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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
47. Sitzung
Inhalt:
b) Beschlussempfehlung und Bericht des Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 4684 A
Haushaltsausschusses
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . 4685 B
– zu dem Antrag des Präsidenten des Volker Kröning (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4686 A
Bundesrechnungshofes: Rechnung des
Bundesrechnungshofes für das Haus- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . 4687 C
haltsjahr 2004 – Einzelplan 20 –
– zu dem Antrag des Präsidenten des Einzelplan 16
Bundesrechnungshofes: Rechnung des
Bundesrechnungshofes für das Haus- Bundesministerium für Umwelt, Natur-
haltsjahr 2005 – Einzelplan 20 – schutz und Reaktorsicherheit
(Drucksachen 15/5005, 16/820 Nr. 27, Sigmar Gabriel, Bundesminister BMU . . . . . 4689 D
16/500, 16/2026) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4644 A Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4692 A
Katherina Reiche (Potsdam) (CDU/CSU) . . . 4693 C
Einzelplan 15 Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . 4696 A
Bundesministerium für Gesundheit Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/
Ulla Schmidt, Bundesministerin BMG . . . . . 4644 B DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4697 B
Dr. Claudia Winterstein (FDP) . . . . . . . . . . . . 4647 A Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4698 C
Wolfgang Zöller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4648 C Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4700 B
Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin (Berlin) 4650 D Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4701 D
Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4652 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 4703 A
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 4704 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4653 C Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4705 C
Dr. Carola Reimann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 4656 B Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4707 D
Daniel Bahr (Münster) (FDP) . . . . . . . . . . . . . 4658 A
Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4708 A
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . . . 4660 A
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . 4708 B
Ewald Schurer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4662 A
Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU) . . . 4708 D
Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) . . . . . . . . 4663 D
Jella Teuchner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4664 D
Zusatztagesordnungspunkt 2:
Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4665 D
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset-
Einzelplan 30 zes zur Änderung des Erneuerbare-Ener-
gien-Gesetzes
Bundesministerium für Bildung und (Drucksache 16/2455) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4710 C
Forschung
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin
BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4667 C Zusatztagesordnungspunkt 3:
Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4669 B Antrag der Abgeordneten Peter Bleser, Ursula
Heinen, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordne-
Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4671 A ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der
Volker Kröning (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4672 B Abgeordneten Mechthild Rawert, Waltraud
Wolff (Wolmirstedt), Ulrich Kelber, weiterer
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4674 A Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die
Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4675 A weltweit letzten 100 westpazifischen Grau-
wale schützen
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/2510) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4710 C
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4676 D
Ilse Aigner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4678 B
Einzelplan 12
Cornelia Pieper (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4680 B
Bundesministerium für Verkehr, Bau
Nicolette Kressl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4681 D und Stadtentwicklung
Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4682 B Wolfgang Tiefensee, Bundesminister
Jörg Tauss (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4682 C BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4710 D
IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) (C)
Redetext
47. Sitzung
Wenn die Bundesagentur Überschüsse erwirtschaftet, Herr Minister, das Fazit ist für mich klar: Ihr Haus-
müssen diese Mittel den Beitragszahlern zurückgegeben haltsentwurf enthält die größten Risiken für den Gesamt-
werden, also muss der Beitragssatz gesenkt werden, um haushalt. Dabei müsste Ihr Hauhalt als der größte Ein-
so Arbeitgeber und Arbeitnehmer direkt zu entlasten. zeletat gerade mit besonderer Sorgfalt gestaltet sein.
Leider ist das Gegenteil der Fall.
Nun hat die Bundesagentur für 2006 einen Über-
Danke.
(B) schuss von etwa 9 Milliarden Euro zu erwarten. Mit die- (D)
sem Polster kann sie für 2007 die Senkung des Beitrags (Beifall bei der FDP)
zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent
absichern. Ein Großteil dieses Überschusses fließt also Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
richtigerweise in die Senkung des Beitragssatzes. Aus Das Wort hat jetzt der Kollege Ronald Pofalla von der
der Sicht der FDP muss das aber für den gesamten Über- CDU/CSU-Fraktion.
schuss gelten. Er muss für die Senkung des Beitragssat-
zes genutzt werden, für nichts anderes. (Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP – Klaus Brandner [SPD]:
Worüber reden Sie eigentlich?) Ronald Pofalla (CDU/CSU):
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kol-
Leider wird das in der Koalition nicht mit der notwendi- leginnen und Kollegen! Seit einem Dreivierteljahr führt
gen Klarheit gesehen. Der Kollege Schneider von der Angela Merkel die neue Bundesregierung. Ich finde, die
SPD zum Beispiel hat bei der Veröffentlichung der Debatte zu diesem Haushalt gibt Anlass, deutlich zu sa-
neuen Zahlen gleich erklärt, es käme jetzt darauf an, die- gen, dass die Zwischenbilanz auf dem Arbeitsmarkt
sen Überschuss der Bundesagentur in den Bundeshaus- lautet: Deutschland hat die Trendwende geschafft.
halt zu überführen. Herr Schneider, auch als Haushälter
dürfen Sie sich nicht so weit vergessen, Beitragsmittel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
einfach in die Taschen des Staates umzuleiten. neten der SPD)
(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) Nach langer, langer Zeit sind die Fakten wieder positiv.
Zum ersten Mal seit fünf Jahren, also seit 60 Monaten,
Nächster Punkt: Arbeitsmarkt. Die Zahlen sind ein steigt die Zahl der sozialversicherungspflichtigen
wenig besser geworden – das freut uns alle –, allerdings Beschäftigungsverhältnisse wieder an. 60-mal hat Nürn-
fürchten die Sachverständigen, dass diese erfreuliche berg mitgeteilt, dass es immer weniger sozialversiche-
Entwicklung gleich im nächsten Jahr durch Mehrwert- rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gibt. Nun
steuererhöhung und Konjunktureinbruch wieder ge- verzeichnen wir bereits drei Monate hintereinander wie-
stoppt wird. Jedenfalls sind die leichten Verbesserungen der einen Anstieg. 128 000 sozialversicherungspflichtige
kein Grund, sich auszuruhen. Wo sind also die notwendi- Beschäftigungsverhältnisse mehr als vor einem Jahr sind
gen Reformen des Arbeitsmarktes? Fehlanzeige, in je- nach meiner festen Überzeugung ein außerordentlich
der Hinsicht! Die große Koalition glänzt hier durch positives Signal, das wir auch entsprechend zur Kenntnis
Nichtstun. nehmen sollten.
4598 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ronald Pofalla
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- danke daher Franz Müntefering, dass er bereits auf dem (C)
neten der SPD) DGB-Bundeskongress im Mai 2006 klare Worte gegen
den gesetzlichen Mindestlohn gefunden hat.
Daneben gibt es eine weitere Entwicklung, nämlich
bei der Anzahl der Erwerbstätigen. In diesem Bereich (Andrea Nahles [SPD]: Freuen Sie sich nicht
haben wir den dritthöchsten Stand im Nachkriegs- zu früh, Herr Pofalla!)
deutschland erreicht. Durch diese Entwicklung wird
Er hat sich nicht nur auf dem DGB-Bundeskongress ent-
ebenfalls deutlich, dass sich in den letzten Wochen und
sprechend aufgestellt, Frau Nahles, sondern er hat auch
Monaten auf dem Arbeitsmarkt Beachtliches verändert
die Kraft besessen, die unfreundlichen Reaktionen auf
hat. Verglichen mit dem August des Vorjahres haben wir
dem DGB-Bundeskongress hinzunehmen und dennoch
in Deutschland 430 000 Arbeitslose weniger. Das ist ein
die, wie ich finde, glasklare und richtige Position zu ver-
echt positives Signal für den Arbeitsmarkt.
treten, dass ein gesetzlicher Mindestlohn mit dieser gro-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ßen Koalition in dieser Legislaturperiode nicht zu ma-
neten der SPD) chen ist. Herzlichen Dank an Franz Müntefering!
Diese Verbesserungen sind aber nicht vom Himmel (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg.
gefallen. Die Abschaffung der Ich-AG ist in Kraft; hier Waltraud Lehn [SPD] – Beifall bei der
gibt es endlich ein solides und Erfolg versprechendes FDP)
Förderkonzept. Die Personal-Service-Agenturen sind
Die Wirklichkeit sieht doch folgendermaßen aus:
von der Bildfläche verschwunden, weil sie ineffizient
Wenn wir in Deutschland einen gesetzlichen Mindest-
waren und staatliche Gelder verschleudert haben.
lohn einführen würden, würden wir Hunderttausende
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von Arbeitsplätzen vernichten, weil hier – Gott sei
Dank – immerhin mehr als 1 Million Menschen im
Bei Hartz IV haben wir als große Koalition, wie ich
Niedriglohnbereich arbeiten. Von daher ist für uns als
finde, eine grundlegende Kurskorrektur vorgenommen.
CDU/CSU-Bundestagsfraktion klar: Für uns ist ein ge-
Dass wir die Einstandspflicht der Eltern für ihre Kinder
setzlicher Mindestlohn völlig inakzeptabel. Diejenigen,
wieder eingeführt haben, war ein erster richtiger Schritt.
die diese Forderung weiterhin aufstellen, werden sich an
Damit sind nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestags-
uns die Zähne ausbeißen.
fraktion alte Fehler korrigiert worden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU)
neten der FDP)
Daneben haben wir gemeinsam verabredet, die Unter-
Diese klare Position der Union wird auch im aktuellen
(B) nehmen am Standort Deutschland zu stärken und um (D)
Gutachten des Sachverständigenrates bestätigt.
über 5 Milliarden Euro zu entlasten. Das zeigt: Es wurde
viel getan. Die Kernbotschaften des neuen Gutachtens des Sach-
verständigenrates lauten:
Es bleibt aber auch noch viel zu tun. Zur Zwischenbi-
lanz gehört deshalb auch die Aussage, dass wir den Kurs Erstens. Der Weg in den Mindestlohn ist falsch. – Für
weiter halten müssen. Nach meiner Überzeugung müs- unsere Fraktion kann ich nur sagen: Dem stimmen wir
sen wir das Tempo an verschiedenen Stellen sogar erhö- zu.
hen; denn die Herausforderungen sind nach wie vor groß
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
– hier dürfen wir uns nicht täuschen –, weil uns die Zah-
len am Arbeitsmarkt noch nicht zufrieden stellen kön- Zweitens. Der Weg über den Kombilohn ist richtig. –
nen. Dem stimmen wir ebenfalls zu.
Wir haben nach wie vor über 4 Millionen Arbeitslose. Drittens spricht sich der Sachverständigenrat in dem
Diesen 4 Millionen Arbeitslosen stehen gerade einmal Gutachten, das morgen der Öffentlichkeit vorgestellt
600 000 offene Stellen gegenüber. Über 1 Million Bür- werden wird, für echte Strukturreformen am Arbeits-
ger sind ein Jahr oder länger arbeitslos. Fast doppelt so markt aus; darauf lege ich für die CDU/CSU-Bundes-
viele sind ohne jede berufliche Bildung. Rund tagsfraktion großen Wert. Der Sachverständigenrat
80 000 Jugendliche – diese Zahl finde ich besonders be- macht, wie ich finde, zu Recht deutlich, dass wir die
drückend – verlassen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne strukturelle Arbeitslosigkeit in Deutschland nur dann
Abschluss. Diese Zahlen zeigen, dass es heute für Mil- wirksam werden bekämpfen können, wenn wir grundle-
lionen Menschen heißt: passive Stütze statt beruflicher gende Strukturreformen am Arbeitsmarkt vornehmen.
Perspektive. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Auch an dieser Stelle gibt es Zustimmung vonseiten der
Auffassung, dass sich das in Deutschland in den nächs- CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
ten Monaten ändern muss.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich empfehle allen, die das Gutachten des Sachver-
neten der SPD)
ständigenrates vorschnell mit einer Fundamentalkritik
Durch die zitierten Fakten werden aber nicht nur die überzogen haben, sich die Details dieses Gutachtens an-
Herausforderungen beschrieben, vor denen wir stehen. zusehen. Es ist vernünftig, allen Arbeitslosen ein Ar-
Sie sind auch der Weckruf für all diejenigen, die sich beitsangebot zu unterbreiten. Genau das haben wir für
nach wie vor für einen Mindestlohn aussprechen. Ich die Jugendlichen bereits gemeinsam beschlossen. Es ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4599
Ronald Pofalla
(A) richtig, dass denjenigen, die ein Arbeitsangebot ableh- nächsten Jahren bis zu 200 000 Menschen wieder in den (C)
nen, die Sozialleistungen deutlich gekürzt werden. Diese Arbeitsmarkt zu bringen.
Position haben wir vonseiten der CDU/CSU-Bundes-
Wir werden uns mit dem Bereich aktiver Arbeits-
tagsfraktion schon immer vertreten.
marktpolitik zu befassen haben. Ich sage es glasklar:
Es entspricht genau unserer Philosophie, dezentral zu Die Bundesagentur schlägt selber vor, von den 80 Instru-
entscheiden. Der Sachverständigenrat hat in seinem Gut- menten, die ihr zur Verfügung stehen, auf zehn herunter-
achten vorgeschlagen – diese Position haben wir als zugehen, um die verbleibenden Instrumente wirkungs-
Unionsfraktion schon seit mehreren Jahren vertreten –, voller im Arbeitsmarkt einzusetzen. Das entspricht der
dass der eigentliche Kernbereich des Arbeitsmarktes vor Absicht der Unionsfraktion, die Arbeitsmarktinstru-
allem für die Langzeitarbeitslosen und für die Gering- mente so zu bündeln, dass sie endlich Wirkungen im Ar-
qualifizierten von den Kommunen organisiert werden beitsmarkt zeigen. Dafür werden wir uns einsetzen.
soll. So gesehen ist dies ein bemerkenswertes Gutachten,
das wir uns vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfrak- (Beifall bei der CDU/CSU)
tion noch einmal ansehen werden, um daraus in den Ge- Wir müssen uns auch mit Optimierungen im Zusam-
sprächen in der Koalition die richtigen Konsequenzen zu menhang mit Hartz IV befassen. Es kann nicht sein,
ziehen. dass Arbeitsagenturen bei Arbeitslosen, die sich krank-
(Beifall bei der CDU/CSU) melden, erst nach sechs Monaten nachforschen, ob sie
tatsächlich nicht arbeiten können. Es kann nicht sein,
Dieses Gutachten ist an einer Stelle falsch wiederge- dass Vermittler nur in vier von zehn Fällen Hinweisen
geben worden. Sie alle haben in den Zeitungen gelesen, nachgehen, dass ein Langzeitarbeitsloser gegen Aufla-
dass der Sachverständigenrat beim Arbeitslosengeld II gen verstößt. Es kann nicht sein, dass bei Ausländern in
eine generelle Kürzung von 30 Prozent vorschlägt. In mehr als jedem fünften Fall noch nicht einmal geprüft
dem Gutachten steht, dass allen Arbeitsfähigen in wird, ob eine deutsche Arbeitserlaubnis vorliegt.
Deutschland ein Arbeitsangebot unterbreitet werden soll
und dass denen, die dann dieses Arbeitsangebot nicht an- Wir werden über Effizienzsteigerungen bei den Über-
nehmen, 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden sol- prüfungsmechanismen im Zusammenhang mit Hinwei-
len. Genau das halten wir vonseiten der Unionsfraktion sen auf Missbrauchsfälle reden müssen,
für richtig. (Widerspruch bei der LINKEN)
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weil die Leistungskraft derer, die diese Kontrollen
Sagen Sie das mal Herrn Müntefering! Er hat durchführen, erhöht werden muss. Es geht um Steuergel-
gerade etwas anderes erzählt! Sie sollten gele- der, die für das Arbeitslosengeld II eingesetzt werden. (D)
(B)
gentlich mit dem Minister reden!) Deshalb muss die Überprüfungspraxis der Bundesagen-
Unser gemeinsames Ziel ist: Wir wollen die Trend- tur deutlich verbessert werden.
wende auf dem Arbeitsmarkt verstetigen. – Dass Sie, (Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Kuhn, als jemand, der in der vergangenen Regie-
rungskoalition auch für das Thema Arbeitsmarkt zustän- Wir werden auch über den Kündigungsschutz zu re-
dig war, dazwischenreden, wundert mich. den haben.
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!)
Eine Ministerschelte war das!) – Ja. – Werfen Sie mal einen Blick in die Studie der
Wenn zu Ihrer Regierungszeit die Daten, die ich gerade Weltbank, die in den letzten Tagen veröffentlicht worden
genannt habe – 430 000 weniger Arbeitslose und ist! Danach liegt Deutschland auf Platz 129, hinter Län-
130 000 neue sozialversicherungspflichtige Beschäfti- dern wie Papua-Neuguinea, Jamaika, Trinidad oder
gungsverhältnisse –, so gewesen wären, Tobago.
(Waltraud Lehn [SPD]: Das kommt nicht von (Jörg van Essen [FDP]: Ja, verdammt
heute auf morgen!) schlecht!)
dann hätten Sie doch vonseiten der Grünen in Deutsch- Ein zentraler Grund für diesen Platz der Bundesrepublik
land Freudenfeste organisiert. Deshalb sollten Sie an Deutschland – das ist zumindest die Auffassung der
dieser Stelle besser schweigen. CDU/CSU-Bundestagsfraktion – ist der Kündigungs-
schutz.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
Die große Koalition wird im Herbst verschiedene
Projekte angehen müssen. Wir werden ein Kombilohn- Wir brauchen beim Kündigungsschutz weitere deutliche
modell entwickeln müssen. Für die über 50-Jährigen Flexibilisierungen, wenn wir den Arbeitsmarkt in Bewe-
und für die unter 25-Jährigen haben wir eine gute Grund- gung bringen wollen.
lage geschaffen. Auf dieser Grundlage werden wir Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ringqualifizierten über 50 Jahren und Geringqualifizier-
neten der FDP)
ten unter 25 Jahren ganz gezielt die Möglichkeit bieten,
wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Unser Ziel Ich will noch zwei Bereiche nennen, die über den
sollte sein, über ein solches Kombilohnmodell in den Koalitionsvertrag hinausgehen, aber über die wir unserer
4600 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ronald Pofalla
(A) Ansicht nach in der großen Koalition reden sollten. Die Ronald Pofalla (CDU/CSU): (C)
Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht in diesen Tagen ei- – darüber nachdenken, woher die für diese Senkung
nen ersten Entwurf für ein Arbeitsgesetzbuch. Im benötigte 1 Milliarde Euro kommen soll. Dazu sollte
Grunde wird in allen Analysen, die sich mit dem Ar- diese Koalition eigentlich die Kraft haben.
beitsmarkt befassen, deutlich, dass die unübersichtliche
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Anzahl der Gesetze und Verordnungen sowie die Recht-
der FDP)
sprechung im Arbeitsrecht das Ziel richtig erscheinen
lassen, in der Bundesrepublik Deutschland ein Arbeits- Wir, die Unionsfraktion, sprechen uns jedenfalls für eine
gesetzbuch zu schaffen. Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags auf
4 Prozent aus.
Wir haben im Einigungsvertrag festgelegt, dass wir in
Deutschland ein Arbeitsgesetzbuch schaffen wollen. Wir Herzlichen Dank.
sind der Auffassung, dass die große Koalition das Ziel in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Angriff nehmen sollte, in dieser Legislaturperiode über neten der FDP)
ein Arbeitsgesetzbuch zu beraten und es nach Möglich-
keit auch zu verabschieden.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU) Das Wort hat jetzt der Minister für Arbeit, Bau und
Landesentwicklung des Landes Mecklenburg-Vorpom-
Der zweite Bereich ist die Arbeitnehmerbeteiligung. mern, Helmut Holter.
Der Bundespräsident hat zu Beginn des Jahres angeregt,
(Beifall bei der LINKEN – Dirk Niebel [FDP]:
dass wir uns mit der Frage der Arbeitnehmerbeteiligung Es scheint Wahlkampf zu sein!)
befassen sollten. Die Bundes-CDU hat Anfang des Jah-
res eine Kommission unter Leitung von Karl-Josef
Laumann eingesetzt, die jetzt ihre Ergebnisse veröffent- Helmut Holter, Minister (Mecklenburg-Vorpom-
licht hat. Aus diesen Ergebnissen wird deutlich, dass wir mern):
sehr wohl die Chance haben, Arbeitnehmerinnen und Stimmt, Herr Niebel, es ist auch Wahlkampf. – Sehr
Arbeitnehmer stärker an den Erträgen und am Kapital geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr
der Unternehmen zu beteiligen. geehrter Herr Pofalla, Ihre Botschaft, dass eine Trend-
wende am Arbeitsmarkt eingetreten sei, nehmen die
Wir sind der Auffassung, dass die große Koalition im Menschen im Lande so nicht wahr.
Verlauf dieser Legislaturperiode auch das Ziel in Angriff (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das ist in
(B) nehmen sollte, sich mit der Frage der Verbesserung der Mecklenburg-Vorpommern auch nicht so!) (D)
Arbeitnehmerbeteiligung zu befassen; denn wir sind der
festen Überzeugung, dass ein zusätzliches Standbein für Sie nehmen vielmehr zwei Dinge wahr, die in den letzten
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen Tagen von Berlin aus verbreitet wurden:
werden kann, indem sie am Produktivvermögen der Un- Erstens. Die Bundesagentur für Arbeit hat einen gro-
ternehmen in Deutschland beteiligt werden. Wir jeden- ßen Überschuss. Aber sie bzw. die Arbeitsgemeinschaf-
falls wollen dieses Ziel in Angriff nehmen. ten sind nicht in der Lage, weitere arbeitsmarktpolitische
(Beifall bei der CDU/CSU) Maßnahmen zu genehmigen, weil das Geld fehlt. Das
verstehen die Bürgerinnen und Bürger nicht, genauso
Erlauben Sie mir eine abschließende Anmerkung zu wenig wie ich.
den Überschüssen der Bundesagentur. Ich bin dem (Beifall bei der LINKEN)
Bundesarbeitsminister außerordentlich dankbar, dass er
gerade so deutlich Stellung bezogen hat. Um es klar zu Zweitens. Der Sachverständigenrat hat – ich bin Ih-
sagen: Auf der Basis eines Überschusses in Höhe von nen dankbar, Herr Müntefering, dass Sie das klargestellt
8,8 Milliarden Euro fehlten uns in den Jahren 2007, haben – eine Senkung des Arbeitslosengeldes II um
2008 und 2009 lediglich 1,2 Milliarden Euro pro Jahr, 30 Prozent empfohlen. Das hat nichts mit dem Wahl-
um eine zusätzliche Senkung des Arbeitslosenversiche- kampf in Mecklenburg-Vorpommern zu tun, sondern da-
rungsbeitrags um 0,5 Prozentpunkte sicherzustellen. Ich mit, dass dies den Unmut breiter Schichten der Bevölke-
finde, dass wir uns im kommenden Herbst die Zahlen rung hervorruft, und zwar nicht nur derjenigen, die vom
genau ansehen sollten; denn möglicherweise fällt der Arbeitslosengeld II leben müssen.
Überschuss der Bundesagentur für Arbeit höher aus als (Beifall bei der LINKEN)
8,8 Milliarden Euro. Aber selbst wenn es dabei bleibt:
Wir geben in Deutschland 15 Milliarden Euro für Ar- Dass dem so ist, will ich Ihnen an einem Beispiel zei-
beitsmarktinstrumente aus. Diese große Koalition sollte gen. Sie kennen sicherlich nicht Dirk Susemihl. Er ist je-
daher, wenn der Überschuss der Bundesagentur für Ar- denfalls ein Mecklenburger, der als Koch in großen Ho-
beit nicht ausreicht, den Arbeitslosenversicherungsbei- tels und auf Kreuzfahrtschiffen gearbeitet hat und nun
trag zusätzlich um 0,5 Prozentpunkte zu senken, – Arbeitslosengeld II empfängt und vergeblich Arbeit
sucht. Er schreibt Bewerbungen, erhält aber nur Absa-
gen. Er gibt nicht auf und wendet sich an einen privaten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vermittler. Dieser sagt ihm: Bring mir einen Vermitt-
Herr Pofalla, denken Sie an die Zeit. lungsgutschein; dann habe ich einen Job für dich. Die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4601
Minister Helmut Holter (Mecklenburg-Vorpommern)
(A) Arbeitsagentur erklärt hingegen: Du kannst keinen Ver- Ich will mich dem Einzelplan 11 zuwenden. Ihnen, (C)
mittlungsgutschein bekommen, weil kein Geld da ist. – Herr Müntefering – davon bin ich überzeugt –, wird es
Solche Widersprüche müssen aufgelöst werden. Meine nicht gelingen, mit diesem Einzelplan Ihre Glaubwür-
Heimatzeitung, die „Schweriner Volkszeitung“, hat das digkeit zu stärken. Es wurde bereits gesagt: Der Aus-
Ende August unter der Überschrift „Arbeitsamt blockiert steuerungsbetrag soll um 27,5 Prozent erhöht werden.
Jobs“ dokumentiert. Das ist dort nachzulesen. Das ist ei- Das heißt, Sie gehen davon aus, dass mehr Arbeitslose
gentlich ein riesengroßer Skandal. aus dem Arbeitslosengeld I in das Arbeitslosengeld II
wechseln werden. Was für eine Politik ist das? Sie pla-
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. nen von vornherein ein, dass die Langzeitarbeitslosigkeit
Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- in Deutschland zunehmen wird.
NEN])
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Gesine Lötzsch
Ich rede nicht über diejenigen, die nach Arbeit lech- [DIE LINKE]: Unglaublich!)
zen, sondern über diejenigen, die ein Arbeitsangebot ha-
ben, dieses aber nicht annehmen können, weil einige Im Übrigen kenne ich keine Versicherung in Deutsch-
Euro fehlen, um einen Vermittlungsgutschein oder einen land, die die Gelder, die die Versicherten aufgebracht ha-
Bildungsgutschein auszustellen. Dirk Susemihl ist kein ben, für andere Zwecke als die der Versicherten verwen-
Einzelfall. Ich könnte Ihnen über viele ähnlich gelagerte den will.
Fälle in Mecklenburg-Vorpommern berichten. So ent- (Beifall bei der LINKEN)
steht der Eindruck: Die in Berlin veralbern uns im Land.
Damit muss meines Erachtens Schluss gemacht werden. Ich verstehe absolut nicht, warum von der Arbeitslosen-
Über Alternativen darf nicht nur diskutiert werden. Viel- versicherung ein Aussteuerungsbetrag an den Bund ge-
mehr müssen auch welche angepackt werden. zahlt werden soll. Dieses Geld, nicht nur der Über-
schuss, muss den Versicherten zugute kommen. Sie
(Beifall bei der LINKEN) haben es bitter nötig. Ich bitte Sie daher, dieses Prinzip
Ich rede im Moment noch nicht einmal über die Lang- noch einmal grundlegend zu überdenken.
zeitarbeitslosen, sondern über die Mitarbeiterinnen und (Beifall bei der LINKEN)
Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaften, die ebenfalls
aufgebracht sind, weil sie mit den politischen Entschei- Sie wollen aber auch die Mittel für das
dungen nicht umgehen können. Was bedeutet es denn, Arbeitslosengeld II um 3 Milliarden Euro und die Betei-
230 Millionen Euro von 1,1 Milliarden Euro, die zuvor ligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft um
gesperrt wurden und den Arbeitslosen nicht zugute kom- 1,6 Milliarden Euro kürzen. Sie planen also, die Kom-
munen stärker zur Kasse zu bitten, obwohl bei diesen (D)
(B) men, freizugeben? Das ist nur ein Tropfen auf den hei-
ßen Stein, um nun all die Maßnahmen, die schon lange wirklich nichts mehr zu holen ist. Ich weiß nicht, in wel-
vorbereitet wurden, in Gang zu setzen. Ich fordere Sie che Taschen Sie da greifen wollen. Auf der anderen
auf: Geben Sie den Rest der 1,1 Milliarden Euro eben- Seite wollen Sie die Leistungen für die Langzeitarbeits-
falls frei, damit die Langzeitarbeitslosen endlich in den losen kürzen.
Genuss von arbeitspolitischen Maßnahmen kommen! Es ist richtig, dass Sie mit 6,5 Milliarden Euro
(Beifall bei der LINKEN) 30 Millionen Euro mehr für Leistungen zur Eingliede-
rung in Arbeit bereitstellen. Gleichzeitig planen Sie aber
Ich habe den Eindruck – schließlich geht es um eine von vornherein 1 Milliarde Euro für Mehrausgaben beim
Haushaltsdebatte –, dass Sie Arbeitsmarktpolitik unter Arbeitslosengeld II ein. Sie wollen also Mittel für die
haushälterischen Gesichtspunkten betreiben und nicht passiven Leistungen vom Mittelansatz für die aktiven
aus Sicht der Betroffenen, die das Geld bitter nötig ha- Leistungen abzweigen. Wir brauchen das Geld aber für
ben. die aktiven Leistungen. Sie betreiben ein reines Hin- und
(Beifall bei der LINKEN) Hergeschiebe. Ich fordere Sie auf: Machen Sie damit
Schluss! Sorgen Sie dafür, dass eine klare Haushaltspla-
Das ist irgendwie wie beim Autofahren: Einmal wird ge- nung zur Verfügung steht und ausreichend Geld für ar-
bremst, ein anderes Mal Gas gegeben. Einmal sperren beitsmarktpolitische Maßnahmen vorhanden ist! Fassen
Sie, ein anderes Mal geben Sie frei. Sie neuen Mut und leiten Sie eine Wende in der Arbeits-
markt- und Beschäftigungspolitik in Deutschland ein!
Jeder, der schon einmal mit einem solchen Fahrer ge-
fahren ist, weiß: Das schlägt mächtig auf den Magen. (Beifall bei der LINKEN)
Mit einem solchen Stil sollte Schluss gemacht werden.
2006 sollte das Desaster sein Ende finden, damit Pla- Einige von Ihnen, vielleicht alle, wissen, dass ich
nungssicherheit für die Arbeitsgemeinschaften, die Pro- diese Wende schon seit Jahren gefordert habe, speziell
jektträger, die Beschäftigungsgesellschaften und für all für den Osten. Inzwischen ist Langzeitarbeitslosigkeit
diejenigen Langzeitarbeitslosen, die in solchen Projek- aber nicht nur ein Thema in den neuen Ländern; es steht
ten arbeiten wollen, gewährleistet ist; denn das Ar- in der gesamten Bundesrepublik auf der Tagesordnung.
beitsangebot, von dem Herr Pofalla gerade gesprochen Deswegen stellt sich eine große Frage: Was machen wir
hat, ist in strukturschwachen Regionen gar nicht so vor- mit all denen, die keine Chance auf Vermittlung in regu-
handen. Auch das gehört zur Wahrheit. läre Arbeitsverhältnisse haben? Ich bin bereit, über alle
Modelle zu diskutieren; das ist sicherlich bekannt. Aber
(Beifall bei der LINKEN) sollen diejenigen, die die Chance auf Vermittlung nicht
4602 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Brigitte Pothmer
(A) Herr Müntefering, Sie sagen: Die Richtung stimmt. wissen, dass sie kein Beitrag zur Lösung des Problems (C)
Ich frage Sie, welche Richtung eigentlich? Ich glaube, sind. Das muss sich ändern.
die staunende Öffentlichkeit wäre Ihnen wirklich außer-
ordentlich dankbar, wenn Sie das einmal erläutern könn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ten. Hier ist doch in keiner Weise irgendeine klare Rich- Wenn es in Ihrer Arbeitsmarktpolitik überhaupt Kon-
tung zu erkennen: in Sachen Mindestlohn, in Sachen sequenz und eine klare Linie gibt, dann bei der Umwid-
Kombilohn, in Sachen Kündigungsschutz. Sie haben uns mung von Hartz-IV-Regelungen zu einem Teil der Straf-
doch gerade vorgeführt, dass Sie in dieser Koalition gesetzgebung. Den Druck auf Arbeitslose zu erhöhen
noch nicht einmal in der Lage sind, ein Sachverständi- und den Kreis der Leistungsempfänger immer weiter
gengutachten einheitlich zu interpretieren. Herr Pofalla einzuschränken, das schafft aber keine Arbeitsplätze.
sagt: In diesem Sachverständigengutachten steht, dass es
gar nicht darum gehe, die Regelsätze flächendeckend zu (Kornelia Möller [DIE LINKE]: Damit habt
senken. Herr Müntefering sagt hier: Die Regelsätze wer- ihr begonnen!)
den überhaupt nicht gesenkt. Dennoch sagen Sie uns
hier: Die Richtung stimmt. Die Formel „Fördern und Fordern“ ist unter Ihrer Regie-
rung zu einer hohlen Phrase geworden, die bei den Be-
Wenn es in dieser Koalition Einigkeit gäbe, dann kä- troffenen wirklich nur noch Bitterkeit auslöst.
men wir tatsächlich auch einmal voran. Wenn Sie sich in
Sachen Mindestlohn verständigen könnten, dann gäbe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
es nicht nur diese Minibewegungen, dann hätten wir Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Da lacht
diese Regelung nicht nur auf die Gebäudereiniger, son- doch die Koralle!)
dern auch auf die Zeitarbeitsfirmen – sie hatten diesen Ich frage Sie: Was bleibt denn vom Fördern, wenn
Wunsch – ausgedehnt. Dann wären wir einen Schritt vo- Qualifizierungsprogramme für Erwerbslose immer wei-
rangekommen. ter zusammengestrichen werden? Von einer durchgrei-
Herr Müntefering, Sie sagen, jetzt sei es an der Zeit, fenden Senkung der Lohnnebenkosten, von der Gering-
Druck im Kessel zu machen. Ich habe das Gefühl: Ihr qualifizierte wirklich profitieren würden, haben Sie sich
Druck im Kessel ist nichts anderes als heiße Luft. längst verabschiedet.
Betrachten wir einmal das Programm für mehr Be- Die Kanzlerin hat uns von der Opposition gestern
schäftigung Älterer! Ihre Initiative „50 plus“ sieht vorgeworfen, wir hätten keine Alternativen.
Lohnkostenzuschüsse von 30 bis 50 Prozent vor. Herr (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das
Müntefering, das ist geltende Gesetzeslage, und zwar ist doch so!)
(B) seit 2001. Das Problem besteht aber darin, dass die Re- (D)
gelung bisher leider wenig Anwendung gefunden hat, Für uns trifft das in keiner Weise zu. Unser Modell einer
nämlich nur in 8 200 Fällen. Sie behaupten jetzt, dass progressiven Staffelung der Sozialabgaben würde die
Sie damit 50 000 bis 70 000 Menschen in Arbeit bringen Einstellungshürden für Langzeitarbeitslose und Berufs-
wollen. – So weit zur Seriosität Ihrer Politik. anfänger tatsächlich senken. Nehmen Sie diese Vor-
schläge doch einmal ernst und setzen Sie sich damit aus-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einander!
Weiter geht es. In kleinen und mittleren Unternehmen
„Mehr Druck im Kessel“, an dieser Stelle stimmt die
soll die Bundesagentur für Arbeit Weiterbildungskosten
Formel – leider, kann ich da nur sagen. Dieser Druck
übernehmen. Das finden wir richtig. Diese Regelung
richtet sich nämlich nicht gegen die Arbeitslosigkeit,
wollten wir ausdehnen. Das Problem besteht nur darin:
sondern gegen die Arbeitslosen. Sie piesacken die Job-
Die große Koalition hat beschlossen, diese Regelung auf
suchenden, wo Sie nur können. Aber neue Jobs und Zu-
2006 zu begrenzen.
gangschancen für Langzeitarbeitslose im ersten Arbeits-
Nächster Punkt: Entgeltsicherung. Das ist ebenfalls markt entstehen nicht. Wo ist denn Ihr Vorschlag zur
geltende Gesetzeslage. Herr Müntefering, wenn Sie auf Schaffung sozialversicherungspflichtiger Beschäfti-
diese Art Druck im Kessel machen, reicht das nicht ein- gungsverhältnisse im dritten Sektor? Auch dazu gibt es
mal aus, um das Teewasser heiß zu bekommen. von unserer Seite einen Vorschlag. Ich bin gespannt, wie
Sie darauf reagieren.
Betrachten wir noch einmal die Neuregelung zum
Kündigungsschutz! Dazu hat Herr Pofalla heute noch Stattdessen konfrontiert uns Ihr Spitzenpersonal in
etwas gesagt. Keiner will sie, nicht die Gewerkschaften, der Sommerpause mit dem gesammelten Mumpitz der
nicht die Wirtschaft. Auch Sie, Herr Müntefering, sagen großen Koalition. Steinbrück fordert Urlaubsverzicht für
in öffentlichen Interviews immer wieder, dass die gel- Arbeitslose. Riester empfiehlt, keine Autos zu kaufen.
tende Regelung besser ist. Warum, verdammt noch mal, Söder will den Arbeitslosen Hausarrest erteilen. Tiefen-
nehmen Sie die Neuregelung dann nicht vom Tisch? see will sie als unbewaffnete Busbegleiter auf Streife
schicken. Meinen Sie das, wenn Sie sagen, die Richtung
Das Problem besteht eigentlich in der Bunkermentali- stimme? Nichts für ungut, Herr Müntefering, aber das ist
tät dieser Regierung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass doch einfach unwürdig. Davon sollten Sie sich distanzie-
Koalitionsrunden die Beratung mit der Fachwelt erset- ren, und zwar nachdrücklich.
zen. Kritik wird niedergebügelt. Gefundene Kompro-
misse werden selbst dann durchgesetzt, wenn alle längst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4605
Brigitte Pothmer
(A) Das Drama der großen Koalition sind nicht wirklich zusätzlich in Arbeit zu bringen, dann hätte die ganze Re- (C)
die widerstreitenden Auffassungen; das gehört zur de- publik Kopf gestanden. Das darf man wirklich nicht
mokratischen Normalität. Aber nicht zu ertragen ist die kleinreden.
geschwätzige Sprachlosigkeit, die diese Regierung uns
zumutet. Sie sind orientierungslos und versuchen auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
noch, uns diese Orientierungslosigkeit als konzeptionel- CDU/CSU)
len Pragmatismus zu verkaufen. Allerdings ist das nichts, was nur mit der neuen Koali-
Herr Müntefering, Sie haben gesagt, Sie wollen nicht tion zu tun hätte.
an den Wahlversprechen gemessen werden, sondern an (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Doch,
der Koalitionsvereinbarung. Soll ich Ihnen mal etwas sa- doch!)
gen? Die Koalitionsvereinbarung interessiert letztlich
keinen Menschen. Sie werden an der Frage gemessen, ob Daran hat auch die alte Koalition durchaus ihren Anteil;
Sie einen Beitrag zur Lösung der Probleme in diesem das will ich der Vollständigkeit halber hinzufügen.
Lande bzw. in Ihrem Fall einen Beitrag zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit leisten. Im Moment deutet nichts (Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe
darauf hin, dass Sie in der Lage sind, dem Notstand ab- [CDU/CSU]: Bisher war es gut, Frau Kolle-
zuhelfen. gin!)
Ich danke Ihnen. Wir wollen diese erfolgreiche Entwicklung fortsetzen
und wir tun das sehr konsequent. Wir fahren die Ver-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schuldung weiter zurück; das ist ein wichtiges Signal.
Wir investieren zusätzliche Mittel vor allem in Bildung;
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auch das ist ein wichtiges Signal. Wir konzentrieren uns
Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Lehn von auf das Wesentliche. Das bedeutet für die Arbeitsmarkt-
der SPD-Fraktion. politik, dass wir uns weiterhin gezielt für die einsetzen,
die unserer besonderen Unterstützung und Hilfe bedür-
Waltraud Lehn (SPD): fen. Das sind die Menschen, die lebensälter sind. Die
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wende Initiative „50 plus“, die aufgelegt wurde, wird auf ihre
mich zunächst an Minister Holter. Herr Minister, dass Wirkung hin untersucht und ausgebaut werden. Außer-
Sie hier eine parteipolitische und wahlkampforientierte dem richten wir uns mit Angeboten an die jungen Men-
Rede halten, ist völlig in Ordnung. Das würde ich Ihnen schen, die nicht nur eine Perspektive brauchen, sondern
sich überhaupt erst einmal an die Anforderungen des Ar-
(B) wirklich nie vorwerfen. Wenn Sie aber in diesem Zusam- beitsmarktes gewöhnen müssen. All dies setzen wir fort. (D)
menhang alle anderen in diesem Haus aufrufen, ideolo-
giefrei zu denken, dann ist das, mit Verlaub, lächerlich. All dies bauen wir aus. Ich glaube, es ist gut so, dass wir
das tun.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei
der CDU/CSU) An dieser Stelle möchte ich allerdings auch darauf
hinweisen, dass die Unternehmen in einer Zeit, in der es
Ich will Ihnen sagen, was ich besonders problema- ihnen nun wirklich nachweislich und merklich besser
tisch finde. Sie haben hier ausschließlich Forderungen geht, in der Pflicht sind, gerade für die jungen Menschen
an den Staat und an den Steuerzahler und die Steuerzah- mehr zu tun.
lerin formuliert. Aber Sie haben nicht ein einziges Mal
die Verantwortung der Wirtschaft oder der Unterneh- (Beifall bei der SPD)
men, die ebenso für die Schaffung und Erhaltung von
Ich finde es schon schlimm, dass die Zahl der Ausbil-
Arbeitsplätzen verantwortlich sind, thematisiert. Wer
dungsplätze zurückgeht. Ich selber habe in diesem
hier so fahrlässig eine Rede hält, der disqualifiziert sich Sommer erlebt, wie Unternehmer bei der Bundesagentur
an dieser Stelle in ideologischer Hinsicht selbst.
vor Ort oder den Argen auflaufen und fragen: Was be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei komme ich denn, wenn ich einen Auszubildenden ein-
der CDU/CSU) stelle? – Die Entwicklung, dass der Staat noch etwas ge-
ben muss, damit jemand ausbildet, ist nicht positiv und
Meine Damen und Herren, eine der erfreulichsten muss sehr kritisch hinterfragt werden. Ausbildung muss
Botschaften dieses Sommers ist ohne Frage die positive wieder eine Selbstverständlichkeit für jedes Unterneh-
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben es ge- men in diesem Land werden.
schafft, rund 450 000 Menschen zusätzlich in Arbeit zu
bringen. Erstmalig ist es auch gelungen, bei der Zahl der Auch bei den Arbeitsmarktinstrumenten müssen wir
Langzeitarbeitslosen einen Abbau zu erreichen. Das wieder für mehr Klarheit sorgen. Es existiert zurzeit eine
reicht nicht aus; das ist sicherlich zu wenig. Diese Ent- Vielzahl sehr unterschiedlicher Instrumente. Diese sind
wicklung muss fortgesetzt werden. Dazu ist eine Viel- unterschiedlich sinnvoll, unterschiedlich wirksam und
zahl von Anstrengungen notwendig. Aber es hat sich ge- werden unterschiedlich genutzt. Wir brauchen dringend
zeigt, dass es Perspektiven für die Menschen in diesem eine Konzentration auf geeignete Instrumente und die
Land gibt. Wenn wir vor sechs Monaten, einem Jahr Weiterentwicklung sinnvoller Instrumente. Letztlich
oder zwei Jahren gesagt hätten, dass wir es schaffen muss es darum gehen, bei Fehlentwicklungen gegenzu-
würden, im Laufe eines Jahres fast 500 000 Menschen steuern und unsinnige Maßnahmen abzuschaffen.
4606 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Waltraud Lehn
(A) Alles in allem ist der Trend jedoch gut; wir sollten ihn lungsgerechtigkeit zwischen den Ländern, aber auch in- (C)
fortsetzen. Ich sage aber auch: Die positiven Nachrich- nerhalb der Länder aufzugreifen, und zwar von den
ten der letzten Monate sollten uns nicht dazu verleiten, Ländern selbst. Diese Verantwortung haben sie und die-
uns schon am Ende unseres Weges zu wähnen. Einige ser Verantwortung sollten sie auch gerecht werden.
Nachrichten der letzten Wochen bereiten mir da durch-
aus Sorge: Verantwortung ist auch ein gutes Stichwort für ein an-
deres wichtiges Thema in diesem Bereich. Wir haben
Mir geht es zunächst um den vom Minister angespro- den Arbeitsgemeinschaften und Optionskommunen
chenen Überschuss bei der Bundesagentur. An unse- 2005 und 2006 rund 6,5 Milliarden Euro für die aktive
ren Koalitionspartner gerichtet sage ich: Man muss wis- Arbeitsmarktpolitik bereitgestellt. Diese Hausnummer
sen, dass rund 4 Milliarden Euro dieses Überschusses kann sich sehen lassen. Im Jahr 2005 wurden aber nur
– unabhängig davon, ob er nun insgesamt 8 Milliarden 56 Prozent dieser Mittel genutzt. Selbst wenn man be-
oder 9 Milliarden Euro beträgt – nur damit zusammen- rücksichtigt, dass diese Agenturen noch aufgebaut wer-
hängen, dass es ausnahmsweise 13 Beitragszahlungen den mussten und dass sich die Arbeitsgemeinschaften
gegeben hat. Darüber hinaus muss man wissen, dass un- entwickeln mussten, muss man kritisieren – Herr Holter,
gefähr 6 Milliarden bis 6,5 Milliarden Euro benötigt hören Sie gut zu –, dass nach meinen Informationen, die
werden, um die bereits beschlossene Senkung des Bei- von gestern Abend 18 Uhr datieren, bis zum heutigen
trags zur Arbeitslosenversicherung umzusetzen. Wenn Tag nur 2,6 Milliarden Euro dieser 6,5 Milliarden Euro
nun die Arbeitsagentur jedes Jahr Mittel in einer Grö- abgeflossen sind. Wer sich dann hier hinstellt und meint,
ßenordnung von erheblich mehr als 6,5 Milliarden Euro sagen zu können – obwohl sich der Bundeshaushalt in
erwirtschaften würde – diese Summe muss die Arbeits- einer Notlage befindet und die Verschuldungsgrenze
agentur selber erwirtschaften; sonst kann das, was wir überschritten ist –, man könne davon nicht 1 Milliarde
beschlossen haben, gar nicht funktionieren –, dann kann Euro sperren, der hat wirklich Scheuklappen auf den Au-
man in der Tat darüber nachdenken, ob und wie man die- gen.
sen Überschuss an die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer bzw. die Versicherten weitergibt. Klar ist, dass das nicht in jeder Kommune und in jeder
Region gleich ist. Aber Sie müssen einmal darüber dis-
Ein weiteres Problem will ich ansprechen: die Kosten kutieren, wie man das Geld anders verteilen kann. Wir
der Unterkunft für Arbeitslosengeld-II-Empfänger. sind immer für ein Gespräch offen. Ich prognostiziere
Frau Winterstein hat es richtig dargestellt; dieses Pro- Ihnen – ich sage: leider –, dass die Mittel für die aktive
blem ist noch nicht vom Tisch. In diesem Zusammen- Arbeitsmarktpolitik auch in diesem Jahr nicht in dem
hang sind 2 Milliarden Euro etatisiert worden. Sie wis- Umfang ausgegeben werden, wie ich mir das wünsche
sen: Es wurde ausgehandelt, dass sich der Bund mit und wie sich die Mehrheit in diesem Haus das wünscht.
(B) (D)
29,1 Prozent an diesen Kosten beteiligt. Das Ziel dieser Ich glaube, wir haben im Rahmen des Möglichen und
Beteiligung war es, die Kommunen im Zuge der Refor- des wirtschaftlich Verantwortbaren gehandelt.
men um 2,5 Milliarden Euro zu entlasten. Mit weiteren
2,5 Milliarden Euro aus Verbesserungen bei der Gewer- Vielen Dank.
besteuer wollte man den Kommunen helfen, mehr Geld (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
vor Ort zu investieren, übrigens gerade in den Ausbau
von Kinderbetreuungseinrichtungen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Voraussetzung war und ist, dass die Länder zu einer Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von
vollen Weitergabe der Entlastungsbeträge an die Kom- der FDP-Fraktion.
munen bereit sind. Das ist inzwischen überwiegend der
(Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe
Fall. Aber ich finde es schon bemerkenswert, dass bei-
[CDU/CSU]: Jetzt sind wir gespannt!)
spielsweise Nordrhein-Westfalen den Kommunen bis-
lang circa 25 Prozent der Entlastung vorenthält. Dass
dieses Geld natürlich in den Kommunen fehlt, ist durch- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
aus ein Problem. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
war zu erwarten, dass die Vertreter der Koalition hier
Im Haushalt 2007 stellen wir, wie gesagt, den Kom- selbstzufrieden verkünden, der Aufschwung sei da, er
munen 2 Milliarden Euro zur Verfügung. Wir wissen: habe den Arbeitsmarkt erreicht und wir seien auf einem
Die Länder, die Städte und Gemeinden fordern deutlich guten Weg.
mehr. Ich sage an dieser Stelle aber ganz klar: Alles in
allem ist die Entlastung der Kommunen viel höher, als (Klaus Brandner [SPD]: Das stimmt ja auch!)
ursprünglich gemeinsam vereinbart und erwartet worden Ich will für meine Fraktion klar sagen, Herr Brandner:
ist. Denn allein bei der Gewerbesteuer werden die Städte Auch wir freuen uns über die Chance auf einen Auf-
und Gemeinden in diesem Jahr voraussichtlich 12 Mil- schwung.
liarden Euro mehr einnehmen als noch 2003. 5 Milliar-
den Euro standen als Entlastung im Raum; 12 Milliarden (Beifall des Abg. Klaus Brandner [SPD])
Euro plus die Entlastungsbeiträge für die Kosten der Un-
Auch wir freuen uns über jeden Arbeitslosen, der eine
terkunft sind es tatsächlich geworden.
neue Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt gefun-
Nun ist das nicht in jedem Land oder in jeder Kom- den hat und der damit die Chance bekommt, auf Dauer
mune gleich. Deshalb scheint es mir geboten, die Vertei- sein eigenes Auskommen zu sichern. Allein, es sind zu
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4607
Dr. Heinrich L. Kolb
(A) wenig Menschen, die davon profitieren. Herr heißt, dass die Zusatzeinnahme durch den 13. Monats- (C)
Müntefering, obwohl der Aufschwung in Deutschland beitrag schon in diesem Jahr ein gutes Stück wieder ver-
nach den neuen Zahlen der OECD sogar 2,2 Prozent schlungen wird und die Nachhaltigkeitsrücklage am
Wachstum in diesem Jahr bringen könnte, bleibt sein Ef- Ende des Jahres gerade noch bei 7,3 Milliarden Euro lie-
fekt auf den Arbeitsmarkt und auf die Finanzierung der gen wird.
sozialen Sicherungssysteme ausgesprochen schwach.
Man könnte auch sagen, dass es ein Aufschwung ohne Und, Herr Müntefering, es gibt Grund zur Annahme
Wirkung ist. – das sage ich hier sehr deutlich, darüber soll man nicht
hinweggehen –, dass die Situation im Jahre 2007 noch
(Beifall bei der FDP) schlechter aussehen wird. Es gibt keinen Grund anzu-
nehmen, dass das Defizit in der Rentenversicherung,
Ich will das an Zahlen belegen. Es ist alarmierend, das wir in den letzten Jahren hatten – in den letzten Jah-
wenn im Jahresvergleich die Arbeitslosenzahl zwar um ren betrug es zwischen 4 und 5 Milliarden Euro –, im
426 000 gesunken ist, die Zahl der sozialversicherungs- nächsten Jahr niedriger sein wird. Es gibt zusätzliche Ri-
pflichtig Beschäftigten im gleichen Zeitraum aber nur siken, von denen ich hier nur drei nennen möchte.
um 129 000 zugenommen hat. Das sollten doch eigent-
lich kommunizierende Röhren sein: Wer nicht mehr ar- Das erste Risiko haben Sie selbst geschaffen: Die
beitslos ist, sollte eine Beschäftigung gefunden haben. Rentenversicherungsbeiträge für die Empfänger von
Offensichtlich treten aber viele Menschen aus dem Ar- Arbeitslosengeld II haben Sie mit dem SGB-III-Ände-
beitsmarkt aus. Herr Müntefering, unser Bestreben muss rungsgesetz um 2 Milliarden Euro gekürzt. Es ist un-
es sein, neue Beitragszahler zu generieren, weil nur so schwer vorherzusagen, dass diese Maßnahme das Defizit
die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme gewährleis- der Rentenversicherung entsprechend erhöhen wird.
tet werden kann.
Die Beiträge, die die Rentenversicherung zur Kran-
(Beifall bei der FDP) kenversicherung der Rentner zahlen muss, werden sich
Fast noch alarmierender ist es, wenn trotz des leichten als Folge der Gesundheitsreform schon im Jahre 2007
Anstiegs der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Be- erhöhen. Das kann man heute noch nicht auf Cent und
schäftigungsverhältnisse das Beitragsaufkommen sta- Euro genau sagen. Es ist aber unschwer vorherzusagen,
gniert. Das kann man bislang am Beispiel der Renten- dass sich das in der Größenordnung von 1 Milliarde
versicherung im laufenden Jahr feststellen. Euro bewegen wird.
Herr Müntefering, die allgemeinen Beitragseinnah- Die Risiken aus dem Urteil des Bundessozialgerichtes
men beliefen sich von Januar bis Juli des Jahres 2005 auf zu den Abschlägen bei den Erwerbsminderungsrenten
(B)
95,546 Milliarden Euro, im Vergleichszeitraum dieses belaufen sich nach einem Schreiben Ihres Staatssekretärs (D)
Jahres auf 105,772 Milliarden Euro. Mithin ergab sich Tiemann, Herr Minister, im Jahre 2007 auf 500 Millio-
ein Plus von 10,2 Milliarden, was fast ausschließlich auf nen Euro, die der Nachzahlungen für die Jahre von 2002
den Einmaleffekt des 13. Monatsbeitrags zurückzufüh- bis 2006 auf rund 1 Milliarde Euro.
ren sein dürfte. Sie hatten zwar nur 9,6 Milliarden Euro Wenn Sie mitgerechnet haben: Das sind 4,5 Milliar-
veranschlagt, aber der Durchschnitt der Pflichtbeiträge den Euro. Das ist schon mehr, als Sie aus der Beitragsan-
im letzten Jahr lag deutlich über 11 Milliarden Euro, so- hebung ab 1. Januar 2007 – das sind nämlich gerade ein-
dass man sagen kann: Bei den eigentlichen Pflichtbeiträ- mal 4 Milliarden Euro – erwarten dürfen. Das heißt, man
gen aus der regulären Beschäftigung treten Sie auf der muss kein Prophet sein, um vorauszusagen: Schon Ende
Stelle. 2007 ist der Einmaleffekt des 13. Monatsbeitrages ver-
Die Erklärung für dieses Phänomen dürfte darin lie- frühstückt, wird die untere Schwelle der Nachhaltig-
gen, dass sich ein Trend fortsetzt, der nach einem statis- keitsrücklage schon wieder angekratzt oder gar unter-
tischen Taschenbuch des Bundesministeriums für Ge- schritten. Damit ist es wahrscheinlich, dass im Jahre
sundheit und Soziale Sicherung – damals hieß es noch 2008 ein einmaliger Bundeszuschuss von 800 Millionen
so – schon seit Jahren anhält: Die Zahl der sozialversi- Euro nicht ausreichen und eine erneute Beitragserhö-
cherungspflichtigen Vollzeitstellen bewegt sich deutlich hung notwendig wird. Das nenne ich eine Katastrophe.
nach unten, während gleichzeitig die Zahl der sozialver- Das ist nur noch eine Verwaltung des Mangels; mit einer
sicherungspflichtigen Teilzeitstellen zunimmt. Im Klar- geordneten Rentenpolitik hat das wirklich nichts, aber
text: Mehr Menschen sind sozialversicherungspflichtig auch gar nichts mehr zu tun.
beschäftigt, aber das Beitragsaufkommen insgesamt
(Beifall bei der FDP)
bleibt konstant.
Wenn diese Analyse zutrifft, liebe Kolleginnen und Was lernen wir aus alledem, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dann haben wir ein Problem; Kollegen? Zur Lösung der Probleme der sozialen Siche-
rungssysteme reicht offensichtlich auch ein Wachstum
(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) von bis zu 2,2 Prozent nicht aus. Es verbietet sich daher
eine Politik, die über eine Erhöhung der Mehrwert-
dann wird es nämlich wahrscheinlich, dass zutrifft, was steuer sogar noch eine Abschwächung dieses Wachs-
der Schätzerkreis schon im Mai errechnet hat: Das Defi- tums in Kauf nimmt.
zit aus laufenden Einnahmen und Ausgaben der Renten-
versicherung wird 4,6 Milliarden Euro betragen. Das (Beifall bei der FDP)
4608 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ich sage Ihnen, Herr Holter: Mit Ihrem Vorschlag, die Wir müssen natürlich bei dem, was wir in Zukunft
volkseigenen Betriebe wieder aufleben zu lassen, wer- machen, bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnah-
den wir die Probleme nicht lösen. Deswegen werden wir men, die wir ergreifen, darauf achten, dass sie nicht zu
das, was Sie uns mit Ihren ideologischen Scheuklappen mehr Ausgaben führen. Das heißt aber nicht, dass Leis-
vorgemacht haben, nicht machen. tungen gekürzt werden müssen. Es heißt vielmehr, dass
vor allem bei Hartz IV noch stärker auf die Eingliede-
(Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei rung in den regulären Arbeitsmarkt, auf ein Leben ohne
der LINKEN) Fördergelder geachtet werden muss, und dass wir
Hartz IV nicht als ein sozialpolitisches Reparaturinstru-
Sie können genauso Beispiele aus Berlin nennen: Rot- ment für alle Defizite in Familie, Bildungswesen oder
Rot erhöht die Arbeitslosigkeit; Rot-Rot erhöht die Ar- bei der Integrationspolitik heranziehen dürfen.
mut. Das ist Ihre Botschaft, die Sie uns heute wieder ein-
drucksvoll verkündet haben. Es heißt darüber hinaus auch, dass wir bei dem Paket,
das wir im Herbst schnüren werden, indem wir das Ent-
(Beifall bei der CDU/CSU) sendegesetz ausweiten, genau das, was Sie von der FDP
4610 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Klaus Brandner
(A) wurde gut zusammengearbeitet und es gab Profilierun- wichtig. Lassen Sie mich insofern sagen, dass Sie uns (C)
gen in der Sache und nicht so sehr im Hinblick auf par- hier an Ihrer Seite haben, wenn Sie die Arbeit effizient
teitaktische Überlegungen. voranbringen wollen.
(Beifall bei der SPD) Sie haben den Kündigungsschutz angesprochen. Die
Situation ist schon ein bisschen aberwitzig. Unser Land
Ich will ganz deutlich sagen: Diesen Weg müssen wir
ist Exportweltmeister und weist eine äußerst hohe Pro-
konsequent fortsetzen, wenn wir für die Menschen in
duktivität und Produktqualität auf, was nur mit flexiblen
diesem Land das leisten wollen, was sie von uns, der
und guten Arbeitskräften zu erreichen ist. Diese Arbeits-
großen Koalition, in der die große Zusammenarbeit an-
kräfte haben einen Anspruch auf soziale Sicherheit.
gesagt ist, erwarten.
Diese wird man aber nicht mit einem dauernden Gerede
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die bösen Klei- über den Kündigungsschutz erreichen, als sei der Kündi-
nen!) gungsschutz die Bremse für das Beschäftigungswachs-
tum in diesem Land.
Ich weiß, dass die schlechte Presse, die man manchmal
erhält, den einen oder anderen nervös macht. Ich sage Ih- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
nen aber: Ich glaube bestimmt und bin davon überzeugt, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dass wir auf einem guten Weg sind. Mit der Koalitions- LINKEN und des Abg. Stefan Müller [Erlan-
vereinbarung haben wir eine gute Grundlage dafür ge- gen] [CDU/CSU])
schaffen.
Deshalb sage ich klar: Die Menschen haben einen
Zu dem, was hier bezüglich der Ich-AG angespro- Anspruch auf Sicherheit und sind nicht nur Kostenfakto-
chen wurde, sage ich ganz deutlich, dass wir ein erfolg- ren. Die SPD hat keine Notwendigkeit gesehen, an dem
reiches arbeitsmarktpolitisches Instrument noch erfolg- Kündigungsschutz etwas zu verändern, weil wir in den
reicher gemacht haben, indem wir durch gesetzliche letzten Jahren gerade für kleine und mittlere Betriebe
Veränderungen eine Existenzförderung in bestimmten Korrekturen vorgenommen haben. Wir haben somit ein
Bereichen möglich gemacht haben. Wir als große Koali- Recht geschaffen, durch das es aufgrund der verankerten
tion messen der Existenzförderung von Arbeitslosen Befristungsmöglichkeiten die größte Flexibilität gibt.
eine große Bedeutung bei, weil damit die Menschen eine Das, was wir in der Koalitionsvereinbarung festgelegt
Beschäftigungschance erhalten, die sie ohne eine solche haben, ist die Grundlage. Alles, was darüber hinausgeht
Aktivität nicht gehabt hätten. – um es deutlich zu sagen –, wird mit der SPD nicht zu
machen sein.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ralf
Brauksiepe [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD)
(B) (D)
Wir setzen dabei ganz deutlich auf die Wirkung der Ich will an dieser Stelle ganz unmissverständlich sa-
gesetzlichen Maßnahmen und auf Evaluation. Wir sind gen: Wenn die Wirtschaft nach großmundigen Forderun-
bereit, Konsequenzen aus unseren Schritten und auch gen erklärt, dass sie das, was im Koalitionsvertrag an
aus den Fehlern zu ziehen, die in einem mutigen Gesetz- weiteren Regelungen vorgesehen ist, nicht braucht und
gebungsverfahren durchaus gemacht werden dürfen; wir alles so lassen sollen, wie es ist, weil sie mit der ak-
denn wer nichts anpackt, der macht auch nichts falsch tuellen Rechtslage zufrieden ist und den Grad der Flexi-
und der sitzt die Probleme aus. Das ist in diesem Land bilität als ausreichend hoch ansieht, dann sollten wir alle
lange genug geschehen. Deshalb bauen wir darauf, dass gemeinsam sagen: Die Situation ist so, wie sie ist, gut.
wir in einer großen Gemeinschaft die Kraft haben, Fehl- Jetzt müssen wir die Debatte um den Kündigungsschutz
entwicklungen schnellstens zu korrigieren, weil nur das beenden und uns anderen wesentlichen Themen in die-
den Menschen in diesem Land hilft. sem Land zuwenden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD)
der CDU/CSU)
Hier ist auch das Stichwort Mindestlohn gefallen.
Sie sprachen davon, dass es im Bereich der Arbeits- Wir sind sehr dafür, dass die Tarifvertragsparteien stark
marktpolitik mehr dezentrale Entscheidungen geben sind und tarifliche Regelungen organisieren, weil tarifli-
müsse. Die Sozialdemokraten sind für dezentrale Ent- che Regelungen einen Mindestlohn bedeuten. Das ent-
scheidungen nach klaren Strukturvorgaben. Das ist im- spricht unserer Verfassung und dem Grundsatz, dass in
mer unsere Position gewesen. Wir dürfen in diesem Zu- Deutschland vorrangig die Tarifvertragsparteien dafür
sammenhang nicht vergessen, dass der Einfluss der zuständig sind, die Höhe von Löhnen und Gehältern so-
CDU und der CSU im Bundesrat auch schon während wie die Arbeitsbedingungen zu bestimmen.
der Zeit, in der Rot-Grün die Bundesregierung gestellt
(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Richtig!)
hat, derart stark war, dass sie Strukturen mit geschaffen
haben, die nachkorrigiert werden müssen und innerhalb Wir müssen aber auch feststellen, dass es in der tarif-
deren die Dezentralität und die Entscheidungskompetenz politischen Landschaft zu einer Erosion gekommen ist.
an Bedeutung gewinnen müssen. Es muss aber auch klar Deshalb ist die große Koalition – das ist genau das, was
sein: Wer die Musik bezahlt und die Strukturen veran- Kollege Brauksiepe mit seinem Zwischenruf sagen
lasst, der muss auch die Verantwortung dafür bekom- wollte – auf dem Weg, durch mehr Allgemeinverbind-
men, diese Entscheidungen systematisch umsetzen zu lichkeit und eine umfassendere Entsendegesetzgebung
können. Das sollten wir aufgreifen. Ich halte das für da, wo es zu Erosionen kommt und aufgrund der Öff-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4613
Klaus Brandner
(A) nung des europäischen Marktes Probleme entstehen kön- sondern wir werden ein solches Projekt beteiligungsori- (C)
nen, gesetzlich einzugreifen. Diesen Weg werden wir entiert angehen. Wenn Sie dann auf der Seite derjenigen
vorrangig gehen. sind, die sich ins Abseits stellen, kann ich daran nichts
ändern. Ich will Ihnen nur sagen: Wir werden einen sol-
(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])
chen Schritt sehr behutsam, aber auch sehr beharrlich
– Herr Kolb, hören Sie gut zu. Wenn es am Ende Berei- und klar konturiert vornehmen, damit die Menschen in
che gibt, in denen die Tarife und Löhne auf ein unsozia- diesem Lande wissen: Mit uns ist Sozialdumping nicht
les und sittenwidriges Niveau sinken, dann darf der Staat zu machen.
nicht den Nachtwächter spielen und nur zuschauen, wie
dort etwas vor sich geht, was er sich nicht wünscht, son- (Beifall bei der SPD)
dern dann muss sich der Staat seiner Verantwortung stel- Zum Kombilohn ist vieles gesagt worden. Wir haben
len. Diesen Weg werden wir gemeinsam gehen müssen. sehr viele Kombilohnmodelle und dabei bleibt es auch.
Das wollte ich heute Morgen einmal deutlich anspre- Wir werden gut daran tun, diese Modelle zu systemati-
chen. sieren. Kombilohn ist weder ein Schimpfwort noch eine
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wunderwaffe oder Zauberformel. Wir müssen dabei an
der CDU/CSU) der Sache orientiert unsere Arbeit machen. Arbeitslosen
können wir mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten
– der Kombilohn ist ein arbeitsmarktpolitisches Instru-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
ment – am ehesten zu einem Arbeitsplatz verhelfen.
Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischen- Deshalb möchte ich diese Debatte gerne unaufgeregt
frage des Kollegen Heinrich Kolb? führen.
Klaus Brandner (SPD): Ich komme zu dem, was der Sachverständigenrat an-
Bitte. geblich zur Senkung des Arbeitslosengeldes gesagt hat.
Herr Pofalla, ich möchte gerne etwas zu Ihren Worten
anmerken, die wir heute Morgen hören konnten. Es
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
heißt, der Sachverständigenrat fordere bei Ablehnung ei-
Bitte, Herr Kolb. nes Arbeitsangebotes eine Kürzung der Leistungen.
Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Es stimmt mich schon ein bisschen nachdenklich,
Herr Kollege Brandner, können diese Eingriffe auch dass man einen Sachverständigenrat braucht, der in ei-
bedeuten, dass diese Arbeitsplätze am Ende und in der nem Gutachten öffentlich etwas fordert, was wir schon
(B) Konsequenz entfallen? Die niedrigen Löhne, über die in vielen Gesetzgebungsverfahren festgeschrieben ha- (D)
Sie sprechen, beispielsweise im Friseurhandwerk in ben.
Sachsen, sind tariflich vereinbart. Wenn Sie jetzt per Ge- (Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert)
setz einen deutlich höheren Mindestlohn vorgeben, wird
es offenkundig dazu kommen, dass diese Arbeitsplätze Für solche Feststellungen, verehrter Herr Pofalla, brau-
künftig so nicht mehr bestehen. Nehmen Sie diese Kon- chen wir weder einen Sachverständigenrat, noch brau-
sequenz in Kauf? chen wir politisch kluge Aussagen dazu.
(Beifall bei der SPD)
Klaus Brandner (SPD):
Erster Punkt. Herr Kolb, diese Vermutung muss nicht Um es klipp und klar zu sagen: Wir haben in den
eintreten. Sie beabsichtigen, mit dieser Unterstellung Hartz-IV-Gesetzen gemeinsam mit der CDU/CSU Sank-
von vornherein vorzugeben, dass Mindestlöhne Arbeits- tionsregelungen beschlossen. Wer ein zumutbares Ar-
plätze gefährden würden. Im europäischen Ausland wur- beitsangebot ablehnt, hat keinen Anspruch auf Finanzie-
den dazu ganz andere Erfahrungen gemacht. rung, und zwar weder nach SGB III noch nach SGB II.
