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Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht
45. Sitzung
Inhalt:
Nachruf auf den ehemaligen Bundestagspräsi- Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 4397 C
denten Dr. Rainer Barzel . . . . . . . . . . . . . . . . 4367 B
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . 4399 B
Nachruf auf den ehemaligen Bundesratspräsi-
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . 4402 A
denten Holger Börner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4368 A
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/
Nachruf auf den Abgeordneten Dr. Herbert
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4404 A
Hupka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4368 C
Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4404 C
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord-
neten Hans Raidel, Renate Blank, Uta Zapf, Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4406 D
Dr. Lothar Bisky, Hans-Michael Goldmann,
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 4408 B
Gerhard Wächter und Franz Obermeier . . 4369 B
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . 4409 C
Begrüßung des neuen Abgeordneten Omid
Nouripour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4369 C Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4411 D
Abwicklung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 4369 C
Einzelplan 10
Bundesministerium für Ernährung,
Tagesordnungspunkt 1:
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Horst Seehofer, Bundesminister BMELV . . . 4413 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes- Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 4416 A
haushaltsplans für das Haushaltsjahr
Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD) . . . . . . . . . . . . 4417 D
2007 (Haushaltsgesetz 2007)
(Drucksache 16/2300) . . . . . . . . . . . . . . . . 4369 C Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 4419 B
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4421 B
(Drucksache 16/2301) . . . . . . . . . . . . . . . . 4369 C
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . 4422 A
Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . 4369 D
Ursula Heinen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4422 D
Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4378 B
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . 4423 D
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4380 D
Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4424 C
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4385 A
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4387 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4425 C
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ Renate Künast (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4390 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4426 D
Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4394 C Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . 4427 C
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Einzelplan 07 Anlage 3
Bundesministerium der Justiz Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 4435 C Versicherungsvermittlerrechts (43. Sitzung,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) 4438 A Tagesordnungspunkt 28)
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4439 B Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 4473 D
Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4441 D
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Anlage 4
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4443 D
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 4446 A Beratung:
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4447 B
– Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde
Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4449 A ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas-
Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4450 C send reformieren
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4452 B – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Passgesetzes
Einzelplan 06 (43. Sitzung, Tagesordnungspunkt 25 und Zu-
Bundesministerium des Innern satztagesordnungspunkt 10)
(A) (C)
Redetext
45. Sitzung
Jürgen Koppelin
(A) sagt und warum er es sagt, denke ich, dass das auch eine Ausgaben! Das ist machbar. Wir haben anlässlich des (C)
herbe Kritik am Bundesfinanzminister und seiner Politik letzten Haushalts ein Sparpaket mit einem Volumen von
gewesen ist. Wir teilen die Auffassung von Peter Struck. 8 Milliarden Euro vorgelegt. Solche Einsparungen sind
Das heißt, auf die Mehrwertsteuererhöhung kann man machbar. Wir haben Ihnen unser Sparpaket übergeben
verzichten, wenn man knallharte Einsparungen bei den und Sie haben unsere Vorschläge überprüfen können.
Ausgaben vornimmt. Wenn Sie unsere Forderungen erfüllen würden, würden
Sie einen wichtigen Beitrag für unsere Konjunktur leis-
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: ten. So kämen wir zu weiteren Einnahmen für den Bun-
Wo? Wo denn?) desfinanzminister.
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben am Anfang ge- Mir wäre es mit Blick auf den Haushalt lieber gewe-
sagt – da war ich schon etwas erstaunt –: Wir als Bun- sen, die Bundeskanzlerin, der Bundeswirtschaftsminister
desregierung sind nicht besonders beliebt; wir wollen und der Bundesfinanzminister hätten sich zusammenge-
aber die Bürger darüber nicht im Unklaren lassen, was setzt und gemeinsam überlegt, welche Reformen auf
die Politik der Bundesregierung ist. Dazu von mir eine dem Arbeitsmarkt nötig sind. Wir brauchen schließlich
kleine Kostprobe, Herr Bundesfinanzminister. Vielleicht Reformen auf dem Arbeitsmarkt, sie würden zu weiteren
haben Sie bei all den Aktivitäten im Bundesfinanzminis- Einnahmen für den Bundesfinanzminister führen.
terium kaum Zeit gehabt, die Meldungen der letzten
Tage zu lesen. (Beifall bei der FDP)
Da haben wir erstens den Bundeswirtschaftsminister, Der Bundeshaushalt 2007, Herr Bundesfinanzminis-
von dem nicht allzu viel kommt, außer dass er jetzt viel- ter, den Sie uns vorgelegt haben, ist nicht der Haushalt
leicht die Rüstungsexporte nach Indien erhöhen will. eines Bundesfinanzministers, der politisch agiert und
Das hält er wahrscheinlich für eine Riesenidee. Ziele verfolgt. Es ist der Haushalt eines Finanzbuchhal-
ters, der die Bilanz durch viel Haushaltskosmetik schön-
Zweitens. Der baden-württembergische Ministerprä- rechnet. Ihre Haushaltstricksereien, Herr Bundesfinanz-
sident Oettinger und der CSU-Landesgruppenchef minister, machen den Haushalt 2007 nicht solider. Der
Ramsauer bezeichnen die Gesundheitsministerin Haushalt ist auf keinen Fall solide.
Schmidt als Belastung für die Koalition. Wichtige CDU-
Politiker fordern den Rücktritt der Ministerin. Ich hoffe – ich appelliere in diesem Sinne an die
Koalitionsfraktionen –, dass wir es in den Beratungen im
Drittens. Bundesverkehrsminister Tiefensee, der bis- Haushaltsausschuss schaffen werden, einen soliden
her auch nicht durch Aktivitäten aufgefallen ist, plädiert Haushalt aufzustellen. Dieser Haushalt wird sicher nicht
– das ist das Tollste; vielleicht haben Sie die Meldung so aussehen wie derjenige, den uns der Bundesfinanz- (D)
(B) nicht gelesen – dafür, Hartz-IV-Empfänger als unbewaff-
minister heute vorgelegt hat.
nete Patrouillen im öffentlichen Nahverkehr einzusetzen.
Ich sage dazu: Das ist populistischer Quatsch. Herzlichen Dank.
Viertens. Die SPD wirft dem Verteidigungsminister (Beifall bei der FDP)
Jung Alleingänge zulasten der Koalition vor; für das
Klima der Koalition sei das alles nicht gut, was der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Mann mache. Der gleiche Verteidigungsminister fordert Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,
übrigens für die nächsten Jahre 6 Milliarden Euro mehr CDU/CSU-Fraktion.
für seinen Etat, die er für Rüstungsprojekte ausgeben
will. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter
[CDU/CSU]: Jetzt kommt ein Meister seines
Fünftens. Peer Steinbrück – das habe ich schon er- Fachs!)
wähnt – fordert, auf Urlaub zu verzichten.
Daneben schlägt Herr Riester vor, die Leute sollten Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
auf das Auto verzichten. Und das, was der Sprecher des Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Seeheimer Kreises der SPD über die Kanzlerin gesagt Herren! Ich möchte zum Auftakt der Haushaltsberatun-
hat, hätte ich nicht einmal als Oppositionspolitiker über gen für das Jahr 2007 als Erstes folgende Bemerkung
sie zu sagen gewagt. machen: Mit diesem Haushaltsentwurf kehrt die Haus-
Das ist das Spiegelbild der Koalition. Dieses Drunter haltspolitik in Deutschland in die Regelkreise zurück,
und Drüber innerhalb der Koalition erleben die Bürger, die von Recht und Gesetz vorgegeben sind.
es gibt keinen klaren Kurs. Die Bundesregierung ist völ- Lieber Herr Koppelin, die große Koalition ist in der
lig konzeptlos, folglich führungslos und das erkennen Haushaltspolitik mit der Zielsetzung angetreten, die
die Bürger, was die Umfragewerte deutlich unterstrei- Neuverschuldung zurückzuführen, den Bundeshaushalt
chen. nachhaltig zu sanieren und die Staatsfinanzen wieder
(Beifall bei der FDP) dauerhaft auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Der
heute eingebrachte Entwurf des Haushalts 2007 und der
Herr Bundesfinanzminister, die Forderungen der Finanzplan bis 2010 zeigen das klare Konzept und die
Freien Demokraten lauten: Verzichten Sie auf die Mehr- Handschrift dieser Koalition, um diese Zielsetzung im
wertsteuererhöhung! Sparen Sie, sparen Sie auch bei den vorgegebenen Zeitraum erreichen zu können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4381
Dr. Michael Meister
(A) Ich will auf etwas hinweisen, was in den vergangenen – Lieber Herr Koppelin, da Sie sich hier mit Zwischen- (C)
fünf Jahren als Unmöglichkeit erschien, sich heute je- rufen hervortun, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Es
doch als Selbstverständlichkeit im Entwurf darstellt. Wir ist mit Sicherheit berechtigt, als Opposition Kritik am
werden mit diesem Haushalt zum ersten Mal wieder den Haushaltsentwurf der Regierungskoalition zu üben. Kri-
Regelkreis des Art. 115 des Grundgesetzes, der vor- tik ist angesichts der Probleme, vor denen wir in der
sieht, dass das Investitionsvolumen größer sein muss als Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik stehen, aber
die Nettoneuverschuldung, erreichen. zu wenig.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Das ist eine Selbstverständlichkeit, die leider in den letz- GRÜNEN)
ten Jahren in unserem Land keine Selbstverständlichkeit
war. Sie müssten nicht nur sagen, was Sie an unseren Vor-
schlägen kritisieren, sondern auch, wie Sie das struktu-
Darüber hinaus werden wir dank der guten konjunk- relle Defizit des Bundeshaushalts mit einem Volumen
turellen Entwicklung bereits in diesem Jahr das 3-Pro- von über 60 Milliarden Euro schließen wollen. Ihre bis-
zent-Defizitkriterium des Maastrichtvertrags einhal- herigen Vorschläge zielen auf nicht einmal 10 Prozent
ten. Die deutsche Finanzpolitik gewinnt damit auch dieser Summe und greifen deshalb wesentlich zu kurz.
international wieder an Glaubwürdigkeit. Denken wir Ich hätte erwartet, dass Sie heute früh einen konkreten
beispielsweise an die EU-Staaten Mittelosteuropas, die Vorschlag dazu auf den Tisch legen, über den wir uns in
kurz vor der Einführung des Euros in ihrem Land stehen: den nächsten Wochen unterhalten können. Herr
Auch ihnen verlangen wir die Einhaltung dieser Krite- Koppelin, das haben Sie leider nicht geleistet.
rien ab. Deshalb müssen wir mit gutem Beispiel voran-
gehen und diese Koalition tut das. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Populismus ist eine angenehme Sache, da man unheim-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lich viel Beifall erntet. Er ersetzt aber keine seriöse und
neten der SPD)
solide Finanzpolitik für eine der größten Volkswirtschaf-
Wir tun damit aber auch langfristig etwas für die Sta- ten dieser Welt. Wir stehen in der Verantwortung und wir
bilität unserer Währung. Erinnern wir uns an die Bedin- nehmen sie auch wahr.
gungen zur Einführung des Euros. Das waren einerseits (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
der Vertrag von Maastricht, andererseits die Unabhän- Jürgen Koppelin [FDP]: Sagen Sie das, was
gigkeit der Europäischen Zentralbank. Ich möchte sei- Sie gesagt haben, in Richtung Finanzministe-
(B) tens meiner Fraktion erklären, dass wir bereit sind und rium!) (D)
die Anstrengungen unternehmen wollen, unseren Bei-
trag dazu zu leisten, den europäischen Stabilitäts- und Am Anfang dieses Jahres haben wir – Herr
Wachstumspakt im Jahr 2007 und in den Folgejahren Steinbrück hat darauf hingewiesen – das Wachstums-
dauerhaft einzuhalten. impulsprogramm beschlossen. Damals gab es viele
Schwarzseher, die gesagt haben, dass das Programm in
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) die falsche Richtung zielt. Jetzt liegt uns der Haushalts-
Wir sollten aber auch hinsichtlich der Unabhängigkeit entwurf vor und wieder wird darüber geredet, welche ne-
der Europäischen Zentralbank den notwendigen Respekt gativen Wirtschaftsentwicklungen mit diesem Haus-
haltsentwurf und den begleitenden Gesetzen eingeleitet
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werden könnten. Ich will an dieser Stelle darauf hinwei-
Steuererhöhungen!) sen, dass die negativen Botschaften, die am Jahresanfang
verkündet wurden, nicht eingetreten sind.
wahren und nicht in die Aufgaben einer unabhängigen
Notenbank eingreifen. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist hervorragend, dass sie nicht eingetreten sind. All
neten der SPD) die Schwarzmaler haben nicht Recht gehabt.
Dieser Haushalt zeigt, dass die große Koalition hält, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
was sie verspricht. Das ist das Kennzeichen einer neuen Es wäre ein schönes Zeichen gewesen, wenn Sie heute
Politik. Ich möchte Herrn Steinbrück, unserem Bundes- gesagt hätten: Gott sei Dank, unsere Befürchtungen sind
finanzminister, ausdrücklich dafür danken, dass er sich nicht eingetreten. Wir haben uns geirrt.
diesen Konsolidierungsauftrag zu Eigen gemacht hat.
Herr Steinbrück, ich darf Ihnen versprechen, dass meine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Steffen
Fraktion und auch ich persönlich Sie bei der Umsetzung Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
dieser schwierigen Aufgabe nach besten Kräften unter- Deshalb sage ich ermunternd: Der Stillstand in
stützen werden. Das gilt auch für die Haushaltsverhand- Deutschland ist durch diese Koalition überwunden wor-
lungen, die mit dem heutigen Tage beginnen. den. Die Ampeln wurden auf Grün geschaltet.
(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
[FDP]: „Nach besten Kräften“ ist bei euch ja Sehr gut! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:
nicht viel!) Kuhn ist aufgewacht!)
4382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zwar kann man sehr viel darüber diskutieren, was frü-
neten der SPD) here Steuerreformen gebracht haben bzw. was sie nicht
gebracht haben. Aber wir sollten schlicht und ergreifend
Ich möchte auch das Thema „Mehreinnahmen bei der die Situation, wie sie sich zum jetzigen Zeitpunkt dar-
Bundesagentur für Arbeit“ aufgreifen. Aus Sicht meiner stellt, zur Kenntnis nehmen.
Fraktion sollten Beitragsmehreinnahmen bei der Bun-
desagentur für Arbeit zur Sanierung des Bundeshaus- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! Zum
haltes nicht zur Verfügung stehen. Wir sind sehr froh und jetzigen Zeitpunkt! Das ist richtig!)
dankbar darüber, dass wir jetzt und in den Folgejahren Betrachtet man den Umfang der Steuerbelastung von
hoffentlich keine Überweisungen aus dem Bundeshaus- Kapitalgesellschaften in Deutschland und in vergleich-
halt an die Bundesagentur leisten müssen, sondern die baren Ländern, stellt man fest, dass Deutschland bei die-
Bundesagentur in der Lage ist, sich selbst zu finanzieren. sem Vergleich leider am oberen Ende liegt. In dieser
Wenn es bei der Bundesagentur für Arbeit Spielräume Hinsicht sind wir gegenwärtig nicht hinreichend attrak-
gibt, die über die bereits beschlossene Senkung der Bei- tiv. Deshalb müssen wir an dieser Stellschraube arbeiten.
trägssätze hinausgehen und dauerhaft vorhanden sind,
sodass eine nachhaltige weitere Beitragssenkung mög- Herr Kollege Poß, Herr Steinbrück, Kolleginnen und
lich ist, dann sollten wir diese Spielräume in diesem Kollegen aus meiner Fraktion, ich bin sehr froh, dass wir
Sinne nutzen und keine anderen Verwendungen ins Auge uns bei diesem Thema auf einen Lösungskorridor hin zu-
fassen. bewegen und die Steuerbelastung für Unternehmen in
Deutschland zum 1. Januar 2008 gemeinsam auf unter
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 30 Prozent senken wollen.
der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Warum
klatschen die Sozis nicht?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Denn natürlich hängt die Haushaltssanierung auch von (D)
(B)
der nachhaltigen Verbesserung des Arbeitsmarktes und Das ist, was die zeitliche Planbarkeit und Verlässlichkeit
der wirtschaftspolitischen Lage in unserem Lande ab: betrifft, ein richtiges Signal. Wichtig ist auch die klare
Die Arbeitskosten, insbesondere die Lohnnebenkosten Ansage, in welcher Höhe Unternehmensgewinne in
sind wichtig für den Beschäftigungsstand und damit für Deutschland in Zukunft belastet werden.
die Ausgabenseite unseres Bundeshaushaltes. Wenn die
Zahl der Beschäftigten ansteigt, haben wir weniger Aus- Ich will ausdrücklich sagen: Für uns ist ungeheuer
gaben und gleichzeitig mehr Einnahmen, ohne Steuern wichtig, dass wir in diesem Zusammenhang nicht nur
oder Beiträge erhöhen zu müssen. über die etwa 20 Prozent Kapitalgesellschaften, sondern
auch über die 80 Prozent Personengesellschaften in
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und diesem Land sprechen. Wir müssen einen Mechanismus
der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr gut! entwickeln, der die Personenunternehmen bei dieser
Die Sozis klatschen nicht, Herr Meister!) Entlastung in gleicher Weise berücksichtigt und sie nicht
Insofern ist es natürlich sehr positiv, dass die Lage auf allein lässt. Ich glaube, auch an dieser Stelle sind wir auf
dem Arbeitsmarkt – und damit die Lage bei Steuern und einem vernünftigen Weg.
