige und das gilt für die Gesellschaft, die von motivierten und
Gleis werden. qualifizierten Menschen lebt. Ich denke, das ist – bei al-
Zu den Regelsätzen. Wir stoßen bei den Erwachse- ler Kritik, die ich heute gehört habe – auch die Botschaft
nen-, aber vor allem bei den Kinderregelsätzen auf des Bildungspaketes. Das, was heute mit den Regelsät-
Systembrüche, die einer Prüfung vor dem Verfassungs- zen und auch mit dem Bildungspaket verabschiedet wird
gericht nicht standhalten werden. Willkürliche Strei- und weiter diskutiert werden wird, ist bei weitem besser
chungen und unterschiedliche Auswertungen von Ver- als das, was derzeit noch der Fall ist. Es ist eine Verbes-
brauchspositionen verfälschen die Sätze. serung, und das können Sie auch einmal zur Kenntnis
nehmen.
(Elke Ferner [SPD]: Genau!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke
Für Kinderregelsätze ist die Einkommens- und Ver- Ferner [SPD]: Verabschieden werden wir das
brauchsstichprobe nicht geeignet. Das schreiben Sie heute noch nicht! So schnell geht das nicht!
selbst in Ihrem Gesetzentwurf. Immer langsam!)
7490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Uwe Schummer
(A) Wir wollen eben keine Hartz-IV-Republik, die auf zen diese ehrenamtliche, berufliche und nebenberufliche (C)
eine permanente Fürsorge ausgerichtet ist. Wir wollen Struktur, um Kräfte zu fördern, die sich um die jungen
den Ausstieg aus Hartz IV, wir wollen den Aufstieg Menschen kümmern.
durch Bildung. Wenn wir heute im Berufsbildungs-
bericht lesen, dass 1,45 Millionen Schulabgänger bis Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
29 Jahre ohne jede berufliche Qualifizierung sind, dann Herr Schummer, möchten Sie eine Zwischenfrage des
kann man nicht so tun, lieber Kollege Rossmann, als Kollegen Rossmann zulassen?
seien das allein Unions-Kinder. Da hatten wir alle mitei-
nander in der Vergangenheit und haben heute unsere
Hausaufgaben zu bewältigen. Wir alle miteinander! Uwe Schummer (CDU/CSU):
Ja, aber sie muss kurz sein.
(Elke Ferner [SPD]: Hat nicht Herr Koch das
Ganztagsschulprogramm abgelehnt?)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Es ist die Frage, inwieweit schon heute Wachstums- Haben Sie eine kurze Frage? – Bitte schön.
hemmnisse stattfinden. Es gibt sie, weil nämlich qualifi-
zierte Arbeitnehmer fehlen. Auch das ist eine Frage an Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
uns. Das Bildungspaket ist darauf eine weitere Antwort, Herr Kollege Schummer, weil Sie sich gerne küm-
die wir miteinander geben. mern, fordere ich Sie auf: Kümmern Sie sich bitte auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) darum, dass der Rechtsanspruch auf Förderung eines
nachgeholten Hauptschulabschlusses, dem ersten Schul-
Ich habe nicht vergessen, wie, als ich hier im Deut- abschluss, in dem aktuellen Gesetzgebungsverfahren
schen Bundestag neuer Abgeordneter war, auch mit den nicht unter die Räder kommt! Denn das, was jetzt Recht
Hartz-IV-Gesetzen 2004 die Berufsorientierung bzw. ist, soll künftig Ermessen werden. Ich bitte Sie ausdrück-
Berufsberatung von Rot-Grün in Grund und Boden ge- lich um Unterstützung Ihrer Seite. Kümmern Sie sich da-
schossen wurde. rum, dass dieses Recht bleibt!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das kostet
Wir haben dies alles in der Großen Koalition und jetzt in Geld!)
der christlich-liberalen Koalition korrigiert.
Dieses Jahr nehmen Hundertausende von Schülern an Uwe Schummer (CDU/CSU):
der frühzeitigen Berufsorientierung teil, damit sie sich Ich teile Ihre Auffassung.
(B) nicht erst zwei oder drei Monate vor der Entlassung, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D)
sondern schon zwei oder drei Jahre vorher mit dem
Übergang von der schulischen Ausbildung in die berufli- Wir werden in der Arbeitsgruppe Bildung und For-
che Qualifizierung beschäftigen. Das Konzept der Bil- schung ambitioniert darüber diskutieren.
dungsketten, das im Zusammenhang mit dieser Debatte Ich denke, auch die heutige Beratung ist nicht das
zu sehen ist, soll dies systematisch weiter verbessern. Ende der Debatte.
Dass wir die Berufsorientierung für die beste Motiva- (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Durchsetzen!
tion halten, um in der Schule weiter aktiv zu werden, hat Endlich mal was erreichen in der CDU! Das
dazu geführt, dass die Zahl der Schulabbrecher von wäre doch ein Job!)
100 000 vor einigen Jahren auf jetzt 60 000 gesunken ist.
Das bedeutet mehr Teilhabechancen für die jungen Men- – Kollege Heil, so lebendig wie heute habe ich Sie in ei-
schen, die in die weitere Qualifizierung gehen. ner Talkshow selten erlebt. – Sie ist nicht das Ende der
Debatte, sondern der Beginn einer gemeinsamen Aus-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einandersetzung, die zu einem Gesamtpaket führen wird.
Wir haben kein Geldproblem, sondern ein Kümmer-
Bitte machen Sie nicht alles nur schlecht nach dem
problem.
Motto „Früher war alles gut und wir haben alles ge-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- macht, aber heute ist alles schlecht“. Ein bisschen Diffe-
NEN]: Richtig, Sie kümmern sich nicht!) renzierung würde dem Klima gerade nach dem gestrigen
Tag insgesamt guttun.
Wer kümmert sich um die Menschen, die permanent eine
personale Unterstützung benötigen? Die Debatte über (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das konnte
den Regelsatz hilft nicht weiter. Es geht weniger um die Herr Rossmann noch nie!)
Frage, ob wir ihn um 5, 15 oder 50 Euro erhöhen, als da-
Ich halte die Bildungskarte, die mit dem Bildungs-
rum, wie wir regionale Bündnisse für die jungen Men-
paket entwickelt werden wird, für ein innovatives Sys-
schen bzw. ein Miteinander der Kräfte vor Ort organisie-
tem. Damit reagieren wir nicht nur auf ein Gerichtsurteil,
ren können.
sondern sie ist auch Bestandteil der Bildungsrepublik,
Gut hilft, wer früh hilft. Das heißt, mit dem Bildungs- die wir entwickeln wollen. Sie kann Bundesmittel, kom-
paket können wir in die Kitas und Schulen gehen und die munale und private Gelder miteinander vernetzen. Sie ist
Sportvereine, die kulturtragenden Vereine sowie die ein offenes System, in das weitere Gruppen eingebunden
kirchlichen und sozialen Gruppen stärken. Wir unterstüt- werden. Perspektivisch bietet sie auch die Chance, das
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7491
Uwe Schummer
(A) Bildungssparen für alle von Geburt an, das wir in der weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (C)
christlich-liberalen Koalitionsvereinbarung manifestiert DIE LINKE
haben, zu fördern, und hat durch Startkapital, Fördermit-
Schutz bei Erwerbsminderung umfassend
tel, private Spareinlagen und Zinsen eine große Hebel-
verbessern – Risiken der Altersarmut ver-
wirkung.
ringern
Die Bildungskarte ist in der Zielvorstellung diskrimi- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Wolfgang
nierungsfrei, da niemand sehen kann, ob es Fördermittel, Strengmann-Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
Sozialgelder oder private Gelder sind, die für Bildungs- Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der
zwecke überwiesen werden. Sie ist auch ein lernendes Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
System, das sich weiterentwickelt.
Mindestbeiträge zur Rentenversicherung
Ich denke, wir sollten uns in der heutigen Debatte zu- verbessern, statt sie zu streichen
sichern, dass wir neben allen parteipolitischen Schau-
kämpfen, die gelegentlich stattfinden, im Blick behalten, – Drucksachen 17/1747, 17/1735, 17/256, 17/1116,
dass es um das Wichtigste in unserem Lande geht, näm- 17/2436, 17/3477 –
lich um die Menschen, damit wir für sie alle ein vernünf- Berichterstattung:
tiges und gutes Ergebnis erzielen. Was Frau von der Abgeordneter Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
Leyen entwickelt hat, ist eine exzellente Grundlage. Es
ist ein guter Tag für die Menschen, die durch Bildung Als erstem Redner gebe ich dem Kollegen Peter Weiß
den Aufstieg erreichen wollen. von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen! Wer ein Leben lang fleißig gearbeitet hat, soll sich
Ich schließe die Aussprache. darauf verlassen können, dass ihm im Alter nicht Alters-
armut droht, sondern dass er von seinem Alterseinkom-
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf men einigermaßen gut leben kann. Es ist uns in Deutsch-
den Drucksachen 17/3404 und 17/3435 an die in der Ta- land mit dem Ausbau der Alterssicherung Gott sei Dank
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. gelungen, dass heutzutage gerade 2,5 Prozent der Rent-
Sind Sie damit einverstanden? – Dann ist das so be- nerinnen und Rentner auf zusätzliche Hilfe des Staates
schlossen. angewiesen sind, weil ihr Alterseinkommen nicht aus-
(B) reicht. (D)
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- wird sich ändern! Leider!)
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
(11. Ausschuss) Wir wollen, dass auch in Zukunft Altersarmut für die al-
lermeisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn
– zu dem Antrag der Abgeordneten Anton sie in das Rentenalter kommen, ein Fremdwort bleibt.
Schaaf, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Damit das gewährleistet bleibt, hat es sich diese christ-
Abgeordneter und der Fraktion der SPD lich-liberale Koalition vorgenommen, unser Alterssiche-
rungssystem mit einem zusätzlichen Schutz gegen Al-
Das Risiko von Altersarmut durch verän- tersarmut zu versehen. Das ist eines der wichtigen
derte rentenrechtliche Bewertungen von sozialpolitischen Vorhaben dieser Koalition. Die Bun-
Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und der desregierung wird im Frühjahr nächsten Jahres dazu eine
Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen Regierungskommission einsetzen, die konkrete Vor-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. schläge erarbeiten soll. Ich weiß, dass gleich der Zuruf
Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, kommen wird: Warum liegt das alles noch nicht vor? –
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Dazu muss ich Folgendes sagen: Was in elf Jahren unter
LINKE der Ägide sozialdemokratischer Arbeits- und Sozial-
minister nicht erledigt wurde,
Risiken der Altersarmut verringern – Ren-
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das ma-
tenbeiträge für Langzeiterwerbslose erhö-
chen Sie jetzt über Kommissionen!)
hen
kann eine neue Regierung nicht in einem Jahr aufarbei-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. ten; das kann man nicht verlangen. Aber ich sage Ihnen
Birkwald, Klaus Ernst, Heidrun Dittrich, weite- zu: Wir wollen das in dieser Legislaturperiode erledigen.
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange
Verbesserung der Rentenanwartschaften [Backnang] [SPD]: Man nennt das auch Kom-
von Langzeiterwerbslosen missionitis!)
– zu dem Antrag der Abgeordneten Matthias W. Ich kündige des Weiteren an, dass wir in dieser Regie-
Birkwald, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, rungskommission selbstverständlich all die Vorschläge
7492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Peter Weiß (Emmendingen)


(A) der Oppositionsfraktionen, die nun als Antrag vorliegen, Arbeitslosengeld II beschlossen. Danach werden die (C)
in die Prüfung einbeziehen werden. Zeiten des Bezugs von Arbeitslosengeld II selbst dann,
wenn staatlicherseits keine Zahlungen mehr für Arbeits-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist losengeld-II-Bezieher in die Rentenversicherung erfol-
gut!) gen, in der gesetzlichen Rentenversicherung angerech-
Nur, ich hätte heute viel lieber erklärt, dass wir die Vor- net.
schläge der Opposition übernehmen werden. Hierdurch werden Lücken in der Versicherungsbio-
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das grafie vermieden und insbesondere bestehende Anwart-
wäre auch gut!) schaften auf Erwerbsminderungsrente oder Leistung zur
Teilhabe aufrechterhalten. Wer also schon einmal als Ar-
Allerdings hat die Anhörung des Bundestagsausschusses beitnehmer in die Rentenversicherung einbezahlt hat,
für Arbeit und Soziales mit einer Reihe von Fachexper- dann aber leider arbeitslos wird, der behält aus dieser
ten ergeben, dass diese Vorschläge mit einer Reihe von Zahlung die vollen Ansprüche an die Rentenversiche-
Mängeln behaftet sind. Ich will kurz zitieren, was die rung. Insbesondere auch dann, wenn er krank wird, nicht
Experten gesagt haben. Der Sachverständige der Deut- mehr arbeiten gehen kann, eine Erwerbsminderungs-
schen Rentenversicherung erklärte: rente beantragen will, kann er diese Erwerbsminde-
Deswegen muss man allen Regelungen, die in der rungsrente auch weiterhin beantragen. Ja, es ist sogar so:
gesetzlichen Rentenversicherung darauf gerichtet Diese Neuregelung, die wir gestern beschlossen haben,
sind, über die Aufstockung von Anwartschaften Al- führt dazu, dass sein Anspruch auf Erwerbsminderungs-
tersarmut zu vermeiden, generell ein Problem mit rente höher ist, als er bei der Beibehaltung des alten
der Zielgenauigkeit attestieren. Rechts wäre. Also: Für Arbeitslosengeld-II-Bezieher,
die krank werden, die Erwerbsminderungsrente beantra-
Genau so ist es. Die Vorschläge der Opposition funktio- gen wollen, haben wir gestern die Leistungen verbessert
nieren nach dem Gießkannenprinzip und sind nicht ziel- und nicht verschlechtert.
genau. In einem modernen Sozialstaat kann man aber
nicht mit der Gießkanne irgendwelche Segnungen aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schütten, die dann hoffentlich helfen. Ein moderner So- Das zeigt den wesentlichen Unterschied, der zwi-
zialstaat funktioniert so, dass man demjenigen Hilfe prä- schen den verschiedenen politischen Parteien in der So-
zise gewährt, der sie braucht. Man darf Mittel nicht zialpolitik besteht. Wir, die neue Koalition aus CDU,
verschwenden. CSU und FDP, verteilen nicht irgendwelche wohlklin-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – genden Placebos, die dann keine nachhaltige Wirkung
(B) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ erzielen, wir helfen gezielt dem, der sich selbst nicht hel- (D)
DIE GRÜNEN]: Das gilt aber nicht für alle fen kann, zum Beispiel weil er krank oder behindert ist.
Vorschläge!) Er kann sich auch in Zukunft auf die Leistungen der ge-
setzlichen Rentenversicherung verlassen. Ich glaube, das
Herr Professor Eekhoff hat generell festgestellt: „Es sind ist die wichtigste Zusage, die ein Sozialstaat geben kann.
dies keine Anträge, die Altersarmut verhindern.“ Ent-
schuldigung, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Vielen Dank.
Opposition, aber angesichts solch grundlegender Kritik (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Fachleute an Ihren Anträgen können wir Ihren Mo-
gelpackungen nicht zustimmen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anton Schaaf hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich
dachte, Sie wollten sie prüfen!) (Beifall bei der SPD)