Wir haben im SGB-II-Fortentwicklungsgesetz diese Pra-
(Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb xis noch einmal verändert und die gesetzlichen Rahmen-
[FDP]: Da sind aber auch die Mindestlöhne bedingungen für eine weiter vereinfachte Anwendung
niedriger!) geschaffen. Deshalb betrachte ich es ein bisschen als
Der zweite Punkt. Für diese Bundesregierung und ins- Flop, wenn man öffentlich so tut, als könnte in diesem
besondere für meine Fraktion möchte ich deutlich sagen: Land jemand Geld bekommen, ohne sich dafür der ge-
Wenn wir einen Mindestlohn vereinbaren, werden wir sellschaftlichen Verantwortung stellen zu müssen. Inso-
das nicht ohne die gesellschaftlich relevanten Kräfte tun. fern ist die heutige Debatte eine sehr gute Gelegenheit,
So wurde auch in Großbritannien vorgegangen, wo es um festzustellen, dass – wenn das Sachverständigengut-
eine „Low Pay Commission“ gibt, in der Wissenschaft- achten tatsächlich zu diesem Ergebnis kommen sollte –
ler, Gewerkschafter und Vertreter von Unternehmerver- kein Handlungsbedarf besteht.
bänden gemeinsam Normen festsetzen. Sie dürfen nicht
Dass der Bundesminister eindeutig festgestellt hat,
davon ausgehen, dass wir ein solches Projekt blind von
dass es beim Regelsatz keinen Änderungsbedarf gibt, ist
oben verordnen,
eine weitere klare Botschaft für die Menschen in diesem
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Doch, leider Lande, die durch eine solche Debatte verunsichert wer-
muss ich genau davon ausgehen!) den. Damit muss Schluss gemacht werden. Ich glaube,
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Klaus Brandner
(A) wir müssen uns verstärkt den inhaltlichen Aufgaben immer weiter angestiegen sind. Ich will gar nicht von (C)
widmen. Dann werden wir das Land nach vorne bringen. Leistungsmissbrauch reden, was uns von einer bestimm-
ten Seite dieses Hauses immer wieder unterstellt wird.
Lassen Sie mich noch drei kurze Stichworte nennen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, ihr wollt
Präsident Dr. Norbert Lammert: das so!)
Das wird schwierig, Herr Kollege, weil der Blick auf Der Missbrauch wird vielleicht gar nicht in einem so
die Uhr deutlich macht, dass dafür keine Zeit mehr zur großen Umfang betrieben, wie es immer wieder darge-
Verfügung steht. stellt wird.
(Heiterkeit bei der SPD) Letzten Endes geht es aber um eine ungerechtfertigte
Inanspruchnahme von Leistungen, die an sich vom Ge-
Klaus Brandner (SPD): setzgeber seinerzeit nicht beabsichtigt war. Wir haben in
Es sind nur einige Stichworte. – Wir müssen das diesem Jahr durch zwei Änderungsgesetze zum SGB II
Thema der Leistungsgeminderten bzw. der Langzeitar- bereits gesetzgeberisch darauf reagiert, natürlich mit
beitslosen aufgreifen. Wir müssen die Ausbildungssitua- dem Ziel, die Ausgaben weiter einzuschränken. Es ist
tion für die Jugend offensiv angehen und wir müssen aber kein Selbstzweck, die Ausgaben in diesem Bereich
deutlich machen, dass Überschüsse in der Bundesagen- weiter einzuschränken. Wir wollen vielmehr die immer
tur nicht in den Haushalt fließen. Diese Überschüsse knapper werdenden finanziellen Mittel auf die konzen-
konnten durch die Arbeitsmarktpolitik erwirtschaftet trieren, die wirklich Hilfe brauchen. Es ist mir sehr wich-
werden und sie müssen auch in diesem Bereich bleiben. tig, an dieser Stelle noch einmal klar zu machen, dass es
um die Menschen geht, die wirklich hilfsbedürftig sind,
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. und nicht um andere, die vielleicht Hilfe in Anspruch
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nehmen, obwohl sie sie gar nicht brauchen.
der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)
Wir haben auf die Situation der weiterhin ansteigen-
Präsident Dr. Norbert Lammert:
den Ausgaben auch im Bundeshaushalt 2006 reagiert;
Nächster Redner ist der Kollege Stefan Müller für die das wurde bereits angesprochen. Der Haushaltsaus-
CDU/CSU-Fraktion. schuss hat eine qualifizierte Haushaltssperre in Höhe
(Beifall bei der CDU/CSU) von 1,1 Milliarden Euro im Einzelplan 11 verhängt. Ich
will nicht verhehlen, dass dies bei den Kommunen für
(B) Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): gewisse Probleme gesorgt hat; das ist keine Frage. Jeder (D)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir hat das in seinem Wahlkreis erlebt. Die Optionskom-
beraten heute in erster Lesung des Bundeshaus- mune in meinem Wahlkreis, die gute Arbeit leistet, stand
halts 2007 den Einzelplan 11 mit einem Volumen – das oft genug vor dem Problem, Geld für Integrationsleis-
ist schon angesprochen worden – von 122 Milliarden tungen ausgeben zu müssen, ohne zu wissen, wie viel
Euro. Das ist der größte Einzeletat im Bundeshaushalt. Geld unter dem Strich tatsächlich fließt. Das hat aber
Er deckt knapp 50 Prozent des gesamten Ausgabevolu- dazu geführt – so ehrlich sollten wir uns gegenüber
mens ab. Allein dadurch wird deutlich, welchen Stellen- schon sein –, dass sich die Kommunen einmal kritisch
wert die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in diesem Land angesehen haben, wofür die Gelder ausgegeben werden.
hat. Daran möchte auch niemand etwas ändern. Überall dort, wo das Geld nicht dringend für die Inte-
grationsarbeit gebraucht wird, hat es offensichtlich
Die große Koalition hat sich vorgenommen, den Handlungsspielräume gegeben, das Geld wieder zurück-
Haushalt des Bundes zu konsolidieren und vor allem die zugeben. Ich bin allen Beteiligten dankbar, dass An-
Neuverschuldung zu reduzieren. Wir tun das nicht zum strengungen unternommen wurden, die Mittel, die einige
Selbstzweck; wir schlagen diesen Weg vielmehr deswe- Kommunen nicht abrufen, an die Kommunen weiterzu-
gen ein, weil wir es uns nicht mehr leisten können, unse- leiten, die zusätzlich Geld brauchen. Mein Dank geht in
ren Kindern immer mehr Belastungen aufzuwälzen, die diesem Fall an das Ministerium sowie an die Kollegin-
sie später irgendwann einmal tragen müssen. Dieser Weg nen und Kollegen des Haushaltsausschusses, die das
ist richtig. Ich wünsche mir deshalb, dass die Opposition letztendlich unterstützt haben.
diesen Weg unterstützt.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. neten der SPD)
Klaus Brandner [SPD])
Der Haushaltsausschuss hat in dieser Woche die
Dieser Weg geht aber nicht völlig spurlos an der Ar- Haushaltssperre teilweise aufgehoben. Die freigegebe-
beitsmarkt- und Sozialpolitik vorbei. Es wird umso nen Gelder stehen nun wieder zur Verfügung, um an
schwieriger, als wir erkennen müssen, dass die Ausga- Kommunen mit Mehrbedarf verteilt zu werden. Ent-
ben im Sozialbereich durch gesetzlich bedingte Fehlent- scheidend sind aber zwei Dinge: Wir haben dafür ge-
wicklungen immer weiter angestiegen sind. Nur wenige sorgt, dass es Einsparungen im Bereich des SGB II
in diesem Hause werden bestreiten, dass es im Sozial- geben kann. Trotzdem können die Kommunen, die nach-
recht, insbesondere bei den Hartz-IV-Gesetzen, Fehlan- weislich gute Arbeit leisten, ihre Tätigkeit fortsetzen. Ich
reize gegeben hat und die Ausgaben im SGB -II-Bereich finde, das ist für diese Kommunen ein sehr gutes Signal.
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Stefan Müller (Erlangen)
(A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): (C)
neten der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Beratung hat gezeigt, dass die haushaltspoliti-
Wir haben bei den arbeitsmarktpolitischen Instrumen- sche Musik in diesem Jahr ganz eindeutig im Haushalt
ten erste Maßnahmen für einen effizienteren Einsatz der des Vizekanzlers spielt
Mittel ergriffen. Kollege Brandner hat bereits auf den
neuen Gründungszuschuss hingewiesen. Dabei geht es (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Dur oder
darum, mit weniger Geld Existenzgründungen von Ar- Moll?)
beitslosen noch besser zu fördern. Ich finde, wir sind und dass es erhebliche Risiken in diesem Haushalt gibt.
dort auf einem guten Weg. Wir werden weitere Schritte Ich möchte die Opposition jedoch beruhigen: Wir wer-
machen, die dazu dienen, die arbeitsmarktpolitischen In- den im Herbst in der Koalition eine Reihe von Maßnah-
strumente noch besser auszurichten, das heißt, beste- men ergreifen, mit denen diese Risiken eingeschränkt
hende Instrumente zu verbessern, sie dort, wo es sinnvoll werden.
ist, zusammenzufassen und insgesamt effizienter zu ge-
stalten. Sollte es die Möglichkeit geben, in diesem Be- Am wenigsten brauchen wir dabei die Belehrung von
reich etwas einzusparen, dann sollten wir das tun. Aber den Grünen. Sie sind jetzt seit neun Monaten nicht mehr
es geht nicht um Einsparungen um ihrer selbst willen, in der Regierung. Ist Ihnen aufgefallen, dass jetzt das
sondern darum, knapper werdende Mittel an diejenigen Maastrichtkriterium eingehalten wird, und ist Ihnen auf-
effizienter zu verteilen, die Unterstützung brauchen. gefallen, dass der Arbeitsmarkt sich zu beleben beginnt?
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Es ist unbestritten – das wurde schon angesprochen –, Weil wir daran gearbeitet haben!)
dass es bestimmte Personengruppen in diesem Land
gibt, die besondere Unterstützung brauchen, zum Bei- Es gibt über 400 000 Arbeitslose weniger. Über
spiel ältere Menschen bzw. ältere Arbeitnehmer. Wir alle 130 000 zusätzliche versicherungspflichtige Beschäfti-
wissen um die Probleme dieser Gruppe in Deutschland. gungsverhältnisse sind entstanden.
Wir erleben in persönlichen Gesprächen das Leid der äl- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Zahlen müs-
teren Menschen – ich finde allerdings, es ist schwierig, bei sen zur Kenntnis genommen werden!)
über 50-Jährigen von älteren Menschen zu sprechen – und
erfahren, dass es Menschen gibt, die arbeiten wollen, Ich an Ihrer Stelle wäre ganz ruhig; denn kaum sind Sie
aber nicht arbeiten können, weil ihre Beschäftigungs- weg, geht es aufwärts mit Deutschland.
perspektiven so schlecht sind. Es ist das erklärte Ziel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
dieser Koalition, die Beschäftigungsperspektiven für neten der SPD)
(B) die Älteren in unserem Land deutlich zu verbessern. (D)
Der Bundesarbeitsminister hat bereits die Initiative Der Minister Holter aus Mecklenburg-Vorpommern
„50 plus“ vorgestellt. Das ist die richtige Richtung. Wir ist nicht mehr hier.
werden das im kommenden Herbst politisch auf den (Manfred Grund [CDU/CSU]: Er ist zum
Weg bringen. Wahlkampftermin!)
Eines ist aber auch klar: Alleine etwas politisch auf Das ist eine Unverschämtheit, nachdem er hier eine poli-
den Weg zu bringen, ist eine Sache. Die andere Sache tisch deplacierte Rede als Bundesratsmitglied gehalten
ist, dass wir in diesem Land einen Bewusstseinswechsel hat. Wir haben daran erkannt, dass sich die PDS aus-
brauchen. Jemand, der älter als 50 Jahre ist, darf nicht schließlich im ALG II einigelt. Das ist reine sozialisti-
zum alten Eisen gehören. Auch in der Wirtschaft muss sche Politik. Ihren Wählern kann man nur zurufen: Stei-
sich die Erkenntnis durchsetzen, dass eine gesunde Mi- gen Sie aus dem sinkenden Schiff aus, steigen Sie in
schung aus älteren und jüngeren Mitarbeitern für die Be- einen Dampfer, der Fahrt aufnimmt! Unterstützen Sie
triebe von Vorteil ist. eine Politik, die auf Arbeitsplatzschaffung im ersten Ar-
beitsmarkt ausgerichtet ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
Klaus Brandner [SPD]: Glückauf!) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie
hätten zuhören sollen!)
Wir haben arbeitsreiche Monate hinter uns und ar- und nicht den zweiten Arbeitsmarkt kultiviert.
beitsreiche Monate vor uns. Ich glaube, dass wir auf
einem guten Weg sind. Alle sind eingeladen, an diesem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Weg mitzuwirken. neten der SPD – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE
LINKE]: Sie hätten besser zuhören sollen! –
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Katja Kipping [DIE LINKE]: Wenn es um Ar-
beitsmarktpolitik geht, sind Sie ein U-Boot,
Präsident Dr. Norbert Lammert: das untertaucht!)
Zum Schluss der Beratung über diesen Geschäftsbe- Dem Kollegen Kolb von der FDP möchte ich sagen:
reich erhält das Wort der Kollege Hans-Joachim Fuchtel Sie sind lange genug im Geschäft und wissen, dass sich
für die CDU/CSU-Fraktion. eine konjunkturelle Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt
verzögert niederschlägt. Deshalb sollten Sie noch ein
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bisschen warten, bevor Sie alles geißeln. Wir haben die
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Hans-Joachim Fuchtel
(A) richtigen Weichenstellungen vorgenommen und nur we- Es ist völlig falsch, dass hier gejammert wird, man (C)
gen Ihrer Oppositionsbrille können Sie das nicht sehen. habe das Geld nicht richtig ausgegeben. Alle, die zusätz-
Ansonsten müssten Sie uns in diesem Bereich zustim- liches Geld benötigen, werden durch unsere haushalts-
men. politischen Maßnahmen dieser Tage bedient werden. Es
ist eine Unverschämtheit, dass dies hier falsch darge-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) stellt wird. Es ist reiner Wahlkampf, den Sie hier veran-
stalten. Wir werden feststellen – wir haben jetzt 240 bis
Erfreulicherweise ist heute anders als noch bei der
250 Millionen Euro entsperrt –, dass wir am Ende des
letzten Haushaltsberatung, als ich das hier schon einmal
Jahres einen Riesenüberschuss haben werden. Ich bin
für die Unionsfraktion gesagt habe, ganz klar geworden:
gespannt, ob dann all diejenigen, die erst das Geld ange-
Wenn sich Spielräume eröffnen, den Beitrag weiter zu fordert, aber nicht ausgegeben haben und die uns in der
senken, dann müssen diejenigen, die den Beitrag einge- Öffentlichkeit gegeißelt haben, hierher kommen und sich
zahlt haben, von Beitragssenkungen profitieren. entschuldigen. Das wäre eigentlich die richtige Forde-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie rung, die wir stellen müssten.
des Abg. Klaus Brandner [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU)
Wir dürfen die Leistungsträger nicht frustrieren, wir Wir werden auf eines achten müssen: Es wird leider
müssen sie unterstützen. Spätestens seit Kurt Beck das sehr viel getrickst und in gewissen Bereichen gestaltet,
so deutlich erkannt hat, glaube ich wirklich daran, dass was wir so nicht wollen. Wenn Sie gestern die „Welt“
wir gemeinsam als Koalition eine weitere Beitragssen- gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, dass
kung erreichen. es Arbeitsgemeinschaften gibt, die sogar Führerscheine
finanzieren und Zuschüsse von bis zu 2 500 Euro für
Schwieriger ist es mit dem Bereich des Arbeitslosen- Autos geben. So haben wir uns die Eingliederungshilfe
gelds II. Hier ist ganz klar, dass es eine Reihe von Fehl- nicht vorgestellt. Sie muss anders angelegt werden, da-
entwicklungen gibt, denen wir entgegenwirken müssen. mit man das dem Steuerzahler erklären kann.
Ich fürchte, mit den bisherigen Reformen haben wir nur
die Milchzähne der Fehlentwicklungen gezogen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
(Katja Kipping [DIE LINKE]: Die fallen nor-
malerweise von allein aus!) Es kann doch nicht sein, dass man Jobfinderprämien ein-
führt, wie das jetzt in einigen Arbeitsgemeinschaften ge-
Jetzt müssen wir noch weitere Zähne ziehen, um auf die macht wird. Es kann nicht sein, dass selbst diejenigen,
Ebene zu kommen, die mein Kollege soeben dargestellt die einen Job gefunden haben, ohne den Kundenservice
(B) hat: dass diejenigen Unterstützung bekommen, die sie zu nutzen, im Nachhinein 1 000 Euro erhalten, nur weil (D)
brauchen, und diejenigen, die sich selbst helfen können, sie jetzt einen Job haben. Es geht doch nur darum, genug
verpflichtet werden, sich in entsprechendem Maß tat- statistische Fälle zu haben, um die Existenzberechtigung
sächlich selber zu helfen. zu belegen. So geht es nicht. Wir werden die Hilfen auf
die Fälle begrenzen, die wirklich Unterstützung brau-
(Beifall bei der CDU/CSU) chen.
Ich bin überzeugt, dass es notwendig ist, darüber zu Ein Letztes: Wir müssen mit all unseren Maßnahmen
reden, wer bei den Arbeitsgemeinschaften eigentlich darauf hinwirken, dass es nicht zu Mitnahmeeffekten
den Hut aufhat. In diesem Herbst muss geklärt werden, im Arbeitgeberlager kommt, und verhindern, dass die
wer den Hut aufsetzt und damit die Verantwortung für Arbeitgeber nur dann ausbilden und nur dann einstellen,
diesen großen Sektor trägt. Wir wollen schließlich wis- wenn sie Zuschüsse erhalten. Wir brauchen die Solidari-
sen, wer die Verantwortung trägt. tät aller. Wir appellieren an alle, gemeinsam in eine
Richtung zu gehen, damit es nicht zu solchen Mitnahme-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) effekten kommen kann. Wenn wir es schaffen, Solidari-
tät herzustellen, dann werden wir auch im Sozialetat mit
Es kann nicht sein, dass der eine bestellt und der andere weniger Geld auskommen. Das ist die Aufgabe. Herr
zahlt. In solchen Fällen wird es zu teuer. Das muss ge- Minister, wir haben einen arbeitsintensiven Herbst vor
klärt werden. Wenn wir das schaffen, werden wir viel uns. Sie können sicher sein, dass wir von der Unions-
Geld sparen. Wir sind in unseren Haushaltsansätzen auf fraktion unseren Beitrag leisten werden, eine solide
Reduzierungen eingestellt. Finanzierung Ihres Etats sicherzustellen.
Ein weiterer Aspekt umfasst die Eingliederungshil- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
fen. Dazu kann ich nur sagen: All das, was hier erzählt
wurde, geht an der Sache vorbei. Tatsache ist, dass
Präsident Dr. Norbert Lammert:
6,5 Milliarden Euro im Haushalt standen. Tatsache ist,
dass wir 1,1 Milliarden Euro gesperrt haben. Tatsache Weitere Wortmeldungen zu diesem Geschäftsbereich
wird sein – damit sage ich etwas, was heute noch nicht liegen nicht vor.
gesagt worden ist –, dass wir auch in diesem Bereich ei- Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
nen Überschuss von mindestens 1,5 Milliarden Euro am desministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Ende des Jahres haben werden. Das ist die Realität. Jugend, Einzelplan 17.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) (Unruhe)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4617
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) – Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wäre schön, wenn Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich freue mich und ich (C)
diejenigen, die sich nun anderen Verpflichtungen wid- bin stolz darauf, dass es explizit in das Investitionspro-
men müssen, dazu beitragen könnten, dass die nötige gramm aufgenommen worden ist. Das ist der richtige
Konzentration im Plenum für den neuen Geschäftsbe- Akzent. Investition heißt auch investieren in Familie und
reich hergestellt wird. nicht nur in greifbare Güter oder in Beton Gegossenes.
Investition heißt vor allem investieren in die Menschen,
Das Wort erhält zunächst die Bundesministerin Ur- ihre Beziehungen und die Entfaltung dieser Beziehun-
sula von der Leyen. Frau von der Leyen, bitte schön. gen.
Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Das Elterngeld macht auch sehr klar – ich glaube, das
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und ist wichtig –, dass die Gesellschaft junge Menschen bei
Herren! Geld allein macht bekanntlich nicht glücklich. einer ihrer wichtigsten Entscheidungen im Leben nicht
Aber wir debattieren im Augenblick den Bundeshaushalt allein lässt, sondern sie gezielt unterstützt. Das heißt, je-
und da geht es vorrangig um Geld. Es macht mich ehr- der junge Vater und auch jede junge Mutter kann jetzt
lich gesagt stolz und glücklich, dass unser Politikbereich am Lebensanfang der Zeit für sein Kind oder für ihr
derjenige ist, der den zweithöchsten prozentualen Auf- Kind oberste Priorität beimessen, ohne den bisherigen
wuchs in diesem Jahr gehabt hat. Dies ist ein klares Zei- Einkommensverlust hinzunehmen. Zeit ist Geld und das
chen: Wir investieren in Familie; Investition in Familie Elterngeld schafft Zeit für Kinder.
ist eine Zukunftsinvestition.
Damit erfüllt das Elterngeld zwei Kernanliegen: Die
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Bedürfnisse der Kinder und die beruflichen Perspektiven
der Eltern werden gemeinsam betrachtet. Sie werden
Wir haben allen Grund dazu: wenig Kinder, ein sich nicht mehr in Konkurrenz zueinander gestellt. Damit si-
abzeichnender Fachkräftemangel, ungenutzte Poten- chert das Elterngeld Wahlfreiheit, nämlich die Freiheit,
ziale älterer Menschen. Das sind ernst zu nehmende Vor- bei den Kindern zu sein, und die Möglichkeit zu arbei-
boten dafür, welche Umstellungen vor uns liegen. Diese ten.
Umstellungen müssen wir bewältigen. Deshalb kann
eine nachhaltige Familienpolitik keine Politik sein, die Natürlich muss dieser Gedankengang nach dem ers-
an dem festhalten will, was schon immer so war. Eine ten Lebensjahr weitergesponnen werden. Das bedeutet:
nachhaltige Familienpolitik ist vielmehr eine Politik, die Ausbau familienentlastender Netze, Ausbau der Kinder-
nicht nur den Istzustand betrachtet, sondern auch aus den betreuung und der Tagespflege, familienfreundliche Ar-
beitsstrukturen. Dies alles ist unerlässlich, wenn man ein
(B) stattfindenden Veränderungen lernt und Schlüsse zieht. (D)
Es geht um die Gestaltung dessen, was auf uns zu- geschlossenes Konzept haben will. Wir haben noch ei-
kommt. nen – im internationalen Vergleich – langen Weg vor
uns. Ich will hier auch ganz klar sagen: Auf diesem Weg
Ziel muss dabei sein, dass der für uns hohe Wert von müssen viele Akteure tätig werden; denn diese Felder
Familie – die inneren Bindungen – auch in einer moder- sind keine originären Handlungsfelder des Bundes. Der
nen Welt lebbar ist. Wir brauchen vorwiegend vier Bund kann unterstützen, zum Beispiel durch verbesserte
Schwerpunkte: eine Politik, die das Zusammenleben Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten und der haus-
von Männern und Frauen mit Kindern in einer globali- haltsnahen Dienstleistungen, aber Länder, Kommunen,
sierten Welt möglich macht; eine Politik, die lebhafte freie Träger und Arbeitgeber tragen ebenfalls einen Teil
Beziehungen zwischen Älteren und Jüngeren fördert; der Verantwortung und diesen müssen wir auch einfor-
eine Politik für die Integration von in unsere Gesell- dern.
schaft neu Hinzugezogenen; vor allem eine Politik, die
Kindern vom Lebensanfang an Chancen auf Bildung und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Chancen auf Erziehung gibt. Zur Familienpolitik gehört selbstverständlich auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine Politik für ältere Menschen und ihre Potenziale,
vor allem für das, was diese vielen kompetenten, leis-
Bereits in diesem Jahr haben wir die Weichen dafür tungsbereiten und verantwortungsbewussten älteren
ganz konkret gestellt. Es ist klar: Das war mit vielen Dis- Menschen zu geben bereit sind. Wir wissen aus vielen
kussionen verbunden. Dabei haben wir Vertrautes auf Untersuchungen, dass sie zu geben bereit sind, und zwar
den Prüfstand gestellt. Wir haben eingefahrene Denk- nicht nur im materiellen Sinne, sondern auch in dem
muster infrage gestellt. Aber wenn wir Familie und ihre wichtigen immateriellen Sinne.
Werte auch am Anfang des 21. Jahrhunderts lebbar ma-
chen wollen, dann müssen wir jetzt handeln. Ich nenne Wir müssen gerade vor dem Hintergrund des demo-
hier nur vier der wichtigsten Weichenstellungen, die sich grafischen Wandels Familie weiter denken, in weiteren
auch im Haushalt 2007 niederschlagen: das Elterngeld, Dimensionen. Familie ist natürlich der Ort, wo zualler-
die Mehrgenerationenhäuser, das Aktionsprogramm erst Alltagssolidaritäten erfahren und erlernt werden.
„Frühe Hilfen für Eltern und Kinder“ und das Programm Aber man kann sich nicht mehr allein auf die Kernfami-
„Jugend für Vielfalt und Demokratie“. lie beschränken. Man kann vielmehr, wenn man es rich-
tig bedenkt und auch richtig gestaltet – das ist mir wich-
Das höhere Volumen des Einzelplans 17 für das kom- tig –, jene, die Kinder haben, mit jenen verbinden, die
mende Jahr geht eindeutig auf das Elterngeld zurück. keine Kinder haben. Die Beziehungen zwischen beiden
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Christel Humme
(A) zu schweigen von den Folgen für die späteren eigenstän- Mit der Verwendung der Mehreinnahmen im Haus- (C)
digen Rentenansprüche der Frauen. halt haben wir zwei wichtige Ziele erreicht: Konsolidie-
rung auf der einen Seite und Zukunftsinvestitionen in
Ich begrüße es daher sehr, dass Sie, Frau Ministerin, mehr Bildung und Betreuung auf der anderen Seite, was
in dieser Richtung eine klare Position bezogen haben gerade im Interesse der Familien, ihrer Kinder und der
und den Vorschlag des Bundesrates ablehnen. nachfolgenden Generationen liegt. Darin unterscheiden
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wir uns wesentlich. Wir haben ein Zukunftskonzept und
der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Sie sagen Nein dazu. Das reicht uns natürlich nicht.
GRÜNEN)
Junge Frauen um die 30 sind zu über 95 Prozent – das Präsident Dr. Norbert Lammert:
wissen wir – berufstätig. In diesem Alter entscheiden sie Frau Kollegin Humme, darf Ihnen die Frau Kollegin
sich für oder gegen Kinder. Diese Frauen brauchen un- Lenke eine Zwischenfrage stellen?
sere Unterstützung mit besseren Rahmenbedingungen
für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Dafür set- Christel Humme (SPD):
zen wir uns ein und das meinen wir, wenn wir von echter
Wahlfreiheit für Frauen und Männer sprechen. Bitte.
Das alleine – Frau Golze, auch das wissen wir – reicht Präsident Dr. Norbert Lammert:
natürlich nicht.
Bitte schön.
(Miriam Gruß [FDP]: Mein Name ist Gruß!)
– Entschuldigung. Frau Gruß, ich kann verstehen, dass Ina Lenke (FDP):
Sie nicht verwechselt werden wollen. – Zu mehr Chan- Frau Humme, wir beide sind schon etwas länger im
cengleichheit von Frauen und Männern – das ist eine Bundestag. Ich erinnere mich daran, dass die Zusam-
Binsenwahrheit – gehört ein gutes und verlässliches Be- menlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe den Kom-
treuungsangebot auch für Kinder unter drei Jahren, wie munen 1,5 Milliarden Euro zur Betreuung von Kindern
es uns die europäischen Nachbarstaaten vormachen. unter drei Jahren einbringen sollte. Ich habe im Rahmen
Der aktuelle Bericht der Bundesregierung zur Umset- von verschiedenen Initiativen immer wieder die alte und
zung des Tagesbetreuungsausbaugesetzes zeigt, dass es die neue Bundesregierung danach gefragt. Aber ich habe
Fortschritte gibt. Danach ist das Betreuungsangebot in keine Antwort bekommen. Ich frage Sie, warum Sie
Westdeutschland für unter Dreijährige tatsächlich gestie- nicht mehr von dieser Finanzierungsart sprechen, son-
(B) gen, aber eben nur von 4,2 Prozent auf 9,6 Prozent in dern warum Sie jetzt davon sprechen, dass die Einnah- (D)
vier Jahren. Wir stellen leider immer noch fest: Der Fort- men aus der Mehrwertsteuererhöhung für die Kinderbe-
schritt ist vielerorts noch eine Schnecke. Die Länder und treuung verwendet werden sollen. Ich möchte weiterhin
Kommunen sind an dieser Stelle gefordert, in den nächs- gerne wissen, wo das steht.
ten zwei Jahren noch größere Anstrengungen zu unter-
nehmen. Christel Humme (SPD):
(Ina Lenke [FDP]: Dann soll das Geld auch Die Entlastung der Kommunen ist im Rahmen der
kommen!) Hartz-IV-Gesetzgebung zugesagt worden. Sie waren da-
bei, als wir im letzten Jahr entschieden haben, dass die
– Ich sage gleich noch etwas dazu, Frau Lenke, weil ich Kommunen vom Bund mehr Geld zur Verfügung gestellt
weiß, dass Sie dazu immer wieder etwas hören wollen. bekommen. Die Aufgabe der Kommunen ist es, einen
Teil dieser Einsparungen – diese gibt es; sie sind auch in
(Ina Lenke [FDP]: Das ist auch richtig!)
meinem Kreis gegeben; sie stehen definitiv auf dem Pa-
Sollte der bedarfsgerechte Ausbau der Kinderbetreu- pier – für die Kinderbetreuung zu verwenden.
ung nicht erfolgen, werden wir einen Rechtsanspruch
auf einen Betreuungsplatz für unter Dreijährige im Ge- Frau Lenke, Sie als Kommunalpolitikerin – Sie lassen
setz formulieren. keine Gelegenheit aus, dies zu betonen –
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Ina Lenke [FDP]: Nicht mehr!)
Das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, und das wissen ganz genau, dass wir als Bund keinerlei Möglich-
werden wir auch umsetzen. keit haben, jede Kommune zu verpflichten, die Gelder so
einzusetzen, dass sie für die Investition in die Zukunft
Frau Lenke und Frau Gruß, Kommunen brauchen na- unserer Kinder genutzt werden können. Ich gebe zu, dass
türlich auch Geld. Sie haben in der Haushaltsdebatte ge- das ein Problem ist. Aber wir haben den Kommunen das
betsmühlenartig darauf abgestellt, dass wir die Mehr- benötigte Geld für die Betreuung gegeben. Ich glaube,
wertsteuer zurücknehmen sollten. Beantworten Sie mir da könnte sich einiges bewegen. Es gibt Gemeinden, die
aber einmal die Frage, wie die Betreuung finanziert wer- das genutzt haben. Darauf sind wir stolz.
den soll. Denn ein Drittel des Mehrwertsteueraufkom-
mens geht an die Länder und es sind die Länder und die (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
Kommunen, die die Betreuung organisieren und umset- CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
zen müssen. NEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4621
(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: freundliche Arbeitsbedingungen ist meiner Ansicht nach (C)
Ich merke, dieses Thema muss im Ausschuss noch nicht zu machen.
vertieft werden. Darf denn nun auch die Kollegin Deli-
göz eine Zwischenfrage stellen? Von daher danke ich der Frau Ministerin, dass unsere
Allianz für Familie weitergeführt und das Konzept der
lokalen Bündnisse fortgesetzt wird.
Christel Humme (SPD):
Bitte schön. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP)
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich bin froh, dass
Frau Humme, Sie haben die 9 Prozent zitiert. Stim- das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz seit dem
men Sie mir zu, dass dieser Anteil regional sehr unter- 18. August nach langem Ringen endlich in Kraft ist.
schiedlich ausfällt, dass gerade im Süden unseres Lan- Auch das wird die Chancengleichheit von Frauen und
des, wo die Defizite am größten sind, dieser Anteil nach Männern stärker in den Mittelpunkt rücken. Denn
wie vor nur bei 2 bis 3 Prozent liegt und dass dort etwas Frauen sind es, die immer noch weniger verdienen. Wir
getan werden muss? konnten das heute in der Presse nachlesen und bestätigt
bekommen. Frauen sind in den Führungsetagen noch im-
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch fragen, mer nur mit der Lupe zu finden. Ich denke, das muss
wie Sie zu der Idee der Grünen stehen, über Absenkung sich dringend ändern.
– nicht Abschaffung – des Ehegattensplittings einen
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung für unter Dreijäh- Neben dem guten Allgemeinen Gleichbehandlungs-
rige teilzufinanzieren? Wie stehen Sie zu dieser Idee, zu- gesetz brauchen wir einen tatsächlichen Mentalitätswan-
mal auch Ihr Finanzminister sich bereits sehr positiv ge- del und Verhaltensänderungen. Darum bin ich froh, dass
genüber dieser Idee geäußert hat? in unserem Haushalt, im Einzelplan 17, die Gleichstel-
lungsstelle mit 2,8 Millionen Euro etatisiert ist. Damit
Christel Humme (SPD): setzen wir im Jahr der Chancengleichheit 2007 ein wich-
Vielen Dank, Frau Deligöz. Ich nehme an, dass Sie tiges Signal, vor allem für die Frauen.
mit den 9 Prozent die Quote von 9,6 Prozent bei Betreu- Chancengleichheit für alle schließt auch ein – das ist
ungsplätzen für unter Dreijährige meinen. ein wichtiger Punkt –, unsere Anstrengungen zur
Richtig ist, dass an dieser Stelle schon eine Menge ge- Armutsprävention fortzusetzen. Oft erleben wir – das
schehen ist und wir regional sehr große Unterschiede ha- ist leider so, es ist nicht von der Hand zu weisen –, dass
(B) ben. In Städten in Ostdeutschland haben wir 37 Prozent, das Familieneinkommen so gering ist, dass es nicht für (D)
in Westdeutschland aber ein hohes Defizit. Viele Kom- den Unterhalt der Kinder reicht. Dann zahlen wir – das
munen haben gute Ansätze. Ich denke etwa an die Kom- haben wir durchgesetzt, das ist auch gut so – einen Kin-
mune Leer, in der das Kinderangebot auch von unseren derzuschlag. Je nach Einkommen sind das bis zu
Initiativen nach vorne gebracht wurde. 140 Euro zusätzlich zum Wohn- und Kindergeld.
Sie haben vollkommen Recht: Wir brauchen zusätzli- (Ina Lenke [FDP]: Das sind noch nicht einmal
che Mittel. Sie wissen, dass alle Parteien darüber nach- 10 Prozent!)
denken, wie man zusätzliche Mittel akquirieren kann – – Ich weiß, das Instrument ist sehr kompliziert. Darum
Mittel, die vielleicht auch nicht zielgenau zu den Fami- möchten wir schnell erreichen, dass es einfacher und fle-
lien kommen, die Kinder haben. Da werden wir sicher- xibler gestaltet wird. Wir haben das Ziel, nicht nur
lich – das Ministerium tut das auch – eine Menge zu un- 150 000 Kinder mit diesem Instrument zu erreichen,
tersuchen und zu überlegen haben. Dazu gehört meiner sondern in Zukunft 420 000. Ich hoffe, dass wir im Rah-
Ansicht nach auch, das Ehegattensplitting auf den Prüf- men der Haushaltsdebatte und darüber hinaus zu einem
stand zu stellen und zu überlegen, ob das nicht zielge- guten Weg finden, genau das zu erreichen.
nauer für die Betreuung eingesetzt werden kann. Reicht
Ihnen das? (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich bleibe dabei: Der Ausbau der Betreuung, das El-
NEN]: Ja!) terngeld und damit eine höhere Erwerbsquote von
Frauen sind immer noch die besten Instrumente, Fami-
– Gut.
lienarmut zu bekämpfen.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, Chancengleich-
Diese Zwischenfragen machen gleichzeitig deutlich: heit – das haben wir auch vorhin von der Ministerin ge-
Wenn wir Familienpolitik betreiben wollen, dann brau- hört – ist nicht ohne bessere Bildungschancen realisier-
chen wir Partner, wir brauchen die öffentliche Hand – bar. Unser Ziel sind die qualitativ gute Betreuung und
das ist klar. Bund, Land und Kommune müssen da zu- Bildung von Anfang an. Das ist die Voraussetzung für
sammenwirken, aber wir brauchen auch die Unterneh- einen besseren Spracherwerb und einen besseren Inte-
men. Diesen Appell dürfen wir nicht vergessen, denn wir grationsprozess. Wir wollen nicht, dass die Herkunft
brauchen auch die privaten Initiativen. Das ist gar über den Bildungsabschluss und damit über die Zukunfts-
keine Frage. Denn Chancengleichheit ohne familien- chancen unserer Kinder entscheidet.
4622 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Christel Humme
(A) Unser Ziel ist die Chancengleichheit für Frauen und das eine familienpolitische Innovation. Ich nenne das El- (C)
Männer, für alle Kinder, aber auch – was in einer älter terngeld eine sozialpolitische Mogelpackung. Es be-
werdenden Gesellschaft immer wichtiger wird – für äl- nachteiligt Eltern mit niedrigem oder gar keinem
tere Menschen. Dass nur noch jeder zweite Betrieb – wir Erwerbseinkommen und wird dazu beitragen, die Kin-
haben das heute morgen in mehreren Reden gehört – derarmut zu verschärfen. Eine dreiviertel Milliarde Euro
Mitarbeiter beschäftigt, die älter als 50 Jahre alt sind, ist nimmt diese Regierung in die Hand, um Gut- und Bes-
personalpolitisch unklug und gesellschaftspolitisch ein serverdienenden den Zugang zu steuerfinanzierten So-
Skandal. Deshalb unterstütze ich Bundesarbeitsminister zialleistungen zu ermöglichen. Die wirklich Bedürftigen
Franz Müntefering, der die Beschäftigungschancen der sind davon teilweise ausgeschlossen. Das ist die sozial-
Älteren verbessern will. und familienpolitische Logik von Schwarz-Rot.
Ich unterstütze auch die Bundeskanzlerin Angela (Beifall bei der LINKEN)
Merkel. Sie hat eine interessante Bemerkung gemacht.
Im Rahmen einer Veranstaltung hat sie vorgeschlagen Während Frau von der Leyen beim Elterngeld aus
– Sie haben schon darauf hingewiesen –, Kinderrechte dem Vollen schöpft, müssen sich viele andere Bereiche
in die Verfassung aufzunehmen. in Bescheidenheit üben. Die Mittel für den Kinder- und
Jugendplan des Bundes werden sogar leicht gekürzt. Für
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Bundesprogramm zur Stärkung von Vielfalt,
der CDU/CSU) Toleranz und Demokratie – ehemals unter den Namen
Ich denke, das ist ein Projekt, das wir gemeinsam in An- „Civitas“ und „Entimon“ bekannt – hat das Familien-
griff nehmen können. Dieses Projekt wäre ein gutes Si- ministerium keinen Euro mehr als in den Jahren zuvor
gnal für das kommende Europäische Jahr der Chancen- übrig. Und das alles, während Neonazibanden durch
gleichheit. Mecklenburg-Vorpommern und Berlin ziehen und die
dortigen Wahlkämpfer aller demokratischen Parteien in
Schönen Dank. Angst und Schrecken versetzen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
FDP) Die mit viel Mühe und Bundesmitteln seit dem
Jahr 2001 aufgebauten Projekte gegen Rechts, die mo-
bilen Beratungsbüros und Opferberatungsstellen werden
Präsident Dr. Norbert Lammert: ohne Perspektive im Regen stehen gelassen. Weil es bis
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze, Frak- heute keine Ausschreibung gibt, darf getrost davon aus-
tion Die Linke. gegangen werden, dass im ersten Halbjahr 2007 eine
(Beifall bei der LINKEN) deutliche Förderlücke entsteht. Die Mitarbeiter gehen in (D)
(B)
diesen Tagen zum Arbeitsamt. Die Kündigungen für die
Büroräume sind unterschrieben. Mit den Mehrkosten für
Diana Golze (DIE LINKE):
die Wiederbeschaffung dieser Infrastruktur werden
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
knappe Mittel verschwendet. Das nenne ich einen unver-
Kolleginnen und Kollegen! Kinder, Jugendliche und Fa-
antwortlichen Umgang mit öffentlichen Mitteln.
milien haben es in der Bundesrepublik nur so lange gut,
wie nett lächelnde Politikerinnen und Politiker ihnen (Beifall bei der LINKEN)
versichern, dass gerade ihr Wohl im Mittelpunkt des In-
teresses stehe. Ich möchte meinen Beitrag insbesondere nutzen, um
auf einen der größten sozialpolitischen Skandale der Ge-
Wenn der Bundeshaushalt aufgestellt wird, ist es da- genwart einzugehen: die dramatisch zunehmende Kin-
mit aber schnell vorbei. Die schwarz-roten Sozialpoliti- derarmut in der Bundesrepublik. Ich zitiere aus Ihrem
ker ziehen jeden Tag mit neuen Zumutungen durchs Koalitionsvertrag:
Land. Für Kinder und Jugendliche halten sie bestenfalls
die Perspektive auf eine Rente mit 67 bereit. Dazu bieten Wir wollen materielle Kinderarmut reduzieren und
sie ihnen einen desolaten Ausbildungsmarkt, Jugendar- hierzu den Kinderzuschlag mit Wirkung ab dem
beitslosigkeit und 1-Euro-Jobs. Die Familien müssen Jahr 2006 weiterentwickeln … Wir wollen den Be-
über die Mehrwertsteuererhöhung die Steuergeschenke rechtigtenkreis ausweiten, um weitere Kinder zu er-
für Unternehmen und Vermögende finanzieren. reichen und ihren Eltern zu ermöglichen, ohne Be-
Davon unbeeindruckt lächelt die Jugend- und Fami- zug von ALG II für sie zu sorgen.
lienministerin von der Leyen in die Kameras. Ihr An- Wer den Einzelplan 17 aufschlägt, in dem sich eine
spruch lautet: Die Politik kann und muss geeignete Rah- solche Weiterentwicklung niederschlagen müsste, findet
menbedingungen für Familien schaffen. Nach der selbst für das Jahr 2007 die unveränderte Summe von
Lektüre des zweiten Haushalts aus dem Hause von der 150 Millionen Euro.
Leyen kann ich nur sagen: Diese Politik ist ein Zukunfts-
risiko für viele Kinder und Jugendliche in diesem Land. Das Problem drängt. Den Betroffenen ist nicht damit
geholfen, dass die Bundeskanzlerin erklärt, durch die
(Beifall bei der LINKEN)
Reformen der letzten Jahre sei die Armut nur besser
Der Einzelplan 17 erhält einen Aufwuchs in Höhe sichtbar geworden. Ich frage mich, was Frau Merkel von
von knapp 726 Millionen Euro. Wir alle kennen den ihrem eigenen Wahlkreis eigentlich weiß, in dem mehr
Grund: das Elterngeld. Aus der Sicht der Koalition ist als jedes vierte Kind von Sozialgeld lebt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4623
Diana Golze
(A) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie weiß zept circa 2,1 Millionen Familien mit 3,1 Millionen Kin- (C)
eine ganze Menge!) dern profitieren.
Ich will Ihnen gerne ein Beispiel aus den alten Bun- (Otto Fricke [FDP]: Wie viel kostet es denn?)
desländern nennen. Einem Papier der Arbeitsgemein- Unser Konzept ist im Vergleich zum heutigen Kinder-
schaft der Verbände der Freien Wohlfahrtspflege Aachen zuschlag sehr viel einfacher und garantiert den Betroffe-
ist folgendes Zitat entnommen: nen ein Armut verhinderndes Leistungsniveau. Es ist mit
Es ist ein erheblich anwachsender Zulauf bei der einer gerechten Steuerpolitik – hiermit beantworte ich
Ihre Frage – ohne weiteres finanzierbar. Schließlich er-
Aachener Tafel und bei Möbel- und Kleiderkam-
möglicht es erhebliche Einsparungen bei Sozialgeld und
mern zu verzeichnen, d. h. Menschen können mit
Arbeitslosengeld II. Es kostet auch weniger, als die Bun-
den Finanzmitteln nicht mehr im gebotenen Um-
desregierung mit ihrer Steuerreform den Unternehmen
fang ihren Lebensunterhalt sicherstellen … Die
als Geschenk hinterherwerfen will.
Aachener Zeitung hat inzwischen eine breit ange-
legte Spendenaktion ins Leben gerufen, um für (Beifall bei der LINKEN)
Kinder ausreichende Mahlzeiten zur Verfügung
stellen zu können. Besonders in sozial belasteten Das beste Rezept gegen die Arbeitslosigkeit von mor-
Stadtvierteln scheitert die Bereitstellung eines Mit- gen ist die Armutsverhinderung von heute. Die Verhin-
tagessens für Kinder in Kindertagesstätten immer derung von Kinderarmut ist eine Investition in die Zu-
häufiger an den fehlenden Finanzmitteln der El- kunft, die perspektivisch die sozialen Kassen entlasten
tern … In den Kindertagesstätten wird zunehmend und stabilisieren wird.
festgestellt, dass keine wetterfeste Kleidung, keine Demnächst steht unser Konzept in diesem Hause zur
Winterjacken, Schals und Mützen vorhanden sind. Abstimmung. Ich hoffe, Sie erinnern sich dann an Ihren
Koalitionsvertrag. Sie können sich sicher sein, dass wir
Doch Kinderarmut hat mehr Gesichter als nur die im Hinblick auf die Karte der Kinderarmut des Paritäti-
mangelnde materielle Versorgung des Kindes. Wie eine schen Wohlfahrtsverbandes dasselbe tun wollen wie Sie,
Langzeitstudie des Frankfurter ISS belegt, hat Armut für nämlich zu verhindern, dass im Osten, aber auch in eini-
Kinder weitere Dimensionen: fehlende soziale Kontakte gen Hochburgen der Kinderarmut im Westen rote Fle-
und daher unzureichend entwickelte soziale Kompeten- cken zu sehen sind. Die Geduld der Menschen im Land
zen, Auswirkungen auf den Gesundheitszustand und die mit dieser Regierung hat sicher bald ein Ende.
körperliche Entwicklung und auch mangelnde Versor-
gung im kulturellen Bereich. Alle fünf Dimensionen Vielen Dank.
(B) wirken sich negativ auf die Zukunftsperspektiven der be- (Beifall bei der LINKEN) (D)
troffenen Kinder aus.
Der Kinderzuschlag, den weiterzuentwickeln Sie Präsident Dr. Norbert Lammert:
sich vorgenommen hatten, hat das Ziel, zu verhindern, Ich erteile das Wort der Kollegin Britta Haßelmann,
dass Eltern wegen ihrer Kinder auf den Bezug von Bündnis 90/Die Grünen.
ALG II oder Sozialgeld angewiesen sind. Das ist eine
gute Idee, leider schlecht umgesetzt. Die Geschichte des Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Kinderzuschlags im Bundeshaushalt liest sich wie folgt:
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Im Jahr 2005 wurde er mit 217 Millionen Euro veran-
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin, vorhin sagten
schlagt. Weil aber die Regeln so schwierig und undurch-
Sie, dass Sie für eine nachhaltige Familienpolitik stehen,
schaubar waren, wurden neun von zehn Anträgen abge-
in der nicht immer alles so bleiben kann, wie es ist. Das
lehnt und der Etat im Jahr 2006 um 67 Millionen Euro
ist aus meiner Sicht ein frommer Wunsch, insbesondere
gekürzt. Denn das Geld wurde nicht abgerufen. Diese
wenn ich in Richtung CDU/CSU sehe und mir die kon-
Kürzung wird nun im Jahr 2007 fortgeschrieben. Allen
krete Politik, die Sie im Moment machen, vor Augen
großmütigen Ankündigungen zum Trotz: Die Kinder-
führe; ich werde gleich noch darauf zu sprechen kom-
armut steigt und der Kinderzuschlag sinkt. Das ist
men.
schwarz-rote Haushaltslogik.
Wie es schon beim ersten Haushalt, den Sie vorgelegt
(Beifall bei der LINKEN) haben, der Fall war, müssen wir auch angesichts dieses
Haushaltsentwurfs zur Kenntnis nehmen, dass Sie sich
Die Linke hat im Juni ein Konzept vorgelegt, das ei-
vieler Themen des Einzelplans 17 überhaupt nicht rich-
nen Ausbau des Kinderzuschlags mit dem Einstieg in
tig angenommen haben. Ich frage mich, ob wir uns,
eine bedarfsorientierte Kindergrundsicherung verbin-
wenn wir über Ihren Etat, den Etat des Einzelplans 17,
det. Wir wollen alle Kinder aus der Sozialhilfe herausho-
sprechen, bis zum Ende der Regierungszeit von Union
len. Alle Kinder unter 18 Jahren sollen in Zukunft ein
und SPD ausschließlich mit den Themen Elterngeld und
Kindergeld erhalten, das ihnen in voller Höhe zugute Mehrgenerationenhäuser als den einzigen Akzent dieser
kommt. Gleichzeitig wollen wir den Kinderzuschlag zu
Regierung beschäftigen müssen.
einem einkommensabhängigen Instrument ausbauen,
das jedem Kind den Zugang zu einem soziokulturellen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Existenzminimum in Höhe von 420 Euro garantiert. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der
Nach unseren Berechnungen würden von diesem Kon- LINKEN)
4624 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Britta Haßelmann
(A) Familie, ältere Menschen, Frauen und Jugend, all diese satz Ihres Ministeriums folgen. An dieser Stelle will ich (C)
Aspekte zusammen bilden doch die Kernelemente Ihres Ihnen sagen: Mein Eindruck ist, dass auch Sie sich, Frau
Ministeriums und sind der Auftrag für unser politisches Ministerin, auf diese Weise auf ganz leisen Sohlen von
Handeln. Oder etwa nicht? einer engagierten Frauen- und Gleichstellungspolitik in
diesem Hause verabschieden.
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Haben Sie
denn nicht zugehört?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
– Ich habe der Ministerin sehr gut zugehört. Wir beobachten schon seit geraumer Zeit – meine
Kollegin Schewe-Gerigk weiß das nur zu gut –, dass die
Einen Ihrer vier Schwerpunkte wollen Sie nun bei der Gleichstellungspolitik in allen Debatten, die über dieses
Jugend setzen. Thema geführt werden – ob im Familienausschuss oder
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Sie müssen in öffentlichen Äußerungen –, ausschließlich darauf re-
mal Ihr Skript anpassen!) duziert wird, die Bedeutung der Vereinbarkeit von Fami-
lie und Beruf zu betonen. Das ist richtig und gut.
Ich frage mich allerdings: Wie passt das damit zusam-
men, dass Sie die Mittel für die Jugendsozialarbeit Aber das ist nicht das, was wir mit Gleichstellungs-
kürzen? Sie sollten sich einmal genauer mit der Jugend- politik verbinden. Es gibt eine Reihe von Fragen, die of-
politik beschäftigen! Sie kürzen die Mittel für die Ju- fensiv gestellt werden müssten. Dabei geht es zum Bei-
gendsozialarbeit. spiel um Folgendes: gleicher Lohn für gleiche Arbeit,
Frauen und Führungspositionen und den Abschied vom
(Zuruf von der CDU/CSU: An welcher Stelle Alleinverdienermodell. Diese Stichworte machen deut-
denn?) lich, wie wichtig es ist, darüber zu diskutieren und hier
Dabei dachte ich, wir alle wissen, dass die Jugendsozial- politische Akzente zu setzen.
arbeit von zentraler Bedeutung ist: zur Herstellung von Um noch eines oben draufzusetzen, sage ich: Die öf-
Chancengerechtigkeit und zur Ermöglichung der erfolg- fentliche Diskussion und unser politisches Handeln zei-
reichen Teilhabe junger Menschen am gesellschaftlichen gen, wie notwendig es ist, in diesem Hause und im zu-
Leben. ständigen Ausschuss weiterhin über Gleichstellung zu
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Wo kürzen wir diskutieren und Akzente zu setzen. Denken Sie nur an
denn bei der Jugendsozialarbeit?) die dümmlichen Äußerungen einer TV-Journalistin zur
Rolle der Frau, die für alle emanzipierten Frauen und
An dieser Stelle, meine Damen und Herren von der Männer eine Beleidigung sein muss.
(B) großen Koalition, nehme ich Sie in die Pflicht. Sie könn- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(D)
ten zeigen, wie wichtig Ihnen dieses Thema wirklich ist.
Aber hier passt etwas nicht zusammen. Erinnern Sie sich bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeord-
nur daran, wie wir hier im Parlament über die Ereignisse neten der LINKEN)
im Zusammenhang mit der Rütli-Schule diskutiert ha- Das Familienministerium hält sich sehr bedeckt,
ben. Betroffenheits- und Sonntagsreden, wie sie damals wenn es um neue Initiativen zur Gleichstellungspolitik
gehalten wurden, passen nicht dazu, dass Sie nun die geht. Vermutlich hängt Ihnen, Frau Ministerin, noch das
Mittel für die Jugendsozialarbeit kürzen. Ringen um die zwei Vätermonate – bereits das höchste
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der emanzipatorischen Gefühle für die Konservativen in
sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Chris- Ihrer Fraktion – nach.
tel Humme [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Lassen Sie mich jetzt zum Elterngeld kommen. Sie
– Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Genau! machen mit dem Elterngeld den zweiten Schritt vor dem
Stimmt gar nicht!) ersten. Wir Grünen werden nicht müde, zu betonen: Wir
Meine Damen und Herren von SPD und Union, an- brauchen eine flächendeckende Kindertagesbetreuung
ders als noch im letzten Haushalt, in dem die Ansätze für und einen Rechtsanspruch auf Betreuung ab dem ersten
die Gleichstellungs- und Seniorenpolitik zugunsten des Lebensjahr. Wir haben keinen Anlass, Frau Humme, bei
Ansatzes für die Familienpolitik gekürzt wurden, schla- der Kinderbetreuung Entwarnung zu geben.
gen Sie jetzt von vornherein vor, alles in einem Topf zu- (Christel Humme [SPD]: Das habe ich nicht
sammenzuführen. Sie wollen zwar ein paar Unterpunkte gesagt!)
bilden, damit das, was Sie tun, nicht so sehr auffällt.
Dennoch beabsichtigen Sie, diese Ansätze zusammenzu- Natürlich ist dank der Initiativen von Grünen und SPD
führen, damit alles wunderbar deckungsgleich ist. mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz der Betreuungs-
ausbau in Gang gekommen. Das ist auch gut so. Aber
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was ha- das kann uns doch nicht zufrieden stellen. Wir brauchen
ben Sie gegen Schwerpunktbildung?) mehr Betreuungsplätze und die Ausweitung des Rechts-
Dann nennen Sie das Ganze „Förderung von gesell- anspruches,
schaftspolitischen Maßnahmen der Familien- und (Ina Lenke [FDP]: Wir brauchen mehr Markt
Gleichstellungspolitik sowie für die ältere Generation“. und Wettbewerb!)
Diesen Schritt begründen Sie damit, dass Sie dem ver-
stärkten generationen- und politikübergreifenden An- uns zwar jetzt und nicht erst in ein paar Jahren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4625
Britta Haßelmann
(A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesrat die Mehrheit? Der Bundesrat wird bestimmt (C)
sowie der Abg. Miriam Gruß [FDP]) durch die CDU/CSU-Ministerpräsidenten.
Wir können nicht sagen, wir führen erst einmal das El- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das ist
terngeld ein, warten einmal ab und sehen irgendwann, auch gut so!)
wie wir bei diesem Thema weiterkommen.
Das ist kein Niemand, der das fordert. Ihre Ministerprä-
(Christel Humme [SPD]: Sie haben mir nicht sidenten wollen die 36 Monate Geschwisterbonus; das
zugehört!) muss man ganz deutlich sagen.
Wir Grüne schlagen Ihnen vor, das Ehegattensplit- Jede und jeder von uns weiß, dass die Möglichkeiten,
ting abzuschmelzen, es in ein Individualsplitting umzu- in den Beruf zurückzukehren, die Karrierechancen und
wandeln und die frei werdenden 2 Milliarden Euro für die Altersvorsorge mit der Auszeit vom Beruf, die je-
eine Kinderbetreuungskarte vorzusehen, durch welche mand nimmt, schlechter werden; Sie haben vorhin auch
Eltern vom Bund eine Geldleistung zur Inanspruch- darüber gesprochen. Mit dem erklärten Ziel des Eltern-
nahme von Kinderbetreuung erhalten. Es ist also ganz geldes ist das nicht zu vereinbaren.
einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Nicolette Kressl [SPD]: Das stimmt auch
(Christel Humme [SPD]: So einfach ist es nicht!)
auch nicht! – Nicolette Kressl [SPD]: Und wer
Im Übrigen kostet diese Forderung – das ist jetzt schon
sammelt das Geld ein? – Johannes Singham-
klar, das ist errechnet – über 100 Millionen Euro. Des-
mer [CDU/CSU]: Was ist mit den älteren
halb, Frau Ministerin, können Sie sicher sein, dass die
Frauen, die davon nicht so profitieren?)
grüne Fraktion an dieser Stelle alles dafür tun wird, dass
Ich werbe bei Ihnen für diese Idee um Zustimmung. die Regelung, die von der CDU/CSU verlangt wird,
nicht in Kraft tritt. Ich fordere die große Koalition auf:
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Setzen Sie ein eindeutiges Zeichen, verabschieden Sie
Wenn es wirklich so ist – wie die Kanzlerin gestern sich von dieser Regelung!
betonte –, dass Sie den Menschen nicht vorschreiben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wollen, wie sie zu leben haben, dann frage ich mich, wa-
rum Sie von der Union so stur sind und so viel Behar- Zum Schluss möchte ich auf den Zivildienst einge-
rungsvermögen zeigen, wenn es um das Ehegattensplit- hen. Mit Wehr- und Einberufungsgerechtigkeit hat das,
ting geht. was sich in diesem Bereich abspielt, nichts zu tun.
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (D)
Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Weil eine SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sibylle
Abschaffung ungerecht ist!) Laurischk [FDP])
Das Gleiche gilt für das Elterngeld. Hier privilegie- Wir haben das in diesem Haus schon einige Male thema-
ren Sie ganz offensichtlich das Alleinverdienermodell. tisiert. In diesem Haushalt stellt sich aber, was Wehr-
Dazu, Frau Ministerin, haben Sie nichts ausgeführt. Da- und Zivildienst angeht, nicht nur die Gerechtigkeits-
bei hat die Anhörung zum Elterngeld sehr deutlich ge- frage. Schauen Sie sich den Etat einmal an: Die Ansätze
macht, dass beispielsweise Eltern, die sich dafür ent- stimmen nicht annährend überein mit dem, was wir an
scheiden, gemeinsam und gleichzeitig Kindererziehung Dienstpflichtigen zur Verfügung haben. Sie haben da
und Berufstätigkeit zu verbinden, durch die Elterngeld- also eine kleine Sparbüchse angelegt. Ich rate Ihnen,
regelung ganz klar benachteiligt werden. noch einmal darüber nachzudenken, die Jugendsozial-
arbeit, die die jungen Menschen leisten können, aufzu-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stocken. Das wäre eine Maßnahme. Legen Sie keine
Wenn Sie den Menschen wirklich nicht vorschreiben Sparschatulle an für Dinge, die wir nicht brauchen!
wollen, wie sie zu leben haben, müssen Sie bereit sein, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
die Elterngeldregelung für den Fall, dass beide Eltern
auf Teilzeit gehen, nachzubessern. Sonst werden Sie Ih- Sehr geehrte Frau Ministerin, meine Damen und Her-
rem Anspruch nicht gerecht, über den gesetzlichen Rah- ren, wir erwarten, dass Sie eine ausgewogene Politik für
men nicht nur, wie bisher, das Einernährermodell zu för- alle Generationen machen und dass sich dies nicht nur in
dern. Sonntagsreden widerspiegelt; denn dann würde sich auf-
grund Ihrer Behandlung der Programme Elterngeld, Ge-
Ein weiteres Beispiel von wegen „Sie schreiben nie- schwisterbonus und Ehegattensplitting an der Familien-
mandem vor, wie er zu leben hat“ und „Es herrscht politik langfristig leider nichts ändern.
Wahlfreiheit“ ist der Geschwisterbonus von 36 Mona-
ten, der immer noch nicht vom Tisch ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Nicolette Kressl [SPD]: Abwarten!)
(Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Anders als bei
Ihnen!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Humme hat darüber gesprochen und gesagt, im Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Falk für die
Moment will nur der Bundesrat das. Wer hat denn im CDU/CSU-Fraktion.
4626 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) Ilse Falk (CDU/CSU): mit der Hoffnung verbunden, dass gerade auch Väter die (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gelegenheit und Chance haben, das Abenteuer Kind und
Eine Haushaltsdebatte bedeutet das Ringen darum, wie Haushalt zu erleben, wodurch sie lernen, die Leistungen
das Geld, das der Staat durch direkte und indirekte Steu- der Mütter besser wertzuschätzen, und wodurch sie ihre
ern einnimmt, in kluger und umsichtiger Weise den Erfahrungen hoffentlich nutzbringend für alle in die Ar-
Menschen wieder zugute kommen kann. Wir erleben das beitswelt tragen können. Das heißt also: hoher Nutzen
nun schon seit drei Tagen und finden immer wieder Bei- für das Miteinander in der Gemeinschaft und großer Ge-
spiele dafür. Wir streiten um Geldsummen, deren Höhe winn für die Kinder.
wir uns oft gar nicht mehr selber vorstellen können, und
(Renate Gradistanac [SPD]: Ja!)
begründen, warum welche Ausgabe im jeweiligen Haus-
haltsplan gerechtfertigt ist. Eine weitere Folge sind positive Auswirkungen auf die
Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit, die von
Unser Problem ist, dass der Haushalt in sich zwar ein
den allermeisten Frauen nun einmal so gewünscht wird.
logisches Zahlenwerk ist, dass sich die Begründung der
einzelnen Ausgaben aber hartnäckig jeder mathemati- Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil wir wissen,
schen Beweisbarkeit entzieht. Das ist natürlich auch dass die Verwirklichung des Wunsches, zwei Berufsfel-
beim Einzelplan 17 nicht anders. Ich will aber trotzdem der miteinander zu vereinbaren, die Zeit für die Familie
den Versuch unternehmen, deutlich zu machen, warum knapper werden lässt und die Kräfte unter Umständen
es gerade bei diesem Haushalt ein hohes ökonomisches auch überfordert – ich glaube, das müssen wir uns ab
Interesse an der Bereitstellung von Mitteln geben muss. und zu auch einmal eingestehen –, muss die Inan-
Gerade dieses Ministerium der Generationen spiegelt spruchnahme von Dienstleistungen leichter und auch
Veränderungen in der Gesellschaft wie ein Seismograf selbstverständlicher werden.
wider, auf die es zu reagieren gilt, wenn nicht alles noch
(Beifall bei der CDU/CSU)
viel teurer werden soll.
Durch die Bereitstellung flexibler Kinderbetreuung
Eine Vorbemerkung zu den wichtigsten Veränderun-
durch Tagesmütter, Kita oder Hilfen zu Hause, durch die
gen der letzten Jahrzehnte: Männer und natürlich beson-
vollständige Absetzbarkeit der Kosten für sozialversi-
ders auch Frauen leben neue Lebensentwürfe, weil ihnen
cherungspflichtig Beschäftigte im Privathaushalt wie in
Bildung, Wissenschaft und Forschung völlig neue Per-
jedem Betrieb
spektiven eröffnet haben. Neue Lebensentwürfe bedeu-
tet, dass die Familien neue Formen des Miteinanders (Beifall des Abg. Johannes Singhammer
finden müssen. Niedrige Geburtenraten und hohe Le- [CDU/CSU] und der Abg. Sibylle Laurischk
benserwartung – gemeinhin als demografischer Wandel [FDP])
(B) (D)
bekannt – fordern uns mächtig heraus. Traditionelle For-
men der Arbeit und lebenslanges Verweilen in demsel- und durch Förderung von Dienstleistungszentren, in de-
ben Beruf werden seltener. Weil wir von diesen Verände- nen bezahlbare Teilzeitangebote für den Haushalt abge-
rungen wissen, müssen wir uns damit befassen, was wir rufen werden können, entlasten wir Eltern von den Auf-
durch diese Veränderungen gewinnen, was wir mögli- gaben, die andere ebenso gut oder vielleicht sogar besser
cherweise verlieren und was wir von dem Vertrauten auf erledigen können, und verschaffen wir ihnen Freiräume,
jeden Fall bewahren sollten. die für das entspannte Miteinander in der Familie not-
wendig sind.
Fangen wir mit dem Beginn des Lebens an. Wir wis-
sen, dass Kinder zuallererst die Beziehung zu ihren Die Konsequenz ist: Die Nachfrage von Dienstleis-
Eltern suchen und dass sie gerade in ihrer ersten Lebens- tungen schafft Arbeitsplätze und damit natürlich auch
phase feste Bezugspersonen und eine liebevolle Zuwen- Vorteile für diejenigen, die sich zwar selber diese Hilfe
dung brauchen, damit sie ihre Talente entfalten können. nicht leisten können, aber Arbeit suchen. Wir haben hier
Zuwendung bedeutet Anwesenheit, also Zeit. Deshalb mit der verbesserten Absetzbarkeit von Kinderbetreu-
müssen die Eltern ihr Leben so gestalten können, dass ungskosten und haushaltsnahen Dienstleistungen rück-
sie Zeit für ihre Kinder haben und dass Familie tatsäch- wirkend zum 1. Januar dieses Jahres erste Schritte getan.
lich auch gelebt werden kann. Aber von der Verwirklichung der Idee „Haushalt als Be-
trieb“ sind wir leider doch noch ein ganzes Stück ent-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fernt.
neten der SPD)
Wir haben es im privaten Haushalt mit einem riesi-
Deshalb sollten wir uns freuen, wenn sich Mütter oder gen Schwarzarbeitsmarkt zu tun. Deshalb sollten wir al-
Väter auf ihre Rolle einlassen und zum Beispiel von dem les daransetzen, attraktive Angebote für reguläre Arbeit
neuen Elterngeld und den damit einhergehenden Väter- zu machen.
monaten in möglichst großer Zahl Gebrauch machen.
(Sibylle Laurischk [FDP]: Vollkommen
(Renate Gradistanac [SPD]: Jawohl!) richtig!)
Ich gehe jetzt nicht auf die Einzelheiten ein. Die Mi- Das wäre nicht nur gut investiertes Geld, sondern es
nisterin hat schon einiges dazu gesagt und das steht bei könnte auch dazu ermutigen, den so lange diskreditieren
der Verabschiedung demnächst auch noch einmal ganz Arbeitsplatz Haushalt aufzuwerten, sowohl als Ausbil-
groß auf der Tagesordnung. Ich will nur so viel sagen: dungsberuf, als anspruchsvolle Fortentwicklung zu
Das Elterngeld und die Vätermonate sind für uns speziell selbstständiger Haushaltsführung als auch für einfachere
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4627
Ilse Falk
(A) Arbeiten für Menschen mit eher praktischen Fähigkei- gungen entstehen. Erziehungsberatung und ambulante (C)
ten. Das Ziel sind der Abbau von Schwarzarbeit und die Erziehungshilfen sind teuer, aber immer noch preiswer-
Schaffung neuer sozialversicherungspflichtiger Arbeits- ter als Reparaturmaßnahmen.
plätze.
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
An dieser Stelle ein Wort zu der immer wieder ange- Das gilt natürlich auch für den Bereich – die Ministerin
sprochenen Kinderarmut. Kinderarmut ist immer ab- hat ihn vorgestellt – der aufsuchenden Hilfen, das heißt,
hängig von der Lebenssituation der Eltern. Es spiegelt Familien werden zu Hause aufgesucht, weil diese Fami-
sich in den Zahlen wider, dass wir es mit einer hohen Ar- lien nicht zu den Hilfseinrichtungen kommen und sie an-
beitslosigkeit zu tun haben. Deshalb ist das Wichtigste, ders nicht zu erreichen sind. Wir müssen Familien
was wir für die Kinder tun können, um sie aus der Armut begleiten, um die Kinder aus dem Teufelskreis der Ar-
herauszuholen, all unsere Kraft darauf zu verwenden, beitslosigkeit ihrer Eltern, in dem sie aufwachsen, zu be-
Arbeitsplätze zu schaffen, und zwar auch im Bereich freien.
Haushalt.
Die aufsuchende Hilfe ist hochkomplex und kostenin-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie tensiv. Dabei ist es sehr wichtig, die Kinder im Blick zu
des Abg. Otto Fricke [FDP]) behalten. Es lohnt sich für die Kinder und die Eltern.
Bleiben wir einen Moment bei der Wirtschaft. Auch Aber – das kann man immer wieder feststellen – es lohnt
sie kann dazu beitragen, Fehlentwicklungen und hohe sich auch für die Kasse.
Folgekosten zu vermeiden. Familiengerechte Arbeits- Was für das Aufwachsen der Kleinkinder gilt, setzt
plätze und Betriebsstrukturen, die auch die Wahrneh- sich in allen Altersstufen fort. Jugendliche brauchen in
mung von Familienaufgaben zulassen, müssten im der schwierigen Phase des Erwachsenwerdens eine gute
ureigenen Interesse der Unternehmen liegen. Gerade Ar- Mischung aus Begleitung und Herausforderung, damit
beitgeber sollten nicht unterschätzen, wie wichtig gute sie ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln. Hier
Rahmenbedingungen für das Aufwachsen von Kindern setzt der Einzelplan 17 wichtige Akzente, zum Beispiel
sind, damit sie später einmal – da sollten die Unterneh- mit der Förderung vielfältiger Angebote der Jugend-
men ganz egoistisch sein – tüchtige Arbeitnehmer und arbeit, der Finanzierung von Freiwilligenjahren und
Arbeitnehmerinnen oder aber verantwortungsvolle Maßnahmen zur Unterstützung bürgerschaftlichen
Chefs werden, die wir uns in stärkerem Maße wünschen. Engagements. Mittel zur Integration junger Menschen mit
Zuwanderungsgeschichte dienen der Konfliktprävention
(Iris Gleicke [SPD]: Allerdings!) ebenso wie der Verbesserung ihrer Ausbildungschancen.