Beiträgen – besser ist als vor einem Jahr. Wir müssen da- Ich bin allerdings nicht davon überzeugt, dass wir diese
für sorgen, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Ent- Veränderungen im Hinblick auf Steuersatz und -strukturen
wicklung über den 1. Januar nächsten Jahres hinaus an- werden durchführen können, wenn wir sagen, dass diese
hält. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich Reform haushaltsneutral erfolgen muss. Denn dies
nämlich verbessert. Die Menschen erwirtschaften mehr würde letztlich Mehrbelastungen für die Unternehmen
Geld und mehr Menschen sind in Beschäftigung. Ich bin bedeuten. Dadurch würden wir Investitionen verhindern
zuversichtlich, dass diese seit vielen Jahren erstmals und weitere Arbeitsplätze aus dem Lande treiben. Das
wieder positive Entwicklung der Binnenkonjunktur trotz wäre eine Politik gegen und nicht für die Menschen in
der von uns beschlossenen Maßnahmen über den Deutschland.
1. Januar nächsten Jahres hinaus anhalten wird. Das
wäre ungeheuer wichtig. Das Fundament für diese Hoff- (Beifall bei der CDU/CSU)
nung wurde gelegt.
Außerdem warne ich davor, sich ständig in solchen
Ein weiterer Punkt. Ich glaube, wir müssen dringend staatlichen Betrachtungen zu ergehen. Wir wollen keine
über das Impulsprogramm hinaus investieren und im staatliche Wirtschaftspolitik, sondern wir wollen die
Rahmen der Haushaltssanierung Strukturreformen Rahmenbedingungen so setzen, dass die Akteure ihr
durchführen. Herr Bundesfinanzminister, Sie haben zu Verhalten ändern, dass Unternehmensgewinne, die hier
4384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Joachim Poß
(A) Ihren Wahlkreisen reden, dann wird Ihnen das tagtäglich anhebungen in den nächsten Monaten weitere folgen (C)
bestätigt. werden. Ich sage dazu nur – möglicherweise in der Ak-
zentsetzung etwas anders als mein Kollege Meister und
Noch wichtiger als die derzeitige Lage ist, dass auch bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit der Europäi-
die ökonomische Perspektive so positiv ist wie seit lan- schen Zentralbank –: Die Europäische Zentralbank sollte
gem nicht mehr. Die Voraussetzungen für einen auch sich noch einmal genau überlegen, ob das die richtige
länger andauernden Aufschwung sind gegeben. Es ist Strategie ist.
bereits erwähnt worden, dass Gerhard Schröder und die
Regierungskoalition aus SPD und dem Bündnis 90/Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Grünen mit ihrer Politik die richtigen Weichen gestellt
Sie sollte mit ihrer Zinspolitik nicht die Verantwortung
haben. Frau Merkel hat kürzlich darauf hingewiesen. Die
dafür übernehmen, dass die wirtschaftliche Aufwärtsbe-
Wirkungen werden sichtbar.
wegung in Europa und insbesondere in Deutschland wie-
Ich erwähne das bewusst, weil im Sommer an man- der niedergedrückt wird.
chen Orten – nicht nur in der politischen Opposition – (Beifall bei der SPD)
schon wieder Miesmacher und Schwarzmaler unterwegs
waren, deren Verlautbarungen einem einfachen Erklä- Auch hier muss die Zeit der Dogmatiker und Ideologen
rungsmuster folgen. Ein wirtschaftlicher Aufschwung vorbei sein.
ist offensichtlich etwas, was es in Deutschland nicht ge-
ben darf, jedenfalls nicht, solange die Sozialdemokratie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vorsicht, Herr
an der Regierung beteiligt ist. Das ist das Muster man- Kollege! Und das aus Ihrem Munde!)
cher Verlautbarungen. Die Europäische Zentralbank hat noch jede Chance, zu-
künftig eine vernünftige und angemessene Politik zu be-
(Lothar Mark [SPD]: Das ist der Wunsch eini-
treiben. Ich hoffe, dass sie diese Chance nutzt.
ger! Herr Koppelin!)
Wenn die politische Opposition von Risiken für die
Natürlich gibt es Risiken für die wirtschaftliche Ent-
wirtschaftliche Entwicklung spricht, dann geht es stän-
wicklung. Peer Steinbrück hat auf diese Risiken hinge-
dig nur um die Mehrwertsteuererhöhung zum
wiesen. Die gibt es aber in jedem Jahr. Sie sind einmal
1. Januar nächsten Jahres. Aber das viel relevantere Ri-
groß und ein anderes Mal klein. Ihre Eintrittswahr-
siko einer falschen EZB-Leitzinspolitik haben meines
scheinlichkeit ist sehr unterschiedlich. Risiken können
Wissens weder Herr Westerwelle noch Herr Koppelin
auf eine robuste oder auf eine weniger robuste Ökono-
noch Herr Brüderle in ihren vielen Statements zum
mie treffen. Es bedarf deshalb einer differenzierten und
(B) differenzierenden Analyse und Argumentation, um ab- Thema gemacht. (D)
zuschätzen, was im nächsten Jahr auf die Wirtschaft in (Jürgen Koppelin [FDP]: Müntefering auch
Deutschland zukommt. Es muss auf jeden Fall etwas nicht!)
mehr sein als die erschreckende Oberflächlichkeit der
FDP und interessegeleitete Äußerungen von Verbänden. So wie sich die Dinge entwickeln – das gehört zur Wahr-
heit; das kann man jeden Tag von verschiedenen Seiten
(Beifall bei der SPD) deutlich vernehmen, ob vom Internationalen Währungs-
fonds oder von anderen kompetenten Stellen –, ist fest-
Ein relevantes Risiko ist sicherlich die weitere Ent- zustellen, dass die Mehrwertsteuererhöhung nicht das
wicklung im Nahen und Mittleren Osten. Aber es ist Risiko für die Konjunktur sein wird, wie es von vielen
noch nicht ausgemacht, dass der Ölpreis im Zuge des vorhergesagt wurde
Konflikts in Israel und dem Libanon oder im Zuge des
Atomstreits mit dem Iran noch einmal stark steigen wird, (Jürgen Koppelin [FDP]: Auch von der SPD!)
wenn es auch nicht unwahrscheinlich ist. Allerdings
– richtig –, wie es auch von uns gesehen wurde. Es ent-
kann es – unter anderem spekulationsbedingt – auf dem
wickelt sich Gott sei Dank in eine andere Richtung. Wir
Öl- und Benzinmarkt zeitweise zu hohen Ausschlägen
werden sehr wahrscheinlich im nächsten Jahr einen ge-
kommen. Das ist ein Risiko, das wir sehen müssen. Weil
ringeren Dämpfer erleiden, als wir vielfach erwartet ha-
ich gerade die Robustheit einer Ökonomie angesprochen
ben. Für die Menschen im Land und insbesondere für die
habe: Wir müssen uns klar machen, dass der vorhandene
Arbeitslosen ist das auch gut so. Daran sollten Sie,
Aufschwung auf der Grundlage eines bereits heute
meine Damen und Herren von der Opposition, egal ob
enorm hohen Ölpreises stattfindet. Vor fünf oder zehn
von rechts oder von links, nicht rühren.
Jahren hätte niemand vorhergesagt, dass auf der Grund-
lage eines so hohen Ölpreises ein solcher Aufschwung (Beifall bei der SPD)
möglich ist. Offensichtlich besitzt unsere Ökonomie das
Vermögen, sehr hohe Energie- und Ölpreise zu verkraf- Das „Handelsblatt“ und andere Publikationen weisen
ten. Aber natürlich gibt es Grenzen der Verträglichkeit zu Recht darauf hin, dass die Mehrwertsteuererhöhung
von weltwirtschaftlichen Verwerfungen. besser verkraftet wird als angenommen und dass die
Konjunktur dieser Erhöhung trotzen wird. Umfragen un-
Ein weiteres Risiko für den wirtschaftlichen Auf- ter Führungskräften machen deutlich, dass im nächsten
schwung ist die zukünftige Zinspolitik der Europäi- Jahr nicht weniger, sondern mehr investiert wird und
schen Zentralbank. Die kundigen Thebaner erwarten, dass die Belegschaften aufgestockt werden sollen. Das
dass den bereits seit dem letzten Jahr erfolgten Leitzins- sind gute Botschaften für das Land.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4389
Joachim Poß
(A) Als Fazit bleibt damit festzuhalten: Es gibt Risiken rungen der letzten Jahre weitere umfangreiche Eingriffe (C)
für die Wirtschaftsentwicklung. Aber die geplante Mehr- in Sozialleistungen verbieten – auch das sage ich für
wertsteuererhöhung spielt dabei keine dominierende meine Fraktion ganz eindeutig, nämlich dass wir keine
Rolle. weiteren Eingriffe in Sozialleistungen wollen –, kann die
Rückführung der Nettokreditaufnahme des Bundes nur
Deswegen, mit Blick auf die Westerwelle-FDP: Wenn mithilfe der Einnahmen aus dem einen Prozentpunkt der
man die eigene Politik-Agenda auf den einen Satz redu- Mehrwertsteuererhöhung, der dem Bund zusteht, gelin-
ziert, dass, wenn es immer weniger Steuern, immer we- gen. Wir werden außerdem natürlich keine Abstriche an
niger Abgaben, immer weniger Arbeitnehmerrechte und dem 25-Milliarden-Euro-Impulsprogramm machen.
immer weniger Gewerkschaften gibt, Wachstum und Durch die Verklammerung der Haushalte von 2006 und
Wohlstand explodieren, dann kann ich nur sagen, dass 2007 wird unsere Doppelstrategie aufgehen.
Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, die ge-
genwärtige Entwicklung nicht Recht gibt. Ihre Einschät- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
zung hat mit der Realität nichts zu tun.
Wenn man selbstkritisch ist, muss man sagen, dass sie
(Beifall bei der SPD) noch nicht ausreichend kommuniziert ist,
Andere sprechen in diesem Zusammenhang von „Le- (Jürgen Koppelin [FDP]: Aber das machen Sie
benslügen“ und treffen mit ihren kritischen Aussagen ja jetzt!)
schon eher die Tatsachen.
auch weil das Thema relativ kompliziert ist. Außerdem
Mich betrübt im Übrigen, dass sich das Bündnis 90/ wird diese Doppelstrategie systematisch von den Kriti-
Die Grünen, mit dem wir in gemeinsamer Regierungs- kern in der Darstellung verfälscht. Ich sage: Die Strate-
verantwortung gute Politik für Deutschland gemacht ha- gie für 2007 wird ebenso aufgehen, wie die für 2006 in
ben diesem Jahr aufgegangen ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD)
DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP: Oh!)
Wir schaffen eine stabile, positive Wirtschaftsentwick-
– ja, so ist das, meine Damen und Herren –, schon jetzt, lung in Deutschland und konsolidieren ohne Konjunk-
nach weniger als einem Jahr, bemüht, in der Wirtschafts- tureinbrüche. Das werden Sie sehen, wenn wir uns im
und Finanzpolitik den Debattenstil der Westerwelle-FDP November treffen und über diese Fragen sprechen. Dann
zu kopieren. kann man das noch besser absehen als heute.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kollege Meister und Peer Steinbrück haben etwas zur
(B) Oh!) Reform der Unternehmensbesteuerung gesagt. Es ist (D)
selbstverständlich, dass wir gemeinsam verpflichtet sind,
Ich halte die Mehrwertsteuererhöhung für nicht so
so wie es im Koalitionsvertrag und in den Eckpunkten
konjunkturgefährdend, wie ich es noch vor einigen Mo-
der Bundesregierung vereinbart ist, zu einer guten Lö-
naten gedacht habe. Ich bin fest davon überzeugt, dass
sung zu kommen. Es geht hier nicht um „Steuerge-
die Mehrwertsteuererhöhung zur nachhaltigen Stabilisie-
schenke“ oder Steuerentlastungen für Unternehmen in
rung nicht nur des Bundeshaushaltes, sondern auch der
Milliardenhöhe, wie öfter zu lesen ist, es geht vielmehr
Länderhaushalte zwingend erforderlich ist. Es geht um
um die Verbesserung einer völlig unzulänglichen Be-
einen Wirtschafts- und Finanzpakt für ganz Deutschland.
steuerung in Deutschland und Europa. Es gibt einen
Das dürfen wir bei unseren Debatten nicht vergessen.
Handlungszwang, auch im Interesse derjenigen, die treu
(Beifall bei der SPD) und brav jeden Monat ihre Steuern abliefern. Diese Re-
form ist notwendig, weil der internationale steuerliche
Peer Steinbrück hat zu Recht darauf hingewiesen, Wettbewerb Maßnahmen zur nachhaltigen Sicherung der
dass die sonstigen zusätzlichen Steuereinnahmen, die deutschen Steuerbasis erfordert. Denn wir wissen, dass
sich für 2007 ankündigen, nicht ausreichen, um die international operierende Unternehmen ihre Steuerstra-
Wundertüte aufzumachen. Deswegen kann eine verant- tegie zunehmend optimiert haben. Es gibt Berichte in se-
wortungsbewusste und vorsichtige Finanzpolitik ihm in riösen Zeitungen über Seminare zur Optimierung der
dieser Frage nur folgen. Steuerstrategie, die von sehr bekannten Adressen ange-
So wie der Bundeshaushalt 2006 im Zeichen der Sta- boten werden. Das können wir nicht länger hinnehmen.
bilisierung und Vertiefung des wirtschaftlichen Auf- Deshalb müssen wir handeln und die Unternehmensbe-
schwungs steht, so steht im Zentrum des Bundeshaus- steuerung entsprechend modifizieren.
halts 2007 die unabdingbare Zurückführung der (Beifall bei der SPD)
Nettokreditaufnahme des Bundes. Kollege Meister und
andere haben darauf hingewiesen. Auch das erreichen Das heißt, durch die Senkung der nominalen Steuerbe-
wir entgegen allen Unkenrufen. Wir müssen aber denje- lastung und durch eine Beschränkung des Abzugs von
nigen, die nicht jeden Tag mit solchen Dingen zu tun ha- Finanzierungsaufwendungen sollen die durch bestimmte
ben, sagen, dass es auch da Risiken gibt und wir noch Finanzierungskonstruktionen ins Ausland verlagerten
nicht ganz auf der sicheren Seite sind. Gewinne wieder für die Besteuerung in Deutschland zu-
rückgewonnen werden. Das ist die Aufgabe.
Weil wir das Niveau der Investitionen nicht absenken
wollen, weil sich nach den Zumutungen und Verände- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
4390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Joachim Poß
(A) Die Unternehmen, die ihre Gewinne schon jetzt in sollten sie unter dem Druck der Lobby in den nächsten (C)
Deutschland versteuern, werden durch die Reform ent- Tagen und Wochen nicht verspielen.
lastet. Der Steuer- und Investitionsstandort Deutschland
wird attraktiver. Wir wissen: Wir müssen die hohen no- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto
minalen Steuersätze für Kapitalgesellschaften senken, Bernhardt [CDU/CSU])
weil ansonsten bei uns Risiken der weiteren Verlagerung Deswegen bitte ich unseren Koalitionspartner aus-
ins Ausland bestehen. Diese Verlagerungsrisiken wollen drücklich, auch im Interesse des Erfolges dieser Koali-
wir beseitigen, da sie auch negative Effekte für den öf- tion, zu versuchen, die Widerstände, von denen man je-
fentlichen Haushalt haben. den Tag lesen kann, zu überwinden. Wenn das geschieht,
dann können wir, glaube ich, so gut und so optimistisch
Nach den Berechnungen des Bundesfinanzministe- weitermachen, wie das bisher der Fall war.
riums, die von Professor Wiegard vom Sachverständi-
genrat als plausibel bestätigt wurden, werden in Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Deutschland erwirtschaftete Gewinne bereits heute in ei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ner Größenordnung von rund 60 Milliarden Euro der in-
der CDU/CSU)
ländischen Besteuerung entzogen. Deswegen sage ich:
Das ist noch ein hartes Stück Arbeit. Ich verweise in die-
sem Zusammenhang auch auf das, was Herr Meister hier Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
ausgeführt hat. Wir haben die Eckpunkte vereinbart; Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Fraktion des
aber wir können sie nur umsetzen, wenn man offen ist Bündnisses 90/Die Grünen.
für die Vorschläge des Bundesfinanzministeriums oder
auch für Vorschläge aus den Ländern, die auf die Siche- Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rung der Steuerbasis zielen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Es kann nicht angehen, dass wir unter dem anwach- Herren! Lieber Kollege Poß, es hat schon fast Tradition,
senden Druck der Lobby denen sozusagen noch nach dass ich eingangs auf Sie eingehe, wenn Sie vor mir ge-
dem Mund reden. redet haben. Wenn Sie auf den wirtschaftlichen Auf-
schwung verweisen – wir stellen ihn nicht infrage – und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) behaupten, damit seien der Opposition schon die Zähne
gezogen, dann kann ich Ihnen nur sagen: So billig
Diese Lobby, Wirtschaftswissenschaftler und Wirt- kommt die Regierung nicht davon.
schaftsjournalisten haben über Jahre gefordert: Runter
mit den nominalen Steuersätzen. Immer haben sie hinzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- (D)
gefügt: Die Steuerbasis muss natürlich verbreitert wer-
den. Mittlerweile haben wir ein solches Konzept entwi- KEN – Joachim Poß [SPD]: Nicht die Opposi-
ckelt, das übrigens kommunalfreundlich ist und die tion! Manche Behauptungen der Opposition!)
kommunale Finanzierungsbasis im Interesse der Investi- Das wollen wir einmal festhalten. Ein wirtschaftlicher
tionen in den Kommunen stärkt. Wir haben also alle Ele- Aufschwung und die jetzt in Deutschland existierende
mente miteinander verbunden. Dennoch kommt die glei- Situation verpflichten zu wirklichen und konsequenten
che Lobby – warum denn wohl? – und sagt: Das geht so Reformen bei der Konsolidierung und zu Reformen bei
nicht an. – Herr Börner vom Bundesverband des Deut- der sozialen Sicherung. Da ist das, was Sie nach zehn
schen Groß- und Außenhandels sagte gestern: Lieber Monaten hingelegt haben, viel zu wenig. Sie hätten et-
keine Reform als diese Reform. Was stimmt denn nun was ganz anderes leisten müssen.
bei der Unternehmensbesteuerung?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wir werden kritisiert. Auch in der SPD gibt es eine sowie bei Abgeordneten der FDP)
kritische Diskussion über Steuergeschenke. Bei der
Ich komme darauf noch zurück.