Nun liegt ein besonderes Augenmerk auf der sozialen Anton Schaaf (SPD):
Sicherung derjenigen Menschen, die Arbeitslosengeld II
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
beziehen. Es wird kritisiert – auch gestern in der Debatte
Peter Weiß, in der Tat ist es so, dass die Anträge, die hier
über das Haushaltsbegleitgesetz –, dass die Zahlungen
vorliegen, die zukünftige Altersarmut nicht verhindern
des Staates in die Rentenversicherung zugunsten der Ar-
werden. Denn Altersarmut, Armut, hat Ursachen. Die
beitslosengeld-II-Bezieher abgeschafft werden sollen;
liegen in der Regel im Erwerbsleben, in der Erwerbstä-
das ist richtig. Aber die 2,09 Euro, die aus solchen Zah-
tigkeit, in unterbrochenen Erwerbsbiografien.
lungen als Rentenanspruch erwachsen, haben jemanden,
der lange Arbeitslosengeld II bezieht, schon bislang (Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD])
nicht davor bewahrt, im Alter Grundsicherung zu bean-
tragen. Hier geht es tatsächlich darum, mit schon vorhandener
Altersarmut umzugehen, jetzt konkret Altersarmut abzu-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mildern und zu lindern.
NEN]: Dann kann man es gleich ganz wegneh-
men!) In der Tat, wenn wir darüber reden, was die Regie-
rung denn macht, was die Regierungskoalition macht,
Das wird auch in Zukunft so sein. Aber wir haben ges- um drohende Altersarmut zu verhindern, müssen wir
tern eine wichtige Neuregelung für die Bezieher von feststellen: Da besteht das Versagen dieser Regierung,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7493
Anton Schaaf
(A) genau an dieser Stelle. Da geht es nämlich darum, dass nicht in Ordnung, dass die Langzeitarbeitslosen keinen (C)
Menschen durch ihre Erwerbsbiografien, aus der Arbeit Zuschuss zur Rentenversicherung mehr bekommen.
und den Löhnen, die sie dafür erhalten, anständige Bei- Zwar sparen Sie, die Regierung, an dieser Stelle – das ist
träge zahlen können, um über diese Beiträge auch ver- schon richtig –; dafür zahlen müssen aber die Arbeitneh-
nünftige Ansprüche erwerben zu können. An der Stelle merinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber, da
versagen Sie komplett. Sie sind eine Ursache für dro- die Rentenversicherungsbeiträge in Zukunft nicht von
hende Altersarmut. Das ist der entscheidende Punkt. Da- 19,9 Prozent auf 19,3 Prozent abgesenkt werden können.
rüber müssen wir uns im Klaren sein. Für die Arbeitnehmer kommt dabei am Ende definitiv
weniger Netto vom Brutto heraus.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Ich sage Ihnen einmal etwas: Das DIW hat für die DIE GRÜNEN)
Jahrgänge 1952 bis 1971 im Osten der Republik berech-
net, dass bei den Männern 31,4 Prozent und bei den Das ist der entscheidende Punkt.
Frauen 46,6 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Sagen Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
nehmer eine Rente unterhalb von 600 Euro erhalten wer- mern, den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern sehr
den. Da ist Altersarmut sehr konkret. Die Frage ist: Was deutlich, dass deren Rentenversicherungsbeiträge nicht
tun Sie gegen diese drohende Altersarmut? abgesenkt werden können, weil die Regierung zulasten
Jetzt konstatiere ich, dass man sich natürlich darauf von Arbeitslosen und Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
konzentrieren muss, einige Sachen zu machen. Die Frau nehmern ihr Sparprogramm durchdrückt.
Ministerin hat gesagt, in diesem Jahr würde sie außer (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schwarz-
SGB II nichts machen, da sie dafür keine Kapazitäten Gelb greift den Arbeitnehmerinnen und Ar-
habe. – Na ja, das Ministerium scheint mir kleiner ge- beitnehmern in die Tasche! So ist das!)
worden zu sein, es gibt da verschiedene Abteilungen.
Aber unabhängig davon ist es völlig in Ordnung, dass Herr Weiß, Sie haben gesagt: Wer ein Leben lang ge-
man sich in der Koalition zusammensetzt und überlegt, arbeitet hat, muss am Ende auch einen vernünftigen An-
wie man beispielsweise das Thema Altersarmut angehen spruch auf Rente haben, also auf eine Rente, von der er
kann. Aber ganz konkret geht es hier um den Vorschlag, leben kann. Das ist schon richtig; da gebe ich Ihnen aus-
den die SPD-Fraktion dazu gemacht hat, nämlich ein be- drücklich recht. Es gibt aber schon jetzt Hunderttau-
währtes Mittel, um jetzt Menschen vor Altersarmut zu sende von Menschen, die jeden Tag arbeiten gehen und
schützen, die Rente nach Mindestentgeltpunkten, ein- am Ende des Monats von dem Geld, das sie verdient ha-
fach für einige Jahre fortschreiben, bis man andere Lö- ben, nicht leben können und die zusätzliche Leistungen
(B) sungen gefunden hat, um drohende Altersarmut generell in Anspruch nehmen müssen. Die Arbeitnehmerinnen (D)
zu verhindern. Aber auch an dieser Stelle wollen Sie und Arbeitnehmer, die zu solchen Bedingungen arbeiten
– wie gerade eben sehr deutlich gesagt – nicht mitma- müssen, können sich überhaupt keinen vernünftigen
chen. Rentenanspruch erarbeiten; es funktioniert nicht. Was
machen Sie? Sie weiten willkürlich die Zahl derer aus,
Bei der Frage Arbeitslosengeld II und Rentenversi- die unter solchen Bedingungen arbeiten und sich zusätz-
cherungsbeiträge, Kollege Weiß, haben Sie ja recht. Bei lich bei staatlichen Leistungsträgern Geld abholen müs-
dem Betrag, der da gezahlt wird, kommt ein Anspruch sen, indem Sie die Zuverdienstgrenzen anheben. Diese
von 2,09 Euro monatlich heraus. Das wird Altersarmut Menschen werden in der Regel keine vernünftigen An-
nicht verhindern. Aber was auch noch daran hängt, sind sprüche auf Rente erwerben können. Da hilft auch keine
die Leistungen, die sich aus der Beitragszahlung erge- private Zusatzvorsorge – wir haben sie gefördert und
ben. Jetzt hat Gott sei Dank die Koalition begriffen auch gewollt –, weil sie nicht in der Lage sind, dafür an-
– auch auf Intervention der Oppositionsparteien –, dass zusparen. Das ist doch das Problem.
es so ist, dass die Ansprüche auf Erwerbsminderungs-
rente da mit dranhängen, Ansprüche auf Reha und Ähn- Man muss Altersarmut präventiv verhindern. Das
liches, und hat da korrigiert. Am Mittwoch haben Sie üb- heißt im Klartext: Menschen, die arbeiten, müssen an-
rigens gesagt, Sie hätten das schon getan, gestern haben ständige Löhne bekommen. An dieser Stelle verweigern
Sie es dann getan. Unabhängig davon haben Sie es ja Sie sich komplett.
Gott sei Dank verstanden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
Dann sagen Sie hier, die Ansprüche bei Erwerbsmin- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
derungsrente wären jetzt für die Betroffenen höher. Bei Der Verfall der Löhne und die Zunahme von prekärer
Beitragslosigkeit können die Ansprüche aber nicht mehr Beschäftigung werden die Ursachen für steigende Al-
wachsen. In der Tat werden die Ansprüche zunächst ein- tersarmut sein.
mal etwas höher; aber man kann nicht weiter Ansprüche
ansparen. Deswegen sind Beitragszahlungen so wichtig. Ich spreche die Sozialdemokratie nun nicht von allem
Es ist daher falsch, die 1,8 Milliarden Euro Zuschuss an frei; aber die Frage, was nach dem SGB II zumutbar ist,
die Rentenversicherung zu streichen. hat Rot-Grün damals gesetzlich geregelt – manche wol-
len sich geschichtlich aus der Verantwortung stehlen; das
Vor dem Hintergrund Ihres immer wieder vorgetrage- gilt insbesondere für Sie, meine Damen und Herren von
nen Mottos „Mehr Netto vom Brutto“ – damit haben Sie der Union –: Zumutbar ist jede Arbeit, die ortsüblich
Wahlkampf betrieben – ist es nicht nachvollziehbar und oder tariflich entlohnt wird. Sie haben über den Bundes-
7494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Anton Schaaf
(A) rat daraus gemacht, dass jede Arbeit zumutbar ist, die waren erfolgreich. Es sind viele Menschen mit geringer (C)
nicht sittenwidrig ist. Übrigens steht auch in Ihrem Ko- Qualifikation – allerdings auch zu geringeren Löhnen –
alitionsvertrag: Arbeit ist zumutbar, wenn sie nicht sit- in Beschäftigung gekommen.
tenwidrig ist. Sittenwidrig ist ein Lohn nach der rechtli-
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chen Definition, wenn er ein Drittel geringer ist als der
NEN]: Auch viele Leute mit guter Qualifika-
ortsübliche oder der tarifliche Lohn.
tion!)
Was heißt das beispielsweise für die Friseure in Sach-
Der zweite Punkt ist, dass Sie sagen: Wenn wir einen
sen? Sie haben einen Stundenlohn von 3,70 Euro. Sie,
Mindestlohn einführen, haben wir alle Probleme gelöst.
Koalition und Regierung, sind damit einverstanden, dass
Da will ich einfach einmal aus der Anhörung zitieren,
sie um die 2 Euro bekommen. Ich sage Ihnen: schon
die im September stattgefunden hat, und zwar aus der
3,70 Euro, 4 Euro, 5 Euro sind sittenwidrig. Wir müssen
schriftlichen Stellungnahme des IAB, des Instituts für
diesen Zustand beenden.
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg – kein
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Zentralorgan der FDP –, Drucksache 17(11)263. Da
GRÜNEN und der LINKEN) heißt es:
Solange Sie sich nicht auf den Weg machen, dafür zu Ein gesetzlicher Mindestlohn verbessert zwar die
sorgen, dass die Ursache von Altersarmut – sie liegt in Einkommensposition der betroffenen Personen. Die
der Regel im Erwerbsleben – dadurch beseitigt wird, Beiträge zur Rentenversicherung und somit auch
dass Menschen anständige Löhne für die Arbeit, die sie die Höhe der zukünftigen Rentenzahlungen würden
leisten, bekommen, werden Sie bei der Bekämpfung von allerdings nur dann mit Sicherheit steigen, wenn
Altersarmut auch nicht erfolgreich sein können, zumal man vernachlässigt, dass von einem gesetzlichen
Sie die Instrumente, die die Opposition vorgeschlagen Mindestlohn auch (negative) Beschäftigungswir-
hat, ablehnen. Diese Instrumente werden zwar unter- kungen ausgehen können und nicht alle Personen,
schiedlich bewertet, aber es gibt eine Gemeinsamkeit: die den Mindestlohn erhalten, weiter beschäftigt
Mit ihrem Einsatz bemüht man sich ernsthaft darum, de- bleiben.
nen zu helfen, die jetzt nicht genug Altersansprüche ha-
Auf der Folgeseite steht:
ben. An dieser Stelle bleiben Sie bisher jede Antwort
schuldig. Bei einer Höhe eines allgemeinen gesetzlichen
Mindestlohns von 10 Euro muss allerdings mit sehr
Die Kommission soll Sie dabei ein Stück weiterbrin-
hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen wer-
gen. Diese Hoffnung habe ich allerdings nicht. Ihnen
den, dass die negativen Auswirkungen überwiegen
geht es bei dem, was Sie da beschließen, nämlich darum,
(B) und bestehende Beschäftigungsverhältnisse abge- (D)
dass jeder Mensch hier Arbeit hat, wobei die Bedingun-
baut bzw. neue verhindert werden.
gen, zu denen die Menschen arbeiten, ruhig schlecht sein
können, was dazu führen kann, dass man für das Alter (Beifall bei der FDP – Matthias W. Birkwald
nicht genügend Ansprüche erwirbt. So wird man Alters- [DIE LINKE]: Warum geschieht das in ande-
armut definitiv nicht verhindern können. Ich befürchte, ren europäischen Ländern nicht?)
wenn Sie die Ursache des Problems nicht beseitigen,
nutzt Ihre Kommission nichts. Sosehr ich es bedauerlich finde, wenn eine Friseuse in
Sachsen – übrigens auf der Basis eines Tarifvertrages,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der die Unterschriften von Arbeitgebern und Gewerk-
der LINKEN) schaften gleichermaßen trägt, sonst wäre es nämlich kein
Vertrag – für 3,70 Euro arbeiten muss, die Vorstellung,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dass dieses Beschäftigungsverhältnis auch dann weiter-
Dr. Heinrich Kolb hat jetzt das Wort für die FDP- bestehen würde, wenn Sie zusammen mit der vereinigten
Fraktion. Linken einen Mindestlohn von 10 Euro einführen, ist
wirklich abenteuerlich. Das muss man hier sagen. Des-
(Beifall bei der FDP) wegen ist das kein tragfähiger Ansatz zur Beseitigung
des Problems.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE
Ich möchte gern auf die Argumente des Kollegen Schaaf LINKE]: Sie werden sehen, dass Sie keine
eingehen. Herr Kollege Schaaf, Ihr erster Punkt war, Angst haben müssen!)
dass Sie gesagt haben, es müssen anständige Löhne ge-
zahlt werden. Ich möchte zunächst einmal darauf hin- Drittens. Die gesetzliche Rentenversicherung, Herr
weisen, dass die Idee, einen Niedriglohnsektor in Kollege Schaaf, ist wichtig. Aber allein über die gesetz-
Deutschland einzuführen, nicht unsere Idee gewesen ist, liche Rentenversicherung die Probleme in den Griff be-
sondern es war die Idee des Bundeskanzlers Schröder, kommen zu wollen, ist ebenfalls nicht möglich.
der damals gesagt hat: Um 5 Millionen Arbeitslosen in
(Anton Schaaf [SPD]: Das ist kein Ansatz,
Deutschland neue Beschäftigungschancen zu eröffnen,
Herr Kolb!)
müssen wir da, wo nur geringe Qualifikationen gegeben
sind, dafür sorgen, dass auch geringere Löhne möglich – Ich sage das, weil Sie als zweites Instrument genannt
sind. – Das war Ihre Tat. Heute muss man feststellen: Sie haben: Wir haben doch die Rente nach Mindesteinkom-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7495
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) men, lasst uns das doch weitermachen. – Es gab gute armutsgefährdet. Das ist ein möglicher und finanzierba- (C)
Gründe, warum wir uns dafür entschieden haben, diese rer Weg.
Rente nach Mindesteinkommen zu beenden – nicht nur,
Zu vielen Vorschlägen, die hier auf den Tisch gelegt
weil sie sehr teuer ist und erhebliche Beitragsgelder ver-
worden sind, muss man einfach sagen: Sie sind nicht
schlingt – das könnte man noch akzeptieren –, aber sie
realistisch. Sie sind falsch, weil die Frage der Bedürftig-
ist auch ein erheblicher Verstoß gegen das Äquivalenz-
keit und der individuellen Vermögenspositionen voll-
prinzip. Es ist doch die tragende Säule unserer gesetzli-
kommen ausgeblendet wird. So kann man es nicht
chen Rentenversicherung, dass Rente in dem Maße ge-
machen. Man muss das Ganze schon ein bisschen zielge-
zahlt wird, wie man zuvor auch Beiträge geleistet hat.
nauer justieren. Das wollen und werden wir in unserer
Jemand, der aufwertet – so wie Sie es vorschlagen –,
Kommission, die im nächsten Jahr ihre Arbeit aufnimmt,
nimmt zwangsläufig in Kauf, dass es Überholvorgänge
tun. Ich glaube, dass wir am Ende dieser Legislatur-
gibt. Es ist eben nicht akzeptabel, dass jemand, der einen
periode guten Gewissens sagen können: Wir sind das
geringeren Anspruch hat, nach Ihrem Eingriff plötzlich
Problem angegangen und präsentieren Lösungen, die
einen höheren Rentenanspruch hat als jemand, der vor-
dazu führen, dass in den Jahren 2020 bzw. 2030 die Al-
her regulär höhere Beiträge gezahlt hat. Das ist für uns
tersarmut in Deutschland nicht ein so großes Problem
nicht akzeptabel. Deswegen sind wir nicht bereit, die Re-
ist, wie sie es heute zu werden scheint.
gelung zur Rente nach Mindesteinkommen zu verlän-
gern. Danke.
(Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Der vierte Punkt ist: Ich glaube, wir müssen in der
Diskussion auf den Boden kommen und das Problem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
einmal realistisch beschreiben. Das heißt, dass man nicht
Das Wort hat der Kollege Matthias Birkwald für die
jedem, der einen niedrigen Rentenanspruch hat, tatsäch-
Fraktion Die Linke.
lich über Eingriffe in die gesetzliche Rentenversicherung
beispielsweise eine höhere Gesamtvorsorge versprechen (Beifall bei der LINKEN)
kann. Es ist nämlich so – das sind die Zahlen, Herr Kol-
lege Birkwald, die im Alterssicherungsbericht 2005 vor- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
gelegt wurden; mit Sicherheit gelten die Verhältnisse bis Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
heute –, dass Personen, die aus der gesetzlichen Renten- Damen und Herren! Die Linke will ein Gebäude sozialer
versicherung im Schnitt einen Anspruch von unter Sicherheit errichten, das im Alter den einmal erreichten
(B) 250 Euro haben, eine Gesamtaltersvorsorge von Lebensstandard sichert und vor Armut schützt. Herr (D)
1 386 Euro für Männer und 1 012 Euro für Frauen ha- Kolb, ich bin der Meinung, niemand soll im Alter von
ben. Da muss man fragen, wo die Pflicht des Staates en- weniger als 900 Euro leben müssen.
det, Altersarmut zu beseitigen, bzw. was Altersarmut
überhaupt ist. Es können keine anderen Maßstäbe gelten (Beifall bei der LINKEN)
– davon bin ich überzeugt –, als sie auch für Erwerbs-
In den vergangenen zehn Jahren haben die verschie-
tätige gelten. Wenn wir da sagen, dass Personen, die
denen Bundesregierungen – egal ob SPD- oder CDU/
880 oder 900 Euro verdienen, armutsgefährdet sind, wird
CSU-geführt – nicht nur an der Fassade des bisherigen
man den Menschen auch kaum versprechen können, dass
Gebäudes sozialer Sicherheit gekratzt.
sie nach staatlicher Fürsorge oder nach staatlichem
Eingriff ein Gesamtalterseinkommen von 1 000 oder Erstens. Sie haben wichtige Bausteine zerstört, indem
1 200 Euro sicher haben werden. Es ist ganz einfach so: sie die Rentenbeiträge für Langzeiterwerbslose radikal
900 Euro sind eine realistische Summe. gekürzt haben. Mit Ihrem sogenannten Sparpaket wollen
Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP, die
Wir haben einen sehr guten Vorschlag gemacht, den Rentenbeiträge jetzt vollständig streichen. Das ist falsch.
ich zum Schluss meiner Redezeit noch vorstellen will: Wir müssen sie erhöhen.
Es gibt bereits heute eine Grundsicherung im Alter, die
im Schnitt 680 Euro beträgt; regional kann das etwas ab- (Beifall bei der LINKEN)
weichen. Wir müssen die Menschen – das ist der präven- Zweitens. Sie haben bisher tragende Elemente ausge-
tive Ansatz, den wir verfolgen – dazu anhalten, etwas für tauscht, indem Sie die Riester-Rente erfunden, das Ren-
ihre eigene Altersvorsorge – privat oder betrieblich – zu tenniveau abgesenkt und Abschläge, also Kürzungen,
tun und sich einen Rentenanspruch aufzubauen. auf die Erwerbsminderungsrente eingeführt haben.
(Anton Schaaf [SPD]: Haben wir doch schon Heute reden wir über die Erwerbsminderungsrente. Da
alles gemacht!) gilt: Weg mit den ungerechten Abschlägen.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir müssen ihnen garantieren, dass sie einen Freibetrag
von 100 Euro für private und betriebliche Vorsorge und Drittens. Sie haben sogar das Fundament ins Wanken
von vielleicht 100 Euro für gesetzliche Rentenbeiträge gebracht, indem Sie den Niedriglohnsektor ausgedehnt
behalten dürfen, auch wenn sie unter dem Niveau der und Billigjobs gefordert und gefördert haben. Wir sagen:
Grundsicherung liegen. Somit kämen sie auf eine Ein sicheres Fundament im Alter gibt es nur mit flächen-
Summe von insgesamt 900 Euro und wären nicht mehr deckenden gesetzlichen Mindestlöhnen. Die von den
7496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Matthias W. Birkwald
(A) Grünen geforderten 7,50 Euro sind nicht genug. Auch wäre ein kleiner, aber wichtiger Baustein gegen die Al- (C)
die von der SPD geforderten 8,50 Euro reichen nicht tersarmut.
aus, um einen Beitrag gegen Altersarmut zu leisten. Da-
(Beifall bei der LINKEN)
für braucht man einen Mindestlohn von 10 Euro.
Ja, wir Linken wollen deutlich mehr soziale Gerech-
(Beifall bei der LINKEN) tigkeit. Zugegeben, das ist ein weites Feld. Aber wenn
Die Schäden müssen und können wir beheben, und Sie einen Menschen für etwas bestrafen, woran er nicht
das möglichst schnell und möglichst gründlich. schuld ist und was er nicht ändern kann, dann werden
Schwarz-Gelb hat aber eine recht eigenartige Sicht auf Sie niemanden auf diesem weiten Feld finden, der sagt:
die Dinge. Am 21. Oktober 2010, also vorige Woche, hat Das ist gerecht, das kann ich rechtfertigen. – Bei der Er-
das Statistische Bundesamt verkündet, dass die Zahl de- werbsminderungsrente aber passiert genau das: Niemand
rer, die auf Grundsicherung im Alter und auf Erwerbs- entscheidet sich dafür, krank zu werden. Niemand kann
minderung angewiesen sind, erstmals geringer geworden ernsthaft den Betroffenen die Schuld an ihrer Erwerbs-
sei, und zwar um 3 800. Das sind 0,5 Prozent weniger minderung in die Schuhe schieben.
als noch 2008. Ich sage: Sie streifen sich eine rosarote
Brille über und erklären das, was Sie damit sehen, zur Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Wirklichkeit. Dabei handelt es sich aber nicht um die Herr Kollege!
Wirklichkeit der Betroffenen. Ihre Basta-Haltung zur
Rente erst ab 67 ist ein weiteres besonders erschrecken- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
des Beispiel. Um es ganz klar zu sagen: Sie leisten sich Trotzdem werden die Menschen mit drastischen Ren-
einen verzerrten Blick auf die Wirklichkeit. Den Arbeits- tenkürzungen von bis zu 11 Prozent bestraft, wenn sie
losen, Armen und Alten präsentieren Sie die Rechnung vor dem 63. Lebensjahr auf eine Erwerbsminderungs-
dafür. Das ist nicht in Ordnung. Das muss anders wer- rente angewiesen sind.
den.
(Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Kommen Sie bitte zum Ende!
Setzen Sie doch Ihre rosarote Brille einfach einmal
ab, und wagen Sie einen Blick auf die wirklichen Ver- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE):
hältnisse in diesem Land. Dabei werden Sie nämlich ei- Das ist völlig ungerecht. Deshalb müssen wir das än-
nes feststellen: Altersarmut ist leider bereits heute ein dern.
Problem. Das ist die Wirklichkeit.
(B) Herzlichen Dank. (D)
(Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN)
Ein ehrlicher Blick auf die Statistik zeigt das: Seit 2003,
also seit es die sogenannte Grundsicherung im Alter Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
gibt, ist die Zahl der Betroffenen, also der Menschen, die Wolfgang Strengmann-Kuhn hat das Wort für Bünd-
von durchschnittlich 683 Euro im Monat leben müssen, nis 90/Die Grünen.
um – jetzt hören Sie bitte gut zu! – 70 Prozent gestiegen.
Diese traurige Entwicklung treiben Sie mit der Rente Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
erst ab 67 und Ihrem aberwitzigen Paket an Sozialkür- DIE GRÜNEN):
zungen gewaltig voran. Deshalb lehnt die Linke beides Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
entschieden ab. Auch heute ist ein schwarzer Tag. Heute geht es um die
(Beifall bei der LINKEN – Peter Weiß [Em- Hartz-IV-Bezieherinnen und -Bezieher. Insofern knüpft
mendingen] [CDU/CSU]: Die Linke lehnt im- dieser Tagesordnungspunkt direkt an den vorherigen an.
mer alles ab!) Schade, dass die Ministerin nicht mehr hier ist; denn
ich hätte sie gerne gefragt, wie es sich eigentlich anfühlt,
Bei den Rentenbeiträgen für Langzeiterwerbslose of-
wenn man am Schreibtisch sitzt und überlegt: Blumen
fenbaren Sie eine frappierende Tierquälerlogik nach dem
und Zimmerpflanzen für die Armen – kann gestrichen
Muster: Wir reißen der Fliege erst ein Bein aus und dann
werden. Haustiere für die Armen – kann gestrichen wer-
noch eines, um schlussendlich ihr Leiden und Leben mit
den. Besuch einer Eisdiele für die Kinder – kann gestri-
dem Hinweis zu beenden, dass das Tier ohnehin kaum
chen werden. Das Stückchen Kuchen im Café – kann ge-
noch zappelt. Denn der Beitrag zur Rentenversicherung
strichen werden. Geld für die Riester-Rente für die
ist unter Beteiligung oder Zustimmung von CDU/CSU
Armen – kann gestrichen werden. Rentenversicherungs-
und FDP systematisch gesenkt worden. Nun hat Bundes-
beiträge für die Armen – kann gestrichen werden. Das ist
kanzlerin Merkel verkündet, dass der verbliebene Rest
das Prinzip der Bundesregierung. Ich frage mich: Wel-
so gering sei, dass auch er jetzt noch gestrichen werden
ches Menschenbild steht eigentlich dahinter?
könne. Herr Weiß hat das hier vorhin für die CDU/CSU
wiederholt. Die Linke fordert deshalb, dass aus den Bei der Streichung der Rentenbeiträge geht es nicht
mickrigen 2,09 Euro Rentenanspruch nach einem Jahr nur um die Arbeitslosengeld-II-Beziehenden. Die Strei-
Hartz IV nicht 0 Euro werden, wie Union und FDP dies chung von 1,8 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt
durchdrücken wollen, sondern 13,60 Euro; denn das – der Kollege Anton Schaaf hat das eben schon gesagt –
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7497
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(A) bedeutet nicht, dass Ausgaben sinken. Vielmehr bleiben das finde ich gut. Gleichzeitig erhalten andere geringere (C)
die Ausgaben in der Rentenversicherung gleich, aber je- Renten, und ein nicht zu unterschätzender Teil erhält
mand anders muss sie bezahlen. Letztlich ist die Kür- überhaupt keinen Zugang mehr zu Erwerbsminderungs-
zung im Bundeshaushalt nichts anderes als ein dreister renten und Rehaleistungen.
Griff in die Rentenkasse.
Das Ganze folgt dem Matthäus-Prinzip – es stammt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht von Lothar Matthäus, sondern aus dem Gleichnis
von den anvertrauten Zentnern im Matthäus-Evangelium –:
Hier geht es um 1,8 Milliarden Euro, nicht einmalig,
sondern jedes Jahr in die Zukunft hinein. Es ist schlicht Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im
eine Lüge, zu behaupten, dass dadurch gespart wird. Be- Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch
zahlen müssen das die Beitragszahlerinnen und Beitrags- noch weggenommen, was er hat.
zahler, was nicht nur verteilungspolitisch problematisch,
sondern auch wirtschaftlicher Unsinn ist, denn der Fak- Dieses Prinzip zieht sich durch die gesamte Politik der
tor Arbeit wird wieder verteuert. Die Mittelschicht und Bundesregierung.
die Geringverdiener werden belastet, und das alles nur,
(Pascal Kober [FDP]: Nehmen Sie zur Kennt-
um Ihre Geschenke für Hoteliers und andere zu finanzie-
nis, dass es da nicht um Sozialpolitik geht!
ren.
Fragen Sie Ihre Parteikollegin Göring-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Eckardt! Die kann Ihnen das auslegen!)
Für die Bundesregierung gilt der Grundsatz: Mehr Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie
Netto vom Brutto für die Besserverdienenden und weni- haben dieses Bibelzitat falsch verstanden; denn das, was
ger Netto vom Brutto für die mittleren und unteren Ein- Sie machen, ist genau das Gegenteil von christlicher
kommen. Umgekehrt müsste es sein. Politik.
(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Wer hat Ih- Unsere Alternative dazu lautet:
nen diesen Unsinn aufgeschrieben? Sie schei-
tern an Ihren eigenen Phrasen!) Erstens. Es müssen Rentenbeiträge für die Arbeitslo-
sen gezahlt werden, damit tatsächlich alle Arbeitslosen
– Das ist doch völlig richtig: Sie senken die Steuern für Zugang zur Erwerbsminderungsrente und zu Rehaleis-
die Reichen und erhöhen die Beiträge für die Geringver- tungen erhalten.
dienenden.
Zweitens. Der Beitrag, der für die Arbeitslosen ge-
(B) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die zahlt wird, muss angemessen sein. Wir schlagen vor, die (D)
Rentnerinnen und Rentner müssen dann mehr Mindesthöhe an den Mindestbeitrag der Erwerbstätigen
bezahlen!) anzupassen.
In der Arbeitslosenversicherung wird das kommen, im Drittens. Altersarmut muss zielgenau bekämpft wer-
Gesundheitswesen kommt es, und auch in der Renten- den. Es ist richtig: Die Vorschläge der SPD und der Lin-
versicherung wird es kommen. Der Kollege Schaaf hat ken sind von den Experten kritisiert worden. Wir schla-
Ihnen das eben vorgerechnet. Die Bundesregierung hat gen eine Garantierente vor, die tatsächlich sicherstellt,
uns in einer Antwort direkt bestätigt, dass die Beiträge dass alle langjährig Versicherten eine Rente über dem
nicht sinken werden. Ich prognostiziere, dass die Bei- durchschnittlichen Grundsicherungsniveau erhalten.
träge zur Rentenversicherung steigen werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Zuruf des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin
[FDP]) Die Politik der Bundesregierung geht zulasten der
Beitragszahlerinnen und Beitragszahler, zulasten der
– Ich bitte Sie, nicht weiter dazwischenzuquatschen, ärmsten Hartz-IV-Bezieher und Hartz-IV-Bezieherinnen
sondern mir eine Zwischenfrage zu stellen; dann kann sowie zulasten der Kommunen, die die zusätzlich anfal-
ich Ihnen das genauer darlegen. lenden Grundsicherungsleistungen zahlen müssen. Wir
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stellen uns auch in diesem Fall quer. Wir stellen uns vor
sowie bei Abgeordneten der SPD – Anton die Hartz-IV-Bezieher und Hartz-IV-Bezieherinnen, vor
Schaaf [SPD]: Koppelin hat keine Ahnung von die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und vor die
Rente!) Kommunen.
Es ist klar, dass die FDP immer Probleme hat, wenn es
um Zahlen geht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege.
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die FDP
hat doch keine Ahnung davon!)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/
Herr Weiß hat gerade stolz erwähnt, dass die Sozial- DIE GRÜNEN):
politiker der Union – unter anderem auf Initiative der Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Opposition hin – erreicht haben, dass sich die Renten für
einen Teil der Hartz-IV-Bezieher sogar erhöhen können; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
7498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wenn wir die vorhin angesprochene Rentenerhöhung um (C)
Frank Heinrich hat das Wort für die CDU/CSU-Frak- 2,09 Euro, die erwirtschaftet wird, wenn man ein Jahr
tion. lang Arbeitslosengeld II bezieht, nicht beibehalten. Es
ist nicht Aufgabe dieses Fürsorgesystems, ohne Einzel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) fallbetrachtung aus Steuermitteln Beiträge in ein Ver-
sicherungssystem einzubringen und damit versiche-
Frank Heinrich (CDU/CSU): rungsrechtliche Ansprüche aufzubauen. Typisch für ein
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Fürsorgesystem ist die Unterstützung bei akuter Hilfsbe-
Kollegen! Zum zweiten Mal bekomme ich von Ihnen, dürftigkeit. Es ist nicht Aufgabe dieses Fürsorgesystems,
von der grünen Fraktion, eine Vorlage aus der Theologie, bei bereits eingetretener Hilfsbedürftigkeit eine weitere
in diesem Fall aus dem Matthäus-Evangelium. Wir müs- künftige Hilfsbedürftigkeit – im vorliegenden Fall die im
sen an anderer Stelle über die Aussage diskutieren; denn Alter – generell zu verhindern. Tritt im Alter Hilfsbe-
das war keine sozialpolitische Aussage, sondern eine dürftigkeit ein, so besteht ein Anspruch auf Grundsiche-
theologische. Ich gehe gerne an anderer Stelle darauf rung im Alter. Das Gleiche gilt für die Erwerbsminde-
ein. Aber selbst freie, liberale Theologen legen das nicht rungsrente. Das ist die Systemgerechtigkeit.
so aus.
Deshalb haben wir diesen Teil gestrichen. Es soll ein
(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich zusätzlicher Anreiz entstehen. Die Leute sollen Mut be-
dachte, Sie nennen sich christlich! Das merkt kommen und sich der Herausforderung, wieder in Arbeit
man aber nicht!) zu kommen, stellen. In Arbeit kommen, das hat etwas
mit Würde und Stolz zu tun. Wir sind angetreten, um
Ich möchte auf die fünf Anträge eingehen, über die
Menschen in Beschäftigung zu bringen, auch wenn Sie
wir heute hier diskutieren. Alle Anträge drehen sich
das in Abrede stellen.
– das ist die Schnittmenge der Titel der Anträge – um
das Risiko der Altersarmut. Ehrlich gesagt: Da besteht
sehr wohl eine gewisse Einigkeit mit uns. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Altersarmut – das ist mein erstes Stichwort – ist ein Kollegen Ilja Seifert zulassen?
Problem, dessen Lösung wir in Angriff nehmen müssen.
Wir müssen dafür aber wissen, welchen Umfang das
Problem hat, das auf uns zukommt. Es ist richtig, dass Frank Heinrich (CDU/CSU):
wir das Thema in Angriff nehmen. Es handelt sich um Nein, ich möchte jetzt gerne zum Ende kommen.
ein Problem, das im Moment noch sehr klein ist – das Letztlich stehen wir für den Ausstieg aus einer Hartz-IV-
(B) haben Sie selber wahrgenommen –, aber ganz klar auf Kultur, die sich auch hier niederschlägt, und für den Ein- (D)
uns zukommt. stieg in eine Kultur der Beteiligung, der Teilhabe, der
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Stei- Selbstbestimmung, der Bestätigung und der Herausfor-
gend!) derung, vielleicht auch der „Herausförderung“.