Sowohl Tugenden wie Pflichterfüllung, Pünktlichkeit Das alles sind wertvolle Investitionen in die Zukunft.
(B) und gegenseitiger Respekt als auch das Verständnis von Im Bundeshaushalt 2007 sind mehr als 5 Milliarden (D)
ethischer Unternehmensführung werden im Elternhaus Euro für die Generationen veranschlagt. Darüber hinaus
grundgelegt. Darüber hinaus erwarten wir von Unterneh- werden jährlich etliche Milliarden – die Zahlen schwan-
mern, dass sie sich, wenn nicht bereits geschehen, noch ken – für staatliche Maßnahmen und Leistungen für Fa-
stärker der Ausbildung Jugendlicher annehmen. Ich milien in unterschiedlichen Lebenslagen aufgewendet.
weiß, es wird vielfach beklagt, dass Jugendliche nicht Wir unterstützen das Familienministerium ausdrücklich
die nötigen Voraussetzungen mitbrächten, die für eine in seinem Vorhaben, dieses Geld effektiver einzusetzen.
Erfolg versprechende Ausbildung nötig seien. Aber weil Das System staatlicher Familienleistungen soll sortiert
eben alles mit allem zusammenhängt, müssen wir die und bilanziert werden. Es wird geprüft, ob wir künftig
Defizite aufzeigen und Hilfestellung geben. Deshalb bin die Ausgaben in einer Familienkasse bündeln, um sie ge-
ich dem Arbeitsminister dankbar, dass er gerade Jugend- nauer und zielgerichteter einsetzen zu können.
lichen, die besondere Schwierigkeiten haben, einen Aus-
bildungsplatz zu finden, mehr Chancen auf dem Arbeits- Ich komme zum Schluss. Unternehmensbilanzen
markt eröffnen will. kann man auf Euro und Cent nachrechnen. Soziale Bi-
lanzen hingegen bilden Zukunftsfähigkeit ab. Lassen Sie
Weil wir wissen, dass die Unsicherheit der Eltern in uns öfter die gesellschaftlichen Zusammenhänge in den
der Erziehung häufig groß ist und ihnen eine Vielzahl Blick nehmen, damit wir die knapp gewordenen Finanz-
von Miterziehern das Leben noch zusätzlich schwer mittel klug anlegen. Die Sozialhaushälter aller Ebenen
macht, müssen wir sie in ihrer Erziehungskompetenz werden es uns danken.
stärken und sie ermutigen, die ihnen – ganz altmodisch –
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
zuvörderst obliegende Pflicht der Erziehung verantwor-
tungsvoll wahrzunehmen. Politik muss aber auch mit der
Verbesserung frühkindlicher und schulischer Bildung, Präsident Dr. Norbert Lammert:
der Qualifizierung der Erziehenden, der Stärkung der Das Wort hat nun die Kollegin Sibylle Laurischk,
Lehrkräfte und der Verbesserung des schulischen Um- FDP-Fraktion.
felds Ernst machen. Diese Bereiche finden sich zwar (Beifall bei der FDP)
nicht alle im Bundeshaushalt wieder, aber es spielt eben
alles zusammen.
Sibylle Laurischk (FDP):
Wo Fehlentwicklungen zu befürchten sind oder be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
reits sichtbar werden, brauchen wir mehr präventive An- Ministerin, ich möchte vorab etwas zu Ihren Ausfüh-
gebote, damit nicht aus kleinen Anfängen große Schädi- rungen anmerken. Das Elterngeld wirft nach meinem
4628 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Sibylle Laurischk
(A) Dafürhalten verfassungsrechtliche Fragen auf, die noch Gleichstellungsgesetz allein darf nicht als ausreichend (C)
zu klären bleiben. Dazu wird gerade die FDP in der Zu- betrachtet werden. Hier muss mehr getan werden.
kunft noch einiges zur Diskussion beisteuern. Darauf
möchte ich kurz hinweisen, weil die Haushaltsmittel in Das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle
diesem Bereich deutlich aufgestockt werden. muss auch für Senioren von Bedeutung sein. Wir for-
dern die Bundesregierung auf darzulegen, wie sie vorge-
Zur Kinderarmut haben Sie nach meinem Dafürhal- hen will, damit auch Senioren angesprochen werden und
ten nichts Substanzielles gesagt. Dabei ist die Kinderar- in ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung stärker ver-
mut ein Problem, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. netzt werden. Sie sprechen zwar ständig von Mehrgene-
Ich hätte mir durchaus vorstellen können, dass Sie zum rationenhäusern. Aber das reicht uns als seniorenpoliti-
Beispiel auf das Unterhaltsvorschussgesetz oder auf den sche Aussage nicht aus.
Kinderzuschlag eingegangen wären.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Sie verantworten auch die Mittel für die Integration der LINKEN)
junger Zuwanderinnen und Zuwanderer. Diese Mittel
werden wie im Vorjahr – ich zitiere aus den Anmerkun- Die Formen der Altersdiskriminierung beispielsweise
gen zum Haushaltsplan – „bedarfsgerecht“ veranschlagt. sind subtil. Das ist insbesondere auf dem Arbeitsmarkt
19 Prozent eines Jahrgangs von Schülern mit Migra- zu spüren. Wir wissen, dass der Altenbericht einige Lö-
tionshintergrund verlassen die Schule ohne Abschluss. sungsvorschläge beinhaltet. Dazu haben Sie bislang
Damit wächst ein großer sozialer Sprengsatz heran. Die noch nichts gesagt. Das Verzögern der Vorlage des Al-
Bedeutung von Integration durch Spracherwerb hat auch tenberichts kritisieren wir ausdrücklich.
der Bundesinnenminister in seiner Haushaltsrede für sei- Frau von der Leyen, Familienpolitik muss alle Gene-
nen Bereich „Integrationskurse für Erwachsene“ deut- rationen und beide Geschlechter umfassen. Nur dann hat
lich gemacht. Aber auch er stockt die Ansätze für die das bewährte Netz Familie eine Chance, seinen Mitglie-
Integrationskurse 2007 nicht auf. dern und Angehörigen Halt und Perspektive zu geben.
Frau Ministerin, es bleibt viel zu tun.
Ich weise an dieser Stelle insbesondere darauf hin,
dass die Integrationskurse für Mütter und Kinder mit Mi- (Beifall bei der FDP)
grationshintergrund nicht ausreichend wahrgenommen
werden können, weil die notwendigen Mittel fehlen. Ich Präsident Dr. Norbert Lammert:
halte es für wichtig, dass Sie sich als Frauen- und Fami- Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Spanier für
lienministerin gerade um diese Möglichkeiten verstärkt die SPD-Fraktion.
kümmern. Das Abhalten eines Integrationsgipfels reicht
(B) eben nicht aus. (Beifall bei der SPD) (D)
(Beifall bei der FDP)
Wolfgang Spanier (SPD):
An dieser Stelle möchte ich auf etwas hinweisen, was Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
mich in der jüngsten Berichterstattung sehr erschüttert Kolleginnen und Kollegen! Gerade in Haushaltsdebatten
hat. Die Situation muslimischer Frauen ist mittlerweile ist es sehr schwer, Wiederholungen zu vermeiden. Auch
so schwierig, dass sich eine Anwältin in Berlin, die diese ich werde es nicht schaffen; aber ich erlaube mir deswe-
Frauen vertritt, nicht mehr in der Lage sieht, ihren Beruf gen, auf die grundsätzlichen Fragen nicht näher einzuge-
auszuüben, weil sie ebenfalls Angriffen ausgesetzt ist. hen.
Ich meine, dass die Frauenministerin der Bundesrepu-
blik zu diesem Thema etwas hätte sagen müssen. Frau Ministerin von der Leyen ist auf die demografi-
sche Entwicklung und deren Auswirkungen eingegan-
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ gen. Das erspare ich mir.
DIE GRÜNEN)
Ich will mich auf einige wenige Punkte konzentrieren.
Es ist nach meinem Dafürhalten eine sehr bedenkliche Frau Ministerin, ich möchte – Sie ahnen es wahrschein-
Entwicklung, wenn eine Anwältin, die als Mitglied der lich – eine Anmerkung zur Seniorenpolitik machen. Sie
Anwaltschaft Organ der deutschen Rechtspflege ist, ih- haben vorhin mit Vehemenz, ja geradezu mit Verve von
ren Beruf wegen integrationspolitisch fragwürdigen Zu- den Potenzialen, der Leistungsfähigkeit und den Kompe-
ständen in Deutschland aufgibt. Wir müssen in dieser tenzen der Älteren gesprochen. Das hat mir gut getan.
Frage ganz intensiv arbeiten. Egal welches Ministerium
oder welcher Ausschuss, wir sind hier als Abgeordnete (Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der
gefordert. SPD)
Vom finanziellen Volumen her geht es – wenn man
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
den Betrag beispielsweise mit dem Zuschuss zur Renten-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
versicherung in Höhe von 78,4 Milliarden Euro ver-
Ich bin der Meinung, dass junge Migrantinnen und gleicht – um eine ganz bescheidene Summe. Es sind ge-
Migranten vom Europäischen Jahr der Chancengleich- rade einmal 10 Millionen Euro. Übrigens bewegen wir
heit für alle 2007 profitieren sollten. Sie haben ausge- uns damit auf dem finanziellen Niveau zuzeiten von Rot-
führt, dass Sie ein Programm „Jugend für Vielfalt und Grün. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe des Ministeriums
Demokratie“ auflegen wollen. Wir hoffen auf ein schlüs- und des zuständigen Ausschusses, dafür zu sorgen, dass
siges Konzept. Das von uns sehr kritisierte so genannte wichtige gesellschaftliche Impulse gegeben werden und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4629
Wolfgang Spanier
(A) dass neue Initiativen, die in der Gesellschaft entstehen, Da es sich hier um einen vagen Begriff handelt, (C)
aufgegriffen und unterstützt werden. möchte ich ein paar weitere Anmerkungen machen. Es
soll sich um einen „offenen Tagestreff“ handeln. Ein we-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) sentlicher Bestandteil ist ferner, dass vier Generationen
Es handelt sich zwar nur um 10 Millionen Euro. Aber berücksichtigt werden müssen. Zuerst habe ich gestutzt.
die damit finanzierten Maßnahmen sind in gesellschafts- Es geht um Kinder und Jugendliche, Erwachsene, die
politischer Hinsicht durchaus wichtig. Älteren, also 50 plus, und die Hochbetagten. Jeder mag
sich einordnen. Ich erachte es als wichtig, dass gleichzei-
Ich will kurz auf drei Bereiche eingehen. Zur Fortset- tig die frühe Förderung von Kindern hier mit verankert
zung der Baumodelle der Alten- und Behinderten- werden soll. Ein entscheidendes Bewertungskriterium
hilfe: Insgesamt sind es nun bundesweit 39 Projekte. ist, dass Ehrenamtliche und Hauptamtliche auf gleicher
Hinzu gekommen sind elf Projekte, die unter der Über- Augenhöhe miteinander umgehen. Dieses Kriterium
schrift „Das intelligente Heim“ laufen. Das finde ich wird sicherlich auch angelegt werden.
sehr gut; denn die Technikunterstützung des Lebens älte-
rer, aber auch behinderter Menschen wird dabei in den (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD])
Blickpunkt gerückt. Auch dabei geht es nur um beschei- Ich bin der Meinung, dass die Entscheidungen, die
dene 2,5 Millionen Euro. Darin stecken aber viele Anre- jetzt anstehen, transparent gemacht werden müssen. In
gungen. Das erinnert mich an Klostergründungen, als meinem Wahlkreis gibt es mehrere Bewerbungen. Ich
Mönche ins Land geschickt wurden, die dann eine breite bin in dieser Angelegenheit völlig neutral.
Öffentlichkeit erreichten.
(Sibylle Laurischk [FDP]: Davon gehe ich
Neu ist das Modellprogramm „Neues Wohnen – Bera- aus!)
tung und Kooperation für mehr Lebensqualität im Al-
ter“. Dessen Budget ist noch kleiner, dennoch ist das ein Die Bewerber werden darauf achten, ob sie wirklich
wichtiger Ansatz. Es sollen zehn Projekte bundesweit gleich behandelt werden. Ich mahne die Gleichbehand-
gefördert werden. Dabei geht es um ganz wichtige The- lung nicht an, sondern setze einfach voraus, dass das
men, neue Kooperationsmodelle, damit auch andere Be- Entscheidungsverfahren die notwendige Transparenz
teiligte in den Stadtquartieren zusammengebracht wer- hat.
den können. Mit dem Projekt „Wohnen im Stadtteil“ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
erreichen wir eine Nähe zum Programm „Soziale Stadt“. der CDU/CSU)
Wir müssen dabei darauf achten, was bezüglich der In-
novationen von überregionaler Bedeutung ist. Auch die- Selbstverständlich gehört dazu, dass wir regelmäßig
(B) ses Programm zielt in die richtige Richtung und wird über den weiteren Fortgang informiert werden. (D)
hoffentlich – ich bin mir sogar sicher – wichtige Impulse Bei der Entscheidung ist es sicherlich hilfreich, dass
geben. eine Kooperationsgruppe eingerichtet wird, die eine Art
Ich kann nicht umhin, auf das Aktionsprogramm Beiratsfunktion übernehmen soll. Vielleicht sollte man
„Mehrgenerationenhaus“ zu sprechen zu kommen. Es aber darüber nachdenken, Frau Ministerin, ob wir wirk-
ist mit 88 Millionen Euro in unserem kleinen Etat ein di- lich noch zwei zusätzliche Gremien brauchen. Brauchen
cker finanzieller Brocken. Man darf die Mehrgeneratio- wir noch einmal einen Nachhaltigkeitsrat? Es gibt im
nenhäuser jedoch nicht mit Erwartungen überfrachten. Deutschen Bundestag einen Beirat für nachhaltige Ent-
Mit ihnen werden wir nicht die Probleme und Verwer- wicklung. Warum soll er sich nicht auch mit unseren
fungen unserer Gesellschaft lösen können, das erwartet Themen befassen? Wir haben einen Nachhaltigkeitsrat
auch niemand. Der Ansatz ist jedoch richtig und da er bei der Bundesregierung verankert. Man sollte noch ein-
heute schon mehrfach beschrieben worden ist, werde ich mal darüber nachdenken, ob ein zusätzlicher Nachhaltig-
nicht weiter darauf eingehen. Stattdessen will ich ein keitsrat nicht überflüssig ist. Wenn das Kompetenznetz-
paar konkrete Anmerkungen machen. werk wirklich ein neues Gremium wird, sozusagen
institutionalisiert wird, dann hätte ich meine Bedenken.
Die ersten 50 Mehrgenerationenhäuser sollen dem- Hingegen Fachleute zusammenbringen, das kann man
nächst bewilligt werden. Die Bewerbungen laufen. Ich machen. Das wollte ich mit auf den Weg geben. Zu ei-
habe mir sagen lassen, dass eine große Anzahl von nem „lernenden Programm“ gehört auch, dass man kriti-
Onlinebewerbungen eingegangen ist. Das ist sehr erfreu- sche Nachfragen stellen kann und das eine oder andere
lich. Bis zum 20. September läuft die erste Tranche. Ich überprüft.
bin darauf gespannt, wie die Beurteilung ausfallen wird.
Wir werden uns mit der Lage der älteren Generation
Ich hoffe, wir stimmen darin überein, dass es sich hier
sicherlich noch ausführlicher befassen, wenn wir den
um ein lernendes Programm handelt und man auch prü-
Fünften Bericht zur Lage der älteren Generation hier im
fen sollte, ob es wirklich 27 Kriterien sein müssen, die
Haus diskutieren.
man bei der konkreten Vergabe einhalten muss. Ich
möchte darum bitten, die Erfahrungen aus der ersten (Sibylle Laurischk [FDP]: Hoffentlich bald!)
Tranche zu nutzen, um hier möglicherweise wichtige
Veränderungen vornehmen zu können. – Da gebe ich Ihnen Recht. – Deswegen möchte ich zwei
Anregungen geben. Die Situation der älteren Migranten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist ein Schwerpunkt in dem fünften Altenbericht. Man
der CDU/CSU) sollte auch einmal auf die Lage der älteren Menschen
4630 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Wolfgang Spanier
(A) mit geistiger Behinderung eingehen. Es hat historische druck, dass Sie damit nicht die Familien von Geringver- (C)
Gründe, auf die ich nicht näher eingehen muss, dass jetzt dienenden, Erwerbslosen, Studierenden und Auszubil-
zum ersten Mal Menschen mit geistiger Behinderung in denden meinen.
das Seniorenalter hineinwachsen. Wir sollten überlegen,
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das
ob wir Impulse setzen können, um die besonderen Be-
stimmt doch gar nicht!)
dürfnisse dieser älteren Menschen zu berücksichtigen.
Ich finde einige Ihrer Grundgedanken richtig. Sie erklä-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
ren, dass Sie bei der Drehscheibe Mehrgenerationen-
bei Abgeordneten der LINKEN)
haus sozialpolitische Maßnahmen mit arbeitsmarktpoliti-
Ganz zum Schluss noch eine Bemerkung, die ich mir schen Instrumenten verbinden wollen. Herausgekommen
nicht verkneifen kann. Als ich zur Einbringung des ist allerdings eine Mischung aus einem ausgeweiteten
Haushalts 2006 eine kleine Rede halten durfte, bin ich Niedriglohnsektor und ehrenamtlicher Arbeit. Ihr
auf das Heimgesetz eingegangen. Wir waren uns alle ei- Dienstleistungsunternehmen Mehrgenerationenhaus ist
nig, wie das geregelt werden sollte. nichts anderes als eine moderne Fassung der alten
Dienstmädchengesellschaft.
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Das Heimgesetz muss Bun- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
desrecht bleiben!)
Auch die Leute, die zu Armutslöhnen diese Arbeit ver-
Mittlerweile ist die Föderalismusreform in Kraft. Leider richten müssen, haben oftmals Kinder, die dann wieder
hat es sich ergeben, dass die Länder mit 14 : 2 Stimmen im Schatten der Armut groß werden müssen.
nicht bereit waren, auf unsere übereinstimmende Vor-
stellung einzugehen. (Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund
[CDU/CSU]: Blödsinn, dein Name sei PDS! –
(Sibylle Laurischk [FDP]: Leider!) Christel Humme [SPD]: Meinen Sie das alles
ernst?)
Das ist bedauerlich. Wir hätten die Chance gehabt, nicht
nur die stationäre Altenhilfe, sondern auch die ambu- Für Sie, Frau von der Leyen, ist das Mehrgenerationen-
lante Altenhilfe durch eine Modifizierung des Heimge- haus eine Antwort auf das Verschwinden der traditionel-
setzes zu fördern und zu unterstützen. Ich hoffe, dass die len Großfamilie. Sie wollen auf der einen Seite künstlich
16 Länderparlamente diese Aufgabe sobald wie möglich Familien erzeugen, auf der anderen Seite werden Fami-
in Angriff nehmen. Da wir alle den Ländern und den lien durch eine völlig verfehlte Arbeitsmarktpolitik zer-
Länderparlamenten zumindest parteipolitisch verbun- rissen. In Sachsen-Anhalt ist das völlig normal. Für die
den sind, würde ich Sie bitten, das zu unterstützen. Niedrigverdienenden ist es zumutbar, dass sie von ihren
(B) (D)
Familien getrennt werden.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) In meinem Bekanntenkreis ist ein fünffacher Fami-
lienvater mehrere Jahre lang quer durch die Bundesrepu-
blik zu verschiedenen Arbeitsorten gefahren, um seine
Präsident Dr. Norbert Lammert: Familie zu versorgen.
Das Wort erhält nun die Kollegin Elke Reinke, Frak-
tion Die Linke. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja, und?!)
(Beifall bei der LINKEN) Vor einem Jahr hat er seine Arbeit verloren. Jetzt hat er
Zeit und er hat neue Zukunftsängste. Die Bundesagentur
für Arbeit fordert ihn jetzt auf, seine Wohnung zu verlas-
Elke Reinke (DIE LINKE):
sen, weil sie nicht mehr angemessen ist. Jahrelang hat er
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
versucht, diesen Wohnsitz zu erhalten. Er hat alles ver-
gen! Frau von der Leyen, Sie haben sich für Ihre Regie-
sucht, damit seine Familie in diesem Umfeld bleiben
rungszeit große Ziele gesteckt. Sie wollen junge Fami-
kann. Nun wird sie aus diesem sozialen Umfeld heraus-
lien in der Phase der Familiengründung unterstützen
gerissen. Die Agentur wird ihm auch keine neue Stelle
– sprich: Elterngeld eingeführt –, den Zusammenhalt
vermitteln, weil es genug jüngere Arbeitssuchende gibt,
zwischen den Generationen mit den Mehrgenerationen-
die nun ebenfalls wochenlang durch die Republik reisen.
häusern stärken und Sie wollen sich mehr um die Kinder
Wie erklärt er seinem ältesten Sohn, dass er jetzt eine
kümmern, die auf der Schattenseite des Lebens geboren
Genehmigung braucht, wenn er aus dem Haushalt der
wurden.
Eltern ausziehen will?
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
Nur zur Erinnerung: Durch den Arbeitslosengeld-II-
Über das erschreckende Ausmaß der bestehenden Kin- Bezug des Vaters ist die Familie jetzt eine Bedarfsge-
derarmut hat meine Kollegin Diana Golze bereits ge- meinschaft. Nun kommen Sie mir nicht damit, dass Sie
sprochen. An Ihrer Stelle, Frau Ministerin, hätte ich sagen: Das ist ein Einzelfall. Ich kann Ihnen etliche die-
mich zuerst dieser Herausforderung gestellt. Ich bin sehr ser Fälle schildern; daran sind Familien zerbrochen.
gespannt, welche Antworten Ihr Ministerium auf dieses Wenn Sie mit offenen Augen durch Ihren Wahlkreis ge-
dringende Problem entwickelt. hen, dann werden Sie Fälle dieser Art sicherlich eben-
falls sehen.
Frau Ministerin, Sie haben erreicht, dass wieder mehr
über Familien gesprochen wird. Ich habe aber den Ein- (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4631
Elke Reinke
(A) Machen wir es uns nicht zu einfach. Als gewählte Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
Volksvertreter sollten wir Probleme offen benennen. Un- Das Wort hat nun die Kollegin Monika Lazar, Bünd-
bequeme Wahrheiten auszusprechen, ist kein Populis- nis 90/Die Grünen.
mus, im Gegenteil: Unsere Wähler und Wählerinnen
erwarten klare Worte. Ihre Ankündigung zu den Mehr- Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
generationenhäusern hat ein reges Interesse bei vielen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freien Trägern und sozialen Institutionen hervorgerufen. möchte mich in meinem Beitrag auf das Bundespro-
Sie hofften auf qualifizierte Arbeitsplätze und auf finan- gramm gegen Rechtsextremismus, für Vielfalt und
zielle Unterstützung, um neue Projekte zu entwickeln Toleranz beziehen. Frau Bundesministerin von der
bzw. um bestehende auszubauen. Das war in meinem Leyen hat dankenswerterweise schon dieses neue Pro-
Wahlkreis nicht anders. gramm erwähnt. Allerdings ist die Aussicht für viele Ak-
Doch nach genauem Studium der Ausschreibungsun- teure leider nicht so rosig, wie das hier geschildert
terlagen blieb von der geweckten Erwartung nicht allzu wurde.
viel übrig. Eine Förderhöhe von jährlich 40 000 Euro für Nach monatelanger Unklarheit darüber, ob das Geld
ein Projekt hört sich nach sehr viel an. Von diesem Be- ganz gestrichen, gekürzt oder für neue Inhalte ausgege-
trag sind 50 Prozent für Personalkosten vorgesehen. Da- ben werden soll, blieb der Ansatz für 2007 nun doch be-
von kann man gerade einmal eine halbe Stelle finanzie- stehen. Das ist erfreulich. Aber wie geht es jetzt weiter?
ren, wenn man nach Tarif zahlt. Die Förderung ist
teilweise an fragwürdige Bedingungen gebunden. Pro- Ende 2006 laufen die bisherigen Bundesprogramme
jektteilnehmer werden unter anderem aufgefordert, Wer- „Civitas“ und „Entimon“ nach fünfjähriger Modellphase
befahrten zu anderen Mehrgenerationenhäusern zu ver- aus. Diese Modellphase war ausgesprochen erfolgreich.
anstalten. Das Ganze ist also nichts anderes als eine gut Bürgerinnen und Bürger lernten in Projekten vor Ort,
durchdachte Propagandaveranstaltung für Ihr Ministe- Zivilcourage zu zeigen. Es gab Aufklärung, unter ande-
rium. rem in Schulen und Behörden. Opfer rechtsextremer Ge-
walt bekamen endlich spezifische Hilfe. Viel Erfahrung
(Beifall bei der LINKEN) und Fachwissen liegen jetzt vor. Der Bund ist nun in der
Verantwortung, die gewachsenen Strukturen auch wei-
Ihr Mehrgenerationenhaus könnte – aber nur, wenn es
terhin zu unterstützen.
finanziell solide ausgestattet wäre – als ein soziales Zen-
trum funktionieren. Hier könnten Jüngere und Ältere, (Iris Gleicke [SPD]: Vor allen Dingen aber auch
Menschen mit und ohne Behinderung lernen, respektvoll die Länder, Frau Kollegin! Thüringen!)
und gleichberechtigt zusammenzuleben.
(B) – Selbstverständlich. Darüber sind wir uns einig. (D)
Es gibt viele Tätigkeitsfelder, durch die Familien un-
(Iris Gleicke [SPD]: Gut!)
terstützt werden können und durch die gleichzeitig neue
Erwerbsarbeit entsteht, die so dringend benötigt wird. Das ist doch überhaupt kein Problem. Ich bin ja erst am
Sie argumentieren, dass sich viele ältere Bürger mehr so- Anfang; darauf komme ich noch.
ziale Nähe wünschen und gerne gebraucht werden wol-
Bundesfinanzmittel zur Stärkung der Zivilgesellschaft
len. Senioren bieten nicht nur Hilfe an. Immer mehr
sind im Entwurf 2007 wieder eingeplant. Die entschei-
ältere Menschen brauchen Unterstützung, weil das Pro-
dende Frage ist: Für welche Projekte und auf welchem
blem der Altersarmut immer prekärer wird. Diese Ent-
Weg soll dieses Geld ausgegeben werden? Dazu sind die
wicklung hat Ihre Regierung mit der Fortentwicklung
Vorstellungen der Bundesregierung leider noch unkon-
von Hartz IV und der Halbierung der Rentenbeiträge für
kret. Was wird etwa aus den mobilen Beratungsteams,
ALG-II-Empfänger verstärkt.
den Netzwerkstellen und der Opferberatung
Wenn die Regierung keine armutsfesten Min- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
destrenten einführt, dann werden Ihre Mehrgeneratio- der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])
nenhäuser noch einen ganz anderen Schwerpunkt be-
kommen: Ältere Menschen müssen untereinander die und was aus Aussteigerprojekten wie „Exit“? Für sie
Solidarität ersetzen, die die Gesellschaft ihnen gegen- geht die Zitterpartei weiter, auch wenn im Haushalt die
über nicht mehr aufbringt. gleiche Summe zur Verfügung stehen wird. Viele Träger
sind stark verunsichert, müssen Büros schließen und sich
(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei arbeitslos melden; Kollegin Golze hat dankenswerter-
Abgeordneten der SPD) weise auch darauf schon hingewiesen. Sollen sich etwa
Ein Dialog zwischen den Generationen ist notwendig. die Rechtsextremen ab dem nächsten Jahr freuen, wenn
Dazu muss der Staat keinen künstlichen Familienersatz die engagierten Aufklärer nicht mehr vorhanden sind?
schaffen. Sie können sich ein Programm in dieser Form Ich kann und will mir das nicht vorstellen.
sparen. Sie könnten mit diesem Geld dem Ziel einer be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
darfsdeckenden und beitragsfreien Kinderbetreuung ein des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE])
großes Stück näher kommen.
Natürlich müssen sich auch die Länder an der Finan-
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. zierung angemessen beteiligen.
(Beifall bei der LINKEN) (Iris Gleicke [SPD]: Allerdings!)
4632 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Monika Lazar
(A) Wir wissen, dass nicht alle das tun. Thüringen gibt da kleinteiliger Veranstaltungen … organisiert. Dabei (C)
leider ein sehr schlechtes Beispiel. haben uns die kompetenten Mitarbeiter des mobilen
Beratungsteams … durch Detailkenntnis und Kom-
(Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) petenz geholfen. Wir halten deren Arbeit in Meck-
Ich hoffe, ab nächstem Jahr tut sich da etwas. Aber es lenburg-Vorpommern auch in der Zukunft für uner-
sieht nicht allzu gut aus. lässlich und wünschen uns, dass der Bund hier auch
künftig seinen finanziellen Beitrag leistet.
In Sachsen zum Beispiel haben etliche Projekte Geld
aus dem Programm „Weltoffenes Sachsen“ erhalten, Das ist eine sehr eindeutige Aussage.
aber oft erst, nachdem dieses durch das Bundespro-
Leider gibt es noch keine Antwort von der Bundes-
gramm „Civitas“ gefördert wurde. Durch das neue Bun-
kanzlerin. Ich hoffe, sie will nicht abwarten, ob die NPD
desprogramm, das Anfang 2007 beginnt, entsteht aber
am 17. September in den Landtag von Mecklenburg-
ein Übergangszeitraum. Dann wird es für die Projekte
Vorpommern einzieht, um dann gegebenenfalls hektisch
schwierig, da es Anfang des Jahres Zusagen weder vom
zu reagieren.
Bund noch vom Land gibt. Diese Lücke muss noch ge-
schlossen werden. Ich hoffe ebenfalls, die Bundesregierung findet recht-
zeitig Lösungen für die Strukturprojekte, damit sie sich
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ganz auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren können
Auch beim Antragsverfahren sind Veränderungen und nicht länger als Bittsteller von Tür zu Tür laufen
angedacht. Künftig sollen nur noch die Kommunen An- müssen. So viel sollte unsere Demokratie uns allen wert
träge auf Fördergelder stellen dürfen. Ich halte es für sein. Alle Bürgerinnen und Bürger müssen sich für un-
richtig, dass die Verantwortung der Kommunen gestärkt sere Demokratie einsetzen. Auch die Politik muss ihre
wird. Leider aber sind viele Kommunen und Landkreise Aufgaben erledigen. Wir haben jetzt die Chance, Zivil-
oft noch Teil des Problems. Ihnen fehlt die Sensibilität courage nicht nur moralisch, sondern auch finanziell zu
für das Thema oder, schlimmer noch, sie teilen die An- unterstützen.
sichten. Gerade dort aber ist die Arbeit gegen Rechts-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
extremismus nach wie vor notwendig. Wenn jedoch freie
sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg.
Träger selbst keine Förderanträge mehr stellen können,
Frank Spieth [DIE LINKE])
besteht die Gefahr, dass sie zu Bittstellern werden.
Deshalb brauchen wir ein gemeinsames Recht für Präsident Dr. Norbert Lammert:
Kommunen und Träger vor Ort, Fördermittel zu beantra- Ich erteile das Wort dem Kollegen Johannes Sing-
(B) gen. hammer, CDU/CSU-Fraktion. (D)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall bei der CDU/CSU)
der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])
Nur so können sich beide auf Augenhöhe gleichberech- Johannes Singhammer (CDU/CSU):
tigt gegenüberstehen. Nur so wird es auch eine inhaltli- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
che Auseinandersetzung geben, die gleichberechtigt ab- ren! Die Familie steht vor einer Renaissance. Wir wollen
laufen kann. diejenigen unterstützen, die in einer Familie zusammen-
Es gibt in den Ländern und Kommunen viele Aktio- leben. Die erste finanzwirksame Entscheidung des Haus-
nen, um die Zukunft der Strukturprojekte abzusichern. halts 2006 war die bessere steuerliche Anrechenbarkeit
Aktiv sind dabei Menschen aus allen demokratischen der Kinderbetreuung. In diesem Haushalt, dem Haushalt
Parteien. Zum Beispiel hat die CDU-Landtagsfraktion 2007, spielt das Elterngeld eine zentrale Rolle.
von Mecklenburg-Vorpommern in einem Brief vom Wir wollen – und tun das auch – eine moderne Fami-
15. August an Bundeskanzlerin Merkel geschrieben lienpolitik betreiben, allerdings keine Familienpolitik
– ich zitiere –: ohne Grundsätze. Wir wissen, Familie ist nicht das Idyll
Leider zeigt sich, dass die demokratische Grund- im Winkel. Harte Realität ist auch, dass immer mehr
ordnung in unserem Land noch nicht tief genug ver- Ehen geschieden und weniger geschlossen werden, viele
ankert ist, als dass sie nicht doch noch ins Wanken Menschen zeitlebens kinderlos bleiben und die Öffent-
geraten kann. lichkeit immer öfter über spektakuläre Fälle von Kindes-
misshandlung diskutiert.
Diese Warnung sollte auch die Bundesregierung ernst
nehmen und den gefährlichsten Feinden unserer Demo- Für die ganz große Mehrheit der Menschen in
kratie, den Rechtsextremen, keinen Raum lassen. Zu die- Deutschland ist das Zusammenleben in der Familie
sem Kampf gehört, die Initiativen zu stärken, inhaltlich trotzdem erwünscht, erhofft und auch alternativlos. In ei-
und finanziell. ner vor kurzem veröffentlichten Umfrage des Allens-
bach-Instituts wurde untersucht, welche Gruppe sich als
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) besonders glücklich empfinde. Ich glaube, es erstaunt
In dem Brief heißt es weiter: wenig, dass sich vor allem Eltern mit kleinen Kindern
trotz aller Probleme als besonders glückliche Gruppe
In den letzten Monaten hat die CDU-Landtagsfrak- empfinden. Deshalb macht es Sinn, Familienpolitik zu
tion mit unterschiedlichen Partnern eine Reihe betreiben und diese als roten Faden zu betrachten. Denn
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4633
Johannes Singhammer
(A) wenn es den Familien in unserem Land gut geht, dann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (C)
geht es auch unserem Land gut. der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Gerade diese Frage wird sich vermehrt im Zusammen-
hang mit der Einführung des Elterngeldes stellen.
Wir wissen, dass sich die Lebensmodelle von Fami-
lien in den vergangen Jahrzehnten mehr verändert haben Eines sage ich Ihnen aber auch – um einmal Wahlfrei-
als in den vergangenen Jahrhunderten. heit an einem praktischen Beispiel zu dokumentieren –:
Frau Haßelmann, Sie haben das Ehegattensplitting an-
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE gesprochen. Sie wollen das Ehegattensplitting zum Teil
GRÜNEN]: Dann müssen Sie darauf reagie- schleifen
ren!)
(Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/
Dem tragen wir Rechnung: mit der Einführung des El- DIE GRÜNEN]: Schleifen? – Sibylle Lau-
terngelds, mit der Förderung der besseren Vereinbarkeit rischk [FDP]: Das ist ein Vorschlag der CDU/
von Familie und Beruf, mit dem besseren Schutz von CSU! Der Vorschlag kommt aus Ihren Rei-
Kindern vor Vernachlässigung und mit der besseren Ein- hen!)
bindung der älteren Generation durch die Nutzbarma-
chung der Potenziale des Alters vor dem Hintergrund ei- und begründen das mit einem besonderen Zugewinn an
ner veränderten demografischen Alterspyramide. Humanität. Ich bitte Sie, auch einmal an die Millionen
von Frauen zu denken, die in der Vergangenheit einen
Wichtig ist aber auch – lassen Sie mich das an dieser anderen Lebensentwurf gewählt haben
Stelle sagen –, dass es beim Haushalt, bei der Einbrin-
gung des Haushalts, der Diskussion darüber und der Ent- (Nicolette Kressl [SPD]: Aber nicht immer
scheidung über die Ausgaben, nicht ausschließlich da- freiwillig! – Sibylle Laurischk [FDP]: Die
rum geht, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und zu nach zehn Jahren Ehe zu mir sagen: Hätte ich
verwalten, sondern auch darum, zu gestalten. Zum Ge- das gewusst!)
stalten gehört, dass nicht auf Leitbilder verzichtet wird. und die jetzt, nachdem die Kinder aus dem Haus sind
Familienpolitik und Leitbilder gehören zusammen. Es – Sie wollen ja das Ehegattensplitting erkennbar daran
lohnt sich, die Leitbilder wieder in den Fokus zu rücken, knüpfen, ob Kinder im Haus sind oder nicht – und weil
die unser Grundgesetz aus gutem Grund gewählt hat. In sie sich ganz der Kindererziehung gewidmet haben, ein
Art. 6 des Grundgesetzes steht: wesentlich geringeres Alterseinkommen haben als ihr
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Ehemann. Wenn Sie das Ehegattensplitting jetzt schlei-
(B) Schutze der staatlichen Ordnung. fen, dann treffen Sie Millionen dieser Frauen. Das ist (D)
kein Zugewinn an Humanität, sondern – das sage ich Ih-
Das ist auch gut so. nen an dieser Stelle – eine ganz grobe Ungerechtigkeit.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU)
GRÜNEN]: Ah! Jetzt kommen wir mal zur Sa-
che!)
Präsident Dr. Norbert Lammert:
– Wenn Sie die Verfassung ändern wollen, sollten Sie Herr Kollege Singhammer, gestatten Sie eine Zwi-
das hier sagen. Wir wollen das nicht. schenfrage der Kollegin Deligöz?
(Beifall bei der CDU/CSU)
Johannes Singhammer (CDU/CSU):
Wir folgen dem Grundsatz der Wahlfreiheit. Ich gestatte eine Zwischenfrage, wenn Sie die richtige
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frage stellen, Frau Deligöz.
NEN]: Aber Herr Singhammer, das steht da (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Krista Sager
nicht drin!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben
– Gleich komme ich noch zu Ihnen. nicht Sie zu entscheiden!)
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Drohen Sie uns bitte nicht!)
Herr Singhammer, ich stelle Ihnen immer die richtige
Der Grundsatz der Wahlfreiheit bedeutet für uns vor Frage; das wissen Sie doch.
allem, dass es in der Verantwortung der Eltern liegt, wie
sie ihre Kinder betreuen und erziehen. Geben Sie mir Recht, wenn ich sage: Eine Familie mit
zwei Einkommen – die Frau ist womöglich als Verkäufe-
Für uns ist es wichtig, dass sich die Väter und Mütter rin im Supermarkt tätig, der Mann als Fernfahrer; beide
entscheiden können, ob sie sich ganz der Familie wid- verdienen also nicht viel – hat, obwohl beide Ehepartner
men oder wie sie Familie und Erwerbsarbeit miteinander arbeiten, um ihrer Familie einen Mindestunterhalt zu ge-
verbinden. Wir haben in der Vergangenheit überwiegend währleisten – denn beide sind keine Großverdiener –,
auf die Betreuung der Kinder innerhalb der Familie ge- nichts vom Ehegattensplitting. Denn bei einem etwa
setzt. Wegen der veränderten gesellschaftlichen Bedin- gleich hohen Einkommen ist der Betrag, der sich aus
gungen fördern wir heute zugleich die Betreuung außer- dem Ehegattensplitting ergibt, für diese Familie null. Im
halb der Familie. gleichen Zug hat ein sehr gut verdienender Ehemann
4634 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ekin Deligöz
(A) – ein Bundestagsabgeordneter, sagt meine Kollegin Johannes Singhammer (CDU/CSU): (C)
Schewe-Gerigk – mit einer Frau, die nicht erwerbstätig Frau Kollegin Deligöz, ich werde mich bemühen, Ihre
und zu Hause ist, bei diesem Einkommen Vorteile von Fragen umfassend zu beantworten.
bis zu 8 000 Euro, und dies auch ohne Kinder.
Zunächst einmal haben Sie danach gefragt, ob das
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ehegattensplitting bei dem von Ihnen skizzierten Bei-
NEN]: Das weiß Herr Singhammer!) spiel eines Ehepaares, das über ein gleich hohes Ein-
kommen verfügt, zu Begünstigungen führt.
Dies ist ungerecht gegenüber Kinder erziehenden Eltern,
die trotz ihres niedrigen Einkommens die Kosten für ihre (Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Kinder tragen müssen. NEN]: Das ist null!)
Stimmen Sie mir darin zu, dass es ein Aspekt der Ge- Das ist ganz klar zu beantworten – das ist nichts
rechtigkeit ist, Familien, die die Verantwortung überneh- Neues –: In diesem Fall nicht.
men, Kinder zu erziehen, staatlich mehr zu unterstützen
als diejenigen, die keine Kinder haben! Das müsste doch Dann haben Sie danach gefragt, ob es gerecht sei,
eigentlich auch in Ihrem Programm stehen. Denn auch wenn ein Partner mehr und der andere weniger verdient
Sie definieren „Familie“ als den Ort, wo Menschen mit- und diese Unterschiede im Rahmen des Ehegattensplit-
einander und füreinander Verantwortung übernehmen. tings als Vorteil zu Buche schlagen. Dazu möchte ich Ih-
nen sagen, dass dieses Zerrbild, das hier gelegentlich
gemalt wird – oft werden der Zahnarzt und die Zahnarzt-
Präsident Dr. Norbert Lammert: gattin bemüht, die aus dem Vorteil, den das Ehegatten-
Frau Kollegin, Sie hatten sich zu einer Zwischenfrage splitting bietet, Tennisstunden bezahlen kann –, so nicht
gemeldet. zutrifft. In einer Untersuchung wurde vor kurzem ganz
klar festgestellt, dass das Ehegattensplitting zielgenau
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Familien mit Kindern Vorteile bringt. Damit dient es
Das ist eine Zwischenfrage. Ich würde gern wissen, genau der Gruppe, der es dienen soll. Dabei bleibt es.
ob mir Herr Singhammer da zustimmt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Präsident Dr. Norbert Lammert: NEN – Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE
Wenn ich mir nicht notiert hätte, dass ich Ihnen zu ei- GRÜNEN]: Das stimmt nicht!)
ner Zwischenfrage das Wort erteilt habe, könnte ich das – Ob Ihnen das passt oder nicht: Es ist so.
(B) gar nicht mehr als solche erkennen. (D)
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto
(Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und Solms)
der FDP)
Es kommt noch ein entscheidender Grund hinzu. Ehe-
Deswegen wäre es gut, wenn nach der bestellten guten partner übernehmen in der Ehe eine ganz besondere
Frage nun auch eine gute Antwort erfolgte. Verantwortung füreinander, auch unterhaltsrechtlich.
Deshalb ist es richtig – das Bundesverfassungsgericht
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hat dies wiederholt festgestellt –, dass diese besondere
Ich habe ja von Ihnen gelernt, dass gut Ding Weile Verpflichtung einen besonderen Schutz braucht. Des-
braucht, Herr Lammert. Von daher stelle ich jetzt meine halb ist das Ehegattensplitting zu Recht eingeführt wor-
Frage. den. – Ich denke, ich habe Ihre Fragen damit gut beant-
wortet.
(Zuruf der Abg. Krista Sager [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
– Das war liebenswürdig von mir gemeint. Schlecht beantwortet! – Weiterer Zuruf vom
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Und die Quelle
Präsident Dr. Norbert Lammert: der Untersuchung?)
Das hat auch jeder so verstanden. Es muss jetzt auch Wahlfreiheit – ich möchte auf diesen Punkt zurück-
wirklich damit sein Bewenden haben. Der Kollege Sing- kommen – erfordert natürlich auch finanzielle Gerech-
hammer sollte den Teil der Ausführungen, die er als tigkeit für Familien. Das ist heute schon angesprochen
Frage verstanden hat, beantworten. worden.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
wie bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Singhammer, es gibt noch eine Zwi-
Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schenfrage der Kollegin Lenke.
Dann stelle ich meine Frage: Wie vereinbaren Sie das
mit Ihren CSU-Grundsätzen? Diese Gerechtigkeitsfrage Johannes Singhammer (CDU/CSU):
würde mich sehr interessieren. Aber sehr gerne.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4635
(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sorge trägt – das ist weiß Gott ein schwieriges Unterfan- (C)
Bitte schön. gen –, sollte der süßen Versuchung erliegen, durch im-
mer weniger Kinder sich zu immer mehr Einsparungen
Ina Lenke (FDP): auf dem Rücken der Familien verführen zu lassen. Zu
Herr Singhammer, ich möchte noch einmal auf das Ende gedacht würde diese Form des Einsparens uns alle
Ehegattensplitting zurückkommen. Sie sagen, die Ehe frösteln lassen. Eine derartige Rendite – das Wort traut
solle geschützt werden und Kinder sollten vom Staat ge- man sich in diesem Zusammenhang gar nicht in den
fördert werden. In meiner Frage geht es um die finan- Mund zu nehmen – wäre zynisch und alles andere als
zielle Förderung der Kinder durch den Staat. klug.
Bitte beantworten Sie mir die Fragen: Finden Sie es Moderne Familienpolitik auf Grundlage eines fami-
richtig, dass Alleinerziehende mit Kindern vom Ehegat- lienpolitischen Leitbildes wird den Herausforderungen
tensplitting nicht profitieren? Finden Sie es weiterhin am besten gerecht. Ich möchte zum Schluss an dieser
richtig, dass auch eine Frau, die genauso viel verdient Stelle der Familienministerin herzlich danken. Ihr ist es
wie ihr Mann und die gleichzeitig die Kinder erzieht, in den vergangenen Monaten gelungen, die Familien-
keinen Vorteil durch das Ehegattensplitting hat? politik dahin zu bringen, wo sie hingehört, nämlich ins
Zentrum des politischen Geschehens.
Das Ehegattensplitting wurde vor 30 oder 40 Jahren
eingeführt, als die Ehefrau zu Hause blieb, Kinder be- Vielen Dank.
kam und Kinder erzog, während der Ehemann erwerbs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
tätig war. Sind Sie mit mir darin einig, dass wir jetzt eine neten der SPD)
Vielfalt von Lebensgemeinschaften haben, auf die die-
ses von Ihnen vielleicht präferierte Modell nicht passt?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Christel Humme [SPD]: Frau Lenke, das ist Das Wort hat jetzt der Kollege Otto Fricke von der
aber nicht die Position der FDP!) FDP-Fraktion.
Otto Fricke
(A) Insofern ist das nichts Neues und nichts Besonderes. Ich komme – Herr Singhammer hat es gerade in einer (C)
Sie haben die Hoffnung geäußert, dass das Geld nun tat- Weise angesprochen, der ich nicht ganz zustimmen
sächlich auch richtig eingesetzt wird. Ich kann nur davon kann – zu dem Buch, das heute vorgestellt worden ist.
abraten, die Antidiskriminierungsstelle im nächsten Jahr
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
schon in Kraft zu setzen. Ich sehe, dass wir in den Minis-
DIE GRÜNEN: Um Gottes willen! – Nein! –
terien schon am ersten Korrekturgesetz – wahrscheinlich
Christel Humme [SPD]: Warum quälen Sie
auch am zweiten Korrekturgesetz – arbeiten, weil so viel
uns?)
Murks gemacht worden ist. Die Justizministerin hat in
der Debatte sogar indirekt zugegeben, dass diese Stelle – Welche Reaktionen! Keine Angst! Ich halte von der
erst dann kommen sollte, wenn das Gesetz auch in der Position von Frau Herman nichts. Aber ein Bundestag,
Form vorliegt, wie es im Übrigen von den Koalitions- der sich mit der Frage, warum dieses Buch so gut läuft,
fraktionen tatsächlich gewollt ist, und nicht, wie es nicht beschäftigt, der macht einen Fehler.
fälschlicherweise beschlossen worden ist.
(Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜND-
(Christel Humme [SPD]: Komische Interpreta- NIS 90/DIE GRÜNEN)
tion von Politik!) Der Jurist sagt: Hör immer der anderen Seite zu! Das gilt
auch hier, auch wenn das nicht mein Familienbild und
Ich komme zum Elterngeld: Ja, es ist richtig, es ist
nicht mein Frauenbild ist! Emanzipation ist meiner Mei-
gut, dass dieses Elterngeld kommt. Aber was ist denn
nung nach dringend notwendig gewesen. Sie zurückzu-
das Elterngeld? Da habe ich ein Problem. Dient es der
drehen wäre ein Fehler für unsere Gesellschaft. Aber Sie
Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder ist es, wie ich machen die Rollladen runter und sagen: Das ist schlecht.
oft höre, eine Sozialleistung? Das macht sich deutlich Auch das ist ein Fehler. Schauen Sie lieber nach, wo die
fest an der Frage des Elterngeldes für Hartz-IV-Empfän- falschen Denkansätze in diesem Bereich liegen! Wo
ger. läuft es falsch? Dann müssten Sie eines sehen: Weder
Sie können mich jetzt in die böse Ecke stellen und be- von konservativer noch von sozialdemokratischer Seite
haupten, ich würde es den Hartz-IV-Empfängern nicht kann ein bestimmtes Familienbild vorgegeben werden.
gönnen, dass sie Elterngeld bekommen. Wenn das El- In diesem Land muss jeder Bürger im Bereich Familie
terngeld die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zum die für ihn richtige Lösung finden. Tut er das nicht, wird
Ziel hat, dann dürfen wir es bei Hartz IV nicht machen. er auf Dauer nicht glücklich sein. Und das ist es doch,
Wenn Sie aber zu dem Ergebnis kommen, dass die was wir erreichen wollen: Wir wollen glückliche und zu-
Hartz-IV-Empfänger mit Kindern zu wenig Geld be- friedene Familien. Jeder soll auf seinem Weg glücklich
(B) kommen und es deswegen für diesen Personenkreis not- werden. (D)
wendig ist, Elterngeld zu geben, dann sollten Sie sagen: (Beifall bei der FDP)
Die Leistungen aus Hartz IV sind für Eltern zu wenig.
Zum Schluss will ich noch etwas zur Seniorenpolitik
(Beifall bei der FDP – Kerstin Griese [SPD]: sagen. Frau Ministerin, es ist richtig – auch Herr Spanier
Man kann Vereinbarkeit auch sozial gestal- hat Recht –, auf diesem Gebiet passiert etwas. Es gibt
ten!) aber ein Problem: Im Bundestag sitzen zu wenig „Äl-
tere“. Herr Spanier hat gesagt, er wäre mit seinen drei-
Das können Sie auch an der Antwort auf die Frage fest- undsechzigeinhalb Jahren schon ein Senior. Das stimmt
machen: Was ist denn nach dem ersten Jahr? Ist es nach doch nicht. Sie stehen doch voll im Leben. Mit „Senior“
dem ersten Jahr, in dem die Leistung gegeben wurde, auf haben Sie mit dreiundsechzigeinhalb Jahren doch noch
einmal so, dass die Eltern, die Hartz-IV-Empfänger sind, nichts zu tun.
genügend Geld haben? Ich glaube kaum, dass Kinder
nach einem Jahr auf einmal weniger Geld kosten. Jeder Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
von uns weiß doch: Je älter Kinder werden, umso mehr Herr Kollege Fricke, erlauben Sie eine Zwischenfrage
Geld kosten sie und umso mehr sollten sie uns auch wert der Kollegin Sager?
sein.
(Beifall bei der FDP – Christel Humme [SPD]: Otto Fricke (FDP):
Diese Sätze verstehen die Familien auf keinen Aber selbstverständlich.
Fall!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
– Sie sagen, das verstünden die Familien nicht. Sie mei-
Frau Sager, bitte.
nen, wenn Sie das Geld rausgeben, verstünde das jeder.
Als Haushälter weiß ich: Wenn ich heute gebe und mor-
gen nichts habe, dann ist das schlecht. Wenn ich heute Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
weniger gebe, aber morgen noch etwas habe, dann ist Danke schön. – Ich möchte auf Ihre Ausführungen
das gut. Das ist wahrscheinlich der Unterschied zwi- von eben zurückkommen. Herr Kollege, viele Frauen be-
schen der Haushaltspolitik Ihrer Art und der Haushalts- klagen zu Recht, dass es verdammt schwer ist, Familie
politik einer liberalen Fraktion. und Beruf unter einen Hut zu bringen. Könnte es sein,
dass der Grund dafür nicht nur im Mangel an Kinderbe-
(Beifall bei der FDP) treuungseinrichtungen und Ganztagsschulen liegt? Müss-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4637
Krista Sager
(A) ten nicht die Unternehmen angesichts des demografi- Die Lesung des Bundeshaushalts ist für die einen ein (C)
schen Wandels deutlich familienfreundlicher werden? sehr trockenes Geschäft. Für die anderen hängt ihre per-
Sollten nicht gerade die Vertreter des Turbokapitalismus sönliche Zukunft daran, weil sie Angestellte einer Ein-
dafür werben, dass die Unternehmen familienfreundli- richtung sind oder weil sie dort nachmittags betreut wer-
cher werden? den bzw. eine warme Mahlzeit erhalten. Manchmal
hängt aber auch die Zukunft einer ganzen Einrichtung
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder des gesamten Bereichs der Kinder- und Jugendhilfe
sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und daran.
der SPD)
Hier wurden bereits einige Informationen über den
Otto Fricke (FDP): Einzelplan preisgegeben. Ich bin in der glücklichen
Lage, Ihnen und denen, die es vor allem betrifft, zu sa-
Liebe Frau Kollegin, bis auf die Aussage zum Turbo- gen, dass es im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik
kapitalismus, die ich nicht ganz einordnen konnte, weil im Vergleich zum Haushalt 2006, den wir vor der parla-
ich nicht weiß, wen Sie damit gemeint haben, mentarischen Sommerpause verabschiedet haben, nur
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kleine Unterschiede gibt. Natürlich hätte ich größere
NEN und bei der SPD) Freude daran gehabt, zu verkünden, dass die Mittel auf-
gestockt wurden. Geld ist aber nicht alles. Es nützt
stimme ich Ihnen ausdrücklich zu. nichts, schlechtem Geld noch gutes Geld hinterher zu
Ich komme auf meinen Redebeitrag zurück. werfen.
Genau das passiert, wenn man keine Ideen mehr hat.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Gerade die sind in der Kinder- und Jugendpolitik mehr
Frau Ministerin, gehen Sie auf das ein, was von den denn je gefragt. Kinder und Jugendliche sind eigenstän-
Senioren in Zukunft erwartet wird. Wenn Sie die Pla- dige Persönlichkeiten mit vielfältigen Fähigkeiten. Sie
nungen von Herrn Müntefering zur Rente mit 67 und zur haben eigene Rechte. Die Stärkung der Persönlichkeit
Hinterbliebenenrente unterstützen, dann sollten Sie den und die individuelle Förderung müssen das Ziel aller
Bürgern sagen, warum das unterstützenswert ist. Halten kinder- und jugendpolitischen Maßnahmen sein.
Sie sich nicht zurück; warten Sie nicht, bis die Wolken
(Beifall bei der SPD)
vorübergezogen sind. Es ist Ihre Aufgabe, klarzuma-
chen, was der Staat zukünftig noch leisten kann. Alle Kinder und Jugendlichen sollen von Anfang an
die gleichen Voraussetzungen erhalten, damit sie die
Es ist fast nicht nötig, Ältere zu fördern. Sie können Chancen haben, ihre vielfältigen Fähigkeiten und Ta-
(B) das nämlich selber. Als Beispiel nenne ich Ihnen unseren (D)
lente zu entwickeln. Unser Ziel ist eine gute Qualität von
Kollegen Schily. Er wird nächstes Jahr 70 Jahre alt und Bildung, Erziehung und Betreuung von Anfang an.
hat im letzten Jahr seine erste Legislaturperiode angetre- Wir brauchen dazu ein Gesamtsystem, das auf die Be-
ten. Wir mussten ihn nicht fördern. Er ist angetreten, dürfnisse von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist.
weil er die entsprechenden Fähigkeiten hatte und sagte: Wenn hier viele kleine Zahnräder ineinander greifen,
Es geht um meinen Einsatz für die Politik. Ihre Aufgabe kann auf einen großen teuren Reifen getrost verzichtet
ist es, den Bürgern in unserer Gesellschaft das klar zu werden.
machen. Wenn Sie das vorhaben, haben Sie unsere Un-
terstützung. Kinder brauchen andere Kinder, um Beziehungserfah-
rungen sammeln zu können. Denn sie sollen sich emo-
Herzlichen Dank. tional, sozial und kognitiv gut entwickeln. Der Ausbau
(Beifall bei der FDP) der Kinderbetreuung ist daher von elementarer Bedeu-
tung. Eine qualifizierte frühe Förderung ergänzt die Bil-
dungsangebote über das Elternhaus hinaus. Sie ermög-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: licht den Kindern eine echte Chancengleichheit bei
Das Wort hat jetzt der Kollege Sönke Rix von der Bildung und Erziehung. Absolut notwendig sind dabei
SPD-Fraktion. die Qualifizierung der Tagespflege und die Weiterent-
(Beifall bei der SPD) wicklung der Qualität der Kinderbetreuung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Sönke Rix (SPD): der CDU/CSU)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Bei der notwendigen Modernisierung des schulischen
weiß nicht, ob ich mich jetzt dafür entschuldigen muss, Lernens spielt die Einrichtung von Ganztagsschulen
dass ich erst 30 Jahre alt bin. eine entscheidende Rolle. Ganztagsschulen bieten mehr
(Zuruf von der SPD: Das ändert sich!) Zeit und Raum, jedes Kind individuell zu fördern. Dabei
ist die Kinder- und Jugendhilfe ein zentraler Partner. Von
Herr Fricke, Frau Herman wird sich sicher dafür bedan- ihren Erfahrungen in der Bildungsarbeit, in Kindertages-
ken, dass Sie Werbung für ihr Buch gemacht haben. Ich stätten, in kulturellen Einrichtungen, Sport- und Freizeit-
bin aber froh, dass Sie in Ihrer Antwort auf die Zwi- verbänden sowie in der Schul- und Jugendsozialarbeit
schenfrage Frau Sager Recht gegeben haben und nicht kann die Entwicklung eines durchgängigen Bildungs-
letztendlich doch Frau Herman. angebotes nur profitieren.
4638 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Sönke Rix
(A) Eine kurze Anmerkung: Frau Haßelmann, Sie haben Alle Kinder verfügen über besondere Stärken, Talente (C)
vorhin von einer Kürzung der Mittel für die Jugend- und Neigungen. Unsere politischen Entscheidungen
sozialarbeit gesprochen. Dort ist nur eine Neustrukturie- müssen wir daran messen lassen, ob sie den Interessen
rung vorgenommen worden. Die Summe ist immer noch der Entwicklung der nachfolgenden Generationen ge-
die gleiche. recht werden, dem Wohle von Kindern und Jugendlichen
dienen und den Zusammenhalt der Generationen und da-
(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!)
mit der gesamten Gesellschaft fördern und stärken.
Nicht alle Kinder haben die gleichen Zugänge zu Bil-
dung. Dies gilt vor allem für Kinder und Jugendliche Meine Kolleginnen und Kollegen, Kinder- und Ju-
aus sozialen Brennpunkten und mit Migrationshin- gendpolitik ist eine Querschnitts-, Langzeit- und Zu-
tergrund. Rund 12 Prozent der Jugendlichen mit Migra- kunftsaufgabe. Leider ist dieser Haushaltsansatz nicht
tionshintergrund haben keinen Schulabschluss. Zudem der größte des gesamten Zahlenwerks.
finden sie auch mit Schulabschluss seltener einen Aus- (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Aber größer
bildungsplatz. Die Konsequenz daraus ist der Aufenthalt geworden ist er!)
in schulischen und berufsvorbereitenden Warteschleifen.
Damit es nicht so weit kommt und die Jugendlichen Gerade weil das so ist, sind alle handelnden Akteure ge-
keine wertvolle Zeit verlieren, muss früher angesetzt fordert, aus den vorhandenen Mitteln mit Kreativität,
werden. Einfallsreichtum und engagierter Arbeit das Maximum
herauszuholen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Ich danke an dieser Stelle allen, die sich jeden Tag um
die Kinder- und Jugendarbeit in unserem Land verdient
Ein Ausbau der Frühprogramme für Kinder und Ju- machen, und bitte sie, dies gemeinsam mit allen Betei-
gendliche mit Migrationshintergrund ab dem Kindergar- ligten auch weiterhin zu tun.
ten, so, wie wir ihn vereinbart haben, ist der erste und
wichtigste Schritt. Denn wir alle wissen: Bildung ist der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Grundstein jeglicher Integration. Dies gilt auch für die
berufliche Integration, die besonders Hauptschülerinnen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
und Hauptschülern schwer fällt. Von ihnen bleiben circa
9 Prozent eines Jahrgangs ohne Schulabschluss. Ihre Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Ole Schröder von
Chancen auf eine berufliche Integration sind deshalb er- der CDU/CSU-Fraktion.
heblich schlechter. (Beifall bei der CDU/CSU)
(B) Für Kinder und Jugendliche aus sozialen Brennpunk- (D)
ten und mit Migrationshintergrund gilt gleichermaßen: Dr. Ole Schröder (CDU/CSU):
Die Spirale von Armut und mangelnden Bildungschan- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
cen muss durchbrochen werden. Die grundlegende Be- Herren! Mit dem Haushaltsentwurf 2007 setzen wir ein
reitschaft, sich für die eigene berufliche Zukunft zu en- deutliches Signal für Familien und Kinder. Mit dem
gagieren, muss bei den Jugendlichen geweckt, gefördert Elterngeld erreichen wir eine deutliche Verbesserung
und – das füge ich bewusst hinzu – gefordert werden. für Familien und Kinder. Hierfür sind erstmalig 1,6 Mil-
Das Prinzip der ausgestreckten Hand muss dabei Grund- liarden Euro eingestellt worden.
lage allen politischen Handelns sein.
Trotz der Erhöhung des Volumens des Einzelplans 17,
Werte, die in der Arbeitswelt geschätzt werden, wie bedingt durch das Elterngeld, aber auch durch die Mehr-
etwa Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Durchhaltever- generationenhäuser, steht natürlich auch dieser Haushalts-
mögen, müssen bereits früh in der Erziehung und Bil- entwurf unter dem allgemeinen Konsolidierungsdruck.
dung vermittelt werden. Es ist unabdingbar, die Situation So haben wir beispielsweise die Verwaltungsausgaben
benachteiligter junger Menschen zu verbessern. Gerade der institutionell geförderten Zuwendungsempfänger um
diese jungen Menschen brauchen ausgezeichnete Ent- circa 2,2 Prozent gekürzt.
wicklungs- und Bildungsangebote. Sonst verbauen wir
ihnen jeden Weg in eine selbstbestimmte Zukunft. Frau Haßelmann, bei der sozialen und beruflichen
Integration haben wir allerdings nicht gekürzt. Dieses
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kapitel ist mit 12,1 Millionen Euro gleich hoch geblie-
der CDU/CSU) ben. Wir haben innerhalb dieses Bereichs allerdings eine
Zukunftsweisende Politik für Kinder und Jugendliche Umschichtung vorgenommen, und zwar von der Jugend-
wird durch eine ganzheitliche Familienpolitik ergänzt, sozialarbeit – minus 400 000 Euro – hin zum Titel „Ju-
die den Zusammenhalt der Generationen fördert und gend und Arbeit“, um in diesem Rahmen ein Programm
stärkt und damit den Zusammenhalt der gesamten Ge- für Schulverweigerer zu finanzieren.
sellschaft sichert. Geteilte Werte und gelebte Gemein-
Für den von Ihnen genannten Titel „Jugendsozialar-
samkeit schlagen Brücken, auch zwischen den Genera-
beit“ wird dennoch weiterhin genauso viel Geld ausge-
tionen.
geben wie bisher. Das ist möglich, weil es dem Ministe-
Erziehung bedeutet, Kinder stark für das Leben zu rium gelungen ist, Gelder aus dem EU-Sozialfonds zu
machen, ihnen zu helfen, ihren Platz in unserer Gesell- generieren. Diese Gelder fließen direkt in die geplanten
schaft zu finden und eigenverantwortlich zu handeln. Programme. Insofern ist die Befürchtung, die Sie eben
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4639
Dr. Ole Schröder
(A) geäußert haben – dass wir hier sparen würden –, unbe- her gebündelt werden. Wir brauchen ein Gesamtpaket, in (C)
gründet. dem die Anzahl der unterschiedlichen Fördermaßnah-
men reduziert und die unnötige Bürokratie in der Fami-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) lienpolitik abgebaut wird. Letztendlich sind es drei Säu-
Darauf können wir aber in den Beratungen sicherlich len, die wir brauchen: eine einkommensunabhängige
noch eingehen. Leistung wie das Kindergeld, um die Grundsicherung je-
des Kindes zu gewährleisten; einkommensabhängige
Nach wie vor müssen wir uns fragen, ob wir in Leistungen wie das Elterngeld und die steuerliche Be-
Deutschland 20 Zivildienstschulen brauchen; sie kosten rücksichtigung von Kindern, um auch Berufstätigen die
immerhin 47 Millionen Euro. In diesem Haushaltsent- Realisierung ihres Kinderwunsches zu erleichtern; und
wurf sind an dieser Stelle erneut Mehrausgaben in Höhe natürlich, drittens, bedarfsabhängige Leistungen zur
von 500 000 Euro zu verzeichnen. Vor dem Hintergrund Übernahme der Kosten für Kinderbetreuung, wodurch
der Überkapazitäten in unseren Zivildienstschulen zeigt die Wahlfreiheit garantiert wird und die Schwarzarbeit
sich hier deutliches Einsparpotenzial. Darauf sollten wir im Betreuungssektor vermieden werden kann. Was wir
in den Beratungen noch einmal zu sprechen kommen. nicht brauchen, sind 50 verschiedene monetäre Leistun-
Das Ministerium arbeitet bereits an entsprechenden Ver- gen, die man nur noch nachvollziehen kann, wenn man
besserungsvorschlägen. Ich denke, dass wir hier in guter dicke wissenschaftliche Studien von über 100 Seiten zu
Zusammenarbeit zu vernünftigen Lösungen kommen Rate zieht.
werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Zudem werden wir auch die Entwicklung des Kin- neten der FDP)
derzuschlages genauer beobachten müssen. Gegenwär-
tig wird ein Volumen von 150 Millionen Euro dafür ver- Eine solche Bündelung der Maßnahmen ist auch sinn-
anschlagt. Das entspricht der Höhe der Ausgaben, die voll, um ein weiteres wichtiges Projekt der Koalition zu
nach der derzeitigen Rechtslage zu erwarten sind. Aber ergänzen: die einheitliche Familienkasse, eine Kasse
wir sollten darauf drängen, die im Koalitionsvertrag ver- neuen Typs, eine einheitliche Anlaufstelle.
einbarte Weiterentwicklung in diesem Bereich energisch Frau Familienministerin, ich bin gespannt, was die
anzupacken. In diesem Zusammenhang denke ich vor al- von Ihnen jetzt ausgeschriebene Evaluation der familien-
len Dingen an die immens hohen Verwaltungsaufwen- politischen Maßnahmen bringen wird. Nur, eins ist klar:
dungen. Hier können wir sicherlich Geld einsparen, da- Letztendlich entscheiden nicht die Gutachten, sondern
mit mehr Geld für die Kinder zur Verfügung gestellt entscheidend ist der politische Mut, dieses Reformpro-
werden kann. jekt auf den Weg zu bringen. Ich hoffe, dass Sie weiter
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) so mutig voranschreiten. Wir werden Sie dabei unterstüt- (D)
zen.
Meine Damen und Herren, wir als Haushälter haben
die Aufgabe, uns auch die kleinen Titel genau anzusehen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
und sie intensiv zu kontrollieren. Das tun wir. Doch bei neten der SPD)
aller Liebe zum Detail, die wir im Haushaltsausschuss
haben: Noch viel wichtiger ist es, ein familienpoliti- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
sches Gesamtkonzept zu erstellen. Liebe Kolleginnen Das Wort hat jetzt Kollegin Kerstin Griese von der
und Kollegen, eine verbesserte Ausgestaltung der Fami- SPD-Fraktion.
lienpolitik ist wesentlich für die Zukunft unserer Gesell-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
schaft. Wir haben schon in der letzten Debatte, zum
Haushalt 2006, intensiv darüber diskutiert. Die Famili-
enpolitik der letzten Jahre ist immer noch zu ineffektiv, Kerstin Griese (SPD):
zu ineffizient, zu intransparent und zum Teil, wie ich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
meine, ungerecht. Ihre Systematik weist Schwächen auf, will zum Abschluss unserer Debatte etwas dazu sagen,
gerade im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. was der rote Faden unserer Politik für Kinder und Ju-
Das Problematische ist, dass durch den Förderdschun- gendliche, für Familien, für die Gleichstellung von
gel der vielen familienpolitischen Maßnahmen eigent- Frauen und Männern, für die Solidarität der Generatio-
lich keiner mehr richtig durchblickt. nen und für die Unterstützung des zivilgesellschaftlichen
Engagements ist. Uns geht es um den Zusammenhalt in
(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Sibylle der Gesellschaft. Es geht um den Einsatz füreinander
Laurischk [FDP]: Ganz interessant!) und um mehr und bessere Chancen von Anfang an. Des-
Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht schon halb begrüße ich es wie schon meine Vorredner, dass
vor drei Jahren in seinem Urteil zur verfassungsrechtli- dieser wichtige Haushaltstitel gestärkt wird.
chen Prüfung des Kinderunterhaltsrechts mehr Norm- Es geht uns Sozialdemokraten – ich glaube, das kön-
klarheit gefordert. Das sollten wir umsetzen. nen Sie alle hier teilen – um die wichtige Frage: Was hält
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Gesellschaft zusammen? Was stärkt die Menschen,
damit sie sich füreinander und miteinander engagieren,
Das Geld sollte den Kindern und Eltern zugute kommen sei es in der Familie, im Stadtteil, in der Schule, in der
und nicht in der Förderbürokratie versickern. Die unter- Ausbildung, im Arbeitsleben oder zwischen den Genera-
schiedlichen familienpolitischen Leistungen müssen da- tionen? Uns geht es – dafür brauchen wir keine Bücher,
4640 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Kerstin Griese
(A) wie sie heute erscheinen – nicht darum, jemandem einen gebnis: mehr Ganztagsgrundschulen. Ich bin froh, dass (C)
Lebensentwurf aufzuzwingen. wir endlich den Einstieg in den Ausbau der Betreuung
für unter 3-Jährige geschafft haben, und zwar auch in
(Otto Fricke [FDP]: Gut!)