Linkspartei und bei den Gewerkschaften findet eine sol-
che Diskussion sowieso statt. Das ist die eine Seite. Auf Ich möchte noch eine andere Vorbemerkung machen,
der anderen Seite melden sich die betroffenen Wirt- und zwar zum Finanzminister Steinbrück. Ich finde, dass
schaftsverbände und die Unternehmen protestieren laut- die Tonlage, die Sie bei Ihrer Rede gewählt haben, Herr
stark, dass wir durch dieses Konzept die Wertschöp- Steinbrück – sie hatte für mich den Anschein von
fungsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland Arroganz –,
erschüttern. Was stimmt denn nun? Es kann ja nur eines
stimmen; beides geht nicht zusammen. Deswegen for- (Jürgen Koppelin [FDP]: Empfindlich ist er
dere ich beide Seiten auf, ihre Vorwürfe und ihre Fest- jetzt, ganz empfindlich!)
stellungen zu überprüfen. wirklich in einem seltsamen Gegensatz – ich könnte es
auch scharf sagen: in einem lächerlichen Gegensatz –
Ich glaube, wir haben dank des vorgelegten Konzepts, zur Widersprüchlichkeit Ihrer Politik steht; auch darauf
das Peer Steinbrück und sein Haus entwickelt haben, alle komme ich noch zurück.
Möglichkeiten, beide Ziele zu erreichen: die nominalen
Steuersätze zu senken und die Besteuerungsgrundlagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
für die Bundesrepublik Deutschland im Interesse der sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und
Steuerzahler zu sichern. Wir haben diese Chance. Wir der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4391
Anja Hajduk
(A) Angesichts dessen, was Sie schon an Niederlagen haben Euro. Da gibt es zum anderen Risiken von 8 Milliarden (C)
einstecken müssen, etwa bei der Steuerfinanzierung im Euro im Arbeitsmarktbereich. Da werden nämlich die
Gesundheitsbereich, was Sie für ein chaotisches Verhält- Kosten für das Arbeitslosengeld II mal hoppla hopp um
nis zur Beitrags- oder Steuerfinanzierung bei den Lohn- 5 Milliarden Euro niedriger angesetzt. Da wird unter-
nebenkosten anrichten, könnten Sie ein bisschen be- stellt, dass die Kommunen nur 2 Milliarden Euro als
scheidener auftreten oder dem parlamentarischen Streit Ausgleich für die Übernahme der Unterkunftskosten er-
auch ein bisschen demütiger folgen. halten. In dieser Sache hat Herr Müntefering schon im
letzten Jahr sehr schnell klein beigeben müssen und das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Doppelte bezahlt. Eine weitere Milliarde Euro kalkulie-
sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. ren Sie als eine höhere Strafzahlung der Bundesagentur
Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) für Arbeit ein, obwohl diese im Moment im ersten Ar-
Sie brauchen nicht meiner Meinung zu sein, aber kom- beitsmarkt nachweislich enorme Vermittlungserfolge
men Sie vom Sockel herunter! Das steht Ihnen nicht gut hat. Das sind zusammen Risiken von 8 Milliarden Euro.
zu Gesicht. Ihren Humor finde ich in Ordnung, aber (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Als Nächstes
nicht diese Überheblichkeit. fordern Sie, die Mehrwertsteuererhöhung aus-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Jetzt ist er sauer auf zusetzen!)
fünf Jahre!) Die passen nicht zu der vom Finanzminister eigentlich
Ich komme zum Haushalt 2007. Ich möchte in meiner proklamierten neuen Ehrlichkeit und Seriosität in der
Rede auf fünf Punkte eingehen. Beginnen wir mit dem Haushaltsplanung.
Haushalt 2007 selbst. Auf den ersten Blick hat er zumin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dest eine bessere Kennzahl als der Haushalt 2006; denn
man will mit einer Neuverschuldung von 22 statt Neben der Nettokreditaufnahme von 22 Milliarden
38 Milliarden Euro auskommen. Auf den zweiten Blick Euro gibt es also Risiken von 8 Milliarden Euro und
stellt man fest: Das zeugt noch nicht davon, dass jetzt – von Ihnen selbst zugestanden – Einmaleffekte von
wirklich eine ausreichende Konsolidierung begonnen 16 Milliarden Euro. Addieren Sie das doch einmal!
wird. Einer Absenkung um 16 Milliarden Euro bei der Trotz einer massiven Steuererhöhung von über 20 Mil-
Nettokreditaufnahme stehen 20 Milliarden Euro an Steu- liarden Euro haben Sie weiterhin ein strukturelles Defizit
ermehreinnahmen gegenüber. Das ist nun wirklich kein von ungefähr 46 Milliarden Euro. Das zeugt wirklich
Konsolidierungskunststück. nicht von einer soliden Haushaltspolitik und einem Auf-
bruch hin zur Konsolidierung. Das ist haushaltspoliti-
Was Sie machen, ist einnahmefixiert. Herr Poß, ge- scher Stillstand bei – zugegeben – günstigen wirtschaft-
(B) rade in Zeiten guter wirtschaftlicher Rahmenbedingun- (D)
lichen Rahmenbedingungen.
gen muss man mehr für den Haushalt tun; da darf man
nicht nur einnahmeseitig konsolidieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP)
(Joachim Poß [SPD]: Das machen wir ja auch
nicht!) Ich möchte in einem zweiten Punkt auf die Finanz-
planung eingehen. Die Finanzplanung vermittelt viel-
Jetzt ist die Gelegenheit, wirklich weitere Reformmaß- leicht auch einen ehrlicheren Eindruck von der Qualität
nahmen zu ergreifen. der Haushaltspolitik. Zugegebenermaßen kann man
Ich sage das vor dem Hintergrund, dass wir beide Haushalte nicht jährlich brutal umsteuern.
doch wissen, wovon wir reden. Rot-Grün – das hat Herr Da muss man ganz nüchtern Folgendes sehen: Es
Meister zu Recht gesagt – hat im Jahr 2000 in einem gibt, wie gesagt, erhebliche Steuermehreinnahmen. Nach
Zeitfenster mit günstiger wirtschaftlicher Entwicklung in der Finanzplanung bis zum Jahr 2010 steigen die Zahlen
der Tat nicht mit den notwendigen arbeitsmarktpoliti- bei der Alterssicherung von 96 auf 103 Milliarden Euro
schen Reformen begonnen. und die Zinsen von 37,6 auf 44,8 Milliarden Euro. Wenn
(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des man auf die andere Seite blickt, einmal nicht auf die al-
Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]) ten Verpflichtungen, sondern in die Zukunft schaut, stellt
man fest: Die Investitionen stagnieren bei 23,3 Milliar-
Rot-Grün hat erst später mit den notwendigen arbeits- den Euro. Bei Bildung und Forschung gibt es von 2006
marktpolitischen Reformen begonnen, aus denen jetzt auf 2007 einen Schub, aber ab 2007 stagnieren die Aus-
eine gewisse Reformdividende zu verzeichnen ist. gaben dafür bei 13,1 Milliarden Euro. Daran kann man
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo waren Sie sehen: Die notwendige Umsteuerung zu einer stärkeren
da eigentlich, Frau Hajduk?) Ausrichtung auf Zukunftsfähigkeit, auf Zukunftsinvesti-
tionen ist der großen Koalition bislang nicht gelungen;
Die Blockade in der großen Koalition nun ist aber wirk- eine solche Umsteuerung ist aus diesem Finanztableau
lich ein Problem für das Land. Sie tun weitaus zu wenig. schlicht und ergreifend nicht abzulesen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) und bei der FDP)
Ich möchte das am Haushalt 2007 belegen. Da gibt es Herr Poß, Sie haben darauf hingewiesen, dass die
zum einen eine Neuverschuldung von 22 Milliarden Nettokreditaufnahme stark abgesenkt werde. Haben Sie
4392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Anja Hajduk
(A) auch einmal in die Finanzplanung gesehen? Die Netto- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut (C)
kreditaufnahme bleibt fast stetig auf dem Niveau – ich zugehört!)
will das gerne noch einmal nachschauen und vorlesen –
von 20 Milliarden Euro. sondern auch darüber hinaus von der CDU/CSU als Ziel
nicht verfolgt werde.
(Joachim Poß [SPD]: Ja, das weiß ich!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)
Als Rot-Grün regiert hat, haben wir Finanzplanungen
aufgelegt, in denen die Nettokreditaufnahme gesenkt – Sie sagen „sehr gut“; da haben wir den Beweis. – Das
wurde. Damals haben wir versucht, in den 10-Milliar- steht diametral dem entgegen, was Herr Steinbrück ge-
den-Euro-Korridor zu kommen. sagt hat, nämlich dass er sich eine deutliche Tarifsen-
kung bei der Unternehmensteuer zutraue.
(Joachim Poß [SPD]: Das ist in der Realität
leider nicht eingetreten!) Das wollen wir Grünen erst einmal gar nicht infrage
stellen.
In unserer Situation, in der in ungefähr zehn, zwölf,
13 Jahren die demografische Spitzenbelastung in den öf- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist ei-
fentlichen Finanzen erreicht wird, sollte eine seriöse, gentlich mit dem Steuerkonzept von Frau
langfristige Politik einen Haushaltsausgleich suchen; Scheel passiert, Frau Hajduk? Sagen Sie doch
von mir aus ruhig über eine Strecke von sechs Jahren. mal, was in dem Steuerkonzept von Frau
Bei Ihnen sieht man keine Bewegung in diese Rich- Scheel steht!)
tung. – Jetzt muss Herr Schneider richtig die Zähne auf- Wir wollen aber dann den Nachweis haben, dass die Ver-
einander beißen, weil er mir an dieser Stelle am liebsten schiebung von Gewinnen und damit auch von Arbeits-
Applaus geben würde. plätzen ins Ausland nicht weiter subventioniert wird,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weil wir nicht die Kraft haben, die Privilegierung der
und bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ Kreditfinanzierung in Deutschland wirklich einzugren-
CSU]: Er klatscht in der Regel mit den Hän- zen. Da sind Sie zutiefst gespalten.
den, Frau Kollegin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte neben der Finanzplanung aber noch auf Das hat Folgen für die Haushaltsplanung ab 2008. Wenn
einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, der die Sie nämlich erneut einen faulen Kompromiss machen,
Haushaltssituation, in der wir uns befinden, in Zukunft werden wir in der Finanzplanung wieder Haushaltslö-
sehr negativ belasten wird: Das ist schlicht und ergrei- cher haben, die diese wirklich nicht mehr verträgt.
(B) fend die große Koalition selbst. Ich komme zu einem weiteren Thema: Arbeits- (D)
(Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!) marktpolitik. Tiefer gespalten ging es am Ende der
Sie sind bei den großen Reformthemen zutiefst gespal- Haushaltsberatungen auch bei diesem Thema kaum. Die
ten. Ole von Beust, CDU/CSU hat eine Haushaltssperre bei den Fördermit-
teln für den schwierigen Bereich der Langzeitarbeits-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Guter Mann! losen, beim Arbeitslosengeld II, erzwungen. Diese
Hohe Zustimmung!) Sperre hat die CDU/CSU durchgesetzt.
der Bürgermeister meiner Heimatstadt, hat unlängst in (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Überschät-
einem Interview gesagt, Unternehmensteuer, Arbeits- zen Sie unseren Einfluss nicht!)
marktpolitik und Gesundheit, das seien die Reform-
themen, die jetzt anstünden. Heute Morgen wurden dann 200 Millionen Euro wieder
entsperrt. Das ist zu wenig, aber schon einmal ein Schritt
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da hat er in die richtige Richtung. Die SPD hat, obwohl sie eine
Recht!) andere Arbeitsmarktpolitik gewollt hätte, bei der das
Fördern, gerade bei den Langzeitarbeitslosen, von vorn-
Man musste nur die heutige Debatte zur Unternehmen- herein nicht infrage gestellt wird, die Pille einer Haus-
steuer verfolgen, um zu sehen, was hier eigentlich los haltssperre schlucken müssen, damit die CDU/CSU ihr
ist. Herr Poß, zu wem haben Sie eigentlich gesprochen, Gesicht wahren kann.
als Sie dafür geworben haben, die Bemessungsgrundlage
zu erweitern? Ich hatte den Eindruck, Sie haben zur Das, was ich hier schildere, ist nicht irgendein haus-
Union gesprochen. haltstechnisches Problem. Diese Haushaltssperre seit
Ende Juni hat in den Arbeitsgemeinschaften, zum Bei-
(Joachim Poß [SPD]: Das habe ich nicht spiel in Mecklenburg-Vorpommern jenseits von
verhehlt!) Rostock, zu einem totalen Einstellen der Vermittlungstä-
Denn Herr Meister hat, wie man feststellen konnte, wenn tigkeit geführt.
man gut zugehört hat, deutlich gemacht, dass die CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
CSU im Grunde weiterhin ihr Ziel verfolgt, die Gewer-
besteuer auszuhöhlen. Er hat hier deutlich gesagt, dass Das ist ein absoluter Widerspruch zu dem Konzept vom
die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage nicht mach- Fördern und Fordern. Das war nicht nur eine haushalts-
bar sei, nicht etwa nur mit Blick auf die Körperschaft- technische Sperre, die der Gesichtswahrung der Union
steuer, diente, sondern ein Tritt gegenüber den Leuten, die in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4393
Anja Hajduk
(A) den Arbeitsgemeinschaften Vermittlungserfolge erzie- Ich kann Ihnen nur sagen: Auf die Menschen kommt (C)
len wollen, und gegenüber den Arbeitslosen, die davon am 1. Januar 2007 eine ganze Menge zu.
betroffen sind. Da sieht man: Diese Spaltung der Koali-
tion ist nicht gut fürs Land. (Jürgen Koppelin [FDP]: Knüppeldick!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Bild, das Sie hier abgeben, dass die große Koalition
wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs vielleicht noch
Jetzt komme ich zu dem ganz schweren Thema der nicht die Sektkorken knallen lassen möchte, sich aber
großen Koalition: schon in diesem Erfolg sonnt, steht in einem krassen
Missverhältnis zu der Belastung, die am 1. Januar die
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist der Minister Arbeitnehmer und die Arbeitgeber treffen wird.
selbst!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ist die Gesundheitsreform. sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ach so!) KEN)
Sie bildet sich in einem sagenhaften Widerspruch in die- Mit den Steigerungen, die ich genannt habe, kommt
sem Haushalt ab. Da hat der Herr Steinbrück mich noch man auf einen Rentenversicherungsbeitrag von 19,9 Pro-
kritisiert, ich solle doch nicht so positiv über die zukünf- zent und auf einen Krankenversicherungsbeitrag von
tige Steuerfinanzierung in der Gesundheit reden; sie über 14 Prozent – sagen wir einmal 14,5 Prozent; das ist
würde – das steht auch in den Unterlagen, die wir zu den noch konservativ geschätzt. Wenn man diese Zahlen ein-
Haushaltsberatungen bekommen haben – ab 2008 end- mal ganz einfach zusammenrechnet und sieht, dass Sie
gültig abgeschafft und in 2007 gäbe es nur noch die Arbeitslosenversicherung zwar auf 4,5 Prozent ab-
1,5 Milliarden Euro. Und was ist dann? Nachdem Sie senken, aber die Pflegeversicherung bei 1,7 Prozent plus
diese Kritik geübt haben, ist eine knappe Woche später x steht, dann wird jedem Menschen, der der Addition fä-
von der großen Koalition beschlossen worden: Ab 2008 hig ist, klar: Das Ziel, die Lohnnebenkosten unter
gibt es wieder Steuergeld in Höhe von 1,5 Milliarden 40 Prozent zu drücken, ist komplett aufgegeben.
Euro (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blödsinn!)