Wir müssen Altersarmut verhindern; da bin ich, da ist Damit komme ich zu dem Menschenbild, dass Sie,
meine Partei vollkommen bei Ihnen. Wenn die Altersar- Herr Strengmann-Kuhn, angesprochen haben. Wir
mut in hohem Maße auf uns zukommt, sollten wir Vor- möchten den Menschen ihren Stolz und ihre Würde zu-
kehrungen treffen. rückgeben. Fordern und Fördern, immer in dem Wissen:
Wer nicht kann, findet Hilfe und Unterstützung beim
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Den Staat.
Satz merken wir uns jetzt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir teilen sehr wohl die Sorgen, die Sie und die Bür-
Das dritte Stichwort ist Realität; damit komme ich
ger haben. Das schlägt sich auch darin nieder, dass wir
zum Schluss. Wir müssen abwarten. Wir können nicht
die im Koalitionsvertrag angekündigte Kommission ein-
von Spekulationen ausgehen. Ich habe einen Bericht ge-
setzen. Es geht darum, herauszufinden, ob und, wenn ja,
lesen, in dem es um das Problem der Zielgenauigkeit
in welchem Umfang man auf Altersarmut reagieren
geht. Dieses Problem gehen wir jetzt an. Ein Renten-
muss. Herr Weiß hat es schon gesagt: Wir sind sehr ge-
fachmann sagte mir gestern: Ja, es wird Geld gespart,
spannt auf die Arbeit der Kommission und auf die Um-
und der Verwaltungsaufwand wird verringert – das ist
setzung der Ergebnisse
die eine Seite –, viele Erwerbsbiografien verlaufen aber
Ein zweites Stichwort ist immer wieder gefallen: nicht so, wie wir glauben.
Grundsicherung. Ich bin der Überzeugung, dass wir zwei
Immer gleich vom Negativen auszugehen, hat etwas
Dinge voneinander trennen sollten. Die Bereiche Rente
von Kapitulation.
und Grundsicherung sollten wir nicht miteinander ver-
mähren, wie wir in Sachsen sagen. Rentenansprüche (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So
sollten aus Arbeit und nicht aus Nichtarbeit entstehen; ist es!)
denn für Letzteres ist die Grundsicherung da. Diese zwei
Ich komme aus der Jugendhilfe. Ein Kollege von mir be-
Bereiche sollten auseinandergehalten werden.
richtete Folgendes: Das Jugendamt fragte: Warum müs-
Sie haben die Systematik zum Thema gemacht. Ich sen Sie das so ausstatten? Sie verwöhnen die Leute doch.
möchte kurz darauf eingehen. Es ist systemgerecht, Die landen hinterher doch sowieso bei Hartz IV. – Er
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7499
Frank Heinrich
(A) winkte ab und sagte: Eben nicht. Wir wollen ein Bild Zum ersten Punkt. Sie dürfen uns an den Ergebnissen (C)
malen und den Jugendlichen zeigen, wie es auch sein der von uns beauftragten Kommission messen. Aus die-
kann. Wir wollen ihnen eine Alternative bieten, die für sen Ergebnissen leiten wir unsere Aufgabenbeschrei-
sie Anreiz ist, aus dem System herauszuwachsen. bung ab. Wir werden dann darüber diskutieren, ob Sie
unsere Antwort auf die Ergebnisse der Kommission ak-
Genau das wollen wir. Wir wollen Anreize schaffen zeptieren können. Bis dahin müssen wir mit der Feinjus-
und nicht aufgeben. tierung warten.
Ich danke Ihnen. Zum zweiten Punkt. Sie haben nach meinem Erleben
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gefragt. Mein Erleben ist tatsächlich ein anderes. Ich
habe erlebt, dass Menschen motiviert sind, wenn man ih-
nen Chancen eröffnet und wenn man sie fordert. Aus
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: meinen Gesprächen in meinem Wahlkreis weiß ich, dass
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem die Menschen am Ende gerne sagen würden: Das habe
Kollegen Ilja Seifert. ich mir selbst erarbeitet.
Ich danke Ihnen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Lieber Herr Kol- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP –
lege, da Sie mir keine Zwischenfrage zugestanden ha- Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber
ben, möchte ich zwei Bemerkungen machen: dazu müssen sie die Chance haben!)
Erstens. Alle Koalitionsrednerinnen und -redner spra-
chen mit großer Euphorie von der Kommission, die Sie Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
einsetzen wollen. Ich schließe die Aussprache.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!) Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales auf
Was passiert denn, wenn bei der Arbeit der Kommission Drucksache 17/3477. Unter Buchstabe a empfiehlt der
Ergebnisse herauskommen, die Ihnen nicht passen? In Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
der vergangenen Wahlperiode wurde eine Kommission SPD auf Drucksache 17/1747 mit dem Titel „Das Risiko
zur Klärung des Pflegebegriffs eingesetzt. Sie hat her- von Altersarmut durch veränderte rentenrechtliche Be-
vorragende Ergebnisse erarbeitet. Bedauerlicherweise wertungen von Zeiten der Langzeitarbeitslosigkeit und
redet von der Regierung jetzt niemand mehr davon. Die der Niedriglohn-Beschäftigung bekämpfen“. Wer stimmt
Ergebnisse der von Ihnen selbst eingesetzten Kommis- für die Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
(B) sion werden ignoriert und in den Skat gedrückt. Das haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung ange- (D)
kann doch nicht sein. nommen. Zugestimmt haben die Koalitionsfraktionen.
Dagegen gestimmt hat die SPD-Fraktion. Enthalten ha-
Zweitens. Sie behaupten Folgendes: Wenn Sie die ben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Fraktion Die
Beiträge für Arbeitslose streichen, sei das ein Anreiz, Linke.
schneller in Arbeit zu kommen, weil man nicht auf die
Grundsicherung angewiesen sein möchte. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
Haben Sie aufgrund der Erlebnisse, die die Menschen der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1735 mit dem
Ihnen berichten, nicht den Eindruck, dass es genau um- Titel „Risiken der Altersarmut verringern – Rentenbei-
gekehrt ist? Diejenigen, die wissen, dass sie keine träge für Langzeiterwerbslose erhöhen“. Wer stimmt für
Chance haben, über das Niveau der Grundsicherung zu diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
kommen, haben keinen Anreiz mehr, sich um eine Ar- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom-
beit zu kümmern. men. Dafür gestimmt haben die Koalitionsfraktionen
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So und die SPD-Fraktion. Dagegen gestimmt hat die Frak-
tion Die Linke. Enthalten hat sich die Fraktion Bünd-
dumm denken die Leute nicht!)
nis 90/Die Grünen.
Eine Arbeit im Niedriglohnbereich würde auf keinen
Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss in seiner
Fall ausreichen, um über den Grundsicherungsbetrag zu
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
kommen. Das heißt also, dass Sie die Vorsorge regel-
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/256 mit dem Titel
recht torpedieren. „Verbesserung der Rentenanwartschaften von Langzeit-
Vielen Dank. erwerbslosen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
(Beifall bei der LINKEN) schlussempfehlung ist angenommen bei Zustimmung
durch die Koalitionsfraktionen und die SPD-Fraktion.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Dagegen hat die Fraktion Die Linke gestimmt. Die Frak-
Herr Heinrich, zur Antwort. tion Bündnis 90/Die Grünen hat sich enthalten.
Unter Buchstabe d empfiehlt der Ausschuss die Ab-
Frank Heinrich (CDU/CSU): lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
Da Sie Ihren Beitrag als Kommentar verstehen, sache 17/1116 mit dem Titel „Schutz bei Erwerbsminde-
möchte ich nur kurz antworten. rung umfassend verbessern – Risiken der Altersarmut
7500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) verringern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sönke (C)
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Be- Rix, Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Ab-
schlussempfehlung ist mit dem gleichen Stimmenver- geordneter und der Fraktion der SPD
hältnis wie zuvor angenommen.
Chancen nutzen – Jugendfreiwilligendienste
Unter Buchstabe e empfiehlt der Ausschuss die Ab- stärken
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/2436 mit dem Titel „Mindestbei- – Drucksache 17/3429 –
träge zur Rentenversicherung verbessern, statt sie zu Überweisungsvorschlag:
streichen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Sportausschuss
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Rechtsausschuss
fehlung ist angenommen. Dagegen hat die Fraktion Ausschuss für Arbeit und Soziales
Bündnis 90/Die Grünen gestimmt. Alle anderen Fraktio- Verteidigungsausschuss
nen waren dafür. Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 31 auf: Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-
erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
Kinder verfahren wir so.