Westdeutschland. Wir warten nicht ab, Frau Haßelmann.
Es geht uns darum, Freiheit und Gerechtigkeit – das Die erste Evaluation liegt vor; der Ausbau beginnt.
gehört immer zusammen – herzustellen, damit ein soli- Wenn Sie in die Kommunen gehen, dann sehen Sie das
darisches Zusammenleben möglich ist, und es geht dabei selbst. Alle bemühen sich, den Bedarf zu erheben. Wir
um die Verantwortung füreinander. sind uns sicherlich einig, dass wir alle das gerne noch
sehr viel schneller hätten. Ich bin aber froh, dass nun
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ endlich mit dem Ausbau der Betreuungsmöglichkeiten
CSU und der FDP) für unter 3-Jährige begonnen wird.
Es geht darum, dass wir Menschen stärken, damit sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nicht wegsehen, wenn Kinder schlecht behandelt werden
der CDU/CSU)
oder wenn Rechtsextremisten jemanden anpöbeln.
Ich muss aber sagen, dass man die Schwerpunkte in
Ganz besonders sind diese großen Werte, über die wir
NRW zurzeit leider etwas anders setzt. Dort ist die FDP
hier reden, gefragt, wenn es um die Schwächsten in der
übrigens mit in der Regierung. Durch die massiven Kür-
Gesellschaft geht, nämlich die Kinder, deren Chancen in
zungen der Zuschüsse für die Kindergärten haben wir
Deutschland immer noch viel zu sehr davon abhängen,
dort in den Kommunen ein großes Problem. Die Kom-
welche und ob überhaupt Bücher im Regal der Eltern
munen, denen es am schlechtesten geht, müssen diese
stehen und in welchem Stadtteil sie aufwachsen. Meine
Kürzungen nun auf die Eltern abwälzen. Das ist keine
Vorredner haben schon viel dazu gesagt. Weniger Bil-
Familienfreundlichkeit.
dungschancen bedeuten weniger Zukunftschancen. Ge-
nau da setzen wir an. Auf frühe Förderung und Unter- (Beifall bei der SPD – Sibylle Laurischk
stützung kommt es an, auf Mehrgenerationenhäuser und [FDP]: Wo kommen denn die Schulden her? –
den Ausbau von Bildung und Betreuung. Otto Fricke [FDP]: Von wem haben wir das
Frau Golze, ich will auf das eingehen, was Sie zur denn übernommen?)
Kinderarmut gesagt haben. Ja, in Deutschland leben – Das habt ihr eingeführt.
2,5 Millionen Kinder von ALG II, also schon längst
nicht mehr von Sozialhilfe, was deutlich weniger wäre. Wir führen gerade eine Debatte darüber, dass sich
Betroffen ist jedes sechste Kind in Deutschland. Das ist Leistung wieder lohnen muss. „Leistung muss sich wie-
schlimm, aber nicht mit Kinderarmut gleichzusetzen. der lohnen“ ist früher eher von der rechten Seite des
(B)
Kinderarmut kann man nämlich nicht allein materiell Hauses als Ruf erklungen. Ihnen ging es dabei meistens (D)
und statistisch und vor allen Dingen nicht mit dem um weniger Staat. Die Debatte hat sich aber geändert.
ALG-II-Satz begründen. Es ist ja auch nicht so, dass wir Die Menschen wollen nämlich, dass die Gesellschaft
in den letzten Jahren weniger Geld für die Familien aus- und der Staat mehr Verantwortung übernehmen. Deshalb
gegeben haben. Die Leistungen sind kontinuierlich ge- sage ich heute als Sozialdemokratin: Leistung muss sich
stiegen. Wir müssen alle gemeinsam – da stimme ich lohnen.
Herrn Schröder zu – darüber nachdenken, wie man die- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
ses Geld zielgerichteter ausgeben kann. der CDU/CSU)
Kinderarmut macht sich insbesondere durch eine feh- Wir müssen darum etwas tun, damit unsere Gesellschaft
lende Förderung der Kinder und durch fehlende Bil- nicht mehr so starr und undurchlässig ist. Wir müssen
dungsanreize durch das Elternhaus bemerkbar. Hier mehr in die Chancen für Kinder investieren. Die Leis-
müssen wir ansetzen. Wir müssen auf Bundesebene ver- tungsträger in unserer Gesellschaft sind eben auch die
stärkt Chancengleichheit ermöglichen und viel früher Mütter und Väter in der Mitte der Gesellschaft, die Beruf
damit beginnen. Ich appelliere dabei aber auch an die und Familie erfolgreich vereinbaren.
Länder, weil sie für die Schulpolitik zuständig sind. Ich
glaube, Kinderarmut muss durch mehr Bildungschancen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
und mehr Möglichkeiten zur Aufnahme einer Erwerbstä- der CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke
tigkeit für die Eltern bekämpft werden. Das ist die nach- [FDP])
haltigste Lösung.
Durch das Elterngeld, das wir einführen, wird genau
Wenn Alleinerziehende ihr Leben selbst in die Hand diese Mitte der Gesellschaft unterstützt. Herr Fricke, es
nehmen können sollen, dann muss die Politik dafür sor- gibt keinen Gegensatz zwischen der Vereinbarkeit von
gen, dass es ein gut funktionierendes Netz an Kinderbe- Familie und Beruf und der Sozialpolitik; wir haben bei-
treuungsmöglichkeiten, mehr Familienfreundlichkeit am des gemeinsam geschafft. Das Elterngeld wird nämlich
Arbeitsplatz und gezielte finanzielle Hilfen gibt. In die- insbesondere denen zugute kommen, die geringe und
sem Sinne tun wir sehr viel für die Bekämpfung von mittlere Einkommen erzielen. Der übergroße Teil geht
Kinderarmut. an diese Einkommensschichten. Das heißt, wir haben
beides sinnvoll miteinander verbunden.
Wir als SPD haben schon vor Jahren in der Regierung
damit begonnen, Kindern früher und mehr Chancen auf (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes
Bildung und Betreuung zu geben. Sie kennen das Er- Singhammer [CDU/CSU])
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4641
Kerstin Griese
(A) Ich halte die Geringverdienerregelung, die wir im Menschen als freie Plätze gibt, ist ein erfreuliches Zei- (C)
Rahmen der Ausgestaltung des Elterngelds vorgeschla- chen.
gen haben, bis heute für eine der besten Regelungen. Da-
von können sich die Sozial- und Arbeitsmarktpolitiker Das gilt auch für den internationalen Jugendaus-
einiges abschauen. Es ist nämlich der richtige Ansatz da- tausch, den wir weiter fördern. Ich will angesichts der
für, dass sich Arbeit wieder lohnt. aktuellen Lage nur einen Satz zum deutsch-israelischen
Jugendaustausch sagen, der unter schwierigen Bedin-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gungen weitergeführt werden muss. Wir alle hoffen, dass
der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Das ist so in dieser Region die Waffen schweigen. Ich möchte de-
bürokratisch!) nen danken, die sich weiterhin für den deutsch-israeli-
schen Jugendaustausch und diese Begegnungen engagie-
Mit diesem Konzept werden übrigens auch einmal die ren; denn wir brauchen diese Arbeit.
Männer als Leistungsträger angesprochen. Sie werden
durch das Elterngeld darin unterstützt, sich mehr um ihre (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
Rolle als Elternteil zu kümmern und genauso Verantwor- CSU und der FDP)
tung zu tragen wie die Frauen.
Ein Thema, das uns ebenfalls sehr wichtig ist, ist die
Arbeit gegen Rechtsextremismus. Ich bin sehr froh,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass wir gemeinsam durchgesetzt haben, dass die Mittel
Frau Kollegin Griese, erlauben Sie eine Zwischen- in Höhe von 19 Millionen Euro für das Programm „Ju-
frage des Kollege Otto Fricke? gend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie – gegen
Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antise-
Kerstin Griese (SPD): mitismus“ langfristig zur Verfügung stehen werden. Das
Wenn er keine Werbung für Bücher macht, dann ist notwendig. Es geht eben nicht um Strohfeuerpro-
gerne. gramme, sondern es geht um eine langfristige Versteti-
gung der Arbeit, wie wir das im Koalitionsvertrag fest-
(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) gehalten haben.
Ich bin froh – das war uns als SPD sehr wichtig –,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass der Schwerpunkt auf der Arbeit gegen Rechts-
Bitte schön, Herr Fricke. extremismus liegt; denn wir alle wissen, wie hoch dort
das Gefahrenpotenzial ist.
Otto Fricke (FDP):
Für uns ist eine kontinuierliche und nachhaltige Ar-
(B) Nein, ich glaube, das Buch kursiert im Moment in an- beit für Demokratie und Toleranz die beste Prävention. (D)
deren Reihen. All das kann nur funktionieren, wenn die Projekte und
(Nicolette Kressl [SPD]: Nicht bei uns!) Initiativen vor Ort unterstützt werden. Ich habe in die-
sem Sommer einige Bürgerbündnisse und mobile Bera-
Geschätzte Kollegin Griese, Sie sagten gerade, dass tungsteams besucht und konnte mich davon überzeugen,
das Elterngeld eine Sozialleistung ist. Wenn das so ist in welcher gesellschaftlichen Breite dort gearbeitet wird:
und wenn auch die CDU/CSU das als eine Sozialleistung parteiübergreifend mit Kirchen, Verbänden und Verei-
ansieht, dann hätte ich von Ihnen doch gerne eine Ant- nen. Ich danke auch den vielen Menschen, die sich bei
wort auf die Frage, warum die Zahlung dieser Sozialleis- der Ministerin dafür eingesetzt haben, dass diese Arbeit
tung nach einem Jahr abrupt endet. fortgeführt wird.
Wir als SPD wollen, dass erfolgreiche Arbeit fortge-
Kerstin Griese (SPD):
führt werden kann. Die Struktur von mobilen Bera-
Geschätzter Kollege Fricke, Sie haben mir nicht rich- tungsteams, Opferberatungsstellen und Netzwerkstellen
tig zugehört. Ich habe gesagt: Das Elterngeld ist eine bildet einen überregionalen Hintergrund, vor dem sich
Verbindung beider Komponenten, der Vereinbarkeit von sehr viele Menschen ehrenamtlich engagieren können.
Familie und Beruf und einer sozial gerechten Ausgestal- Diese Arbeit ist wichtig und muss sicherlich weiterent-
tung. Es ist nämlich so, dass 63 Prozent der Elterngeld- wickelt werden. Aber sie darf nicht beendet werden.
zahlungen Familien mit kleinen und mittleren Einkom-
men zugute kommen. Das ist ein Beweis für die sozial (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gerechte Ausgestaltung dieser Leistung. Das Neue an der CDU/CSU und der LINKEN)
unserer Politik ist, dass wir an beides denken, an die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf und an soziale Gerech- Gerade angesichts der aktuellen Situation müssen wir
tigkeit. wachsam sein. Wir erleben in Berlin und Mecklenburg-
Vorpommern, wie Menschen im Wahlkampf von Rechts-
Leistungsträger in unserem Land sind auch die vielen extremen belästigt und fotografiert, wie Autokennzei-
ehrenamtlich engagierten Menschen. In Deutschland chen aufgeschrieben werden, wie sie sogar bedroht und
sind das 23 Millionen. Sie sind der Kitt, der unsere Ge- verfolgt werden. Das ist Mitgliedern meiner Partei mehr-
sellschaft stark macht. Ein gutes Beispiel dafür sind die fach passiert. Das zeigt uns, dass wir alle gemeinsam da-
Freiwilligendienste, die wir mit diesem Haushalt weiter für einstehen müssen, dass rechtsextreme, rassistische
ausbauen; es sollen weitere Plätze geschaffen werden. und Menschen ausgrenzende Parteien nicht noch einmal
Dass es noch immer mehr Bewerbungen von jungen in die Landtage einziehen dürfen.
4642 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Kerstin Griese
(A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Verteidigungsausschuss (C)
CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
GRÜNEN) Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Viele von Ihnen haben Patenschaften für Projekte wie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
„Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ über- Entwicklung
nommen. Ich nenne hier auch das Netzwerk für Demo- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
kratie und Courage in Sachsen; Sachsen ist übrigens das Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Bundesland mit der höchsten Dichte an organisierten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ange-
Rechtsextremen. Die Arbeit gegen Rechtsextreme, die lika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierho-
von der Zivilgesellschaft geleistet wird, ist wichtig. Ich fer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
halte auch die Idee der Kollegin Lazar für unterstützens- FDP
wert, uns zu überlegen, ob wir ausschließlich Kommu-
nen oder auch Verbünden von Trägern die Möglichkeit Exportaktivitäten deutscher Unternehmen im
geben, Projekte zu beantragen. Technologiebereich erneuerbarer Energien
sachgerecht unterstützen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE – Drucksache 16/1565 –
GRÜNEN) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und
Ich komme zum Schluss, nur noch ein paar Sekunden. Technologie (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Technikfolgenabschätzung
Eine Minute ist nicht mehr drin. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
2 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- gierung
rung des Elterngeldes Bericht über die aktualisierten Stabilitäts- und
– Drucksache 16/2454 – Konvergenzprogramme 2005 der EU-Mit-
gliedstaaten
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) – Drucksache 16/1218 –
Innenausschuss
Rechtsausschuss Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verbraucherschutz Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Arbeit und Soziales Haushaltsausschuss
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4643
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(A) ZP 1 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten (C)
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- Dr. Gesine Lötzsch, Petra Pau, Dr. Hakki Keskin,
tung einer „Bundesstiftung Baukultur“ Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der LINKEN
– Drucksachen 16/1945, 16/1990 – Fertigstellung des Mauerparks im Bereich der
Überweisungsvorschlag:
ehemaligen innerstädtischen Grenze in Berlin
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) – Drucksache 16/2508 –
Innenausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag:
Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Rainder Steenblock, Matthias Berninger,
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolf- weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
gang Gehrcke, Hüseyin-Kenan Aydin, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der LINKEN Forderung der EU nach Transparenz bei Sub-
ventionen im Agrarbereich vollständig umset-
Dauergenehmigungen für Militärflüge aufhe- zen und die Neuausrichtung der Förderung
ben vorbereiten
– Drucksache 16/857 – – Drucksache 16/2518 –
Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Innenausschuss Union (f)
Verteidigungsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Verbraucherschutz
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Marie- Entwicklung
luise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
NEN ten Verfahren ohne Debatte.
Meinungs- und Versammlungsfreiheit für Les- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
ben und Schwule in ganz Europa durchsetzen die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
(B) überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der (D)
– Drucksache 16/1667 – Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Überweisungsvorschlag: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf. Es
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Innenausschuss handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu
Auswärtiger Ausschuss denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Tagesordnungspunkt 3 a:
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jel- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
pke, Sevim Dagdelen, Monika Knoche, weiterer richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)
Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN – zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Flüchtlingen aus Nahost Schutz bieten Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
– Drucksache 16/2341 –
Haushaltsjahr 2004 – Vorlage der Haus-
Überweisungsvorschlag: halts- und Vermögensrechnung des Bundes
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)
Auswärtiger Ausschuss
(Jahresrechnung 2004) –
Innenausschuss – Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Rechtsausschuss
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten 2005
Dr. Lukrezia Jochimsen, Katja Kipping, Dr. Petra zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des
Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Bundes (einschließlich der Feststellungen
LINKEN zur Jahresrechnung 2004)
Bundespolitik soll im Streit um die Wald- – Drucksachen 15/5206, 16/820 Nr. 28, 16/160,
schlösschenbrücke vermitteln 16/413 Nr. 1.3, 16/2025 –
– Drucksache 16/2499 – Berichterstattung:
Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
Ausschuss für Kultur und Medien (f)
Auswärtiger Ausschuss Wer stimmt für Nr. 1 der Beschlussempfehlung, Ertei-
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung lung der Entlastung für das Haushaltsjahr 2004? –
4644 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) Dr. Claudia Winterstein (FDP): Ein wichtiges Mittel, sich im Wettbewerb abzugren- (C)
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zen, nehmen Sie den Krankenkassen, wenn zukünftig
Frau Ministerin, Ihre Rede hat wenig Neues gebracht. das Ministerium über die Beitragssätze entscheidet. Da-
Statt hohler Worte hätten Sie uns im Parlament und auch mit stellen Sie das deutsche Gesundheitssystem endgül-
den Menschen in unserem Lande lieber einen Gesetzent- tig unter die vollständige Kontrolle des Staates. Bei
wurf vorlegen sollen. Die Reform ist wieder einmal ver- Geldnot braucht die Regierung dann nur noch zu ent-
schoben. Ob das nun an der Unfähigkeit Ihres Ministeri- scheiden: entweder Beiträge herauf oder Versorgung
ums oder an den Streitereien in der Koalition oder an den herunter. Selbst den letzten Funken von Wettbewerb, die
Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern liegt, kleine Prämie, ersticken Sie unter den geplanten Bedin-
weiß man nicht. Wahrscheinlich spielt alles eine Rolle. gungen. Damit streichen Sie nicht nur den letzten Rest
CDU aus dem Konzept, vielmehr nehmen Sie den Kran-
Also sind wir im Prinzip nicht viel weiter als noch vor kenkassen auch den letzten Rest von Autonomie.
dreieinhalb Monaten, als wir an dieser Stelle über den
Haushalt 2006 gesprochen haben. Jetzt zeigen Sie mit (Beifall bei der FDP)
dem Gesundheitsfonds, dass diese große Koalition ein-
fach nicht funktionieren kann. Zwei Große haben ver- Der neue Spitzenverband, in den Sie die Kassen zwin-
sucht, sich zu einigen. Sie haben aus zwei völlig gegen- gen wollen, verfolgt den gleichen Zweck; das Ministe-
sätzlichen Konzepten einen Kompromiss gezimmert. rium bestimmt, die Kassen folgen. Das ist das Gegenteil
Das Ergebnis ist Ihnen gründlich misslungen, Frau Mi- von Wettbewerb, Selbstbestimmung und Vertragsfreiheit
nister. im Gesundheitswesen. Das ist zentralstaatlicher Gesund-
heitssozialismus. Höhere Kosten und weniger Transpa-
(Beifall bei der FDP) renz sind die Folgen.
So diskutieren wir ein Machwerk, wie es stümperhaf- Zum Thema Bürokratie. Frau Ministerin, im glei-
ter und unbefriedigender kaum sein könnte. Niemand chen Atemzug, in dem Sie den Wettbewerb abbauen,
braucht diesen Fonds, nur Sie, Frau Schmidt, und auch bauen Sie neue Bürokratie auf, und das völlig ohne Not.
noch Frau Merkel. Stirbt der Fonds, wackelt die Koali- Denn das Einziehen und das Verteilen der Beiträge über
tion. die Kassen funktioniert gut. Bisher konnten Sie nicht be-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blödsinn! gründen, was durch den Fonds als zentrale Geldsammel-
Beides Blödsinn!) stelle eigentlich besser werden soll. Im Gegenteil: Durch
den neuen Fonds werden beim Bundesverwaltungsamt
Sie haben sich in eine Situation gebracht, in der Sie neue Ressourcen benötigt. Auch das kostet wieder Geld.
kaum noch handlungsfähig sind. Ihre Hilflosigkeit zeigt
(B) sich vor allem in Ihrem Umgang mit der Kritik an der Zum Thema Haushaltsrisiko. Ungeklärt ist nicht nur (D)
Gesundheitsreform. Kritik an diesem Versuchsballon die Frage nach der Entschuldung der Krankenkassen
gibt es reichlich: von den Krankenkassen, von Wissen- zum Start des Fonds; unberechenbar sind auch die Haus-
schaftlern, von den Sozialverbänden, von der Wirtschaft, haltsrisiken: Ausgabensteigerung, Kürzung der Bundes-
vom Koalitionspartner, auch aus den eigenen Reihen und mittel, Mehrwertsteuererhöhung. Bereits für 2007 erwar-
sogar vom Wissenschaftlichen Beirat, der sich das Mo- ten die Krankenkassen eine Finanzierungslücke von
dell dieses Fonds ausgedacht hat. etwa 7 Milliarden Euro. Die Regierung zwingt die Kas-
sen zu Beitragssatzerhöhungen. Es ist schon seltsam: Im
(Detlef Parr [FDP]: Keine Ausnahme!) Haushalt 2007 kürzen Sie den Steuerzuschuss an die
Krankenkassen auf 1,5 Milliarden Euro, um ihn dann
Frau Ministerin, leider ignorieren Sie diese Kritiker
2009 wieder auf 3 Milliarden Euro zu erhöhen. Dabei
beharrlich, anstatt sich mit den Bedenken konstruktiv
wissen Sie nicht, woher Sie mittel- und langfristig über-
auseinander zu setzen. Die Verunsicherung und das Un-
haupt die 15 Milliarden Euro für die Kindermitversiche-
verständnis, das Sie damit in der Bevölkerung erzeugen,
rung nehmen sollen. Steht da nicht schon wieder die
scheinen Ihnen völlig gleichgültig zu sein; denn 80 Pro-
nächste Steuererhöhung vor der Tür?
zent der Deutschen sind gegen Ihre Reform. Aber Politik
für die Menschen sieht anders aus. Genauso wenig können Sie sagen, wie Sie zum Start
(Beifall bei der FDP) des Fonds ein ausreichendes Finanzpolster schaffen wol-
len, damit die Versicherten nicht gleich wieder über die
Ich möchte die wichtigsten Kritikpunkte hier einmal Prämie und höhere Beitragssätze stärker belastet wer-
aufgreifen. den. Die Horrorzahl von 16 Prozent geistert schon durch
den Raum.
Zum Thema Wettbewerb. Sie haben Ihrer Gesund-
heitsreform den Namen „Gesetz zur Stärkung des Wett- Dabei war doch das löbliche Ziel der großen Koali-
bewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung“ ge- tion, die Arbeitskosten zu senken und die Beitragssätze
geben. Schaut man sich den Inhalt an, kann man über zur gesetzlichen Krankenkasse zu reduzieren. Es ge-
diesen Namen eigentlich nur lachen. Es müsste heißen: schieht aber das Gegenteil. Schon im nächsten Jahr stei-
Gesetz zur staatlichen Lenkung der gesetzlichen Kran- gen die Beitragssätze zur Krankenversicherung um min-
kenversicherung. destens einen halben Prozentpunkt. Dabei ist der
(Beifall bei der FDP) Durchschnittssatz mit 14,2 Prozent schon jetzt wieder
auf dem Niveau, auf dem er vor Ihrem letzten Reform-
Das wäre wesentlich passender. versuch 2004 war.
4648 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Das gilt auch für die Präventionskampagne. Sie soll Für wie dumm halten Sie eigentlich die Beteiligten, die
mit über 3 Millionen Euro ein Gesetz unterstützen, das sich wirklich bemühen, die gute medizinische Versor-
es überhaupt noch nicht gibt. gung, die wir in Deutschland haben, zu erhalten bzw.
noch zu verbessern und langfristig bezahlbar zu gestal-
(Detlef Parr [FDP]: Richtig! Unsinnig!) ten?
Sie geben an dieser Stelle Steuergelder aus, ohne dem (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Bundestag einen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben. NEN]: Das müsste man an der Reform aber se-
hen!)
Sie lassen sich beraten, wie Sie Ihr Image in der Öffent-
(B) lichkeit verbessern. Dabei wären Sie am besten beraten, Wir machen doch keine Reform um der Reform wil- (D)
Frau Schmidt, die Kritik der Krankenkassen und anderer len. Wir stellen endlich einmal den Patienten in den Mit-
aufzunehmen und die Reform entsprechend umzuarbeiten. telpunkt unseres Handelns.
Gute Politik braucht keine teuren Kampagnen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Die Anforderungen an eine Gesundheitsreform sind Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Eindruck hat
im Prinzip recht einfach: Stabilität der Beiträge, Durch- man aber nicht!)
blick für die Patienten und Zukunftsfestigkeit für eine äl-
ter werdende Gesellschaft. Diesen Anforderungen wer- Es ist erstmals eine Reform, bei der keine notwendigen
den wir nur über neue Strukturen und wirklichen Leistungen gekürzt oder gestrichen werden. Es ist erst-
Wettbewerb im Gesundheitswesen gerecht, nicht durch mals eine Reform, bei der die Versorgung aus einer
Ihre Staatsmedizin. Hand kommt und ein entscheidendes Stück vorangetrie-
ben wird. Der Patient wird nicht mehr zwischen den ver-
(Beifall bei der FDP) schiedenen Versorgungsebenen oder den Sozialsystemen
hin und her geschoben, je nach Lage des Budgets. Wir
Die FDP hat ein Konzept für einen wirksamen, be-
durchbrechen endlich auch die starren Abgrenzungen
zahlbaren und langfristigen Versicherungsschutz vor-
zwischen stationär und ambulant und binden in der
gelegt: freie Wahl von Kasse und Tarif für jeden Bürger,
integrierten Versorgung sogar die Pflegeversicherung
damit Wettbewerb ins System kommt, sozialer Aus-
mit ein. Damit wollen wir eine umfassende Behandlung
gleich über Steuermittel,
ganzer Krankheitsbilder und somit eine optimale Versor-
(Elke Ferner [SPD]: Welche Steuermittel, bitte gung der Patienten gewährleisten.
schön?)
Eine ausgewogene Reform muss natürlich die Ein-
damit alle gut versichert sind und der Faktor Arbeit ent- nahme- und die Ausgabenseite betrachten. Wir können
lastet wird, sowie Bildung von Altersrückstellungen, um uns in den Sozialsystemen zu Tode reformieren, wenn
der demografischen Herausforderung gerecht zu werden. wir den Arbeitsmarkt nicht in den Griff bekommen.
1,5 Millionen weniger sozialversicherungspflichtige Ar-
Wir müssen die Ursachen der entsprechenden Pro-
beitsplätze bedeuten nun einmal 6,5 Milliarden Euro
bleme angehen. Durch Ihre jährlichen so genannten
Einnahmen weniger.
Jahrhundertreformen werden aber nicht einmal die
Symptome beseitigt. Ich fordere Sie noch einmal auf, (Heinz Lanfermann [FDP]: Deswegen wollten
Frau Ministerin: Nehmen Sie die Kritik ernst! Noch be- Sie das abkoppeln! Davon ist jetzt keine Rede
steht die Möglichkeit, eine Reform zu entwerfen, die den mehr!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4649
Wolfgang Zöller
(A) Eines sollten wir auch nicht unterschätzen: 1 Million können. Dazu werden wir zum Beispiel die Wirtschaft- (C)
junger Menschen hat Deutschland verlassen. Wenn Sie lichkeitsprüfungen vereinfachen. Wir werden einen we-
nach dem Grund fragen, bekommen Sie die Antwort: sentlich einheitlicheren und entbürokratisierten Rahmen
wegen der Abgabenlast und der Bürokratie. Also müssen für die Chronikerprogramme schaffen. Wir werden dann
wir doch an diese Ursachen herangehen. nicht mehr 1 500 verschiedene, sondern vielleicht nur
noch sieben bis zehn Programme haben.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir brauchen aber nicht nur mehr Transparenz und
Deshalb, meine sehr geehrten Damen und Herren von weniger Bürokratie, sondern auch mehr Entscheidungs-
der Opposition, ist es umso erfreulicher, dass jetzt hier und Wahlmöglichkeiten für die Versicherten.
eine Trendwende erkennbar ist. Über 400 000 Arbeits-
lose weniger, über 120 000 neue sozialversicherungs- (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz
pflichtige Arbeitsplätze, die Prognosen des Wirtschafts- [CDU/CSU])
wachstums erstmals nach oben korrigiert – das sind doch Hierbei möchte ich besonders auf die Veränderungen bei
positive Signale, die uns auch eine Perspektive für die der Kostenerstattung hinweisen. Denn gerade diese kann
Zukunft geben. – davon sind wir überzeugt – das Kostenbewusstsein
Auch in der gesetzlichen Krankenversicherung hat stärken.
sich die Finanzsituation verbessert. Einen wichtigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Beitrag hierzu hat unsere erste Reformmaßnahme, das neten der SPD)
Arzneimittelwirtschaftlichkeitsgesetz, geleistet. Denn
entgegen der auch von Ihnen vorgetragenen Kritik, die Daher können die Krankenkassen künftig Tarife im Zu-
von anderen Seiten noch verstärkt wurde, hat sie bereits sammenhang mit der Kostenerstattung anbieten. Gleich-
bestimmte Wirkungen entfaltet. Allein die Möglichkeit, zeitig werden die Kostenerstattungsmöglichkeiten er-
dass die Versicherten von Zuzahlung befreit sind, wenn weitert.
sie preisgünstige Arzneimittel wählen, hat dazu geführt, Neben der Kostenerstattung sind weitere Veränderun-
dass bei über 2 000 Arzneimitteln die Preise um bis zu gen geplant. So werden die Kassen für spezielle Versor-
40 Prozent gesenkt wurden. gungsformen gezielte Tarife anbieten, zum Beispiel
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr Hausarzttarife. Gleichzeitig werden die Selbstbehaltta-
[Münster] [FDP]: Dafür waren wir immer!) rife für Pflichtversicherte geöffnet. Auch mit diesen Ver-
änderungen werden wir das Kostenbewusstsein der Ver-
Das zeigt, dass Wettbewerb besser ist als staatliche Re- sicherten fördern.
gulierung.
(B) Zur privaten Krankenversicherung. (D)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Detlef Parr [FDP]: Jetzt wird es spannend!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, allerdings ist
bei einem hohen Anspruch an die Leistungsfähigkeit un- Fest steht: Die private Krankenversicherung bleibt als
seres Gesundheitswesens auch klar, dass wir einen Vollversicherung erhalten. Das heißt aber nicht, dass es
Schritt hin zu mehr Eigenverantwortung gehen müs- hier keine Veränderungen geben wird. Auch hier soll der
sen. Diesen Schritt werden die Menschen aber nur ak- Wettbewerb gestärkt werden. Daher werden wir den
zeptieren, wenn die Gesundheitsleistungen effizient und Wechsel der Versicherten innerhalb der PKV künftig da-
in hoher Qualität erbracht werden. Hinsichtlich der Er- durch erleichtern, dass wir die Altersrückstellungen
höhung von Effizienz und Qualität durch mehr Wettbe- transportabel machen.
werb im Gesundheitswesen sehe ich erhebliche Verbes- Ein Punkt kommt, wie ich meine, immer noch zu
serungsmöglichkeiten, die wir Ihnen mit unserem Gesetz kurz: Dabei geht es um die Solidarität und die Eigenver-
vorstellen werden. antwortung. Solidarität heißt nicht nur, dass die Solidar-
(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wenn wir gemeinschaft für mich einzutreten hat, sondern auch,
das Gesetz mal hätten, dann könnten wir ja dass ich mich der Solidargemeinschaft gegenüber solida-
auch mitreden!) risch verhalten muss.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Wir brauchen eine Erhöhung der Transparenz und
neten der SPD – Beifall bei der FDP)
Abbau der Bürokratie in allen Bereichen; da sind wir uns
einig. Wir werden zum Beispiel die Information der Ver- Dieses Bewusstsein muss gestärkt werden.
sicherten über Leistungsangebote und die Qualität der
Leistungserbringer verbessern. Oder nehmen wir die Ich bin in der letzten Zeit in den Medien wegen mei-
vertragsärztliche Versorgung: Hier werden wir die Ver- ner Äußerung, dass sich Übergewichtige – man hat auf
gütung ambulanter ärztlicher Leistungen auf feste Preise mich geschaut und gesagt, ich sei sowieso zu dick –
bei weitgehender Pauschalierung umstellen. Die derzei- eventuell an den Behandlungskosten beteiligen sollen,
tige Budgetierung ist dann nicht mehr notwendig. ziemlich beschimpft worden. Ich wiederhole an einem
Beispiel, was ich damit gemeint habe: Ein junger 25-jäh-
Neben der Erhöhung der Transparenz haben wir uns riger Mensch kommt zum Arzt und sagt: Herr Doktor,
auch für den Bürokratieabbau entschieden. Ärzte, Pfle- ich habe Probleme; ich brauche auf der rechten Seite
gekräfte und Krankenhäuser werden sich künftig wieder eine neue Hüfte. Darauf sagt der Arzt: Wenn ich Sie mir
mehr auf die Versorgung der Patienten konzentrieren so betrachte, dann meine ich, dass Sie mindestens
4650 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Wolfgang Zöller
(A) 140 Kilogramm schwer sind. Nein, sagt der Patient, bunden, nur um Haftungsabsicherungen zu gewährleis- (C)
150 Kilogramm. Dazu der Arzt: Eine Hüftoperation wird ten. So bekommen wir langsam eine Amerikanisierung
wenig bringen. Wenn Sie nicht bereit sind, Ihr Gewicht unseres Gesundheitswesens.
zu reduzieren, werden Sie in einem halben Jahr auf der
Ich bitte alle Beteiligten – vom Versicherten über den
anderen Seite eine neue Hüfte benötigen. Darauf be-
Arzt bis zur Politik –, ihr Möglichstes zu tun, dass nur
kommt der Arzt die Antwort: Sie haben das gefälligst zu
das Notwendige von der Solidargemeinschaft und nicht
machen; schließlich zahle ich meinen Beitrag.
das Wünschenswerte finanziert wird.
In diesem Zusammenhang habe ich gefragt, ob man
(Beifall des Abg. Detlef Parr [FDP])
nicht das Bewusstsein etwas stärken könnte, indem man
sagt: Es könnte sein, dass der Patient an den durch be- Heute ist das leider nicht der Fall, sonst hätte ich diese
stimmte Essgewohnheiten entstehenden Kosten prozen- Beispiele nicht erwähnen müssen.
tual beteiligt wird. Das gilt im Übrigen genauso für das
Rauchen und das Trinken im Übermaß. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brau-
chen ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Neben den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- genannten Veränderungen sehen unsere Eckpunkte noch
neten der SPD und der FDP) weitere Reformschritte vor. Alle diese Maßnahmen stel-
len langfristig die Weichen für die zukünftige Entwick-
Wir brauchen in diesem System mehr Ehrlichkeit, lung unseres Gesundheitswesens. Wir schaffen die
und zwar angefangen vom Missbrauch mit Versicherten- Strukturen, welche die Leistungsfähigkeit des Systems
karten bis hin zu den Abrechnungen. Wir tun in der Dis- durch mehr Eigenverantwortung, Freiheit und Wettbe-
kussion so, als sei immer nur eine Gruppe betroffen. Es werb und damit durch mehr Effizienz stärken.
ist aber nicht nur eine Gruppe davon betroffen.
Vielen Dank.
Ich will an einem Beispiel klar machen, dass alle am
System Beteiligten betroffen sind: Wir haben in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Krankenhäusern eine leistungsgerechte Vergütung ein- neten der SPD)
geführt, die zum Beispiel Folgendes vorsieht: Eine nor-
male Geburt wird mit rund 900 Euro vergütet, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Ute Kumpf [SPD]: Das ist günstig!) Das Wort hat jetzt die Senatorin für Gesundheit,
Soziales und Verbraucherschutz des Landes Berlin, Frau
ein Kaiserschnitt, also eine komplizierte Geburt, mit Heidi Knake-Werner.
rund 2 000 Euro. Mit welchem Ergebnis? Plötzlich ha-
(Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/
(B) ben etliche Krankenhäuser nur noch Kaiserschnittgebur- (D)
ten zu verzeichnen. Ist das medizinisch notwendig? CSU]: Den ganzen Tag PDS-Wahlkampf!)
Jetzt wäre es verkehrt, zu sagen, daran sei nur einer Dr. Heidi Knake-Werner, Senatorin (Berlin):
schuld; deshalb habe ich dieses Beispiel gewählt. Über-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
legen wir einmal, wer daran schuld sein könnte: Ist es
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein Blick auf
die Krankenhausverwaltung, die sagt: „Macht das in die-
die Situation der Länder kann auch diesem Haus nicht
ser Richtung; dann haben wir mehr Einnahmen“? Ist es
schaden. Ich kann das beurteilen, weil ich beide Seiten
der Arzt, der sagt: „Dafür bekomme ich eine höhere Ver-
gut kenne.
gütung“? Ist es die schwangere Frau, die den Kaiser-
schnitt wählt, weil sie aufgrund von Zeitungsberichten Nach einer im „Stern“ veröffentlichten Forsa-Um-
meint, dies sei die modernste Methode? Oder ist es viel- frage sprechen sich 78 Prozent der Befragten für einen
leicht so, dass viele Ärzte aus Haftungsgründen diese Stopp der geplanten Gesundheitsreform aus. Der Patient,
Methode so oft anwenden? Herr Zöller, hat nämlich begriffen, wie Sie ihn in den
Mittelpunkt stellen. Der Patient hat Sorge, dass es für ihn
Diesen Punkt spreche ich aus folgendem Grund an: teurer und risikoreicher wird, wenn er krank wird.
Vor zehn Tagen hat ein Mann einen Arzt, der vor
19 Jahren seine Tochter zur Welt gebracht hat, mit der (Beifall bei der LINKEN)
Begründung verklagt, dass seine Tochter zweimal durch
Frau Ministerin, die Terminverschiebungen sind doch
das Abitur gerauscht ist und dass der Arzt deswegen bei
längst keine Kalenderfrage mehr. Die Koalition ist in
der Geburt etwas verkehrt gemacht haben muss. Ich
wesentlichen Punkten völlig zerstritten. Wenn Sie ehr-
glaube, man müsste einmal den Arzt, der bei der Geburt
lich wären, würden Sie nicht die Termine, sondern die
des Vaters dabei war, fragen, ob er nicht etwas verkehrt
Eckpunkte ändern.
gemacht hat.
(Beifall bei der LINKEN)
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
wie bei Abgeordneten der SPD und des Wir brauchen eine Gesundheitsreform, die nicht die
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ratlosigkeit verlängert, sondern die die Probleme end-
lich löst. Gestatten Sie mir, für die weitere Beratung ei-
Jetzt müssen die Krankenhäuser diesem Fall nachge-
nige Hinweise aus Ländersicht zu geben.
hen. Da kommen wir aber an einen kritischen Punkt: In
Deutschland ist die medizinische Versorgung mit immer Bei der jetzt anstehenden Gesundheitsreform erleben
mehr bürokratischem und finanziellem Aufwand ver- wir eine ähnlich gesundheitspolitisch unverantwortliche
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4651
Senatorin Dr. Heidi Knake-Werner (Berlin)
(A) Fehlleistung wie einst bei Rot-Grün. Selbst die wenigen ligen Renditen der Pharmaindustrie anzutasten. Sie (C)
strukturell sinnvollen Vorhaben, die die Ministerin in die knicken beim Abbau von Verbandsinteressen und Stan-
Eckpunkte hat retten können, wiegen bei weitem nicht desprivilegien ein.
auf, dass der großen Koalition für eine grundlegende Ge-
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die Pharmaindus-
sundheitsreform der Mut fehlt. Zuversicht bei der Re-
trie ist die einzige Industrie, die Sie noch in
form der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversi-
Berlin haben!)
cherung lassen Sie durchgängig vermissen.
Sie holen die Besserverdienenden eben nicht in die Soli-
Dass in einer Koalition Kompromisse gemacht wer-
dargemeinschaft zurück. Auch daran ist gar nichts soli-
den müssen, ist mir nicht gänzlich unvertraut. Aber dass darisch.
man aus den Verhandlungen mit dem Gegenteil von dem
herauskommt, mit dem man hineingegangen ist, ist (Beifall bei der LINKEN – Norbert Barthle
schon etwas ungewöhnlich. [CDU/CSU]: Völlig verquer!)
(Beifall bei der LINKEN) Was noch schlimmer ist: Sie haben das angekündigte
Kernstück der Gesundheitsreform, nämlich die grundle-
Gerade die SPD hat versprochen, die Krankenkassenbei- gende Reform der Kassenfinanzierung, in den Sand ge-
träge zu senken, erstens durch die Einbeziehung weiterer setzt. Ihre Gesundheitsreform ist eben keine einheitliche
Einkommensarten zur Finanzierung des Gesundheitssys- Solidarveranstaltung. Sie ist ein neuer Risikofaktor für die
tems und zweitens durch eine stärkere Steuerfinanzie- Krankenkassen. Sie sollen zwar alle mit gleichen Beiträ-
rung. gen ausgestattet werden; aber das macht nur Sinn, wenn
Jetzt passiert exakt das Gegenteil. Als Erstes streichen gleichzeitig ein zeitgemäßer Risikostrukturausgleich
Sie die Steuerfinanzierung zusammen. Jetzt liegt sie kommt. Nach allem, was man hört, soll er auf das Jahr
nur noch bei 1,5 Milliarden Euro gegenüber vorher 2009 verschoben werden.
4,2 Milliarden Euro. Damit nicht genug: Sie werden den Die Kassen sollen sich entschulden, was natürlich je-
Krankenkassenbeitrag nicht ändern, sondern Sie werden nen Kassen gewaltige Schwierigkeiten bereitet, die
ihn erhöhen. schon seit Jahren unterfinanziert sind – siehe Risiko-
Statt einer höheren Steuerfinanzierung bürden Sie strukturausgleich. Aus Berliner Sicht kann ich Ihnen sa-
dem System durch die Mehrwertsteuer noch zusätzliche gen, mit welchen Risiken wir zu rechnen haben. Kassen
Kosten von 900 Millionen Euro auf. Dabei wird es nicht wie die Berliner AOK mit ihrer äußerst prekären Versi-
bleiben. chertenstruktur, deren Probleme mit dem jetzigen Risi-
kostrukturausgleich überhaupt nicht abgebildet sind,
(Elke Ferner [SPD]: Gibt das Land Berlin sei- werden sich nicht in der vorgesehenen Frist am eigenen (D)
(B)
nen Anteil zurück?) Schopf aus der Schuldenfalle ziehen können.
– Zum Land Berlin könnte ich Ihnen eine ganze Menge (Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!)
sagen.
Über 400 Millionen Euro müsste das AOK-System
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir wollten etwas aufbringen, um die Berliner AOK zu entschulden – und
Landesspezifisches hören! Darauf warten wir das trotz langjähriger Sanierungsbemühungen in Berlin
noch!) selbst. Das kann nicht funktionieren und das weiß auch
die Gesundheitsministerin. Deshalb tut das Bundesmi-
– Darauf komme ich noch. – Während Sie den Arbeitge- nisterium alles, um die Aufsicht führenden Länder dafür
bern einen stabilen Beitrag für die Zukunft garantieren, in Haftung zu nehmen und ihnen den schwarzen Peter
müssen die Versicherten mit zusätzlichen Lasten rech- zuzuschieben. Wie erklärt sich sonst, dass uns der zu-
nen. ständige Staatssekretär aus dem Gesundheitsministerium
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nur die in einem Schreiben auffordert, bei unserer AOK – wört-
halbe Wahrheit!) lich – „dafür Sorge zu tragen, dass die zwingend not-
wendigen Maßnahmen zur Entschuldung umgesetzt wer-
Was daran sozial, was daran solidarisch ist, das würde den“? Das ist eine völlig unmissverständliche Ansage:
ich gerne verstehen. Wir sollen die Kassen zwingen, schon jetzt die Versi-
So wie Ihre Planungen aussehen – alle Fachleute be- cherten mit Sonderbeiträgen zu belasten – ob prozentual
stätigen das –, werden die meisten Kassen nicht umhin oder durch die kleine Kopfpauschale, das ist für die Kas-
können, den Versicherten einen Zuschlag aufzubürden. sen eine Wahl zwischen Pest und Cholera.
Wahrscheinlich wird es auch dabei nicht bleiben, son- (Beifall bei der LINKEN)
dern die Kassen werden gezwungen sein, am Leistungs-
katalog zumindest für die Kranken zu streichen. Das ist Ist Ihnen eigentlich bewusst, welcher Teufelskreis da-
sozial und gesundheitspolitisch unverantwortlich. mit eröffnet wird? Natürlich ist Ihnen das bewusst: Die
Kassen mit den ungünstigsten Versicherungsstrukturen
(Beifall bei der LINKEN)
– Sie wissen, dass das die großen Versicherungsgemein-
Gleichzeitig, meine sehr verehrten Damen und Herren schaften sind – werden die höchsten Sonderzahlungen
– in diesem Punkt hat sich die Union leider komplett verlangen müssen. Im Wettbewerb werden sie dadurch
durchgesetzt –, verzichten Sie auf sämtliche Maßnah- weiter zurückfallen, jüngere und risikoärmere Versiche-
men, mit denen das System ohne zusätzliche Kosten zu rungsgruppen verlieren und infolgedessen noch ungüns-
sanieren wäre. Sie scheuen sich, die international einma- tigere Kostenstrukturen haben.
4652 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ein letzter Gedanke: Leider ist in der Debatte über die Bringt der Fonds mehr Steuermittel? Nein. Die Re-
Gesundheitsreform untergegangen, dass Gesundheits- form verspricht im Vergleich zum Istzustand weniger
förderung und Prävention immer noch die humansten Steuermittel. Dafür sieht der Fonds einen staatlich ver-
Wege zur Kostendämpfung sind. Die Ministerin hat ge- ordneten Einheitsbeitrag vor, der schon im nächsten Jahr
rade gesagt, dass Nichtraucherschutz und Aidspräven- 1,5 Prozent höher liegen wird als der derzeitige.
tion dabei natürlich einen hohen Stellenwert haben müs- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das stimmt
sen. Ich sage ganz klar: Es ist völlig unverantwortlich, doch gar nicht!)
dass die Blockierer von gestern auch heute noch das ge-
rade aus Ländersicht notwendige Präventionsgesetz ver- Ist das, werter Herr Kollege, die versprochene Senkung
hindern können. der Lohnnebenkosten? Was nach der Reform übrig
bleibt, sind Beitragssatzerhöhungen. Dieser Fonds ist
Vielen Dank. Ihre Kapitulation vor Ihren selbst gesetzten Politikzie-
(Beifall bei der LINKEN) len.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: und bei der FDP – Daniel Bahr [Münster]
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von [FDP]: Bei dieser Reform waren Sie aber
Bündnis 90/Die Grünen. selbst mit dabei, Frau Bender! – Zuruf von der
4654 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Birgitt Bender
(A) CDU/CSU: Eine sehr verkürzte Sichtweise ist (Elke Ferner [SPD]: Das funktioniert nur mit (C)
das!) einer festen Prämie!)
Meine Damen und Herren, es ist viel von Wettbe- Sie, Herr Kollege Zöller, haben in erfrischender und
werb die Rede. Ihr Gesetzentwurf, den Sie dem Parla- dankenswerter Offenheit gesagt, dass diese Form der
ment noch nicht vorgelegt haben, trägt die Überschrift Kopfpauschale nicht praktikabel ist. Hier kann ich Ihnen
„Wettbewerbsstärkungsgesetz“. In der Tat wäre es not- nur zustimmen.
wendig, den Wettbewerb zu stärken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Oh ja! Weil sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Sie da mit herumgewurschtelt haben!)
Vor allem ist sie kein Beitrag zu mehr Wettbewerb. Denn
Aber welche Folgen hätte er tatsächlich, Herr Kollege wozu würde sie führen? Menschen mit geringem Ein-
Barthle? Gegenwärtig ist es doch so, dass die gesetzli- kommen müssten zunächst einmal den staatlich verord-
chen Krankenkassen unterschiedliche Beitragssätze ha- neten Einheitsbeitrag zahlen, der für alle gleich hoch ist.
ben.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nein! Der ist
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ja! Genau das
prozentual! Das ist doch verkehrt, was Sie da
haben Sie immer bekämpft!)
sagen!)
Sie variieren in einer Größenordnung von etwa
2,5 Prozentpunkten. Dann müssten Menschen mit geringem Einkommen die
Kopfpauschale zahlen – so es sie denn gäbe –, und zwar
(Jörg Tauss [SPD]: Sind Sie etwa neidisch?) bis zur Grenze ihrer persönlichen Überforderung, also
bis zu 1 Prozent ihres Haushaltseinkommens, also 7, 8
Das heißt, es gibt einen Wettbewerb um niedrige Bei- oder 10 Euro. Mehr würden sie bei keiner Kasse zahlen.
tragssätze.
(Elke Ferner [SPD]: Das hängt doch davon ab, ob
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Den
die Kasse fest oder prozentual erhebt!)
werden wir auch in Zukunft haben!)
In Zukunft würde es einen staatlich festgesetzten Ein- Warum sollten Menschen mit geringem Einkommen
heitsbeitrag geben, aber keinen Wettbewerb. dann eigentlich die Krankenkasse wechseln? Wo ist
denn hier der Wettbewerb?
Vor allem die rechte Seite dieses Hauses sagt immer:
Den Wettbewerb wird es dann durch die Kopfpauschale (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Nun
(B) geben. warten Sie es doch erst einmal ab!) (D)
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Zu- Wie sieht es für die gut verdienenden GKV-Mitglie-
satzprämie!) der aus? Sie müssten, um dem Überforderungsschutz
Rechnung zu tragen, eine sehr hohe Kopfpauschale zah-
Was aber dabei herauskommt, wenn man eine Kopfpau- len; ich erinnere an die von mir erwähnten 41,66 Euro.
schale mit einem Überforderungsschutz in Höhe von Ihnen würde man das Signal geben: nichts wie weg aus
1 Prozent des Haushaltseinkommens erhebt, das haben der gesetzlichen Krankenversicherung, rein in die PKV!
Ihnen die Kassen doch vorgerechnet.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Gerade haben doch gar nicht!)
Sie sich noch gegen den Lohnbezug der Kran-
kenkassenbeiträge ausgesprochen! An sich Denn billiger als Einheitsbeitrag plus Kopfpauschale ist
müssten Sie unser Prämiensystem dann doch die PKV allemal.
befürworten!)
Sie wollen, dass die PKV als Vollkostenversicherung
Die AOK hat Ihnen dargelegt – Herr Kollege, ich habe bestehen bleibt. Dazu kann ich nur sagen: Wettbewerb
noch nicht gehört, dass Sie das widerlegen können –, war gestern.
dass die AOK Mecklenburg-Vorpommern, nur um eine
Kopfpauschale von rechnerisch 10 Euro erheben zu kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
nen, Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Jetzt
sprechen Sie sich ja fast für die solidarische
(Elke Ferner [SPD]: Ja, ja! Aber nur, wenn die Gesundheitsprämie aus, Frau Kollegin!)
Kassen einen festen Beitrag erheben!)
In Zukunft wird es, jedenfalls nach den Plänen der
ihren Beitrag tatsächlich bei 41,66 Euro festsetzen
Koalition, weniger Wettbewerb denn je geben.
müsste, um dem Überforderungsschutz Rechnung zu tra-
gen. Doch selbst dann könnte sie nicht 100 Prozent des Der Wettbewerb um Beiträge wäre auf Eis gelegt.
rechnerischen Einkommens realisieren. Durch die Erhebung einer Kopfpauschale würde die
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie das Position der gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb
jetzt selber verstanden?) mit der PKV verschlechtert. Das würde bedeuten: Eine
Kopfpauschale – so es sie denn gäbe – mit Überforde-
Daran können Sie erkennen, dass das nicht funktioniert. rungsschutz wird es nicht geben.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4655
Birgitt Bender
(A) (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Warum spre- Was wir brauchen, ist Wettbewerb. Auch Wettbewerb (C)
chen Sie denn ständig von der Kopfpauschale? um Beiträge – den schaffen Sie gerade ab –, Wettbewerb
Wo steht denn das, was Sie da sagen?) aber vor allem als Suchprozess, nach mehr Qualität,
nach mehr Wirtschaftlichkeit, die den Patienten zugute
Eine Kopfpauschale – so es sie denn gäbe – ohne Über- kommt, zu suchen. Dafür sehe ich in Ihrem Konzept
forderungsschutz wäre eine soziale Drohung und als sol- keine Ansätze.
che abzulehnen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Man merkt, Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sie ha-
dass Sie es nicht verstanden haben!) ben noch nicht alles gelesen! Das war wohl zu
Im Übrigen: Wollten die Kassen Ihre berühmte Kopf- anstrengend!)
pauschale tatsächlich erheben, müssten sie, um über- Selbst die Möglichkeit, dass Kassen Direktverträge ab-
haupt planen zu können, zunächst einmal die Haushalts- schließen – die es ja gibt und die Sie angeblich auch
einkommen ihrer Versicherten erheben. wollen –, machen Sie de facto platt. Wie wird es denn
sein? Da hocken die Kassen in Zukunft zwangsweise in
(Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Ja, genau! ihrem Dachverband, einem Monopolisten, zusammen
Sehr richtig!) und müssen sich mit ihren Konkurrenten absprechen, be-
Dazu würden sie eine Datei benötigen, die alle Haus- vor sie einen Direktvertrag mit den Ärzten abschließen.
haltseinkommen enthält; diese sind den Kassen bisher (Elke Ferner [SPD]: Unsinn, Frau Bender,
allerdings nicht bekannt. Unsinn!)
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wie Was glauben Sie, was dabei herauskommt? Die Blo-
machen sie das denn mit der Überforderungs- ckade als Dauerzustand. Ich sage es noch einmal: Da-
klausel, Frau Kollegin?) durch entsteht nicht mehr Wettbewerb, sondern dadurch
habe ich gar keinen Wettbewerb mehr.
Eine Datei, die die Haushaltseinkommen aller gesetz-
lich Versicherten ausweist, Frau Kollegin Widmann- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Mauz, haben nicht einmal die Finanzämter. Widerspruch bei der CDU/CSU)
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wie Wir brauchen auch mehr Wettbewerb auf der Anbie-
machen sie es denn bei der Zuzahlung, Frau terseite, da mögen Sie schreien, so viel Sie wollen; Sie
Kollegin?) fühlen sich offensichtlich getroffen.
(B) Hier kann ich nur sagen: Datenschutz und Bürgerrechte (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben un- (D)
lassen grüßen. Entspricht das etwa Ihrem Motto „Mehr ser Konzept nicht einmal gelesen!)
Freiheit wagen“? Dieser Wettbewerb findet nicht statt: Weiterhin müssen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN alle rezeptpflichtigen Arzneimittel von den Kassen er-
sowie bei Abgeordneten der FDP – Annette stattet werden. Auf dem Apothekenmarkt auch nichts
Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dass man so Neues. Gewiss, Sie wollen die Arzneimittelpreisver-
schnell vergessen kann, was man selbst einmal ordnung liberalisieren. Das ist schön. Aber das wird nur
aufgeschrieben hat!) wirken, wenn gleichzeitig die zunftartige Struktur des
Apothekenmarkts aufgebrochen wird. Es gibt zwar ver-
Diese Reform würde nicht zu mehr Freiheit und mehr einzelt die Erkenntnis in dieser Republik, dass wir mehr
Wettbewerb führen. Sie hätte einheitsfinanzierte Kassen Wettbewerb bei der Arzneimitteldistribution brauchen,
in einem Einheitsverband zur Folge. Hier regiert die allein, in die Politik der Koalition hat diese Erkenntnis
Staatsgläubigkeit. Dass das kein zukunftstaugliches Mo- noch keinen Eingang gefunden.
dell sein kann, sollte die Bundeskanzlerin eigentlich aus
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/
ihrer eigenen Biographie wissen.
DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Deswegen halten wir die so genannte Reform für nutzlos
SES 90/DIE GRÜNEN) und untauglich.
Sie scheint aber nichts daraus gelernt zu haben. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wie man so
Übrigens muss man politisch keine Verehrerin der ahnungslos sein kann!)
Selbstverwaltung der Kassen sein, um diese Reform ab- Kommen Sie mir ja nicht mit dem Platzhalterargu-
zulehnen. Wir Grünen wissen, dass diese Art von Selbst- ment, das immer gestreut wird, nach dem Motto „So ma-
verwaltung nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Die be- chen wir’s jetzt, doch nach der nächsten Wahl macht die
rufsständische Struktur der Krankenkassenverbände ist CDU daraus ihre Kopfpauschale in Reinform
heutzutage überholt. Nur, die Alternative ist nicht ein
staatlich gesteuertes Gesundheitswesen mit Direktzu- (Jörg Tauss [SPD]: Nur, wenn sie die Mehrheit
griff des Bundesgesundheitsministeriums. hat!)
bzw. die SPD macht daraus die Bürgerversicherung.“
(Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das
will ja auch niemand!) (Zuruf von der SPD: Natürlich die SPD!)
4656 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Birgitt Bender
(A) Was ist das für ein Konzept? Erst jagen Sie eine Reform- sundheitsbereich werden ja von einem besonders großen (C)
attrappe mit Bürokratieaufschlag durch die Republik, öffentlichen Interesse und oft auch von einem besonders
dann wollen Sie drei Jahre damit verbringen, der Mor- großen Getöse begleitet.
genröte der Originalumsetzung Ihrer Parteitagsbe-
schlüsse entgegenzuträumen, oder wie? (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr
Lauterbach!)
(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) Leider wird dabei oft auch der Eindruck vermittelt,
mit einer wirklich großen, umfassenden und mutigen
Das ist doch kein politisches Konzept! Ich kann nur sa- Reform könne man alle Probleme unseres Gesundheits-
gen: Ministergehälter sind kein Überbrückungsgeld für systems mit einem Schlag für alle Zeit loswerden. Diese
die Zeit bis zum nächsten Wahltag, sondern diese Gehäl- häufig verbreitete Erwartung muss enttäuscht werden;
ter werden für geleistete Arbeit gezahlt. Deswegen müs-
sen Sie die politische Arbeit, gezielt einen Kompromiss (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
in Ihrer großen Koalition zu finden, auch leisten. Darauf
warten wir noch. denn unser Gesundheitssystem unterliegt einem ständi-
gen Entwicklungsprozess, den wir auch wollen und der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – durch unterschiedliche und zum Teil auch schwer kalku-
Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wie lierbare Faktoren wie dem medizinisch-technischen
wir auf die von Ihnen angekündigte Reform Fortschritt beeinflusst wird. Angesichts dieses kontinu-
der Pflegeversicherung! Wir warten immer ierlichen Prozesses müssen wir deshalb auch die gesetz-
noch!) lichen Rahmenbedingungen kontinuierlich weiterentwi-
Zum Abschluss. Man kann in gewisser Weise froh ckeln.
sein: Reform verschoben; Fonds sowieso verschoben; Aus diesem Grund muss die aktuell diskutierte Ge-
selbst wenn feststehen sollte, dass er zum 1. Januar 2009 sundheitsreform auch im Zusammenhang mit der letzten
kommt, wird er nicht kommen; denn wer glaubt schon, Reform in 2004, mit dem Gesetz zur Modernisierung der
dass Sie ausgerechnet im Wahljahr die Chuzpe haben, so gesetzlichen Krankenversicherung – kurz: GMG –, be-
etwas einzuführen? Trotzdem hätte dieses Vorgehen ei- trachtet werden. Kollegin Bender, hier haben wir erste
nen hohen Preis: Denn wenn feststeht, dass dieser Fonds Schritte hin zu mehr Wettbewerb, mehr Qualität und
Gesetz wird, dann werden Vorbereitungen getroffen, mehr Wirtschaftlichkeit unternommen. Durch die vorge-
dann werden Umstellungen vorgenommen, denen ge- legten Eckpunkte zur Gesundheitsreform werden diese
genüber sich der Aufwand für die Umstellung auf im GMG festgelegten Instrumente für mehr Qualität und
Hartz IV bescheiden ausnimmt. Der Unterschied ist nur: mehr Wettbewerb aufgegriffen, verstärkt und ergänzt.
(B) (D)
Für die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial-
hilfe gab es gute Gründe. Für die Einführung eines Ge- (Beifall bei der SPD)
sundheitsfonds gibt es überhaupt keinen guten Grund –
außer der Gesichtswahrung der großen Koalition. Im Bereich der Strukturreformen sind wir mit gro-
ßen Schritten vorangekommen. Ich will ein paar Bei-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) spiele dafür nennen: In der integrierten Versorgung wird
Für diesen Unsinn Gelder zu binden, Energien zu bin- in Zukunft auch die Pflege enthalten sein. Wir werden
den, heißt, Gelder zu verschwenden, die man dringend die Chroniker-Programme weiterentwickeln. Der Kol-
bräuchte für eine Verbesserung des Gesundheitswesens lege Zöller hat etwas dazu gesagt. Wir werden die Kran-
und der Prävention. Deswegen sage ich Ihnen im Namen kenhäuser weiter öffnen. Es wird endlich eine Kosten-
der Grünen: Gehen Sie zurück auf Los! Ziehen Sie kein Nutzen-Bewertung für Arzneimittel und auch ein neues
Geld ein! Fangen Sie noch einmal an, zusammen über Honorarsystem für niedergelassene Ärzte geben.
Wege zu mehr Solidarität und mehr Wettbewerb nachzu-
(Beifall bei der SPD)
denken! Wir hätten Ihnen ein Konzept dafür vorzuschla-
gen; aber wir wissen, dass Sie Kompromisse suchen Besonders hervorheben möchte ich die erweiterten Mög-
müssen. Die Bremer Stadtmusikanten haben gesagt: „… lichkeiten für die Kassen, Verträge abzuschließen. Da-
etwas Besseres als den Tod findest du überall“. – Ich runter fallen zum Beispiel Rabattverhandlungen, aber
sage der Koalition: Was Besseres als diese Reform fin- auch die Ausschreibung von Arzneimittelwirkstoffen
den Sie allemal. Also tun Sie es auch! und Hilfsmitteln. Kollegin Bender, das stärkt den Wett-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bewerb unter den Anbietern.
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Carola Reimann von Bei allen Reformen im Gesundheitsbereich wird be-
der SPD-Fraktion. fürchtet, dass es zu Ausgrenzungen aus dem Leistungs-
katalog kommt. Bei dieser Reform ist das Gegenteil der
(Beifall bei der SPD) Fall. Wir haben insbesondere für sehr alte und sehr
kranke Menschen wichtige Bereiche aufgenommen. Ich
Dr. Carola Reimann (SPD): nenne in diesem Zusammenhang die Palliativmedizin
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! und die geriatrische Reha, die jetzt Pflichtleistungen im
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Veränderungen im Ge- Leistungskatalog sind.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4657
Dr. Carola Reimann
(A) Kolleginnen und Kollegen, die Strukturreformen, die Fehlt dieser Ausgleich, bleibt es bei dem schädlichen (C)
in der öffentlichen Diskussion leider allzu häufig ver- Wettbewerb um junge und gesunde Versicherte. Diesen
nachlässigt werden und auch finanzrelevant sind, sind Wettbewerb wollen wir nicht.
wichtige Bestandteile der Gesundheitsreform. Im Zen-
trum der öffentlichen Aufmerksamkeit steht aber vor al- Was wir brauchen, ist ein Wettbewerb um den besten
lem der Gesundheitsfonds. Es ist ein offenes Geheim- Service, die beste Qualität der Versorgung und die beste
nis, dass wir Sozialdemokraten in einigen Punkten, wie Betreuung für die Versicherten.
zum Beispiel bei der Steuerfinanzierung und auch bei (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Hans
der Einbeziehung der privaten Krankenversicherung, Georg Faust [CDU/CSU])
wesentlich weitergehende Vorstellungen haben.
Unser Ziel ist es, dass jeder Versicherte für eine Kasse
(Beifall bei der SPD) gleich wichtig ist, egal ob jung oder alt, wohlhabend
Viel ist auch über den Startzeitpunkt des Fonds be- oder nicht, gesund oder krank. Nur so entsteht ein gesun-
richtet und diskutiert worden. Für mich sind aber die Vo- der Wettbewerb um die beste und kostengünstigste Ver-
raussetzungen für einen funktionierenden Fonds ent- sorgung im Land und nur dann erhalten wir eine klare
scheidender. Um das Ziel des Fonds, für mehr Information über die wirkliche Leistungsfähigkeit einer
Wirtschaftlichkeit und Wettbewerb im Gesundheitswe- Krankenkasse.
sen zu sorgen, erreichen zu können, brauchen wir als un- Darüber hinaus ist der zielgenaue, morbiditätsorien-
verzichtbare Voraussetzung einen zielgenauen morbidi- tierte Risikostrukturausgleich auch für die Reform der
tätsorientierten Risikostrukturausgleich. ärztlichen Vergütung von Bedeutung; denn wenn man
(Beifall bei der SPD) mit der neuen Art der Vergütung der Ärzte das Morbidi-
tätsrisiko von den Ärzten weg auf die Krankenkassen
Ich will das kurz erläutern: Im Fondsmodell ist vorge- verlagert, braucht man einen angemessenen Ausgleich
sehen, dass die Kassen einen Betrag pro Versicherten aus zwischen den Kassen.
dem Fonds erhalten. Dieser Betrag ist in seiner Höhe un-
abhängig vom eingezahlten Versichertenbeitrag. Der (Beifall bei der SPD)
entscheidende Punkt ist, dass zu diesem Betrag ein Zu-
Es wird also deutlich: Große Teile der Gesundheitsre-
schlag hinzukommt, durch den das Krankheits- und
form entfalten nur dann ihre gewünschte Wirkung, wenn
Morbiditätsrisiko des Versicherten abgebildet wird.
wir gleichzeitig einen solchen zielgenauen, morbiditäts-
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Das steht orientierten Risikostrukturausgleich einführen.
in den Eckpunkten aber nicht drin!)
Um den jetzigen Risikostrukturausgleich in diese
(B) Das ist eine Art Morbi-Zuschlag. Der Gesamtbetrag, den Richtung weiterentwickeln zu können – das will ich an (D)
die Krankenkasse aus dem Fonds erhält, muss für einen dieser Stelle sagen –, brauchen wir eine aktuelle Daten-
chronisch Kranken somit höher sein als für einen jungen erhebung, die zum Beispiel Entlassdiagnosen in Kran-
gesunden Versicherten. Das steht durchaus in den Eck- kenhäusern, Wirkstoffverordnungen und Diagnosen im
punkten. ambulanten Bereich erfasst. Die entsprechende Verord-
nung zur Datenerhebung existiert seit geraumer Zeit. Sie
(Beifall bei der SPD)
muss noch in diesem Jahr vom Bundesrat auf den Weg
Damit dieser Morbiditätszuschlag exakt ermittelt gebracht werden.
werden kann, brauchen wir mit dem Start des Gesund-
heitsfonds einen zielgenauen, morbiditätsorientierten Ri- Die Verschiebung der Einführung der Gesundheitsre-
sikostrukturausgleich. form war hier schon Thema. Ich appelliere aber an alle
Beteiligten, den Startschuss für den Risikostrukturaus-
(Beifall bei der SPD – Frank Spieth [DIE gleich nicht weiter zu verschieben.
LINKE]: Heißt das, dass der Fonds erst 2009
eingeführt wird?) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir alle wissen, dass die Krankheitsrisiken der Versi- Auch wenn die Bundeskanzlerin gestern Abend im Koa-
cherten in den verschiedenen Kassen – Stichwort Wett- litionsausschuss vorgeschlagen hat,
bewerb – sehr ungleich verteilt sind. Die eine Kranken- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Die Sitzung
kasse weist eine große Zahl von alten und kranken war nicht öffentlich!)
Menschen und damit teure Versicherte auf, während eine
andere Kasse vor allem jüngere und gesunde Mitglieder das In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform auf das Früh-
hat. Dieses Problem haben wir insbesondere mit Blick jahr des nächsten Jahres zu verschieben, um eine aus-
auf die Wechsel zwischen den gesetzlichen Krankenver- führliche Beratung zu ermöglichen – das begrüßen wir
sicherungen immer wieder thematisiert. alle –,
Zu einem fairen Wettbewerb zwischen den Kassen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aus voller
um die bessere Versorgung und nicht um die besten Risi- Überzeugung!)
ken, also die gesündesten und solventesten Versicherten,
entlässt das alle Beteiligten nicht aus der Verantwortung,
kommen wir nur, wenn die Risiken durch Morbiditätszu-
die Vorbereitungsarbeiten, zum Beispiel die Datenerhe-
schläge pro Versicherten ausgeglichen werden.
bung, die man notwendigerweise braucht, um weiterar-
(Beifall bei der SPD) beiten zu können, zeitnah auf den Weg zu bringen.
4658 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fachliche Aspekte vergegenwärtigen und darüber im (C)
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit? Klaren sein, dass das natürlich gewisse Dimensionen
hat.
Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Eine dieser Dimensionen ist ganz eindeutig: Trotz al-
Der Aufwand für dieses Fitnessprogramm ist erheb- ler Probleme beinhaltet eine Steuerfinanzierung in der
lich, aber der Aufwand lohnt sich. Dieser Umbau unse- Tat im Prinzip eine Verbreiterung der Bemessungsgrund-
res Gesundheitswesens bedeutet soziale Gerechtigkeit lage.
mit den Mitteln von Markt und Transparenz.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Man muss über den Faktor Arbeit hinaus – ich beziehe
(Beifall bei der CDU/CSU) mich auf die engere Definition dieses Begriffs; ich ver-
weise auf die hier dargestellten Probleme – andere Fi-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
nanzierungsformen nutzen. Wir sollten künftig in der
Lage sein, über den Steuertopf eine Art solidarische
Das Wort hat der Kollege Ewald Schurer, SPD-Frak- Mitfinanzierung zu bewerkstelligen. Das ist wichtig.
tion. Wie ich in einer Schrift des BDI gelesen habe, wäre das
im Prinzip eine „solidarisch motivierte Steuer“.
Ewald Schurer (SPD):
(Zuruf des Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU])
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die – Kollege Kampeter, ich bin für alle guten Vorschläge
öffentliche Diskussion über die Gesundheitsreform hat offen, manchmal sogar für die Ihrigen.
sich noch nicht unmittelbar auf die Gestaltung des
Einzelplans 15 im Haushalt 2007 ausgewirkt. Dennoch (Heiterkeit bei der SPD)
möchte ich hier vorweg sagen: Ich finde es politisch Es gibt fachliche Gründe, diese Steuerdimension ein-
richtig und ich finde es gut, dass wir mit der Verschie- zubringen. Als Haushälter möchte ich davor warnen, mit
bung um ein Vierteljahr, die gestern beschlossen worden Steuermitteln künftig inflationär umzugehen. Es geht um
ist, ein Stück weit den Druck von dieser Diskussion neh- das richtige Verhältnis von Beitragsfinanzierung und ei-
men, um mehr Zeit für politisch klare Festlegungen und nem Additiv „Steuermittel für die versicherungsfremden
Definitionen für eine tragfähige Reform des Gesund- Leistungen“. Ich möchte auch davor warnen, die priva-
heitswesens für die Zukunft zu bekommen. Es geht da- ten Haushaltseinkommen mit einem Zusatzbetrag oder
rum, für eine zukunftsfeste Qualität der Versorgung der einer Zusatzprämie von mehr als 1 Prozent zu belasten.
(B) Menschen auf guter ökonomischer Grundlage zu sorgen. Das würde die Versicherten und die Patientinnen und Pa- (D)
tienten mit Sicherheit überbelasten. Wenn wir eine solide
Als Haushälter möchte ich bewusst die Grundsatz-
Finanzierungspolitik betreiben wollen, dann können wir
frage ansprechen, dass die Beitragsfinanzierung im
uns das nicht leisten.
System auch künftig unverzichtbar sein wird. Notwen-
dig ist ein Diskurs darüber, inwieweit mit Steuermitteln (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
versicherungsfremde Leistungen – Schwerpunkt ist die
beitragsfreie Mitversicherung von Kindern – erbracht Die große Koalition – da bin ich mir sicher – will das
nicht. Wir wollen ein Gesundheitssystem, das auch künf-
werden können. An dieser Stelle gibt es einen ersten Be-
tig monetär berechenbar ist. Der Bundeshaushalt braucht
zugspunkt zum aktuellen Haushalt. Im Vergleich zum
Haushalt 2006 ist er diesbezüglich zwar um berechenbare Grundlagen. Ständig beliebige Definitio-
nen nach Kassenlage – die Regierung will sie eindeutig
2,7 Milliarden Euro kleiner, veranschlagt für solche
nicht – nützen ihm nicht. Gesundheitsreform und Bun-
Zwecke aber immer noch 1,5 Milliarden Euro. Wie wir
wissen, plant diese Koalition auf Basis der nun vorlie- deshaushalt sind wie kommunizierende Röhren. Wir
brauchen klare politische Festlegungen, die auch mittel-
genden Eckpunkte vom Juli dieses Jahres, dass der Etat
fristig tragfähig sind. Das ist notwendig, um solide arbei-
2008 vermutlich wieder Mittel in Höhe von 1,5 Milliar-
den Euro – in der Zukunft wird vielleicht sogar mehr ten zu können.
Geld zur Verfügung stehen – bereitstellen wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass es beim In diesem Zusammenhang erscheint es mir als Haus-
geplanten Gesundheitsfonds eben auch um Folgendes hälter dringend geboten, über die löblichen Ansätze die-
geht: Wenn man Steuermittel langfristig einsetzen ser Gesundheitsreform hinaus auch für die Zukunft kos-
möchte, dann geht dem eine Grundsatzentscheidung vo- tenwirtschaftliche Hebungen – ich habe keinen besseren
raus. Als Haushälter muss ich anmerken, dass eine sol- Begriff – einzufordern. Über die jetzigen Ansätze hinaus
che Grundsatzentscheidung sich an den Erfahrungen, die muss die integrierte Versorgung auf Dauer auf alle Pa-
wir in anderen Sozialsystemen gemacht haben, messen tientinnen und Patienten und auf alle Bereiche dieses
lassen muss. Sicherlich ist es gut zu wissen, welche Sektors ausgeweitet werden, damit die milliardenschwe-
Finanzierungsangebote wir derzeit im Bereich der Al- ren Effizienzreserven, die im System theoretisch und
ters- und Rentenversicherung haben. Wenn man künftig praktisch vorhanden sind – alle Experten sagen das –,
versicherungsfremde Leistungen, speziell die Mitversi- generiert werden können. Die Ansätze – nach einem
cherung von Kindern – dafür habe ich Verständnis – mit schwierigen Prozess haben Union und SPD einen Kom-
Steuermitteln finanzieren möchte, dann muss man sich promiss geschlossen; das muss man einmal sagen – müs-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4663
Ewald Schurer
(A) sen weiterentwickelt werden, damit die Arzneimittel- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: „Wer Visionen (C)
und Medikamentenpreise in Deutschland auf ein ver- hat, soll zum Arzt gehen“, hat Schmidt ge-
nünftiges europäisches Mittelmaß kommen. Es ist nicht sagt!)
gut, wenn wir erleben müssen, dass gewisse Medika-
Meine Vision bei dieser Gesundheitsreform ist: Der Ge-
mente in Deutschland im Vergleich zu anderen europäi-
sundheitsfonds wird aufgebaut;
schen Staaten weit überteuert angeboten werden.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist eine
Schließlich – das ist von den Kolleginnen und Kolle-
super Vision!)
gen schon gesagt worden; das ist eine sozialdemokrati-
sche Komponente; sie anzusprechen kann und darf man er wird mehr oder minder virtuell aufgebaut. Wir greifen
mir nicht nehmen –: Ein Risikostrukturausgleich wird auf die bewährten Strukturen und die qualifizierten Ka-
nur dann wirklich gegeben sein, wenn auch die Beteili- pazitäten der gesetzlichen Kassen beim Beitragseinzug
gung der privaten Krankenkassen gesichert ist. Dazu zurück. Wir bauen keine unnötige Bürokratie auf.
gibt es im Prinzip keine Alternative.
(Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Herr Kollege!
Der Kollege Zöller hat schon von der Solidarität im Sys-
tem gesprochen. Wenn er das im nächsten Vierteljahr Ewald Schurer (SPD):
noch ein Stück weiterentwickelt, bin ich da ganz opti- Ganz zum Schluss noch eine Überzeugung – lassen
mistisch. Sie mich das bitte noch sagen –: Der Risikostrukturaus-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD) gleich wird dann zu einem vollen Erfolg werden,
Die Reform hat auch wirklich gute Ansätze. Noch (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das kann keiner
einmal in aller Kürze: Die allgemeine Versicherungs- so gut sagen wie die Frau Dr. Reimann!)
pflicht, ein sehr wichtiges Projekt der Sozialpolitik all- wenn es uns gelingt, die PKV künftig voll und ganz in
gemein, muss gelobt werden. Dass geriatrische Patienten diesen Risikostrukturausgleich einzubeziehen. Diese Vi-
und Pflegebedürftige, die an chronischen Krankheiten sion wird eines Tages Wahrheit werden.
leiden, künftig Ansprüche nach dem Leistungskatalog
haben, ist wichtig; dass Mutter- oder auch Vater-Kind- Ich bedanke mich für die große Aufmerksamkeit.
Kuren Pflichtleistung werden, ebenfalls. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
(B) Dass empfohlene Impfungen künftig Gegenstand des Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (D)
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans Georg
Katalogs sind, ist wirklich absolut notwendig. Ganz
Faust, CDU/CSU-Fraktion.
wichtig noch – das ist von der Kollegin Widmann-Mauz
schon gesagt worden –: Dass im Eckpunktepapier der (Beifall bei der CDU/CSU)
Leistungsanspruch auf Palliativversorgung definiert
werden soll, ist ohne Alternative, weil das menschliche Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU):
Leben auch am Schluss mit Würde begleitet werden Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
muss. Herren! Mit den Eckpunkten zur Gesundheitsreform,
Im eigentlichen Haushalt – das noch zum Schluss – den zurzeit erfolgenden Konkretisierungen und dem Ent-
haben wir, wenn man von den 1,5 Milliarden Euro zur wurf zur Änderung des Vertragsarztrechts sind wir da-
globalen Abgeltung bei der GKV absieht, was sozusagen bei, unser altehrwürdiges Gesundheitssystem effizienz-
ein durchlaufender Posten ist, diesmal noch 425 Millio- steigernd zu verändern und umfassend zu modernisieren.
nen Euro zur Verfügung. Das ist in dem Bereich ein Auf- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!)
wuchs um 26 Millionen Euro. Warum? Ich sage es in al-
ler Kürze: Damit werden unter anderem notwendige Im Mittelpunkt dieser großkoalitionären Kraftan-
Baumaßnahmen des Ministeriums in Bonn sowie für strengung steht der Versicherte, vor allem der Versi-
das Paul-Ehrlich-Institut, das BfArM und das Robert- cherte, der als Patient Hilfe benötigt. Doch wo sucht der
Koch-Institut bewältigt, die dringend notwendig sind. Patient in seiner Not Hilfe? Er sucht sie nicht bei der
Hierfür werden insgesamt 46 Millionen Euro – das ist Politik, nicht bei der Krankenkasse, auch nicht bei der
diesmal ein größerer Posten – zur Verfügung gestellt. Verbraucherberatung; nein, er sucht diese Hilfe beim
Arzt in der Praxis oder auch im Krankenhaus.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wenn ich dieses Kernelement unseres Gesundheits-
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Redezeit. Sonst wesens, den Arzt-Patienten-Kontakt, betrachte, dann
reden Sie auf Kosten Ihrer Kollegin. ist das Ergebnis durchaus zwiespältig. Auf der einen
Seite gilt: gute Erreichbarkeit tags und nachts, noch flä-
Ewald Schurer (SPD): chendeckende Versorgung, breites Leistungsangebot von
Recht herzlichen Dank. gut ausgebildeten und, wie wir wissen, auch im Ausland
hoch geschätzten Ärzten. Auf der anderen Seite gilt:
Ganz zum Schluss möchte ich noch auf eines hinwei- stark reglementiert, abgeschottete Sektoren, übermäßi-
sen. Man hat immer auch eine Vision. ger Dokumentations- und Bürokratieaufwand. Für Ärzte
4664 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Norbert Barthle
(A) Da die PDS auf diese Art und Weise Wahlkampf macht, können wir künftig sicherlich noch viel Kreativität be- (C)
kann ich nur hoffen, dass die Berliner Wählerinnen und weisen. Der Beitrag des Kollegen Zöller hat dies schon
Wähler dies entsprechend würdigen. gezeigt.
Frau Kollegin Bender, wir schätzen Sie alle. Wir wis- (Beifall bei der CDU/CSU)
sen, dass Sie seit langer Zeit in diesem Metier tätig sind,
und sprechen Ihnen Kompetenz zu. Sie haben hier eine Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen, die
Rede gehalten, in der Sie den Eindruck erwecken, als immer wieder an uns gerichtet wird: Warum wird der
hätten Sie nie etwas mit Gesundheitspolitik zu tun ge- Zuschuss an die GKV innerhalb von zwei Jahren von
habt. Das ist schon etwas eigenartig. Da sollten Sie sich 4,2 Milliarden Euro auf null abgeschmolzen? Ganz ein-
an die Nase packen. fach: Wir korrigieren einen Webfehler der Vorgängerre-
gierung. Denn die pauschale Abgeltung versicherungs-
(Beifall bei der CDU/CSU) fremder Leistungen der GKV, für die zwischen 2004 und
Herr Kollege Bahr, in Ihrer Rede haben Sie genau das 2007 insgesamt 9,2 Milliarden Euro in die GKV geflos-
verstärkt, was Sie beklagen. Sie haben Verunsicherung sen sind, ging einher mit der schrittweisen Erhöhung der
betrieben. Tabaksteuer. Aber nachdem sich Tanken für die Rente
und Rauchen für die Gesundheit nicht als annähernd so
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: erfolgreich, wie vom damaligen Finanzminister Eichel
Überhaupt nicht!) erwartet, herausgestellt haben, war es nachvollziehbar,
Denn Sie bauen Pappkameraden auf und argumentieren dass man hier umsteuert. Deshalb fließen letztmals 2007
gegen Dinge, die noch gar nicht entschieden sind. Was 1,5 Milliarden Euro als Einnahme in die GKV.
soll das eigentlich? Gleichzeitig aber schaffen wir den Einstieg in den
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Systemwechsel. Das ist die entscheidende Neuerung in-
neten der SPD – Daniel Bahr [Münster] nerhalb des Gesundheitswesens. Denn zur Finanzierung
[FDP]: Das steht in den Eckpunkten!) der beitragsfreien Versicherung der Kinder in der GKV
stellen wir nach heutiger Planung ab 2008 1,5 Milliarden
Ich wünsche mir von allen Beteiligten, dass in den Euro und ab 2009 3 Milliarden Euro zur Verfügung. Die
Debatten die fixierten Eckpunkte nicht so interpretiert Koalition ist sich auch darüber einig, dass dieser Betrag
werden, wie es der Opposition gerade ins Konzept passt, weiter erhöht werden soll. Allerdings geht dies nur in
sondern dass man darüber an der Sache orientiert und Stufen; das geht nicht auf einen Schlag.
auf der Basis der getroffenen Entscheidungen diskutiert.
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Woher nehmen
Ich bin froh, dass die Frau Ministerin überwiegend Sie das Geld, Herr Barthle?)
(B) (D)
zum Haushalt gesprochen hat. Das war wohltuend.
– Herr Kollege Bahr, ein Anfang wurde gemacht. Das ist
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der entscheidende Punkt. Ein chinesisches Sprichwort
Auch ich möchte auf den Haushalt zu sprechen kommen. besagt: Auch der weiteste Weg beginnt mit dem ersten
Schritt.
Wenn man den durchlaufenden Posten „Zuschuss an
die GKV“ abzieht, dann ist der Gesundheitsetat ein (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! Das
kleiner und feiner Etat. 425 Millionen Euro bei einem muss der Kollege Bahr noch begreifen!)
Gesamtvolumen des Bundeshaushalts in Höhe von Deswegen ist es sehr richtig, es so zu machen.
267 Milliarden Euro bedeuten gerade einmal einen An-
teil von 1,6 Promille. Mit diesen 1,6 Promille steuern Natürlich beklagen die Kassen diese Kürzung. Aber
und regeln wir einen Markt, in dem rund 240 Milliarden zur Wahrheit gehört eben auch, dass durch das Arzneimit-
Euro umgesetzt werden. Das entspricht nahezu dem Vo- telversorgungs-Wirtschaftlichkeitsgesetz – ein kompli-
lumen des gesamten Bundeshaushalts. Das ist insgesamt zierter Name – eine Entlastung von 1,5 Milliarden Euro
gesehen nicht schlecht. für die Kassen pro Jahr erwartet werden darf. Im Jahre
2009 kommen zu den 3 Milliarden Euro Steuerzuschuss
Wir betonen immer wieder, dass das Thema Gesund- also noch Einsparungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro
heit die Menschen fundamental berührt. Deshalb ist es hinzu. Mit diesen 4,5 Milliarden Euro ist die Kürzung um
auch nachvollziehbar, dass so viele Debatten häufig mit 4,2 Milliarden Euro bereits im Jahre 2009 überkompen-
großer Leidenschaftlichkeit und Aufgeregtheit geführt siert. Auch das muss man zur Kenntnis nehmen.
werden. Die Weltgesundheitsorganisation definiert Ge-
sundheit als den Zustand vollkommenen körperlichen, Ich finde es übrigens schon bemerkenswert, dass es
geistigen und sozialen Wohlbefindens. Gesundheit ist uns gelungen ist, innerhalb von zwei Jahren die Kürzung
also nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebre- von Steuermitteln in Höhe von 4,2 Milliarden Euro, die
chen. Nach dieser Definition bin ich häufiger krank, als als Zuschuss in ein soziales Sicherungssystem geflossen
ich es bisher wusste. sind, durch andere Maßnahmen auszugleichen. Das ist
etwas, was uns mancher Haushälter nicht zugetraut
Diese Definition macht aber auch deutlich, wo die hätte.
Schwierigkeiten in diesem Metier liegen, nämlich in der
unscharfen Abgrenzung von Krankheit und Gesundheit: Die zweite Frage, die immer wieder an uns herange-
Welche Maßnahmen und Leistungen tragen zur Gesund- tragen wird, lautet: Warum wird eigentlich der Arbeit-
heit bei und müssen erstattet werden? Bei diesem Thema geberbeitrag eingefroren und den Arbeitnehmern die
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4667
Norbert Barthle
(A) Mehrkosten aufgebürdet, wenn in diesem System mehr dem Rasenmäher Personal einspart, sondern dass man (C)
auf Steuerfinanzierung umgestellt werden soll? gezielt Aufgabenkritik betreibt, insbesondere in den
nachgeordneten Behörden. Ich denke an DIMDI, an
(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das macht ihr BZgA oder was auch immer. Da gibt es sicherlich noch
doch gar nicht!) die eine oder andere Einsparmöglichkeit.
Ich sage klipp und klar: Die Entwicklung gebietet die- Ansonsten kann man zu dem Haushalt sagen: Die Mi-
ses. Wir haben immer weniger sozialversicherungs- nisterin hat die Prävention hervorgehoben. Das ist die
pflichtige Beschäftigte, auch wenn dieser Trend etwas richtige Weichenstellung. Da hat sich etwas verändert.
umgedreht werden konnte. Langfristig wird es aber al- Dazu stehen wir. Frau Ministerin, wir Haushälter stehen
lein aufgrund der demografischen Entwicklung so sein, Ihnen in fairer und vertrauensvoller Zusammenarbeit zur
dass die Schere zwischen Beitragseinnahmen in den so- Seite, immer dann, wenn Sie Richtiges vorhaben. Fair-
zialen Sicherungssystemen und dem Bruttoinlandspro- ness und Vertrauen bilden ohnehin die gute Basis für
dukt immer weiter auseinandergeht. Deshalb ist es not- eine Zusammenarbeit.
wendig, an dieser Stelle umzusteuern, um auch für den
Arbeitsmarkt Entlastung zu schaffen. Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der SPD – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE
Nebenbei bemerkt: Es geht hier auch immer um die GRÜNEN – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/
Frage, ob eine stärkere Steuerfinanzierung sozial ge- DIE GRÜNEN]: Der Nachsatz ist wichtig!)
recht sei. Wir erfahren da immer wieder Kritik aus dem
linken Teil des Hauses. Das, meine Damen und Herren,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
kann ich nicht verstehen. Bisher beteiligen sich am Soli-
darausgleich innerhalb der GKV weitgehend die Versi- Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
cherten, zum Teil auch die PKV-Versicherten. Finanzie- Wir kommen deshalb zu dem Geschäftsbereich des
ren wir stärker über Steuermittel, dann gilt der Satz, dass Bundesministeriums für Bildung und Forschung,
starke Schultern mehr tragen als schwache Schultern. Einzelplan 30. Das Wort hat die Bundesministerin
Denn dann beteiligen sich aufgrund der Steuerprogres- Dr. Annette Schavan.
sion die Gutverdiener überdurchschnittlich an diesem
Ausgleich. Dasselbe gilt für die Unternehmen, denn die (Beifall bei der CDU/CSU)
bezahlen auch Steuern.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
Was an diesem Vorgehen unsolidarisch sein soll, ent- dung und Forschung:
(B) zieht sich meiner Erkenntnis – im Gegenteil: Das ist So- (D)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
lidarität der Starken mit den Schwachen im besten Sinne Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Bundes-
des Wortes. regierung – das zeigt der Einzelplan 30 – hat die Kraft
(Jörg Tauss [SPD]: Barthle macht linke Politik!) zur wirklichen Priorität für Bildung, Wissenschaft und
Forschung, weil wir, beide Regierungsfraktionen ge-
– Nein, das ist sinnvolle Politik für die gesellschaftliche meinsam, das als die Grundlage einer überzeugenden In-
Entwicklung von morgen. novationspolitik verstehen.
Zu dem Vorwurf, dass sich die PKV-Versicherten stär- (Beifall bei der CDU/CSU)
ker an dem GKV-Ausgleich beteiligen sollen, kann ich
nur sagen: Meiner Ansicht nach ist die PKV-Versiche- Wir investieren deutlich mehr Geld. Wir konzentrie-
rung ein gut funktionierendes System. ren Kräfte. Wir optimieren Konzepte und stellen an
wichtigen Stellen und bei wichtigen Themen die Wei-
(Beifall des Abg. Daniel Bahr [Münster] chen neu.
[FDP] – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Aber nur für die, die rein dürfen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ein Rentnerehepaar, das 800 Euro pro Monat an Bei- Hinter dem Einzelplan 30 steckt ein breites Spektrum
trägen an die private Krankenversicherung bezahlt, an Themen, die für die junge Generation von zentraler
würde bei einem Wechsel in die GKV 150 Euro bezah- Bedeutung sind und die wichtig sind mit Blick auf die
len. Stellen Sie sich das so vor? Wenn es so ist, dann Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Das sind nämlich
müssen Sie das auch sagen. Themen, mit denen vielfältige Chancen, Potenziale und
Dynamik verbunden sind.
Wir Haushälter haben in den anstehenden Beratungen
Der Haushalt verzeichnet gegenüber 2006 einen
die Aufgabe, diesen Bundeshaushalt sorgfältig durchzu-
Zuwachs von 500 Millionen Euro. Das entspricht 6,2 Pro-
forsten. Es gibt sicherlich ein Thema, bei dem wir mit
zent. Allein im Bereich Projektförderung konnten wir ei-
Ihnen, Frau Ministerin, nicht ganz einig sind: Das sind
nen Zuwachs um 14,4 Prozent auf 2,62 Milliarden Euro
die Personalkosten. Ihr Haus hat sehr hohe Personal-
erreichen.
kosten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wir Haushälter waren und sind uns einig, dass wir
den Personalabbau kontinuierlich fortführen müssen. Wer von Ihnen erlebt hat, wie schwierig es in der Ver-
Dazu wird es notwendig sein, dass man nicht mehr mit gangenheit war, in diesem Bereich die notwendigen
4668 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ulrike Flach (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei kaum einem anderen Thema sind sich zumindest An dieser Stelle will ich auf einen weiteren Punkt zu
oberflächlich alle in diesem Lande so einig, dass wir in- sprechen kommen: die Sicherheitsforschung. Ich erin-
vestieren und etwas machen müssen, wie bei dem gro- nere mich noch an die Zeiten, als ich im Forschungsaus-
ßen Thema Bildung, Forschung und Innovation und bei schuss für genau dieses Thema kämpfte. Wie ich sehe,
dem Ziel, das wir alle haben, nämlich 3 Prozent des nickt Frau Burchardt begeistert. Wir beide waren näm-
Bruttoinlandproduktes für diesen Bereich auszugeben. lich immer völlig gegensätzlicher Meinung; die SPD war
4670 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ulrike Flach
(A) damals leider auf Ihrer Seite. Vor kurzem habe ich aller- Monaten zu Recht überlegt, was sie mit ihren (C)
dings den Medien entnommen, dass Sie im November Forschungszentren in Jülich und Karlsruhe macht.
dieses Jahres endlich ein Projekt zu diesem Thema vor- Hier wird erneut deutlich, dass Sie mit den Ländern
stellen wollen. Dafür nehmen Sie 12 Millionen Euro in nicht zurechtkommen.
die Hand.
(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]:
Ich bin gespannt, Frau Schavan, was dabei heraus- Was? Wie kommen Sie denn darauf?)
kommt. Denn ich glaube nicht, dass die große Koalition
in dieser Frage so stark zusammenhalten wird, dass Sie In wenigen Tagen findet eine Feierstunde statt, in de-
Ihre Vorstellungen tatsächlich werden umsetzen können. ren Rahmen Ministerpräsident Rüttgers zu diesem
Thema sprechen wird. Die Helmholtz-Gemeinschaft
(Jörg Tauss [SPD]: Wie kommen Sie denn da- möchte in Jülich in Zusammenarbeit mit dem Standort
rauf, Frau Flach? – Ilse Aigner [CDU/CSU]: Aachen ein High Performance Computing Center, sozu-
Doch, doch!) sagen eine Research School, eröffnen. Aber, Frau Scha-
Sollte es dennoch so sein, Herr Tauss, wird die FDP die van, es fehlt Geld. Bitte nehmen Sie von dem Aufwuchs
erste Fraktion sein, die Ihnen zustimmt. in Ihrem Etat 1,2 Millionen Euro in die Hand und drän-
gen Sie den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jörg Westfalen, das Gleiche zu tun.
Tauss [SPD]: Dann stimmen Sie ruhig schon
einmal zu!) (Jörg Tauss [SPD]: Dort ist doch Herr
Pinkwart Ihr Zukunftsminister! Sie sind ja put-
Es gibt noch ein weiteres sehr wichtiges Thema, das zig! – Klaus Hagemann [SPD]: Sie sind dort
wir Haushälter mit großem Interesse beobachten: den doch in der Regierung!)
Hochschulpakt.
Das dortige Wissenschaftsministerium tut das.
(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Oh ja! Ein ganz spannendes Thema ist (Beifall bei der FDP)
das!)
An dieser Stelle muss man eines sagen: Koalitionen
Uns interessieren vor allem die Fragen: Wie geht das müssen zusammenhalten und das tun, was sie auch vor
Ganze weiter? Was passiert eigentlich mit den berühm- der Wahl tun wollten: das Land nach vorne bringen. Hier
ten Overheadkosten? Ich entnehme den Diskussionen, haben Sie die Möglichkeit, einen Leuchtturm zu setzen,
die die Staatssekretäre am gestrigen Tage geführt haben, der deutlich über das hinausgeht, was Sie uns in Ihrer
(B) dass sich bei diesem Thema wieder nichts bewegt hat. Broschüre schriftlich darzustellen versucht haben. (D)
Frau Pieper und ich hatten plötzlich ein Déjà-vu. (Beifall bei der FDP)
(Cornelia Pieper [FDP]: Stimmt!)
Lassen Sie mich zum Abschluss – Frau Pieper wird
Denn das Gleiche haben wir, als Frau Bulmahn Ministe- gleich noch auf viele andere Aspekte eingehen – ein
rin war, unzählige Male erlebt. Offensichtlich sind die Wort zum Thema Stammzellforschung sagen. In Brüssel
Verantwortlichen der Länder wieder einmal stärker als haben Sie im Prinzip eine Niederlage erlitten. Wir sind
die Verhandlungsführer des Bundes. sehr froh darüber, dass Sie diese Niederlage erlitten ha-
ben. Natürlich sind wir nicht froh über das, was im Mo-
(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: ment hier abläuft, und wir sind auch nicht froh über die
Da warten wir doch erst einmal ab!) Signale, die aus dem Forschungsministerium im Hin-
Offensichtlich ist es immer wieder das gleiche Spielchen blick auf die Stammzellforschung herauskommen. Ich
– das richtet sich insbesondere an die Kolleginnen und sage an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich – auch in
Kollegen der SPD –: Der Föderalismus führt dazu, dass Richtung Kollegin Sitte –: Wir werden in den nächsten
man gerne und ausführlich diskutiert. Dann geht man Tagen erneut eine Mehrheit in diesem Parlament zu fin-
nach Hause und nichts ist dabei herausgekommen. den versuchen,
(Beifall bei der FDP – Ilse Aigner [CDU/ (Jörg Tauss [SPD]: Mit der Kollegin Sitte?)
CSU]: Stimmt ja gar nicht!)
um zumindest den Stammzellstichtag, den wir brauchen,
Daher, Frau Schavan, sage ich Ihnen: Wenn Sie an damit unsere Forscher vorankommen, durchzusetzen.
dieser Stelle nicht nachsteuern, wird der Hochschulpakt Wir wollen keine Kriminalisierung in diesem Lande.
wahrscheinlich in die Binsen gehen. Zumindest wird er
sich nicht so entwickeln, wie wir es uns erhoffen. (Beifall bei der FDP)
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie mei- Wir werden das auch gegen Ihren erklärten Willen
nen wohl: wie sich das die FDP erhofft! – Ni- durchkämpfen, Frau Schavan. Deswegen glaube ich, wir
colette Kressl [SPD]: Deshalb wollen Sie es ja werden über dieses Thema noch viele anregende Diskus-
auch nicht!) sionen führen. Im Endeffekt muss etwas herauskommen,
was gut für die Forscher ist und gut für dieses Land.
Nun möchte ich noch auf einen anderen Aspekt hin-
weisen: Die Helmholtz-Gemeinschaft hat in den letzten (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4671
(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Jetzt ist die SPD an der großen Koalition beteiligt und (C)
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Hagemann, wir können einen weiteren Aufwuchs feststellen, den wir
SPD-Fraktion. mit den zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen
können.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Klaus Hagemann (SPD): Insgesamt haben wir für Forschung und Bildung, wenn
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! man die Mittel aus allen Einzelplänen zusammenrechnet,
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Flach, rund 12 Milliarden Euro vorgesehen. 8,5 Milliarden Euro
lassen Sie mich zu Ihrer Bitte an die Frau Ministerin, die davon sind im Einzelplan 30 des Ministeriums für For-
Maßnahme in Jülich zu unterstützen, spontan bemerken: schung und Bildung vorgesehen. 850 Millionen Euro
Sie müssen als FDP einen schwachen Stand in der Koali- entfallen auf das Ganztagsschulprogramm, 3 Milliarden
tion in Nordrhein-Westfalen haben, wenn Sie die Bun- Euro sind in den übrigen Einzelplänen vorgesehen. Pro-
desministerin bitten müssen, eine Maßnahme in NRW zu zentual haben wir eine Steigerung von 6,2 Prozent, wäh-
unterstützen. rend der Gesamthaushalt nur um 0,2 Prozent wächst.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Das sind Zukunftsinvestitionen in Forschung und Ent-
CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Nur Mut, Frau wicklung.
Flach!) Wenn man mit den Verantwortlichen der Forschungs-
Das beweist mir jedenfalls Ihre Sorge. organisationen redet, sagen sie: Deutschland ist ein guter
Forschungsstandort,
Mehr Sorgen bereitet mir in diesem Zusammenhang
das Folgende: Wir haben Ende vergangenen Jahres eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Menge Geld – Verpflichtungsermächtigungen im Um- der CDU/CSU)
fang von 586 Millionen Euro – für die Beseitigung von
Atomabfällen von Forschungsreaktoren bewilligt. Doch aber es müssen mehr Anstrengungen unternommen wer-
jetzt zeigt sich, dass auch das nicht ausreicht, dass wei- den. Es sind mehr Anstrengungen erforderlich, um den
tere erhebliche Belastungen auf die öffentliche Hand zu- Standard erhalten und verbessern zu können.
kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
(Jörg Tauss [SPD]: Eure Kernkraft! – Ulrike Cornelia Pieper [FDP]: Sie sagen es!)
Flach [FDP]: Das war gestern, Herr Hage-
(B) Die Bundesrepublik Deutschland wendet (D)
mann! Hier geht es um morgen!) 2,52 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung
Das macht deutlich, dass die Kernkraft nicht so billig ist, und Entwicklung auf, während es im EU-25-Durch-
wie es die Atomwirtschaft und die FDP immer darstel- schnitt 1,82 Prozent sind. Wir könnten sagen: Wir liegen
len, Frau Flach. deutlich vorne, wir können uns zurücklehnen.
(Beifall bei der SPD) (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Nein!)
Bei der gestrigen Diskussion über den Einzelplan 04 – Richtig, liebe Kollegin Aigner. Das können wir nicht,
– Kanzleramt – hieß es – Frau Ministerin hat es schon wir müssen noch weiter voran.
dargelegt –: Die Zukunft nicht verbrauchen. Wir be-
schäftigen uns heute beim Einzelplan 30 mit dem Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
genteil: Wie gestalten, wie schaffen wir Zukunft und wie CDU/CSU)
sichern wir die Zukunft mit den Mitteln der Gegenwart?
Schauen wir uns die Zahlen der USA an. Dort ist es
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) etwas mehr, nämlich 2,6 Prozent. In Japan sind es
3,1 Prozent. Dieses Ziel müssen auch wir anstreben.
Wir haben hierfür in der Vergangenheit unter der Füh- Deswegen hat die Koalition gemeinsam ein Programm
rung der SPD im Bundesministerium für Bildung und aufgelegt, um dieses 3-Prozent-Ziel zu erreichen.
Forschung gute Voraussetzungen geschaffen, damit
diese Bemühungen weitergehen können. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Koalition hat vereinbart, 6 Milliarden Euro für
Das Ganztagsschulprogramm läuft sehr gut. Die entspre- die Forschung zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Frau
chenden Mittel werden jetzt auch von den südlichen Flach, mit diesem 6-Milliarden-Euro-Programm werden
Bundesländern abgerufen. Auch die Exzellenzinitiative, eben nicht nur bunte Broschüren mit schönen Bildchen
um die wir lange gekämpft haben und bei der wir schon auf Hochglanzpapier gedruckt – Informationen sind aber
wesentlich weiter sein könnten, läuft jetzt gut. Ferner sei notwendig –, sondern wir haben die 6 Milliarden Euro
der Pakt für Forschung und Innovation erwähnt; entspre- für die nächsten Jahre obendrauf gepackt und die Mittel
chende Steigerungen sind vorgesehen. für die einzelnen Programme deutlich erhöht. Das ist der
richtige Weg, den wir auch konsequent weitergehen wer-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der den. So viel Kritik haben Sie hier ja auch gar nicht ge-
CDU/CSU) übt.
4672 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Klaus Hagemann
(A) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Ul- stätigen, dass der Haushaltsausschuss vor der Sommer- (C)
rike Flach [FDP]: Was machen Sie eigentlich pause darum gebeten hat, dass bis zur Mitte der Som-
2010?) merpause Nachweis darüber geführt wird, dass und vor
allen Dingen auch wie das geschieht, damit die 3-Pro-
Frau Ministerin, ich möchte noch einmal unser star- zent-Strategie bis 2010 aufgeht? Können Sie dem Hause
kes Interesse anmelden: Wir vom Haushaltsausschuss auch bestätigen, dass dieser Nachweis durch die Bundes-
– ich kann hier für meine Fraktion reden – möchten wei- regierung bisher nicht geführt worden ist und dass uns
terhin beteiligt werden und wissen, was im Einzelnen das bei den Beratungen über die Einzelpläne beschäfti-
geschieht. Deshalb bitten wir um die notwendige Be- gen wird?
richterstattung. Wir sind froh, dass es im Rahmen dieser
Forschungsinitiative, wie ich glaube, zum ersten Mal ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
lungen ist, einen abgestimmten Plan und ein abgestimm-
tes Konzept über die Ressortgrenzen hinaus vorzulegen. Klaus Hagemann (SPD):
Ich sage es noch einmal: Wir wollen auch weiterhin be- Herr Kollege Kröning, ich kann das bestätigen. Wir
teiligt sein und informiert werden. haben uns ja schon öfter darüber unterhalten, zumal ja
Wir bitten Sie, immer wieder eine Art Evaluierungs- auch große Teile im Einzelplan des Wirtschaftsministeri-
bericht vorzulegen, aus dem hervorgeht, wohin die Mit- ums enthalten sind. Ich habe auch noch einmal die Bitte
tel geflossen sind, wofür sie verwendet worden sind, wie an die Regierung gerichtet, dass wir als Haushaltsaus-
viel Geld wohin gegeben worden ist und wer von diesen schuss stärker in die Berichterstattung und in die Evalu-
Mitteln profitiert. Diese Fragen werden wir im Fachaus- ierung einbezogen werden und dass uns die Ergebnisse
schuss immer wieder stellen, damit wir über die Verwen- vorgelegt werden. Ich wiederhole und mache deutlich:
dung informiert werden. Wir bitten in diesem Zusam- Die Fragen, wofür die Mittel verwendet worden sind,
menhang auch darum, die Mittel jetzt schnell wie viele Mittel zur Verfügung gestellt wurden und wer
herauszugeben, damit mit ihnen gearbeitet werden kann; davon profitiert, müssen beantwortet werden. Das ist un-
denn die Zeit drängt. ser Ziel und darum bitten wir Sie. Verehrter Kollege
Kröning, deswegen kann ich Ihre Fragen mit Ja beant-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach der worten.
Vereinbarung ist vorgesehen, dass sowohl der Bund
– darüber habe ich gesprochen – als auch die Länder und Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesen
die Wirtschaft ihre Anteile leisten müssen; Programmen werden natürlich auch die Forschungsprä-
mien für kleine und mittlere Unternehmen erwähnt;
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) denn 40 Prozent der Unternehmen – so ist zu vernehmen –
(B) denn nicht nur der Bund ist hier mit einem halben Pro- lassen im Ausland forschen. Wir sollten dafür sorgen, (D)
zent gefordert, sondern natürlich sind auch die Länder dass diese Forschungen in den Fachhochschulen und
mit einem halben Prozent gefordert, während die Wirt- Universitäten unseres Landes erfolgen. Der Gedanken-
schaft mit zwei Prozent beteiligt ist. Hinter vorgehalte- ansatz ist sicherlich interessant. Uns interessiert jetzt
ner Hand hört man immer wieder, dass sowohl die Län- nur, wie dies konkret ausgestaltet werden soll,
der als auch die Wirtschaft Probleme haben werden, ihre (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
Ziele zu erreichen. GRÜNEN]: Das interessiert uns auch!)
(Ulrike Flach [FDP]: Auch die SPD-regierten wie der Mehrwert entstehen soll, damit es nicht zu Mit-
Länder, Herr Hagemann?) nahmeeffekten kommt, sondern zusätzliche Leistungen
Hier muss der notwendige Druck von Ihnen und von der in der Forschung erbracht werden.
Kanzlerin auch auf die Wirtschaft erfolgen, damit das (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
gemeinsam vereinbarte Ziel erreicht werden kann. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es gibt interessante Ansätze der Hochschulrektoren-
der CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Sie konferenz. Sie schlägt vor, den Fachhochschulen mehr
Staatsfetischist!) Geld für die Forschung zur Verfügung zu stellen, und
zwar zusätzlich zu dem Geld, das – Frau Ministerin, wir
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: finden das sehr positiv – für das Programm FH³ zur Ver-
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des fügung gestellt wird.
Kollegen Kröning? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Klaus Hagemann (SPD):
Frau Schavan hat die Anregung der DFG aufgegrif-
Ja. fen, eine Vollkostenfinanzierung zu gewährleisten, so-
dass nicht nur die Projektkosten, sondern auch die allge-
Volker Kröning (SPD): meinen Kosten, die Verwaltungskosten bezuschusst
Herr Hagemann, Sie haben die Stichwörter 3-Prozent- werden. Darüber sollten wir nachdenken. Wir sollten
Strategie und Aufteilung zwischen den staatlichen Ebe- aber auch darlegen: Es darf nicht sein, dass nur der Bund
nen und der Wirtschaft angesprochen. Können Sie dem seinen Anteil erhöht und die Länder ihren Anteil zurück-
Plenum und insbesondere auch der Bundesministerin be- fahren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4673
Klaus Hagemann
(A) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ilse Aig- Bundestag weniger an. Interessant ist, dass sich die Län- (C)
ner [CDU/CSU]) der jetzt mit 16 : 0 einigen müssen. Das heißt, sie sind
gezwungen, eine gemeinsame Vorlage zu erarbeiten.
Es muss nachgewiesen werden, dass hier mehr Geld zur
Verfügung gestellt wird. Das ist sicherlich der entschei- (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Ein echter
dende Punkt. Gerade bei den Overheadkosten bitte ich, Fortschritt!)
dies zu berücksichtigen. Bevor wir das Programm begin-
nen, sollte das Ministerium entsprechende Vorlagen prä- Eine gerechte Verteilung der Finanzlasten der Län-
sentieren. der entsprechend dem Anteil der Studierenden ist unse-
rer Meinung nach dringend erforderlich.
Goethe hat in seinem Werk „Wilhelm Meisters Wan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike
derjahre“ formuliert: Flach [FDP]: Da müssen sie sich erst einmal
Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch an- einigen!)
wenden; … Investitionsmittel des Bundes kann es meiner Ansicht
Er hat die Entwicklungen, die sich heute vollziehen, gut nach nur geben, wenn die Länder – das ist wichtig – zu-
vorausgesehen. Wenn der Bund, die Länder, die öffentli- sätzliche Studienplätze schaffen und sie finanzieren. Das
che Hand erhebliche Mittel für die Forschung zur Ver- möchte ich deutlich herausstellen.
fügung stellen, müssen wir uns fragen, welche Produkte (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
damit entwickelt werden, wie viele neue Arbeitsplätze BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und Ausbildungsplätze entstehen.
Im Entschließungsantrag der CDU/CSU und SPD zur
Wir erinnern uns an das negative Beispiel des MP3- Grundgesetzänderung auf Drucksache 16/2052 heißt es:
Players. Er wurde von einer deutschen Forschungsorga- Eine quantitative Steigerung der Zulassungszahlen ist
nisation, der Fraunhofer-Gesellschaft, entwickelt. Der notwendig. Daran sollten wir uns orientieren. Wir sollten
Wirtschaft wurde angeboten, ihn zu produzieren. Leider auch sehen, dass die Studierendenzahlen in den nächsten
war kein deutsches Unternehmen bereit, dies zu tun. Jahren um 25 bis 30 Prozent ansteigen werden. Deswe-
Man ist dann nach Amerika gegangen. Die dortige Wirt- gen ist schnelles Handeln erforderlich.
schaft ist das Risiko eingegangen. Dort sind die Arbeits-
plätze geschaffen worden, dort wird produziert. Gerade (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
dieses Beispiel ist abschreckend. Mit dem 6-Milliarden- Ich fasse zusammen: Notwendig sind aus meiner
Euro-Programm wollen wir erreichen, dass so etwas Sicht die Freigabe der Mittel, ein klares und faires Kon- (D)
(B) nicht noch einmal geschieht.
zept und Vereinbarungen zwischen den Ländern. Die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aufgabenverteilung muss gerecht erfolgen und auch
DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: Unfähige zwischen Bund und Ländern müssen entsprechende Ver-
Wirtschaft!) einbarungen getroffen werden.
Im Einzelplan 30 beschäftigen wir uns mit der Frage, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
wie wir die Zukunft gestalten wollen. Natürlich brau-
Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
chen wir auch dafür gut ausgebildete Wissenschaftler.
Deswegen gilt es, auch über die Lehre nachzudenken.
Dank der Bemühungen insbesondere meines Kollegen Klaus Hagemann (SPD):
Tauss ist es im Rahmen der Verfassungsreform gelun- Vielen Dank, Frau Präsidentin.
gen, dass die Länder bereit sind, Gelder des Bundes an-
zunehmen. Ich komme zum Schluss. Ich denke, dass wir sowohl
durch den Hochschulpakt als auch durch die Erhöhung
(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann der Mittel für Stipendien und ein sicheres BAföG der
[SPD]) jungen Generation demonstrieren können, dass wir Inte-
resse daran haben, ihre Zukunft zu sichern und zu gestal-
Entsprechende Regelungen sind bei der Reform des ten, und dass nicht nur Interesse bei einigen Ländern be-
Grundgesetzes getroffen worden. Die Annahme der Gel- steht, durch Studiengebühren bei den Studenten
der wird auch durch den Hochschulpakt 2020 gewähr- abzukassieren. In diesem Sinne hoffe ich auf gute Bera-
leistet. tungen im Ausschuss.
Der erste Ansatz beträgt 160 Millionen Euro. Wir Vielen Dank.
können in der mittelfristigen Finanzplanung eine stei-
gende Tendenz feststellen. Hinzu kommen die Mittel aus (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
dem Hochschulbauprogramm. Frau Ministerin, unserer
Meinung nach kann eine Freigabe der Mittel erst erfol- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
gen, wenn konkrete Vorlagen da sind. Hier sind zunächst Das Wort hat die Kollegin Petra Sitte, Fraktion Die
einmal die Länder gefordert, sich untereinander abzu- Linke.
stimmen. Sie müssen ein abgestimmtes Konzept zu der
Frage, was sie wollen, vorlegen. Das geht uns hier im (Beifall bei der LINKEN)
4674 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Bildung und Forschung werden in Deutschland die (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das neue Gerechtigkeit schaffen.
Bundesministerium für Bildung und Forschung nimmt
mit einer Etathöhe von 8,25 Milliarden Euro den fünften Ich zitiere weiter:
Rang unter den Einzelhaushalten ein. Höhere Etats sind Mit einer ausgezeichneten Bildung für alle Men-
für Arbeit und Soziales, für die Bundesschuld, für Ver- schen schaffen wir die neue Gerechtigkeit.
kehr und Bau und für das Verteidigungsministerium ver-
anschlagt. (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD], an
die CDU/CSU gewandt: Guter Satz! Sie kön-
Im Koalitionsvertrag wurden Bildung und Wissen- nen klatschen! Es war Frau Schavan!)
schaft als „Schlüssel zur Zukunft“ bezeichnet. Für Bil-
dung und Wissenschaft gibt diese Regierung in der Da höre ich im Übrigen auch die Vorsitzende der CDU-
Summe aber nur ein Drittel des Verteidigungshaushaltes Grundsatzkommission heraus.
aus.
Es wird Sie also nicht wundern, wenn wir an dieser
(Beifall bei der LINKEN) Stelle die Frage stellen, welche bildungs- und for-
schungspolitischen Weichenstellungen konkret in Rich-
Es liegt klar auf der Hand: Diese Entwicklung geht in
tung einer ausgezeichneten Bildungssituation gestellt
die falsche Richtung. werden. Wie steht es um die Referenzprojekte der so ge-
Gemessen an den zivilisatorischen Herausforderun- nannten neuen Gerechtigkeit?
gen müsste das Haushaltsvolumen für Bildung und For-
Ich komme als erstes zur Föderalismusreform, der
schung eigentlich wesentlich höher sein.
„Mutter aller Reformen“, wie es der Ministerpräsident
(Ilse Aigner [CDU/CSU]: Wie war das denn in aus Bayern in der ihm eigenen Bescheidenheit formu-
der DDR?) lierte. Die Föderalismusreform ist beschlossene Sache.
Von allen Seiten unbestritten wird deutlich angemahnt
Wie sonst, wenn nicht durch Bildung, Wissenschaft und
und beklagt, dass der Bund in der Bildungspolitik we-
Wirtschaft werden wichtige Grundlagen der Gesellschaft
sentliche Kompetenzen verloren hat. Die gemeinsame
konditioniert? Haushalt ist eben ein Bestandteil von Ge-
Bildungsplanung ist stark beschnitten. Das Ganztags-
sellschaftspolitik. Die soziale Frage ist nicht mehr von
schulprogramm als beispielgebender bildungspoliti-
Bildungs- und Wissenschaftspolitik zu trennen. Deswe-
scher Impuls wäre künftig nicht mehr möglich, weil Sie
gen muss ein Haushalt auch Ungleichheiten abbauen. Er
ein Kooperationsverbot verankert haben. Die Abschaf-
muss dazu beitragen, dass viele in dieser Republik an
fung der Gesetzgebungskompetenz für das Hochschul-
solchen gesellschaftlichen Ressourcen wie Bildung und
(B) rahmengesetz verhindert künftig bundesweit geltende (D)
Arbeit teilhaben können.
Mindestregelungen über Ziele und Aufgaben von Hoch-
(Beifall bei der LINKEN) schulen.
Im jüngsten Bericht zur technologischen Leistungsfä- (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Man merkt
higkeit Deutschlands wird gefordert, dass Bund und schon ein bisschen, dass Sie aus einem zentra-
Länder in Vorlage gehen. Darin heißt es: listischen System kommen!)
Die grüne Welle für Forschung und Technologie, – Nein, mein Guter, daran ganz bestimmt nicht.
Bildung und Wissenschaft in den öffentlichen
Haushalten ist nicht nur auf dem Papier festzu- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)
schreiben, sondern konsequent in der notwendigen Die Abweichungsmöglichkeiten der Bundesländer im
Umschichtung der öffentlichen Haushalte von Bereich der Hochschulzulassung und Hochschulab-
Bund und Ländern umzusetzen. schlüsse werden die Mobilität der Studierenden ein-
Die Steigerungen der Ausgaben für Bildung und For- schränken. Die millionenschwere Gemeinschaftsaufgabe
schung in diesem Haushalt – so begrüßenswert sie alle- „Hochschulbau“ läuft aus. Modellversuche von Bund
mal sind – bleiben nicht nur hinter dem Wünschenswer- und Ländern im Bildungsbereich sowie Hochschulson-
ten, sondern auch hinter den Erfordernissen zurück. derprogramme, die gerade für die Förderung von Frauen
in der Wissenschaft wichtig sind, werden künftig nicht
(Beifall bei der LINKEN) mehr möglich sein. Das ist ein echter Verlust. Zu diesem
Eines muss deutlich gesagt werden: Die aktuelle Aus- Schluss kommt man, wenn man bedenkt, dass schon
gabensteigerung kompensiert zunächst nur den Rück- heute viele Bundesländer nicht in der Lage sind, diese
gang der staatlichen Forschungsbeteiligung früherer bewährten Instrumente fortzuschreiben.
Jahre. Der Anteil des Staates an der Forschungsfinanzie- (Jörg Tauss [SPD]: Frau Kollegin, das ist
rung ging nämlich in den Jahren 1995 bis 2004 von falsch!)
37,9 Prozent auf 30,4 Prozent zurück. Die angekündig-
ten 6 Milliarden Euro für zukunftsträchtige Forschungs- – Das ist nicht falsch.
und Entwicklungsinvestitionen sind also nicht wirklich
zusätzliches Geld. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Anlässlich dieses Programms sagte die Bundesfor- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
schungsministerin – ich zitiere –: Kollegen Tauss?
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4675
(A) Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN) (C)
Was bleibt mir anderes übrig?
Als zweites großes Referenzprojekt gilt der Hoch-
schulpakt 2020. Darüber laufen noch die Verhandlun-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gen zwischen den Ländern.
Bitte, Herr Tauss.
(Jörg Tauss [SPD]: Zwischen Bund und Län-
dern!)
Jörg Tauss (SPD):
Sie könnten Nein sagen; das wäre die Alternative. Aber schon jetzt ist klar, dass die Probleme, die die Fö-
Aber ich bedanke mich, dass Sie meine Frage zulassen. deralismusreform verursacht, durch diesen Pakt nicht
Möglicherweise dient sie der Klarstellung. kompensiert werden können.
Liebe Kollegin Sitte, Sie haben gerade gesagt, Hoch- (Cornelia Pieper [FDP]: So ist es!)
schulsonderprogramme seien künftig nicht mehr mög- Der Bund sieht laut eigener Planung bis 2010 rund
lich. Darf ich Sie bitten, sich den neuen Art. 91 b zu Ge- 1 Milliarde Euro für den Hochschulpakt vor. Im Haus-
müte zu führen, der ausdrücklich die von Ihnen halt 2007 sind dafür 160 Millionen Euro eingestellt. Bis
angesprochenen Dinge ermöglicht? Dort haben wir eine 2014 wird sich die Zahl der Studierenden – so die Prog-
neue echte Gemeinschaftsaufgabe begründet. Die Hoch- nose der Kultusministerkonferenz – auf 2,7 Millionen
schulrektorenkonferenz sagt, das sei eine gute Lösung. erhöhen. Nun hat der Wissenschaftsrat seinerseits be-
Würden Sie das konzedieren? rechnet, was sich daraus finanziell ergibt, und festge-
stellt, dass allein in diesem Jahr 400 Millionen Euro ein-
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): gestellt werden müssten. Es sind aber nur 160 Millionen
Herr Tauss, Sie wissen genauso gut wie ich, dass in Euro. Wir haben es also schon jetzt mit einer großen Dif-
der Debatte über die Föderalismusreform daran Kritik ferenz zu tun.
geübt wurde; denn nun ist ein Abstimmungsprozess zwi-
(Jörg Tauss [SPD]: 160 Millionen vom Bund!)
schen dem Bund und 16 Bundesländern notwendig. Alle
16 Bundesländer müssen nun die gleichen Prioritäten – Ja, sicher.
setzen.
Zudem ist dieser Ansatz schon jetzt völlig überfrach-
(Jörg Tauss [SPD]: Das war immer so!) tet; denn die Kapazitäten sollen spürbar ausgebaut wer-
den und 16 Bundesländer sollen daran partizipieren.
– Nein. Man braucht eine einstimmige Entscheidung der Darüber hinaus soll die Forschung gefördert und die
Länder. Sonderprogramme sollen ausgeglichen werden. Das (D)
(B)
(Jörg Tauss [SPD]: Das war in der Vergangen- funktioniert natürlich nicht. Das heißt, es wird keinen
heit auch so!) wirksamen Beitrag zur Reduzierung der Unterfinanzie-
rung des Hochschulwesens geben.
Ob das für das ausgesprochen erfolgreiche Programm
„Frauen in der Wissenschaft“ gut ist, bezweifle ich. Sie (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Woher
wissen sicherlich, wie hoch der Anteil der Professorin- wissen Sie das jetzt alles?)
nen in diesem Land ist, dass der Anteil promovierter – Das weiß jeder.
Frauen in einem Missverhältnis zum Anteil der Frauen
unter den Professoren steht – man kann durchaus von ei- Die Studienbedingungen werden sich unter dem An-
nem Bruch sprechen – und dass die Lösung dieses Pro- sturm neuer Jahrgänge verschlechtern. Die individuelle
blems keine Priorität bei einem Finanzminister in der soziale Situation jedes Einzelnen bzw. jeder Einzelnen
Bundesrepublik Deutschland haben wird. wird sich auf den nächsten Bildungsgang auswirken. In-
sofern bleiben die angekündigten Investitionen in die
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ Köpfe wohl eher eine Worthülse. Auch hier zeigt sich
DIE GRÜNEN – Jörg Tauss [SPD]: So pessi- keine neue Gerechtigkeit.
mistisch bin ich nicht! Die sind alle durchge-
gendert! Keine Sorge!) (Beifall bei der LINKEN)
– Das ist zu hoffen. In der letzten Woche hat Frau Schavan eine High-
techstrategie verkündet. Auch diese sollte als Referenz-
Das erste große Referenzprojekt der Bundesregierung projekt für neue Gerechtigkeit sorgen.
wird nicht mehr Gerechtigkeit in Bildung und Wissen-
schaft bringen, sondern Unterschiede vertiefen. Das be- (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Was?)
deutet nichts anderes als Ungerechtigkeiten. Schon jetzt
Neben der Bereitstellung wachsender Mittel für Grund-
starke Bundesländer und Universitäten werden davon
lagenforschung war es überfällig – da stimme ich Ihnen
profitieren. Aber die anderen werden nicht nur abgekop-
zu –, Voraussetzungen für die bessere Umsetzung von
pelt. Vielmehr wird sich ihr Rückstand noch vergrößern.
Forschungsergebnissen zu schaffen.
Risikogruppen werden wachsen und sehen sich schließ-
lich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie von zuneh- Eine Strategie aus einem Guss, wie Sie es selbst for-
mend geringer werdenden so genannten Leistungsgrup- muliert haben, gehört auch zu unserem Konzept. Inso-
pen unterstützt werden müssen. Das halte ich für ein fern ist diesem Ansatz zuzustimmen. Natürlich bringt
falsches gesellschaftliches Konzept. die Bündelung von Wissenschaft und Wirtschaft am
4676 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (Beifall bei der LINKEN)
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN] – Dr. Ernst Dieter Rossmann Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
[SPD]: Aber nicht, solange wir an der Regie- Nächste Rednerin ist die Kollegin Priska Hinz, Bünd-
rung sind!) nis 90/Die Grünen.
Abschließend möchte ich mich zwei Referenzprojek-
ten widmen: der beruflichen Ausbildung – die haben Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
auch Sie erwähnt – und der beruflichen Weiterbildung – NEN):
die haben Sie zum wiederholten Male nicht erwähnt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
möchte mit einer positiven Feststellung beginnen: Es ist
(Nicolette Kressl [SPD]: Das stimmt doch gut, dass die Mittel für den Bildungs- und Forschungs-
nicht!) haushalt in diesem Jahr erhöht wurden.
Zum Pakt für Ausbildung will ich nur sagen: Es fehlen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
nach wie vor 140 000 Plätze. Alles, was Sie dazu gesagt neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
haben, stellt quasi einen Tropfen auf den heißen Stein und der SPD)
dar. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, gerade in diesem Be-
reich als Integrationsleistung vermehrt Mittel einzustel- Das freut uns sehr. Trotzdem bleibt richtig, was meine
len. Kollegin Hajduk gestern gesagt hat: In der Finanzpla-
nung werden die Mittel verstetigt, sie werden aber nicht
Zum Thema Weiterbildung will ich sagen: Wir ha- weiter erhöht. Von daher gibt es keinerlei absehbare wei-
ben einen akuten Fachkräftemangel. Zudem gibt es Tau- tere Investitionen in die Zukunft, was diesen Bereich an-
sende Arbeitslose, die über eine abgeschlossene Lehre geht.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4677
Priska Hinz (Herborn)
(A) Natürlich ist es erfreulich, dass auch der Ansatz bei und Innovationen schnell in Produkte umzusetzen. Aber (C)
der beruflichen Bildung erhöht wurde. Das ist aber auch die Lösung kann nicht heißen, bei der Förderpolitik die
kein Problem, da er im letzten Jahr stark gekürzt wurde. Grundlagenforschung zu vergessen.
Jetzt kann man sich natürlich auf den Lorbeeren ausru-
hen und sagen: Da gibt es eine Erhöhung um 23 Prozent. (Jörg Tauss [SPD]: Bei der Grundlagenfor-
schung haben wir auch was!)
Nach wie vor zu wenig Geld fließt allerdings in die
Benachteiligtenförderung. Im Haushalt sind 67 Millio- Wir brauchen auch einen Erkenntnisgewinn. Der ist
nen Euro veranschlagt. Damit sind wir noch längst nicht dringend notwendig. In der Hightechstrategie wird aber
auf dem Niveau von 2005. Frau Schavan, das Programm vor allen Dingen Ihre Technikzentriertheit deutlich. Das
für die „Zweite Chance“, für die Sie seit einem Dreivier- kann man der Hochglanzbroschüre wunderbar entneh-
teljahr werben, suchen wir immer noch vergebens. Die men.
Zielgruppe dieses Programms ist es, die am meisten der (Klaus-Peter Willsch [CDU/CSU]: Jahr für
Förderung bedarf. Wenn die Kanzlerin es ablehnt, dass Jahr haben wir einen Aufwuchs!)
die BA-Überschüsse, die jetzt einmalig angefallen sind,
auch für diese Zielgruppe eingesetzt werden, dann heißt Mein zweiter Kritikpunkt. Die öffentlichen Mittel
das, dass vielleicht mehr zusätzliche Ausbildungsplätze werden nicht auf zukunftsträchtige Bereiche konzen-
in diesem Jahr zur Verfügung gestellt werden, aber wie- triert. Wenn Sie jetzt 11 Millionen Euro für Fusionsfor-
der mehr Jugendliche auf der Straße bleiben als im letz- schung ausgeben wollen,
ten Jahr. Das ist das Grundproblem Ihrer Ausbildungs- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/
politik. CSU]: Sehr zukunftsträchtig!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) statt vorrangig das Geld für Klimaforschung und erneu-
Natürlich fehlt es an einer strukturellen Reform des erbare Energien auszugeben, dann ist das eine falsche
Berufsbildungssystems. Ihr Innovationskreis hat noch Weichenstellung.
nichts in Richtung Modularisierung und besserer Zertifi-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zierung von Ausbildungsabschnitten zustande gebracht.
Doch das müsste dringend eingeführt werden, um den Wir haben doch jetzt im Haushalt wieder das Problem,
jungen Menschen die Gelegenheit zu geben, überhaupt dass die Kosten für den Rückbau der Versuchsanlage auf
eine Ausbildung zu machen. 235 Millionen Euro steigen. Das ist ein Fass ohne Bo-
Das Thema Weiterbildung haben Sie erwähnt, aber den. Jetzt wollen Sie auch noch Geld in die Fusionsfor-
nur im Sinne von Standardsetzung. Ihr Innovationskreis schung stecken. Das ist ein völlig falscher Ansatz.
(B) (D)
beschäftigt sich mit Qualitätssicherungsmanagement. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
„Wissensbasiert“ ist Ihr Lieblingswort. Aber es wird Jörg Tauss [SPD]: Ja gut, aber da kommt kein
kein Cent mehr für Weiterbildung ausgegeben. Das, was Abfall raus! Das muss man auch sagen!)
Sie ins Fenster hängen, ist das Bildungssparen. Bil-
dungssparen kann ein Baustein im Rahmen einer gesam- Agrogentechnik ist kein Heilsbringer. Die Mehrheit
ten Weiterbildungsstrategie sein, aber man kann nicht der Bundesbürger und -bürgerinnen wollen das auf die-
einseitig den Individuen die alleinige Verantwortung für ser Basis hergestellte Zeug nicht essen; sie wollen kein
die Weiterbildung aufbürden; denn dann können wieder Genfood. Also lassen Sie die Finger von der Agrogen-
nur bestimmte Menschen, die ein hohes Einkommen ha- technik und der zusätzlichen Förderung dieses Berei-
ben, Weiterbildung finanzieren und die anderen bleiben ches!
außen vor. Wir jedenfalls werden Ihnen bei diesem Warum wollen Sie so viel Geld in die Raumfahrttech-
Thema noch Nachhilfe geben. nik stecken, anstatt die Mobilitätsforschung und inte-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) grierte Verkehrskonzepte zu fördern? Warum gibt es
kaum Mittel für Innovationen im Dienstleistungssektor?
Der Schwerpunkt der Ministerin soll die Forschungs- Schließlich leben wir in einer wissensbasierten Gesell-
politik sein. Sie haben die Hightechstrategie vorge- schaft und es ist zu erwarten, dass in diesem Sektor neue
stellt. Wir fragen uns, warum eigentlich eine Bauchla- Arbeitsplätze entstehen. Solche Weichenstellungen ver-
denförderung eine gezielte Innovationsstrategie sein missen wir in Ihrer Hightechstrategie.
soll.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Ulrike Flach [FDP]: Da haben Sie wirklich
Recht!) Drittens. Ein Grundproblem ist, dass Sie Ihr Verspre-
chen, die Geistes- und Sozialwissenschaften in Ihre
Alles wird jetzt unter das Thema Hightechstrategie sub- Hightechstrategie einzubeziehen, nicht einlösen.
sumiert. Wir haben vor allem drei Kritikpunkte an dieser
Hightechstrategie. (Klaus Hagemann [SPD]: Die Mittel sind fast
verdoppelt!)
Erstens. Alle Forschungsbereiche werden nach dem
Kriterium der sofortigen Verwertbarkeit eingeordnet. Ihre Hightechstrategie ist technologiefixiert. Sie wollen
Frau Sitte hat schon darauf hingewiesen. Es besteht na- vor allen Dingen Unternehmensentwicklungen unterstüt-
türlich das Problem, die Forschung und kleine und mitt- zen. Das sieht man auch bei der Sicherheitsforschung.
lere Unternehmen zusammenzubringen und gute Ideen Aber es ist nicht nötig, Unternehmen zu unterstützen, die
4678 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
– Nicht nur. Sehr geehrter Dispatcher, es ist ein neuer – Es geht bald los; ganz ruhig. Wir werden den Antrag
Schwerpunkt. demnächst einbringen bzw. die Vorbereitungen sind
schon getroffen.
Mit der Hightechstrategie kommen nicht nur neue
Themen, sondern es gibt auch neue Instrumente. Die will In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch ein-
ich unter den Begriff der Anreize subsumieren. Wir spre- mal darauf hinweisen, dass das Volumen des FH-Pro-
chen hier von der Vollkostenfinanzierung und von der gramms innerhalb von zwei Jahren verdreifacht wird,
Forschungsprämie. Wir gehen damit neue Wege, etwas nämlich von 10 auf 30 Millionen Euro. Das ist eine rie-
weg von staatlichen Steuerungsinstrumenten und mehr sige Leistung. Wir sind uns einig darüber, glaube ich,
hin zu wissenschafts- und wirtschaftsgetriebener For- dass die Fachhochschulen der Motor schlechthin für den
schung im Wettbewerb der Besten. Damit ist eindeutig Mittelstand vor Ort sind.
(B) unsere Handschrift erkennbar. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (D)
Der so genannte Overhead auf eingeworbene Mittel der SPD)
der Deutschen Forschungsgemeinschaft stärkt die Hoch- Ich komme zum vierten Punkt: Reformieren ist wich-
schulforschung und ist das zentrale Angebot des Bundes tig. Eine Reform hat uns direkt betroffen, die Föderalis-
für den Hochschulpakt. musreform. Trotz aller Unkenrufe ist sie gut gelungen.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das wer- (Jörg Tauss [SPD]: Es hätte schlimmer kom-
den wir dann noch besprechen!) men können! – Widerspruch bei der FDP)
Mit diesem Aufschlag zur Deckung der Gemeinkosten – Doch, sie ist gut gelungen.
der Universitäten besteht noch mehr Anreiz, sich um
diese Mittel zu bemühen. (Beifall bei der CDU/CSU – Cornelia Pieper
[FDP]: Da gebe ich Frau Aigner ausnahms-
(Ulrike Flach [FDP]: Aber sie müssen sich ei-
weise mal nicht Recht!)
nigen, Frau Aigner!)
Die Verantwortlichkeiten im Bildungs- und Forschungs-
Die Forschungsprämie ist ein Kernelement der
bereich wurden klar zugeordnet. Mit der Einigung über
Hightechstrategie.
den Hochschulpakt haben wir eine verfassungsrechtliche
(Cornelia Pieper [FDP]: Wo habt ihr die denn Grundlage geschaffen, auf der wir gemeinsam unter an-
in den Haushalt eingestellt?) derem Programme zur Sicherung der Kapazitäten aufle-
gen können.
Sie ist im Prinzip eine Art Overheadfinanzierung für
Mittel, die man nicht aus dem öffentlichen Bereich, son- Damit bin ich bei meinem letzten Punkt, nämlich den
dern von der Wirtschaft akquiriert. Einig sind wir uns, Talenten. Ich glaube, das ist ein Punkt, der der Frau Mi-
glaube ich, darüber: Wir brauchen die Wirtschaft zur Er- nisterin ganz besonders am Herzen liegt. Sie betont im-
reichung des 3-Prozent-Ziels. mer wieder, dass wir in unserem Land ohne die Talente
überhaupt nicht – jetzt hätte ich fast gesagt: überleben
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
können. Sie sind eigentlich die Basis. Aus diesem
Sie muss zwei Drittel des Volumens bringen. Deshalb Grunde müssen wir sie fördern. Deshalb werden wir den
müssen wir die Anreize entsprechend setzen. Hochschulpakt gemeinsam mit den Ländern aufstellen.
Mit der Forschungsprämie konzentrieren wir uns auf (Ulrike Flach [FDP]: Dazu brauchen Sie eine
den Mittelstand. Warum konzentrieren wir uns auf den lange Zeit!)
4680 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ilse Aigner
(A) Das geschieht in diesem Herbst. Die Länder müssen da (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Herr (C)
ihren eigenen Beitrag leisten. Meinhardt, helfen Sie uns mal ein bisschen!)
(Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, wir reden heute über den
Haushalt. Aber ich glaube, es ist wichtig, festzuhalten,
Das gilt aber nicht nur für die Hochschulausbildung,
dass Sie, Frau Ministerin, Ihrer Verantwortung als Bun-
sondern wir müssen auch im Bereich der beruflichen
desbildungsministerin nicht gerecht geworden sind, seit
Bildung entsprechend die Weichen stellen. Hier gibt es
Sie in diesem Amt sind. Denn Sie haben Bereiche ver-
mit „Jobstarter“ und „EQJ“ Programme, mit denen wir
nachlässigt, die für die Zukunft vieler Arbeitsloser, ins-
dafür sorgen, dass diejenigen, die noch nicht versorgt
besondere Langzeitarbeitsloser, in diesem Land ent-
sind, unterkommen.
scheidend sind, ebenso für viele junge Menschen, die
Für mich ist aber viel wichtiger, dass Strukturrefor- keinen Schulabschluss schaffen und keine Berufsausbil-
men nach dem neuen Berufsbildungsgesetz auch durch- dung machen können. Das sind in Deutschland
geführt werden. Die gestuften Ausbildungen, die der 9 Prozent; jedes Jahr verlassen 82 000 junge Menschen
Kollege Schummer gemeinsam mit dem Kollegen Brase ohne Schulabschluss die Schule. Für diese Menschen ist
vorangebracht hat und die schon in der letzten Legisla- die Weiterbildung eine wichtige Säule der Bildungspo-
turperiode eingeführt wurden, litik; für sie ist es die Zukunft. So schaffen sie es viel-
leicht überhaupt noch, in den Arbeitsmarkt zu kommen
(Jörg Tauss [SPD]: Vor allem die Anerken-
bzw. zurückzukehren. Unter Ihnen, Frau Ministerin, ist
nung von Abschlüssen!)
diese vierte Säule, die Weiterbildung, zum fünften Rad
müssen auch umgesetzt werden, damit junge Menschen am Wagen der Bildungspolitik dieser Bundesregierung
die Chance erhalten, überhaupt in einen Betrieb einstei- geworden.
gen zu können. Dies ist auch ein Beitrag zur Sicherung
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
des schon angesprochenen Fachkräftenachwuchses,
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
den wir dringend brauchen und der in den nächsten Jah-
LINKEN)
ren fast zur Mangelware werden könnte. Deshalb wer-
den wir unser Augenmerk darauf richten. Ich will es einmal auf den Punkt bringen: Der Titel für
Weiterbildung und lebenslanges Lernen ist gegenüber
Sehr geehrte Damen und Herren, noch einmal zusam-
den Istausgaben 2005 um 12 Prozent, mehr als
mengefasst: S wie Sanieren, T wie Technologien, A wie
5 Millionen Euro, gekürzt worden. Dabei ist Weiterbil-
Anreize, R wie Reformen und T wie Talente – S-t-a-r-t:
dung – ich sage es noch einmal – der Schlüssel zum Er-
der Start in eine gute Zukunft.
folg auch bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosig-
(B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) keit. Seit dem Jahr 2000 sind die jährlich neu (D)
begonnenen Maßnahmen von 520 000 um mehr als
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 300 000 reduziert worden. Das ist ein Armutszeugnis für
Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Pieper, die Bundesregierung.
FDP-Fraktion. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP) der LINKEN – Jörg Tauss [SPD]: Herr Niebel
fordert die völlige Einstellung! – Gegenruf des
Abg. Patrick Meinhardt [FDP]: Das einzig
Cornelia Pieper (FDP):
Sinnvolle, Herr Tauss!)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eigentlich wollte ich zu Beginn meiner Rede nicht auf – Lieber Herr Tauss, hören Sie mir zu! Da können Sie et-
die Föderalismusreform eingehen. Aber nachdem was lernen.
meine Vorrednerin dieses Thema aufgegriffen hat, muss
Was ich von manchen Bürgerinnen und Bürgern, die
ich es tun. Ich glaube, dass diese Föderalismusreform
sich an die Arbeitsagentur wenden, da so zu hören be-
gerade für uns Bildungs- und Forschungspolitiker nicht
komme! Eine Frau wollte eine Maßnahme zur Umschu-
der große Wurf ist, sondern eher nach hinten losgehen
lung zur Altenpflegerin machen und konnte sogar eine
wird.
Einstellungsgarantie des Trägers vorweisen. Von der
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem Bundesagentur hat sie einen Brief mit der Ablehnung der
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Finanzierung dieser Weiterbildungsmaßnahme mit der
Begründung bekommen – ich zitiere –: Zudem ist zu be-
Denn es kommt in der globalen Welt von heute darauf
rücksichtigen, dass die Dame X nach Abschluss der Um-
an, dass wir fit werden für den Wettbewerb, dass der eu-
schulung in der Altenpflege bereits 46 Jahre alt ist.
ropäische Bildungsraum gestärkt wird, dass eine natio-
Erfahrungsgemäß haben Umschulungsabsolventen in
nale Bildungs- und Forschungsstrategie entwickelt wird.
dieser Branche ohne Berufserfahrung im Vergleich zu
Frau Ministerin, Sie haben in Ihren Reden vor Verbän-
jüngeren Berufsanfängern ungünstigere Einstiegschan-
den, die ich gelegentlich verfolgen konnte, selbst aus-
cen. Auch die Vorlage von Einstellungszusagen ändert
drücklich Wert darauf gelegt, dass Deutschland sich an
hieran prinzipiell nichts.
europäischen, an internationalen Maßstäben ausrichtet.
Aber mit dieser Föderalismusreform, mit dieser Zersplit- (Uwe Barth [FDP]: Pfui! – Irmingard Schewe-
terung der Bildungslandschaft ist das in Zukunft aus Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
meiner Sicht nicht mehr leistbar. ist doch nicht zu fassen!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4681
Cornelia Pieper
(A) Meine Damen und Herren, wir reden hier vom lebens- – dies ist auch für uns Liberale wichtig – notwendig (C)
langen Lernen. Eine 46 Jahre alte Frau ist jung. Wir alle sind.
sollten uns weiterbilden, egal wie alt wir sind. Ändern
(Beifall bei der FDP)
Sie also diese Strategie in Ihrer Arbeitsmarkt- und Bil-
dungspolitik! Stoßen Sie das Tor endlich auf und seien Sie nicht so
ängstlich!
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, beachten Sie bitte Ihre Redezeit.
Zum Hochschulpakt. Frau Ministerin, hier wurde vie-
les angesprochen. Ich möchte fragen, wie es um den
Cornelia Pieper (FDP):
Hochschulpakt steht. Können Sie nach der von Ihnen
Frau Präsidentin, natürlich weiß ich, dass meine Re-
unterstützten Föderalismusreform überhaupt noch die
dezeit zu diesem Beitrag vorbei ist. Ich komme jetzt zum
nötigen Initiativen entfalten? Da stellen sich mir viele
Ende, möchte aber auf Folgendes hinweisen: Auch
verfassungsrechtliche Fragen. Wann kommt der Pakt
meine Vorredner haben länger geredet.
konkret?
Wir haben gehört, dass der Studierendenberg anwach- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
sen wird. Das heißt, es geht vorwiegend um die Finan- Frau Pieper, das entspricht nicht der Wahrheit. Ich
zierung zusätzlicher Stellen in der Hochschullehre. bitte Sie jetzt wirklich, Ihren Schlusssatz zu sagen.
Wenn man den Schlüssel von einem Professor auf
20 Studierende zugrunde legt, dann würde das 35 000
Cornelia Pieper (FDP):
neue Stellen bedeuten. Die Spitzenuniversitäten in den
Sehr gern, Frau Präsidentin.
Vereinigten Staaten haben eine Relation von 1 : 10; an
dieser Stelle ist das einmal erwähnenswert. Bei uns liegt Frau Ministerin, wir erwarten von Ihnen in Zukunft
der Schlüssel bei 1 : 60. Da gibt es noch viel zu tun. mehr Mut in der Bildungs- und Forschungspolitik. Dann
werden auch wir Sie unterstützen.
Das bedeutet, Sie müssen hier zulegen. Sie müssen
mehr Finanz- und Investitionsmittel für die Hochschulen Vielen Dank.
einstellen. Das Centrum für Hochschulforschung der
(Beifall bei der FDP)
Bertelsmann-Stiftung hat im Juni dieses Jahres in einem
Gutachten bereits für 2007 ein Defizit von 36 000 Studi-
enplätzen in Gesamtdeutschland aufgezeigt. Auch auf- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(B)
grund der demografischen Entwicklung muss man be- Das Wort hat die Kollegin Nicolette Kressl, SPD- (D)
rücksichtigen, dass gerade in den neuen Bundesländern Fraktion.
eine ganz andere Situation eintreten wird. Im Westen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
wird der Studentenberg wachsen. An den Hochschulen im der CDU/CSU)
Osten Deutschlands jedoch werden zukünftig mehr Stu-
dienplätze zur Verfügung stehen: bis 2009 15 000 freie
Nicolette Kressl (SPD):
Studienplätze, so wurde errechnet. In den alten Bundes-
ländern dagegen wird es ein Defizit von 46 000 geben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man kann nicht in die Zukunft schauen, aber man
Wir von der FDP erwarten von Ihnen eine Zukunfts-
kann den Grund für etwas Zukünftiges legen – denn
initiative für die Hochschulen in den neuen Bundes-
Zukunft kann man bauen.
ländern mit einem gezielten Hochschulmarketing nach
der Devise „Go east!“, damit junge Studierende aus den Das ist ein Zitat eines meiner Lieblingsschriftsteller,
alten Bundesländern mehr in Erwägung ziehen, auch an Antoine de Saint-Exupéry. Auf was, wenn nicht auf den
Universitäten in den neuen Bundesländern zu gehen. Haushalt für Bildung und Forschung, kann dieses Zitat
übertragen werden und symbolhaft gelten?
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der SPD)
Die Weichenstellungen in diesem Haushalt werden
zeigen, ob Deutschland die forschungsbasierte Techno- Dieses Zitat gilt zunächst für das Volumen an sich,
logienation in Europa und der Welt sein kann. Ich finde, nämlich für den Aufwuchs um 6,2 Prozent. Wenn wir
Sie gehen mit viel zu viel Ängstlichkeit und vielen ideo- das von uns initiierte IZBB – ich finde, es ist immer
logischen Prestigeprojekten voran, Frau Ministerin. Sie noch ein wichtiges Programm –, das in einem anderen
blockieren Initiativen auf europäischer Ebene. Sie haben Einzelplan steht, zu dem Haushalt hinzunehmen, dann
sich im Zusammenhang mit der Stammzellforschung Ih- liegen wir insgesamt bei 9,4 Milliarden Euro für Bil-
rer Initiative im Rahmen des 7. EU-Rahmenforschungs- dung, Forschung und Wissenschaft. Das ist schon ein
programms gerühmt. Wir verurteilen dies; denn so kann ganz wichtiges Ziel, das wir in vielen Jahren erreicht ha-
man nicht Innovationsmotor in Europa sein. Der Motor ben.
stockt doch, wenn Sie in der Grünen Gentechnik und der
(Beifall bei der SPD)
Stammzellforschung, die in der regenerativen Medizin
bzw. der Gesundheitsforschung ein wichtiger Bereich Ob wir einen guten Grund für den Erfolg von For-
ist, nicht vorangehen, wenn auch ethische Auflagen schung, Wissenschaft und Bildung bauen, hat natürlich
4682 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Nicolette Kressl
(A) nicht nur etwas mit dem Finanzvolumen zu tun, sondern Sie wissen doch, dass der Aufbau von Arbeitsplätzen (C)
auch damit, wie gut und klug dieser Grund aufgebaut ist. durch Investitionen in die Forschung erfolgen soll. Sie
Denn Innovationen und Entwicklungen in diesem Be- haben vorhin davon gesprochen, dass wir die Grundla-
reich – ich will es einmal bildlich sagen – wachsen nie genforschung fördern müssen. Jetzt wollen Sie ernsthaft
für sich allein. Es gehören immer ganz viele Elemente behaupten, Frau Schavan und wir wüssten nicht, dass es
zusammen, damit wir hier erfolgreich sein können. Wir Zeit braucht, bis diese Arbeitsplätze geschaffen werden.
müssen sehr vieles im Bereich Bildung und Forschung Unsere Strategie fördert jetzt den Aufbau von Arbeits-
verzahnen. Auch dafür gibt es in diesem Haushalt gute plätzen. Aber es ist ein fortwährender Prozess, den wir
Ansatzpunkte. gemeinsam weiterentwickeln wollen. Insofern kann ich
die Logik Ihrer Frage nicht erkennen.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eck-
ardt) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Jörg
Tauss [SPD]: Darf ich noch eine Anschluss-
Ich will drei Beispiele dafür nennen. Da ist zunächst frage stellen?)
die Hightechstrategie. Es ist völlig richtig und ein guter
Schritt, den schon in den letzten Jahren erfolgreichen
Ansatz, Schlüsseltechnologien aufzugreifen, jetzt Nicolette Kressl (SPD):
ressortübergreifend zu verfolgen. Damit erfolgt die Kon- Wenn die Präsidentin es erlaubt.
zentration auf das Wesentliche.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Frau Kollegin, der von Ihnen besonders geschätzte
Kollege Tauss möchte Ihnen gerne eine weitere Zwi-
In diesem Zusammenhang wird auch über eine For- schenfrage stellen. Lassen Sie diese zu?
schungsprämie gesprochen. Wir haben diesen Punkt
zwar noch nicht festgezurrt. Aber ich möchte dazu sa- (Zuruf von der FDP: War das jetzt süffisant
gen, dass wir dies ausdrücklich unterstützen. gemeint?)
(Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU]) Bitte schön, Herr Tauss.
Aber wie in solchen Fällen üblich liegen die kritischen Jörg Tauss (SPD):
Punkte immer im Detail. Wir werden darüber noch mit- Frau Kollegin Kressl, ich möchte da gerne noch ein-
einander zu diskutieren haben; denn wir wollen, dass es mal nachfragen. Die Frage der Kollegin Flach impliziert,
für die mittelständischen Unternehmen hier einen erfolg- dass dieser Punkt bisher nicht zur Kenntnis genommen
(B) reichen Ansatz gibt. worden ist. Sollten wir uns nicht einmal darüber unter- (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der halten, welche Investitionen in Forschung und Entwick-
CDU/CSU) lung beispielsweise in den letzten Jahren zu neuen Ar-
beitsplätzen beigetragen haben? Die Firmen, vor allem
die großen, machen heute Umsätze in Bereichen, die es
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
vor fünf Jahren noch gar nicht gegeben hat. Auch im Ex-
Frau Kollegin, die Kollegin Flach möchte Ihnen gerne port stellen wir das fest.
eine Zwischenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Aus meiner oder unserer Region kenne ich die genaue
Nicolette Kressl (SPD): Zahl nicht. Da möchte ich die Kollegin Kressl fragen, ob
Ja. sie diese kennt. Nach meiner Kenntnis sind allein in mei-
nem Wahlkreis 12 000 sozialversicherungspflichtige Ar-
beitsplätze im letzten Jahr neu entstanden. Teilen Sie
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: meine Auffassung, dass der Pessimismus der Kollegin
Bitte schön. Flach an dieser Stelle nicht ganz zutreffend ist?
Nicolette Kressl
(A) (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ilse Aig- sinkenden Studierendenzahlen und haben Ihr Ziel, die (C)
ner [CDU/CSU]) Studierendenquote auf 40 Prozent eines Jahrgang zu
steigern, längst wieder aufgegeben. Dies wäre ein fatales
Zusammenfassend sage ich – Frau Präsidentin, das ist
Signal für den Wissensstandort Deutschland.
meine letzte Bemerkung –: Wir sind sicher, dass das
Fundament, auf dem die Zukunftsfähigkeit basiert, mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
tels dieses Haushalts weiter gestärkt wird. Frau Ministe- Jörg Tauss [SPD]: Sie haben ja richtige Ver-
rin, die SPD-Fraktion unterstützt Sie ausdrücklich bei schwörungstheorien!)
der Umsetzung dieser Programme und beim Thema Ver-
Dass Sie dieses Ziel, die Anhebung der Studierenden-
zahnung. Das wird umso besser gelingen, je stärker Re-
quote auf 40 Prozent, längst aufgegeben haben, lässt
gierung und Parlament verzahnt zusammenarbeiten.
auch Ihr Haushaltsansatz für den Hochschulpakt ver-
Vielen Dank. muten. Zunächst einmal ist vollkommen unklar, wofür
genau die eingestellten 160 Millionen Euro ausgegeben
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
werden sollen. Erwarten Sie etwa, dass der Bundestag
160 Millionen Euro freigibt, ohne zu wissen wofür? Le-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen Sie endlich ein Konzept für den Hochschulpakt vor,
Das Wort hat der Kollege Kai Gehring, Bündnis 90/ Frau Schavan.
Die Grünen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wie wollen Sie den dringend notwendigen Ausbau
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! von Studienplätzen fördern? Welche Konsequenzen zie-
Stellen Sie sich vor, es ist Geburtstag und fast niemand hen Sie aus der Föderalismusreform und daraus, dass
feiert ihn. So geschehen vor wenigen Tagen, als das Kooperationen zwischen Bund und Ländern – anders als
BAföG 35 Jahre alt wurde. Frau Ministerin Schavan war Sie es ursprünglich wollten – möglich bleiben? Halten
das Jubiläum des wichtigsten bildungspolitischen Förde- Sie gebetsmühlenartig an Ihrer Umwegfinanzierung fest,
rungsinstrumentes lediglich ein paar kühle Zeilen wert. also nach dem Motto: „Der Bund gibt Geld für die For-
Deutlicher kann man seine Abneigung gegenüber die- schung und die Länder finanzieren die zusätzlichen Stu-
sem Instrument kaum zeigen. dienplätze“, oder haben Sie endlich eingesehen, dass
auch der Bund per Wissenschaftsförderung über den
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – neuen Art. 91 b des Grundgesetzes direkt in den Ausbau
Jörg Tauss [SPD]: Ich habe es noch nicht ein- der Studienplatzkapazitäten investieren kann und dies
mal gewusst!) angesichts steigender Studierendenzahl dringend muss?
(B) (D)
Dabei sorgt das BAföG bis heute dafür, dass mehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
junge Menschen, vor allem aus einkommensschwachen
Haushalten, studieren können. Die Ausbildungsförde- Wir Grüne haben schon im Februar dieses Jahres ein
rung ist ein zentraler Baustein für mehr Zugangsgerech- Konzept und einen umfassenden Forderungskatalog für
tigkeit und eine höhere Bildungsbeteiligung. Es ist be- einen Hochschulqualitätspakt vorgelegt. Von Ihnen ist
zeichnend, dass Sie darüber in Ihrer heutigen Rede kein bis heute nichts Substanzielles dazu gekommen.
Wort verloren haben. In Ihrem Haushaltsentwurf kürzen
(Jörg Tauss [SPD]: Hey! Das ist vermessen!
Sie die Ausgaben für die BAföG-Empfänger um insge-
Schauen Sie sich einmal beispielsweise unser
samt 32 Millionen Euro. Das, was Sie bei der Begabten-
tolles 10-Punkte-Programm an!)
förderung richtigerweise drauflegen, nehmen Sie den
Schülern und Studierenden aus einkommensschwachen – Das ist kein Regierungspapier, oder?
Familien offensichtlich in dreifacher Höhe weg.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
In jedem Fall muss wesentlich mehr Geld in den de-
SES 90/DIE GRÜNEN)
mografie- und bedarfsgerechten Ausbau der Studien-
Für Ihre Kürzungen gibt es zwei mögliche Erklärun- platzkapazitäten investiert werden, als von Ihnen im
gen. Entweder Sie planen Leistungseinschränkungen für Haushalt veranschlagt worden ist. Der Wissenschaftsrat
BAföG-Empfänger – – sieht auf Basis einer eher konservativen Kalkulation für
das nächste Jahr einen Bedarf von zusätzlich 400 Millio-
(Ute Kumpf [SPD]: Was erzählen Sie denn da, Kol-
nen Euro für mehr Studienplätze. Frau Sitte hatte vorhin
lege Gehring? – Jörg Tauss [SPD]: Wo?)
schon darauf hingewiesen. Das ist übrigens eine Zahl,
– Schauen Sie doch einmal in Ihren Haushaltsentwurf. Frau Schavan, die Sie sich in Interviews zu Eigen ge-
Beim „BAföG – Schülerinnen und Schüler“ ist ein Mi- macht haben. Dennoch stellen Sie lediglich 160 Millio-
nus von 10 Millionen vorgesehen und beim „BAföG – nen Euro für den Hochschulpakt zur Verfügung. Noch
Zuschüsse an Studierende“ soll um 22 Millionen Euro vor wenigen Monaten hatten Sie in der mittelfristigen
gekürzt werden. So steht es jedenfalls in Ihrem Entwurf. Finanzplanung 210 Millionen Euro veranschlagt. Nun
ist es ein Viertel weniger; soviel zum Thema nachhaltige
Also entweder planen Sie Leistungseinschränkungen
Haushaltspolitik.
– das wäre angesichts der Einführung von Studiengebüh-
ren in vielen Ländern ein weiterer Rückschlag für ein- Damit gestehen Sie Ihre eigene Konzeptionslosigkeit
kommensschwache Studierende – oder Sie rechnen mit beim Hochschulpakt und auch den schleppenden Fort-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4685
Kai Gehring
(A) gang der Verhandlungen ein. Das Treffen in der Som- wirklich die letzten Punkte, die Sie irgendwie finden (C)
merpause musste ja abgesagt werden, weil alle im Ur- konnten, herangezogen. Es hätte diesem Parlament gut
laub waren. getan und es wäre ein schönes Zeichen für die Bevölke-
rung gewesen, wenn Sie gesagt hätten, dass wir in der
(Jörg Tauss [SPD]: Nein! Die haben alle
Frage, dass wir für Bildung und Forschung mehr tun
nachgedacht!)
müssen, in diesem Haus übereinstimmen
Ich hoffe, dass Sie sich jetzt schnell wieder zusammen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
setzen, um Lösungen zu erarbeiten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und dass wir der Auffassung sind, auf dem richtigen
Weg zu sein. Stattdessen haben Sie künstlich an irgend-
Es geht beim Kapazitätsaufbau nicht nur um Zahlen, welchen Punkten herumgekrittelt. Das führt uns aber
sondern vor allen Dingen darum, wer in die Hochschu- nicht weiter.
len kommt und wer draußen bleiben muss.
Einen Punkt, Frau Hinz, will ich noch ansprechen: Sie
Sie haben die Mittel für die Juniorprofessur im Haus- haben gesagt, die Grundlagenforschung würde ins
haltsentwurf auf null gesetzt. Ich fände es sehr spannend, Hintertreffen geraten. Diese Aussage halte ich nun wirk-
zu wissen, ob das wirklich im Hochschulpakt enthalten lich für abwegig. Sie wissen, dass wir die Mittel für die
sein soll. Es stellt sich die Frage, ob diese im Hochschul- großen Forschungsorganisationen seit Jahren um jähr-
pakt eingeplant sind. Das wäre dann finanzpolitische lich 3 Prozentpunkte erhöhen.
Augenwischerei.
(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Ja, ja!
Aber wann hat das denn begonnen? – Priska
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Herr Kollege, ich bin sehr gespannt auf Ihren letzten NEN]: Und der Rest des Haushalts wird dann
Satz. unter „Hightech“ subsumiert!)
Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hören Sie sich einmal an, wie das von denjenigen, die in
Mein letzter Satz. BAföG und Hochschulpakt zeigen diesem Bereich arbeiten, beurteilt wird. Professor
aus unserer Sicht: Bei den wichtigen hochschulpoliti- Mlynek, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, hat
schen Instrumenten herrschen in Ihrem Haus entweder dazu gesagt: Das 6-Milliarden-Euro-Programm wird ei-
Rotstift oder Konzeptionslosigkeit vor. nen positiven Impuls für Deutschland als Innovations-
standort setzen. Gerade die Grundlagenforschung ist ein
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Motor für Innovationen und damit auch für Wertschöp-
(B) (D)
fung und die Entstehung neuer Arbeitsplätze. – Besser
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hätte auch ich das nicht formulieren können.
Als nächstes hat das Wort der Kollege Klaus-Peter Hier schlagen Sie Schlachten, die niemand angefan-
Willsch, CDU/CSU-Fraktion. gen hat. Denn gerade die Mittel für die Grundlagenfor-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schung werden auf wirklich sinnvolle Weise vom Parla-
ment bereitgestellt und vom Ministerium eingesetzt. Ich
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): glaube, in dieser Frage hätte uns etwas mehr Gemein-
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Meine sehr verehr- samkeit und Übereinstimmung auch in der öffentlichen
ten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Als letzter Red- Wahrnehmung und Darstellung gut getan.
ner der CDU/CSU in dieser Debatte über den Einzelplan (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD])
„Bildung und Forschung“ muss ich natürlich auf einige
Punkte eingehen, die von Vorrednern hervorgehoben Ich will noch eines nachtragen – denn offensichtlich
wurden. ist das in der Sommerpause untergegangen –: Lieber
Kollege Hagemann, Sie haben in einer Ihrer kurzen Zwi-
Frau Hinz, Sie haben sich darüber beklagt und die Ge- schenfragen, die Sie im Wechselspiel mit dem Kollegen
fahr an die Wand gemalt, dass die Gleichberechtigung Kröning gestellt haben, nach der Umsetzung gefragt.
der Frauen ins Hintertreffen geraten könnte. Ich bin Der entsprechende Bericht liegt uns vor. Am 20. Juli die-
jetzt von zehn Rednern in dieser Debatte der dritte ses Jahres wurde er unseren Büros zugesandt.
Mann. Wenn dieses Parlament einigermaßen Spiegel un-
serer Gesellschaft ist, dann ist es um die Frauen in For- (Ulrike Flach [FDP]: Aber der sagt ja nun wirklich
schung und Bildung nicht schlecht bestellt. nicht gerade viel aus, Herr Willsch!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich habe eine Kopie dieses Berichts, die ich Ihnen gleich
Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE geben werde, bei mir, sodass auch Sie ihn sich an-
GRÜNEN]: Eigentlich haben Sie ein höheres schauen können. Lassen Sie uns dann in der Arbeits-
Niveau!) gruppe und im Ausschuss in aller Ruhe beraten, wie die
Umsetzung in Zukunft angegangen wird.
Das ist ein weiter Weg, den ich jetzt gehe, aber ich will
dies ansprechen, um zu verdeutlichen, wie dürftig die (Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Flach
Kritik und die Argumente gegen den Entwurf waren, die [FDP]: Soll das etwa alles sein? Das ist ein er-
vonseiten der Opposition vorgetragen wurden. Sie haben bärmlicher Bericht!)
4686 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Klaus-Peter Willsch
(A) Eines muss klar sein: Wir brauchen in Zukunft noch Sicherlich werden wir in der Detaillierung im Haushalts- (C)
mehr helle Köpfe in Deutschland. Im Hinblick auf die ausschuss noch ausführlicher darüber diskutieren. Das
Lohnkosten können wir in Europa nämlich keinen Wett- ist genau der Weg, den wir gehen müssen, wenn wir un-
bewerb gewinnen. Wir müssen, was die Ideen betrifft, ser Ziel erreichen wollen, 3 Prozent des Bruttoinlands-
besser und schneller sein, und wir müssen in der techni- produktes unseres Landes für Forschung und Entwick-
schen Entwicklung vorne sein. Vor allem – das Schöne lung zu mobilisieren und dieses Geld so einzusetzen,
ist, dass wir das in dieser Deutlichkeit nun erstmals in dass es sich in zusätzlichen Arbeitsplätzen niederschlägt.
der parlamentarischen Beratung zum Haushaltsentwurf Deshalb unterstützen wir den Weg, den die Regierung
festgehalten haben – müssen wir all das zusammenfüh- eingeschlagen hat.
ren und in Form einer Strategie, der Hightechstrategie,
dafür sorgen, dass die Ideen, die bei uns entwickelt wur- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
den, in Patente, in die Produktion, in neue Verfahren, in neten der SPD)
den Markt und somit auch in den Export fließen. Meine geschätzte Kollegin Aigner ist schon darauf
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eingegangen, dass die Sicherheitsforschung in diesem
neten der SPD) Zusammenhang ein wichtiger Aspekt ist. Ich denke, die-
ses Thema sollten wir wirklich sehr ernst nehmen. Denn
auf diesem Feld haben die Bürger ganz besonders hohe
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Erwartungen an uns, und zwar zu Recht.
Herr Kollege, der Kollege Kröning würde Ihnen
gerne eine Zwischenfrage stellen. Schon im vordemokratischen Staat war die Gewähr-
leistung der Sicherheit der Einwohner die höchste und
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
vornehmste Pflicht eines Staates. Das ist nach wie vor
so, insbesondere angesichts der Bedrohungsszenarien,
Jederzeit, Herr Kollege.
die wir erleben und die zum Teil dafür sorgen, dass wir
sprachlos sind und um Antworten ringen müssen. In ei-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nem solchen Fall können wir nicht ganz selbstverständ-
Bitte schön. lich sagen, dass sich schon alles regeln wird. Des Öfte-
ren müssen wir leider zur Kenntnis nehmen, dass das
Volker Kröning (SPD): Leben riskant ist – jeden Tag. Gleichwohl hat der Bürger
Frau Präsidentin! Herr Kollege Willsch, da meine einen Anspruch darauf, dass wir uns ihm gegenüber ver-
Zwischenfrage Ihre Redezeit verlängert, dürften Sie ei- antwortlich zeigen, auch durch die Förderung von mit
gentlich kaum dagegen sein. wissenschaftlicher Akribie betriebener Sicherheitsfor-
(B) schung, und das Menschenmögliche tun, um die Sicher- (D)
Sie haben eben den Bericht von Mitte Juli dieses Jah- heit zu gewährleisten. Das werden wir tun: Wir werden
res in den Händen gehalten. Könnten Sie daraus bitte zi- Deutschland so sicher machen, wie das eine Regierung,
tieren, wie die Bundesregierung sicherzustellen gedenkt, wie das ein Parlament in einem Land überhaupt organi-
dass die Länder ihren Beitrag von 0,5 Prozent und wie sieren kann. Deshalb ist es wichtig, dass die Sicherheits-
die Wirtschaft ihren Beitrag von 2 Prozent bis zum forschung einen Schwerpunkt darstellt.
Jahr 2010 leisten? Seien Sie doch so nett, dem Hause das
vorzutragen. (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: Aber
nicht nur Paranoia! Richtige Sicherheit!)
(Ulrike Flach [FDP]: Das steht da nicht drin!)
Ich möchte auf einen kleinen Dissens, den es unter
Partnern geben kann – sonst wäre das Leben langweilig –,
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU):
eingehen. Lieber Kollege Hagemann, Sie haben die Kos-
Herr Kollege Kröning, ich danke Ihnen für Ihre Zwi- ten für die Entsorgung des besagten Nuklearmaterials
schenfrage. Aber ich bin nicht geneigt, die mir für die beklagt. Sie wissen, dass nicht alles davon mit Kern-
Antwort auf Ihre Zwischenfrage eingeräumte Zeit dafür energie zu tun hat, sondern dass es um Material aus al-
zu verwenden, diesen Vermerk vorzulesen. len möglichen Bereichen der Grundlagenforschung geht.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU
(Jörg Tauss [SPD]: Mit Fehlentwicklungen der
und der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Das steht
Kernkraft hat es zu tun! – Gegenruf des Abg.
da auch gar nicht drin!)
Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Von Radio-
Er ist mir nämlich zu lang. Ich gebe ihn Ihnen oder dem aktivität im Krankenhaus hat der noch nichts
Kollegen Hagemann ja gleich. Dann können wir uns in gehört!)
Ruhe austauschen. Aber ich bitte um Verständnis dafür,
In diesem Zusammenhang erlaube ich mir die Bemer-
dass ich das nicht für die richtige Form des parlamentari-
kung – auch wenn es im Koalitionspapier erst einmal an-
schen Umganges halte.
ders steht, wird man darüber diskutieren dürfen –, dass
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) es besonders ärgerlich ist, dass wir, wenn schon die Kos-
ten da sind, auf die Erträge aus diesem Bereich verzich-
Die Hightechstrategie habe ich bereits angesprochen ten wollen. Die könnten wir ganz leicht mitnehmen,
und die Notwendigkeit betont, Ideen in Patente umzu-
wandeln und diese Patente auf den Markt zu bringen. (Ulrich Kelber [SPD]: Wer bekommt denn die
Hier ist bereits ein gutes Stück Arbeit geleistet worden. Erträge?)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4687
Klaus-Peter Willsch
(A) wenn wir uns dafür entschieden, die Kernkraftwerke ein Es sorgt für einen Orexin-A-Mangel, der Trägheit her- (C)
bisschen länger laufen zu lassen. vorruft. – Ich finde, wir sollten es uns in Deutschland
nicht so leicht machen. Wir sollten anpacken, wir sollten
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
alle zusammen sagen: Jawohl, wir können es noch und
der FDP)
wir wollen wieder nach vorne. Wenn wir so weiterma-
Das wäre gut für unser Land, das wäre gut für die Ener- chen wie bisher im Bereich Bildung und Forschung, bin
gieversorgung unserer Bürger, die dadurch kostengünsti- ich mir sicher, dass wir mit dieser neuen Regierung nach
gen Strom bekämen. Jedenfalls wäre das klüger, als vorne kommen und Deutschland wieder an die Spitze
wenn man sie stattdessen mit Atomstrom aus Frankreich bringen.
versorgt.
Danke schön.
(Ulrich Kelber [SPD]: Wir sind es, die
exportieren!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Bei diesem Thema werden wir geistig beweglich bleiben
müssen,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
(Jörg Tauss [SPD]: Das ist altes Denken!) Es spricht der Kollege Dr. Dieter Rossmann, SPD-
über dieses Thema werden wir unter Partnern weiter Fraktion.
streiten müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mit der Forschungsprämie betreten wir Neuland. Ich
bin im Sommer immer in meinem ganzen Wahlkreis un- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
terwegs, besuche vor allen Dingen Firmen. Wir haben Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ausbildungsplätze mobilisiert und dabei auch über die Als allerletzter Redner seitens der SPD-Fraktion muss
Forschungsprämie gesprochen. Sie ist sehr positiv auf- ich noch einmal an die letzte Parlamentsdebatte anknüp-
genommen worden, es gab sehr positive Resonanz. Denn fen, als wir die Föderalismusreform verabschiedet ha-
mit der Forschungsprämie rücken die Unternehmen stär- ben. Der Sprecher des kleinsten Koalitionspartners, der
ker in das Blickfeld der universitären und der außeruni- CSU, Herr Dr. Ramsauer, hat letztens erklärt, die SPD
versitären Forschungseinrichtungen. Zum Zweiten gibt sei fürchterlich unzuverlässig, weil sie bei der Föderalis-
es mit Blick auf KMU einen erheblichen Aufwuchs der musreform nicht Ruhe gegeben hätte, bis sie noch etwas
Forschung durch Fachhochschulen. Denn häufig hat der durchgesetzt hatte.
Betrieb vor Ort bereits eine Kooperation mit Werkstu-
(B) denten, mit Studenten, die ihre Diplomarbeit schreiben, (Jörg Tauss [SPD]: Das hat Herr Ramsauer (D)
oder Absolventen, die ihre Doktorarbeit schreiben, kennt gesagt?)
die Leute schon, und sieht jetzt eine neue Möglichkeit,
die Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Forschung zu Wir freuen uns, dass wir die Kooperation des Bundes mit
intensivieren. Genau das ist es, was wir in Deutschland den Ländern im Wissenschaftsbereich durchsetzen
brauchen. Den Schwerpunkt auf KMU zu setzen, war konnten. Es ist uns ein Bedürfnis, Ihnen, Frau Aigner, zu
deshalb völlig richtig. Wir werden uns, wenn es um die sagen: Sie haben den Kopf damals hochgereckt, Sie dür-
Feinsteuerung geht, sicher noch verschiedentlich im fen ihn aufbehalten. Es ist gut, dass wir an dieser Stelle
Haushaltsausschuss mit diesem Thema beschäftigen. gemeinsam etwas frei geschlagen haben, damit es einen
guten Hochschulpakt geben kann.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD)
Ich warte geradezu sehnsüchtig auf die Frage der Prä-
sidentin nach meinem letzten Satz. Nach diesem Lob für Frau Aigner will ich umgekehrt
leicht süffisant sagen: Sie haben sich ja viel Mühe mit
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dem Start gegeben. Wir können aber ganz selbstbewusst
Ja. sagen: Wir laufen schon seit langem, nämlich seit 1998,
erfolgreich – und nun laufen Sie mit. Das mag gut sein.
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): (Ulrike Flach [FDP]: Das darf nicht wahr
Ich erspare Ihnen die Mühe, mich insofern zu ermah- sein! – Jörg Tauss [SPD]: Die haben den Stab
nen. – Ich will zum Schluss ein kleines Schmankerl brin- von den Grünen übernommen!)
gen.
Man kann das auch anhand von Zahlen deutlich machen:
Alle in diesem Raum wissen, dass die Zahlen für Bil-
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dung und Forschung bis 1998 nach unten gingen, weil
Aber nur ein ganz kleines! CDU/CSU und FDP regiert haben. Seit 1998 gehen sie
nach oben, weil die SPD regiert, und zwar zuerst mit den
Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Grünen und danach mit der CDU/CSU. – Insoweit kön-
Ein ganz kleines. – Die „Bild“-Zeitung hat am letzten nen wir das abwandeln, was uns gestern Ihr Fraktions-
Freitag Millionen von Lesern verkündet: Wer faul ist, vorsitzender ins Stammbuch schreiben wollte, der
kann eigentlich nichts dafür. Wissenschaftler der Univer- meinte, es sei immer dann gut, dass die SPD regiert,
sität Minnesota haben das Stubenhockergen gefunden. wenn die CDU/CSU dabei sei. Wir sagen es jetzt anders:
4688 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Das vierte Thema ist der Klimaschutz. Ich wiederhole – Ich kann Sie leider nicht verstehen. Das Klatschen war
das, was ich in der Debatte über den Nationalen Allo- lauter als Ihr Zwischenruf. Ich glaube, das ist auch be-
rechtigt. Aber Sie werden zu diesem Thema ja mit Si-
kationsplan und in Fragestunden gesagt habe. Ursprüng-
cherheit noch Wesentliches beitragen.
lich war für die zweite Periode des Emissionshandels zur
Reduzierung der Treibhausgase, zur Verbesserung des Eine letzte Bemerkung zum Thema Atomenergie. Ich
(B) Klimaschutzes und zum Erreichen der Klimaschutzziele will angesichts der Debatte über Forsmark und Bruns- (D)
in Deutschland eine Reduzierung der CO2-Gase um büttel nur sagen, dass es bei der Haltung der Bundesre-
21 Prozent bis 2012 geplant. Das werden wir sicherlich gierung bleibt. Wir wissen, dass es sich dabei um eine
schaffen. Damals wurde prognostiziert, dass man in der kritische Technologie handelt, und wir werden – das ist
zweiten Handelsperiode rund 500 Millionen Tonnen die gemeinsame Position beider Koalitionsparteien – auf
CO2 emittieren muss. Wir haben einen Nationalen Allo- die Sicherheit keinen Rabatt geben. Daran gibt es keinen
kationsplan vorgelegt, der 471 Millionen Tonnen CO2 Zweifel.
vorsieht, also deutlich ambitionierter ist als das, was in
der letzten Legislaturperiode als notwendig vorhergesagt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
wurde. Damals hatten wir eine Reduzierung von Wir haben den Betreiber von Brunsbüttel aufgefor-
3 Millionen Tonnen CO2. Nun sind es 15 Millionen Ton- dert, uns die technischen Nachweise für seine Behaup-
nen, die wir sozusagen als Senkung eingebaut haben. tung zu erbringen, es gäbe bei ihm keine Wechselrichter-
Damals musste die Energiewirtschaft 3 Prozent Senkung problematik wie in Forsmark, weil eine andere
tragen. Nun sind es 15 Prozent. Ich halte das für einen Technologie verwendet werde. Er hat diese Nachweise
außerordentlichen Erfolg dieser Regierungskoalition. bis heute nicht erbracht und hat sich entschieden, zu sa-
Denjenigen, die behaupten, wir täten nichts, und das Jahr gen: Wir werden die gesamte Technik austauschen, um
2005 mit relativ geringer Emission herausgreifen, sage uns überhaupt nicht mehr davon abhängig zu machen. –
ich: Wir können und dürfen uns nach den europäischen Das zu kritisieren, halte ich für einen relativ abenteuerli-
Vorgaben nicht auf ein Jahr verlassen. Vielmehr müssen chen Vorgang; denn das ist der Beweis dafür, dass es
wir die Durchschnittszahlen von 2002 bis 2006 zugrunde richtig war, nach Forsmark den Betreibern nicht zu hun-
legen. dert Prozent zu glauben, sondern ihren Behauptungen
nachzugehen und sie zu prüfen.
Zum Thema Auktionierung: Ich wünsche mir, dass
wir schnell zu einer Auktionierung kommen. Aber dann Die Betreiber von Brunsbüttel haben nachgemeldet,
brauchen wir vorher Wettbewerb auf dem Strommarkt. dass es doch mehr Probleme gebe, als sie ursprünglich
Sonst steigen die Preise weiter. Wir hätten dann nicht gedacht haben. Wir haben den Druck auf dem Kessel ge-
mehr Geld und würden den Verbrauchern das Geld nur halten, um im Ergebnis eine Lösung zu finden. Jetzt zu
schneller aus der Tasche ziehen. sagen: „Ihr müsst die abschalten“, und dabei zu ignorie-
ren, dass es trotz eines denkbaren Ausfalls der Wechsel-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der richter eine gesicherte Notstromversorgung gibt, heißt,
CDU/CSU) den Bund zur Willkür aufzufordern. Das gab es früher
4692 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
weil sie nichts anderes als gefährliche Scheinalternativen (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Hört!
sind. Einen solchen Prozess zu steuern, ist alles andere Hört! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Bloß
als einfach. kein Neid!)
Die zweite Aufgabe ist jedoch nicht weniger an- Allerdings hat die CDU gleich noch 200 000 Euro von
spruchsvoll. Eine verantwortliche Regierung muss dafür der Deutschen Bank bekommen.
sorgen, dass der Wandel möglichst fair, also sozial ge- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was
recht, stattfindet. Das ist keine Nebenbedingung, son- ist mit Ihrem Auslandsvermögen?)
dern Voraussetzung für eine zukunftsfähige Politik.
Frau Reiche, ich glaube, auch Ihre Rede wurde von den
(Beifall bei der LINKEN) großen Atomkonzernen geschrieben.
Gemessen daran hat die Koalition unserer Meinung Wir haben heute ein Sechspunkteprogramm vorge-
nach versagt. Die Reduzierung des CO2-Ausstoßes sta- stellt. Für die Schaffung sozial gerechter Energiepreise
gniert seit Jahren. fordern wir neben der Versteigerung der Zertifikate als
Sofortmaßnahme eine Windfall-Profit-Tax, also eine
(Ulrich Kelber [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! Steuer auf Sondergewinne, Extraprofite aus dem Emis-
2005 gab es einen super Rückgang!) sionshandel, wie dies auch in Schweden und Finnland
Das Tempo der Materialeinsparungen ist viel zu gering. angedacht ist. Die angestrebten Einnahmen in Höhe von
fast 5 Milliarden Euro sollen einen Energieeffizienz-
(Ulrich Kelber [SPD]: Schnellster Rückgang fonds speisen und der sozialen Abfederung einkom-
in Europa!) mensschwacher Haushalte bei steigenden Energiekosten
dienen; da besteht zu Ihnen, Herr Kauch, eine Differenz.
Der Umweltminister lässt sich von den Atomkonzernen
wie ein Tanzbär an der Nase herumführen. (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4697
Eva Bulling-Schröter
(A) Dieser Energieeffizienzfonds könnte Arbeitsplätze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C)
schaffen und die brauchen wir. Überdenken Sie dies also
bitte! Das Markteinführungsprogramm für erneuerbare
Energien kürzen Sie um über 3 Prozent, obwohl die Mit-
Wir fordern weiterhin die Beibehaltung bzw. Wieder- tel bereits Mitte dieses Jahres aufgebraucht waren. Ge-
einführung der Preisaufsicht für Strom- und Gastarife. gen die noch viel umfangreicheren Kürzungen bei Ihrem
Daneben halten wir eine Ausdehnung der Regulierungs- Kollegen Seehofer – das Markteinführungsprogramm
aufsicht auf den Bereich des Stromgroßhandels und der „Nachwachsende Rohstoffe“ wird um über 34 Prozent
Regelenergiemärkte für notwendig. Den Wettbewerb al- gekürzt – hören wir von Ihnen keinen Widerspruch. An-
lein über die Netze zu organisieren, scheint angesichts gesichts der Steuerorgie bei den Biokraftstoffen und an-
der hohen Konzentration bei der Erzeugung kaum mög- gesichts dieser Zahlen frage ich mich, was Sie dem Kli-
lich. mawandel handfest entgegensetzen wollen, wenn Sie
sich nicht der Lieblingsargumentation Ihres Koalitions-
Natürlich müssen die Übertragungsnetze eigentums-
partners anschließen wollen.
rechtlich von den vier großen EVUs getrennt werden.
Wir sagen: am besten in gesellschaftliches Eigentum. 2008 sind wir Gastgeber der 9. Vertragsstaatenkonfe-
(Beifall bei der LINKEN – Fritz Kuhn renz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Volksleitun- Das ist gut und bietet vielleicht sogar eine Chance für
gen!) die Erkenntnis auch bei Ihnen, dass Schutz der Bio-
diversität und Grüne Gentechnik nicht zusammenpas-
Zur Stärkung der Verbraucherrechte schlagen wir sen.
schließlich vor, den bei uns föderal organisierten Ver-
braucherschutz um einen nach Branchen organisierten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
zu ergänzen. Das Vorbild in Großbritannien mit seinen Zum Stichwort Artenschutz noch eine Bemerkung
Consumer Watchdogs ist ein Erfolgsmodell. Energy- zum Antrag „Ölprojekt Sachalin II und Grauwale“. Die-
watch, Water Voice oder Postwatch geben den Verbrau- sem Antrag fehlt die nötige Klarheit. Die abzusehende
chern auf der Insel durch ihre umfassenden Rechte eine Schädigung nur so weit wie möglich zu vermeiden,
starke Stimme. reicht uns für eine Zustimmung nicht aus.
(Ulrich Kelber [SPD]: So wie die RWE-Toch- Zurück zur Vertragsstaatenkonferenz. Was nicht geht,
ter in London? Die Wasserpreise in Großbri- ist, deren Finanzierung zulasten der E-und-E-Vorhaben
tannien sind viel höher!) auf dem Gebiet des nationalen Naturschutzes zu ma-
Eine ähnlich starke Stimme wollen wir hier im Parla- chen. Sie streichen hier 650 000 Euro, die dem gern ge-
(B)
ment haben. Was den Einzelplan 16 angeht, sollten wir nannten Nationalen Naturerbe und dem Erhalt der Arten- (D)
verhindern, dass der Etat bis 2010 um 3 Prozent gesenkt vielfalt dienten. Nebenbei bemerkt fließen diese
wird. Ausgaben in strukturschwache Regionen, wo sie Ar-
beitsplätze schaffen.
(Beifall bei der LINKEN)
Als Sie damals ankündigten, das Umweltministerium
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zum Innovationsministerium machen zu wollen, er-
gänzte Reinhard Loske, dass es auch ein Verteidigungs-
Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl, Bünd-
ministerium sei. Man kennt ja seine Pappenheimer. Was
nis 90/Die Grünen.
den Atomausstieg betrifft, geben Sie ständig den Erz-
engel Gabriel. Jetzt hätten Sie die Chance zu zeigen,
Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass Ihr Schwert auch scharf ist.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, der Umwelthaushalt 2007 steigt auf den (Ulrich Kelber [SPD]: Ich dachte, ihr seid
ersten Blick um 0,4 Millionen Euro. Angesichts der He- Pazifisten!)
rausforderungen viel zu wenig, reizt es mich zu sagen. Weisen Sie die Atomaufsicht in Schleswig-Holstein an,
Aber die Wahrheit sieht noch einmal ganz anders aus. Brunsbüttel abzuschalten, bis der Sicherheitsnachweis
Beamtenpensionen sind es, die ab 2007 in den Fachhaus- nachvollziehbar erbracht ist.
halten etatisiert werden. Rechnet man sie heraus, sinkt
der Umweltetat effektiv um 1 Million Euro. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das solcherart ausgerüstete Innovationsministerium Sie fordern immer wieder Aufklärung, setzen Fristen,
soll damit unter anderem dem zentralen Problem des aber lassen sie verstreichen. Sie lassen sich am 8. August
Klimawandels begegnen, der sich inzwischen, wie wir von Vattenfall versichern, in Brunsbüttel gebe es keine
alle wissen, in ganz anderer Dramatik darstellt als die Wechselrichter. Am 23. August akzeptieren Sie den Irr-
grünen Schwarzseherinnen und Schwarzseher es immer tum der Betreiber und setzen den 28. August als neue
prognostiziert haben. Die global diskutierte Strategie Frist. Jetzt haben wir den 7. September. Wir haben einen
„Weg vom Öl“ ist hier der zentrale Baustein. Trotzdem Betreiber, der falsche Aussagen gemacht hat – er hat sich
machen wir mehr oder weniger so weiter wie bisher. Mit „geirrt“. Ich frage dieses Hohe Haus allen Ernstes: Wol-
5 Millionen Euro mehr für Forschung pro Jahr – das ent- len wir annehmen, dass dieser Betreiber seine Anlage
spricht einem Forschungsvorhaben im Jahr – kann man nicht kennt, und auf dieser Annahme unser Vertrauen in
die Zukunftsaufgaben nur halb anpacken. seine Zuverlässigkeit gründen?
4698 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Sylvia Kotting-Uhl
(A) Wir haben einen Minister, der sein Nichthandeln da- Sie wollen also die Kampfansage der EVUs um Lauf- (C)
mit begründet, dass – ich zitiere – zeitverlängerungen just zu einem Zeitpunkt unterstützen,
bei dem sich zeigt, dass sie nicht einmal ihren laufenden
nach den Angaben der schleswig-holsteinischen Betrieb im Griff haben. Dazu kann ich nur sagen: Re-
Atomaufsicht auch bei dem Misslingen der Nach- spekt für dieses Ausmaß an Realitätsferne! So etwas ha-
weisführung kein Zustand vorliegt, aus dem sich ben die Fundis unter den Grünen zu ihren besten Zeiten
Gefahren ergeben könnten. Die Störfallbeherr- nicht zustande gebracht.
schung sei durch redundante Notstromdiesel garan-
tiert, unabhängig von der Funktion der Wechsel- (Ulrich Kelber [SPD]: Nee, aber Sie!)
richter.
Wir als Opposition werden Ihnen als Regierung die-
Nun frage ich Sie: Befriedigt Sie das? Mich nicht! ses Chaos nicht durchgehen lassen. Klären Sie, was sie
wollen. Einigen Sie sich in der Energiefrage, der ent-
(Zuruf von der LINKEN: Isar II müsste aber scheidenden Frage dieses Jahrhunderts! Und Sie, Minis-
auch schon lange vom Netz sein!) ter Gabriel, handeln Sie! Lassen Sie sich nicht nachsa-
Es kann doch hier nicht darum gehen, in dieser Situation gen, Sie seien ein zahnloser Tiger, ein flammenloser
nachgeschobene „Feldwegerklärungen“ zu akzeptieren, Erzengel! Nutzen Sie die Reichweite, die ein Minister
die nicht einmal alle Vattenfall-Verantwortlichen verste- hat, zum Wohl von Umwelt und Menschen!
hen können – die nicht einmal den Unterschied zwischen Ich danke Ihnen.
Wechselstrom und Gleichstrom kennen – und die in kei-
ner Weise erklären können, warum denn die Wechsel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
richter überhaupt ausgewechselt werden müssen, wenn
sie doch gar keinen Schaden anrichten können. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Es geht hier vielmehr um die Frage: Wie bewerten wir Das Wort hat die Kollegin Petra Hinz für die SPD-
dieses gesamte Sicherheitssystem? Und zum Gesamtsys- Fraktion.
tem des Vertrauens in die Sicherheit gehört doch wohl (Beifall bei der SPD)
auch die Glaubwürdigkeit des Betreibers.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Petra Hinz (Essen) (SPD):
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich vertraue einem Betreiber nicht, der mit falschen Fak- Liebe Kolleginnen! Die Bundestagswahlen sind noch
ten kommt, Fristen ignoriert und seine Verpflichtungen nicht ein Jahr vorüber, wir beraten jetzt die erste Lesung
(B) nicht erfüllt. des Haushalts 2007. Frau Kotting-Uhl, es wundert mich (D)
(Ulrich Kelber [SPD]: Seien Sie ehrlich! Trittin schon sehr, dass Sie hier all das, was im Einzelplan 16 zu
hätte doch auch nicht abgeschaltet!) Programmen steht, dermaßen niedermachen. Es wundert
mich schon sehr, dass Sie das, was Rot-Grün in den zu-
– Jetzt kommen mir wieder alle damit – auch Minister rückliegenden sieben Jahren auf den Weg gebracht hat,
Gabriel hat sich in der Presse so eingelassen –, dass man in dieser mit wenig Sachkenntnis angereicherten Form
Dutzende Beispiele nennen kann, in denen Vorgänger vortragen. Ich kann nur sagen: Sie haben das Thema ab-
Trittin Vergleichbares getan habe. Dazu sage ich Ihnen: solut verfehlt!
Ich hätte von einem Minister Trittin in diesem Fall ge-
nauso eine bundesaufsichtliche Weisung gefordert. (Beifall bei der SPD)
(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Sehr schwaches Sie haben Ihre Politik der zurückliegenden Legislaturpe-
Argument!) riode damit eindeutig niedergemacht. Denn an den
Schwerpunkten hat sich überhaupt nichts geändert – im
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Jürgen Trittin alles ge- Gegenteil, es ist eine Fortsetzung.
tan hätte, um Vattenfall in diesem Fall das Handwerk zu
legen. Wir reden hier vom Betreiber einer Risikotechno- (Beifall bei der SPD)
logie und nicht von einem Currywurststand. Wir sollten die Tatsache „20 Jahre Umweltministe-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rium“ meiner Meinung nach einmal zum Anlass neh-
men, um einen Bogen über diese Zeit zu spannen. Es ist
So, und in dieser Situation, in der es nur darum gehen nämlich interessant, in welcher Weise das Budget in den
kann, Strommengenübertragungen von einem Reaktor zurückliegenden Jahren einen Zuwachs erfahren hat.
auf einen anderen im eigentlichen Sinne des Atomkon- Anschließend komme ich auf die Frage der Atomkraft zu
senses zu diskutieren – Übertragungen von alten auf sprechen, liebe Frau Reiche.
neue Reaktoren, um mehr Sicherheit zu generieren –,
kommt Ihr unnachahmlicher Kollege Wirtschaftsminis- Vor 20 Jahren, 1986, gab es diesen Einzelplan noch
ter Glos und fordert erneut eine Laufzeitverlängerung für überhaupt nicht. 1987 ist das Ressort dann mit 236 Mil-
AKWs! Da kann ich nur sagen: Gutes Timing! Sie spre- lionen gestartet. Heute, zum Entwurf des Haushalts
chen sich wohl überhaupt nicht ab. 2007, reden wir über ein Budget von 790 Millionen
Euro. Die Flächen des Nationalerbes, die Millionen wert
(Ulrich Kelber [SPD]: Frau Kotting-Uhl, sind und die darüber hinaus auch noch Arbeitsplätze
etwas anderes fällt Ihnen nicht ein?) schaffen, sind darin noch in keiner Weise berücksichtigt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4699
Petra Hinz (Essen)
(A) Aber das wird hier nicht erwähnt, denn es passt nicht in Dieses Thema wird im Rahmen der Haushaltsberatungen (C)
die Bilanz der Grünen. sicherlich eine Rolle spielen.
Ich möchte auf ein weiteres Ereignis aufmerksam ma- Das Know-how im Bereich der Zukunftstechnolo-
chen, das sich in diesem Jahr zum 20. Male gejährt hat, gien wird – das hat der Minister gerade angesprochen –
und zwar auf den Reaktorunfall in Tschernobyl, Frau weltweit nachgefragt. Das ist ein Pfund, mit dem man
Reiche. Heute diskutieren wir noch immer über die Aus- wuchern kann. In diesem Bereich haben rund
wirkungen von Tschernobyl. Sie haben sich zur Atom- 170 000 Menschen Arbeit gefunden. Außerdem konn-
kraft positiv geäußert. ten hier über 2 000 Ausbildungsplätze realisiert werden.
(Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE]) Internationales Verhandeln ist Grundlage für besseres
Verstehen. Trotzdem stellen sich die Fragen „Wer mit
Darüber sollten Sie einmal mit Ihren Haushältern spre- wem?“ und vor allem „Unter welchen Bedingungen
chen. Im Zusammenhang mit Tschernobyl haben wir im kann Entwicklung stattfinden?“. Wir brauchen weitere
Haushaltsentwurf rund 5,9 Millionen Euro etatisiert. Im vertrauensbildende Maßnahmen. Wir müssen die Ent-
Jahr 2008 – als Fachpolitikerin sollten Sie das eigentlich wicklungs- und Schwellenländer davon überzeugen,
wissen; aber die Haushälter wissen es definitiv – müssen dass Nachhaltigkeit auch etwas mit ihrer Zukunft zu tun
wir über einen zusätzlichen Betrag für die Sanierung des hat.
Sarkophags diskutieren. So viel zum Thema Sicherheit
von Atomkraft. Der Gedanke, der der Agenda zugrunde liegt, ist zu-
kunftsweisend, nicht nur in der Umweltpolitik. Das ist
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten im Haushaltsentwurf nachzulesen.
der LINKEN)
Im Haushaltsentwurf ist für die internationale
Der jüngste Zwischenfall in Schweden, in Forsmark, Zusammenarbeit, insbesondere für die Konferenzen,
macht doch deutlich, dass wir verstärkt Energie einspa- die im nächsten Jahr stattfinden – auch wegen der not-
ren und in die Gewinnung alternativer Energien inves- wendigen Sicherheitsmaßnahmen –, ein Mehrbedarf be-
tieren müssen. Basiert diese Politik etwa auf falschen rücksichtigt worden. Im Rahmen der Haushaltsberatun-
Informationen bzw. einer falschen Wahrnehmung? Ver- gen – das hat der Minister gerade angesprochen –
schleiern wir tatsächlich etwas? Ich glaube, Sie versu- werden wir die Effizienz und Effektivität der Zielverein-
chen aus ideologischen Gründen zu verschleiern. barung überprüfen.
(Beifall bei der SPD) Zur Unterlegung des Wirtschaftswachstums sowie zur
Stärkung von Zukunftsbereichen wurde mit dem Haus-
(B) Frau Reiche, in der großen Koalition haben wir uns halt 2006 ein 25-Milliarden-Euro-Impulsprogramm (D)
diese Aufgabe gemeinsam vorgenommen, obwohl wir umgesetzt. Für Forschung und Entwicklung stehen im
wissen – Sie haben es der Öffentlichkeit heute exempla- FuE-Programm rund 6 Milliarden Euro zur Verfügung.
risch vorgeführt –, dass einige damit Schwierigkeiten Ein Hinweis an das Ministerium: Ich würde mir wün-
haben. Es liegt aber in unserer Verantwortung, eine klare schen, dass für dieses Programm über das hinaus, was
Strategie zu erarbeiten. Wir müssen mögliche Wege sicht- Rot-Grün für diese Querschnittsaufgabe in der vergange-
bar machen und die Basis für Investitionsentscheidungen nen Legislaturperiode beschlossen hat, in den anderen
schaffen. Damit bringen wir ein Stück weit Nachhaltig- Ressorts Mittel zur Verfügung gestellt würden, die von
keit in die Debatte. Ich sprach gerade das 20-jährige den Projekten abgeschöpft werden könnten.
Jubiläum des Bundesumweltministeriums an. Nachhal-
tigkeit sollte Ihnen ein Begriff sein, gerade im Zusam- Für das KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm
menhang mit dem Agendaprozess. steht bis 2009 jährlich 1 Milliarde Euro zur Verfügung,
um die energetische Gebäudesanierung zu intensivie-
Wir müssen alles daran setzen, um uns in der Energie- ren. Das ist ein Impulsgeber für die Baukonjunktur. Den
versorgung so unabhängig wie möglich zu machen. Die wirtschaftlichen Aufschwung setzen wir somit auch im
Diskussion, die wir führen, geht über die Minderung des Bereich des Klimaschutzes fort.
CO2-Ausstoßes hinaus. Genau darum geht es in einer
Diskussion über nachhaltige Energiegewinnung. Auf die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Frage, wie die Energieversorgung der Bundesrepublik CDU/CSU)
langfristig aussehen könnte, müssen wir kurz- bis mittel- Schwerpunkte im Programmhaushalt seien kurz ge-
fristig eine Antwort geben. nannt: Der Programmhaushalt des BMU umfasst rund
456 Millionen Euro. 62,9 Prozent des Gesamtvolumens
Der Begriff Nachhaltigkeit wird sehr oft, teilweise in-
gehen allein in den Bereich der erneuerbaren Energien.
flationär gebraucht. Das Bekenntnis zur nachhaltigen
Das macht 287,2 Millionen Euro aus. Auf die anderen
Entwicklung, das am Anfang der 90er-Jahre stand, die
Bereiche will ich gar nicht eingehen.
Agenda 21, war ein Impuls für die Stärkung des Be-
wusstseins für die Zusammengehörigkeit der Welt. Da- Ein weiterer Schwerpunkt ist der Bereich Reaktor-
mit war ein internationaler Aufbruch verbunden. Dieser sicherheit und Strahlenschutz. Hier liegt uns das Gut-
Impuls muss stärker genutzt werden. Im Rahmen der achten des Wissenschaftsrates zur Prüfung vor. Ich sage
Geberkonferenzen – auch das ist bereits gesagt worden – all denen, die zu einem voreiligen Ergebnis kommen:
müssen Projekte genauer hinterfragt werden. Von Zeit zu Wir handeln hier im Rahmen von Gesetzen. Daher
Zeit muss auch eine Zwischenbilanz gezogen werden. müssen Vorhaben überprüft werden. Angesichts der
4700 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Josef Göppel
(A) Es wird also langsam auch für die Großstädter ungemüt- So können wir die Vertragsnaturschutzprogramme nicht (C)
lich. fortführen. Deswegen müssen wir gemeinsam eine Lö-
sung finden.
Da stellt sich natürlich die Frage: Wie stellen wir es
an, dass die Leute mitgehen, wie können wir sie in der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
Umweltpolitik mitnehmen? Den Leuten zu sagen „Tut SPD und der LINKEN)
dies, lasst das!“, das hatten wir schon – mit begrenztem
Erfolg. Wir müssen zusammen überlegen, wie wir den Ich möchte dies auch im Hinblick auf das Markt-
Leuten Wege aufzeigen können, wie sie dem enormen anreizprogramm und auf das Gebäudesanierungspro-
Druck durch immer weiter steigende Kosten für Gas, Öl gramm sagen, mit denen wir ähnliche Zwecke verfolgen.
und Benzin entkommen können. Für viele Familien be- Unsere Haushälter haben für das Gebäudesanierungs-
deutet das finanziell immer mehr Einschnürungen. Hier programm eine Verpflichtungsermächtigung über zu-
müssen wir Wege aufzeigen. Dafür braucht man Ge- sätzliche 350 Millionen Euro ausgesprochen. Ich denke,
meinsamkeit, aber man braucht auch einen langen Atem. es ist unsere Aufgabe, jetzt in den Haushaltsberatungen
Ich denke schon, dass diese Regierung diesen langen zu überlegen, was wir beim Marktanreizprogramm im
Atem hat und klar erkennbar in die richtige Richtung Haushalt des Umweltministeriums tun können. Stop and
geht. go ist keine gute Sache, so etwas wirkt sich sehr negativ
aus. Deshalb müssen wir versuchen, Stetigkeit in die
Es gibt die aktuelle Diskussion über die Rolle des Dinge zu bringen. Herr Minister Gabriel, da möchte ich
Staates. Die Unionsparteien arbeiten an neuen Grund- Sie ausdrücklich unterstützen. Wir können dafür nicht
satzprogrammen. Das wäre übrigens auch für die ande- neue Umlagen von den Leuten erheben. Aber wir müs-
ren nicht schlecht. sen versuchen, Wege zu finden, um eine Stetigkeit in die
Förderung zu bekommen. Sie macht jetzt im Schnitt
(Ute Kumpf [SPD]: Wir sind schon längst da-
noch 10 Prozent aus. Ich meine, wir sollten nicht unter
bei, Herr Göppel! – Bärbel Höhn [BÜND-
10 Prozent gehen, sonst wird es nur noch symbolisch.
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir schon ge-
macht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der
Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])
– Kommt darauf an, wann!
(Ute Kumpf [SPD]: Was ist mit der CSU?) Der Deutsche ist eben so: Er will eine Anerkennung
seitens des Staates, die ihm sagt, dass der Staat das, was
– Die CSU ist mitten dabei, wir machen es ganz gründ- er tut, für richtig hält. Genau das erfolgt mit dieser För-
lich. – Die Rolle des Staates in der inneren Sicherheit ist derung, deswegen ist sie auch so erfolgreich. Das gehört
(B) unverzichtbar, in den Augen aller. Auch im Verbraucher- zu den größten Erfolgen dieser Koalition. Wenn dieser (D)
schutz ist die Rolle des Staates unverzichtbar. Ich bin der Erfolg konsequent weitergeführt werden kann, ist das für
Meinung, wir brauchen die Rolle des Staates auch in der unser Land und für viele Menschen ein hoffnungsvoller
Umweltpolitik. Ausweg aus der Kostenfalle.
(Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich darf eine kurze Anleihe beim Fußball machen: Man Wie ich bereits am Anfang sagte: Wir brauchen Perspek-
kann nicht 22 Mann ohne einen Schiedsrichter aufs tiven für die Menschen, wie sie einerseits Kosten einspa-
Spielfeld schicken. ren und andererseits etwas Gutes für die Umwelt tun
können.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Ich möchte noch ein Wort zu den Biokraftstoffen sa-
geordneten der LINKEN) gen; denn jetzt steht ja auch das Quotengesetz an. Wir
von der Unionsfraktion sind nicht der Meinung, dass die
– Das ist unsere Position. – Ein guter Schiedsrichter
reinen Biokraftstoffe eine technologische Sackgasse
kann das Spiel über viele Züge laufen lassen; aber wenn
sind, wie es manche sagen. Die reinen Biokraftstoffe ha-
es darauf ankommt, muss er eben da sein.
ben die höchste Wertschöpfung in den ländlichen Räu-
Ich möchte exemplarisch die Verknüpfung zwischen men. Das müssen wir auch bedenken. So lange syntheti-
Agrarpolitik und Naturschutz ansprechen. Aufgrund sche Biokraftstoffe nur in Labormengen zur Verfügung
der Beschlüsse zum Haushalt der Europäischen Union stehen, kann man nicht sagen, dass die anderen eine
kommt auf einzelne Länder eine Kürzung von bis zu technologische Sackgasse sind.
35 Prozent der Mittel der so genannten Säule II der
Agrarpolitik zu. Wir müssen aus diesen Säule-II-Mitteln Man sollte die Förderpolitik so ansetzen, dass die ver-
aber auch die Natura-2000-Gebiete finanzieren, Herr schiedenen technischen Optionen offen bleiben. Ich
Minister Gabriel. Wir alle haben viel Ärger gehabt mit denke, das ist wichtig. Gerade bei den Biokraftstoffen
den FFH-Gebieten. Nun sind sie aber gemeldet und es ist und der Biomasse im Rahmen der Wärmeerzeugung gibt
wichtig, dass das Vertrauen vieler Landwirte in den Na- es sehr große positive Effekte für die ländlichen Räume.
turschutz nicht enttäuscht wird, indem wir androhen, Damit wird ökologischer Nutzen – CO2-Einsparung –
jetzt hoheitlich festzulegen, was sie zu tun haben. mit sozialem und ökonomischem Nutzen verbunden;
denn eine gleichmäßige Siedlungsverteilung im ganzen
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Land und lebendige und pulsierende ländliche Räume
SES 90/DIE GRÜNEN) sind wichtige Werte an sich.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4703
Josef Göppel
(A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem das kein guter Tag für die Bundesrepublik Deutschland (C)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. und erst recht nicht für den Naturschutz war.
Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE])
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
Zusammenfassend möchte ich sagen: Herr Minister NIS 90/DIE GRÜNEN)
Gabriel, Sie haben mit der Unionsfraktion wohlwol-
lende, aber aufmerksame Begleiter für Ihre Politik; denn Einerseits kann dieses Hohe Haus jetzt anspruchsvolle
wir möchten diese wertgebundene Umweltpolitik auch Vorgaben im Naturschutz machen, andererseits können
durch Ihr Haus verwirklicht sehen. So möchten wir an die Länder davon abweichen, wenn sie ihnen nicht pas-
die Umweltpolitik herangehen. sen. Der aktuelle Entwurf der hessischen Landesregie-
rung für ein neues Naturschutzgesetz wird beispiels-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie weise als brutalstmöglicher Angriff auf den Naturschutz
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE bezeichnet. Der Entwurf der schleswig-holsteinischen
GRÜNEN) Landesregierung wird als „eine Kriegserklärung gegen
den Naturschutz“ bezeichnet. Das zeigt deutlich, wohin
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die Reise geht.
Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann, Linksfrak- Herr Minister, eigentlich müsste man Sie bedauern.
tion. Sollten Sie hier effektive Gesetze vorschlagen, zeigen
(Beifall bei der LINKEN) Ihnen die Länder am Ende den berühmten Mittelfinger.