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das Ich frage mich: Wo ist eigentlich der Wirtschaftsminis-
war ganz gezielt für einen bestimmten Zweck ter?
und nicht pauschal!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und ab 2009 in Höhe von 3 Milliarden Euro – nur mit
(B) dem Unterschied, dass das in der Finanzplanung nicht Das Ziel von unter 40 Prozent Lohnnebenkosten ist auf- (D)
berücksichtigt ist und dass Herr Steinbrück immer noch gegeben. Das kann man, wie gesagt, leicht nachweisen.
mit den alten Einsparzielen, die Ausgaben in der Ge- Dazu ist in dieser Debatte von Ihnen gar nichts gesagt
sundheit zurückzuführen, herumläuft. Das ist ein kom- worden.
pletter Widerspruch. Was soll denn die Öffentlichkeit da-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben of-
von halten, dass Sie innerhalb einer Woche bei so einem
fensichtlich nicht zugehört!)
grundlegenden Reformthema – mehr oder weniger Steu-
erfinanzierung in den sozialen Sicherungssystemen – Das spricht nicht für Selbstkritik und Ehrlichkeit, die Sie
völlig richtungslos auseinander laufen? Man sieht es also gebrauchen könnten.
auch bei der Gesundheitsreform: Die große Koalition ist
tief zerstritten. Es ist bis heute noch nicht absehbar, was Ich komme zu grünen Alternativen und Vorschlä-
am 1. Januar 2007 gelten soll. gen. Ich will hier nur einen Punkt nennen; alles andere
wird noch im Prozess der Haushaltsberatung dazukom-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men. Der Vorschlag, den wir machen – das sage ich ganz
sowie bei Abgeordneten der FDP) deutlich an die Vorredner aus der SPD gerichtet –, ist
folgender: Wenn man auf die Mehrwertsteuererhö-
Auf den 1. Januar 2007 muss ich als Nächstes kom- hung nicht verzichten will, dann sollte man zumindest
men. Ich habe das vielleicht nicht ganz richtig ausge- darauf verzichten – das halten wir für unablässig –, sie
drückt: Was ab dem 1. Januar 2007 gelten wird, das ist mit einem abrupten Schlag um 3 Prozentpunkte zu erhö-
ziemlich klar und entfaltet schon jetzt seine fatale wirt- hen. Das ist keine stetige Politik, das ist eine abrupte
schaftspolitische Wirkung. Ab dem 1. Januar 2007 wer- Politik, die zu Verwerfungen führt. Wenn man es anders
den wir eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent- machte, etwa indem man die Erhöhung über drei Jahre
punkte haben. Dazu kommt für die Menschen eine streckt somit die Mehrwertsteuer jahresweise um
Beitragssatzsteigerung um 0,4 Prozentpunkte bei der 1 Prozentpunkt anhebt und diese Erhöhung verlässlich
Rente. Dann kommt bei den Krankenkassenbeiträgen und nachweisbar komplett in die Senkung der Lohnne-
eine Steigerung um nicht nur 0,5 Prozentpunkte, wie ich benkosten steckt, dann hielte ich das langfristig für eine
im Frühjahr noch bescheiden gedacht habe. Nein, keiner viel erfolgreichere und bessere Strategie – nicht nur für
stellt mehr in Abrede, dass im Januar 2007 die Kranken- den Arbeitsmarkt, sondern auch für den Haushalt. Da ge-
kassenbeiträge um mehr als 1 Prozentpunkt steigen müs- ben uns viele Wirtschaftsinstitute und Experten Recht.
sen. Außerdem besteht auch das Risiko – das habe ich
noch gar nicht erwähnt – einer Beitragssatzsteigerung in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
der Pflegeversicherung. Joachim Poß [SPD]: Aber Sie wissen doch,
4394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Anja Hajduk
(A) dass das aus Sicht der Länderhaushalte und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
des Bundeshaushaltes nicht ausreicht!) neten der SPD)
Wir schlagen ganz konkret eine Priorität für mehr Be-
schäftigung, Herr Poß, und nicht für die Sanierung der Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Haushaltslöcher bei Bund und Ländern vor. So ist es Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
richtig. Herren! Ich bin durch die Rede meiner Vorrednerin et-
was irritiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Joachim Poß [SPD]: Sie wissen es doch bes- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
ser!) Ulrike Flach [FDP]: Wäre ich auch!)
Wir wollen die Einnahmen aus dem ersten Mehrwert- Noch vor weniger als einem Jahr waren die Grünen als
steuerpunkt zusammen mit den strukturellen Überschüs- Regierungspartei für all das, was in diesem Haus be-
sen der BA konsequent für die Absenkung der Lohn- schlossen worden ist, mitverantwortlich. Innerhalb weni-
nebenkosten im Niedriglohnbereich vorsehen. Wir ger Wochen halten Sie Reden, bei denen man den Ein-
haben ein Progressivmodell entwickelt, mit dem die druck haben kann, dass Sie an keinen Entscheidungen,
Lohnnebenkosten im Niedriglohnbereich bis 1 800 Euro die nach dem Zweiten Weltkrieg im Bundestag oder in
stark gesenkt werden können. Dieses Geld fließt also an den Landtagen getroffen worden sind, in irgendeiner
die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber zurück. Das wäre Form beteiligt waren. Ich muss ganz ehrlich sagen:
eine intelligente Politik. Einen so hemmungslosen Populismus, eine so verant-
wortungslose Art und Weise der politischen Auseinan-
Wir bemühen uns, Ihnen diese Alternative schmack- dersetzung verschlägt selbst mir die Sprache.
haft zu machen. Sie können uns nicht unterstellen, dass
wir rigoros und stur gegen Ihre Politik sind. Ich erwarte (Beifall bei der CDU/CSU)
von Ihnen, dass Sie sich mit solchen Vorschlägen kon-
Frau Hajduk, wo waren Sie eigentlich, als vor einem
struktiv auseinander setzen. Sie selber haben ja schon
Jahr beispielsweise der Etatentwurf der damaligen Re-
ein bisschen Sorge, was am 1. Januar 2007 sonst passie-
gierung nicht mehr beschlossen, sondern im damaligen
ren wird.
Kabinett lediglich zur Kenntnis genommen worden ist?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie fordern hier, der Bundesfinanzminister möge uns
keine oberlehrerhaften Ratschläge geben.
Ich komme zum Schluss. Es wurde hier viel davon
gesprochen, dass das Vertrauen der Bevölkerung nötig (Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr gut!)
(B) ist, dieses Vertrauen gerechtfertigt werden muss und Sie Aber Sie waren vor einem Jahr in der Regierung. Heute (D)
als große Koalition dieses Vertrauen angeblich schaffen
könnten. Ich muss Ihnen sagen: Ihr selbst gesetzter An- tun Sie so, als ob Sie alles besser wissen. Wo waren Sie
spruch der Stetigkeit in Ihrer Politik ist mit Blick auf die eigentlich vor einem Jahr?
abrupte Mehrwertsteuererhöhung nicht zu rechtfertigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die versprochene Verlässlichkeit und Berechenbarkeit
Ihrer Politik ist mit dem Chaos bei der Gesundheitsre- Und da blasen Sie sich hier so kräftig auf!
form überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Auch fin- (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)
den sich im Haushalt keine realistischen und vorsichti-
gen Annahmen im Hinblick auf die Kosten beim Ich gewinne langsam den Eindruck, dass die Verbes-
Arbeitsmarkt wieder. Nach zehn Monaten haben die serung der Situation in Deutschland im Wesentlichen
Menschen deswegen das Vertrauen in die große Koali- damit zusammenhängt, dass die Grünen keine Regie-
tion verloren. rungsverantwortung mehr tragen. Das scheint mir im
Vergleich zur Situation vor einem Jahr eine qualitativ
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
wirklich positive Veränderung zu sein.
Frau Kollegin! (Beifall bei der CDU/CSU)
Die Herangehensweise unseres Koalitionspartners,
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Sozialdemokraten, die gemeinsam mit uns einen
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. – Kassensturz gemacht, in schonungsloser Offenheit ge-
Der Sommer hat gezeigt: Die Politik ist zwar von der sagt haben, was notwendig ist, und unangenehme Ent-
Profilsuche der Partner der großen Koalition geprägt, scheidungen getroffen haben, ist der ehrlichere Weg als
aber nicht von der Suche nach Lösungen für Reformen. der opportunistische der Grünen. Die Erfolge dieses
Das hat das Land wahrlich nicht verdient. Richtungswechsels in der Haushaltspolitik lassen sich
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE bereits am laufenden Etat ablesen.
GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der Während in der Zeit, als die Grünen Verantwortung
FDP) getragen haben, alle Prognosen nach unten gewiesen ha-
ben, werden wir aller Voraussicht nach im Etat des lau-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fenden Jahres bei den Einnahmen nicht nur im Vergleich
Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/ zur Steuerschätzung, sondern auch im Vergleich zu den
CSU-Fraktion. Ansätzen im Etat um 3 bis 4 Milliarden Euro besser ab-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4395
Steffen Kampeter
(A) schneiden. Wir haben erste Konsolidierungsmaßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
eingeleitet und ein Haushaltsbegleitgesetz der „doppel- neten der SPD)
ten Tonlage“ verabschiedet und schon stellen sich gute
Nachrichten ein. Das zeigt doch, dass sich diese Haus- Die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Stand-
haltspolitik wesentlich von der Haushaltspolitik unter- orts Deutschland hat sich verbessert. Ich will ausdrück-
scheidet, für die Sie, Frau Hajduk, mit die Verantwor- lich festhalten, dass die Tarifvertragsparteien durch
tung übernommen haben. moderate Abschlüsse einen wesentlichen Anteil daran
haben. Es ist erfreulich, dass wir erstmals seit langem ei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen Aufschwung haben, der auch von der Binnennach-
frage, das heißt von der Zuversicht der Menschen in die-
Diese verbesserte finanzpolitische Lage des sem Land – nicht nur in den Unternehmen, sondern auch
Jahres 2006 ist auch Ursache dafür, dass wir heute Mor- in den Privathaushalten –, getragen wird. Diesen
gen bei der Arbeitsmarktpolitik in einer Größenord- Schwung wollen wir in das Jahr 2007 mitnehmen. Alle
nung von 230 Millionen Euro nachsteuern konnten. Wir diejenigen, die noch vor wenigen Monaten in Pessimis-
haben erst fleißig konsolidiert, damit wir das Geld, über mus gemacht haben, was die Steuerpolitik angeht, und
das wir verfügen, dafür verwenden, was nötig ist. Des- einen Konjunktureinbruch für das Jahr 2007 prognosti-
wegen glaube ich, dass nicht nur der Haushalt 2006, son- ziert haben, schweigen jetzt. Nationale wie auch interna-
dern auch der Haushaltsentwurf für 2007 – das ist der tionale Experten sagen, dass sich dieser Aufschwung im
erste Haushalt, den die Koalition vollständig zu verant- nächsten Jahr fortsetzen wird. Wir haben ein solides
worten hat – uns auf dem Weg der Konsolidierung vor- wirtschaftliches Wachstum.
anbringen.
Wir verschweigen den konjunkturdämpfenden Effekt
Erstens. Erstmals wird die in der Verfassung vorgese- der Mehrwertsteuererhöhung nicht. Sie bleibt aber
hene Regelgrenze bei der Neuverschuldung im Entwurf notwendig und ist ohne Alternative. Sie ist mit dem Auf-
eingehalten; die Nettokreditaufnahme geht um 16 Mil- schwung kompatibel. Das halte ich für eine gute Bot-
liarden auf 22 Milliarden Euro zurück und liegt damit schaft.
um 1,5 Milliarden Euro unter dem Investitionsvolumen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Zweitens. Erstmals seit vier Jahren wird das neten der SPD)
Maastrichtkriterium wieder sicher erreicht werden.
Das wird aller Voraussicht nach schon in diesem Jahr der Ich habe gesagt: Der Kurs stimmt. Die Aufgabe ist
Fall sein. aber noch nicht erledigt. Deswegen gehört zu dem Bild,
das wir heute, am Beginn der Haushaltsdebatte, zeichnen
(B) (Zuruf von der FDP: Aber wie?) müssen, auch, dass der Bundeshaushalt selbstverständ- (D)
Das stellt einen Unterschied zu den vergangenen Jahren lich ein Sanierungsfall bleibt.
dar. Es mag vielleicht auch eine kleine Bürde sein, weil Wenn ein Unternehmen jedes Jahr einen Verlust in
wir in den nächsten Schritten – der Kollege Meister hat Höhe von ungefähr einem Viertel seines Umsatzes
es deutlich gesagt – in Richtung ausgeglichener Etat macht, wird jeder dort Beschäftigte, auch ein Mitglied
marschieren. Dies ist das Ziel der großen Koalition. der Geschäftsführung oder des Betriebsrates, sagen: Un-
Schließlich drittens. Die Staatsquote sinkt; die Inan- ser Unternehmen befindet sich in einer schwierigen
spruchnahme des Bürgers durch den Staat wird erheblich Lage, es ist ein Sanierungsfall. Seit Mitte der 90er-Jahre,
weiter zurückgeführt. Wir werden am Ende dieser Legis- mit wechselnden politischen Mehrheiten, weist der Bun-
laturperiode eine Staatsquote haben, die wir zuletzt vor deshaushalt ein strukturelles Defizit auf, weil große
der Wiedervereinigung hatten. Teile unserer Ausgaben nicht durch dauerhafte Einnah-
men gedeckt sind.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Wir in der Union sind der Auffassung, dass wir mit
dem Haushalt, solange er nicht ausgeglichen ist, nicht
Bei diesem Konsolidierungskurs helfen uns – es ist zufrieden sein können. Die Sanierungsaufgabe bleibt
wichtig, das festzustellen – gute wirtschaftliche Rah- also bestehen.
menbedingungen. Die konjunkturelle Aufwärtsbewe-
gung der deutschen Wirtschaft hat im laufenden Jahr (Joachim Poß [SPD]: Richtig!)
deutlich an Kraft gewonnen; der konjunkturelle Knoten Der Bundeshaushalt ist eine Sanierungsaufgabe für uns
ist geplatzt. Wir verzeichnen das stärkste Wachstum seit alle.
fünf Jahren. Michael Glos hat geradezu prophetisch
schon Anfang des Jahres die Werte bei etwa 2 Prozent (Joachim Poß [SPD]: Die Länderhaushalte
gesehen; jetzt sprechen alle wirtschaftswissenschaftli- auch!)
chen Forschungsinstitute von einem Wachstum von Dieser Aufgabe werden wir uns in dieser Legislatur-
mehr als 2 Prozent. Damit gibt es zum ersten Mal seit periode engagiert stellen. Für Entwarnung gibt es – weiß
vielen Jahren ein Wachstum auch der deutschen Wirt- Gott! – keinen Grund. Wir müssen den Sparkurs fortfüh-
schaft. 426 000 Arbeitslose weniger und 129 000 sozial- ren.
versicherungspflichtig Beschäftigte mehr sprechen eine
sehr konkrete Sprache. Dies sind die Anzeichen einer so- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
liden wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land. neten der SPD)
4396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Steffen Kampeter
(A) Ziel der Union ist in diesem Zusammenhang, die offen anspricht, um die Begehrlichkeiten bezüglich des (C)
Kreditaufnahme des Bundes im Laufe der Legislatur- Etats gering zu halten.
periode unter die 20-Milliarden-Euro-Grenze zu senken.
Dazu bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, insbeson- Die Vorgaben des Art. 115 des Grundgesetzes halten
dere auf der Ausgabenseite. Wir wollen eines zurückge- wir ein – um anderthalb Milliarden Euro –; das habe ich
winnen: das Vertrauen der Menschen in die Finanz- und bereits ausgeführt. Das ist nicht die Welt und zeigt, dass
Haushaltspolitik dieses Landes. Die ersten Signale gibt wir hier noch nachbessern und Vorsorge treffen können.
es schon: steigendes Verbrauchervertrauen und steigen- Es ist offen angesprochen worden, dass es erhebliche
des Investorenvertrauen. Es muss jedoch deutlich wer- Meinungsunterschiede im Haus hinsichtlich der Ent-
den: Das sind keine Eintagsfliegen, vielmehr muss die wicklungen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Wir teilen nicht
Konsolidierung nachhaltig und generationengerecht die pessimistische Sicht der Dinge, aber wir sind der
sein. Deswegen werden wir auf diesem Kurs gemeinsam Meinung, dass wir uns in den Haushaltsberatungen sehr
mit unserem Koalitionspartner weiter voranschreiten. intensiv mit allen Titeln der Arbeitsmarktpolitik – so-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wohl auf der Einnahme- als auch auf der Ausgaben-
neten der SPD) seite – auseinander setzen müssen.