– Drucksache 17/3305 – Der erste Redner ist der Kollege Kai Gehring für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend DIE GRÜNEN)
Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kolle-
ginnen und Kollegen Granold, Steffen, Thomae, Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Petermann, Hönlinger und der Parlamentarische Staats- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sekretär Stadler.1) Wir als Grüne haben diese Debatte auf die Tagesordnung
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- gesetzt, um der Regierung auf die Sprünge zu helfen und
wurfs auf Drucksache 17/3305 an die in der Tagesord- Ihnen Impulse zu geben.
(B) nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (Markus Grübel [CDU/CSU]: Dann müsst ihr (D)
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann aber früher aufstehen!)
ist die Überweisung so beschlossen.
Sie müssen jetzt endlich Farbe bekennen und eine Offen-
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 32 sowie Zusatz- sive für Freiwilligendienste starten.
punkt 9 auf:
Wir als Grüne wollen Quantität, Qualität und Attrak-
32 Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai tivität von Freiwilligendiensten ausbauen. Das ist mehr
Gehring, Britta Haßelmann, Ute Koczy, weiterer als überfällig. Wir kämpfen für diesen Ausbau seit vielen
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Jahren, weil die verschiedenen Inlands- und Auslands-
DIE GRÜNEN freiwilligendienste – vom „Freiwilligen Ökologischen
Aufbauoffensive für Freiwilligendienste jetzt Jahr“ und „Freiwilligen Sozialen Jahr“ über „weltwärts“,
auf den Weg bringen – Quantität, Qualität „kulturweit“, den „Europäischen Freiwilligendienst“ bis
und Attraktivität steigern zum „Freiwilligendienst aller Generationen“ – zivilge-
sellschaftliches Engagement stärken und demokratisches
– Drucksache 17/3436 – Lernen bei Jugendlichen massiv fördern.
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Der Ausbau der Freiwilligendienste ist überfällig,
Sportausschuss kommt aber, allen Ankündigungen der letzten Monate
Rechtsausschuss und Jahre zum Trotz, seit Jahren leider nicht voran. Des-
Finanzausschuss halb ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, hier mehr zu tun.
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Ausschuss für Gesundheit sowie bei Abgeordneten der SPD)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Das Problem dabei ist übrigens nicht, dass engage-
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
mentbereite Jugendliche fehlen würden; das wird Ju-
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und gendlichen immer unterstellt. Im Gegenteil: Auf einen
Entwicklung Freiwilligendienstplatz kommen seit Jahren zwei bis drei
Ausschuss für Kultur und Medien Bewerber. Das Problem ist der massive Mangel an An-
Haushaltsausschuss geboten. Dieser Mangel muss endlich behoben werden;
die Anzahl der Freiwilligendienste muss mittelfristig
1) Anlage 4 verdoppelt werden. Das steht jetzt an.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7501
Kai Gehring
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Zivildienstetat darf kein Steinbruch sein. Die (C)
Mittel müssen für den Ausbau verwandt werden. Sie ha-
Der Ausstieg aus der Wehrpflicht und dem Zivildienst ben für diesen freiwilligen Zivildienst weder bei den
bringt auch neue Chancen mit sich. Verbänden noch in der Gesellschaft noch bei den Frei-
(Christel Humme [SPD]: So ist es!) willigen Unterstützung oder eine Mehrheit. Sie können
diese falsche Weichenstellung jetzt noch korrigieren.
Es ist ein überfälliger und richtiger Schritt. Im Nach- Bringen Sie stattdessen einen Ausbau der Freiwilligen-
hinein kann man dazu vielleicht sogar sagen, dass dienste auf den Weg.
Schwarz-Gelb möglicherweise einmal etwas hinbekom-
men hat – wenn Sie es tatsächlich schaffen, aus der Sie hätten im Übrigen unsere Unterstützung, wenn
Wehrpflicht auszusteigen. Sie jetzt ein Freiwilligendienstestatusgesetz aus einem
Guss auf den Weg bringen würden. In diesem müssten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Dienste als arbeitsmarktneutrale gemeinnützige Bil-
dungsdienste geregelt und ein sozialrechtlicher Status
Das wäre ein guter Schritt, der auch Chancen für einen definiert und präzisiert werden. Es müsste auch geklärt
Ausbau der Freiwilligendienste bieten würde. Diese werden, wie unterrepräsentierte Zielgruppen, auch neue
Chancen werden aber gerade wieder verspielt. Diese Ge- Zielgruppen, künftig für Freiwilligendienste gewonnen
fahr und dieses Risiko sehen wir. Sie, die Regierung und werden können, wie Qualitätsverbesserungen eingelei-
die Koalition, müssen jetzt gemeinsam mit den Ländern tet werden und die frei werdenden Mittel aus dem Zivil-
handeln, statt wie in den letzten Monaten immer nur dienst erhalten bleiben.
Sonntagsreden zu dem Thema Freiwilligendienste zu
halten. Handeln ist jetzt angesagt.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Beim Ausstieg aus den Pflichtdiensten brauchen wir Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
eben kein Stückwerk, sondern politischen Mut zu einem
wirklich großen Wurf. Raus aus dem Zivildienst muss Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
heißen: rein in einen verlässlichen Ausbau der Freiwilli-
Ich komme zum Schluss. – Es geht einfach nicht, dass
gendienste. Das fehlt bisher.
Sie beim Thema Freiwilligendienste den Kopf weiterhin
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den Sand stecken. Sie müssen die Interessen der Ju-
und bei der SPD) gendlichen und der Freiwilligen jetzt endlich in den Mit-
telpunkt Ihrer Politik stellen.
Frau Schröder, die heute leider nicht hier sein kann,
hat ein Konzept bzw. eher vage Eckpunkte vorgelegt,
(B) wie sie einen freiwilligen Zivildienst einrichten will. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D)
„Freiwilliger Zivildienst“ klingt schon absurd Herr Kollege.

(Christel Humme [SPD]: Das stimmt!) Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und ist auch Flickschusterei, weil sie damit sinnlose und Sie müssen den Freiwilligendiensten eine verlässliche
ineffiziente Doppelstrukturen schafft, die kein Mensch Ausbauperspektive bieten. Darum muss es jetzt gehen.
braucht. Kein Mensch braucht einen Bundesstaatsdienst, Danke.
(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das ist doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
alles Schnee von gestern!) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
LINKEN)
der unserer bewährten Marke, der Marke Jugendfreiwil-
ligendienste, Konkurrenz macht und zivilgesellschaftli-
che Freiwilligendienstorganisationen demotiviert. Es Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
wäre auch absurd, wenn in derselben Einrichtung mit Markus Grübel hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
denselben Tätigkeiten künftig freiwillige Sozialdienst- tion.
leistende und freiwillige Zivildienstleistende nebenei- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
nander eingesetzt würden, zu völlig unterschiedlichen
Bedingungen und Konditionen, zu verschiedenen Kos-
ten mit unterschiedlichem Taschengeld. Das alles ist Markus Grübel (CDU/CSU):
Flickschusterei und macht keinen Sinn. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Tu etwas für dein Land, tu etwas für dich – das ist die
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Einstellung von Freiwilligen. Sie wollen etwas für die
Gemeinschaft und etwas für sich tun. Beides ist wichtig.
Sie nehmen hier unter einem selbstgesetzten Zeit-
Die Grundhaltung von Freiwilligen ist: Das ist mein
druck falsche Weichenstellungen vor, um letztlich vor
Land, das ist meine Stadt, das ist mein Verein, das sind
allem Aufgaben des Bundesamtes für den Zivildienst zu
meine Werte und Ideale, und dafür engagiere ich mich
erhalten und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für
über den Pflichtbeitrag Steuer hinaus.
dieses Bundesamt durchzusetzen. Sie entziehen im Übri-
gen dem Zivildienstetat allein in dieser Woche 180 Mil- Ich glaube, trotz der Attacken von Kai Gehring sind
lionen Euro. Diese Mittel würden aber dringend für den wir uns, die Koalitionsfraktionen und die beiden Antrag-
Ausbau der Freiwilligendienste gebraucht. steller, über die Fraktionsgrenzen hinweg einig: Wir
7502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Markus Grübel
(A) wollen jetzt die Voraussetzungen schaffen, dass Freiwil- Dieser neue Dienst steht für erweiterte Einsatzberei- (C)
ligendienste einen guten rechtlichen Rahmen und ausrei- che offen. Auch Sport, Kultur, Bildung gehören dazu.
chend Unterstützung bekommen. Ziel ist die Gewinnung von rund 35 000 Freiwilligen pro
Jahr. Die Regeldauer beträgt ein Jahr, 6 bis 18 Monate
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sind flexibel möglich. Der Träger bzw. die Einsatzstelle
Aber das tun Sie nicht!) wird pro Freiwilligen mit rund 500 Euro pro Monat aus-
Wir sind uns auch einig: Bürgerschaftliches Engagement gestattet und handelt dann das tatsächliche Taschengeld
– dazu gehören Freiwilligendienste – ist eine Stütze un- mit dem Freiwilligen aus.
serer Gesellschaft.
Wie bisher wird dieser Dienst in Einrichtungen der
Zurzeit haben wir die einmalige Chance, die Rahmen- Wohlfahrtsverbände, der Kommunen und anderer Träger
bedingungen für Freiwilligendienste zu verbessern. durchgeführt. Die Freiwilligen werden vor Ort und in
Diese Chance werden wir nutzen. Schon im Haushalt Seminaren pädagogisch begleitet. Ich könnte mir vor-
2011, der derzeit beraten wird, sind deutliche Verbesse- stellen, dass die politische Bildung – ein fünftägiges
rungen erkennbar. Wir steigern die entsprechenden Mit- Seminar – für alle gemeinsam erfolgt: Jugendfreiwilli-
tel von 20 Millionen auf 50 Millionen Euro. Das ist gendienst, Bundesfreiwilligendienst und freiwillig
mehr als eine Verdoppelung. Wehrdienstleistende.
Die Aussetzung der Wehrpflicht – sie wird heute auf Junge Menschen sind in der Schule, sind im Verein,
dem CSU-Parteitag in München beraten und am 15. und sind in der Kneipe, in der Ausbildung und im Studium
16. November 2010 auf dem Bundesparteitag der CDU – zusammen. Warum sollen diese jungen Menschen – egal
und damit die Aussetzung des Zivildienstes schaffen ob sie den freiwilligen Wehrdienst, den Jugendfreiwilli-
Spielräume. Es entstehen aber auch Lücken. Letztes Jahr gendienst oder den Bundesfreiwilligendienst leisten –
gab es 90 000 Zivildienstleistende. Sie hinterlassen eine nicht zusammen Seminare zur politischen Bildung besu-
empfindliche Lücke in der Behindertenbetreuung, im chen?
Pflegebereich und in vielen anderen sozialen Bereichen.
Allein im sozialen Bereich wird man mit jährlich Die Kopplung der bestehenden Formate und des
1,8 Milliarden Euro Zusatzkosten rechnen müssen. neuen Formats findet vorrangig über die bestehenden
bundeszentralen Träger von FSJ und FÖJ statt. Zudem
Es geht aber um mehr als um Geld. Durch den Zivil- soll es weitreichende Vergünstigungen – zum Beispiel
dienst wie durch die Freiwilligendienste kommen junge Anrechnung auf Pflichtpraktika und Wartezeiten für Stu-
Menschen in soziale Bereiche. Sie erlernen soziale dienplätze – geben. Der Freiwilligendienst, insbesondere
Kompetenz. Viele entscheiden sich erst durch ihren Frei- der Jugendfreiwilligendienst, ist kein verlorenes Jahr. Es
(B) willigendienst oder Zivildienst dazu, einen sozialen Be- ist ein Lernjahr, es ist für junge Menschen ein gewonne- (D)
ruf zu erlernen, den sie sonst vielleicht ausgeschlossen nes Jahr.
hätten. Durch eine Aussetzung der Wehrpflicht werden
Bundesmittel frei, die zum Teil für Freiwilligendienste Daneben wollen wir die Jugendfreiwilligendienste
genutzt werden können. Das ist eine einmalige Chance. besser ausstatten, und unser Ziel ist es auch, den erhöh-
ten Betreuungsbedarf, den die Träger und Einrichtungen
Allerdings, Herr Gehring, muss nach der Verfassung
haben, zu vergüten.
die Finanzierungskompetenz der Verwaltungskompetenz
folgen. Wir brauchen also die Verwaltungskompetenz Wir könnten darüber hinaus auch Jugendfreiwilligen-
des Bundes, um 100 Prozent der frei werdenden Bundes- dienste mit zusätzlichem Nutzen – zum Beispiel Schul-
mittel einsetzen zu können. Daher lautet der Arbeitstitel: abschluss – anbieten, wie es die Diakonie in Württem-
freiwilliger Zivildienst. Dieser Arbeitstitel ist übrigens berg mit FSJ plus, die Caritas Hildesheim mit FSJ future
ein Lob des Zivildienstes; er, der Zivildienst, der Zivi, ist oder der Internationale Bund in Nürnberg mit FSJ dual
eine gute Marke geworden. Künftig werden wir ihn heute schon erfolgreich tun.
wahrscheinlich als Bundesfreiwilligendienst – er liegt in
der Verantwortung des Bundes und wird mit Mitteln des Als neuer Freiwilligendienst soll auch ein freiwilliger
Bundes finanziert – bezeichnen. Gleichzeitig gibt es Wehrdienst von mindestens 15 Monaten geschaffen wer-
deutliche Verbesserungen beim Jugendfreiwilligen- den. Die Freiwilligenlandschaft wird also bunter. Vom
dienst. Pflegekittel bis zum Flecktarn wird alles möglich. Sozia-
les, Ökologie, Kultur, Sport und Sicherheit bieten ein
Neu bei diesem Bundesfreiwilligendienst oder frei- vielfältiges Bild, so vielfältig wie unsere Gesellschaft ist.
willigen Zivildienst ist, dass er offen für Frauen und
– auch das ist wichtig – offen für alle Generationen ist, Tu was für dein Land, tu was für dich! – Wir schaffen
also auch für Ältere. Wir haben im fünften Altenbericht hierfür einen deutlich besseren Rahmen. Das ist unsere
zu den Potenzialen des Alters und im sechsten Altenbe- gemeinsame Aufgabe in den nächsten Wochen.
richt zu den Altersbildern die Vorarbeit geleistet. Unsere
Gesellschaft ist vielfältig, darum sind die Freiwilligen- Herzlichen Dank.
dienste es auch. Unser Ziel ist es, den geplanten Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
freiwilligendienst eng mit den bestehenden Jugendfrei-
willigendiensten, dem Freiwilligen Sozialen Jahr und
dem Freiwilligen Ökologischen Jahr, zu verzahnen und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
keine Konkurrenz zu schaffen. Sönke Rix hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7503
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
(A) (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ Mittelpunkt stehen immer wieder folgende Antworten: (C)
CSU: Nur Mut, Herr Kollege!) Das bürgerschaftliche Engagement und die Freiwillig-
keit müssen gestärkt und die Jugendfreiwilligendienste
Sönke Rix (SPD): ausgebaut werden. Die Verantwortlichen in den Einrich-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tungen vor Ort sagen jedoch – darauf haben auch Sie ge-
Natürlich sind wir auch mutig, sonst hätten wir keine rade hingewiesen –: Uns fehlen die Leute. Das ist aber
Anträge gestellt, an denen wir uns heute abarbeiten kön- nicht das Thema. Wenn es um bürgerschaftliches Enga-
nen. Ich hätte mir angesichts der Debatte, die wir mittler- gement geht, kann man nicht das Argument anführen:
weile seit Jahren zu dem Thema Jugendfreiwilligen- Uns fehlt vor Ort die Arbeitskraft, und deshalb kann die
dienste führen, und angesichts der Tatsache, dass wir seit Arbeit vor Ort nicht erledigt werden.
Jahren einen Platzausbau, eine Verstärkung, grundsätz- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)
lich eine Attraktivitätssteigerung wollen, gewünscht,
dass dieser Anlass von der Regierung dazu genutzt wor- Wir müssen uns vielmehr fragen: Was ist für die jungen
den wäre, einen großen Aufschlag zu machen. Natürlich Leute, die sich freiwillig bürgerschaftlich engagieren
stimmt es, dass im Haushalt über die Jahre immer wieder wollen, am besten?
etwas mehr Geld dafür zur Verfügung gestellt worden
ist. Das ist gar keine Frage. Es war immer schon mühse- Im Moment gibt es hierzu unterschiedliche Vorstel-
lig, dafür zu kämpfen. Durch den Wegfall des Zivil- lungen, und es existieren zwei Modelle. Ein entspre-
dienstes waren nun Gelder übrig, und es sind auch Gel- chender Gesetzentwurf liegt allerdings noch nicht vor,
der umgeschichtet worden. Aber die Frage ist, wofür weil die jeweiligen Parteitage erst die Richtung vorge-
diese Gelder im FSJ und im FÖJ verwendet werden und ben müssen. Das war auch bei uns nicht anders, und es
ob sie vielleicht an anderen Stellen wieder weggenom- ist richtig, dass die Parteitage das letzte Wort haben. Je-
men werden. denfalls stehen wir vor folgendem Problem: Auf der ei-
nen Seite gibt es die Jugendfreiwilligendienste, die wir
Deshalb immer schön vorsichtig an der Bahnsteig- alle loben. Auf der anderen Seite soll ein freiwilliger Zi-
kante und nicht nur einfach Gelder von der einen Seite vildienst bzw. ein Bundesfreiwilligendienst, oder wie
auf die andere verschieben! Machen Sie vielmehr deut- auch immer Sie ihn nennen wollen, eingeführt werden.
lich, wofür diese Gelder verwendet werden sollen und
wie tatsächlich eine Attraktivitätssteigerung beim FSJ An dieser Stelle setzen wir mit unserer Kritik an: Wa-
und beim FÖJ erreicht werden kann. rum soll es zwei konkurrierende Dienste geben? Wir hät-
ten uns gewünscht, dass es keine Konkurrenz und keine
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Doppelstrukturen gibt; auch Sie, Herr Tauber und Frau
(B) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bär, haben sich einmal in dieser Richtung öffentlich ge- (D)
Herr Kollege Grübel, natürlich sind wir uns fraktions- äußert. Da habe ich gedacht: Endlich, sie haben gelernt.
übergreifend einig, zumindest immer dann, wenn wir Warum soll es also diese Doppelstrukturen geben? Ihr
Reden halten, dass junge Männer und Frauen im FSJ und Argument lautete immer: Eigentlich sind wir für die Ju-
FÖJ in allen Bereichen – ob das im Kulturbereich ist, im gendfreiwilligendienste gar nicht zuständig. Aber jetzt
sozialen Bereich oder beim Sport – eine tolle Leistung sagen Sie: Einen Bundesfreiwilligendienst gibt es nur
bringen. Immer dann, wenn wir Einrichtungen besuchen, dann, wenn gleichzeitig die Jugendfreiwilligendienste,
wenn wir FSJler zu Gesprächen hier im Bundestag ha- also FSJ und FÖJ, ausgebaut werden. Das passt nicht zu-
ben, immer wenn wir über das Thema reden, sagen wir: sammen. Entweder sind wir nicht zuständig, und dann
Die machen eine tolle Arbeit. – Die tun etwas Gutes. Ich dürfen wir hier auch nicht fördern, oder wir sind dafür
finde das auch in Ordnung. zuständig, und dann können wir auch gleich die Jugend-
freiwilligendienste fördern.
Tu was Gutes – das haben Sie schön in Ihrer Rede
aufgegriffen. Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie an- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Kai Gehring
sprechen; denn das FSJ und das FÖJ sind besondere For- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
men des bürgerschaftlichen Engagements und basieren
ausschließlich auf Freiwilligkeit. Sie müssen daher, wie Das Land Rheinland-Pfalz hat in dieser Frage einen
ich finde, sehr stark von der Zivilgesellschaft selbst or- guten Ansatz verfolgt und im Bundesrat beantragt, die
ganisiert werden. Bürgerschaftliches Engagement muss Jugendfreiwilligendienste, wenn es Streitpunkte zwi-
nämlich aus der Zivilgesellschaft kommen und sollte so schen Bundes- und Landesebene gibt, nur noch bundes-
wenig wie möglich staatlich organisiert werden. Wenn weit organisieren zu lassen. Ich wundere mich, warum
Sie das anders sehen, haben wir wohl eine andere Vor- nicht auch dieser Gedanke Bestandteil unserer Diskus-
stellung von bürgerschaftlichem Engagement als Sie. sion ist;

(Beifall bei der SPD) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:


Ich wundere mich, warum die sich mit Bayern
Herr Grübel, Sie haben die in den Einrichtungen ent- zusammengetan haben, wo man diese Doppel-
stehende Lücke angesprochen. Dieses Thema ist interes- strukturen ja auch will!)
sant. Vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken und
anderen Bundesverbänden bekommen wir immer wieder das bedaure ich sehr. Die Vorschläge, die derzeit auf dem
gute Papiere, in denen es um die Frage geht: Wie gehen Tisch liegen, werden von den Ländern durchaus kritisch
wir eigentlich mit dem Wegfall des Zivildienstes um? Im betrachtet.
7504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Sönke Rix
(A) Nun noch etwas zum Verfahren. Interessant ist die an dieser Stelle aber auch einmal sagen, dass das durch- (C)
Frage: Wird zur Wehrrechtsänderung und zum Bundes- aus keine Entwicklung ist, die mit der Regierungsüber-
freiwilligendienst ein Gesetzentwurf vorgelegt, oder nahme von Schwarz-Gelb vom Himmel gefallen ist, son-
werden es zwei sein? Wird eventuell sogar der Verteidi- dern weit in Ihre Regierungszeit zurückreicht.
gungsausschuss federführend sein, wenn es um die Ein-
(Beifall bei der FDP – Kai Gehring [BÜND-
führung eines Bundesfreiwilligendienstes geht? Dies
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war fraktions-
hielte ich für einen Skandal. In ihrer Engagementstrate-
übergreifende Initiative! Dazu sind Sie ja nicht
gie hat die Bundesregierung nämlich geschrieben: Bund,
in der Lage!)
Länder und Kommunen sind aufgefordert, ihre Engage-
mentpolitik gut miteinander abzustimmen. In diesem Bevor man diese Zahlen für politische Schuldzuwei-
Fall tun Sie das aber nicht. Dass Sie das an dieser Stelle sungen heranzieht, möchte ich die Chance nutzen, im In-
nicht hinbekommen, bedauern wir sehr. Das ist mehr als teresse der jungen Menschen auch einmal zu sagen, was
unredlich, liebe Kolleginnen und Kollegen. diese Zahlen im Kern bedeuten. Schlagen Sie einmal die
Zeitungen auf und schauen Sie sich das Bild an, das dort
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
von der Jugend von heute gemalt wird: unpolitisch, am
der LINKEN)
Gemeinwohl desinteressiert und karriereorientiert. Dem-
Wir sind also gar nicht weit auseinander. Nach dem gegenüber zeigen die Zahlen der jungen Menschen, die
Wegfall des Zivildienstes müssen wir in die Freiwilli- sich für die Freiwilligendienste bewerben, und die knapp
gendienste investieren, aber bitte nur in die bestehenden 4 Millionen junge Menschen, die jedes Jahr ehrenamt-
Jugendfreiwilligendienste. Einen zusätzlichen Freiwilli- lich tätig werden, ein ganz anderes Bild. Von daher sollte
gendienst brauchen wir nicht. Dadurch würden nur Dop- man eine solche Debatte auch einmal dazu nutzen, zu sa-
pelstrukturen geschaffen und eine unnötige Unübersicht- gen, dass wir stolz auf das Engagement sind, das die jun-
lichkeit entstehen. Stellen Sie sich vor, junge Leute gen Menschen schon heute in diesem Land zeigen.
bewerben sich in einer Einrichtung, in der es einen Bun- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
desfreiwilligendienstplatz und einen FSJ-Platz gibt. Na- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
türlich würden sie sich in diesem Fall für den Bundes-
freiwilligendienstplatz entscheiden, weil sie dann ein Als Liberalem ist es mir an dieser Stelle auch ein An-
paar Euro mehr bekommen. Wohin wird das führen, liegen, zu betonen, dass dieses Engagement freiwillig
wenn nun von zwei Personen, zum Beispiel einer jungen und ohne jeden Zwang erfolgt, und zwar keinesfalls aus
Frau und einem jungen Mann, die freiwillig in einer Ein- einem abstrakten Pflichtgefühl heraus, sondern weil die
richtung tätig sind, der eine mehr Aufwandsentschädi- jungen Menschen die Freiwilligendienste bzw. ihr frei-
gung oder Taschengeld bekommt als der andere? Wel- williges Engagement in doppelter Hinsicht als berei-
(B) (D)
chen Dienst wird es am Ende wohl noch geben? chernd empfinden: für sich selbst, aber eben auch für die
Gemeinschaft. Genau das haben die jungen Menschen
Seien Sie ehrlich, legen Sie ein einheitliches Konzept erkannt.
vor, und bauen Sie die Jugendfreiwilligendienste aus;
denn sie haben es verdient. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass trotz der Be-
deutung eines schnellen Einstiegs in Ausbildung und Be-
Danke schön. ruf 40 000 junge Menschen im Jahr 2010 einen Freiwil-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ligendienst aufgenommen haben. Das kann man nur
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) loben. Vor allem muss man an dieser Stelle auch einmal
die Arbeitgeber und die Ausbildungsbetriebe dafür lo-
ben, dass sie verstanden haben, dass es bei der Auswahl
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
von Auszubildenden eben nicht nur um das Schulzeug-
Florian Bernschneider hat das Wort für die FDP-Frak- nis, sondern auch darum geht, was die Jugendlichen ne-
tion. ben der Schule und nach der Schule, zum Beispiel in ei-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nem Freiwilligendienst, geleistet haben.
(Beifall bei der FDP)
Florian Bernschneider (FDP):
Meine Damen und Herren von der SPD und vom
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Bündnis 90/Die Grünen, Sie bemängeln in Ihren Anträ-
Herren! Gestatten Sie mir, bevor ich zu den Anträgen
gen, dass der Ausbau nicht schnell genug vorankommt.
von SPD und Grünen komme, auch noch etwas Grund-
Sie machen es sich leicht und verweisen auf die eigenen
sätzliches zu den Freiwilligendiensten und zum bürger-
Sonntagsreden aus den vergangenen Legislaturperioden
schaftlichen Engagement von jungen Menschen insge-
und werfen uns vor, dass wir das alles nach einem Jahr
samt zu sagen.
noch nicht geschafft haben.
Ich möchte auch deswegen zunächst auf diese grund-
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
sätzlichen Dinge eingehen, weil ich schon glaube – das
Jetzt machen Sie es sich aber sehr leicht!)
haben Sie, Herr Rix, gerade ja auch gesagt –, dass wir
uns in vielen Punkten wirklich einig sind; denn natürlich Die SPD rühmt sich in ihrem Antrag zum Beispiel da-
haben Sie recht, dass es keine befriedigende Situation mit, § 14 c Zivildienstgesetz eingeführt zu haben. Ich
ist, dass auf einen Freiwilligendienstplatz zurzeit bis zu glaube Rot-Grün, dass alles, was damals passiert ist, gut
drei Bewerber kommen. Der Fairness halber sollte man gemeint war.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7505
Florian Bernschneider
(A) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da heißt es zum Beispiel in Ihrem Antrag, dass eine (C)
Und gut gemacht!) BAföG-Vergünstigung für ehemalige Freiwillige einge-
führt werden soll. Man muss nun wirklich nicht weit zu-
Man muss nachträglich aber auch einmal feststellen, rückgehen: Vor nicht langer Zeit wurde im Bundesrat da-
dass dieser § 14 c Zivildienstgesetz nicht in Gänze gut rum gerungen, die BAföG-Novelle durchzubringen. Aber
war, sondern dass er zu erheblichen Schieflagen und er- es waren doch gerade die Vertreter der von Ihnen regier-
heblichen Fehlstrukturen geführt hat, um die wir uns ten Länder, die Schwierigkeiten gemacht haben, weil sie
dann erst einmal kümmern mussten. Sie haben gerade die entsprechenden Lasten nicht tragen wollten.
mit Abs. 4 des § 14 c Zivildienstgesetz dafür gesorgt,
dass junge Frauen erheblich benachteiligt wurden, weil (Zuruf von der FDP: Genau das!)
die jungen zivildienstpflichtigen Männer aufgrund der Das zeigt doch, dass Ihre Forderungen nicht durchdacht
höheren Förderquote immer den Vorzug erhalten haben. sind.
Neben dieser Schieflage bei der Chancengerechtigkeit
zwischen den Geschlechtern haben Sie dann auch noch (Lachen bei der SPD – Abg. Sönke Rix [SPD]
für eine Schieflage bei den Finanzierungsstrukturen ge- meldet sich zu einer Zwischenfrage)
sorgt. – Nein, ich lasse keine Zwischenfragen zu; ich komme
Was Sie in Ihrem Antrag als Errungenschaft feiern, auch zum Schluss.
war eine erste Baustelle, um die sich diese Koalition ge- (Sönke Rix [SPD]: Aber bei direkter Anspra-
kümmert hat, indem sie diesen Abs. 4 korrigiert und die che wäre das fair!)
Schieflagen, die ich aufgezeigt habe, beseitigt hat.
30 Millionen Euro fließen jetzt nicht mehr über Um- Genau das wollen wir eben nicht. Wir wollen ein
wege, sondern direkt zu den Jugendfreiwilligendiensten. schlüssiges Gesamtkonzept.
Das ist der größte Aufwuchs dieser Position, den es je- Lassen Sie mich das als Liberaler sagen: Ich bin stolz
mals gegeben hat. Hiermit sind wir einen ersten wichti- darauf, dass gerade diese Regierung nicht über die Not-
gen Schritt gegangen. wendigkeit eines Zwangsdienstes, sondern über die Aus-
(Beifall bei der FDP) gestaltung von Freiwilligkeit diskutiert.

Hinsichtlich der Finanzierung Ihrer weiteren Forde- (Sönke Rix [SPD]: Warum mit einem zusätzli-
rungen bedienen Sie sich einer Sache, zu deren Umset- chen Dienst? Die Frage haben Sie noch nicht
zung Sie selbst nie in der Lage waren. Sie sagen einfach: beantwortet!)
Wenn die Wehrpflicht ausgesetzt wird, dann ist das Geld Ich kann Ihnen versichern, dass wir in diesen Diskussio-
(B) dafür da. – Ich glaube schon, dass es Sie von SPD und nen zu Ergebnissen kommen werden, die besser sind als (D)
Grünen wurmt, dass nun eine schwarz-gelbe Regierung die, die Sie uns heute vorgelegt haben. Deswegen kön-
darüber diskutiert, wie man die Wehrpflicht aussetzen nen Sie sich auf die ausgearbeiteten Konzepte freuen
und große Reformen beim Zivildienst und in Bezug auf und denen dann auch hoffentlich zustimmen.
das bürgerschaftliche Engagement durchführen kann.
Sie müssen es uns dann aber bitte auch überlassen, den Vielen Dank.
Zeitplan dafür zu gestalten, damit das vernünftig durch- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
dacht ist und es nicht zu Fehlschüssen kommt, wie bei
den Ausbauszenarien in Ihren Anträgen, die wahrschein-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
lich gar nicht so möglich sind, wie Sie das schildern.
Heidrun Dittrich spricht jetzt für die Fraktion Die
(Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Gründlich- Linke.
keit vor Geschwindigkeit! – Kai Gehring
(Beifall bei der LINKEN)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Doppel-
struktur ist ein Fehler! Das habe ich doch aner-
kannt!) Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
Es ist doch völlig klar – darin widersprechen wir uns und Herren! Wenn am 1. Januar 2011 der Zivildienst
ja auch nicht –: Wenn wir auf die Wehrpflicht und den wegfällt, wird dies von der Linken begrüßt werden; denn
Zivildienst verzichten, dann müssen wir die Chancen wir sind für die Abschaffung aller Zwangsdienste.
nutzen, die Freiwilligendienste zu stärken. Das wissen
Sie auch. Meine Fraktion steht völlig dahinter. Wenn die (Beifall bei der LINKEN)
Wehrpflicht und der Zivildienst fallen, dann nehmen wir Bereits seit März dieses Jahres jedoch sucht unsere
die Freiwilligendienste in den Fokus und werden diese Familienministerin Kristina Schröder händeringend nach
auch stärken. einem anderen Dienst. Warum ist das so? Der Zivildienst
(Beifall bei der FDP) sollte doch arbeitsmarktneutral gehalten sein und keine
ausgebildeten Arbeitskräfte verdrängen.
An diesen Konzepten arbeitet die christlich-liberale
(Christel Humme [SPD]: Das ist eine gute
Koalition. Wenn man es mit dem Freiwilligenengage-
Frage!)
ment ernst meint, dann muss man aber eben auch mehr
machen, als nur gutgemeinte Forderungen aneinanderzu- Wie wir alle aus der Praxis wissen, hat das noch nie ge-
reihen. Das sei auch noch der SPD gesagt. stimmt. Bereits die ehemalige Bundesgesundheitsminis-
7506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Heidrun Dittrich
(A) terin Ulla Schmidt hat bis zum Jahr 2020 einen Bedarf (Beifall bei der LINKEN) (C)
von 300 000 zusätzlichen Pflegekräften benannt. Der
Präsident des Deutschen Pflegerates, Herr Andreas Warum gibt es eigentlich keine Offensive zur Schaf-
Westerfellhaus, sagt: fung von Ausbildungsplätzen für junge Menschen vor
allem im sozialen Bereich, wo wir doch wissen, dass
Aber wir haben im vergangenen Jahr 10 000 Aus- dort qualifiziertes Personal benötigt wird? Weil diese
bildungsplätze abgebaut! So sieht die Realität aus. Bundesregierung und ihre Vorgängerinnen leider auch
den Sozialstaat abbauen, weil Unternehmen Steuerge-
Dieser Mangel an Arbeitskräften bzw. ausgebildeten schenke gemacht werden, statt die Millionäre zu besteu-
Kräften soll jetzt mit Ungelernten behoben werden? ern.
Welche Tätigkeiten üben denn die Freiwilligen in einem
Sozialen Jahr zum Beispiel im Altersheim aus? Spazier- (Zuruf von der FDP: Wieder die alte Leier!)
engehen, Vorlesen und Essen anreichen. Machen wir uns
doch nichts vor: Bei der Personalknappheit im Gruppen- – Es ist schön, dass Sie das schon wissen. Das freut
dienst wird das auch notwendig. Eine gelernte Altenpfle- mich. Dann hat es ja geholfen, dass wir Ihnen das erklä-
gerin weiß, dass eine Seniorin aufrecht sitzen muss, um ren.
gut zu schlucken. Sie muss manchmal unterstützt wer- (Florian Bernschneider [FDP]: Aber es wird
den, damit der Schluckreflex funktioniert. Das können nicht besser!)
nur ausgebildete Fachkräfte. Die alte Dame sollte auch
ihre Brille aufsetzen, damit sie sieht, was sie isst, und Die Linke ist dafür, jedem jungen Menschen, der es
das Interesse behält. Gerade Demenzkranke erkennen oft möchte, ein Freiwilliges Soziales Jahr als Lerndienst
nicht, dass die Mahlzeit eine Mahlzeit ist. zwischen Berufsausbildung und Arbeitsleben zu ermög-
lichen. Dies darf aber nicht als letzte Möglichkeit und
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Warteschleife oder gar als gesamtgesellschaftliche Lö-
(Zuruf von der FDP: Das frage ich mich auch sung eines Pflegenotstandes dienen.
die ganze Zeit!) (Beifall bei der LINKEN)
Weil Ungelernte nicht erkennen können, was eine Fach-
kraft sieht. Mit dem Einsatz der Freiwilligen in der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Pflege entwerten Sie die Berufsausbildung der Alten- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
pflegerin, und die Pflegebedürftigen erhalten keine qua-
lifizierte Grundversorgung.
Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
(B) (Beifall bei der LINKEN) – Ja. – Wir wollen einen individuellen Anspruch er- (D)
Die Pflegekasse bezahlt in der Pflegestufe I bereits halten. Die freiwerdenden Mittel können gerne genutzt
über 1 400 Euro für einen Heimplatz. Damit haben die werden, um die Freiwilligendienste für Jugendliche zu
betreuten Seniorinnen und Senioren auch Anspruch auf erhalten, nicht aber für einen freiwilligen Zivildienst
fachlich qualifiziertes Personal. Es wäre ja jede Berufs- bzw. für Dienstposten von Pflegebeamten, deren Dienst-
ausbildung im sozialen Bereich überflüssig, wenn durch verhältnis keine Mitbestimmungsrechte wie bei Arbeit-
Ungelernte diese Teile übernommen werden könnten. nehmern zulässt.

Die Familienministerin benutzt die jungen Freiwilli- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:


gen, um einen staatlich subventionierten Niedriglohnbe-
Frau Kollegin.
reich zu erhalten und auszubauen. Warum sollen denn
diese jungen Menschen auf einmal massenhaft das Inte-
resse entwickeln, zu dienen? Was hat denn diese Bundes- Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
regierung für die jungen Menschen getan? Am 19. Okto- Noch zwei Sätze?
ber 2010 schreibt das Handelsblatt, ganz bestimmt kein
linkes Blättchen, dass durch den Wegfall des Zivildiens- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
tes und die Aussetzung des Wehrdienstes 2011 50 000 Nein.
zusätzliche Studenten aufgenommen werden müssten.
Dafür hat die Bundesregierung nicht vorgesorgt. Sie
nimmt es hin, dass Studienberechtigte ebenso wenig ei- Heidrun Dittrich (DIE LINKE):
nen akademischen Ausbildungsplatz erhalten, wie Ju- – Gut. – Es sollen nicht nur die großen Träger, son-
gendliche eine berufliche Ausbildung finden können. dern auch die kleinen gefördert werden.
Stattdessen bieten Sie als Warteschleife das Freiwillige
Danke.
Soziale Jahr an.
(Beifall bei der LINKEN)
(Zuruf von der FDP: Das ist doch Unsinn!)
Der Ausbildungsplatzmangel und die Jugendarbeits- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
losigkeit werden mit dem Ausbau des Freiwilligen So- Das Wort hat der Kollege Peter Tauber für die CDU/
zialen Jahres nicht beseitigt. Schaffen Sie also endlich CSU-Fraktion.
Ausbildungs- und Arbeitsplätze, und schaffen Sie dann
die Rente mit 67 ab! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7507