Nein, erwarten Sie aber kein Bedauern von uns, denn die
Lutz Heilmann (DIE LINKE): Verantwortung dafür liegt auch bei Ihnen. Sorgen ma-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! chen mir vielmehr die schützenswerten Arten und Ge-
Herr Minister! Herr Kollege Göppel, ich danke Ihnen für biete, die beim Wettlauf um die so genannten besten
Ihre Rede. Vieles von dem, was Sie eben erwähnt und Wettbewerbsbedingungen auf der Strecke bleiben wer-
ausgeführt haben, kann ich ganz einfach nur unterstüt- den. Noch gibt es allerdings die EU-Naturschutzrichtli-
zen. Leider sieht die praktische Politik Ihrer Fraktion nien, die wesentlich strengere Schutzvorschriften als das
und der großen Koalition aber ein bisschen anders aus. Bundesnaturschutzgesetz enthalten. Noch verhindern
diese, dass schützenswerte Gebiete in Deutschland als
Ein Wort zu der Reaktion auf die Vorhaltung meiner Umgehungsstraßen, Gewerbegebiete oder Flughäfen en-
Kollegin zu den Parteispenden der Energiekonzerne. Mir den.
fällt eigentlich nur ein Sprichwort ein: Getroffene Hunde
bellen. Ich sage Ihnen: Ihr Vorgehen, das Rollback des Natur-
(B) schutzes, hat Methode. Nachdem Sie mit der Föderalis- (D)
Nun aber zum Thema. In der gestrigen Rede der musreform den Naturschutz auf nationaler Ebene aufs
Kanzlerin hörten wir wieder von der Nachhaltigkeit. Abstellgleis geschoben haben, machen Sie sich jetzt an
Dazu gehört nach allgemeinem Verständnis auch der den europäischen Naturschutz heran. So soll der
Naturschutz. Mit 23 Millionen Euro ist der Haushalts- schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry
ansatz für den angewandten Naturschutz im Vergleich zu Carstensen als „00-Harry“ im Auftrage seiner Majestät,
2006 annähernd gleich geblieben. Ist also alles in But- der Kanzlerin, dafür sorgen, dass die hinderlichen EU-
ter? Ich denke, nein. Seit 1999 wurde der Haushalt für Naturschutzrichtlinien abgeschwächt werden. Ich frage
den angewandten Naturschutz nahezu halbiert. Das wirft mich allerdings, was Sie, Herr Minister, dazu sagen und
die Frage auf, wie viel Ihnen der Naturschutz eigentlich welche Rolle Sie dabei spielen. Offensichtlich treffen die
wert ist. Presseberichte zu – der überwiegende Teil Ihrer heutigen
Ein Beispiel: Für die Vertiefung von Außen- und Un- Rede hat das deutlich gemacht –, nach denen Sie bald
terweser sowie von Außen- und Unterelbe sind allein im Energieminister werden wollen.
Jahre 2007 21 Millionen Euro eingeplant. Insgesamt Alles in allem: Beim Naturschutz ist nichts in Butter.
kostet allein die unsinnige Elbvertiefung den Bund Ständige Haushaltskürzungen und ständige Änderungen
250 Millionen Euro. in der Naturschutzgesetzgebung haben nichts mit nach-
(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Wer sagt haltiger Politik zu tun.
denn, dass das unsinnig ist?) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Die Beeinträchtigung der Flora-Fauna-Habitat-Gebiete (Beifall bei der LINKEN)
entlang der Flussmündungen ist Ihnen offensichtlich
egal, ganz zu schweigen von den noch nicht abzuschät-
zenden Auswirkungen auf den Hochwasserschutz. Der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Hochwasserschutz interessiert Sie aber ohnehin meist Herr Kollege, gerne hätten wir Ihnen zum 40. Ge-
nur vor Wahlen. Wir brauchen aber keine Wahlkämpfer burtstag eine Minute geschenkt. Sie haben Ihre Rede
in Gummistiefeln, wir brauchen einen nachhaltigen und aber pünktlich beendet. Deshalb „nur“ eine Gratulation
effektiven Hochwasserschutz. von unserer Seite!
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor einer Woche Das Wort hat die Kollegin Bärbel Höhn, Bündnis 90/
trat die Föderalismusreform in Kraft. Wir denken, dass Die Grünen.
4704 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ulrich Kelber
(A) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C)
Trotzdem haben Sie dagegengestimmt!)
Sie haben Pech, dass ich Verhandlungspartner von
– Sie wissen ja, wie es in einer Koalition zugeht. Es gab Jürgen Trittin und Rainer Baake war, als es um den
einmal eine andere Sondersitzung eines Ausschusses. NAP I ging. Natürlich finde ich es nicht gut, dass je-
Damals hat unser grüner Koalitionspartner darauf be- mand, der ein altes Kraftwerk betreibt und dann ein
standen, dass wir dem Antrag der Opposition, diese Sit- neues baut, besser gestellt ist als jemand, der nun ein
zung öffentlich zu machen, nicht zustimmen. Leider ist neues baut. Aber diese Regelung war kein Kompromiss
es in einer Koalition so, dass man, wenn man sich nicht zwischen Grünen und SPD. Damit ist Jürgen Trittin viel-
einig ist, nicht zustimmt; das wissen Sie. Damals haben mehr direkt zu uns gekommen. Das war der Entwurf der
Sie uns dazu gezwungen. Nun hat uns unser heutiger Grünen. Die Vier-plus-zehn-Regelung ist originär grün.
Koalitionspartner dazu gezwungen. Es wäre sicherlich Wir haben diese Regelung nicht herausbekommen, weil
besser gewesen, wenn die Sitzung öffentlich gewesen wir Zusagen gemacht haben. Sie ist jedenfalls originär
wäre. grün; das muss festgehalten werden.
In der gestrigen Sondersitzung haben Sie gesagt, man (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das
müsse bei den Atomkraftwerken endlich durchgreifen; ist absolut falsch! Das wissen Sie auch!)
denn schon 1999 und 2002 sei es in Biblis, Philippsburg
– Ich mache Ihnen ein Angebot: Ich gehe in mein Archiv
und Brunsbüttel zu ähnlichen Störfällen gekommen. Wie
und liefere Ihnen meinen Brief an Jürgen Trittin sowie
hieß denn damals der Umweltminister?
seine Antwort auf die Frage, die wir vor der Verabschie-
(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Trittin!) dung des NAP I dem federführenden Ministerium ge-
stellt haben: Was ist die Gefahr der Einpreisung? Die
Welche Partei hat ihn gestellt und wie hat er reagiert? Er Antwort des grünen Umweltministers war: Es gibt keine
hat nach Recht und Gesetz gehandelt und geprüft, ob der Gefahr der Einpreisung.
Störfall ausreicht, das betreffende Kernkraftwerk abzu-
schalten und dem Betreiber Vorschriften zu machen. Er (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bär-
ist damals zu dem gleichen Ergebnis gekommen wie der bel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja,
jetzige Umweltminister. aber daraus kann man lernen! Lernen Sie doch
mal daraus!)
Sie haben mich richtig zitiert. Ich stehe zu meiner
Meinung. Das ist einer der Gründe, warum ich nach wie – Man muss solche Sachen einfach einmal dazusagen.
vor den Atomausstieg für dringend notwendig halte. Der zweite Punkt sind die 5 Milliarden Euro Wind-
Aber man muss sich auch um die Details kümmern. An- fall-Profits.
(B) sonsten muss man Steuergelder als Entschädigung für (D)
ungerechtfertigte Stilllegungen ausgeben. Frau Flach, Sie haben bezüglich der Umorganisation
der Energieabteilung im Ministerium gesagt, Sie wür-
Sie kennen sicherlich den Unterschied zwischen deut- den als Haushälterin erwarten, dass endlich einmal Per-
schen Atomkraftwerken und dem Atomkraftwerk in sonal gespart wird und keine zusätzlichen Ausgaben ent-
Forsmark. Aber für die Öffentlichkeit erkläre ich ihn stehen. Dazu darf ich sagen: Ich erwarte, dass eine
noch einmal. In Forsmark war hinter den Generatoren, Haushälterin den Haushaltsentwurf liest. Dann wüssten
den Wechselrichtern, kein Back-up-System mehr. In Sie, dass das eine Umorganisation ist und keine einzige
Brunsbüttel beispielsweise gibt es noch weitere Gas- zusätzliche Stelle dafür im Haushalt steht.
turbinen und Systeme. Das ist der Unterschied zwischen
den beiden Reaktoren und der Grund, warum wir anders (Widerspruch der Abg. Ulrike Flach [FDP])
als die schwedischen Aufsichtsbehörden reagieren müs-
Bitte lesen Sie den Haushaltsentwurf einmal durch.
sen. Frau Höhn, es wäre gut gewesen, wenn Sie als ehe-
Wenn das, was ich sage, nicht stimmt, dann machen Sie
malige zuständige Ministerin dies der Öffentlichkeit er-
es öffentlich und sagen Sie: Kelber hat die Unwahrheit
klärt hätten.
gesagt. – Gehen Sie den Haushaltsentwurf durch; als
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Haushälterin sollten Sie das tun. So eine billige Rhetorik
haben Sie doch gar nicht nötig.
Des Weiteren wird behauptet, das Budget sinke ange-
sichts der Pensionsänderungen und vor allem im Natur- (Beifall bei der SPD)
schutz laufe gar nichts. Sie orientieren sich offenbar nur Die beste Oppositionsrede war die Rede von Frau
an den Zahlen, nicht aber an den Inhalten. Einer solchen Reiche. Ich weiß – das sage ich als Vater von kleinen
Haushaltsgläubigkeit bin ich noch nicht begegnet. Wir Kindern –, dass sie wegen ihres Kindes – der Stoffhase
überantworten in diesem Jahr 1,25 Milliarden Quadrat- war ja auch für das Kind und nicht für Frau Reiche –
meter dem Naturschutz. Der Wert dieser Fläche geht ver- jetzt nicht hier sein kann. Man muss trotzdem einmal et-
mutlich in die Hunderte Millionen Euro. Das steht nicht was zu Ihrer Rede sagen. Diesen Sommer hatte ich
im Haushalt. Aber Sie sagen, er sei von 23 auf 22,9 ge- manchmal das Gefühl, wenn der Minister einatmet,
sunken. Das darf doch nicht wahr sein! Wie können Sie kommt gleich die Pressemitteilung: „Reiche gegen Ein-
einen solchen Schritt – 1,25 Milliarden Quadratmeter als atmen“.
nationales Naturschutzerbe in Deutschland – so bewer-
ten? Ich finde, es ist sehr schade, dass Sie sich nur noch Wenn die SPD und der Minister in der Atomaufsicht
an Zahlen und nicht mehr an den Inhalten orientieren. eine Politik machen, die zwischen den Extremaussagen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4707
Ulrich Kelber
(A) beider Seiten liegt – die einen sagen: „Sie müssten längst Das Problem sind also nicht die Netzkosten oder die (C)
stilllegen, Sie tun nichts“, die anderen sagen: „Sie nutzen Endkundenpreise, sondern ist das Oligopol bei der
das aus, um gegen die Atomenergie zu stänkern“ –, dann Stromerzeugung.
macht man das, glaube ich, richtig.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mir machen einige Dinge allerdings Sorgen; darauf
kann vielleicht der Koalitionspartner noch eingehen. Die größten Vier haben 80 bis 90 Prozent des Markts.
Wenn nach dem, was in Schweden passiert ist, die Erst- Deswegen muss man sich überlegen, wie man mit die-
reaktion eines Betreibers lautet, es gebe gar keine Aus- sem Oligopol umgeht. Die Begründung, die staatlichen
wirkungen, dann die Atomaufsichten gebeten werden, Abgaben seien gestiegen, ist falsch. Die Abgaben sind
Stellung zur Sicherheit der Anlagen zu beziehen, und seit 2003 nicht mehr gestiegen. Genau in der Zeit seit
manche Atomaufsichten – wie die in Niedersachsen – 2003 ist die größte Abzocke bei den Strompreisen pas-
praktisch nur Kopien von dem weitergeben, was die Be- siert. Eine andere Begründung sind die Weltmarktpreise.
treiber ihnen vorlegen, also keine eigenen Erkenntnisse Ich habe heute noch einmal eine Karte gesehen, auf der
haben, dann der Betreiber plötzlich sagt, es gebe zwar eingezeichnet ist, wo die höchsten Endkundenpreise
Ähnlichkeiten, es sei aber alles okay, und noch etwas sind: in Baden-Württemberg – höchster Atomenergiean-
später sagt, man müsse umbauen, dann muss man doch teil, kein Weltmarktpreis – und Ostdeutschland – höchs-
zumindest Zweifel haben, ob die Betreiber mit dieser Ri- ter Braunkohleanteil, auch kein Weltmarktpreis. Genau
sikotechnologie auf Dauer richtig umgehen und ob es da, wo die Weltmarktpreise nicht dominieren, aber wo
nicht der bessere Weg wäre, aus dieser Risikotechnolo- die Oligopole dominieren, sind auch die Endkunden-
gie auszusteigen. preise am höchsten.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Es muss daher unser Ziel sein, alle Gesetze dahin-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gehend zu prüfen, ob sie das Oligopol oder die Oligo-
polisten, die es bilden, fördern oder ob sie den Wettbe-
Aber die Positionen in der Koalition unterscheiden werb fördern. Wir brauchen einen Monopol-TÜV für
sich in der Tat, und zwar auch in der Frage des End- unsere Energiewirtschaftsgesetze. Das hat sich in den
lagers. Es gibt da zwei Unterschiede. letzten Tagen noch einmal deutlich gezeigt.
Erstens. Die Zwischenlager haben entsprechende Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
nehmigungen. Wer sich ein bisschen in der Atomenergie der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
auskennt weiß, dass viele Brennstäbe gar nicht sofort in GRÜNEN)
ein Endlager transportiert werden dürfen, sondern erst
einmal vor Ort bleiben müssen. Von daher könnte man Als Bonner Abgeordneter weise ich darauf hin, dass
(B)
die Zwischenlager gar nicht auflösen. ein Bonner Unternehmen, die Telekom, ein Leidtragen- (D)
der von Regulierung ist. Man kann aber von der Situa-
Der zweite Unterschied ist ebenfalls ganz deutlich. tion bei der Telekommunikation lernen. Wir sollten uns
Dieser Unterschied hängt an wenigen Buchstaben: Die ein einfaches Ziel setzen: Die drei oder vier größten Un-
Union will ein geeignetes Endlager haben; wir wollen ternehmen in der Stromerzeugung sollten keinen größe-
das geeignetste Endlager in Deutschland haben. ren Marktanteil als 50 Prozent haben, das größte Unter-
(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das gibt es nehmen nicht mehr als 25 Prozent. Bis dieses Ziel erfüllt
nicht!) ist, ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es mehr
Wettbewerber und mehr Kapazitäten gibt. Dann klappt
Das ist der Unterschied zwischen unseren Ansätzen: Wir es auch wieder mit den Strompreisen.
wollen alles an jeder Stelle überprüfen. Wer das eben-
falls möchte, darf davor keine Angst haben. Das ist Vielen Dank.
meine feste Überzeugung. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Letzter Punkt. In einer Haushaltsdebatte, in der man
über die Themen Umweltschutz, Geld und Volkswirt- Zu einer Kurzintervention erteile ich Kollegin Ulrike
schaft redet, kommt man natürlich am Thema Energie Flach das Wort.
nicht vorbei. Mich stört die Debatte der letzten Tage ein
bisschen. Da wurde über die Netzregulierung gespro- Ulrike Flach (FDP):
chen; im Augenblick wird in der Tat ganz gut daran ge- Die Intervention soll kurz sein, Herr Kelber. Sie ha-
arbeitet. Dabei stellte sich die Frage, ob wir die Preise ben gesagt, Haushälter sollten zumindest den Haushalt
für die Endkunden in den Ländern weiter regulieren soll- lesen. Dass ich eben dieses getan habe, wollte ich Ihnen
ten. Ich halte das für ziemlich blödsinnig. beweisen. Ich habe in meiner Rede darauf hingewiesen,
dass wir in diesem Ministerium anders als in anderen
(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ministerien einen Aufwuchs an Personal haben und dass
Ich auch!)
dies nicht im Sinne von uns Haushältern insgesamt ist.
Ich nenne als Beispiel einmal Stadtwerke, die 80 Prozent Wir haben eine absolute Zahl – über das ganze Ministe-
ihres Stroms vom Versorger RWE beziehen müssen. rium verteilt – von 47,9 Stellen und wir haben im Minis-
Welche Endkundenpreise sollen die denn nehmen, wenn terium selbst 12 Stellen plus. Ich habe dann angefügt:
RWE den Strompreis erhöht? Vor diesem Hintergrund finde ich es verwunderlich, dass
4708 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Ulrike Flach
(A) ein eigenes Referat gebildet wird. Wir werden den Mi- erbare Energien bedeuten sinkende Strompreise. Sonne, (C)
nister in den Beratungen über den Haushalt befragen, Wind und Co. machen gerade einmal 5 Prozent der
was da passiert ist. – Das ist das, was ich gesagt habe. Stromrechnung aus. Ich sage an die Adresse der Koali-
Ich denke, daran ist nichts Unseriöses. tion gerichtet: Wenn Sie wirklich etwas für die gebeutel-
ten Stromkunden in diesem Jahr tun wollen, dann neh-
(Beifall bei der FDP)
men Sie endlich die Mehrwertsteuererhöhung zurück.
Damit können Sie den Menschen in Deutschland wirk-
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: lich einen Gefallen tun.
Kollege Kelber.
(Beifall bei der LINKEN)
Ulrich Kelber (SPD): Herr Minister, Sie sind in der Sache etwas konkreter.
Ich finde es erst einmal gut, dass Sie richtiggestellt Nach unserer Ansicht wird die Strom fressende Industrie
haben, dass es da keinen Zusammenhang gibt. Das war völlig unnötig von der EEG-Umlage befreit. Erstens
vorhin in Ihrer Rede nicht der Fall. Sie haben erst über zahlen die Zeche die Verbraucher und zweitens schadet
diese Abteilung gesprochen und dann gesagt, Sie das den erneuerbaren Energien. Im Ergebnis entsteht so
wünschten sich eigentlich, dass nicht zusätzliche Stellen der Eindruck, erneuerbare Energien seien teurer, obwohl
eingerichtet werden. Sie haben versucht, das in einen das Gegenteil der Fall ist.
Zusammenhang zu bringen. Jetzt ist das richtiggestellt.
Im Umwelthaushalt 2007 wird die Solarförderung
Eines müssen Sie doch zugestehen: Wer neue Aufga- um 5 Millionen Euro gekürzt. Wieso? Die Fördermittel
ben definiert, muss auch beantworten, wie diese erfüllt haben, wie wir wissen, noch nicht einmal in diesem Jahr
werden. Die neuen Stellen sind zum Beispiel im Bereich ausgereicht. Endlich wollen die Menschen Solaranlagen
des Emissionshandels angesiedelt. Hat Ihre Partei nicht auf die Dächer schrauben und Sie, Herr Gabriel – ich
immer gesagt, wir seien zu spät mit dem Emissionshan- verstehe es nicht –, kürzen die Mittel. Das entspricht
del gestartet? Muss sich eine nationale Aufsichtsbehörde nicht dem Zitat aus dem Jahresbericht des Umweltbun-
nicht um das nationale Naturschutzerbe kümmern, bei desamtes, das Sie vorgetragen haben.
1,25 Milliarden Quadratmetern? Sie müssen das mit
Aufgabenkritik begleiten Im Entwurf zur Änderung des EEG wird auf der an-
deren Seite endlich ein Anlagenregister eingeführt –
(Otto Fricke [FDP]: Für jede neue Aufgabe ein und das ist gut so. Dass die Bundesnetzagentur die Sache
neues Referat!) in die Hand nimmt, ist auch gut. Es darf aber nicht sein,
dass ausgerechnet die Netzbetreiber die Daten führen,
und dürfen nicht rhetorisch zwei Dinge, die nicht zusam-
(B) mengehören, in einen Zusammenhang bringen. Das ist Herr Kelber. Das wäre absolut schlecht. Ihnen gehören (D)
die Netze; sie machen ungeniert Kasse bei den Strom-
unfair und das ist auch unredlich.
kunden; sie behindern den Zugang der erneuerbaren
(Beifall bei der SPD) Energien in ihre Netze. Es kann doch nicht wahr sein,
dass Sie hier Erzeugung und Netze zusammenführen, wo
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Entflechtung das Gebot der Stunde ist. Datenmeldung
Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Kurt Hill, Frak- muss Sache der Anlagenbetreiber sein.
tion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Zum guten Schluss soll offenbar das Gesetz im Rü-
ckenwind der heutigen Haushaltsdebatte durchgewun-
Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): ken werden. Ich sage Ihnen: Nicht mit uns. Wir werden
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- im Ausschuss darüber noch zu reden haben.
ren! Das EEG ist der Schlüssel für die zukunftsfähige Danke schön.
Energiewirtschaft. Wind, Wasser, Sonne, Biomasse und
Erdwärme garantieren einerseits Klimaschutz und ma- (Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber
chen uns andererseits unabhängiger von Öl und Gas. [SPD]: Das steht doch gar nicht im Gesetz,
Diese sorgen für sinkende Energiepreise und Hundert- was Sie jetzt vorgetragen haben!)
tausende neuer Arbeitsplätze, wie wir es auch eben ge-
hört haben. Aber hat unser Wirtschaftsminister Glos in Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
der Sache etwas nicht verstanden? Darauf angesprochen,
Das Wort hat nun Kollege Bernhard Schulte-Drüg-
dass die Politik die hohen Strompreise mitverursacht,
gelte, CDU/CSU-Fraktion.
sagte er – ich zitiere das „Handelsblatt“ von gestern –:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir haben aber bald Gelegenheit dazu, daran etwas
zu ändern. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, im
nächsten Jahr die Vergütungssätze des Erneuerbare- Bernhard Schulte-Drüggelte (CDU/CSU):
Energien-Gesetzes zu überprüfen und gegebenen- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
falls anzupassen. gen! Herr Kelber, ich möchte zu Beginn Ihre Einschät-
zung der Rede von Katherina Reiche etwas korrigieren.
Ich kann nur sagen: Wenn er die Anhebung der Ver-
gütung damit meint, dann ist das okay; denn mehr erneu- (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4709
Bernhard Schulte-Drüggelte
(A) Ich möchte darauf hinweisen: Wir sind in einer Koalition Campus der Vereinten Nationen in Ihrer Heimatstadt, (C)
– es ist schon einige Zeit her, dass sie gebildet worden Herr Kelber, der im Juli von UNO-Generalsekretär Kofi
ist –; vielleicht sollte man Sie daran erinnern. Ich meine, Annan und unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel ein-
es war eine sehr gute Rede. geweiht wurde. Zurzeit arbeiten gut 600 Experten aus al-
ler Welt in Bonn für die Vereinten Nationen. Ich halte
(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Die von Herrn einen weiteren Ausbau für richtig und auch für erforder-
Kelber!) lich. Aber im Haushalt 2007 sind keine Ausgaben für
Sie hat klar dargestellt, wie die CDU/CSU denkt. Viel- den VN-Campus vorgesehen.
leicht ist es richtig, auch das einmal zur Kenntnis zu neh-
men. Ich möchte auf einen Bericht des Bundesrechnungs-
hofs hinweisen, nach dem langfristig erhebliche Mittel
Weil wir in einer Koalition sind, möchte ich zunächst für die Bewirtschaftung notwendig sind. Die Regierung
unsere Gemeinsamkeiten darstellen. Wir haben gemein- muss eine Lösung in der Frage finden, wer das mittel-
sam unsere Hausaufgaben gemacht. Vorhin wurde be- und langfristig schultern soll. Es müssen entsprechende
klagt, dass das nicht geschehen sei. Unsere Kanzlerin hat Kapazitäten vorgehalten werden.
das aber klar zum Ausdruck gebracht. Ich möchte zum
Haushalt sagen: Die Maastrichtkriterien werden zum (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das muss Herr
ersten Mal wieder eingehalten. Die Wachstumsraten sind Tiefensee machen! Er hat zu viel Geld!)
gut. Es gibt wieder mehr sozialversicherungspflichtige Der nächste Punkt ist der Emissionshandel; wir ha-
Beschäftigte und weniger Insolvenzen. ben darüber gesprochen. In der Sache bin ich wieder ein-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!) verstanden. Aber bei 100 Stellen und einem Volumen
von 11 Millionen Euro stellt sich schon die Frage, ob das
Bei der Bundesagentur für Arbeit gibt es erstmals seit nicht im Haushalt dargestellt werden sollte, wenn man
1988 wieder einen Überschuss. Das sind Leistungen der Haushaltsklarheit und -wahrheit als Ziel hat.
Koalition, die unsere neuen Freunde einmal anerkennen
sollten. Ich möchte zu einem Punkt kommen, bei dem die
Übereinstimmung nicht so groß ist. Petra Hinz hat
(Beifall bei der CDU/CSU) gerade über die Qualität von Kernkraftwerken gespro-
Kurzum, SPD und Union haben ihre ehrgeizigen chen und Tschernobyl erwähnt. Sie erinnern sich viel-
Konsolidierungsziele umgesetzt. Durch den vorliegen- leicht an manche Bilder von früher, wenn Kernkraft-
den Einzelplan 16 wird der eingeschlagene Weg fortge- werke besetzt wurden. Da wurden vorzugsweise
setzt. Wir leisten da einen guten Beitrag. Kernkraftwerke in Deutschland besetzt. Das hatte unter
(B) anderem den Grund, dass die Besetzer den Eindruck hat- (D)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr! Es ten, das seien sicherere Anlagen; sonst hätten sie sich
könnte noch besser sein!) nicht draufgesetzt. Ich will nur deutlich machen: Es gibt
– Das war eine gute Bemerkung, Steffen. – Qualitätsunterschiede.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Bärbel Höhn
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott!
Während der Gesamthaushalt um 2,3 Prozent steigt, Was für ein Humor!)
steigt der Haushalt des Umweltministeriums nur um
0,1 Prozent. Das macht deutlich, dass die Konsolidie- – Das ist so!
rungsziele, die wir uns gesetzt haben, konsequent umge-
setzt werden: sparsame Haushaltsführung; alle Aufgaben (Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])
stehen auf dem Prüfstand; der Staat nimmt sich zurück. – Ich mache das jetzt so wie Ihr Kollege und sage: Wenn
Der Anteil der Forschungsmittel am Programmhaus- Sie etwas wissen wollen, dann stellen Sie eine Zwi-
halt wird jedoch erhöht: von 30,7 Prozent in diesem Jahr schenfrage!
auf 32 Prozent 2007. Das ist eine langfristige Entwick- Die Frage der Endlagerung von radioaktiven Stoffen
lung – das wurde schon vorhin gesagt –: Die Ausgaben möchte ich auch kurz ansprechen. Im Koalitionsvertrag
2006 betragen circa 140 Millionen Euro und sie sollen ist vereinbart, dass wir eine Lösung finden wollen. Ich
im Jahr 2010 156 Millionen Euro erreichen. möchte Herrn Minister Gabriel zitieren. Er hat im „Han-
Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der BMU- delsblatt“ gesagt: Wenn sich an dem jetzigen Urteil
Haushalt nur leicht ansteigt. Ein Teil des Mehrbedarfs nichts ändere, habe man fünf Monate Zeit, um den Be-
ergibt sich daraus, dass Deutschland im nächsten Jahr ginn des Ausbaus anzuordnen. – Das bezog sich auf die
die EU-Ratspräsidentschaft und den G-8-Vorsitz inne- Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zum
hat, mit all den Verpflichtungen, die daran geknüpft sind. Schacht Konrad.
Ich meine, beides sind Ereignisse, auf die wir uns freuen
und die wir nutzen können und sollten. Wir werden also in diesem Jahr Rechtsklarheit zum
Schacht Konrad bekommen. Wir werden wissen, ob das
Ich möchte jetzt auf Punkte zu sprechen kommen, bei Verwaltungsgericht grünes Licht gibt. Wenn ja, dann
denen wir vielleicht nicht immer einer Meinung sind. stellt sich natürlich die Frage – das hat Frau Flach gerade
Anfangen möchte ich jedoch mit einem Punkt, bei dem gesagt –, ob die entsprechenden Mittel im Bundeshaus-
wir wahrscheinlich übereinstimmen: Ich meine den halt bereitstehen.
4710 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Bernhard Schulte-Drüggelte
(A) Katherina Reiche hat die Vorgeschichte zu Gorleben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
angesprochen. Wir müssen klar feststellen, dass es dazu neten der FDP – Steffen Kampeter [CDU/
selbstverständlich verschiedene Meinungen gibt. Alle CSU]: Sehr gut! Sehr sachlich und kompe-
bisherigen Untersuchungsergebnisse haben aber ganz tent!)
eindeutig gezeigt, dass der Salzstock geeignet ist.
(Ulrich Kelber [SPD]: Wir wollen aber den ge- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
eignetsten!) Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
Deshalb sage ich aus der Sicht eines Haushälters: Ich bin
wurfs auf Drucksache 16/2455 an die in der Tagesord-
gegen eine weitere Suche und für die Aufhebung des
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
Moratoriums. Damit ist noch einmal klargestellt, dass
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
wir da unterschiedlicher Auffassung sind.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir können Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Druck-
nicht weiter Geld rausschmeißen!) sache 16/2510 mit dem Titel „Die weltweit letzten
Ich möchte jetzt einem Ihrer Parteifreunde ausdrück- 100 westpazifischen Grauwale schützen“. Dazu liegen
lich zustimmen, nämlich dem Finanzminister Stein- mir persönliche Erklärungen von neun Kolleginnen und
brück. Er hat sich einmal als Treuhänder der Steuerbür- Kollegen der Grünen vor.1) Wer stimmt für diesen An-
ger bezeichnet. Das ist, finde ich, eine sehr gute trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Bezeichnung. Man sollte treuhänderisch mit Steuergel- Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD bei
dern umgehen. Das gilt auch hier, selbst wenn im Be- Enthaltung von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und einem
reich der Endlagerung ein Großteil der Kosten refinan- etwas unklaren Erscheinungsbild links, zwischen Zu-
ziert wird. Ich möchte hinzufügen, dass wir das Problem stimmung und Enthaltung changierend
nicht wie eine heiße Kartoffel von Generation zu Gene- (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Ja, ge-
ration weitergeben sollten. nau!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ul- – dann habe ich das richtig beobachtet –, angenommen.
rich Kelber [SPD]: Genau deshalb müssen wir
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des
den besten Standort und nicht nur einen guten
Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent-
finden!)
wicklung, Einzelplan 12. Ich erteile das Wort dem Bun-
(B) Petra Hinz hat gerade noch einmal das Bundesamt desminister Wolfgang Tiefensee. (D)
für Strahlenschutz angesprochen. Ich möchte erneut, (Unruhe)
wie bei der letzten Haushaltsrede, deutlich auf das kriti-
sche Urteil hinweisen, das der Wissenschaftsrat über das – Liebe Kolleginnen und Kollegen, könnten Sie den
Bundesamt getroffen hat, besonders im Hinblick auf die Wechsel etwas geräuschärmer vollziehen, damit der
Fachbereiche „Sicherheit in der Kerntechnik“ und „Si- Bundesminister eine Chance hat, gehört zu werden. – Ich
cherheit nuklearer Entsorgung“. Es gibt da auch Berei- glaube, jetzt geht es.
che, die als sehr gut beurteilt worden sind, aber diejeni-
gen, die uns hier besonders interessieren, sind als sehr Wolfgang Tiefensee, Bundesminister für Verkehr,
schlecht beurteilt worden, gerade was die wissenschaftli- Bau und Stadtentwicklung:
che Kompetenz angeht. Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Gäste! Wir
(Widerspruch bei der SPD)
kommen zum Einzelplan 12, einem der schwergewich-
– Ich habe es durchgelesen. tigsten auch im Haushalt des Jahres 2007. Ein starkes,
selbstbewusstes Land investiert auch im Jahr 2007 stark
Der Wissenschaftsrat empfiehlt eine grundlegende und vorausschauend und sorgt damit für eine nachhaltige
Neuausrichtung. Es ist eine Expertengruppe eingesetzt Wirkung in Bezug auf die Belebung der Wirtschaft, die
worden. Schaffung neuer Arbeitsplätze und den regionalen und
sozialen Zusammenhalt in unserer Republik.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich begrüße das und freue mich darüber, dass Konse- der CDU/CSU)
quenzen gezogen worden sind. Ich hoffe jedenfalls – um
das einmal ganz freundlich zu formulieren –, dass die Das ist nicht selbstverständlich. Die Bundesregierung
Experten unabhängig und in der Lage sind, objektiv Be- hat, wie die Mittelfristplanung zeigt, die zu diesem
richt zu erstatten. Zweck herangezogen werden kann, durch ihre Koali-
tionsvereinbarung vom November 2005 dafür Sorge ge-
(Ulrich Kelber [SPD]: Sagen Sie etwas zu den tragen, dass die Gelder nicht zuletzt im Einzelplan 12
Kriterien des Wissenschaftsrates!) und hier im investiven Bereich verstetigt, ja zum Teil
Deshalb möchte ich es bei diesen Punkten belassen.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen. 1) Anlage 3
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4711
Bundesminister Wolfgang Tiefensee
(A) aufgestockt werden, damit Planungssicherheit entsteht Wir werden im Bereich der Straße Projekte mit neuen (C)
und die Bauvorhaben zügig vorangetrieben werden. Wir Finanzierungsinstrumenten fördern. Es besteht im Haus-
investieren in die Straße, in die Schiene, in die Binnen- halt die Möglichkeit – ich nenne das Beispiel der A 8,
wasserstraßen und gemeinsam mit den Ländern in die der Strecke von München nach Augsburg –, gemeinsam
Flughäfen. Wir investieren in die Seehäfen. Wir setzen mit der Wirtschaft eine höhere Effizienz zu erreichen. Es
Akzente bei der Städtebauförderung mit dem Programm ist erklärtes Ziel der Bundesregierung, auch privates Ka-
„Soziale Stadt“. Wir sorgen dafür, dass neue Technolo- pital zu akquirieren.
gien zum Durchbruch kommen und innovative Produkte
gestärkt werden und ihren Markt finden. Mit all dem Wir wollen durch eine Aufstockung der Mittel Ver-
verfolgen wir eine Strategie; die Maßnahmen finden sich kehrsprojekte auf der Schiene vorantreiben, beispiels-
in den Einzelpositionen unseres Etats wieder. weise die Strecke Karlsruhe–Basel oder die Verkehrs-
projekte „Deutsche Einheit“ 8.1 und 8.2,
Bevor ich das in der knapp bemessenen Zeit im Ein- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
zelnen erläutere, möchte ich einen herzlichen Dank an CDU/CSU – Winfried Hermann [BÜND-
die richten, die im Vorfeld der Haushaltsplanerstellung NIS 90/DIE GRÜNEN]: So kriegt jeder was!
dazu beigetragen haben, dass wir dieses Ergebnis in wei- Alle sind zufrieden und nirgends reicht es!)
ten Teilen im Konsens vorlegen können. Mit Blick auf
die schwierigen Gespräche über den Investitionsrahmen- die die Anbindung insbesondere der ostdeutschen Län-
plan 2006 bis 2010 darf ich der Hoffnung Ausdruck ver- der verbessern sollen.
leihen, dass wir die dort vorgesehenen Maßnahmen in
gleichem Einvernehmen sehr zügig in Gang setzen, da- Wir werden nicht nur im investiven Bereich etwas für
mit sie ihre Wirkung entfalten. die Schiene tun. Auch mit unseren strategischen Ent-
scheidungen zur DB AG und deren Teilprivatisierung
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten werden wir nicht zuletzt mit Blick auf den Haushalt in
der CDU/CSU) den Jahren 2006 und 2007 die Weichen stellen. Dies ist
heute nicht das Thema und meine Redezeit reicht nicht:
Die Strategie im Verkehrsbereich bis zum 31. Dezem- Aber wir werden die Koalitionsvereinbarung auch in
ber 2007 wird im Investitionsplan niedergelegt, den wir diesem Punkt zügig umsetzen und unseren Beitrag dazu
mit dem Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ leisten, dass Mobilität auch in Zukunft möglich ist und
untersetzen wollen. Wir folgen damit dem Ansatz, jedem die Deutsche Bahn AG im Wettbewerb zwischen Straße
Verkehrsträger eine optimale Unterstützung zu geben, und Schiene und auf der Schiene sowie im nationalen
damit er seine Wirkung entfaltet, und zwar jeweils ein- und europäischen Wettbewerb gestärkt wird und auch in
zeln und in der Vernetzung. Wir wollen das Rückgrat der Zukunft als Wettbewerbspartner zieht. (D)
(B)
Wirtschaft, die Mobilität, und den Aufwärtstrend der Lo-
gistikbranche unterstützen und somit im Einzelnen unse- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ren Beitrag dazu leisten, dass Arbeitsplätze entstehen. der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Im Bereich der Binnenwasserstraßen setzen wir auf
die Erweiterung der Schleusen, auf umweltverträgliche
Der Verkehrsbereich hat auf dem Finanzniveau von Flussbaumaßnahmen beispielsweise der Elbe, um den
8,8 Milliarden Euro eine Verstetigung erfahren. Rechnet Zustand vor dem Hochwasser herzustellen. So erhoffen
man die Gelder von rund 1,7 Milliarden Euro im Rah- wir uns Impulse für die Wirtschaft.
men des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes hinzu Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass wir die Mittel
und berücksichtigt weitere Positionen im Technologie- für den Stadtumbau Ost und Stadtumbau West, den
bereich, dann ergibt sich ein Volumen von 10,7 Milliar- Denkmalschutz, die Grundprogramme der Städtebauför-
den Euro allein bei den Investitionen in die Verkehrsträ- derung, aber auch für das Programm „Soziale Stadt“
ger innerhalb und außerhalb der Stadt. nicht nur verstetigen, sondern aufstocken. Sie haben es
Wir wollen im Jahr 2007 den Binnenwasserstraßen im Haushalt gelesen: In den Jahren 2006, 2007, 2008
ein leichtes Prä einräumen, weil wir glauben, dass deren und 2009 wird für diesen Bereich mehr Geld zur Verfü-
Ausbau nachhaltig unterstützt werden muss, da sie im gung stehen.
Modal Split mit immerhin einem Anteil von 12 Prozent Ein entscheidendes Programm, das seine Wirkung be-
am Güterverkehr einen nachhaltigen Beitrag zur Mobili- reits entfaltet, ist das CO2-Gebäudesanierungspro-
tät leisten. gramm.
(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Cornelia (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND-
NISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir wollen dabei – das sage ich auch in Richtung
Bündnis 90/Die Grünen – die Umweltverträglichkeit in Es ist ein optimales Programm in der Verbindung von
Korrelation zu den Verkehrserfordernissen bringen. Ich Mittelstandsförderung, Verbesserung der Umwelt und
denke, dass wir sowohl beim Ausbau der Binnenwasser- Entlastung des Mieters bei den Nebenkosten. Im Zeit-
straßen als auch beim Ausbau der seewärtigen Anbin- raum von 2005 bis 2006 wurde noch ein Finanzvolumen
dung unserer Häfen sehr klug, sehr besonnen und sehr in Höhe von 200 Millionen Euro gefeiert. Angesichts
bedacht vorgehen. der Tatsache, dass mittlerweile 1,4 Milliarden Euro pro
4712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Diese Art von stärkerer Priorisierung und Versteti- (C)
Ich erteile das Wort Kollegen Jan Mücke für die FDP- gung ist für mich kaum noch nachvollziehbar, offen-
Fraktion. sichtlich für Sie selber auch nicht. Nach § 5 Abs. 1 Fern-
straßenausbaugesetz sind Sie verpflichtet, einen
(Beifall bei der FDP) Fünfjahresplan zum Ausbau der Fernstraßen vorzulegen,
um Investitionen langfristig planbar zu machen. Dieser
Jan Mücke (FDP): Plan soll von 2006 bis 2010 gelten. Das Jahr 2006 ist
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- zwar zu drei Viertel vorbei, dieser Fünfjahresplan liegt
ren! Investitionen sind das Rückgrat für Wachstum und aber immer noch nicht vor. Ich kann ja verstehen, dass
Beschäftigung. Mit diesem an sich zutreffenden Satz er- Sie, wie vielleicht alle ostdeutschen Abgeordneten, ge-
öffneten Sie, sehr geehrter Herr Minister, Ihre Rede zur genüber Fünfjahresplänen eine gewisse Skepsis entwi-
Haushaltsdebatte 2006, was zeitlich noch nicht so weit ckelt haben.
entfernt liegt.
(Iris Gleicke [SPD]: Das hat sich nach
Wenn man sich die Zahlen für den Haushalt 2007 ge- 16 Jahren gelegt!)
nau ansieht, wird deutlich, dass der Anspruch, den Sie
Es wäre aber gut, wenn Sie, sehr geehrter Herr Minister,
hier kundgetan haben, und die in Wirklichkeit auseinan-
Ihrer gesetzlichen Pflicht nachkommen und einen sol-
der klaffen.
chen Fünfjahresplan endlich vorlegen würden.
(Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Der Haushaltsentwurf sieht Investitionen für Bundes- Besonders unverständlich ist die Entwicklung bei den
fernstraßen in Höhe von 4,5 Milliarden Euro vor. Bundesfernstraßen, wenn man sich vor Augen hält, dass
Meine Damen und Herren, anders als man nach der recht die Investitionssumme inzwischen zu einem großen Teil
optimistisch gehaltenen Rede des Ministers denken durch Mauteinnahmen finanziert wird. Fast jeder vierte
könnte, haben wir jedoch keinen Zuwachs im Vergleich Euro – das entspricht über 1 Milliarde Euro – für Investi-
zum Haushaltsjahr 2006 zu verbuchen. Im Gegenteil: tionen im Bereich Bundesfernstraßen stammt nicht aus
Sie stellen über 329 Millionen Euro weniger für den Haushaltsmitteln, sondern wird bereits jetzt nutzerfinan-
Bundesfernstraßenbau zur Verfügung, im Vergleich zum ziert.
Jahre 2005 sind es sogar 724 Millionen Euro weniger.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD] – Jörg
Sie verabschieden sich – anders kann man das nicht Tauss [SPD]: Guter Erfolg! Erfreulich!)
deuten – damit heimlich, still und leise von Ihren voll-
(B) mundigen Plänen und Absichten, die vor allen Dingen in – Natürlich. – Heute ist aber keine Rede mehr davon, (D)
den Koalitionsvereinbarungen vom letzten Jahr nachzu- dass die Mauteinnahmen eigentlich auch dazu dienen
lesen sind. sollten, zusätzliche Projekte zu ermöglichen. Von zusätz-
lichen Projekten ist heute nicht mehr die Rede.
Der Bundesverkehrswegeplan 2003 sah jährliche In-
vestitionen von 5,2 Milliarden Euro für Bundesfernstra- (Beifall bei der FDP – Jens Ackermann [FDP]:
ßen vor. Ihre Koalitionsvereinbarung aus dem Jahre Das ist leider wahr! – Iris Gleicke [SPD]:
2005 – sie ist noch nicht ganz ein Jahr alt – sprach von Lasst uns das, was wir angefangen haben, zu
einer deutlichen Erhöhung und Verstetigung der Investi- Ende bauen! Das wäre ein echter Fortschritt!)
tionen im Laufe der aktuellen Legislaturperiode. Das
Vielmehr dümpeln die Investitionen weiter vor sich
Gegenteil ist der Fall. Der Verfall der deutschen Auto-
hin und das Investitionsdefizit wird von Jahr zu Jahr grö-
bahnen wird bedauerlicherweise weitergehen.
ßer. Lieber Herr Tiefensee, wenn Sie weiterhin der Bun-
(Beifall bei der FDP) desspatenstichminister bleiben wollen, wenn Ihr Spaten
nicht einrosten soll, dann müssen Sie in dem Bereich
Sehr geehrter Herr Minister, das gleiche Schicksal er- Bundesfernstraßen erheblich mehr Geld investieren,
eilt Ihren bereits jetzt angekündigten Masterplan „Lo- sonst wird Ihnen dieser Titel wahrscheinlich aberkannt
gistik“, bevor dieser richtig fertig ist. Sie kommen zu werden.
dem zutreffenden Ergebnis – ich zitiere Ihr Haus in der
„Deutschen Verkehrszeitung“ vom 24. August –, dass (Iris Gleicke [SPD]: Ihre Rede folgt dem
sich die Priorisierung beim Erhalt und Ausbau der Infra- Motto „Haltet den Dieb, er hat mein Messer im
struktur stärker als bisher an den Anforderungen der ver- Rücken“! Erst zusätzliche Maßnahmen for-
ladenden Wirtschaft orientieren muss. dern, dann zu wenig Geld haben!)
Schauen wir uns die Zahlen an. Die Straße schultert – Sie können gleich gerne sprechen.
etwa 70 Prozent des Güterverkehrs und sogar 80 Prozent (Iris Gleicke [SPD]: Ich wollte dazwischenrufen!)
des Personenverkehrs. Von den 8,75 Milliarden Euro
Gesamtinvestitionen in die Infrastruktur des Bundes ent- In Ihrem Masterplan Logistik präferieren Sie den
fallen jedoch nur 4,5 Milliarden Euro auf die Fernstra- Rückzug des Staates aus dem Dienstleistungsbereich. Es
ßen. Das sind gut 51 Prozent. 2006 waren es noch ist schon interessant, mit welchen Argumenten Sie ande-
4,8 Milliarden Euro, sprich 54 Prozent. Sie erkennen rerseits beim Thema Bahn das Integrationsmodell hoch-
also einen Trend, der die Förderung der Bundesfernstra- halten. Sie manifestieren damit endgültig, dass der Bund
ßen eher abnehmen lässt. Mehrheitseigentümer eines Logistikunternehmens wird.
4714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Jan Mücke
(A) Warum soll es aber Aufgabe des Bundes sein, Hafenter- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C)
minals und Logistikkonzerne zu betreiben? Ich erteile das Wort Kollegen Hans-Peter Friedrich,
(Jens Ackermann [FDP]: Sozialisierung!) CDU/CSU-Fraktion.
Es kann doch nicht im Sinne eines effektiven Wettbe- (Beifall bei der CDU/CSU)
werbs im Verkehrsbereich sein, dauerhaft einen Staats-
konzern zu verankern, der auf Kosten des Steuerzahlers Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU):
konkursfest ist und Vorzugskonditionen bei der Finan-
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
zierung genießt.
Diese Koalition hat über ihre Arbeit von vier Jahren fol-
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ genden Dreiklang gestellt: Sanieren, Reformieren, In-
DIE GRÜNEN) vestieren. Wir haben das große Glück, dass wir mit die-
sem Einzelplan in erster Linie für das Investieren
Was Sie mit dieser Politik beabsichtigen, zumindest be-
zuständig sind. Ich denke, dass der Einzelplan 12 im
wirken oder billigend in Kauf nehmen, ist eine klare Ver-
Haushalt 2007 einen starken Beitrag dazu leistet, dass
zerrung des Wettbewerbs zulasten privater Unterneh-
Art. 115 des Grundgesetzes eingehalten werden kann, in
men. Das sieht man gerade in der Logistikbranche
dem steht: Die Investitionen müssen höher sein als die
deutlich.
Kreditaufnahme. Das schaffen wir nicht zuletzt damit,
Sie haben sich wahrscheinlich die Vision von Herrn dass über die Hälfte des Haushaltes des Ministers für
Mehdorn zu Eigen gemacht, mit dem Konzern Deutsche Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Investitionen geht
Bahn einen Globalplayer aufzustellen. Gerade uns Ost- und dass über die Hälfte der investiven Ausgaben des
deutschen – ich komme noch einmal auf unsere gemein- Bundes im Verkehr- und Baubereich stattfinden.
same Herkunft zu sprechen – müsste eigentlich bekannt
sein, dass die Größe allein relativ wenig über die Wett- Wir wissen, dass es sich dort nicht nur um wichtige
bewerbsfähigkeit eines Unternehmens aussagt. Aufgaben des Wirtschaftsstandortes Deutschland han-
delt, sondern auch um die Zukunft des Lebensqualitäts-
(Jens Ackermann [FDP]: Sehr wahr!) standortes Deutschland. Es ist nicht unwichtig, wie wir
Große Unternehmensverbünde hatten wir zu DDR-Zei- – der Minister hat es gesagt – den regionalen und sozia-
ten auch. Entscheidend sind effiziente Strukturen und ein len Zusammenhalt unserer Städte und Gemeinden ge-
erstklassiges Produkt. Das erwarten wir von der stalten. Es ist nicht unwichtig, wie die Mobilität der Bür-
Bahn AG. gerinnen und Bürger im Alltag gesichert wird. Aber es
geht bei diesen Investitionen nicht nur darum, Lebens-
Damit komme ich zu dem, was heute über die Ticker qualität für die Zukunft zu sichern, sondern sie haben (D)
(B)
gelaufen ist. Sie haben die Opposition freundlicherweise auch einen sehr guten Nebeneffekt: Wir sichern dadurch
zu einem klärenden Gespräch über den Börsengang der Arbeitsplätze in der Gegenwart.
Bahn, insbesondere über die Bahnimmobilien, eingela-
den. Die Zuordnung dieser Immobilien ist in der letzten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Zeit häufig Thema in den Medien gewesen. Ich möchte der SPD – Beifall bei der FDP)
an dieser Stelle noch einmal erklären, dass der Brief von
Zum ersten Mal seit sieben Jahren werden in diesem
Herrn Mehdorn unseres Erachtens keineswegs alle Fra-
Jahr die Umsätze in der Bauwirtschaft steigen. Die Bau-
gen beantwortet hat. Die Grundstückszuordnung ist nach
wirtschaft rechnet auch im kommenden Jahr mit einer
wie vor eine offene Frage. Wir erwarten, dass die Immo-
positiven Entwicklung. Natürlich gibt es – das werden
bilien der Deutschen Bahn AG entsprechend § 25 des
Sie sofort entgegenhalten – eine Sonderkonjunktur auf-
Deutsche Bahn Gründungsgesetzes zugeordnet werden.
grund des Wegfalls der Eigenheimzulage und der Erhö-
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem hung der Mehrwertsteuer.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben mit dem KfW-CO2-Gebäudesanierungs-
Solange diese Fragen nicht endgültig beantwortet programm einen starken Stabilisator eingezogen, der
sind und Ihr Haus nicht endgültig Position bezogen hat, insbesondere für das Bauhandwerk ein warmer Regen
wie die Grundstücke zugeordnet werden sollen, steht für ist. Dieses Programm ist – der Minister hat es gesagt –
uns der Untersuchungsausschuss weiter im Raum. ein außerordentlicher Erfolg. Wir hatten uns als Ziel vor-
(Beifall bei der FDP, dem BÜNDNIS 90/DIE genommen, ein Investitionsvolumen in Höhe von etwa
GRÜNEN und der LINKEN) 7 Milliarden Euro anzuregen. Dies ist gleich im ersten
Anlauf deutlich überschritten worden. 1 Milliarde Euro
Für uns ist entscheidend, wie die Bundesregierung Investitionen bedeuten die Sicherung von 25 000 Ar-
den Investitionshaushalt im Bereich Verkehr in Zukunft beitsplätzen in diesem Land. Ich denke, das kann sich se-
gestalten wird. Das ist unseres Erachtens eine Zukunfts- hen lassen.
branche. Wir werden Sie gern unterstützen, wenn Sie
vernünftige Investitionsentscheidungen treffen. Wenn (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gestern habt Ihr
Sie allerdings wie beispielsweise in diesem Jahr ganz 100 000 gesagt!)
massiv zulasten der Straße einsparen, werden Sie keine
Gleichzeitig entlasten wir durch die CO2-Einsparun-
Unterstützung für Ihren Haushaltsentwurf finden.
gen unsere Umwelt. Wir sparen Energiekosten und ver-
(Beifall bei der FDP) bessern den Substanzwert des Gebäudebestandes in die-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4715
Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)
(A) sem Land, wobei sich drei Viertel aller Anträge auf Ein- Lieber Herr Minister, ich sage Ihnen: Herzlichen (C)
und Zweifamilienhäuser beziehen. Glückwunsch zu Ihren erfolgreichen Verhandlungen mit
dem Bundesfinanzminister! Sie haben es trotz leerer
Das zeigt, dass das der richtige Weg ist und dass wir Kassen bzw. knapper Finanzmittel geschafft, eine dauer-
keine teueren staatlichen Konjunkturprogramme brau- hafte Erhöhung der Investitionsmittel im Verkehrsbe-
chen, sondern nur Anreize, damit die Menschen ihr pri- reich durchzusetzen.
vates Kapital mobilisieren und investieren. Ich denke,
angesichts der momentan nicht gerade überwältigenden Wir haben einen verlässlichen Rahmen für die
Anzahl attraktiver Anlagemöglichkeiten in Deutschland geplanten Projekte im Bundesverkehrswegeplan ge-
sind viele bereit, zu sagen: Jawohl, ich investiere in mein schaffen. Wir arbeiten mit Hochdruck an einem Pla-
eigenes Häuschen oder in meine eigene Wohnung. nungsbeschleunigungsgesetz. Zudem bemühen sich die
Koalitionsfraktionen – der Minister hat das angedeutet –
Deswegen sollten wir alle dafür sorgen, dass auch der um eine weitere Aktivierung privaten Anlagekapitals im
Wohnungsbau als Altersvorsorge möglichst bald riester- Verkehrsbereich. Hier müssen wir die eine oder andere
fähig gemacht wird. Hürde beiseite räumen. Heute Nachmittag hat sich zu
diesem Thema eine Expertenrunde getroffen und interes-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
sante Vorschläge gemacht.
Ich glaube, das ist ein ganz wichtiges Anliegen, das wir
Natürlich, Herr Kollege Mücke, erwarten auch wir,
gemeinsam verfolgen sollten. Denn die Erarbeitung ei-
dass die Fünfjahrespläne zügig vorgelegt werden. Aber
ner Eigentumswohnung oder eines kleinen Häuschens
Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit;
sind Altersvorsorge und Eigentumsbildung in Eigenver-
antwortung der Menschen. Das sollte der Staat entspre- (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
chend unterstützen und würdigen. NEN]: Meinen Sie nicht eher die Entwicklung
zur Langsamkeit? – Horst Friedrich [Bay-
Wir erreichen CO2-Einsparungen; wir erreichen Ener- reuth] [FDP]: Ich breche gleich in Tränen aus!)
gieeinsparungen. Dies schaffen wir auch mithilfe eines
weiteren Instruments, das uns die Europäische Union auch das ist ein wichtiges Prinzip. Gerade in Zeiten
vorschreibt, nämlich des so genannten Energieauswei- knapper Kassen muss man sich genau überlegen, wo
ses. Der Energieausweis ist sinnvoll. Denn er soll doku- man investiert. Deswegen ist es richtig, dass wir die
mentieren, wie hoch der Energieverbrauch und die Ener- Fünfjahrespläne sehr sorgfältig vorbereiten.
giekosten sind, die der potenzielle Käufer oder Mieter
einer Wohnung oder eines Hauses zu erwarten hat. Trotzdem sollten wir aufhören, den Erfolg der Ver-
(B) kehrspolitik einzig und allein daran zu messen, wie viele (D)
Es macht Sinn, ihn in einer Phase, in der die Energie- neue Spatenstiche gemacht werden. Das ist eine etwas
kosten besonders hoch und gewissermaßen zu einer Art verengte Perspektive.
zweiten Miete geworden sind, als Marktkriterium einzu-
führen. Ich warne aber sehr davor, in diesem Zusammen- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
hang unnötige Kosten zu produzieren, die die Eigentü- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mer von Häusern und Wohnungen belasten. Das eigentlich Entscheidende ist, den Bestand an Stra-
(Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP]) ßen, der von Jahr zu Jahr zunimmt, zu sichern und zu er-
halten. Deswegen fließen noch in diesem Jahr
Ich bin deswegen sehr froh, dass sich der Bundes- 1,7 Milliarden Euro aus dem Haushalt für das Jahr 2007
minister für Verkehr und der Bundesminister für Wirt- in die Erhaltung des bestehenden Straßennetzes. Zu-
schaft auf die Wahlfreiheit zwischen zwei Varianten des sammen mit den Erhaltungsmaßnahmen im Rahmen von
Energieausweises verständigt haben: zwischen dem Be- Erweiterungsarbeiten sind es 2 Milliarden Euro.
darfsausweis, der relativ teuer ist, weil er kompliziert
Wir müssen der Bevölkerung deutlich machen, wie
und aufwendig herzustellen ist, und dem Verbrauchsaus-
wichtig es ist, den ständig zunehmenden Bestand zu er-
weis, der relativ günstig ist und diesen Zweck für eine
halten, und klar sagen, dass das Mehraufwendungen zur
Übergangszeit, bis sich das Ganze am Markt etabliert
Folge hat, was dazu führt, dass die Investitionen knapper
hat, genauso gut erfüllen kann.
ausfallen. Ich denke, die Bevölkerung, die ein Interesse
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- daran hat, dass die Straßen in gutem Zustand und ver-
neten der SPD) kehrssicher sind, versteht das.
Das entspricht im Übrigen auch unserem Ziel, EU-Vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
schriften eins zu eins umzusetzen und nicht draufzusat- neten der SPD)
teln. Sollten sich in den nächsten Wochen unerwarteter-
Was die Verkehrsinfrastruktur angeht, stimme ich den weise Haushaltsspielräume auftun, verspreche ich Ihnen,
Kollegen, die vor mir gesprochen haben, uneinge- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann
schränkt zu, auch denen der Opposition. Wenn man in- sparen wir! Ja, ja!)
vestieren möchte, kann man nie genug Geld haben; es ist
eigentlich immer zu wenig. Aber ich denke, dass wir es dass wir wie ein Mann hinter dem Bundesverkehrsminis-
geschafft haben. ter stehen
4716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Winfried Hermann
(A) Ich muss erläutern: Die Grünen haben jahrelang genau an die vollmundigen Forderungen der CDU/CSU in Op- (C)
diese Aufstockung gefordert; die Sozialdemokraten ha- positionszeiten denke – Sie wollten viel mehr Straßen-
ben immer gesagt, das gehe nicht. Jetzt haben Sie sich und Schienenbau betreiben – und dann die bescheidenen
im Ringen mit sich selbst für eine Aufstockung entschie- Investitionsansätze sehe, die alle hinter dem, was es un-
den. Herzlichen Glückwunsch! Wir sind jetzt jedenfalls ter Rot-Grün gab, zurückbleiben, erkenne ich: Sie haben
ein Stück weiter. endlich dazugelernt. Sie wissen nun, dass man nicht nur
eins draufsetzen muss, sondern auch gestalten muss. Aus
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
unserer Sicht steht aber zu wenig Geld für die Sanierung
Uwe Beckmeyer [SPD]: Wenn das mal keine
bereit. Auch das ist eine Investition in die Zukunft. Wir
Geschichtsklitterung war!)
müssen mehr für den Erhalt unserer umfangreichen In-
Das Lob, das man zum Gebäudesanierungsprogramm frastruktur tun und nicht immer noch eins draufsetzen,
äußern muss, kann man nicht auf den Bereich Verkehrs- weil die Sanierung später vielleicht nicht mehr finanziert
politik übertragen. Herr Minister, Sie haben einige Pro- werden kann.
jekte, die es schon seit Jahren gibt und die unter Rot-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Grün angeleiert wurden, fortgeführt. Es geht dabei um
die Frage, wie man den Bereich Verkehr nachhaltiger ge- Ich komme zum letzten Punkt, zu einer großen, wich-
staltet, etwa mit neuen Antriebssystemen und neuen tigen Zukunftsentscheidung: die Privatisierung der
Treibstoffen. Damit beschäftigen wir uns schon seit Jah- Deutschen Bahn. Wir sind uns mit der FDP und mit der
ren. Es fehlt aber wirklich ein großer strategischer Wurf, Linkspartei völlig einig: Es kann keinen Börsengang
der erkennbar zeigt, wie wir im Bereich Mobilität, der zu ohne eine vollständige, lückenlose Aufklärung der Af-
90 Prozent vom Öl abhängig ist, entsprechend der Stra- färe um Immobiliengeschäfte der Deutschen Bahn – es
tegie der Bundesregierung vom Öl wegkommen. Hier gab Fehlzuweisungen – geben. Alles, was damit zusam-
muss es noch deutliche Nachbesserungen geben; hier ist menhängt, muss hieb- und stichfest aufgeklärt werden.
noch viel zu tun. Sie haben in diesem Bereich kein zu- Sonst kann es keinen Börsengang geben.
kunftsfähiges Programm.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Nächster Bereich: Infrastruktur. Alle haben angespro- bei der FDP und der LINKEN)
chen, wie wichtig die Infrastruktur für die Zukunft der
Wir haben jetzt die ersten Antworten – mehr als bis-
Gesellschaft ist. Nehmen wir das zuletzt angesprochene
her –, aber es ist noch längst nicht alles aufgeklärt. Viele
Beispiel: der Bereich Gütertransport. Ist es unter dem
Fragen sind noch auf dem Tisch. Solange sie auf dem
Gesichtspunkt, dass wir Schienenverkehr zur Anbindung
Tisch sind und keine Antworten folgen, sind wir der
an die Seehäfen brauchen, weil der Verkehr dort massiv
Meinung, dass die Einsetzung eines Untersuchungsaus-
(B) wächst, nicht dringend notwendig, in diesen Bereich zu (D)
schusses nötig ist. Das ist völlig klar. Im Moment liegen
investieren? Ich weise auf die Verbindung durch das
uns einige Antworten vor, aber das ist zu wenig, um
Rheintal in die Schweiz hin. Ist es nicht einsichtig, dass
wirklich einschätzen zu können, was da passiert ist. Man
wir genau dort schwerpunktmäßig investieren müssen?
muss den Eindruck haben, dass über Jahre hinweg das
Das geschieht leider nicht. Man setzt weiter auf Projekte
Recht verletzt wurde und dass es noch keine Korrekturen
wie die Strecke Nürnberg–Erfurt, die genau das nicht
gab. Es ist auch noch nicht erkennbar, welche Korrektu-
leisten, aber das Geld abziehen, das wir dringend für
ren Sie vornehmen wollen und wie Sie die ökonomi-
eine nachhaltige Logistikpolitik brauchen.
schen Nachteile für den Bund ausgleichen wollen.
Herr Kollege Fischer, Sie verstehen nicht, warum die
Da Sie nun in der Koalition heftig über die Art und
Grünen gegen den Flussausbau sind. Wir sind dagegen,
Weise der Privatisierung streiten, möchte ich Ihnen ein
weil wir keine eindimensionalen Ökologen sind. Bei der
paar Zukunftsfragen mitgeben, die in der Debatte bisher
Ökologie geht es nämlich nicht nur um Emissionen und
überhaupt nicht berücksichtigt werden.
Energieverbrauch. Vielmehr gehören auch Natur- und
Gewässerschutz sowie Gewässerökologie dazu. Sie kön- Bei all Ihren Modellen, die Sie durchspielen, stellt
nen nicht an der Donau und an Teilen der Elbe einen na- sich die Frage, durch welche Entscheidungen die Zu-
tur- und landschaftsverträglichen Flussausbau, der einen kunft verbaut wird. Wenn man ein beträchtliches Volks-
vernünftigen Schiffverkehr zulässt und sich auch noch vermögen wie das Schienennetz zu Niedrigstpreisen ab-
ökonomisch rechnet, betreiben. Die entsprechenden gibt, weil es an der Börse nichts wert ist, dann ist das
Transporte kann man – das ist unsere Überzeugung – mit Erbe verschleudert und die Zukunft verbaut. Wenn man
der Bahn bei weitem preiswerter und ökologischer be- beispielsweise langfristige Verträge macht, über die Sie
werkstelligen. bei den verschiedenen Modellen diskutieren – es ist im-
mer von einem langfristigen Nießbrauchrecht über
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
30 Jahre die Rede –, dann bedeutet das den Ausschluss
Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Das ist ob-
zukünftiger Politikgenerationen von der politischen Ent-
jektiv falsch!)
scheidung, wie der Schienenverkehr in Deutschland ge-
Sie setzen im Bereich Infrastruktur unserer Meinung staltet wird.
nach immer noch zu sehr auf neue, große Projekte.
Ein langfristiger Vertrag mit einer Laufzeit von
Wenn Sie, Herr Friedrich, sagen, man müsse auch an 30 Jahren behindert die Politik und den Wettbewerb und
den Erhalt denken, sagen wir: Richtig. Es freut uns, schadet letztendlich dem Schienenverkehr, weil sich auf
dass Sie hier umdenken. Spitz nachgetragen: Wenn ich der Schiene kein Wettbewerb und kein Wachstum entwi-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4719
Winfried Hermann
(A) ckeln können. Das alles sind nur Schutzkonzepte zum Zu den Ausgabeschwerpunkten ist festzustellen – das (C)
Erhalt der Deutschen Bahn AG. ist nach der Diskussion in den zurückliegenden Jahren
sicherlich erfreulich –, dass wir in den Bereichen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schiene, Wasserstraße, Fernstraße und bei den Mitteln
und bei der FDP) im Rahmen des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgeset-
Eine vernünftige ökologische und nachhaltige Zu- zes gute Werte zu verzeichnen haben. Das wird in der
kunftsinvestitionspolitik, Infrastrukturpolitik und Ver- Öffentlichkeit gelegentlich anders gesehen. Mein Freund
kehrspolitik müssen sich aber über Einzelinteressen hin- und Kollege Fischer hat sich gestern in einer Pressemit-
wegsetzen und den Schienenverkehr im Geiste einer teilung von Pro Mobilität entsprechend geäußert. Er hat
nachhaltigen Mobilitätspolitik und des Klimaschutzes aber nur bedingt Recht; denn wir müssen berücksichti-
betreiben. Das wäre zukunftsfähig. Insofern müssen Sie gen, von welchen Ausgangs- und Plandaten sich der
in der Debatte noch einiges nachlegen. Haushalt in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich kann
mich noch gut daran erinnern, dass der Planungszeit-
Vielen Dank. raum in den Diskussionen in diesem Hause Unzufrieden-
heit hervorgerufen hat. Ich glaube, der Koalition ist es
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nun gelungen, die Quelle der Unzufriedenheit bei den
Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu beseitigen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Die Investitionsansätze betreffend die Verkehrsinfra-
Ich erteile das Wort Kollegen Uwe Beckmeyer, SPD- struktur nehmen in den kommenden Jahren deutlich zu.
Fraktion. Das ist ein sichtbarer Erfolg. Sie können das alles nach-
lesen.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay-
Uwe Beckmeyer (SPD): reuth] [FDP]: Das wird durch dauernde Wie-
derholungen nicht besser!)
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich denke, dass wir mit dem Haushalt des Mit dem wirtschaftlichen Wachstum nimmt bislang
Einzelplans 12 einen wesentlichen Schlüssel für die öko- der Transportbedarf zu. Dieser Umstand darf nach
nomische Entwicklung dieses Landes in der Hand ha- meiner Meinung verkehrspolitisch nicht einfach hinge-
ben. Dieser Haushalt ist in seiner Wirkung sicherlich ei- nommen werden. Meine feste Überzeugung ist, dass
ner der einflussreichsten Faktoren für die Stärkung des diese Wachstumsprozesse mittelfristig entkoppelt wer-
Wirtschaftsstandortes Deutschland. Insofern ist er insbe- den müssen; denn eine innovative Verkehrspolitik ver-
(B) sondere im Hinblick auf die Entfaltung dieser Wirkung langt – genauso wie die europäische Verkehrspolitik – (D)
zu betrachten. nach einer vernünftigen Antwort. Eine innovative und
Was heißt das? Die Infrastruktur ist im Grunde ge- nachhaltige Verkehrspolitik sichert einerseits einen ho-
nommen das Rückgrat unserer Ökonomie bzw. unseres hen Grad an Mobilität und sorgt andererseits dafür, dass
gesamten Wirtschaftssystems. Mit den Investitionen in die Belastungen für Menschen und Umwelt möglichst
dieses Wirtschaftssystem und in die Verkehrsinfrastruk- gering sind.
tur unseres Landes geben wir meines Erachtens starke
(Beifall bei der SPD)
– wenn nicht sogar die stärksten – Impulse für die Ver-
besserung unserer Wirtschaftskraft und damit auch für Wir Sozialdemokraten setzen gemeinsam mit unse-
die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Das erreichen wir rem Koalitionspartner auf eine vorausschauende, inte-
nicht nur durch die Investitionen selbst, sondern auch grierte Verkehrspolitik des Bundes, basierend auf einer
durch die Wirkungen, die diese Investitionen in Deutsch- vernünftigen Kombination unterschiedlicher Verkehrs-
land entfalten. träger. Was wir brauchen, ist ein ökonomisch effizientes,
Unser gemeinsames politisches Ziel ist es doch wohl, sozial angemessenes und ökologisch verträgliches Mobi-
alle Kräfte zu stärken, die diese positiven wirtschaftli- litätsangebot. Das ist im Koalitionsvertrag ausdrücklich
chen Effekte entfalten. Wenn wir Verkehrsinfrastruktur unterstrichen und damit die Richtschnur für den Ver-
ausbauen, instand halten und optimieren, sorgen wir da- kehrshaushalt – insbesondere für die Ausgaben –, über
für, dass dieser wirtschaftliche Aufschwung nachhaltig den wir heute in erster Lesung beraten.
wird. Wir ermöglichen, stabilisieren und verstärken ihn.
Es gibt aber auch den grundgesetzlichen Allgemein-
Das ist umso wichtiger, als der Haushalt mit einem Aus-
wohlauftrag der Bahn. Diesen Infrastrukturauftrag, der
gabeplafond von 24 Milliarden Euro ausgestattet ist. Das
entspricht einer Steigerung um 307 Millionen Euro in auch volkswirtschaftliche Implikationen hat, nehmen
absoluten Zahlen bzw. einem Plus von 1,3 Prozent. Auch wir sehr ernst. Eine integrierte Verkehrspolitik basiert
das sollte an dieser Stelle erwähnt werden. auf einem intakten, zukunftsfähigen Wasserstraßensys-
tem, einem adäquaten Fernstraßensystem sowie einem
Der Einzelplan 12 ist mit Abstand der größte Investi- am Allgemeinwohl und insbesondere an den Verkehrs-
tionshaushalt des Bundes. Rund 53,2 Prozent der inves- bedürfnissen orientierten Schienensystem der Eisenbah-
tiven Ausgaben des Bundes sind Investitionen in den nen. Diese Netze wollen wir gut unterhalten, wo nötig,
Verkehrs- und Baubereich. Die Investitionen in diesem ausbauen und dem Bedarf entsprechend unserer zentra-
Einzelplan betragen rund 12,5 Milliarden Euro. len Lage in Mitteleuropa anpassen.