Wir wollen keine Wunschlisten anlegen und keine Zweifelsohne ist das falsch, was Bündnis 90/Die Grü-
voreiligen Schlüsse ziehen. Eine Schwalbe macht noch nen hier vorgetragen haben. Sie sprachen davon, dass es
keinen Frühling. um 8 Milliarden Euro Mehrbedarf geht. Zweifelsohne
richtig bleibt aber, dass wir uns diese Titel sehr genau
(Zurufe von der SPD: Sommer!) anschauen müssen. Das ist insbesondere vor dem Hinter-
Die Konsequenz und Beharrlichkeit bei den beschlosse- grund nötig, dass die Unionsfraktion gemeinsam mit der
nen Maßnahmen zeigen die entsprechende nachhaltige SPD beabsichtigt, noch in diesem Jahr Vorschläge dazu
Stärkung der Auftriebskräfte. zu machen, wie wir die Gerechtigkeitslücke in der Ar-
beitsmarktpolitik weiter schließen können. Die Gerech-
Ich begrüße ausdrücklich, Herr Finanzminister, dass tigkeitslücke in der Arbeitsmarktpolitik entsteht, wenn
Sie festgestellt haben, dass der Löwenanteil an den wir Geld nicht für das ausgeben, wofür die Steuerzahler
Mehreinnahmen 2006 zur Senkung der Nettokreditauf- es einsetzen wollen. Es ist aber gleichermaßen unge-
nahme verwendet wird. Die Union ist der Auffassung, recht, arbeitsmarktpolitische Mittel mit der Gießkanne
dass der Löwe ebenso wie der Löwenanteil ziemlich zu verteilen. Arbeitsmarktpolitische Mittel müssen die-
groß sein muss. Die Formulierung lässt ein kleines Hin- jenigen erreichen, die tatsächlich bedürftig sind, die die
tertürchen. Die Löwen der Union, insbesondere die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen müssen. Nach un-
(B) bayerischen, sind ausgesprochen groß. Das sollten Sie serer Auffassung besteht auf diesem Gebiet eine erhebli- (D)
zur Kenntnis nehmen. che Gerechtigkeitslücke.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich will noch ein Wort zur Situation der Bundesagen- Diese Gerechtigkeitslücke wollen wir beispielsweise
tur für Arbeit sagen. Wir haben in der Debatte deutlich durch die Effektivierung der arbeitsmarktpolitischen
herausgearbeitet, dass der Überschuss nachhaltig und so- Instrumente schließen. Im steuer-, wie im beitragsfinan-
lide ist. Das war die Voraussetzung dafür, dass man über zierten Bereich gibt es 70 bis 80 arbeitsmarktpolitische
Beitragsabsenkungen nachdenken kann. Wir von der Instrumente. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Arbeits-
Union sind der Auffassung: Der nachhaltige Anteil des marktpolitik gerecht sein kann, wenn sie mit einer
Überschusses sollte frühestmöglich zur weiteren Absen- solchen Vielzahl bürokratischer und wenig effektiver
kung der Sozialversicherungsbeiträge verwandt werden. Instrumente vollzogen wird.
Hier sehen wir noch Spielräume. Ich denke, wir befinden
uns darüber seit einigen Tagen in einem guten Gespräch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich hoffe, dass wir relativ rasch zum Abschluss der Ge-
Ich glaube, wir sollten insbesondere auf diesem Gebiet
spräche kommen werden. Dies ist insbesondere vor dem
Einsparpotenziale suchen, und zwar ohne die Betroffe-
Hintergrund wichtig, dass wir in niedrigen Sozialversi-
nen – Herr Poß, Sie haben das angesprochen – mit Leis-
cherungsbeiträgen, mehr Wachstum und mehr Haus-
tungskürzungen zu konfrontieren. Die Notwendigkeit
haltseinnahmen einen sinnvollen Beitrag zur Konsolidie-
von Leistungskürzungen kann man leicht in Abrede stel-
rung sehen. Die Union ist für weitere Gespräche
len. Ich glaube, die Effektivierung arbeitsmarktpoliti-
ausgesprochen offen.
scher Instrumente kann in diesem Zusammenhang eini-
(Beifall bei der CDU/CSU) ges bringen.
Folge des Klimawechsels in diesem Hause ist, dass Ein weiteres Haushaltsrisiko besteht im Bereich der
auch über Haushaltsrisiken nicht nur von der Opposi- Zinsen. Wir haben in den vergangenen Jahren – darüber
tion, sondern sogar noch intensiver von der Regierungs- will ich offen reden – von der Niedrigzinspolitik profi-
koalition gesprochen wird. Für Entwarnung ist aber noch tiert und sie stillschweigend zur Kenntnis genommen.
nicht die richtige Zeit, das will ich deutlich machen. Na- Jetzt gibt es eine muntere Debatte über Zinserhöhungen.
türlich sehen wir uns Haushaltsrisiken gegenüber. Ich Die Unabhängigkeit der Notenbanken stellen wir nicht
bin der Auffassung, dass man eine Regierung auch da- infrage. Im Koalitionsvertrag kann ich keine Stelle ent-
durch unterstützen kann, dass man die Haushaltsrisiken decken, aus der das abgeleitet werden könnte.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4397
Steffen Kampeter
(A) (Beifall der CDU/CSU und der FDP – Anja len die Risiken – ich habe einen Teil davon benannt; (C)
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege Poß sprach die auswärtige Politik an –, beherr-
Steinbrück hat sich dazu geäußert!) schen. Wir wollen einen soliden Etat beraten. Ende No-
vember wollen wir mit gutem Gewissen sagen können:
Ich will all denjenigen, die sich zu der Fragestellung, wie
Das ist das, was möglich ist. Das ist solide. Das ist unser
sich die Zinsen zukünftig entwickeln, äußern, raten: Die-
Beitrag für eine gute Zukunft dieses Landes.
ses Thema kann man in das Nachtgebet einbeziehen; bei
öffentlichen Verlautbarungen wäre ich zurückhaltend. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das hat doch aber der Finanzminister ge- Vizepräsidentin Petra Pau:
macht!) Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms
für die FDP-Fraktion.
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens. Wir stehen zur
Aufgabenteilung zwischen der Politik, die die strukturel- (Beifall bei der FDP)
len Anpassungen vornehmen soll, und der Notenbank,
die für die Geldpolitik zuständig ist. Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
der FDP) Herren! Ich will eines vorausschicken: Die FDP freut
sich genauso wie die Bundesregierung über die leichte
Zweitens habe ich nicht den Eindruck, dass Mäßigungs- konjunkturelle Erholung, die wir gegenwärtig erleben
appelle an die Zentralbank produktiv sind. Um es kon- können.
kret zu sagen: Ich vermute, dass öffentliche Appelle eher
kontraproduktiv sind. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stärkstes Wachs-
tum seit fünf Jahren, Herr Solms!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Das ist eine Freude für uns alle. Es ist aber nicht so, dass
das auf das Handeln dieser Bundesregierung zurückzu-
Das heißt: Wenn man niedrige Zinsen haben möchte, führen wäre. Das wäre ein gewaltiger Trugschluss.
dann sollte man zu diesem Thema besser schweigen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wir haben klare Ziele für die Haushaltsberatungen im der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Jahre 2007. Die Union steht gemeinsam mit ihrem Part- GRÜNEN)
ner für seriöse Finanzen. Nachdem in den vergangenen
vier Jahren gegen die Maastrichtkriterien verstoßen Man kann geradezu sagen: Die konjunkturelle Erholung
(B) findet trotz dieser Bundesregierung statt. (D)
wurde, wollen wir sie nicht nur 2006, sondern auch in
den Folgejahren – bis wir einen ausgeglichenen Haushalt (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des
haben und darüber hinaus – einhalten. Wir wollen einen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verfassungskonformen Bundeshaushalt. Das heißt,
die Höhe der Investitionen muss deutlich über der Höhe Denn sie ist auf eine Politik der Verbesserung der Ange-
der Nettokreditaufnahme liegen. Mehr Forderungen an botsbedingungen in den letzten Jahren zurückzuführen.
den Etat können vor diesem Hintergrund nicht realisiert Die wesentlichen Punkte dabei waren: die zurückhal-
werden. tende Politik der Tarifvertragsparteien,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das habe ich
Am Ende dieser Legislaturperiode – so die Forderung angesprochen, Herr Kollege!)
der Union – sollte die Neuverschuldung wieder deutlich die maßvolle Zinspolitik der Europäischen Zentralbank,
unter 20 Milliarden Euro liegen. Wir dürfen aufgrund
unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Steffen Kampeter (CDU/CSU): Auch ange-
Generationen bei der Nettokreditaufnahme nicht aasen, sprochen!)
sondern müssen sparsam sein. Die Grenze muss deutlich
aber auch die Politik der Steuersenkung der Vorgänger-
unterschritten werden.
regierung insbesondere bei der Einkommen- und Kör-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) perschaftsteuer.
Wir wollen die Staatsquote auf das Niveau von 1989 (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist
absenken, nämlich auf unter 44 Prozent. Wir glauben, unstrittig!)
dass die Entscheidung, wofür Geld ausgegeben wird,
In diesem Zusammenhang, Herr Finanzminister
eher beim Bürger als beim Staat liegen sollte. Wir glau-
Steinbrück, möchte ich in Erinnerung rufen: Als die alte
ben, dass dieser Grundsatz vor allem für die Ausgaben-
bürgerliche Koalition eine grundsätzliche Steuerreform
seite gelten sollte. Wenn ich mir die mittelfristige
auf den Weg gebracht hat – Stichwort: Petersberger
Finanzplanung anschaue, dann stelle ich fest, dass wir
Beschlüsse –, hat die SPD-Opposition unter dem dama-
kein Einnahmeproblem haben.
ligen Parteivorsitzenden Lafontaine ihre Blockademög-
Wir werden an allen konstruktiven Beiträgen zur Aus- lichkeiten im Bundesrat genutzt. Die Steuerreform ist
gabensenkung, die von der Opposition und innerhalb der nicht zustande gekommen, obwohl sie im Bundestag
Koalition vorgelegt werden, gerne mitarbeiten. Wir wol- eine Mehrheit gefunden hatte. Damit ist viel Zeit
4398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): (Lothar Mark [SPD]: Das ist das Ergebnis der (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsverhandlungen! Das muss man ein-
Rede des Finanzministers und diese Debatte haben fach so sehen!)
ebenso wie die Worte von Herrn Schneider eindeutig ge- Sie begründen die Mehrwertsteuererhöhung immer
zeigt, dass der Haushalt 2007 die Agenda 2010 plus wieder mit den EU-Stabilitätskriterien und dem Haus-
Angela Merkel ist. Sie als große Koalition haben einige haltsdefizit. Wir alle wissen aber – Herr Meister hat es
Monate von der Hoffnung gelebt, dass jenseits macht- vorhin festgestellt –, dass die EU-Stabilitätskriterien in
politischer Blockaden die Lösung der großen Probleme diesem Jahr eingehalten werden. Das hat – das ist völlig
des Landes angegangen werden kann. Im Haushalt ist richtig – mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zu tun.
davon nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Die Blo- Den bringt aber niemand ernsthaft mit Ihrer Politik in
ckaden sind deutlich sichtbar. Verbindung. Das ist die Realität.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
In der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Von Ihrer Regierung geht vielmehr Gefahr für den Auf-
erklärt: schwung in Deutschland aus.
Wir müssen uns in jeder Generation neu besinnen, Sie haben die Mehrwertsteuererhöhung damit begrün-
was gerecht und was ungerecht ist. det, dass ein Prozentpunkt davon der Absenkung der
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zugute kom-
Das haben Sie völlig richtig gesagt. Ich will ausnahms-
men soll. Sie weigern sich aber, zur Kenntnis zu neh-
weise noch einmal die Kanzlerin zitieren:
men, dass der Überschuss der Bundesagentur für Arbeit
Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird. in diesem Jahr 9 Milliarden Euro beträgt. Ich stimme mit
Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache ver- Ihnen überein, dass die Einnahme aus dem 13. Monats-
kleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen. beitrag nicht angetastet werden sollte. Wie finden Sie
aber die Idee, das Vorhaben aus dem erzielten Über-
Da haben Sie etwas völlig Richtiges gesagt. Aber Sie schuss statt aus den Einnahmen der Mehrwertsteuererhö-
handeln ganz anders. hung um einen Prozentpunkt zu finanzieren? Es ist viel-
leicht nicht völlig abwegig, darüber zu diskutieren.
Ihre Maßnahmen gehen zulasten der sozial Schwä-
cheren und der wenig Vermögenden. Gerechtigkeit Beweisen Sie Ihre Lernfähigkeit! Tragen Sie der ver-
sieht anders aus. Wen treffen Sie denn mit der Kürzung änderten Realität Rechnung! Sie wissen doch, dass
des Sparerfreibetrages? Sie treffen eben diejenigen, de- durch die Mehrwertsteuererhöhung die Binnenkaufkraft
(B) nen das Sparen wirklich schwer fällt. Sie nehmen den (D)
abgeschöpft und der wirtschaftliche Aufschwung gefähr-
15 Millionen Pendlern durch die Kürzung der Pauschale det wird. Sie haben feststellen müssen, dass die Politik
richtig Geld weg. Das ist insbesondere für Ostdeutsch- nach dem Motto „Steuersenkung bei Unternehmen
land eine katastrophale Entscheidung. schafft Arbeitsplätze“ gescheitert ist, und zwar seit Jah-
ren.
Sie nehmen 450 000 jungen Erwachsenen durch die
Beschränkung des Kindergeldes bis zum 25. Lebensjahr Kehren Sie um! Steigern Sie die Binnenkaufkraft und
die finanziellen Mittel für ihren Lebensunterhalt. Im verzichten Sie auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer!
Kern finanzieren Sie Ihre Steuermehreinnahmen aus Verfahren Sie nicht nach dem untauglichen Motto „Wir
Einnahmen der einfachen Bürgerinnen und Bürger. Sie setzen den einmal als richtig erkannten Weg bis zum
nehmen den sozial Schwächeren. Wenn man dazu noch Ende fort“!
die Erhöhung der Beiträge bei den Krankenkassen und
zur Rentenversicherung rechnet, kann man nur sagen: (Beifall bei der LINKEN)
Das sind katastrophale Entscheidungen. Hinzu kommt, dass Sie zur gleichen Zeit über eine
Unternehmensteuerreform diskutieren, mit der auf
In besonderer Weise trifft das aber auf die fatalste
Steuereinnahmen von bis zu 22 Milliarden Euro verzich-
Entscheidung zu, die Sie getroffen haben: die Erhöhung
tet werden soll. Natürlich handelt es sich dabei um Steu-
der Mehrwertsteuer. Sie weigern sich vor allen Din-
ergeschenke, Herr Poß. Um was denn sonst? Die Idee
gen, Herr Steinbrück, neue Erkenntnisse, die nach dieser
stammt von einem SPD-Minister. Da würde sich man-
Entscheidung sichtbar geworden sind, zur Kenntnis zu
cher Sozialdemokrat im Grabe umdrehen.
nehmen. Ich will Sie alle daran erinnern, dass es noch
kein Jahr her ist – es war im Wahlkampf im vorigen (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Sie haben nichts
Jahr –, als Sie, Herr Steinbrück, und die Kolleginnen und mitgekriegt!)
Kollegen der SPD die Mehrwertsteuererhöhung gegei-
ßelt haben. „Merkelsteuer, das wird teuer!“ lautete Ihr Den Unternehmen, den Vermögenden, den Banken und
Slogan. Er war völlig richtig. Konzernen geben Sie Steuergeschenke und den Men-
schen, die ihre Euros mit schwerer Arbeit verdienen
(Beifall bei der LINKEN) müssen, greifen Sie in die Tasche.
Ich frage mich, ob Ihre heutigen Reden ähnlich glaub- (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg
würdig sind. Ist das so oder haben wir jetzt eine andere [CDU/CSU]: Die Diskussion scheint an Ihnen
Situation? vorbeigegangen zu sein!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4403
Dr. Dietmar Bartsch
(A) Sie wissen doch, dass Rot-Grün mit der Steuerreform alle wissen, dass uns jeder Auslandseinsatz enorm viel (C)
Mindereinnahmen von über 60 Milliarden Euro verur- Geld kostet. Die Bundesregierung hat sich inzwischen
sacht hat. Das hat sich für die Konzerne und ihre Share- angewöhnt, schon „Hier!“ zu rufen, wenn noch niemand
holder gelohnt. Nicht gelohnt hat es sich für die Men- gefragt hat. Das ist eine ganz neue Qualität in Deutsch-
schen; denn gleichzeitig sind viele Arbeitnehmerinnen land.
und Arbeitnehmer entlassen worden. Das kann nicht der
Weg sein. Es geht auch anders. Richten Sie den Blick auf (Beifall bei der LINKEN)
andere Länder, Der Mut verlässt sie aber immer dann, wenn es um
(Zuruf von der CDU/CSU: Kuba!) die Hinterfragung bestimmter vertraglicher Regelungen
geht. Nehmen wir als Beispiel das Raketensystem zur
in denen das Wirtschaftswachstum höher ist und die öf- Panzerabwehr, das über 17 Jahre zu einem Preis von ei-
fentlichen Haushalte besser dastehen! ner halben Milliarde Euro entwickelt wurde. Obwohl
Warum unternehmen Sie keinen ernsthaften Versuch, sich der Preis pro Rakete um das 15fache erhöht hat, er-
die Erbschaftsteuer grundlegend zu reformieren? In füllt das System, von dem die Bundeswehr nach Kritik
den nächsten Jahren werden Billionen vererbt. Warum des Bundesrechnungshofes nicht mehr 30 000, sondern
brauchen wir in Deutschland neue Dynastien, die nichts nur noch 1 000 bestellt hat, längst nicht mehr die Anfor-
mit Leistung zu tun haben? Warum sollen die sozialen derungen. Aber den Steuerzahler kostet nun jeder ein-
Unterschiede in unserem Land weiter vererbt werden? zelne Schuss 1 Million Euro. Bei 1 000 Schuss sind das
Das ist ein großer Fehler. 1 Milliarde Euro. Das ist absurd.