(A) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): glaube ich, allerdings nicht, zu fordern, dass die Zustän- (C)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und digkeit entweder bei den Ländern oder beim Bund liegt.
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist Vielleicht sollten wir an dieser Stelle aus der Vielfalt
es richtig: Freiwilligkeit ist ein hohes Gut. Aber ich eine Stärke machen, wie es innerhalb der Freiwilligen-
finde, wir müssen in der Diskussion ein bisschen aufpas- dienste bereits der Fall ist. Man muss ja der Wahrheit
sen, dass nicht der Eindruck entsteht, dass das, was einmal die Ehre geben und festhalten, dass das Freiwil-
Wehrdienst- und Zivildienstleistende in den letzten Jahr- lige Soziale Jahr bundesweit eine sehr bescheidene An-
zehnten für dieses Land geleistet haben, weniger wert gelegenheit wäre, wenn man das Engagement von Ba-
ist. Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass es ein den-Württemberg, Bayern und Hessen unberücksichtigt
wesentlicher Effekt des Wehr- und Zivildienstes war, ließe.
dass junge Männer diesen Dienst zwar aus einem Zwang
(Sönke Rix [SPD]: Alles richtig! Aber warum
oder einer als unangenehm empfundenen Pflicht heraus
brauchen wir zwei Dienste?)
antraten, ihn aber in dem Bewusstsein beendet haben,
dass er ihnen nicht geschadet hat, sondern dass sie auch Der Weisheit letzter Schluss ist aber auch nicht zwin-
persönlich davon profitiert haben und etwas Gutes für gend die alleinige Kompetenz des Bundes.
die Gesellschaft getan haben.
Wir müssen über Folgendes ernsthaft reden: Wenn es
Jetzt kommen wir zu der spannenden Frage – damit zwei Säulen gibt – zum einen die Länder, die Verantwor-
müssen wir uns gemeinsam befassen –, wie wir gerade tung übernehmen und Gelder zur Verfügung stellen kön-
die Zielgruppe erreichen, die es nicht von sich aus für lo- nen; zum anderen den Bund, der das Gleiche tut –, dann
benswert und erstrebenswert hält, ein Jahr Freiwilligen- darf das nicht dazu führen, dass sich für die Freiwilligen
dienst zu leisten. Wie können wir mehr junge Menschen in der Struktur des Dienstes erkennbare Unterschiede er-
für einen Freiwilligendienst begeistern? geben. Mit dem Namen „freiwilliger Zivildienst“ ver-
Ich bin sehr froh, dass die christlich-liberale Koalition sucht man, an das positive Image des Zivildienstes anzu-
einen Punkt aus dem Koalitionsvertrag aufgreift und fest knüpfen. Aber diese Namenswahl ist vielleicht nicht
in den Blick nimmt, nämlich den Ausbau der Freiwilli- ganz glücklich. Deshalb werden wir mit der Benennung
gendienste. Denn wir sind davon überzeugt, dass das ein des bundesweiten Freiwilligendienstes den nächsten
wesentliches Element ist, um den Zusammenhalt in un- Schritt gehen und deutlich machen, dass wir vor einem
serer Gesellschaft zu stärken; denn so kann jungen Men- fundamentalen Systemwechsel stehen.
schen vermittelt werden, dass es um mehr geht, als Steu- Wir haben jetzt so viele Möglichkeiten wie nie zuvor,
ern zu zahlen und wählen zu gehen, und dieses Land ihre die Freiwilligendienste auszubauen. Einen solchen Im-
aktive Betätigung braucht, damit sich unsere Gesell- puls für die Freiwilligendienste gab es noch nie in den (D)
(B)
schaft in vielerlei Punkten in eine positive Richtung wei- letzten Jahren. Wir sind hier auf einem sehr guten Weg.
terentwickeln kann. Es ist aber wichtig, dass das auf Augenhöhe mit den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Freiwilligen geschieht, weil es keinen Unterschied ma-
neten der FDP) chen darf, in welcher der beiden Säulen eines gemeinsa-
men Systems sie ihren Dienst verrichten.
Ich habe bereits vor zwei Monaten gesagt – Herr Rix
hat darauf angespielt –, dass ein Ende des klassischen (Sönke Rix [SPD]: Aber dann brauchen wir
Zivildienstes durchaus Chancen zur Etablierung eines auch keine zwei Dienste!)
neuen Freiwilligendienstes bietet, der – das sehen wir in Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Bundesre-
der Debatte vielleicht unterschiedlich – das Beste aus gierung in den Gesprächen schon sehr viel weiter ist, als
dem Zivildienst und dem Freiwilligen Sozialen Jahr zu- das Ihre beiden Anträge nahelegen. Das gilt insbeson-
sammenführt. dere im Hinblick auf das Ehrenamt und die Kultur der
(Sönke Rix [SPD]: Wir wollen aber nicht zwei Freiwilligendienste, in der junge Menschen aufgerufen
Dienste!) sind, selber ihre Umgebung attraktiv zu gestalten.
Ich hatte am Anfang der Debatte ein bisschen die Ich möchte noch auf vier Punkte eingehen, die mir
Sorge, dass beide Seiten in das klassische Denken der wichtig sind.
Besitzstandswahrung verfallen, wie wir es immer erle- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ben, wenn sich etwas fundamental ändert. Der eigene Wo ist denn Ihr Antrag? Wann kommt der
Besitzstand muss unbedingt verteidigt werden. Man ist denn?)
nicht bereit, etablierte Strukturen einmal kritisch zu
durchleuchten und zu hinterfragen. Im Gegensatz dazu Der erste Punkt ist die Vielfalt der Angebote. Natür-
steht, wie ich denke, der Vorschlag der Ministerin, mit lich bleibt der soziale Bereich besonders wichtig. Aber
dem sie damals eine Diskussionsgrundlage dafür schaf- wir müssen Freiwillige auch in der Kultur, im Sport und
fen wollte, dass das eigentliche Ziel wieder in den Mit- im Bildungsbereich sehr viel stärker einsetzen. Auch der
telpunkt rückt, nämlich der Ausbau der Freiwilligen- freiwillige Wehrdienst muss in diesem Zusammenhang
dienste. genannt werden.
Eine wichtige Frage ist nun, wie neue Strukturen aus- Beim zweiten Punkt, der neben der Angebotsvielfalt
sehen können. Ebenso wichtig ist aber auch die Frage ebenfalls wichtig ist, geht es um die Frage, wie die Kom-
der Zuständigkeit. Bei genauerem Hinsehen hilft es, petenzen, die die jungen Menschen während ihres frei-
7508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

Dr. Peter Tauber


(A) willigen Dienstes erwerben, zertifiziert werden können Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C)
und wie bescheinigt werden kann, dass sie etwas gelernt Aber nicht mehr heute.
haben, damit sie auch persönlich den Eindruck haben,
(Heiterkeit)
von diesem Dienst profitiert zu haben.
Die Redezeit ist abgelaufen.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Wir sind gespannt auf Ihre Antworten!)
Dr. Peter Tauber (CDU/CSU):
Das hat auch etwas mit dem dritten Punkt, der un- Es bleibt auch von unserer Seite noch viel zu tun, da-
heimlich wichtig ist, zu tun: mit der Anerkennungskul- mit in Zukunft genügend junge Männer und Frauen be-
tur. geistert sind, wenn es heißt: Freiwillige vor!
Viertens müssen wir uns Gedanken darüber machen, Herzlichen Dank.
wie wir junge Menschen für einen Freiwilligendienst be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
geistern können. Wir wollen nämlich nicht in einem
Land leben, in dem das Prinzip gilt: Wenn jeder an sich
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
selber denkt, ist an alle gedacht.
Ich schließe die Aussprache.
(Heidrun Dittrich [DIE LINKE]: Ach nee!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Wir sind vielmehr der Auffassung, dass eine Gesell- den Drucksachen 17/3436 und 17/3429 an die in der Ta-
schaft nur sozial und menschlich ist, wenn nicht der gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Staat Verantwortung für den Einzelnen übernimmt, son- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
dern wenn Menschen füreinander Verantwortung über- ist die Überweisung so beschlossen.
nehmen. In diesem Sinne sind die Freiwilligendienste Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tages-
eine ganz wichtige Säule. ordnung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf Mittwoch, den 10. November 2010, um 13 Uhr,
Sie haben recht: Es gibt noch viel zu tun. Aber mein ein.
Eindruck nach den Gesprächen in den letzten Tagen ist,
dass wir nur weiterkommen, wenn wir ein Stück weit ge- Genießen Sie den sonnigen Nachmittag, das Wochen-
meinsam daran arbeiten. Ich lade Sie deshalb zur Zu- ende und die sitzungsfreie Woche sowie die gewonnenen
sammenarbeit ein. Einsichten.
(B) (D)
Die Sitzung ist geschlossen.
(Sönke Rix [SPD]: Wir hätten dazu gerne den
Gesetzesvorschlag!) (Schluss: 14.54 Uhr)

Berichtigung
68. Sitzung, Seite 7317 (B), zweiter Absatz, der
zweite Satz ist wie folgt zu lesen: „Laut Indikatoren-
bericht zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie liegen
die Stickstoffüberschüsse in der Landwirtschaft immer
noch bei 104 Kilogramm pro Hektar.“
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7509

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis


Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Aigner, Ilse CDU/CSU 29.10.2010 Nietan, Dietmar SPD 29.10.2010

Bär, Dorothee CDU/CSU 29.10.2010 Oswald, Eduard CDU/CSU 29.10.2010

Bätzing-Lichtenthäler, SPD 29.10.2010 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ 29.10.2010


Sabine DIE GRÜNEN

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 29.10.2010 Dr. Reimann, Carola SPD 29.10.2010
Marieluise DIE GRÜNEN
Schlecht, Michael DIE LINKE 29.10.2010
Binder, Karin DIE LINKE 29.10.2010
Schreiner, Ottmar SPD 29.10.2010
Bockhahn, Steffen DIE LINKE 29.10.2010
Dr. Schwanholz, SPD 29.10.2010
Dağdelen, Sevim DIE LINKE 29.10.2010 Martin

Dautzenberg, Leo CDU/CSU 29.10.2010 Schwarzelühr-Sutter, SPD 29.10.2010


Rita
Friedhoff, Paul K. FDP 29.10.2010
Senger-Schäfer, DIE LINKE 29.10.2010
Kathrin
(B) Gloser, Günter SPD 29.10.2010 (D)
Golze, Diana DIE LINKE 29.10.2010 Vogel (Kleinsaara), CDU/CSU 29.10.2010
Volkmar
Dr. Guttenberg, Karl- CDU/CSU 29.10.2010
Theodor Freiherr zu Dr. Wiefelspütz, Dieter SPD 29.10.2010

Hänsel, Heike DIE LINKE 29.10.2010 Wöhrl, Dagmar CDU/CSU 29.10.2010

Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 29.10.2010 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 29.10.2010

Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 29.10.2010


DIE GRÜNEN Anlage 2
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede
Holmeier, Karl CDU/CSU 29.10.2010
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Kauder (Villingen- CDU/CSU 29.10.2010 Berichts zu:
Schwenningen), – Antrag: Qualitätsoffensive in der Berufsaus-
Siegfried bildung
Klöckner, Julia CDU/CSU 29.10.2010 – Antrag: Berufliche Bildung als Garant zur
Sicherung der Teilhabechancen junger Men-
Krichbaum, Gunther CDU/CSU 29.10.2010 schen und des Fachkräftebedarfs von mor-
gen stärken
Laurischk, Sibylle FDP 29.10.2010 – Antrag: Verordnungsermächtigung in § 43
Absatz 2 des Berufsbildungsgesetzes entfris-
Leidig, Sabine DIE LINKE 29.10.2010 ten

Maurer, Ulrich DIE LINKE 29.10.2010 – Antrag: Konsequenzen aus dem Berufsbil-
dungsbericht ziehen – Ehrliche Ausbil-
dungsstatistik vorlegen, gute Ausbildung für
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 29.10.2010
alle ermöglichen
7510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) – Antrag: Mehr Jugendlichen bessere Ausbil- Weg zu bringen. Wir verlangen, dass dies zukünftig wie- (C)
dungschancen geben – DualPlus unverzüg- der Merkmal wird. Der Konsens in der dualen Ausbil-
lich umsetzen dung hat die Facharbeiterausbildung stark gemacht, weil
alle Beteiligten im Verfahren dabei waren.
– Unterrichtung: Berufsbildungsbericht 2010
(68. Sitzung, Tagesordnungspunkt 8) Das größte Problem packt aber weder der Ausbil-
dungspakt noch die Bundesregierung an. Es sind über
1,4 Millionen junge Leute zwischen 20 und 29 Jahren,
Willi Brase (SPD): Die aktuellen Zahlen zur Ausbil- die keinen Berufsabschluss bzw. keine Berufsausbildung
dungsplatzsituation sind heute veröffentlicht worden: Es haben und die nicht wissen, wie ihre Perspektive aus-
hat sich eine Besserung eingestellt. Allerdings, so sieht. Hier hätte der Pakt – ein neuer Pakt mit den Ge-
schreibt zu Recht auch die Bertelsmann-Stiftung, gibt es werkschaften zusammen – eine gute Antwort geben kön-
berechtigte Zweifel an der offiziellen Statistik. Dort tau- nen. Auch diese Chance wurde vertan.
chen Ausbildungsplatzsuchende nicht auf, die eine Maß-
nahme im sogenannten Übergangssystem absolvieren, Ein großes Problem – ich will durchaus gestehen, dies
obwohl sie auf diese Weise keinen Berufsabschluss er- wird im Pakt angesprochen – ist das Übergangssystem.
langen können. So blieben, wie die Bertelsmann-Stif- Dieses System hat eine große Vielfalt und Unübersicht-
tung es ausdrückt, mehrere Hunderttausend Jugendliche lichkeit. Das System ist komplex und ist durch eine feh-
ohne Ausbildungsplatz außen vor. Diese Analyse ist lende Transparenz und Ineffizienz gekennzeichnet. Das
richtig. Wenn man die Altbewerber und die verbliebenen IAT schätzt jährliche Kosten von 7 Milliarden Euro für
Jugendlichen hinzurechnet, ist die Ausbildungsbilanz in die mittlerweile über 300 000 betroffenen jungen Leute.
der Tat etwas geschönt. Es wird endlich Zeit, dass die Bundesregierung gemein-
sam mit den Ländern, die jetzt ja auch dem Pakt auf der
Als Antwort auf die Verbesserung der Ausbildungs- Ebene der Kultusminister beigetreten sind, dieses Pro-
platzsituation wurde der Ausbildungspakt eingeführt. Er blem in Angriff nimmt und weniger Maßnahmen, die
ist dieser Tage verlängert worden. Wie wir der Presse aber effektiv, finanziell günstiger und zielgerichteter
entnehmen konnten, haben sich die Gewerkschaften und sind, auf den Weg bringt.
der DGB geweigert, diesem Pakt beizutreten. Warum?
Der DGB verlangt eine ehrliche Bilanz: Kürzere, zwei- Häufig erleben wir, dass Unternehmensvertreter, so-
jährige Ausbildungsordnungen dürften nur im Konsens genannte Spitzenfunktionäre, über mangelnde Ausbil-
entschieden werden, es darf keine Aufweichung des Ju- dungsreife der Jugendlichen klagen. Sind es vielleicht
gendarbeitsschutzgesetzes geben, verbindliche Ziele die Leistungsanforderungen, die immer wieder höher ge-
müssen gesteckt werden, und es muss einen neuen Titel schraubt werden? Ist nicht eine differenzierte Begriff- (D)
(B) geben. Wir unterstützen den DGB ausdrücklich in seiner
lichkeit notwendig? Was ist Ausbildungsreife: soziale,
Position, da auch die jetzige Bilanz keine ehrliche ist. kulturelle, intellektuelle Fähigkeiten? Die Auswahlsitua-
Eine weitere Zulassung zweijähriger Ausbildungen tion ist nicht deckungsgleich mit der Ausbildungswirk-
ist nicht zielführend. Die Antwort müssen vollqualifizie- lichkeit. Häufig erleben wir, dass junge Leute im Theo-
rende Ausbildungsplätze sein, und dazu müssen sich retischen nicht immer so stark sind, aber dann während
endlich auch die Unternehmen verpflichten. Wir wollen und bei der Ausbildung mit ausbildungsbegleitenden
keine Aufweichung des Jugendarbeitsschutzgesetzes. Hilfen zu einem guten, manchmal sehr guten Abschluss
Dies hätte nur zur Folge, dass jüngere Leute noch früher kommen. Wir sind der Meinung: Das Thema „Ausbil-
und noch später arbeiten und das in Bereichen, wo häu- dungsreife“ wird immer dann genutzt, wenn es den Un-
fig schon jetzt prekäre Beschäftigungsverhältnisse an ternehmen und ihren Spitzenfunktionären nutzt, aber
oberster Stelle stehen. Das kann man besonders im weniger, um der tatsächlichen Lage der jungen Leute zu
Gastronomie- und Tourismusbereich beobachten. Dies entsprechen.
hilft nicht den Jugendlichen, sondern nur den Unterneh- Mit unserem Antrag wollen und geben wir Antworten
men. Ebenfalls ist es wichtig, verbindliche Ziele in ei- auf die derzeitige Lage am Ausbildungsmarkt. Uns als
nem Ausbildungspakt festzuschreiben. Das bedeutet, SPD ist es ganz wichtig, dass die jungen Leute einen
dass die tatsächlich notwendigen Ausbildungsplätze Rechtsanspruch auf Berufsausbildung erhalten. Es geht
auch zur Verfügung gestellt werden. nicht mehr an, dass eine so große Bugwelle von jungen
Die Bundesregierung hat wieder einmal eine Chance Leuten, die keine Ausbildung haben, vor uns hergescho-
vertan, im Sinne des Zusammenarbeitens mehr für junge ben wird und gleichzeitig schon einige wieder anfangen,
Leute zu tun. Sie hat es nicht geschafft, die Unterneh- nach ausgebildeten Kräften aus dem Ausland zu rufen.
mensverbände zurückzudrängen, sondern sie haben sich Das ist nicht akzeptabel, solange wir so viele junge
durchgesetzt. Man kann sagen, die Bundesregierung ist Leute haben, die endlich vernünftig ausgebildet werden
vor den Unternehmensverbänden eingeknickt. Das müssen.
beweist nur, was sie schon seit einem Jahr macht: Klien-
Auch der Ausbildungsbonus sollte weitergeführt wer-
telpolitik. Dies nutzt nur den Arbeitgebern und Unter-
den. Gerade kleinere Unternehmen in der Betriebsgröße
nehmen, ist aber zum Schaden der betroffenen Jugendli-
zwischen 5 und 50 Beschäftigten haben durch den Aus-
chen.
bildungsbonus den Schritt in die Ausbildung begonnen.
Es war ein hohes Gut, im Rahmen der dualen Ausbil- Ja, sie erhalten zu Beginn eine finanzielle Unterstützung,
dung die Ausbildungsordnungen im Konsens auf den und wir sind sicher, dass über diesen Weg die Zahl der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7511