4720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Uwe Beckmeyer
(A) Das Bruttoanlagevermögen unserer Bundesfern- hier alle – die gesamte Branche, aber auch die nationale (C)
straßen inklusive der Brücken hat nach der Statistik des Volkswirtschaft – etwas davon haben. Ich glaube, wir
Verkehrsministeriums – Stand 2004 – einen Wert von haben eine gute Ausgangslage, um uns in dieser Frage
mindestens 478 Milliarden Euro. Der Wert des Schie- wirklich nach vorne zu arbeiten und unsere Potenziale so
nennetzes beträgt laut dieser Statistik 130 Milliarden zu bündeln und auszutarieren, dass wir daraus den best-
Euro und der unserer Wasserstraßen rund 40 Milliarden möglichen Effekt erzielen.
Euro. Würde man eine reine Ertragswertberechnung
der Wertermittlung zugrunde legen, hätte das Autobahn- Zum Thema Forschung und Innovation gibt es vieles
netz vor der Einführung der LKW-Maut den Wert null zu sagen. Ich will nur einen ganz kleinen Teil anspre-
gehabt und wäre selbst nach der Einführung der Maut chen, und zwar die Erforschung von umweltfreundliche-
nur gut 3 Milliarden Euro wert. Sie werden sich sicher- ren Motoren für die Binnenschifffahrt. Wir Sozialdemo-
lich fragen, ob es sein kann, dass der Bruttoanlagewert kraten sind entschlossen, es nicht nur bei der Forschung
478 Milliarden Euro und der Ertragswert nur 3 Milliar- zu belassen, sondern auch zur Implementierung solcher
den Euro beträgt. Sicher, das kann sein. Es kommt im- Motoren zu kommen.
mer darauf an, wen Sie fragen: den Bauunternehmer, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ein Bauwerk erstellen soll, oder den Kapitalverwerter, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
der private Kapitalgeber interessieren will. Ich will hier
gerne – wir kennen das aus dem Ausschuss – die rhetori- Der letzte Punkt, auf den ich eingehen möchte – ich
sche Frage nach dem Wert des Kölner Doms oder der möchte meinen nachfolgenden Kollegen nicht die Zeit
Dresdner Frauenkirche wiederholen. Nach der Ertrags- stehlen –, bezieht sich auf die Akzeptanz der Verkehrs-
wertmethode wären sie jeweils nur ihre Klingelbeutel- politik. Wir haben im letzten Haushalt – ich denke, wir
kollekte wert. sollten das fortsetzen – zusätzliche Mittel für die Lärm-
bekämpfung eingestellt. Wir haben hierfür richtig Geld
Ich sprach vorhin von der großen Bedeutung der Ver-
in die Hand genommen und haben die Ansätze verdop-
kehrsinfrastruktur für den wirtschaftlichen Aufschwung
pelt. Ich glaube, das ist der richtige Weg.
in Deutschland. Sie ist natürlich in erster Linie in ihrer
volkswirtschaftlichen Bedeutung für unser Land zu su- (Beifall bei der SPD)
chen. So wird es auch in Zukunft bleiben. Deshalb wird
aus Sicht des Bundes eine pure Fixierung auf den Er- Wir müssen den Lärm an der Quelle und auch den Lärm
tragswert der Bewertung unserer Infrastrukturnetze nicht an den Bundesverkehrswegen bekämpfen. Ansonsten
gerecht. Ich sage dies gerade mit Blick auf eine mögli- bekommen wir in Deutschland für Verkehrswege keine
che Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn AG. Akzeptanz des Bürgers – und wir brauchen diese Akzep-
(B) tanz. Ich glaube, es ist wichtig, an dieser Frage zu arbei- (D)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ten und etwas Zusätzliches zu tun. Wir sollten vielleicht
CDU/CSU) auch noch einmal über die Rahmenbedingungen – wie
Wir wollen auch in Zukunft den freien Verkehrsmarkt wird Lärm eigentlich empfunden, wie wird er bewertet,
im Rahmen des EU-Binnenmarktes fördern. Wettbewerb wie wird er gemessen? – nachdenken. Es kann nicht
innerhalb und zwischen den Verkehrsträgern bleibt unser sein, dass die Leute sagen: „Ich höre das“, aber dann
gemeinsames Ziel. Kabotage gab es überall. Regulierung wird am Ende der Lärm nicht nach dem Gehör oder nach
gab es auf allen Feldern der Transportlogistik; ich der gemessenen Lautstärke bewertet, sondern er wird be-
glaube, wir haben sie nach und nach auf allen Feldern rechnet. Auch das zeigt, wie schwierig es sein kann, Ak-
abgeschafft. Das Spannungsverhältnis zwischen Regu- zeptanz herzustellen.
lierung und Wettbewerb auszutarieren, ist eine Heraus- Ich habe noch 26 Sekunden, in denen ich etwas zum
forderung, die der modernen Verkehrspolitik künftig Infrastrukturbeschleunigungsgesetz sagen will. Wir wol-
teilweise noch bevorsteht. len ganz entschieden dieses Thema so behandelt wissen,
Ich will noch etwas zu den Risiken, aber auch zu den dass dieses Gesetz zum 1. Januar 2007 seine volle Wir-
Chancen sagen. Ich meine hierbei Risiken nicht im kung entfaltet.
Sinne von Haushaltsrisiken. Verkehrspolitik hat natür-
(Beifall bei der SPD)
lich darüber hinaus vieles zu berücksichtigen – die unsi-
chere weltpolitische Lage, drastisch steigende Ölprei- Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Damit will
se –, was uns immer wieder bedroht, ob international ich schließen.
oder europäisch. Insofern ist es wichtig – gerade wenn
man an die Rohstoffpreise denkt –, dass man innovative Herzlichen Dank, meine sehr geehrten Damen und
Forschungsprojekte für alternative Antriebsformen und Herren. – Herr Präsident, ich habe zwei Minuten meiner
Antriebsstoffe weiter unterstützt und fördert. Ich denke, Kollegin überlassen.
das versteht sich von selbst.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Zu den Chancen. Der Minister hat vorhin mit Recht Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
auf den Masterplan „Güterverkehr und Logistik“ Ich wollte mich schon wundern, dass Sie uns zwei
hingewiesen. Es ist eine riesengroße Chance für Minuten schenken, aber Sie haben sie gleich weiter ver-
Deutschland, dieses Feld national so zu besetzen, dass teilt.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4721
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
(A) Ich erteile das Wort dem Kollegen Joachim Günther, Ich erinnere an den Wegfall der degressiven AfA im (C)
FDP-Fraktion. Mietwohnungsbau und an die Verschlechterung bei den
Abschreibungen für sanierungsbedürftige und denkmal-
(Beifall bei der FDP)
geschützte Gebäude durch das Haushaltsbegleitgesetz
2004. All das hat die Bauwirtschaft in den vergangenen
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Jahren belastet. Auch wir haben diesen Maßnahmen zum
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir größten Teil zugestimmt, aber nur deshalb, weil wir im
diskutieren heute den Haushaltsplan 2007. Ich möchte Gegenzug eine umfassende Steuerreform gefordert ha-
mich vorrangig mit dem Bereich Wohnungswesen und ben, die im Ergebnis die Senkung der Steuer- und Abga-
Städtebau auseinander setzen. Hier enthält der Haus- benlast für den Bürger bewirkt. Dann kann man so etwas
haltsplan – das sage ich klar vorweg – einen positiven aufheben. Hier aber wurde nur abgeschöpft und das ist
Ansatz. Die im Vergleich zum Vorjahr um 260 Millionen nicht in unserem Sinne.
Euro erhöhten Investitionen – so muss man das ja
sehen – lassen zumindest die Überzeugung aufkommen, (Beifall bei der FDP)
dass die Bundesregierung das Vorhaben ernst nimmt,
den politischen Stellenwert des Bauwesens wieder an- Es gibt ein weiteres Thema, das Herr Steinbrück im
steigen zu lassen. Sommer in die Diskussion geworfen hat. Ich meine die
Abschaffung der Wohnungsbauprämie. Ich hoffe, dass
Sie als Koalitionsparteien hatten der Bauwirtschaft das genauso wie die Forderung nach dem Verzicht auf
das Versprechen gegeben, dass Sie die Rahmenbedin- Urlaub gemeint war, dass er es also nicht ernst genom-
gungen so gestalten würden, dass die Bauwirtschaft wie- men hat. Wir als FDP werden in der jetzigen Situation
der schwarze Zahlen schreiben kann und dass man es auf auf keinen Fall der Abschaffung der Wohnungsbauprä-
dem Arbeitsmarkt merkt. Herr Minister, Ihre Rede war mie zustimmen; denn wir können nicht die Haushaltssa-
absolut positiv; sie hatte noch etwas von der Euphorie nierung auf dem Rücken der Bürger betreiben, die priva-
der Weltmeisterschaft. tes Wohneigentum erwerben wollen.
Das ist ja nicht schlecht, aber als Opposition müssen (Beifall bei der FDP)
wir auf den einen oder anderen Punkt hinweisen, mit
dem man vorsichtig umgehen sollte. So hat zum Beispiel Dass sich die Bundesregierung verstärkt dem Thema
der Kollege Friedrich gesagt, die Zahl der Bauauftrags- „zukunftsorientierte Stadtentwicklung“ zuwenden will,
eingänge sei im Vergleich zum Vorjahr höher gewesen. finde ich sehr positiv. Sie haben das als zentrales Thema
Das stimmt, und zwar um 0,2 Prozent. Aber zu dieser der deutschen EU-Präsidentschaft angekündigt. Das Ziel
Wahrheit gehört noch etwas anderes. Im gleichen Zeit- einer nachhaltigen Stadtentwicklung muss weiter ver-
(B) raum sank im Vergleich zum Vorjahr die Zahl der Be- (D)
folgt werden. Das war das Ziel von vielen Akteuren, die
schäftigten im Bauhauptgewerbe um 28 000. auf diesem Gebiet tätig waren. Ich hoffe, dass die Akti-
(Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja, ja!) vitäten sich nicht auf die Umbenennung des Ministe-
riums beschränken, das jetzt auch das Wort „Stadtent-
Das bedeutet, dass diese 28 000 Beschäftigten im Bau- wicklung“ in seiner Bezeichnung trägt, sondern dass
hauptgewerbe arbeitslos geworden sind. Ich hoffe, dass wirkliche Schritte erfolgen. Die Stärkung der Innen-
es nur eine Episode in der Sommerpause war, als Sie städte ist ein wichtiges Kernthema. Hier bedarf es eines
sagten, man könne diese Arbeitslosen als Hilfssheriffs Umsteuerungsprozesses und noch vieler Anstrengungen.
einstellen. Ich gehe davon aus, dass es mittelfristig gelin- Die Erhöhung der Fördermittel für diesen Prozess in
gen wird, diese wieder in Arbeit zu bringen. Diese Zah- Ost- und Westdeutschland begrüßen wir. Wir müssen
len machen deutlich, dass die grundlegenden Rahmenbe- aber auch darauf achten, dass sie zielgerichtet und effek-
dingungen noch nicht geändert worden sind. tiv eingesetzt werden. So werden zum jetzigen Zeitpunkt
über 60 Prozent der Mittel für den Rückbau – sprich:
(Beifall bei der FDP)
Abriss – eingesetzt. Ich sage bewusst: Sie müssen dafür
Stattdessen steht uns die Mehrwertsteuererhöhung um zum jetzigen Zeitpunkt eingesetzt werden. Wenn man
3 Prozentpunkte bevor. Herr Minister, Sie selbst haben eine positive Entwicklung auf diesem Feld einleiten will,
schon angekündigt, dass eine konjunkturelle Delle zu er- dann muss man langsam umsteuern und von dem Abriss-
warten ist. Hoffen wir, dass es wirklich nur eine Delle programm zu einem Umbauprogramm, an dem alle Im-
wird und kein Rückgang der Konjunktur. mobilienbesitzer beteiligt sind, kommen. Auch das ist in
den Städten von großer Bedeutung.
In diesem Zusammenhang sind viele Maßnahmen zu
erwähnen, die die Bauwirtschaft schon in der Vergan- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Peter
genheit beeinträchtigt haben. Die muss man nennen, Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zu-
wenn man über neue Steuererhöhungen spricht. Ich ruf des Abg. Rainer Fornahl [SPD])
denke an die Abschaffung der Eigenheimzulage, die
ohne Kompensation – darum geht es mir – erfolgt ist. – Wollen Sie mir sagen, dass dieser Herr uns gefragt hat,
Wir haben vorgeschlagen, das Wohneigentum in die ge- als er das umgebogen hat? Es geht doch darum, dass wir
förderte Altersvorsorge einzubeziehen. Da gibt es An- auch die privaten Immobilienbesitzer einbeziehen wol-
sätze, aber nach wie vor kein Ergebnis. Es gibt einen len. Ich glaube, dass wir in dieser Beziehung im Aus-
umstrittenen Referentenentwurf. Wann kommt die Vor- schuss des Bundestages weiter sind als die Kollegen in
lage, die zugesagt wurde? manchen Ländern.
4722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Mit dieser konstanten Investitionslinie wird Kontinui- Würde man diese Parameter verändern, würde die
tät für die Planung und die Baudisposition geschaffen. Planung der DB AG für den Weg zur Kapitalprivatisie-
rung entscheidend verändert werden müssen. Dies kann
(Jan Mücke [FDP]: Das ist ja nicht konstant!) nach meiner Einschätzung auch nicht ohne Wirkung auf
Die Aufteilung der Mittel erfolgt nach der Priorität, den gedachten Zeitablauf bleiben.
kurzfristig große Beschäftigungsimpulse zu geben. In (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
diesem Jahr konnte dies aufgrund der Anzahl vieler BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg.
kleinteiliger Projekte am schnellsten im Straßenbau er- Dorothée Menzner [DIE LINKE])
reicht werden. Deswegen wurden die zusätzlichen Mittel
2006 überdurchschnittlich stark auf diesen Bereich kon- Würde man eine materielle Privatisierung mit Netz
zentriert. Ab dem Jahr 2007 und den Folgejahren liegt vornehmen, würden die einmaligen Privatisierungser-
der Investitionsschwerpunkt stärker beim Schienennetz löse in einem krassen Missverhältnis zu dem Nettoanla-
und den Wasserstraßen. Die Gesamtinvestitionen im Be- gevermögen des Netzes stehen.
reich der Wasserstraßen steigen 2008 auf 800 Millionen
Euro und erreichen im Jahr 2009 über 850 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
Euro. Damit sind auch die dringenden Ersatzinvestitio- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
nen zur Erhaltung des vorhandenen Wasserstraßennetzes Ich muss Ihnen, für mich ganz individuell gesprochen,
abgesichert. sagen: Ich habe als Parlamentarier schlicht und ergrei-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) fend keine Lust, mir die Verscherbelung eines so gewal-
tigen Staatsvermögens unserer Steuerzahler vorwerfen
(B) Gleichzeitig können begonnene Ausbaumaßnahmen zu lassen. (D)
fortgeführt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem
Ich sage es deutlich: Auch im Bereich der Schiene BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab-
kommt der Bund seiner Infrastrukturverantwortung geordneten der LINKEN – Renate Blank
nach. Der Bundestag soll im Herbst dieses Jahres ent- [CDU/CSU]: Das wäre eine Verschleude-
scheiden, ob die Kapitalprivatisierung der Deutschen rung!)
Bahn Aktiengesellschaft mit oder ohne Netz vorgenom-
men wird. Außerdem soll der Bund sich gegenüber der DB AG
ja verpflichten, in den nächsten zehn Jahren 25 Milliar-
(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Oder gar den Euro für das Bestandsnetz zur Verfügung zu stellen.
nicht!) Darüber hinaus sind in diesem Zeitraum weitere
Verschiedene Varianten wurden in einem Gutachten von 15 Milliarden Euro für Neu- und Ausbau fällig. Diese
Booz Allen Hamilton untersucht und im Fachausschuss hohen Summen, die der Bund gegenwärtig und auch zu-
in diversen Anhörverfahren eingehend diskutiert und künftig für die Schiene bereitstellen muss, um seiner In-
hinterfragt. frastrukturverantwortung gerecht zu werden, zeigen es
deutlich: Der Bund würde bei einem Börsengang der
Während der Vorstand der DB AG eine Kapitalpriva- Bahn mit Netz nicht nur die Hälfte seines Eigentums an
tisierung mit Netz favorisiert, hat sich meine Fraktion der Eisenbahninfrastruktur unwiderruflich aus der Hand
für das so genannte Eigentumsmodell als Kompromiss- geben; letztlich würde der Bund das Netz an private In-
modell positioniert und wird in Gesprächen mit dem vestoren faktisch verschenken, ohne dabei den Bundes-
Koalitionspartner versuchen, zu einer vernünftigen Lö- haushalt zu entlasten.
sung zu kommen. Bei diesem Modell bleibt das steuerfi-
nanzierte Netz im Eigentum des Bundes und kann dann (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN
der Bahn auf vertraglicher Basis zur Nutzung überlassen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
werden.
Was bliebe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, von
In diesem Zusammenhang müssen wir uns darüber dem Verkaufserlös, wenn wir viel höhere Milliardenbe-
klar werden, welche Vor- und Nachteile für den Bundes- träge wieder zurück in das Unternehmen pumpen müss-
haushalt mit dieser Entscheidung verbunden sind. Der ten? Zudem bekämen private Miteigentümer dieser fast
Bruttowiederbeschaffungswert des Netzes beläuft sich vollständig aus Steuermitteln finanzierten Infrastruktur
auf rund 220 Milliarden Euro, das Nettoanlagevermögen einen Einfluss auf die Infrastrukturentwicklung, der zu
4724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(B) (Beifall bei der LINKEN) und dass wir die Fristverlängerung für die Grunderwerb- (D)
steuerbefreiung für Wohnungsunternehmen und für Ein-
Wir fordern drittens, eine ressortübergreifende För- zelpersonen über den 31. Dezember 2006 hinaus ermög-
derung zu organisieren. Die ISEKs, die integrierten lichen.
Stadtentwicklungskonzepte, sind mehr als eine Förde-
rung in Beton. Sie erfordern ein abgestimmtes Vorgehen Danke schön.
im Straßenbau, im ÖPNV sowie bei der sozialen und
(Beifall bei der LINKEN)
kulturellen Infrastruktur. Deshalb unser Vorschlag:
Schluss mit der Einzelförderung, wie es im Zusammen-
hang mit dem GVFG, den Regionalisierungsmitteln, der Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Schulbauförderung oder sozialen Programmen der Fall Ich erteile das Wort Kollegin Anna Lührmann, Bünd-
ist. Lassen Sie uns alle einzelnen Förderprogramme zah- nis 90/Die Grünen.
lenmäßig zusammenfassen. Lassen Sie uns die starren
Förderkriterien aufheben. Packen wir alles in einen Topf Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
und nennen wir das Kind: kommunale Investitionsförde- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
rung. Kollegen! Die Entscheidung über die Art des Börsen-
(Beifall bei der LINKEN) ganges der Bahn ist ohne Zweifel die wichtigste ver-
kehrspolitische Entscheidung der letzten Jahrzehnte. Für
Der Vorteil: Damit stärken wir die kommunale Selbst- uns Grüne sind die Ziele dabei ganz klar: Wir wollen
verwaltung und reduzieren den Verwaltungsaufwand bei mehr Verkehr auf der Schiene und die staatlichen Mittel
Bund und Ländern. Damit schaffen wir moderne und zu- für den Schienenverkehr sollen so effizient wie möglich
kunftsfähige Städte, die ihre Investitionen nachhaltig in eingesetzt werden.
Innovation sowie in die Bedürfnisse der Bürgerinnen
und Bürger flexibel einsetzen und die nicht nur in Beton Als Haushälterin ist es meine Aufgabe – dieser
investieren. widme ich mich auch in den Beratungen zu diesem Ein-
zelplan –, zu überprüfen, ob die Zahlen hinsichtlich der
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Kosten Varianten des Börsenganges, die wir Parlamentarier als
der Unterkunft – das ist Einzelplan 11 – machen. Die Entscheidungsgrundlage bekommen, stimmen oder ob
Rückwirkungen auf die Stadtquartiere durch Zwangsum- es da Ungereimtheiten gibt. Momentan muss ich feststel-
züge und Entmischung werden letztlich auch die inte- len – darüber ist öffentlich schon mehrfach diskutiert
grierten Stadtentwicklungskonzepte nicht greifen lassen. worden –, dass die Zahlen, die uns von der Regierung
Wenn die Kommunen keine Unterstützung durch den zur Verfügung gestellt werden, nicht stimmig sind. Es
4726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Anna Lührmann
(A) gibt noch eine Reihe von Fragen, die vor der Entschei- schiedenen Sparten gibt. Es wird argumentiert, es wür- (C)
dung über die Art des Börsengangs unbedingt geklärt den so viele Schulden auf dem Netz liegen.
werden müssen.
Herr Wiesheu hat öffentlich gesagt, dass 15 Milliar-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – den Euro Schulden auf dem Netz liegen würden, die der
Uwe Beckmeyer [SPD]: Donnerwetter!) Bund zu übernehmen hätte. Nach Ansicht der Bahn
macht es einen Unterschied, wo die Schulden verbucht
Ich will in der verbleibenden Redezeit zwei Beispiele werden. Es wird bei der Bahn aber kein Unterschied ge-
nennen. Da ist zunächst einmal die schon oft erwähnte macht, wo die Erlöse verbucht werden. Das kann doch
Immobilienzuordnung. Wir haben einen recht umfang- nicht stimmen.
reichen Bericht des Ministeriums dazu bekommen. Aber
nach meinem ersten Studium dieses Berichts in den letz- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
ten 24 Stunden ergeben sich für mich eine ganze Reihe
von Fragen, weil viele entscheidende Komplexe gar Deshalb müssen wir das möglichst bald nachprüfen.
nicht erst angesprochen werden. Ein dritter Punkt kommt hinzu, der mich als Haushäl-
Ich will einen Fragenkomplex, der nicht behandelt terin besonders stark interessiert, nämlich die Frage, wie
wurde, anschneiden, damit sich die Parlamentarierinnen viel staatliche Zuschüsse für die Instandhaltung und
und Parlamentarier, die sich in diese Materie noch nicht Erneuerung des Netzes ausgegeben werden. In den
eingearbeitet haben, eine Vorstellung davon machen letzten Jahren ist etwas Erstaunliches passiert, was der
können, um welche Summen es hier geht. Im Jahre 2001 Rechnungshof aufgedeckt hat, und das, obwohl der
wurden verschiedene Immobilien und Grundstücke Rechnungshof – das muss man dazu sagen – momentan
– darüber ist ebenfalls schon oft berichtet worden – in ei- nicht befugt ist, die Unterlagen der Bahn zu prüfen.
ner Immobilienverwertungsgesellschaft mit Namen Das ist vielleicht eine Sache, bei der wir darüber
Aurelis zusammengefasst. Das ist mit Blick auf eine nachdenken sollten, das zukünftig zu ändern, damit wir
Aufgabenteilung eigentlich eine sinnvolle Sache. Diese als Parlamentarier auch unabhängige Zahlen und Daten
Gesellschaft hat einen beachtlichen Verkehrswert in bekommen. Der Rechnungshof hat uns also darauf ge-
Höhe von 2,3 Milliarden Euro. bracht – das hat das Ministerium auch bestätigt –, dass
Aber es ist nicht klar, aus welchen Konzernsparten der Eigenanteil der DB Netz AG bei der Finanzierung
diese Immobilien stammen. Kamen sie vom Netz? Ka- des Schienennetzes in den letzten Jahren konstant gesun-
men sie von der Holding? Kamen sie von verschiedenen ken ist. Das wird immer mit dem Argument verbunden,
Betriebsbereichen? Auf all das haben wir bisher keine die Eigenmittelsituation und das Betriebsergebnis von
(B) Antworten bekommen. Es ist eine sehr entscheidende DB Netz seien so schlecht. Das heißt, es macht doch ei- (D)
Frage, weil diese Gesellschaft momentan Gewinne nen Unterschied, wie in den verschiedenen Sparten Ge-
macht, die in die Bilanz des Konzerns eingestellt wer- winne und Verluste verbucht werden – das als kleiner
den, und weil es auch um die spannende Frage geht Merkposten zwischendurch.
– wenn es, so wie Sie von der CDU-Fraktion gerade ge- Aber gut, der Eigenanteil ist gesunken. Ich habe als
sagt haben, zu einem Eigentumsmodell kommt –, was Haushälterin bisher keine Antwort darauf bekommen,
mit dieser Gesellschaft hinterher passiert. Diese Frage ist wie groß der Eigenanteil in letzter Zeit wirklich ist. Ein
auch deshalb so spannend, weil dieser Gesellschaft ein Stichwort zur Informationspolitik des Ministeriums:
Entwicklungswert von 8 bis 12 Milliarden Euro zuge- Sie haben uns einen Bericht vorgelegt, in dem steht – ich
schrieben wird. Sie hat einen Verkehrswert von erlaube mir, diesen einen Sachverhalt vorzutragen –,
2,3 Milliarden Euro und einen Entwicklungswert von dass 153 Millionen Euro für Bestandsinvestitionen in ei-
8 bis 12 Milliarden Euro. Es geht also um gewaltige ner Vereinbarung mit der Bahn zugesagt worden sind.
Summen. Der naive Leser denkt sich: Zugesagt, das heißt auch be-
Und Sie vom Verkehrsministerium sagen uns im zahlt.
Haushaltsausschuss, es würde keine Rolle spielen, wo Wenn man das nachprüft, stellt man fest, dass an der
die Gewinne der Gesellschaft, wo die Gewinne generell gleichen Stelle für die Jahre zuvor noch steht, dass die
von Immobilienverkäufen eingestellt werden. Meine Da- Gelder auch ausgezahlt worden sind.
men und Herren, das spielt aber sehr wohl eine Rolle.
Wir müssen das aufklären und feststellen, bevor wir über Meine Damen und Herren, eine transparente Informa-
einen Börsengang entscheiden, tionspolitik, mit der wir als Haushälter etwas anfangen
können, sieht anders aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
damit wir wissen, was passiert und wie wir auch für den Da wird uns klar gesagt, wann welche Zahlungen geflos-
Steuerzahler die beste Möglichkeit finden können. Das sen sind, wer wann etwas aufgrund welcher rechtlichen
spielt auch eine Rolle – da kann man die Argumente von Grundlage zugesagt hat. Ich kann momentan nicht beur-
Herrn Mehdorn und Herrn Wiesheu anführen –, wenn es teilen, wie viel DB Netz wirklich in das Netz investiert.
darum geht, Vorteile für den DB-Konzern zu bekommen. Ich würde das aber gerne wissen, bevor ich mitent-
Dann wird sehr wohl damit argumentiert, dass es unter- scheide, wer was mit dem Netz in nächster Zeit anstellen
schiedliche Buchungsmöglichkeiten zwischen den ver- soll.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4727
Anna Lührmann
(A) Für mich ist es ganz klar: Die Regierung hat das an Eine weitere – zukünftige – Erfolgsgeschichte ist in (C)
der Stelle in der Hand. Wir brauchen die notwendigen diesen Tagen in der Presse besprochen worden: der
Informationen, um Entscheidungen verantwortungsvoll Flughafen Berlin Brandenburg International. Am
treffen und auch um verantwortungsvoll staatliche Zu- vergangenen Dienstag wurde der erste Spatenstich für
schüsse ins Netz zu geben zu können. Dafür brauchen dieses ambitionierte Projekt gesetzt. Die Hauptstadtre-
wir bessere und transparentere Informationen. Entweder gierung kann sich damit aus dem Mittelfeld der Bundes-
wir erhalten diese Informationen im Haushaltsausschuss liga in die Champions League europäischer Großflugha-
bzw. im Verkehrsausschuss auf dem normalen parlamen- fen spielen. Dieses wichtige Infrastrukturprojekt bietet
tarischen Weg oder wir müssen – wenn uns nichts ande- eine Perspektive für mehr Arbeitsplätze, für die Wirt-
res übrig bleibt, weil die Regierung verschleiert – zu schaft und den Tourismus in Ostdeutschland.
dem Mittel des Untersuchungsausschusses greifen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU)
und bei der FDP) Damit sobald wie möglich das erste Flugzeug vom
dann drittgrößten Flughafen Deutschlands abheben
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: kann, sorgt der Bund für Planungssicherheit. Wir haben
Jetzt hat das Wort Kollege Klaas Hübner, SPD-Frak- 27 Millionen Euro Gesellschaftsbeiträge in den Ver-
tion. kehrshaushalt eingestellt. Der auf den Bund entfallende
Gesamtanteil in Höhe von 112 Millionen Euro ist damit
(Beifall bei der SPD) sichergestellt.
Wir haben aber mehr getan. Wir stellen zur Realisie-
Klaas Hübner (SPD): rung der Schienen- und Straßenanbindung Investitions-
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- mittel in Höhe von insgesamt 650 Millionen Euro bereit.
ren! Einmal mehr ist der Verkehrshaushalt der größte In- Zeitgleich zur Eröffnung des neuen Flughafens sollen
vestitionshaushalt des Bundes. Das haben viele Redner die ersten Züge vom Berliner Hauptbahnhof direkt unter
vor mir bereits gesagt. Fast zwölfeinhalb Milliarden das Flughafengebäude fahren, und das in einer Fahrzeit
Euro sind für Investitionen im Verkehrs- und Baubereich von nur 20 Minuten.
gebunden.
(Beifall bei der SPD – Winfried Hermann
Eine Maßnahme, die schon viele vor mir genannt haben, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider ohne
will auch ich herausstreichen, aber in einen anderen Zusam- ICE-Anschluss!)
(B) menhang stellen: das CO2-Gebäudesanierungspro- Wenn wir über die Schiene reden, müssen wir aber (D)
gramm. Die FDP hat in der Generaldebatte am Mittwoch auch über die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn AG
unterstellt, die Koalition würde keine Mittelstandspolitik reden. Ich denke, wir müssen aufpassen, dass wir uns
betreiben. – Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist ein nicht in Bahnbefürworter und Bahngegner aufspalten.
exzellenter Beitrag zur Mittelstandspolitik. Ich unterstelle allen in diesem Hause, dass sie Bahnbe-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fürworter sind. Wir alle wollen eine starke Bahn haben.
(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Die KfW hat heute berichtet, dass sie im Zeitraum von
NEN]: Starke Bahnen!)
Januar bis August dieses Jahres insgesamt rund
182 000 Kredite gewährt hat und damit ein Investitions- Insofern müssen wir uns verantwortungsvoll mit den
volumen in Höhe von rund 9,6 Milliarden Euro ausge- einzelnen Fragen auseinander setzen. In der Koalition
löst hat. haben wir Folgendes vereinbart: Wir wollen sicherstel-
len, dass die Bahn insofern weiterhin ein integrierter
Die FDP hat Anfang des Jahres gesagt, dass wir mit Konzern bleibt, als sie die Bewirtschaftung des Netzes in
diesem Programm nur ein Wachstumsstrohfeuer entzün- jedem Fall vornimmt. Was wir noch zu prüfen haben, ist
den würden. Angesichts dieser Zahlen müssen auch Sie die Eigentumsfrage. Wer wird bzw. bleibt Eigentümer
einsehen: Wir haben ein Leuchtfeuer entzündet. Es ist des Netzes?
gut, dass wir dieses Programm fortführen und die Mittel
dafür aufstocken. Drei Modelle sind momentan in der Diskussion: Zwei
Modelle gehen davon aus, dass der Bund Eigentümer
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) wird. Das ist das so genannte Nießbrauchmodell. Wenn
ich den Kollegen Fischer vorhin richtig verstanden habe,
Das Programm ist darüber hinaus ein gutes Beispiel
favorisieren Sie das Eigentumsmodell. Das dritte Modell
für eine ganzheitliche, konsistente Politik. Selten gab es
beinhaltet eine so genannte Call Option, das heißt, die
ein Programm, das ressortübergreifend so viele Freunde
Bahn bleibt Eigentümer des Netzes, der Bund erhält aber
gefunden hat: Der Bundesumweltminister freut sich über
eine Call Option, kann sich das Netz zu einem bestimm-
den wachsenden Beitrag der Gebäudeeigentümer zum
ten Zeitpunkt zu einer fest definierten Summe aneignen.
Klimaschutz; der Arbeitsminister und der Wirtschafts-
minister freuen sich über die Sicherung von Arbeit und Das sind die drei Varianten, die momentan zur Dis-
Beschäftigung im Baugewerbe; der Bauminister kann kussion stehen. Ich denke, wir werden in den nächsten
mit Recht stolz darauf sein, gemeinsam mit der KfW zwei Wochen darüber zu diskutieren haben. Wir werden
eine hervorragende Initiative angestoßen zu haben. eine gute Variante finden. Ich mache keinen Hehl daraus,
4728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Klaas Hübner
(A) dass unsere Meinungsbildung noch nicht abgeschlossen auch in Zukunft im bisherigen Umfang fortgeführt wer- (C)
ist und dass die Haushaltspolitiker der SPD-Fraktion den kann.
nach dem momentanen Kenntnisstand eher einer Vari-
ante zuneigen, durch die das Eigentum an den Bund (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
übergeht. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Denn neben dem Mut ist vor allem die Möglichkeit zu
Innovation und Ideenverwirklichung notwendige Vo-
Aber die Entscheidung ist am Ende des Monats zu fäl- raussetzung für eine positive Wirtschaftsentwicklung. In
len. diesem Zusammenhang möchte ich mich auch nach-
Herr Minister, Sie haben uns, glaube ich, einen sehr drücklich für den weiteren Ausbau des Wissenschafts-
guten Etat zur Beratung vorgelegt. Wir werden verant- standorts Ost aussprechen. Das zu 95 Prozent staatlich
wortungsvoll damit umgehen. Ich bin mir sicher, dass getragene Max-Planck-Institut hat bis zum Jahr 2000
wir dann auch mit einem guten Etat in die zweite und sein selbst gesetztes Ziel, in den neuen Ländern mit
dritte Lesung gehen können. ebensoviel Instituten vertreten zu sein wie im alten Bun-
desgebiet, erfüllt.
Herzlichen Dank.
Durch diese neue Ansiedlung von renommierten For-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
schungseinrichtungen zieht es mittlerweile viele junge
Wissenschaftler aus Gebieten weit über die Grenzen
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Deutschlands hinaus unter anderem nach Halle, Leipzig
Ich erteile das Wort Kollegen Ingo Schmitt, CDU/ und Jena. Dort, wo viel investiert wird und gute Hoch-
CSU-Fraktion. schulen oder Institute entstehen, siedeln sich häufig auch
(Beifall bei der CDU/CSU) Unternehmen an. Mehr denn je ist eine gute Ausbildung
Multiplikator für Wachstum.
Ingo Schmitt (Berlin) (CDU/CSU): Wachstum einer Volkswirtschaft kann aber nur dort
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- entstehen, wo auch Volk ist. Genau das ist ein ostdeut-
gen! Wenn wir uns heute mit dem wichtigen Thema sches Sorgenkind. Die demografische Entwicklung in
„Aufbau Ost“ beschäftigen, so erwarten viele zunächst den neuen Ländern – sie wurde hier bereits angespro-
eine Rückschau auf die Leistungen und Ergebnisse der chen – ist besorgniserregend. Während der Bevölke-
Angleichung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse rungsrückgang zwischen 1990 und 2004 7,5 Prozent be-
(B)
zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Dies trug, wird bis zum Jahr 2020 ein weiterer Verlust von 10 (D)
ist natürlich ein wichtiges Kernstück der Bestandsauf- bis 15 Prozent der Bevölkerung erwartet. Dass insbeson-
nahme, lässt aber, nur für sich betrachtet, wichtige und dere junge und gut ausgebildete Menschen diese Regio-
wertvolle Aspekte außer Acht. Denn der Aufbau ist aus nen verlassen, verschärft das Problem und fordert prag-
heutiger Sicht nicht nur eine eindirektionale Förderung matische und schnell greifende Konzepte von Bund und
mit dem Bestreben einer gezielten und gewollten Verän- Länder gleichermaßen.
derung, sondern auch die Rückwirkung des sich verän-
dernden Gebietes auf andere Regionen. Im Zusammenhang mit dieser Forderung müssen wir
aber zugleich nach den Ursachen für diese dramatische
Zunächst blicken wir auf die konkreten Fakten in den Abwanderungsdynamik fragen. Eine Rolle spielt die
neuen Ländern als Ergebnis einer konsequenten Förder- hohe Arbeitslosigkeit, deren Reduzierung nach wie vor
politik. Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, den unser zentrales Ziel sein muss. Im August dieses Jahres
Aufbau Ost weiter voranzubringen. Dies ist nach wie vor betrug sie in Ostdeutschland 16,7 Prozent. Damit ist sie
eine große Herausforderung. Ich bin stolz, heute sagen knapp doppelt so hoch wie in den alten Ländern.
zu können, dass wir einen Teil unseres Versprechens be-
reits in den ersten Monaten der großen Koalition einlö- Dass der Arbeitsmarkt Ost viele Potenziale in sich
sen konnten. Mit dem Investitionszulagengesetz 2007 birgt und durchaus wettbewerbsfähig ist, zeigt die
haben wir den Weg für eine verlässliche und dauerhafte jüngste Mitteilung des Statistischen Bundesamtes: Wäh-
Förderung in Ostdeutschland freigemacht. rend eine Arbeitsstunde in Sachsen-Anhalt nur
20,84 Euro kostet, kostet sie in Hamburg, Herr Kollege
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Fischer, satte 31,80 Euro.
neten der SPD)
(Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ja! Das
Mit einem jährlichen Volumen von rund 600 Millio-
ist teuer bei uns!)
nen Euro werden bis zum Jahre 2009 bei einer Förder-
quote von circa 20 Prozent Investitionen in Höhe von Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die
10 Milliarden Euro angestoßen. Daneben trägt auch die Einführung eines Mindestlohns gerade in den neuen
Förderpolitik des Bundesforschungsministeriums maß- Ländern kein geeignetes Mittel zur Schaffung von mehr
geblich zum Aufbau Ost bei. Mit der Innovationsinitia- Arbeitsplätzen darstellt.
tive „Unternehmen Region“ wurden im letzten Jahr
Projekte mit insgesamt 90 Millionen Euro gezielt unter- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
stützt. Es wäre wünschenswert, wenn dieses Programm bei Abgeordneten der SPD)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4729
Ingo Schmitt (Berlin)
(A) Denn gerade in Ostdeutschland würde dieses Instru- deutschland bzw. auf ganz Europa hat. Denn dort, wo et- (C)
ment insbesondere die Existenz mittelständischer Unter- was Neues entsteht bzw. wo Altes neu entsteht, entfalten
nehmen gefährden. Man bedenke, dass 80 Prozent der sich Wirkungen auf die umliegenden Regionen. Deshalb
ostdeutschen Unternehmen weniger als 20 Beschäftigte ist die Frage nach dem Projekt „neue Länder“ immer
haben. Hier bestünde eindeutig die Gefahr der Abwan- auch eine Frage nach dem Projekt „Gesamtdeutschland“.
derung der Arbeit in Richtung Osteuropa. Denn warum Denn ein durch Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsflaute
sollte sich ein Unternehmer in den neuen Ländern ansie- gebeutelter Osten behindert auch das Wachstum in ganz
deln, wenn ein paar Kilometer weiter östlich kein Deutschland.
Mindestlohn gezahlt werden muss? Hier könnte ein Kom-
In europäischer Hinsicht eröffneten uns die neuen
bilohnmodell zum Einsatz kommen. Deshalb ist es drin-
Länder das Tor zum Osten und ließen Deutschland ins
gend an der Zeit, dass insbesondere im Interesse der Pro-
Zentrum der EU rücken. Das ist eine Schlüsselfunktion,
blemgruppen auf dem Arbeitsmarkt, der unter 25-Jährigen
die für uns ein Sprungbrett zu den Zukunftsmärkten Mit-
und der über 50-Jährigen, zielorientiert über ein solches
tel- und Osteuropas darstellt. Für mögliche Investoren ist
Modell diskutiert wird.
das ein klarer Standortvorteil. Nun gilt es, diese Chancen
Ein zusätzlicher Wachstumsfaktor ist eine gut funk- durch eine verlässliche Politik, die sowohl Gesamt-
tionierende Infrastruktur. Ostdeutschland muss hier dop- deutschland als auch unsere Position in der EU weiter
pelte Lasten tragen, da zum einen die teilungsbedingten stärkt, zu nutzen.
Defizite und zum anderen die durch die EU-Erweiterung
Lassen Sie mich abschließend einen Punkt erwähnen,
anfallenden Verkehrsströme bewältigt werden müssen.
der schon von vielen Kollegen angesprochen wurde
Darum sind die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ zü-
– ich habe in den Beiträgen aller Kollegen, die sich zu
gig abzuschließen
diesem Thema geäußert haben, nur Positives gehört –:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie das Gebäudesanierungsprogramm. In diesem Zusam-
bei Abgeordneten der SPD) menhang sollte berücksichtigt werden, dass bestimmte
Baumaßnahmen insbesondere in den neuen Bundeslän-
und darum ist das Infrastrukturplanungsbeschleuni- dern bis zum Jahre 1990 gar nicht möglich waren. Des-
gungsgesetz, wie im Koalitionsvertrag versprochen, in wegen sollten wir gemeinsam einen Vorstoß unterneh-
Kraft zu setzen. men, die heutige Baujahrsgrenze von 1983 zukünftig auf
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Zeit nach 1990 zu verlegen. Das ist die Bitte an Sie,
neten der SPD) Herr Minister; vielleicht können wir diesen Weg ge-
meinsam gehen.
Bei allem Fortschritt und aller Erneuerung dürfen wir
(B) auch Vergangenes nicht übersehen. Es wird Zeit, dass Herzlichen Dank. (D)
die Opfer der SED-Diktatur endlich eine angemessene (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Entschädigung erhalten. neten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
In knapp einem Monat, am 3. Oktober, feiern wir den Das Wort hat nun Kollegin Petra Weis, SPD-Fraktion.
16. Jahrestag der deutschen Einheit. In diesem Zusam-
menhang werden wir zum 16. Mal der Opfer des DDR-
Regimes gedenken: der während der kommunistischen Petra Weis (SPD):
Diktatur Inhaftierten, deren Leid nicht in Worte zu fas- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
sen und nicht mit Geld aufzuwiegen ist. Diesen Men- hoffe, dass ich fast zum Schluss dieser Debatte nieman-
schen müssen wir eine Würdigung ihres Einsatzes zu- den über Gebühr langweile, wenn meine Anmerkungen
kommen lassen: für ihren Mut, sich für mehr zum Einzelplan 12 für das Jahr 2007 sich nicht wesent-
Demokratie und Freiheit und für die Menschenrechte lich von dem unterscheiden, was ich noch vor kurzer
einzusetzen. Zeit an dieser Stelle über den Vorgängerhaushalt gesagt
habe. Das hat aus meiner Sicht zum einen damit zu tun,
Die Rentennachzahlungen an die ehemals dem SED- dass wir in der Stadtentwicklungspolitik in einer über-
Staat nahe stehenden Personen kosten den Steuerzahler zeugenden Kontinuität stehen, zum anderen damit, dass
jährlich rund 3 Milliarden Euro. Für die Pensionen der das, was wir mit der Verabschiedung des diesjährigen
Opfer müssen lediglich 71 Millionen Euro aufgewandt Haushalts vor wenigen Wochen begonnen haben, sich
werden. Deswegen richte ich an unseren Koalitionspart- schon jetzt auszuwirken beginnt. Das sind – das ist
ner, aber auch an Sie, Herr Minister, die herzliche Bitte, schon angesprochen worden – die erfolgreichen Städte-
diesen Weg mitzugehen und Ihre Unterstützung zu si- bauförderungsprogramme, von der „Sozialen Stadt“ über
gnalisieren. den „Stadtumbau Ost“ und den „Stadtumbau West“ bis
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem hin zum „Städtebaulichen Denkmalschutz“. Dass wir im
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Lichte des demografischen Wandels die Weichen für
geordneten der SPD) eine nachhaltige Stadt- und Regionalplanung stellen und
dabei vor allem vier Schwerpunkte unterstützen, ist nur
Nachdem wir Ostdeutschland in vielen Bereichen iso- folgerichtig. Ich meine den Umbau der sozialen Infra-
liert betrachtet haben, müssen wir nun aber auch danach struktur, die Schaffung von alten- und familiengerechten
fragen, welchen Einfluss der Standort Ost auf Gesamt- Stadtquartieren, die Gestaltung urbaner Freiräume und
4730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Petra Weis
(A) nicht zuletzt – auch das ist schon angesprochen worden – menhang mit der Einführung des Gebäudeenergieaus- (C)
die dringend notwendige Vernetzung der verschiedenen weises sehen muss. Kollege Günther hat seine Skepsis
Politikfelder und Fachressorts im Zuge einer wahrhaft daran formuliert, dass wir mit diesem Projekt langsam
integrierten Stadtentwicklungspolitik. zu einem erfolgreichen Ende kommen. Ich bin mir abso-
lut sicher, dass das so ist. Ich bin mir noch viel sicherer,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dass wir die Menschen davon überzeugen können, dass
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
es ein gutes Konzept ist, wenn wir relativ ideologiefrei
Dass wir das auch 2007 mit einem erweiterten Fi- an die Sache herangehen und zunächst eine Wahlmög-
nanzrahmen untermauern können, ist ebenso erfreulich lichkeit anbieten; wir werden à la longue sehen, welches
wie politisch vernünftig. Die Umsetzung des Programms Modell sich durchsetzt.
„Stadtumbau West“ zeigt darüber hinaus, dass wir den
Auch auf die Förderung von Innovation und Quali-
Städten hier ein unverzichtbares Instrument in die Hand
tät beim Bauen ist schon hingewiesen worden. Die For-
gegeben haben, auf den wirtschaftlichen Strukturwandel
schungsinitiative „Zukunft Bau“ im Rahmen des 6-Mil-
in Verbindung mit einem signifikanten Bevölkerungs-
liarden-Euro-Sonderprogramms für Forschung und
rückgang angemessen zu antworten. Von besonderem
Entwicklung und der runde Tisch „Bauforschung“ sind
Wert ist dabei – das ist jedenfalls meine Erfahrung –,
dafür gute Beispiele. Das Gleiche gilt für die erneute
dass die Städte zur Entwicklung von städtebaulichen
Mittelbereitstellung für den allgemeinen Forschungs-
Konzepten ermutigt werden, die sie mittelfristig und
schwerpunkt Bau.
nachhaltig in die Lage versetzen, auf Veränderungspro-
zesse nicht mehr allein zu reagieren, sondern sie mithilfe Gestatten Sie mir eine Anmerkung, die jetzt nicht so
zukunftsträchtiger Konzepte zu antizipieren. sehr persönlich gemeint ist, aber ich möchte sie machen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) weil ich Berichterstatterin bin. Liebe Kollegin Blank, ich
glaube, zur Qualität und zur Wettbewerbsfähigkeit des
Minister Tiefensee hat in einem anderen Zusammen- deutschen Bauwesens gehört auch, dass wir jetzt die
hang kürzlich davon gesprochen, dass Realitätssinn Bundesstiftung Baukultur auf den Weg bringen.
und strategisches Denken unerlässliche Anforderungen
an eine Stadtentwicklungspolitik sind, die eine zeitge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
mäße Antwort auf den demografischen Wandel sein will. der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Sosehr ich dieses Begriffspaar für geeignet halte, die He- GRÜNEN)
rausforderungen zu beschreiben, würde ich gerne ein Ich empfinde eine gewisse Form der Vorfreude, dass wir
zweites hinzufügen: Kreativität und Mut. Damit meine hier in wenigen Wochen hoffentlich noch einmal darüber
ich Kreativität zu gelegentlich sicherlich auch unkon- diskutieren werden. Ich wünsche mir, dass wir das dann (D)
(B)
ventionellen Lösungen und Mut zur Zukunftsgestaltung. zu einer etwas prominenteren Tageszeit als heute zu die-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ser späten Stunde tun können.
Demografischer Wandel ist nämlich keine gesell- Natürlich würde es mich auch im Anschluss an das,
schaftliche Katastrophe, sondern letztendlich eine was der Kollege Schmitt gesagt hat, reizen, noch etwas
Chance für intelligente Gesellschaftspolitik, zu der die zum Thema Aufbau Ost zu sagen. Das verbietet mir
Stadtentwicklung, wie ich meine, einen unverzichtbaren aber die Redezeit. Ich denke, wir können dieses Quer-
Beitrag leistet. Das gilt auch und vor allem vor dem Hin- schnittsthema der Bundespolitik auch im Rahmen der
tergrund der unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- Debatte über den Bericht der Bundesregierung zum
und Westdeutschland; darauf hat Kollege Schmitt ja ge- Stand der Deutschen Einheit in Zukunft nachholen.
rade hinwiesen. Ich will aber noch auf einen kleinen feinen Titel im
Auch ich komme nicht um ein paar wenige Worte Zusammenhang mit Ostdeutschland hinweisen, nämlich
zum CO2-Gebäudesanierungsprogramm herum, des- auf die Initiative „Wirtschaft trifft Wissenschaft“. Wenn
sen Erfolgsgeschichte mir fast unheimlich ist. Der hohe wir zunächst in Ostdeutschland dazu beitragen, dass der
Zuspruch, den das Programm bundesweit gefunden hat, Transfer von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen
macht deutlich, dass man mit intelligenten Anreizen zur wirtschaftlichen Anwendung gelingt, dann glaube
– Kollege Friedrich hat sich ähnlich geäußert – den Zie- ich, dass wir den regionalen Akteuren damit ein sehr gu-
len des Energiesparens und des Klimaschutzes ebenso tes Angebot machen. Ich darf mir hierzu noch folgende
gerecht werden kann wie der Steigerung der Wohnquali- Bemerkung erlauben: Sollte sich das Programm als er-
tät, des Immobilienwertes und nicht zuletzt der Siche- folgreich herausstellen, dann kann ich mir auch vorstel-
rung und Schaffung von Arbeitsplätzen im Handwerk len, dass wir in Zukunft einmal darüber reden, ob sich
und im Baubereich. Die energetische Gebäudesanierung das nicht auch auf vergleichbare Regionen in West-
ist inzwischen eine der tragenden Säulen für Arbeit und deutschland übertragen lässt.
Beschäftigung, von der neben den Beschäftigten selbst (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
auch kleine und mittlere Betriebe profitieren. Kollege bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Hübner hat darauf hingewiesen, er hat von einem Leucht- GRÜNEN)
feuer gesprochen – nicht von einem Strohfeuer! –; diesen
Vergleich kann ich nur nachdrücklich unterstützen. Kol- Ich will noch ganz kurz einwerfen, dass dieser Haus-
lege Friedrich hat darauf hingewiesen, dass man das haltsentwurf erstmals auch die Ergebnisse der Födera-
CO2-Gebäudesanierungsprogramm immer im Zusam- lismusreform widerspiegelt. Ich kann nur hoffen und
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4731
Petra Weis
(A) wünschen, dass die Bundesländer die jährlichen Kom- guten und positiven Entwicklung gelungen. Das ist auch (C)
pensationszahlungen in Höhe von rund 518 Millionen dem Prinzip der Nachhaltigkeit geschuldet.
Euro im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung tat-
sächlich für die Gestaltung und Umsetzung von kreati- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
ven und nachhaltigen Programmen nutzen. Ich hoffe neten der SPD)
sehr, dass das sozusagen ein Grundstein für einen weiter- Die Infrastruktur- und die Verkehrsnetze sind die Le-
führenden Dialog zwischen dem Bund, den Ländern und bensadern eines Landes, sind auch die Lebensadern der
letztendlich auch den Gemeinden ist; denn wir alle wis- Volkswirtschaft. Gegenüber den zugegebenermaßen sehr
sen ja, dass man das Thema „Stadtentwicklung und deprimierenden Zahlen der mittelfristigen Finanzpla-
Wohnungspolitik“ als eine staatliche Gemeinschaftsauf- nung des Jahres 2004 ist es der großen Koalition hier ge-
gabe aller Ebenen begreifen muss. lungen, die Mittel in einem großen Maß zu erhöhen und
Ich denke, dass mit diesem Haushaltsentwurf eine zu verstetigen. Ich gebe zu, Herr Kollege Mücke: Wir
gute Grundlage für eine moderne, den ökonomischen, können uns durchaus vorstellen, hier oder dort, insbe-
sozialen und demografischen Gegebenheiten angepasste sondere im Straßenbau, für mehr Investitionen einzutre-
Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik gelegt ist. ten. Wir müssen schauen, ob sich in den Beratungen
Dass ich jetzt nicht alle Themenbereiche angesprochen noch Möglichkeiten eröffnen, die Mittel zu erhöhen. Ich
habe, die Ihnen und vielleicht auch mir wichtig sind, muss jedoch sagen: Die Spielräume, auch die Umschich-
liegt in dem begrenzten Zeitbudget begründet. Manche tungsmöglichkeiten, werden gering sein.
Themen werden wir in Zukunft hier in diesem Hause Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass unsere
noch einmal aufrufen. Dazu zählen die Novellierung des Straßeninfrastruktur durch die heißen Sommerwochen
Baugesetzbuches und das Thema, welches vorhin schon in diesem Jahr in besonderer Weise in Mitleidenschaft
angesprochen worden ist, nämlich die Einbeziehung des gezogen wurde. Hier steigt, wie vorhin dargestellt
Wohneigentums in die staatlich geförderte private Al- wurde, der Unterhaltsaufwand in besonderem Maße, so-
tersvorsorge. dass die Gefahr besteht, dass wir mit neuen Maßnahmen,
(Beifall der Abg. Dr. Martina Krogmann auch mit Lückenschlüssen, die lange auf eine Realisie-
[CDU/CSU]) rung warten, nicht vorankommen. Gleichzeitig stellt sich
die Situation so dar, dass der Verkehrsträger Straße sehr
Ich hoffe wie immer, dass wir diese Diskussionen of- viel zur Staatsfinanzierung beiträgt. Ich verweise hierbei
fen, konstruktiv und kritisch führen und dass wir dabei auf die Maut und die Steuern aus diesem Bereich.
immer im Kopf haben, dass es Sinn macht, die Stadtent-
wicklungspolitik als etwas zu begreifen, das wir mög- Wir sollten unter dem Eindruck der gestiegenen Un-
(B) lichst im Konsens angehen sollten. Das Thema eignet terhaltungskosten einen Blick auf die Diskussionen wer- (D)
sich wirklich dazu, Bestandteil einer modernen Gesell- fen, die in Europa über die Erhöhung des zulässigen Ge-
schaftspolitik zu sein. In diesem Sinne freue ich mich samtgewichtes bei LKW geführt werden. Befürworter
auf die Debatten der nächsten Wochen. mögen sagen: Wir erhöhen einfach die Zahl der Achsen.
Ich glaube, diese Rechnung geht nicht auf. Es geht näm-
Herzlichen Dank. lich nicht nur um statische, sondern auch um dynami-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sche Lasten. Es geht um die enge Abfolge und damit um
die Knet- und Walkwirkung, die zu berücksichtigen ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist ja sehr wis-
Als letztem Redner des heutigen Abends erteile ich senschaftlich!)
dem Kollegen Bartholomäus Kalb, CDU/CSU-Fraktion, – Wer in den letzten Wochen und Monaten die Auto-
das Wort.
bahnauf- und -abfahrten und die dort entstandenen Schä-
(Beifall bei der CDU/CSU – Winfried Her- den besichtigt hat, der kann sich das ungefähr vorstellen,
mann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir er- ohne Physiker zu sein.
warten jetzt eine zusammenfassende Debatte!)
Ich brauche zum Thema CO2-Minderungspro-
gramm nicht mehr viel zu sagen. Es wurde von allen
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Rednern angesprochen; gestern schon wurde es von un-
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und serem Fraktionsvorsitzenden hoch gelobt. Das belegt:
Herren! Der Einzelplan 12, der jetzt im Entwurf vorliegt, Wenn man die richtigen Anreize setzt, werden sie von
macht deutlich, dass es der Koalition in besonderer den Menschen genutzt und die Wirtschaft springt an. Da-
Weise darum geht, die Investitionen wieder zu verstär- von gehen positive Impulse aus, und zwar im Hinblick
ken. Herr Minister, Sie haben das vorhin sehr zutreffend auf die CO2-Minderung, auf Energieeinsparung und ins-
dargestellt. Es geht nicht nur darum, dass wir wieder in besondere auf den Arbeitsmarkt. Das sollte in besonde-
der Lage sind, Art. 115 des Grundgesetzes einzuhalten, rer Weise gewürdigt werden. Es findet auch entspre-
sondern es geht auch darum – darüber haben wir vor ein chende Würdigung; viele sind mittlerweile ganz stolz.
oder zwei Jahren schon diskutiert –, den Substanzver- Kollege Hübner hat es erwähnt: Wir haben in dieser Wo-
zehr, der eingesetzt hat, aufzuhalten und Substanzsiche- che im Haushaltsausschuss die Weichen dafür gestellt,
rung und Substanzmehrung zu betreiben. Ich glaube, dass kein Strömungsriss entsteht und zügig weiterge-
hier ist ein ganz wesentlicher Schritt in Richtung einer macht werden kann – dafür sollen Mittel in Höhe von
4732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
Bartholomäus Kalb
(A) 350 Millionen Euro vorgezogen werden –, weil es sich (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mach doch (C)
wirklich um ein sehr nützliches Programm handelt. nicht alles, was dir die Deutsche Bahn er-
zählt!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
der Abg. Anna Lührmann [BÜNDNIS 90/DIE – Nein. – Ich möchte nicht erleben, dass wir noch über
GRÜNEN]) die Frage der Aufteilung diskutieren, während andere
bereits die Märkte in Europa unter sich aufteilen. Das ist
Die Bundeskanzlerin hat gestern ausgeführt – ich
sicherlich vernünftig und richtig.
habe es, soweit ich das in der Eile konnte, sinngemäß
mitgeschrieben –: Aus Ideen müssen wieder Produkte (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
werden. Es hat keinen Sinn, wenn aufgrund unserer
Ideen in anderen Ländern Produkte entstehen. Das muss Das widerspricht auch nicht der Linie, auf die wir uns
wieder bei uns geschehen. – Diese Sätze sind ausdrück- gemeinsam geeinigt haben.
lich zu unterstreichen. Ich möchte abschließend noch ein Thema aufgreifen,
(Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) Herr Minister.
Ich greife nur einen Aspekt heraus: Was die Kanzlerin
gesagt hat, gilt auch für die bei uns entwickelte Idee des Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Transrapids, der Magnetschwebebahntechnologie. Herr Kollege, gerade Sie als letzter Redner sollten
Ihre Redezeit nicht unbedingt überziehen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir sollten hier versuchen, bald Nägel mit Köpfen zu
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
machen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Verhand-
lungen zwischen dem Bundesministerium und der Baye- Herr Präsident, erlauben Sie mir eine abschließende
rischen Staatsregierung bald erfolgreich zum Abschluss Bemerkung. Der Bundesminister ist kritisiert worden,
gebracht würden, sodass dieses Projekt in die Tat umge- weil er vorgeschlagen hat, unter Umständen Hartz-IV-
setzt werden kann. Wir sollten beweisen, dass wir aus Empfänger als Begleiter in öffentlichen Verkehrsmit-
Ideen, aus Entwicklungen nutzbringende Anwendungen teln einzusetzen. Ich glaube, es ist durchaus zumutbar
im Lande schaffen können, wodurch wir uns internatio- und richtig, dass jemand, der gesund ist und Transfer-
nal Marktchancen eröffnen. leistungen bekommt, für gemeindienliche Tätigkeiten
eingesetzt werden kann. Arbeit ist nach meiner Überzeu-
In dieser Debatte ist heute schon viel über den anste- gung nicht nur eine Bürde, sie gehört auch zu einem er-
(B) henden Börsengang der DB AG gesprochen worden. Ich füllten Leben. (D)
mache keinen Hehl daraus, dass ich eine differenzierte
Meinung dazu habe. Es hätte keinen Sinn, den Mei- (Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth]
nungsbildungsprozess, der in der Fraktion und innerhalb [FDP])
der Koalition stattfindet, weiter auszutragen. Mir geht es – Wenn ich noch auf den Zuruf eingehen darf – –
nur darum, darauf zu achten, dass wir durch den anste-
henden Prozess keine Effizienz- und Wettbewerbsver-
luste der Schiene und unseres Unternehmens erleiden, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
und die Interessen der Beschäftigten zu berücksichtigen. Nein, Herr Kollege, Sie sollten zum Schluss kommen.
Es muss auch deutlich gemacht werden – das will ich als
Haushälter tun –, dass ich nicht die Erwartung einiger Bartholomäus Kalb (CDU/CSU):
meiner Kollegen an einige Modelle, zum Beispiel an das Viele im ländlichen Raum wären froh und dankbar,
Eigentumsmodell, teile, dass der Bundeshaushalt da- wenn in den Schulbussen Begleiter wären, die sich ein
durch entlastet wird. Der Bund wird vielmehr auch in bisschen kümmern würden. Das hat nichts mit Terroris-
Zukunft erhebliche finanzielle Verantwortung haben. Ich musbekämpfung zu tun.
sehe keine Möglichkeiten, die finanziellen Risiken des
Bundes zu mindern. Ich bedanke mich.
(Zuruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
[FDP])
– Ich will diese Diskussion hier nicht führen. Ich will nur Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
darauf hinweisen, dass man keinen falschen Hoffnungen Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
anhängen sollte. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ordnung.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Ich erinnere nur daran, dass der Schienenmarkt in Eu- destages auf Freitag, den 8. September 2006, 9 Uhr, ein.
ropa ab Januar liberalisiert wird. Wir müssen darauf ach- Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche einen heite-
ten, dass wir dann nicht noch mit der Diskussion über ren Abend und eine gute Nacht.
die Gestaltung der Umstrukturierung und einen mögli-
chen Börsengang beschäftigt sind. (Schluss: 21.43 Uhr)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006 4733
Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Erklärung
des Abgeordneten Jörg van Essen (FDP) zur
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
entschuldigt bis dem Antrag: Entlastung der Bundesregierung
Abgeordnete(r) einschließlich
für das Haushaltsjahr 2004 – Vorlage der Haus-
halts- und Vermögensrechnung des Bundes
Ahrendt, Christian FDP 07.09.2006 (Jahresrechnung 2004) (Tagesordnungspunkt 3 a)
Bär, Dorothee CDU/CSU 07.09.2006 Namens der Fraktion der FDP erkläre ich, dass unser
Votum „Enthaltung“ lautet.
Bätzing, Sabine SPD 07.09.2006
Höfer, Gerd SPD 07.09.2006* Wir begrüßen es, dass sich die große Koalition end-
lich mit den gravierenden Auswirkungen des Ölförder-
(B) Homburger, Birgit FDP 07.09.2006 projektes Sachalin II auf die Artenvielfalt beschäftigt (D)
und die Bundesregierung zum Handeln auffordert. Lei-
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 07.09.2006 der lässt der Antrag die notwendige Klarheit in den Auf-
DIE GRÜNEN forderungen an die Bundesregierung vermissen. Es
reicht nicht aus, die Schädigung der akut bedrohten
Dr. Jung, Franz Josef CDU/CSU 07.09.2006 Grauwalpopulation „soweit irgend möglich“ zu vermei-
den.
Kühn-Mengel, Helga SPD 07.09.2006 Zudem suggeriert der Antrag der Koalition, dass
durch Umweltauflagen der Osteuropabank – Europäi-
Kunert, Katrin DIE LINKE 07.09.2006 sche Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, EBWE –
die Umweltschäden und insbesondere das Aussterben
Meckel, Markus SPD 07.09.2006 der letzten westpazifischen Grauwalpopulation abzu-
wenden seien. Dies entspricht nicht der Realität. 75 Pro-
Meierhofer, Horst FDP 07.09.2006 zent des Projekts wurden bereits realisiert. Das Konsor-
tium Sakhalin Energy Investment Company Ltd. – SEIC
Pflug, Johannes SPD 07.09.2006 – hat beim Bau von Sachalin II bereits gegen zahlreiche
Standards verstoßen, die für die Osteuropabank und die
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 07.09.2006 Weltbank – IFC – grundsätzlich zu den Voraussetzungen
einer Finanzierungsbeteiligung zählen. Dazu gehört un-
Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 07.09.2006 ter anderem, dass mit der Umsetzung des Projekts vor
Ort begonnen wurde, ohne die Umweltbeeinträchtigun-
Dr. Staffelt, Ditmar SPD 07.09.2006 gen anhand einer Umweltverträglichkeitsprüfung unter-
suchen zu lassen. Die Folgen für die Natur und die Men-
Wieczorek-Zeul, SPD 07.09.2006 schen vor Ort sind katastrophal. Schlimmeres ist nur zu
Heidemarie verhindern, wenn das Projekt gestoppt wird. Keinesfalls
darf solcherart Umweltfrevel mit einem Kredit der Ost-
Zapf, Uta SPD 07.09.2006 europabank finanziert werden.
Anders als die große Koalition fordern wir deshalb in
* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- unserem Antrag „Schaden von der Reputation der Osteu-
sammlung des Europarates ropabank abwenden – Das Öl- und Gasprojekt Sachalin
4734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 47. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 7. September 2006
(A) II als Lackmustest für die Einhaltung internationaler die EBWE hätte eine Beteiligung an Sachalin II Signal- (C)
Umwelt- und Sozialstandards“ – Drucksache 16/1668 – wirkung auch für andere Banken. Eine Entscheidung der
vom 31. Mai 2006 die Bundesregierung auf, die Kredit- Osteuropabank für eine Finanzierungsbeteiligung an Sa-
vergabe an das Konsortium Sakhalin Energy Investment chalin II würde ein starkes Signal der Aufweichung von
Company zu verweigern. Standards an zukünftige ähnliche Erschließungsvorha-
ben aussenden. Zudem würde die Osteuropabank durch
Das Fördergebiet um die Pazifikinsel Sachalin ist das
einen Ölunfall vor oder auf dem stark erdbebengefährde-
einzige sommerliche Nahrungsgebiet der verbliebenen
ten Sachalin in besonders akutem Maße an Reputation
Grauwalpopulation. Vergeblich warnen internationale
verlieren.
Fachleute, dass Lärm und Verschmutzung durch die
Bohrinseln, ihre Versorgungsschiffe und die Seepipe- Jetzt hat sich auch das russische Umweltaufsichtsamt
lines die Wale regelrecht verhungern ließen. Setzen wir der vehementen nationalen und internationalen Kritik
uns nicht für den Erhalt dieses Nahrungshabitats ein, ris- angeschlossen. Aufgrund der Nichteinhaltung von Um-
kieren wir das Aussterben dieser Art. weltstandards musste der Bau der Pipelines bereits im
Die Koalition hat zudem die Dramatik der Ereignisse August 2006 vorübergehend eingestellt werden. Am
vor und auf Sachalin nicht in ihrem vollen Ausmaß er- 5. September 2006 hat das russische Ressourcenministe-
kannt. Gefährdet sind nicht nur die letzten 100 westpazi- rium zudem bekannt gegeben, dass es eine Klage gegen
fischen Grauwale. Gefährdet ist die gesamte Artenviel- den Weiterbau des Projekts eingereicht hat. Die russi-
falt Sachalins. Quer durch die ganze Insel wurde eine sche Regierung bezieht damit klar Stellung. Deutschland
800 Kilometer lange unterirdische Pipeline verlegt, um sollte hinter dieser Position nicht zurückfallen. Jetzt ist
das Öl an den Hafen der Aniva-Bucht zu befördern. es an der Zeit, dass sich die Bundesregierung im Auf-
Beim Bau der Pipelines wurden hunderte Flussläufe sichtsrat der Osteuropabank gegen eine Kreditvergabe
fahrlässig verschlammt und große Mengen Bauschutts in einsetzt. Deutschland darf die verheerenden Umweltver-
der sensiblen Aniva-Bucht verklappt. Existenziell ge- stöße von Sakhalin Energy Ltd, nicht im Nachhinein le-
fährdet ist dadurch auch die Wirtschaft auf Sachalin, die gitimieren. Würde die Bundesregierung im Aufsichtsrat
zu über 30 Prozent vom Fischfang abhängig ist. Die der Osteuropabank für eine Kreditvergabe stimmen, täte
Fänge der lokalen Fischer sind seit dem Bau der Pipeline sie genau das.
stark zurückgegangen.
Obwohl die Absicht der großen Koalition, die letzten
Die Osteuropabank verbindet ihre Kreditzusagen mit 100 Grauwale vor dem Aussterben zu bewahren, richtig
der Einhaltung international gültiger Sozial- und Um- ist, geht uns der Antrag nicht weit genug. Aufgrund der
weltstandards. Aufgrund der im Regelfall äußerst auf- beschriebenen Mängel kann dem Antrag nicht zuge-
(B) merksamen Prüfung von Finanzierungsanträgen durch stimmt werden. (D)
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980