(Beifall bei der LINKEN) Ich rate Ihnen, mehr für Konversion auszugeben. Das
ist eine richtige Entscheidung. Hier müssen wir mehr
Sie haben von Kindern und Enkeln gesprochen, Herr tun, gerade dort, wo Standorte geschlossen werden. Das
Steinbrück. Auch das gehört dazu. Warum werden einige trifft sowohl auf den Osten als auch auf den Westen
so privilegiert? Sie verweisen darauf, dass zunächst die Deutschlands zu. Entsprechende strukturpolitische Maß-
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwar- nahmen sind notwendig. Deswegen werden wir in den
ten ist. Es gibt immer Begründungen, abzuwarten. Sie Etatberatungen vorschlagen, im Rahmen des Einzel-
hätten aber schon lange einen Gesetzentwurf vorlegen plans 14 2 Milliarden Euro zu kürzen, aber 600 Millio-
können, der auch für alle Haushalte 2007 haushaltsrele- nen Euro für die Konversion einzusetzen. Davon soll
vant geworden wäre. auch einiges für zivilen Friedensdienst und Minenräu-
Warum weigern Sie sich, wieder eine Vermögen- mung aufgewendet werden.
steuer einzuführen oder wenigstens darüber zu diskutie- (Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
ren? Es gibt Ministerpräsidenten, die das auch weiterhin
für vernünftig halten. Sie haben nicht im Entferntesten Wir werden als Linke im Zuge der Haushaltsberatun-
den Ansatz beherzigt, dass starke Schultern mehr tragen gen konkrete Einsparungen vorschlagen sowie Vor-
müssen. schläge machen, die einen Richtungswechsel in der Poli-
tik beinhalten. Nehmen Sie unsere Vorschläge ernst!
Über viele Jahre hinweg gab es eine Umverteilung Meine Damen und Herren von der SPD, lassen Sie ins-
von unten nach oben. Was wir nun brauchen, ist eine besondere nicht nur die Vorschläge, die auf weniger
Umverteilung von oben nach unten. Ausgaben abzielen, an sich heran, sondern auch diejeni-
(Beifall bei der LINKEN) gen, die zu Mehreinnahmen führen! Mehr soziale Ge-
rechtigkeit ist möglich. Der vorliegende Haushaltsent-
Wir brauchen eine andere Politik. Denn Sie betreiben wurf zeigt, dass Deutschland seine Möglichkeiten nicht
eine falsche Politik. ausschöpft. Einer Regierung, die große Unternehmen,
Lassen Sie mich – weil Sie immer wieder von Haus- Banken und Konzerne entlastet und es dafür bei den
haltsrisiken und Ähnlichem sprechen – einen Bereich er- kleinen Leuten nimmt, fehlt der Mut, für die Mehrzahl
wähnen, auf den schon eingegangen worden ist, und der Menschen in diesem Lande zu entscheiden,
zwar den Einzelplan 14, Verteidigung. In diesem Etat (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
spiegeln sich sehr deutlich die Veränderungen in der Au- Nichts dazugelernt!)
ßenpolitik wider. Frau Merkel hat gleich nach ihrem
Amtsantritt deutlich gemacht, dass sie anders als ihr Vor- genauso wie die Menschlichkeit, zugunsten der Schwä-
gänger eine unkritische Verbündete von Präsident Bush cheren in diesem Land bessere Lösungen zu finden.
sein will. Es gibt keine Distanz zu den Vereinigten Staa-
Wir haben über viele Jahre Erfahrungen mit großen
ten, auch nicht dann, wenn diese auf imperiale Gesten
Koalitionen und ihrer Haushaltspolitik gemacht.
und militärische Abenteuer setzen.
Schauen Sie nach Berlin! Ich nenne nur den Ban-
Für eine soziale und gerechte Politik ist angeblich nie kenskandal als Beispiel. Heute muss eine rot-rote Regie-
Geld vorhanden. Aber Ihre Vorgängerregierungen haben rung das beiseite räumen, was dort angerichtet wurde. In
in den Jahren 1992 bis 2005 für Zusatzaufgaben auf- Mecklenburg-Vorpommern hat die große Koalition, die
grund internationaler Einsätze insgesamt 8,8 Milliarden bis 1998 regierte, das Land in eine völlig inakzeptable
Euro ausgegeben. Wenn es, wie heute früh, um Aus- Verschuldung gebracht. Auch dort muss nun eine rot-
landseinsätze wie im Kongo geht, dann wird sofort rote Regierung aufräumen. Sorgen Sie dafür, dass das
„Hier!“ gerufen. Das sind reale Haushaltsrisiken. Wir auf Bundesebene nicht passiert!
4404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Georg Fahrenschon
(A) Die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass Die gute Nachricht lautet deshalb: Mit dem Haus- (C)
wir zu unserem Wort und zu unserer Programmatik ste- halt 2007 schaffen wir die Abkehr von einer Politik der
hen. überbordenden Verschuldung. Die Spielräume bleiben
jedoch weiterhin äußerst eng, sodass der Konsolidie-
Zweitens. Ein ganz anderer, aber für den Finanzmarkt rungsdruck hoch bleibt. Für die CDU/CSU ist aller-
Deutschland ebenso wichtiger Bereich ist die Einfüh- dings auch klar: Für einen echten Schuldenabbau müs-
rung von REITs. Das ist ein zentraler Punkt, den wir ab- sen neue Schulden ganz vermieden werden.
arbeiten müssen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig! –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Weltweit gibt es mittlerweile in rund 20 Staaten solche Oh!)
Konstruktionen, darunter in den Beneluxstaaten und in
Frankreich. Die Einführung britischer REITs wird noch Das heißt, wir brauchen ausgeglichene Haushalte bzw.
in diesem Jahr erfolgen. Damit müssen wir zur Kenntnis wir müssen in den Haushalten Überschüsse erzielen, um
nehmen: Dieses Finanzmarktinstrument hat sich zu ei- die Staatsverschuldung abzubauen.
nem internationalen Standardprodukt für die indirekte (Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/
Immobilienanlage entwickelt. Der Finanzplatz Deutsch- CSU] – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE
land kann es sich einfach nicht leisten, auf dieses Instru- GRÜNEN]: Wann soll das sein? – Ulrike
ment zu verzichten. Flach [FDP]: In allen?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dieser Schritt ist weitaus schwieriger. Doch die CDU/
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir setzen auf CSU wird ihn gehen. Wir lassen uns an dieser Heraus-
den Bundesfinanzminister!) forderung messen.
Lieber Herr Finanzminister, es kann daher nicht sein, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
dass der Gesetzentwurf quasi fertig in den Schubladen
des Finanzministeriums liegt und Staub ansetzt, nur weil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wir weiterhin auf eine kleine Gruppe ständiger Be- neten der FDP)
denkenträger Rücksicht nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Ulrike Flach
Ich will schon die Gelegenheit nutzen, Folgendes zu das Wort.
sagen: Ich glaube, dass die Einführung von REITs die
(B) Nagelprobe für die Finanzmarktpolitik der großen Koali- (Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter (D)
tion ist. Ich fordere Sie auf: Bringen Sie diesen Gesetz- [CDU/CSU]: Jetzt müssen wir uns warm an-
entwurf ein! Lassen Sie uns die parlamentarische Dis- ziehen!)
kussion über dieses Instrument starten und verzögern Sie
die Debatte nicht!
Ulrike Flach (FDP):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ja. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Ihr gen! Wer dem Finanzminister oder auch dem Kollegen
Koalitionspartner ist die SPD-Fraktion! Das Kampeter zugehört hat, hat den Eindruck gewonnen:
müssen Sie mal zur Kenntnis nehmen! – Wir haben es hier mit einem Haushalt zu tun, mit dem
Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie müssen noch viel man auf dem richtigen Weg ist, der solide und konzis
lernen!) durchorganisiert ist.
Bezogen auf den Haushalt treibt die Union eine politi- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kann ich das noch
sche Überzeugung und, wenn Sie so wollen, auch eine mal hören? – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:
moralische Verantwortung an. So vernünftig hat die Kollegin Flach seit lan-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) gem nicht hier vorgetragen!)
Insbesondere unter Berücksichtigung des Gebots der Es wird Sie nicht weiter erstaunen, dass die FDP genau
Nachhaltigkeit darf die heutige Generation nicht dauer- an dieser Stelle diametral anderer Meinung ist als Sie.
haft mehr verbrauchen, als sie leistet. Gegenwartskon- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
sum oder Zukunftsinvestitionen, das ist die entschei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
dende Frage. Für uns, für die CDU/CSU, ist die Antwort
klar: Wir wollen die Gegenwartsinteressen nicht länger Uns liegt hiermit eine Kopie früherer verfassungswid-
höher bewerten als die Zukunftsinteressen. riger Haushalt von Rot-Grün vor; der einzige Unter-
schied ist, dass Sie an der Stelle, wo Sie sagen, der Haus-
Wir haben im ersten Jahr der Regierungsverantwor- halt sei jetzt plötzlich verfassungsgemäß, schonungslos
tung die Aufgabe angepackt und einen beachtlichen Teil beim Bürger abkassieren, und zwar in einem Maße, wie
erreicht. Die Nettokreditaufnahme wird dauerhaft unter wir es in der Vergangenheit noch nie erlebt haben.
die Regelgrenze der Verfassung gedrückt. Das
Maastrichtkriterium wird deutlich und im Zeitablauf zu- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Das
nehmend unterschritten. stimmt aber nicht!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4407
Ulrike Flach
(A) Herr Poß, für jemanden, der die Diskussionen vor ein (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und (C)
paar Jahren miterlebt hat, ist es schon ein bisschen merk- der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE
würdig, festzustellen, mit welcher Leidenschaft Sie sonst GRÜNEN])
eigentlich immer das Gegenteil von dem erzählt haben,
was Sie gerade gesagt haben. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer
Rede darzulegen versucht haben.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ja! – Joachim Poß
In der mittelfristigen Finanzplanung setzt sich diese
[SPD]: Worauf beziehen Sie das? – Gegenruf
finanzielle Fehlentwicklung noch fort. Es besteht ein
des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]: Auf die
eklatantes Missverhältnis zwischen Schuldenrückgang
Mehrwertsteuer! – Gegenruf des Abg. Joachim
und Steuereinnahmen. Frau Kollegin Hajduk hat eben zu
Poß [SPD]: Da habe ich sehr differenziert ar-
Recht darauf hingewiesen. Im Zeitraum von 2007 bis
gumentiert!)
2010 soll die Neuverschuldung nur um 1,5 Milliarden
Offensichtlich – um an das anzuknüpfen, was wir eben Euro sinken, nämlich von 22 auf 20,5 Milliarden Euro,
schon hatten – prägt das Sein das Dasein. aber nicht darunter, wie Sie, Herr Kampeter, uns das
eben weiszumachen versucht haben.
Herr Poß, Sie haben heute genau das Gegenteil von
dem geäußert, was Sie vor einem Jahr gesagt haben. Da- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des
mals haben Sie entschieden dagegen gesprochen, einen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg
Haushalt über die Einnahmeseite zu sanieren. Heute Fahrenschon [CDU/CSU]: Wir sind am An-
sind Sie auf der Seite der CDU/CSU. Das erstaunt uns. fang der Beratung! – Steffen Kampeter [CDU/
Ich denke nicht, dass die Bürger Ihnen das positiv quit- CSU]: Unterschätzen Sie uns nicht!)
tieren. Die Steuereinnahmen steigen aber um 16,6 Milliarden
(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Euro. Das ist doch ein Ungleichgewicht!
Machen Sie sich da keine Sorgen! Gucken Sie (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
sich meine Wahlergebnisse an, Frau Flach!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dieser Haushalt atmet die Mutlosigkeit einer großen Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes hat die
Koalition. Sie konsolidieren über die Einnahmeseite. Bundesregierung vollends aus den Augen verloren. Die
Herr Steinbrück, schon zum zweiten Mal – Sie sind nun Schuldenlast, die unsere Kinder und Enkel zu tragen ha-
zum zweiten Mal dabei – machen Sie den Fehler, die ben, steigt weiter an.
Ausgabenseite bei der Konsolidierung zum größten
(B) Teil außen vor zu lassen. Der Investitionsverfall findet in der mittelfristigen (D)
Finanzplanung seine Fortsetzung. Die Investitionsquote
Meine Damen und Herren, Sie haben obendrein Risi- sinkt, Herr Steinbrück, und zwar von 8,8 Prozent auf
ken im Haushalt. Ich bin froh darüber, dass Herr 8,4 Prozent im Jahre 2010. Sie haben eben nicht die
Fahrenschon das eben so deutlich gesagt hat. Diese Risi- Chance genutzt, drastische Einsparungen vorzunehmen,
ken betreffen nicht nur den Zinsbereich, den Sie, Herr wie Herr Kampeter sie eigentlich jeden Tag über die Me-
Poß, eben angeführt haben, sondern natürlich vor allem dien von Ihnen fordert. Ich bin erstaunt, Herr Kampeter,
den Arbeitsmarktbereich. Das bleibt trotz der Bele- wie wenig Sie sich in den Klausurtagungen der letzten
bung so. Tage durchgesetzt haben. Er hat doch eben erklärt, er sei
offen für positive Vorschläge. Aber Sie fordern gestern
Im letzten Jahr musste der Bund 3,6 Milliarden Euro
wiederum Einsparungen von rund 7 Milliarden Euro.
für Unterkunft und Heizung von Hartz-IV-Empfängern
an die Kommunen zahlen. Für 2007 setzen Sie nur (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo habe ich das
2 Milliarden Euro an, Herr Steinbrück. Die Kommunen denn gestern gefordert, Frau Kollegin?)
selbst rechnen mit 5,5 Milliarden Euro. Da frage ich
mich wirklich, inwiefern hier eine solide Haushaltsfüh- Sie können sicher sein: Die Haushälter der FDP werden
rung erfolgt, wie Sie sie uns eigentlich in jedem Satz Sie in den nächsten Wochen jeden Tag daran erinnern.
vorzumachen versuchen. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Schneider hält die Rückführung der Netto-
kreditaufnahme für nicht ambitioniert genug. Jetzt ist
Sie selbst haben gesagt: Konsolidierung kann man
er gerade nicht mehr da; deswegen können wir ihn nicht
nur in Zeiten betreiben, in denen sich die Konjunktur
noch einmal fragen.
verbessert, nicht in der Krise. Konsolidierung – das ist
die Meinung der FDP – darf aber nicht nur auf der Ein- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schneider
nahmeseite, sondern muss auch auf der Ausgabenseite kommt aus dem Hintergrund!)
stattfinden.
Er hat uns aber gesagt, wenn die Wirtschaft wächst und
Ich sage noch einmal das, was Kollege Koppelin eben die Steuereinnahmen steigen, dann muss der Staat bei
dargelegt hat. Die Ausgaben in Ihrem Haushalt steigen seinen Ausgaben sparen und weniger Kredite aufneh-
von 261,6 auf 267,6 Milliarden Euro. Das ist ein Plus men. Der Präsident des Bundes der Steuerzahler hat Ih-
von 2,3 Prozent. nen vorgerechnet,
4408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Ulrike Flach
(A) (Joachim Poß [SPD]: Oh! Das ist aber eine Investitionen wird unverändert fortgeführt, Herr Kollege (C)
seriöse Quelle!) Koppelin. Wir setzen damit auch unsere Bemühungen
fort, den Staatshaushalt zu konsolidieren.
dass es bei der von Ihnen geplanten Rückführung der
Nettokreditaufnahme von 500 Millionen Euro per an- Ich will etwas zu den Anmerkungen und Hinweisen
num erst im Jahre 2050 einen Bundeshaushalt ohne Neu- zum Schuldenmachen sagen. Da sollten wir uns alle ein
verschuldung gäbe. Liebe Damen und Herren, selbst wenig zurücknehmen. Wir waren alle dabei, als es da-
Frau Lührmann wird dann nicht mehr in diesem Bundes- rum ging, Ausgaben, die nicht durch Einnahmen gedeckt
tag sitzen. werden konnten, durch entsprechende Nettokreditauf-
nahmen auszugleichen. Die Freien Demokraten waren,
Ich denke, das ist weder konzis noch solide, Herr
glaube ich, am längsten dabei, wenn es darum ging, auf
Steinbrück. Wir fordern von Ihnen, dass Sie an dieser
diese Weise zum Ausgleich des Haushaltes beizutragen.
Stelle nachsteuern, wie Sie es uns noch vor Jahren mit
Herrn Koch vorgemacht haben. Wo ist denn das wirklich (Ulrike Flach [FDP]: Deswegen drängen wir
ambitionierte Subventionssparprogramm, das Sie uns jetzt ja auch so!)
damals vorgelegt haben? Das erkennen wir weder im
Haushalt 2006 noch im Haushalt 2007. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rahmenbedin-
gungen sind in den letzten Monaten besser geworden.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben halt Das scheint dem einen oder anderen nicht zu gefallen.
Erkenntnisdefizite, Frau Kollegin!) Wer sich an die Ausführungen bei der Verabschiedung
Die Höhe der Subventionen beträgt laut Bericht des des Haushaltes 2006 erinnert, weiß, dass damals an der
Kieler Institutes 145 Milliarden Euro und genau um die einen oder anderen Stelle von der Opposition etwas ge-
geht es. Genau um die werden wir in den nächsten Tagen äußert worden ist, was Gott sei Dank nicht eingetreten
kämpfen. ist.