(A) ausbildenden Betriebe erheblich erweitert werden schwingen. Das ist peinlich und nicht einer realistischen (C)
könnte. und klaren politischen Betrachtungsweise würdig.
Die Berufseinstiegsbegleitung, die von der alten Ko- Es bleibt festzuhalten, die Chance für einen guten ver-
alition auf den Weg gebracht wurde, wird in der Praxis nünftigen Pakt wurde leichtfertig vertan, die Regierung
als sehr positiv angesehen, und wir freuen uns, dass die ist mal wieder eingeknickt, treibt Klientelpolitik; das
Regierungsfraktionen dieses Instrument jetzt aufgreifen Nachsehen haben die jungen Leute.
und mit dem Pakt ausweiten. Es ist wichtig, schon ab der
siebten, achten Klasse die betroffenen Jugendlichen zu
begleiten, sie zu unterstützen und zielgerichtet in Ausbil- Anlage 3
dung zu führen.
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede
Die Bundesregierung will mit dem Pakt auch das In-
zur Beratung:
strument der Ausbildungsbausteine weiter ausweiten.
Eine der letzten Veranstaltungen zum Thema „Ausbil- – Antrag: Bundesrechtliche Konsequenzen
dungsbausteine“ lässt aber einen erheblichen Zweifel aus der Rücknahme des deutschen Vorbe-
aufkommen, ob dieses Instrument tatsächlich entspre- halts gegen die UN-Kinderrechtskonvention
chend greift. Immerhin werden seit 2008 und dann bis ziehen
2015 insgesamt 60 Millionen Euro in 40 Bausteinpro-
jekte gesteckt. 1 200 Förderfälle sollen damit erreicht – Beschlussempfehlung und Bericht zu den
werden; das macht pro Kopf die enorme Fördersumme Anträgen:
von 50 000 Euro. So üppig war selten eine öffentliche – Kinderrechte stärken – Erklärung zur
Förderung. An der Umsetzung scheint es aber zu hapern. UN-Kinderrechtskonvention zurückneh-
Viele Unternehmensvertreter bei dieser Tagung waren men
wenig entzückt und verließen den Tagungsort mit dem
Hinweis: nichts Neues. Auch die dargestellten Beispiele – UN-Kinderrechtskonvention umfassend
lassen nicht vermuten, dass dieses Projekt ein großer umsetzen
Renner wird. Es wäre besser, dieses Geld zu nehmen und
für vernünftige Maßnahmen und vollqualifizierende – UN-Kinderrechtskonvention unverzüg-
Ausbildung einzusetzen, damit die Jugendlichen auch lich vollständig umsetzen
eine tatsächliche Chance erhalten. Ob wir wollen oder (68. Sitzung, Tagesordnungspunkt 24 a und b)
nicht: Auf dem Ausbildungsmarkt und in der Versorgung
(B) der jungen Leute ist noch eine Menge auf den Weg zu Miriam Gruß (FDP): Kinder sind vollwertige Mit- (D)
bringen.
glieder unserer Gesellschaft. Als solche müssen ihnen
Bedenklich und sehr kritisch muss gesehen werden, gewisse Grundrechte garantiert werden. Die UN-Kinder-
dass die Jugendlichen nach der Ausbildung, wenn sie rechtskonvention gewährt ihnen diese Grundrechte: Das
fertig werden, nur knapp zur Hälfte in sozialversiche- Recht auf Überleben, das Recht auf Bildung, das Recht
rungspflichtige Beschäftigung übernommen werden. auf Schutz vor Missbrauch und Gewalt, ebenso das
Der andere Teil geht in prekäre Beschäftigungsverhält- Recht auf einen eigenen Namen, auf Information und
nisse, in Leiharbeit zu schlechten Bedingungen und Beteiligung am gesellschaftlichen Leben.
niedrigen Löhnen und Gehältern, geht in mehrfach be-
Es ist dieser christlich-liberalen Koalition gelungen,
fristete Arbeitsverhältnisse, macht teilweise Praktika-
was bei der jetzigen Opposition jahrelang brach lag: Mit
phasen durch oder – wenn die jungen Menschen ganz
der Rücknahme der Vorbehaltserklärung gegenüber der
großes Pech haben – bekommt nur einen Minijob. Wer
UN-Kinderrechtskonvention haben wir nun allen Kin-
so mit der Jugend umgeht und zulässt, dass sich diese
dern in Deutschland diese Grundrechte vollständig ein-
prekären Beschäftigungsverhältnisse weiter ausweiten,
geräumt.
hat die Zukunftschancen der Jugendlichen nicht im
Blick, sondern verletzt sie, vernichtet sie und betrachtet Vor beinahe 20 Jahren trat für die Bundesrepublik
die jungen Leute allzu häufig nur als industrielle Reser- Deutschland das „Übereinkommen über die Rechte des
vearmee. Dies werden wir als SPD nicht mitmachen. Kindes“ vom 20. November 1989 in Kraft. Eine im Zuge
Wir weisen das auf entschiedene Weise zurück. Gerade der Ratifizierung abgegebene Erklärung enthielt jedoch
heute ist es wichtig, den jungen Leuten eine vernünftige jene Vorbehalte, die sich insbesondere auf das elterliche
Perspektive zu geben. Sorgerecht, die Anwaltsvertretung sowie weitere Rechte
von Kindern im Strafverfahren, sowie in Vorbehalt IV
Die Regierung lässt sich für arbeitsmarktpolitische auf die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern so-
Erfolge feiern, doch die Kommentatoren im Fernsehen wie die Bedingungen ihres Aufenthalts und Unter-
und in den Medien sprechen eine deutliche Sprache. Es schiede zwischen In- und Ausländern beziehen.
war Rot-Grün und es war die große Koalition, die mit
Konjunkturpaketen, mit der Abwrackprämie und Olaf Die Rücknahme der Vorbehalte wurde seit langem in
Scholz mit der Kurzarbeitergeldregel den Grundstein parlamentarischen Initiativen und auch seitens der Kin-
und Grundstock für diesen Aufschwung gelegt haben. derkommission immer wieder gefordert. Ich selbst habe
Die FDP war damals nicht dabei. Sie versucht sich heute mich seit Jahren dafür eingesetzt und freue mich sehr,
als Trittbrettfahrer auf den Pfad der Konjunktur zu dass wir dies nun erreicht haben.
7512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Neben der Bundesregierung haben sich auch die Bun- recht nach ihrem Vater, weil sie mit diesem nicht als ver- (C)
desländer positioniert. In einer Bundesratsentschließung wandt galten. Dieser Ungleichbehandlung von ehelichen
vom 26. März 2010 hat sich die Mehrheit für die Rück- und nichtehelichen Kindern lag ganz offensichtlich eine
nahme ausgesprochen. Dies ist ein wichtiges Signal, da entsprechende gesellschaftliche Vorstellung zugrunde,
die Vorbehalte im Wesentlichen auf den Wunsch der die zum Teil noch bis in die heutige Zeit fortwirkt und
Länder zurückgingen. Sie befürchteten in den in der Vor- die rechtspolitischen Diskussionen mitbestimmt.
behaltserklärung genannten Bereichen eine Fehl- oder
Überinterpretation. Der Gesetzgeber hat die Rechtsposition der betroffe-
nen Kinder erst im Jahr 1969 mit dem sogenannten Ge-
Mit der Entscheidung der Bundesregierung, die Vor- setz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kin-
behalte zurückzunehmen, haben die Länder nun die der verbessert und damit den nichtehelichen Kindern für
Möglichkeit, ihre legislative Praxis und die Gesetzes- Erbfälle, die sich nach Inkrafttreten des Gesetzes im Jahr
anwendung zu überprüfen. Vor allem die Zeit, die min- 1970 ereignet haben bzw. noch ereignen, ein Erb- und
derjährige Flüchtlinge in Abschiebehaft sitzen, muss auf Pflichtteilsrecht zuerkannt. Dabei handelte es sich aber
die kürzest mögliche Zeit reduziert werden. Denn Kin- nicht um eine umfassende Neuregelung. Von der Gleich-
der und minderjährige Jugendliche und Flüchtlinge brau- stellung waren nämlich explizit jene Kinder ausgenom-
chen einen ganz besonderen Schutz. men, die vor dem 1. Juli 1949 geboren und bei Inkraft-
treten des Gesetzes älter als 21 Jahre waren.
Mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung gegen-
über der UN-Kinderrechtskonvention ist uns ein wesent- Eine Änderung dieser Stichtagsregelung wurde in
licher Schritt gelungen. Jetzt gilt es, sich gemeinsam mit Vergangenheit immer wieder diskutiert, im Ergebnis
den Ländern für ein kinderfreundlicheres Deutschland aber mit Verweis auf das vermeintliche Vertrauen der vä-
einzusetzen. terlichen Familie in den Fortbestand der bisherigen
Die Rücknahme der Vorbehaltserklärung war auch Rechtslage abgelehnt. Diese Auffassung wurde auch
deshalb seit langem geboten. Wir haben damit national vom Bundesverfassungsgericht, das die geltende Stich-
wie international deutlich gemacht, wie wichtig uns ein tagsregelung in verschiedenen Entscheidungen für ver-
kinderfreundliches Deutschland ist und den Willen der fassungskonform erklärt hat, bestätigt.
Bundesregierung unterstrichen, das Kindeswohl in den Inzwischen hat der Europäische Gerichtshof für Men-
Mittelpunkt zu stellen. Die Entscheidung stärkt die Posi- schenrechte mit seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009
tion der Bundesrepublik Deutschland in der Frage des festgestellt, dass die geltende Stichtagsregelung gegen
internationalen Menschenrechtsschutzes und hilft, inner- die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt,
halb und außerhalb Deutschland Irritationen zu vermei- weil den vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen
(B) den. Kindern nach geltendem deutschen Recht kein Erbrecht (D)
Ein weiterer wichtiger Schritt zur Stärkung der Kin- nach ihrem Vater zusteht und dies eine unzulässige Dis-
derrechte auf internationaler Ebene wäre die Schaffung kriminierung darstellt. Deutschland ist verpflichtet, seine
einer Individualbeschwerde. Denn ein solches Verfah- Gesetze mit der Europäischen Menschenrechtskonven-
ren, wie es etwa im Rahmen des „Internationalen Paktes tion in Einklang zu bringen. Der heute zur Beratung an-
über bürgerliche und politische Rechte“, des „Überein- stehende Gesetzentwurf sieht daher richtigerweise vor,
kommens gegen Folter und andere grausame, unmensch- die bestehende Stichtagsregelung aufzuheben.
liche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ und Auch jene nichtehelichen Kinder, die vor dem 1. Juli
anderen Menschenrechtsverträgen vorgesehen ist, gibt es 1949 geboren wurden und die mangels rechtlich aner-
bei der Kinderrechtskonvention bislang nicht. kannter Verwandtschaft bisher nicht gesetzliche Erben
Es gibt also noch viel zu tun. Wir haben mit unserer ihres Vaters und seiner Verwandten waren, sollen nun-
Politik für ein Stück mehr Kinderfreundlichkeit in mehr den ehelichen Kindern gleichgestellt werden. Dazu
Deutschland gesorgt. Diesen Weg werden wir weiter soll der Stichtag 1. Juli 1949 rückwirkend für Erbfälle,
fortsetzen. die nach dem 28. Mai 2009, also dem Tag der Entschei-
dung des Europäischen Gerichtshofs eingetreten sind,
aufgehoben werden.
Anlage 4 Die Neuregelung ist somit im Hinblick auf künftige
Zu Protokoll gegebene Reden Erbfälle klar: Es findet eine komplette Gleichstellung
statt – und zwar ohne Einschränkung. Nach dem Willen
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- der Bundesregierung wären dann alle Kinder auch ge-
setzes zur erbrechtlichen Gleichstellung nicht- setzliche Erben ihres leiblichen Vaters unabhängig da-
ehelicher Kinder (Tagesordnungspunkt 31) von, ob sie ehelich sind und wann sie geboren wurden.
Weitere Folge der Gleichstellung ist, dass umgekehrt
Ute Granold (CDU/CSU): Wir beraten heute einen auch ein Erbrecht des Vaters im Verhältnis zu seinem
Gesetzentwurf der Bundesregierung, mit dem die nicht- nichtehelichen Kind entsteht.
ehelichen Kinder auch im Bereich des Erbrechts gleich-
Selbstverständlich steht es aber dem Vater auch in
gestellt werden sollen.
diesen Fällen frei, durch entsprechende Verfügungen
Auch wenn es heute kaum noch vorstellbar ist, hatten von Todes wegen eine abweichende Regelung zu treffen
nichteheliche Kinder bis zum Jahr 1970 keinerlei Erb- und sein Kind auf den gesetzlichen Pflichtteil zu verwei-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7513

(A) sen. Ein etwaiges schutzwürdiges Vertrauen der Erblas- ungsunterhalts mit den ehelichen Kindern gleichgestellt (C)
ser und ihrer schon heute erbberechtigten Familienange- wurden, wird nun auch die letzte Ungleichbehandlung
hörigen besteht somit nicht. im Erbrecht beseitigt. Darüber hinaus werden wir in der
Koalition in Kürze einen Gesetzentwurf zur Neurege-
Während die erbrechtliche Gleichstellung für die Zu- lung des gemeinsamen Sorgerechts nichtehelicher Kin-
kunft grundsätzlich unproblematisch ist, muss aber bei der vorlegen und damit auch im Bereich des Kind-
Erbfällen, die sich vor Inkrafttreten des Gesetzes ereig- schaftsrechts die letzte Baustelle angehen. Das zeigt,
net haben, differenziert werden. In diesen Fällen ist das dass wir rechtspolitisch auf einem sehr guten Weg sind.
Vermögen der Erblasser bereits auf die Erben überge-
gangen. Eine Entziehung dergestalt, dass jetzt weitere Insgesamt ist der Entwurf eine sehr gute Grundlage
Erben hinzutreten, stellt somit einen rückwirkenden Ein- für die weiteren Beratungen. Als Union freuen wir uns
griff dar, der einer besonderen Rechtfertigung bedarf auf offene und konstruktive Beratungen.
und nur in engen Grenzen zulässig ist.
Der Regierungsentwurf unterscheidet in diesem Zu- Sonja Steffen (SPD): Bislang gilt in Deutschland die
sammenhang zwischen Erbfällen, die sich vor oder nach ungerechte Regelung, die nichteheliche Kinder, die vor
der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für dem 1. Juli 1949 geboren wurden, vom Erbrecht nach ih-
Menschenrechte am 28. Mai 2009 ereignet haben. Zu ren Vätern ausschließt. Sie gelten bis heute mit ihren Vä-
Recht geht die Bundesregierung davon aus, dass für die tern als nicht verwandt, haben daher auch bis heute kein
Zeit nach der Entscheidung keine Schutzbedürftigkeit gesetzliches Erbrecht. Nur die nichtehelichen Kinder, die
mehr bestanden hat, da ab diesem Zeitpunkt kein Erbe später geboren wurden, erhalten seit 1970 ein gesetzli-
mehr darauf vertrauen durfte, dass es bei der bisherigen ches Erbrecht. Nach einer Entscheidung des Europäi-
Rechtslage bleiben würde. schen Gerichtshofs für Menschenrechte, EGMR, vom
28. Mai 2009 verstößt diese Regelung gegen das Diskri-
Anders sieht es hingegen bei den Erbfällen vor dem minierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskon-
28. Mai 2009 aus. Die betroffenen Erben durften berech- vention. Durch die Entscheidung wird Deutschland zu
tigter Weise davon ausgehen, dass es keine Neuregelung Entschädigungszahlungen an die betroffenen nichteheli-
geben würde und sie entsprechend uneingeschränkt über chen Kinder verpflichtet.
ihr Vermögen verfügen dürfen. Unstreitig besteht hier
also ein schutzwürdiges Vertrauen. Nach dem Willen der Das Bundesjustizministerium hat nun einen Gesetz-
Bundesregierung soll es daher in diesen Fällen bei der entwurf auf den Weg gebracht, der die Überschrift „Ge-
alten Rechtslage bleiben. Im Klartext heißt das: Nicht- setz zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher
eheliche Kinder, deren Väter vor dem 28. Mai 2009 ge- Kinder“ trägt. Jedoch zielt der Entwurf in seiner derzeiti-
(B) storben sind, werden nicht rückwirkend Erbe. gen Fassung noch nicht darauf ab, die vor dem 1. Juli (D)
1949 geborenen Kinder wirklich vollständig gleichzu-
Die Bundesregierung hat diese Frage sorgfältig abge- stellen.
wogen und auch alternative Lösungsansätze in Erwä-
gung gezogen. Ein früherer Entwurf sah beispielsweise Hier ist zunächst zu begrüßen, dass der Regierungs-
für die Erbfälle vor dem 28. Mai 2009 eine sogenannte entwurf auf die Nacherbfolgeregelung verzichtet, die
Härtefallregelung vor, nach der die nichtehelichen Kin- noch in dem Referentenentwurf enthalten war; denn da-
der im Verhältnis zur Ehefrau des Vaters Nacherbe sein nach wären die nichtehelichen Kinder nur Nacherben
sollten. Zahlreiche Verbände und Experten, die bereits überlebender Ehefrauen oder Lebenspartner geworden.
im Vorfeld von der Bundesregierung konsultiert worden Dies hätte keine unterschiedslose Gleichstellung der
waren, haben von einer solchen Lösung jedoch abgera- nichtehelichen Kinder bedeutet.
ten, da diese nach ihrer Auffassung zu kompliziert und
streitträchtig sei. Diesen Aspekt sollten wir – so meine Es gibt jedoch in dem nun vorliegenden Entwurf eine
ich – in den anstehenden Ausschussberatungen noch ein- Bestimmung, die unbedingt zu überdenken ist. Für künf-
mal sorgfältig prüfen und diskutieren. tige, also ab Inkrafttreten dieses Gesetzes eintretende
Sterbefälle werden alle vor dem 1. Juli 1949 geborenen
Zusammenfassend bleibt also festzuhalten, dass der nichtehelichen Kinder ehelichen Kindern gleichgestellt.
vorliegende Gesetzentwurf eine Vorgabe des Europäi- Sie beerben ihre Väter als gesetzliche Erben. Für die
schen Gerichtshofs für Menschenrechte umsetzt und da- Erbfälle, die sich vor der Geltung des Gesetzes ereignet
mit eine längst überfällige Gleichstellung von ehelichen haben, sieht der Entwurf eine Differenzierung vor: Erb-
und nichtehelichen Kindern vollzieht. Die zeitliche An- fälle, die sich nach der Entscheidung des EGMR am
knüpfung an die Entscheidung macht durchaus Sinn, ist 28. Mai 2009 ereignet haben, sollen rückwirkend so be-
aber im Einzelnen noch diskussionswürdig. handelt werden, als ob sie sich nach dem Inkrafttreten
des geplanten Gesetzes ereignet hätten, also Gleichstel-
Der jetzige Gesetzentwurf fügt sich in eine Reihe von lung nichtehelicher Kinder gegenüber den ehelichen
Gesetzen und Initiativen ein, mit denen jetzt die Gleich- Kindern.
stellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern kom-
plettiert wird. Nach der Kindschaftsrechtsreform im Jahr Für Erbfälle, die sich jedoch vor der Entscheidung des
1998 und der Unterhaltsrechtsreform in der letzten Le- EGMR, also vor dem 28. Mai 2009, ereignet haben, soll
gislaturperiode, in deren Folge die nichtehelichen Kin- es bei der früheren Regelung verbleiben. Die Kinder die-
der hinsichtlich des Ranges des Unterhaltsanspruchs der ser Väter gelten also nach wie vor als mit dem Vater
Mutter bei Mangelfällen sowie bei der Dauer des Betreu- nicht verwandt.
7514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Ich befürchte, dass diese Regelung den Anforderun- die gesellschaftliche Frage, ob der Vater eines Kindes (C)
gen der Entscheidung des EGMR nicht gerecht wird und mit der Mutter desselben verheiratet war oder ist.
daher Schadensersatzzahlungen der Bundesrepublik
Deutschland auslösen wird. Denn der Europäische Ge- Bei der Umsetzung dieses gesetzgeberischen Anlie-
richtshof hat in seiner Entscheidung ausgeführt, dass der gens müssen auch die Interessen der betroffenen Mit-
Schutz des Vertrauens des Erblassers und seiner Familie erben berücksichtigen werden. Daher können wir keine
dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehelicher und umfassende Gleichstellung aller nichtehelichen Kinder
schaffen.
ehelicher Kinder unterzuordnen ist. Zur Begründung ver-
weist er darauf, dass der rechtliche Status nichtehelicher In Fällen, in denen das außerehelich geborene Kind
Kinder heute demjenigen der ehelichen Kinder ent- vor dem 1. Juli 1949 geboren wurde und der Erblasser
spricht. Dies ist in der Bundesrepublik Deutschland spä- bereits vor dem 29. Mai 2009 verstorben ist, muss die
testens mit Inkrafttreten des Erbrechtsgleichstellungsge- alte Rechtslage weiterhin Bestand haben. Das erscheint
setzes am 1. April 1998 der Fall. Ich rege daher dringend auf den ersten Blick ungerecht, ist aber aus Gründen des
an, zu prüfen, ob die Benachteiligung der vor dem 1. Juli Vertrauensschutzes der anderen Erben geboten. Lassen
1949 geborenen nichtehelichen Kinder nicht schon rück- Sie mich erklären, warum: In Fällen wie solchen ist das
wirkend zum 1. April 1998 gemindert werden kann. Vermögen des Erblassers bereits im Wege der Gesamt-
Denkbar wäre die Einführung eines Anspruchs in Höhe rechtsnachfolge auf die Erben übergegangen. Würde
des Pflichtteilsanspruchs gegen die Erben, beschränkt man diese Rechtsposition nun wieder entziehen, wäre
auf den Wert des noch vorhandenen Nachlasses. Eine be- dies eine echte Rückwirkung. Gesetzesrückwirkungen
trächtliche Mehrbelastung der Gerichte ist damit nicht zu sind von der Verfassung aber nur unter engen Vorausset-
befürchten, da die Nachlassgerichte nach dem Gesetzent- zungen zulässig, die hier nicht vorliegen. Für solche
wurf bei der Einziehung der Erbscheine nicht von Amts Fälle, in denen der Erblasser vor dem 29. Mai 2009 ver-
wegen, sondern nur auf Antrag tätig werden sollen. storben und der Staat in Ermangelung anderer Erben
– neben dem vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichteheli-
Ausdrücklich zu begrüßen ist, dass der Gesetzentwurf chen Kind, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht erb-
schon in seiner derzeitigen Fassung einen Ersatzan- berechtigt war – Erbe geworden ist, sieht der Gesetzent-
spruch aller vor dem 1. Juli 1949 geborenen Kinder sta- wurf einen Ausgleichsanspruch in Höhe des Erbwertes
tuiert, wenn der Fiskus Erbe geworden ist. für das vor dem 1. Juli 1949 geborene uneheliche Kind
vor. Dies ist angemessen und trägt ebenfalls zur Gleich-
Stephan Thomae (FDP): Mit dem vorliegenden stellung nichtehelicher Kinder bei.
Gesetzentwurf verbessert die christlich-liberale Koali- Die FDP-Bundestagsfraktion wird dem Gesetzent-
(B) tion die Gleichbehandlung von ehelichen und nichteheli- wurf daher aus den genannten Gründen zustimmen. (D)
chen Kindern.
Dieser Gesetzesentwurf sieht die Streichung der Jens Petermann (DIE LINKE): Der Europäische
Stichtagsregelung im Gesetz über die rechtliche Stellung Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, hat vor knapp
der nichtehelichen Kinder, das 1970 eingeführt wurde, anderthalb Jahren in einem Individualbeschwerdeverfah-
vor. Dies und die Kindschaftsrechtsreform von 1998 ren festgestellt, dass die bisher im deutschen Erbrecht
sind wesentliche Schritte zur Gleichstellung von eheli- vorgesehene Ungleichbehandlung von ehelichen und
chen und nichtehelichen Kindern. Damit beheben wir nichtehelichen Kindern, die vor dem 1. Juli 1949 gebo-
nicht nur den vom Europäischen Gerichtshof für Men- ren wurden, im Widerspruch zur Europäischen Men-
schenrechte in seiner Entscheidung vom 28. Mai 2009 schenrechtskonvention steht. Nach dem vorgesehenen
kritisierten Verstoß gegen Art. 8 und 14 der Europäi- neuen Gesetzesentwurf soll dies entsprechend korrigiert
schen Menschenrechtskonvention. Wir kommen auch werden. Alle vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichteheli-
dem verfassungsrechtlich gegebenen Auftrag aus Art. 6 chen Kinder werden künftig auch gesetzliche Erben ihrer
Abs. 5 des Grundgesetzes nach. Väter.