(Joachim Poß [SPD]: Sie sind doch, wenn es Ich will aber auch nicht verhehlen, dass trotz dieser
konkret wird, der Schutzengel! – Steffen verbesserten Rahmenbedingungen die Haushaltslage
Kampeter [CDU/CSU]: Die strukturkonserva- nach wie vor sehr ernst ist. Wir können gegenüber dem
tive FDP!) Jahr 2006 zwar eine Reduzierung der Nettokreditauf-
nahme vorweisen; sie beträgt aber immer noch 22 Mil-
– Wir sind die Schutzengel derjenigen, die diese Subven- liarden Euro. Mit dieser Nettokreditaufnahme werden al-
tionen nicht wollen, Herr Poß. lerdings die Ziele erreicht, die sich der Finanzminister
(Joachim Poß [SPD]: Sie sind der Schutzengel schon im Haushalt 2006 vorgenommen hat. Wir werden
von Steuersubventionen! Lesen Sie einmal die also bei den Investitionen erstmals wieder oberhalb der
(B) (D)
Reden nach, die Sie hier gehalten haben!) Nettokreditaufnahme liegen und werden auch die
Maastrichtkriterien einhalten.
Sie werden es jeden Tag erleben: Wir werden Ihnen, an-
gefangen bei Kollegen Glos bis hin zu Kollegen Gabriel, Wenn die FDP immer davon spricht – manchmal viel-
vorrechnen, an welcher Stelle diese Subventionen zu leicht auch wider besseres Wissen –, auf der Ausgaben-
kürzen sind, und damit sicherlich auch die Frage beant- seite alles auf den Prüfstand zu stellen, dann, glaube ich,
worten, wo die Milliarden herkommen, die die FDP zur weiß sie auch, dass es dort nur sehr eingegrenzte Mög-
Sanierung des Haushaltes braucht. lichkeiten gibt. Selbst wenn Ihre Sparvorschläge in der
Größenordnung von 8 Milliarden Euro, für die ja dann
Herzlichen Dank. auch in bestehende Verträge und rechtskräftige Be-
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk scheide eingegriffen werden müsste, im Haushalt 2007
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) berücksichtigt werden könnten, läge das Defizit immer
noch in einer Größenordnung, die uns letztendlich dazu
veranlassen würde, weitere Schritte zu unternehmen, die
Vizepräsidentin Petra Pau: sich auf der Einnahmeseite in 2006 und 2007 positiv
Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann für auswirken.
die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es sollte
eine gemeinsame Aufgabe dieses Hauses sein, in den
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
nächsten Jahren darauf hinzuwirken, dass die Nettokre-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ditaufnahme sinkt und dass wir zu einem ausgegliche-
Wenn man nach der Einbringung des Bundeshaushalts
nen Haushalt kommen. Das ist natürlich nicht von uns
2007 ziemlich zum Schluss der Debatte an die Reihe
allein zu schaffen. Vielmehr ist das auch von vielen Ein-
kommt, dann hat man es einerseits etwas leichter, ande-
wirkungen, die von außen auf uns zukommen können,
rerseits aber auch etwas schwerer, weil die Zeit vielleicht
abhängig. Ich will an die Steigerung bei den Energieprei-
nicht ausreicht, um das richtigzustellen, was an der einen
sen und auch an die unsichere Lage im Nahen Osten, die
oder anderen Ecke ganz einfach falsch oder auch etwas
letztendlich Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben
nebulös dargestellt worden ist.
könnte, erinnern. Das schlägt dann auch auf uns zurück.
Meine Damen und Herren, der Dreiklang Konsolidie-
Ich möchte einen Vorschlag machen, dessen wir uns
rung, strukturelle Reformen und
in den nächsten Wochen und Monaten im Rechnungs-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Abkassieren!) prüfungsausschuss durchaus ohne Vorurteile annehmen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4409
Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
(A) sollten. Es gibt in der Schweiz ein Modell, das über eine am Donnerstag hier in diesem Hause einstimmig er- (C)
Regelung, die mit dem Art. 115 in unserer Verfassung folgte.
vergleichbar ist, die Neuverschuldung und die weitere
Aufnahme von Krediten eingrenzt. Man kann das natür- Lassen Sie mich zum Schluss zum Bundeshaushalt
lich nicht eins zu eins umsetzen, weil wir ja nicht die 2007 Folgendes sagen: Wie bei der Beratung des Bun-
deshaushaltes 2006 erwarten wir natürlich in den kom-
Schweiz sind und weil von der Schweiz bestimmte Son-
menden Wochen und Monaten Vorschläge, die sich auf
derlasten – etwa wenn es um die Kosten der deutschen
den Bundeshaushalt 2007 auswirken, allerdings keine
Einheit geht – nicht zu tragen sind.
Vorschläge, die dann vielleicht wieder in einem dicken
Am Donnerstag soll ohne Debatte die Entlastung der Buch der Freien Demokraten als nicht darstellbare Ein-
Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2004 be- sparvorschläge landen werden.
schlossen werden. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-
in acht Sitzungen ausführlich über den Haushaltsvoll- samkeit. Wir beraten den Haushalt in den nächsten Wo-
zug 2004 und die dazu ergangenen Bemerkungen 2005 chen und Monaten, wie ich es hier dargestellt habe.
des Bundesrechnungshofes beraten. Wie die Berichte in
den Vorjahren zeigen auch die Bemerkungen 2005, dass (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
betriebswirtschaftliches Denken und Handeln immer
noch nicht flächendeckend das exekutive Handeln be- Vizepräsidentin Petra Pau:
stimmt. Nach den Berechnungen des Bundesrech- Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fromme das
nungshofes belaufen sich die einmaligen Ausgabemin- Wort.
derungen und Einnahmesteigerungen, die in den
87 Bemerkungen beschrieben werden, auf mehrere Mil-
liarden Euro. Wegen der nur ausschnittsweisen Prüfung Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):
des Haushaltes müssen wir davon ausgehen, dass die tat- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sächlichen Spar- und Einnahmemöglichkeiten im Bund Wir beraten über einen Haushalt, der auch anders ausse-
und sicherlich auch in den Ländern noch um einiges hö- hen könnte; das würden wir uns wünschen. Aber er ist
her sein dürften. den Realitäten angepasst.
Lieber Kollege Koppelin, wenn Sie keine Linie er-
Ein fachlicher Schwerpunkt des Bundesrechnungsho-
kennen können, dann sollten Sie sich einmal eine neue
fes in den Bemerkungen 2005 war mit Blick auf die Ver-
Brille zulegen. Dann werden Sie vielleicht eher erken-
handlungen in der gemeinsamen Kommission zur
nen, was wir wollen.
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung die Auf-
(B) gaben- und Finanzverteilung zwischen Bund und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
Ländern. Der Hof kritisierte die Vielzahl von Verant-
wortlichkeiten, die unklaren Aufgabenverteilungen, die Sie trommeln immer wieder auf der Mehrwertsteuer-
komplizierten Entscheidungen und den Ressourcenver- frage herum.
brauch. Mit der von Bundestag und Bundesrat beschlos- (Zuruf von der LINKEN: Zu Recht!)
senen, letzte Woche in Kraft getretenen Föderalismus-
reform ist die dringend notwendige Entflechtung der Wahr ist doch, dass Sie vor der Wahl, als Sie noch glaub-
Bund-Länder-Beziehungen in Angriff genommen wor- ten, mit uns eine Regierung bilden zu können, gesagt ha-
den. Es muss jetzt auch die zweite Stufe, die Reform ben, an der Mehrwertsteuererhöhung, die wir ange-
der Finanzbeziehungen, zügig folgen. kündigt hatten, würde eine Koalition nicht scheitern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Prüfungen des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Bundesrechnungshofes zeigen, dass es zu Fehlern quer Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt einfach
durch alle Ministerien gekommen ist, es aber keine Kon- nicht!)
zentration von Defiziten, Nachlässigkeiten und fehlen- – Sie sollten die Wahrheit zur Kenntnis nehmen.
der Personalaufsicht und -führung in einzelnen Häusern
gibt. Wichtig ist mir auch, festzuhalten, dass die Fehler- Die Wirkung der Mehrwertsteuererhöhung ist in der
beschreibungen des Hofes nicht verallgemeinert und auf Wissenschaft sehr unterschiedlich beurteilt worden. Wir
die gesamte Verwaltung übertragen werden dürfen. Die sehen doch heute, wie die Realitäten sind. Es geht um
Bundesverwaltung arbeitet insgesamt, im internationa- die Stimmung. Wirtschaft, wirtschaftliche Entwicklung
len Vergleich und nach Einschätzung des Bundesrech- hat etwas mit Stimmung zu tun. Der private Konsum
nungshofes, durchaus gut. – das ist das, woran es in unserer Volkswirtschaft jahre-
lang gemangelt hat – steigt.
Wie in der Vergangenheit konnten über weite Berei-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)
che einvernehmliche Beschlüsse gefasst werden – dafür
bin ich sehr dankbar –, denen immer ausgiebige und Entgegen allen Unkenrufen steigt er. Wir haben es ge-
durchaus sehr kritische Beratungen der jeweiligen Be- schafft – das ist doch klar –, die Abwärtsspirale umzu-
richterstatter mit den Ministerien und dem Bundesrech- drehen. Der Trend zu immer weniger Arbeitsplätzen, im-
nungshof vorausgingen. Ich bin davon überzeugt, dass mer weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigten,
wir mit Ihnen sachgerechte Antworten gefunden haben. immer mehr Arbeitslosen, immer weniger Einnahmen
Ich würde mich daher sehr freuen, wenn die Entlastung aus Steuern und Sozialabgaben und immer höheren
4410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Jochen-Konrad Fromme
(A) Ausgaben für die Sozialsysteme ist umgedreht worden. beschert haben. Das wollen wir einmal wirklich deutlich (C)
Es geht aufwärts. machen.
Wir wissen: Nichts ist so gut, dass es nicht besser sein Wir haben einen Paradigmenwechsel in der Haus-
kann. Aber man muss doch erst einmal über das reden, haltspolitik herbeigeführt. Ich nenne nur ein einziges
was man erreicht hat. Wir haben fünf Jahre lang wie das Beispiel, den Primärsaldo. Kein Mensch nimmt davon
Kaninchen auf die Schlange gestarrt, wenn die Arbeits- Kenntnis, dass wir erstmals seit Jahren weniger ausge-
marktdaten veröffentlicht wurden. Jetzt sind sie positiv ben, als wir einnehmen. Das ist nicht das Ziel, das wir
– plus 130 000 sozialversicherungspflichtig Beschäf- erreichen möchten, aber es ist ein wichtiger Zwischen-
tigte, fast 500 000 weniger Arbeitslose – und kein schritt.
Mensch redet darüber. Wenn wir über das Gute nicht
auch reden, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wenn sich die Stimmung nicht verbessert. Das ist doch Woran liegt das?)
das Geheimnis. – Das liegt daran, dass wir das Klima für das Wirtschaf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten verbessert haben.
der SPD) (Ulrike Flach [FDP]: Ach was! – Jürgen
Deswegen müssen wir hier vorwärts gehen. Koppelin [FDP]: Erhöhung der Mehrwert-
steuer! Ja klar!)
Frau Kollegin Hajduk, Sie haben sich in Polemik ge-
gen den Finanzminister erschöpft. Das heißt, Sie haben – Ich komme auf das Sparen gleich noch zurück; keine
keine Vorschläge; sonst hätten Sie etwas Inhaltliches ge- Angst.
sagt, statt nur über Personen zu reden. Sie sollten einmal
Primärsaldo heißt ja, dass man unter Absehen von der
anerkennen, dass es bei der Bundesagentur Erfolge gibt.
Vergangenheit schaut: Gebe ich in diesem Jahr mehr aus
Natürlich ist ein Drittel der Überschüsse auf die
oder gebe ich weniger aus? Auch für den Staat gilt der
13. Zahlung der Sozialbeiträge zurückzuführen. Aber
alte Grundsatz: Niemand kann auf Dauer mehr ausge-
ein Drittel der Ersparnisse beruhen darauf, dass uns Effi-
ben, als er einnimmt. Also muss man dieses Ziel errei-
zienzsteigerungen gelungen sind.
chen. In diesem Jahr haben wir erstmals seit Jahren, wie
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gesagt, einen positiven Primärsaldo. Diesen Saldo haben
Ja, durch unsere Reformen!) wir in diesem Haushalt im Vergleich zum letzten um
15 Milliarden Euro verbessert.
Ein Drittel beruht darauf, dass wir den Maßnahmenkata-
(B) log verändert haben. Im zweiten Schritt muss man dazu kommen, dass man (D)
den Primärüberschuss so weit erhöht, dass man die aus
Ich sage Ihnen: Wenn es eine dauerhafte Entlastung der Vergangenheit stammenden Zinslasten tragen kann,
gibt, dann werden wir dafür sorgen, dass diese dauer- und im dritten Schritt muss man den Primärüberschuss
hafte Entlastung zu Beitragssenkungen führt. Das ist so weit entwickeln, dass man die Schulden zurückzahlen
das Geld der Beitragszahler. Deswegen muss es in einem kann. Auf diesem Weg haben wir die Wende geschafft
geschlossenen Kreislauf bleiben. All das, was da mög- und einen ersten Schritt getan. Darauf kommt es an.
lich ist, werden wir tun. Wir müssen uns natürlich nur
anschauen, ob die Entlastung auch wirklich dauerhaft ist. Ferner kommt es darauf an, dass wir zwei Dinge
gleichzeitig tun: den Haushalt sanieren, weil nur geord-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nete öffentliche Finanzen den Hintergrund für eine ver-
Wenn es nach dem gegangen wäre, was Sie während nünftige wirtschaftliche Entwicklung abgeben, und die
Ihrer Regierungsverantwortung geplant haben, wären Konsumkraft fördern. Wenn die „Financial Times“ von
wir schon längst bei einer Nettoneuverschuldung von „Merkels Aufschwung“ spricht, dann zeigt das ganz ein-
null. Nur, solche Ansagen auf Papier nützen uns nichts. deutig: Es ist auch eine Frage der Politik und der Stim-
Wir betrachten die Dinge realistisch und versuchen, in mung. Wir lassen uns von unserer Ansicht nicht abbrin-
kleinen Schritten zumindest das zu erreichen, dem Sie gen, dass in dieser Hinsicht etwas geschehen ist.
immer hinterhergerannt sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk
Dass die PDS unsere Leitlinien nicht versteht, dass sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Stim-
überhaupt nicht begriffen hat, dass all das, was wir ma- mung war ja bei Ihnen im Sommer ziemlich
chen, dazu dient, das Hauptproblem zu lösen, nämlich schlecht!)
für mehr Arbeitsplätze zu sorgen, ist klar. Natürlich dürfen wir in unseren Anstrengungen über-
(Beifall bei der CDU/CSU) haupt nicht nachlassen. Dies sage ich insbesondere auch
an die Adresse der Fachkollegen, denen ja immer viel
Es tut mir Leid: Sie haben offensichtlich aus den Erfah- einfällt, wenn die Haushaltslage etwas besser wird. Wir
rungen mit der Staatswirtschaft überhaupt nichts gelernt. müssen weiter sparen. In dieser Frage haben wir – das
Da Sie sich gegen alles wenden und sagen: „Nichts darf will ich gar nicht verhehlen – in der Koalition unter-
privatisiert, nichts darf verändert werden“, frage ich schiedliche Grundauffassungen. Der Finanzminister re-
mich schon, welche Erfahrungen uns nach dem Krieg det ständig davon, dass wir ein Einnahmeproblem ha-
die ersten 40 Jahre im östlichen Teil unseres Vaterlandes ben; ich dagegen sage: Wir haben ein Ausgabeproblem.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4411
Jochen-Konrad Fromme
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie so lange gibt es noch zu viel Personal, und deswegen (C)
der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE werden wir in dieser Beziehung nicht nachlassen.
GRÜNEN])
Die Arbeitszeitverlängerung haben wir relativ schnell
Da müssen wir ansetzen und da wollen wir auch anset- umgesetzt, aber nicht alle strukturpolitischen Aufgaben
zen. Im Zeitraum der Finanzplanung werden die Steuer- kann man in einem Jahr lösen. Das heißt aber nicht, dass
einnahmen um 19 Prozent steigen; deswegen kann man wir diesbezüglich nachlassen; vielmehr müssen wir sol-
überhaupt nicht davon reden, dass wir nur ein Einnah- che Fragen über einen längeren Zeitraum angehen, aber
meproblem hätten. auf jeden Fall werden sie gelöst.
Nichts darf außen vor bleiben. Als Erstes müssen wir Ich bin auf die Haushaltsberatungen 2007 sehr ge-
da sparen, wo es dem Bürger am wenigsten weh tut, bei spannt; denn bei dieser Debatte hat sich eines gezeigt: Es
den Verwaltungskosten. Ich bekenne mich dazu, dass ist wie beim Streit über den Haushalt 2006, jeder findet
ich in der Arbeitsgruppe vorgetragen habe, dass wir das alles falsch, aber wenn es um konstruktive Vorschläge
Thema Bonn/Berlin noch einmal auf den Prüfstand geht, kommt nichts. Auch die Sparbücher der FDP wa-
stellen. ren keine wirklichen Sparbücher, weil sie nichts auf die
hohe Kante gelegt hat. Etwas auf die hohe Kante legen,
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und das verstehe ich unter Sparen. Sie haben dicke Papiere
der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE vorgelegt, aber leider konnten wir damit nichts anfan-
GRÜNEN]) gen.