In Art. 6 Abs. 5 GG wird dem Gesetzgeber aufgetra- Bisher war es so: Nichteheliche Kinder, die vor dem
gen, für eheliche und nichteheliche Kinder die gleichen 1. Juli 1949 geboren sind, hatten nach der bislang gülti-
gen Rechtslage grundsätzlich kein Erbrecht nach ihrem
Bedingungen im Hinblick auf ihre leibliche und seeli-
Vater und dessen Verwandten. Umgekehrt war es ge-
sche Entwicklung sowie ihre Stellung in der Gesellschaft
nauso: Auch der Vater des verstorbenen nichtehelichen
zu schaffen. Außereheliche Kinder, die vor dem 1. Juli
Kindes konnte nicht dessen Erbe sein. Beide galten als
1949 geboren wurden, werden künftig im Erbrecht wie
„nicht verwandt“; siehe dazu Art. 12 § 10 Nichteheli-
eheliche Kinder behandelt. Diese Neuerung stellt keinen
chengesetz.
Eingriff in die Testierfreiheit des Erblassers dar. Ihm
bleibt es weiterhin unbenommen, seine Kinder, ob ehe- Hiervon gab es nur zwei Ausnahmen, von denen eine
lich oder unehelich, durch ein Testament vom Erbe aus- brisant ist: „Der Vater des nichtehelichen Kindes hatte
zuschließen. Aber: Das außerehelich geborene Kind hat am 2. Oktober 1990 (24 Uhr) seinen gewöhnlichen Auf-
zumindest einen Anspruch auf den Pflichtteil. Wir stel- enthalt im Gebiet der ehemaligen DDR. Dann ist auch
len damit klar, dass es für erbrechtliche Ansprüche, die auf einen späteren Erbfall das Erbrecht der DDR anzu-
aus einem Verwandtschaftsverhältnis resultieren, nur auf wenden, wonach das nichteheliche Kind und der Vater
dieses Verwandtschaftsverhältnis ankommt und nicht auf gegenseitig erb- und pflichtteilsberechtigt sind (Art. 235
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7515

(A) § 1 EGBGB; § 365, 367, 396 DDR-ZGB). Der Aufent- Es wird Zeit, dass dieses Thema auf die Tagesord- (C)
halt des Kindes ist dabei nicht maßgeblich.“ nung des Bundestages kommt. Leider hat die Bundes-
regierung es erst nach dem Urteil des Europäischen
Die geplante Neuregelung kann auch auf die Todes- Gerichtshofs für Menschenrechte vom 28. Mai 2009 auf-
fälle erweitert werden, die sich erst nach der Entschei- gegriffen. In diesem Urteil wurde festgestellt, wie Sie
dung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- wissen, dass im deutschen Erbrecht die Ungleichbehand-
rechte am 28. Mai 2009 ereignet haben. Denn seit der lung von ehelichen und nichtehelichen Kindern, die vor
Entscheidung des EGMR können die nach altem Recht dem 1. Juli 1949 geboren sind, im Widerspruch zur
berufenen Erben jedenfalls nicht mehr auf ihr Erbe ver- Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Hier be-
trauen. Der sogenannte Vertrauensschutz entfällt. steht eine Gleichstellungslücke, die dringend geschlos-
Als problematisch kann sich die Formulierung erwei- sen werden muss.
sen, dass entsprechend dem neuen § 10 Abs. 2 die alten Richtig ist, dass bei der Gleichstellung der Kinder im
Vorschriften weiter gelten sollen, wenn alle Beteiligten, Erbrecht bereits viel geschehen ist. Mit ihrem Gesetz-
also sowohl Vater als auch Mutter als auch Kind, gestor- entwurf fügt die Bundesregierung hier eine weitere Re-
ben sind. Daraus kann sich der Umkehrschluss ergeben, gelung hinzu. Sie beinhaltet eine Gleichstellung für
dass das neue Recht immer dann gilt, wenn auch nur ei- Erbfälle, die nach dem Urteil des Europäischen Ge-
ner der Beteiligten noch lebt. richtshofes für Menschenrechte am 28. Mai 2009 einge-
treten sind und eintreten werden.
Davon können Erbrechtsfälle von Enkeln als Erbbe-
rechtigten des Kindes möglicherweise nicht erfasst sein. Was ist aber mit den Erbfällen, die davor eingetreten
Ein Beispiel: Das Kind stirbt vor dem 29. Mai 2009, der sind? Für diese Erbfälle sieht die Bundesregierung keine
Vater erst am 24. Dezember 2009. Sind dann die even- Neuregelung vor. Hier soll es bei der bisherigen Situa-
tuell vorhandenen Enkel die Erbberechtigten? Oder der tion bleiben, also bei erbrechtlichen Unterschieden für
Vater ist 1950 gestorben, das Kind lebt aber noch. Dies ehelich und nichtehelich geborene Kinder. Zur Begrün-
würde dann dem im Gesetz genannten Vertrauensschutz dung für die Beibehaltung dieser Ungleichbehandlung
zuwiderlaufen, wenn bereits andere Erben vorhanden führt die Regierung an, dass für den Erblasser und seine
sind. Familie Vertrauensschutz bestehe.
Fraglich bleibt auch, ob es nicht – wie der Deutsche Das ist fraglich. Zunächst einmal ist festzuhalten: Das
Richterbund formuliert hat – in der Praxis zu Missver- Urteil des Europäischen Gerichtshofs basiert gerade auf
ständnissen kommen kann, wenn der § 10 Abs. 1 „Für einem Fall, in dem der Erblasser bereits im Jahre 1998
die erbrechtlichen Verhältnisse bleiben, wenn der Erb- verstarb, also schon zehn Jahre vor dem Urteil des Euro-
(B) lasser vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes gestorben päischen Gerichtshofs. Hinzu kommt: Der Europäische (D)
ist, die bisher geltenden Vorschriften maßgebend. Das Gerichtshof hat in seinem Urteil klargestellt, dass der
Gleiche gilt für den Anspruch des nichtehelichen Kindes Gesichtspunkt des „Vertrauens“ des Erblassers und sei-
gegen den Erben des Vaters auf Leistung von Unterhalt“ ner Familie dem Gebot der Gleichbehandlung nichtehe-
unverändert so bestehen bleibt. licher und ehelicher Kinder unterzuordnen ist.

Die Änderung des Art. 235 § 1 EGBGB ist eine Folge- Das bedeutet aus unserer Sicht, dass die Menschen-
regelung; die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kin- rechtskonvention von 1953 unter Berücksichtigung der
der aus der Deutschen Demokratischen Republik zum Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für
Zeitpunkt des Beitritts bleibt unberührt, da durch den Menschenrechte eine weitergehende Regelung erfor-
Wegfall der Stichtagsregelung alle künftigen Fälle von dern könnte.
nichtehelichen und ehelichen Kindern in der Erbfolge Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
gleichgestellt sind. Aufgrund des Vertrauensschutzes im Jahr 1979 in einem Fall aus Belgien, im Marckx-Ur-
dürften sich auch nachträgliche mögliche Verschlechte- teil, die Ungleichbehandlung nichtehelicher und eheli-
rungen nicht ergeben. cher Kinder beanstandet. Diese Entscheidung bezieht
sich auch auf erbrechtliche Fragen. Bereits seit 1979
Ich denke, die Beratungen im Ausschuss werden noch steht damit fest, dass auch im Erbrecht eine Regelung
zeigen, ob Änderungen erforderlich sind, um alle denk- gefunden werden muss, die eheliche und nichteheliche
baren Fallvarianten erschöpfend zu erfassen und für Kinder möglichst weitgehend gleichstellt.
rechtliche Klarstellung zu sorgen, um die Gleichstellung
der nichtehelichen Kinder, wie sie der Europäische Ge- Für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung
richtshof für Menschenrechte fordert, sicherzustellen. in der jetzigen Bundesrepublik wäre das auch nichts
Neues. In den Gebieten, die jetzt die Bundesländer Bran-
denburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Anhalt und Thüringen umfassen, wurde bereits 1976 die
Heute beraten wir den Gesetzentwurf der Bundesregie- volle erbrechtliche Gleichstellung für eheliche und
rung zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher nichteheliche Kinder implementiert.
Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind. Wir Grü-
nen befürworten prinzipiell die Gleichstellung von Wenn wir uns also fragen, ab wann und wie wir die
nichtehelichen und ehelichen Kindern. Bereits seit Jah- erbrechtliche Gleichstellung für Kinder, die vor dem
ren ist uns die umfassende Gleichstellung nichtehelicher 1. Juli 1949 nichtehelich geboren sind, vornehmen müs-
und ehelicher Kinder ein zentrales Anliegen. sen, dann ergeben sich dafür mehrere Möglicheiten:
7516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010

(A) Das könnte der Tag des Inkrafttretens der Europäischen neinen. Wir können Erbfälle, in denen der Vater des vor (C)
Menschenrechtskonvention, der 3. September 1953 sein. dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kindes be-
Darin ist geregelt, dass eheliche und nichteheliche Kin- reits vor dem 29. Mai 2009 verstorben ist, nicht rückab-
der gleich zu behandeln sind. wickeln. Bei der Frage, ob und inwieweit ein Gesetz
auch auf abgeschlossene Sachverhalte in der Vergangen-
Das könnte auch der Tag sein, nach dem der Gerichts- heit Anwendung finden kann, sind dem Gesetzgeber
hof in seinem Urteil gegen Belgien die Ungleichbehand- enge verfassungsrechtliche Grenzen gesetzt. Bei Erbfäl-
lung nichtehelicher und ehelicher Kinder beanstandet len, die sich bereits in der Vergangenheit, also vor In-
hat, also der 14. Juni 1979. Spätestens zu diesem Zeit- krafttreten des geplanten Gesetzes ereignet haben, sind
punkt war klar, dass die Ungleichbehandlung gegen die die gesetzlichen Erben unmittelbar mit dem Erbfall im
Menschenrechtskonvention verstößt. Wege der Gesamtrechtsnachfolge in die Rechtsstellung
Das könnte der Tag sein, den nun die Bundesregie- des Erblassers eingetreten. Das damit erworbene Eigen-
rung in ihrem Entwurf gewählt hat, also der 29. Septem- tum ist grundrechtlich geschützt. Ein rückwirkender Ent-
ber 2009. zug oder eine rückwirkende Schmälerung dieser Rechts-
stellung greift in das bereits bestehende Eigentum ein,
Die letzte Alternative erscheint uns nicht ausreichend. auf dessen Erwerb die Erben auch vertrauen durften.
Deshalb können wir dem Gesetzentwurf in der jetzigen
Form nicht zustimmen. Wir sollten in den kommenden Freilich ist der 28. Mai 2009 der letzte Tag, für den
Beratungen noch einmal intensiv darüber diskutieren, ab dieses Vertrauen Schutz beanspruchen kann. Bei Erbfäl-
welchem Tag wir die Neuregelung eintreten lassen und len, die sich nach der oben genannten Entscheidung des
welche Form wir hierfür wählen. Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ereignet
haben, konnten die Erben nicht mehr darauf vertrauen,
Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär bei der Bun- dass die Rechtslage, die den Ausschluss der nichteheli-
desministerin der Justiz: Im Erbrecht sind alle Kinder chen Kinder vom Erbrecht festlegte, bestehen bleiben
gleich, egal ob ehelich oder nichtehelich. So sollte es würde. Für alle anderen zurückliegenden Fälle muss es
sein, und davon gehen viele Bürgerinnen und Bürger ei- jedoch – bei allem Verständnis für die hiervon betroffe-
gentlich heute schon aus. Dieser Grundsatz gilt aber nen nichterbberechtigten nichtehelichen Kinder – bei der
noch nicht für alle vor dem 1. Juli 1949 geborenen bisherigen Rechtslage bleiben.
nichtehelichen Kinder. Ich denke, wir haben einen guten Weg im Interesse al-
Diese Ungleichbehandlung wollen wir mit dem vor- ler Betroffenen gefunden. Gehen Sie nun diesen Weg mit
gelegten Gesetzentwurf beseitigen. Damit setzen wir uns zu Ende und lassen Sie uns zügig das Gesetz verab-
auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs schieden!
(B) für Menschenrechte vom 28. Mai 2009 um, der in einem (D)
entsprechenden Fall Deutschland zu einer Entschädi-
gungszahlung an eine Betroffene verurteilt hat. Anlage 5
Alle bislang nicht gesetzlich erbberechtigten vor dem Amtliche Mitteilungen
1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kinder werden künf-
tig mit den ehelichen Kindern gleichgestellt. Diese Gleich- Der Vermittlungsausschuss hat in der 2. Fortsetzung
stellung wird für alle Erbfälle gelten, die ab dem 29. Mai seiner 5. Sitzung am 14. Oktober 2010 folgenden Eini-
2009, dem Tag nach der Entscheidung des Europäischen gungsvorschlag beschlossen:
Gerichtshofs für Menschenrechte, eingetreten sind.
Das vom Deutschen Bundestag in seiner 50. Sitzung
Für Erbfälle, die sich vor diesem Stichtag ereignet ha- am 18. Juni 2010 beschlossene
ben und in denen der Staat anstelle eines vor dem 1. Juli
1949 geborenen nichtehelichen Kindes gesetzlicher Erbe Dreiundzwanzigste Gesetz zur Änderung des Bun-
geworden ist, wird der Staat verpflichtet, dem nichteheli- desausbildungsförderungsgesetzes (23. BAföG-
chen Kind den Wert des Nachlasses herauszugeben. ÄndG)
– Drucksachen 17/1551, 17/2196 (neu), 17/2210,
Mit der Anknüpfung an den 29. Mai 2009 schlagen 17/2582 –
wir eine geringfügige Rückwirkung vor. Diese erscheint
zulässig und sogar geboten, weil seit der Entscheidung wird bestätigt.
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte klar
ist, dass nichteheliche Kinder als gesetzliche Erben zu Der Bundesrat hat in seiner 875. Sitzung am 15. Ok-
behandeln sind. Damit dies so rasch wie möglich auch tober 2010 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz zu-
aus dem Bundesgesetzblatt ablesbar wird, bitte ich Sie zustimmen:
herzlich um eine zügige Beratung. – Dreiundzwanzigstes Gesetz zur Änderung des
Manche fragen nun, warum wir bei der Herstellung Bundesausbildungsförderungsgesetzes (23. BAföG-
der Rechtsgleichheit nicht noch einen Schritt weiter ge- ÄndG)
hen. Wäre es denn nicht angezeigt, auch jene Erbfälle zu
erfassen, bei denen der nichteheliche Vater bereits vor Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit-
dem 29. Mai 2009 verstorben ist?
geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2
Bei allem Verständnis für die betroffenen nichterbbe- der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den
rechtigten nichtehelichen Kinder muss ich die Frage ver- nachstehenden Vorlagen absieht:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 69. Sitzung. Berlin, Freitag, den 29. Oktober 2010 7517

(A) Auswärtiger Ausschuss Drucksache 17/2994 Nr. A.24 (C)


Ratsdokument 12387/10
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 17/2994 Nr. A.25
Ratsdokument 12391/10
Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit der
Drucksache 17/2994 Nr. A.26
Westeuropäischen Union für die Zeit vom 1. Januar bis
Ratsdokument 12675/10
31. Dezember 2009
– Drucksachen 17/2739, 17/2971 Nr. 1.16 –
Haushaltsausschuss
Drucksache 17/2071 Nr. A.9
Haushaltsausschuss Ratsdokument 9046/10
Drucksache 17/2071 Nr. A.10
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 9048/10
Haushaltsführung 2010 Drucksache 17/2071 Nr. A.12
Ratsdokument 9286/10
Mitteilung gemäß § 37 Absatz 4 der Bundeshaushalts-
ordnung über die Einwilligung in eine überplanmäßige
Ausgabe bei Kapitel 05 02 Titel 687 60 – Beitrag an die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vereinten Nationen – in Höhe von 120,574 Mio. Euro
Drucksache 17/2071 Nr. A.20
– Drucksachen 17/3140, 17/3257 Nr. 2 – Ratsdokument 9006/10
Drucksache 17/2408 Nr. A.15
Ratsdokument 10454/10
Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 17/2408 Nr. A.16
Ratsdokument 10457/10
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 17/2994 Nr. A.35
Bericht der Bundesregierung über die Ausführung der Ratsdokument 11627/10
Leistungen des Persönlichen Budgets nach § 17 des Drucksache 17/2994 Nr. A.37
Neunten Buches Sozialgesetzbuch Ratsdokument 11952/10
Drucksache 17/2994 Nr. A.38
– Drucksachen 16/3983, 17/790 Nr. 22 – Ratsdokument 11953/10
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Evaluation der Experimentierklausel nach Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
§ 6c des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch Verbraucherschutz
– Drucksachen 16/11488, 17/790 Nr. 23 – Drucksache 17/2994 Nr. A.41
Ratsdokument 11619/10
– Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 17/2994 Nr. A.42
Ratsdokument 12371/10
Sozialbericht 2009 Drucksache 17/2994 Nr. A.43
(B) – Drucksachen 16/13830, 17/591 Nr. 1.20 – Ratsdokument 12380/10 (D)
– Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Elfter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen
bei der Anwendung des Arbeitnehmerüberlassungsge- Drucksache 17/2994 Nr. A.45
setzes EuB-EP 2068; P7_TA-PROV(2010)0262
– Drucksache 17/464 –
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 17/2071 Nr. A.29
Ratsdokument 9435/1/10 REV 1
mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unions- Drucksache 17/2071 Nr. A.30
dokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Be- Ratsdokument 9296/10
ratung abgesehen hat. Drucksache 17/2071 Nr. A.31
Ratsdokument 9580/10
Drucksache 17/2408 Nr. A.28
Auswärtiger Ausschuss Ratsdokument 10377/10
Drucksache 17/2408 Nr. A.29
Drucksache 17/2994 Nr. A.2 Ratsdokument 10381/10
EuB-BReg 102/2010 Drucksache 17/2994 Nr. A.50
Ratsdokument 12171/10
Drucksache 17/2994 Nr. A.52
Rechtsausschuss Ratsdokument 12604/10
Drucksache 17/859 Nr. A.6
Ratsdokument 5673/10
Drucksache 17/1100 Nr. A.5 Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ratsdokument 8000/10 Drucksache 17/2580 Nr. A.10
Drucksache 17/2408 Nr. A.9 EuB-EP 2051; P7_TA-PROV(2010)0194
Ratsdokument 10826/10 Drucksache 17/2994 Nr. A.54
Drucksache 17/2994 Nr. A.15 EuB-EP 2060; P7_TA-PROV(2010)0244
Ratsdokument 11805/10

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und


Finanzausschuss Entwicklung
Drucksache 17/2994 Nr. A.18 Drucksache 17/2071 Nr. A.36
EuB-EP 2061; P7_TA-PROV(2010)0276 Ratsdokument 9255/10
Drucksache 17/2994 Nr. A.20 Drucksache 17/2408 Nr. A.32
Ratsdokument 11807/10 Ratsdokument 10383/10
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-7980

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