Wenn uns das Finanzministerium in einer sehr vorsichti- (Jürgen Koppelin [FDP]: Da waren 60 Anträge
gen Schätzung mitteilt, dass sich im letzten Haushalts- von euch dabei!)
jahr Mehrkosten in Höhe von 350 000 Euro aufgrund der
Teilung des Regierungssitzes zwischen Bonn und Berlin Ich freue mich auf eine muntere Beratung und hoffe,
ergeben haben, müssen wir hinschauen. Wir werden uns dass uns viele gute Vorschläge gemacht werden, die wir
die Entwicklung für jedes Haus angucken. Es ist doch vielleicht übernehmen können.
ein Unding, dass der Pendelverkehr 16 000 Flüge im
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Jahr ausmacht. Deshalb werden wir uns dieses an-
schauen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
wie des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD], des Jörg-Otto Spiller für die SPD-Fraktion das Wort.
Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und der Abg.
(B) Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D)
Jörg-Otto Spiller (SPD):
Ich weiß natürlich, dass es ein Bonn/Berlin-Gesetz gibt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir füh-
Aber wir ändern jeden Tag Gesetze, um sie der Entwick- ren diese Haushaltsdebatte vor dem Hintergrund sehr er-
lung anzupassen. Der Stadt Bonn ist es ja – wie die freulicher ökonomischer Rahmenbedingungen. Die Bun-
Oberbürgermeisterin selber erklärt hat – nach dem Re- desbank schreibt in ihrem jüngsten Monatsbericht:
gierungsumzug nicht schlecht ergangen. Die Prognosen,
die man seinerzeit hören konnte, sind nicht eingetreten. Die konjunkturelle Aufwärtsbewegung der deut-
Weil das so ist, können wir das überprüfen. Ich bin dafür, schen Wirtschaft hat im bisherigen Jahresverlauf er-
dass wir dies auch tun. heblich an Kraft gewonnen.
Wir werden ebenfalls in der Frage des Personal- Auf Jahresrate hochgerechnet beträgt das reale Wachs-
abbaus hart bleiben. Wir streiten uns innerhalb der tum des Sozialprodukts im ersten Halbjahr rund zwei-
Koalition ja nicht darüber, dass wir Verwaltung abbauen einhalb Prozent. Die meisten wirtschaftswissenschaftli-
wollen; es geht nur um den richtigen Weg. Ich sage: Da, chen Institute kommen zu einer ähnlichen Einschätzung.
wo Personal ist, finden sich auch Aufgaben. Deswegen Es ist eine deutliche Belebung der Wirtschaftstätigkeit
muss man den Umkehrschluss ziehen und Personal ab- in Deutschland zustande gekommen.
bauen. Dann muss gegebenenfalls auch ein Vorschlag Wir haben nicht ausschließlich Wachstumsimpulse
gemacht werden, welche Aufgaben nicht mehr erledigt durch die Auslandsnachfrage erhalten, sondern auch
werden können. Natürlich wird die Bürokratie alles für eine sehr kräftige Belebung der Investitionstätigkeit, ins-
wichtig halten. besondere bei Ausrüstungsinvestitionen, und eine Zu-
(Ulrike Flach [FDP]: Oder neue Aufgaben nahme der Bautätigkeit erfahren. Erfreulich ist, dass es
erfinden!) bei den Ausrüstungsinvestitionen nicht nur um Ersatz-
investitionen geht, sondern angesichts guter Kapazitäts-
Wir von der Politik müssen eine Rangfolge der Aufga- auslastungen in wachsendem Maße auch um Erweite-
ben aufstellen. Solange ein Ministerium eine neue Abtei- rungsinvestitionen in den Unternehmen.
lung für Fragen einrichten kann, für die es gar nicht zu-
ständig ist, Die günstige gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat
inzwischen auch den Arbeitsmarkt erreicht. Es gibt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine deutliche Minderung der Arbeitslosigkeit und einen
neten der FDP und der Abg. Anja Hajduk – wenn auch noch bescheidenen – Zuwachs bei der
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Beschäftigtenzahl. Darüber hinaus gibt es einen
4412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Jörg-Otto Spiller
(A) erfreulichen Zuwachs der Steuereinnahmen bei Bund, Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen dazu machen, (C)
Ländern und Gemeinden. warum es aus meiner Sicht überhaupt notwendig ist, die
Unternehmensbesteuerung zu reformieren. Fast alle gro-
Wenn ich mir die Situation von vor einigen Monaten ßen deutschen Unternehmen sind inzwischen multinatio-
vor Augen führe, so haben wir damals ganz andere De- nal. Das bedeutet nicht nur, dass der Standortwett-
batten geführt. Natürlich stellt sich die Frage: Worauf bewerb zwischen Deutschland und den anderen Ländern
lässt sich diese positive Entwicklung zurückführen? Die Europas bzw. den außereuropäischen Ländern eine steu-
Antwort, die beispielsweise Herr Professor Rürup, der erliche Seite hat, sondern das heißt auch, dass es inner-
Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutach- halb einer Unternehmensgruppe Gestaltungsspielräume
tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, gibt, lau- hinsichtlich der Frage gibt, wo man Kosten anfallen lässt
tet, dass mehreres zusammenkommt. Es waren die und wo man Erträge anfallen lässt. Dafür gibt es Spiel-
strukturellen Reformen der Regierung Schröder, es räume.
hat aber auch die Umstrukturierung im Unternehmens-
bereich zu einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit beige- Es ist nicht selbstverständlich, dass der Mutterkon-
tragen. Beide Faktoren zusammen führen zu dieser Ent- zern und das Tochter- oder Schwesterunternehmen über
wicklung. ein Patent verfügen, das durch Lizenzgebühren bedient
werden muss. Es gibt Entscheidungsspielräume, wie
Ich glaube aber, wir können selbstbewusst sagen, dass man größere Investitionen finanziert. Wenn beispiels-
die Finanz- und Haushaltspolitik der großen Koali- weise ein großes deutsches Unternehmen eine Finan-
tion ebenfalls einen Beitrag dazu geleistet hat; zierungstochter in Dublin hat, dann ist es sehr wohl
möglich, dass ein größeres Investitionsvorhaben, bei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten spielsweise in Höhe von 100 Millionen Euro, durch
der CDU/CSU) einen Kredit finanziert wird – die Konditionen müssen
denn wir haben mit dem Haushalt 2006, dessen Kernaus- nicht unbedingt günstig sein –, den die Tochter in Dublin
sagen schon im Frühjahr feststanden, den Mut gehabt, der Mutter in Stuttgart oder wo auch immer gewährt.
einen aufkeimenden Aufschwung trotz der Konsolidie- (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: In
rungsnotwendigkeiten nicht mit einer restriktiven Haus- Berlin!)
haltspolitik zu bremsen. Im Gegenteil: Wir haben durch
Anreize für private Investitionstätigkeiten – beispiels- Die Zinsen werden bei dem deutschen Mutterkonzern als
weise für Aufträge an Handwerksbetriebe durch private Betriebskosten und die Zinsspanne wird beim Toch-
Haushalte – und durch ein Programm zur energetischen terunternehmen in Dublin – es wird günstiger refinanzie-
Gebäudesanierung kräftige Impulse für die Konjunktur- ren – als Gewinn verbucht. Der Gewinn wird in Dublin
(B) belebung gegeben. Ich komme, auch wenn es altmodisch minimal besteuert und kann dann zu 95 Prozent steuer- (D)
klingt, zu dem Ergebnis: Die gute alte Makroökonomie frei an den deutschen Mutterkonzern ausgeschüttet wer-
hat noch immer Bedeutung für den Haushalt und umge- den.
kehrt hat der Haushalt Bedeutung für die gesamtwirt- Herr Kollege Solms, ich finde nicht, dass das der
schaftliche Entwicklung. marktwirtschaftlichen Ordnung entspricht.
(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Da kann (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Das hat
keiner widersprechen!) mit Marktwirtschaft wenig zu tun!)
Wir haben einen guten Weg beschritten und das Ziel er- Nach der marktwirtschaftlichen Ordnung soll es im Be-
reicht. lieben des einzelnen Unternehmens liegen, wie es eine
Investition finanziert. In diesem Zusammenhang können
Es gibt keinen anderen Bereich, bei dem der Zusam- zwar viele Gesichtspunkte eine Rolle spielen, steuerliche
menhang zwischen Haushalt, Steuern und wirtschaftli- Gesichtspunkte sollen aber keine Rolle spielen; denn der
cher Entwicklung so deutlich ist wie bei der Unterneh- Staat soll die Unternehmen, unabhängig davon, wie sie
mensbesteuerung. Dieses Thema hat in der heutigen sich aufgestellt haben, für welche Finanzierungsform sie
Debatte schon mehrfach eine Rolle gespielt. Ich will in sich entschieden haben, fair und gleich behandeln. Des-
Erinnerung rufen – der Bundesfinanzminister hat es wegen entspricht es einer strengen marktwirtschaftlichen
selbst erwähnt –, dass wir nicht bei null anfangen. In der Ordnung, dass man die Gestaltungsmöglichkeiten, die
vorvergangenen Wahlperiode, in der Regierung entstanden sind, einschränkt.
Schröder, haben wir zum einen eine deutliche Entlastung
der Personenunternehmen durchgesetzt. Zum anderen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Anja Hajduk
haben wir eine moderne und wirksame Körperschaft- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
steuerreform durchgeführt. Ich finde es sehr angenehm, dass in der politischen
Arbeitsgruppe der Koalition, die sich mit solchen Fragen
Gleichwohl muss man zugestehen, dass es im Bereich
befasst, ein sehr konstruktives und sachliches Klima
der Unternehmensbesteuerung Handlungsbedarf gibt.
herrscht.
Die große Koalition hat verabredet – das haben mehrere
Kollegen gesagt –, das Gesetzgebungsverfahren recht- Es geht ja nicht darum – in der öffentlichen Diskus-
zeitig zur Sommerpause 2007 abzuschließen, damit die sion wird immer mit dem Holzhammer gearbeitet –, dem
veränderten Bedingungen nach einer Vorbereitungszeit Mittelständler, der vielleicht schwach auf der Brust ist,
zum 1. Januar 2008 in Kraft gesetzt werden können. den Weg zum Leasing oder zur Kreditfinanzierung einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4413
Jörg-Otto Spiller
(A) Maschine, die 1 Million Euro kostet, zu versperren. Na- Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung, (C)
türlich wird es Freibeträge geben. Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
(Ulrike Flach [FDP]: Aber die Gefahr ist doch (Beifall bei der CDU/CSU)
da!)
Aber das kann doch nicht heißen, dass wir aufgrund der Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,
Situation des Mittelständlers auch dem großen interna- Landwirtschaft und Verbraucherschutz:
tionalen Konzern gestatten, durch diese Form der Finan- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
zierung seine Steuerschuld in Deutschland so weit zu re- legen! Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich an-
duzieren, dass ein weltweit operierendes, ertragsstarkes gesichts der aktuellen Probleme im Zusammenhang mit
Unternehmen in Deutschland weniger Steuern zahlt als dem Verbraucherschutz heute nur sehr kurz auf Schwer-
der mittelständische Familienbetrieb, der vielleicht in punkte meines Haushaltes eingehe. Das werden dann die
der vierten Generation als Maschinenbaubetrieb im deut- Kollegen der beiden Fraktionen übernehmen. Ange-
schen Südwesten erfolgreich arbeitet, treu und brav sichts des Interesses der Öffentlichkeit an den Vorgängen
seine Steuern zahlt und dessen Familie die Tradition des im Bereich der Lebensmittelsicherheit in der Bundesre-
Unternehmensgründers wach hält: Der Gewinn gehört publik Deutschland möchte ich vor allem die Haltung
zunächst einmal der Firma und wird nicht voll entnom- der Regierung dazu zum Ausdruck bringen.
men.
(Beifall bei der SPD) Ich beginne mit einer Meldung von heute, die besagt,
dass EU-Kommissar Marcos Kyprianou moniert hat,
Die Benachteiligung von Eigenkapital kann kein dass die Europäische Kommission erst am Freitagabend
Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein. Ich glaube, wir wer- und damit mehr als 24 Stunden nach den Funden von
den hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Rege- vergammeltem Fleisch darüber informiert worden sei.
lung zu einem sehr ordentlichen Kompromiss kommen. Ein Sprecher der EU-Kommission hat daran erinnert,
Mittelständler werden eine Benachteiligung von Eigen- dass die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet sind, Verstöße
kapital nicht zu befürchten haben. Im Gegenteil: Sie gegen die Lebensmittelsicherheit unverzüglich zu mel-
müssen sich eigentlich freuen, dass eine zu ihren Lasten den. Das ist deshalb wichtig, weil nur dadurch gewähr-
unfaire Steuerregelung eingeschränkt und nach Möglich- leistet werden kann, dass in den anderen Mitgliedslän-
keit unterbunden wird. dern Maßnahmen zum Verbraucherschutz ergriffen
(Beifall bei der SPD) werden können. Die EU-Kommission weist auch darauf
hin, dass dies im Verhältnis zur Bundesrepublik
(B) Ich sage auch: Das Ziel ist nicht, dass wir die Unter- Deutschland nicht zum ersten Mal der Fall gewesen sei. (D)
nehmen insgesamt mehr belasten. Ich möchte nur, dass
das Steueraufkommen in Deutschland steigt. Es mag ja Ich beginne mit der Einlassung der EU-Kommission,
sein, dass wir durch eine Steuersatzsenkung erreichen, um deutlich zu machen, dass es in diesem Fall nicht um
dass für eine große Zahl von Unternehmen, die in Taktiken, um Parteipolitik oder um persönliche Eitelkei-
Deutschland und anderswo tätig sind, die Steuerlast ten geht, sondern dass es einzig und allein um die natio-
sinkt. Aber die sozialdemokratische Fraktion im Deut- nale und internationale Gewährleistung des Verbraucher-
schen Bundestag möchte erreichen, dass das Steuerauf- schutzes im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in der
kommen in Deutschland steigt. Bundesrepublik Deutschland geht.
(Beifall bei der SPD) Durch diese Meldung der EU-Kommission wird sehr
deutlich, dass wir Verpflichtungen haben und die Dinge
Das wird möglich sein. Lassen Sie uns gemeinsam an so gestalten müssen, dass wir unsere Verpflichtungen auf
diesem Ziel arbeiten. Es wird noch ein paar Debatten nationaler und internationaler Ebene – nicht um die Be-
dazu geben; da bin ich mir ganz sicher. Es kann ja nicht hörden zu beschäftigen, sondern um den Gesundheits-
schaden, wenn noch die eine oder andere intelligente Lö- schutz der Bevölkerung zu gewährleisten – erfüllen kön-
sung eingebracht wird. Aber fairer Wettbewerb verlangt, nen.
dass wir die Steuerbasis in Deutschland sichern und dass
wir durchsetzen, dass sich Unternehmen wie Bürger an (Ute Kumpf [SPD]: Ja! Das müssen wir tun!)
der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beteiligen.
Denn sonst können wir die Qualität des Wirtschafts- Als es beim letzten Mal um eine Herausforderung auf
standortes Deutschland nicht sichern. diesem Gebiet ging, habe ich hier vor dem Plenum ein
Zehnpunkteprogramm vorgestellt, das sehr weitge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hend realisiert worden ist. Auf drei Punkte kommt es mir
der CDU/CSU) in diesen Tagen besonders an:
Vizepräsidentin Petra Pau: Der erste Punkt. Wir waren uns im Parlament vor ei-
Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Finanz- nigen Monaten ganz überwiegend einig, dass eine der
debatte liegen mir nicht vor. wichtigsten Präventionsmaßnahmen die Transparenz,
die Veröffentlichung der Namen der Firmen, die gegen
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- die Lebensmittelvorschriften verstoßen, ist.
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, Einzelplan 10. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
4414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): In der Antwort auf Frage 3 „Welche der Maßnahmen (C)
Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolle- des 10-Punkte-Sofortprogramms sind bereits in Kraft ge-
ginnen und Kollegen! Natürlich ist eine Haushaltsde- treten?“ heißt es im zweiten Punkt „Flächendeckende
batte unter den aktuellen Ereignissen so zu gewichten, Kühlhausüberprüfung (Nr. 4 des Sofortprogramms)“:
wie Sie, Herr Minister, das getan haben. Wir müssen uns Die Überprüfung aller 317 EU-zugelassenen Kühl-
heute in besonderer Weise erneut mit den Auswirkungen häuser ist abgeschlossen.
eines dramatischen Fleischskandals auf die Verbraucher
befassen. Diese Auseinandersetzung muss heute natür- (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Das war ja auch
lich im Zentrum stehen. so!)
Ich will vorher aber trotzdem noch einmal sagen, dass Bei dem Kühlhaus in Bayern handelt es sich um ein EU-
die deutsche Ernährungswirtschaft – die große Mehrheit zugelassenes Kühlhaus, wie uns heute der Verband
der Menschen, die dort arbeiten, und die Produkte, die Deutscher Kühlhäuser und Kühllogistikunternehmen
dort erstellt werden – einen absoluten Weltstandard hat nachdrücklich bestätigt.
und eine Qualität aufweist, um die uns andere Länder (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist ja
beneiden. spannend!)
Es gibt allerdings – ich glaube, dieses Wort darf man Sehr geehrter Herr Minister, warum übermitteln Sie
auch im Parlament benutzen – einige Drecksäcke und den Verbrauchern eine solche Botschaft, wohl wissend,
kriminelle Elemente, die – darüber müssen wir genau dass in diesem Bereich trotz dem, was Sie hier eben ge-
nachdenken – manchmal wohl auch in Verbindung mit sagt haben, noch jede Menge Aufarbeitungsbedarf be-
Strukturen vor Ort, manchmal vielleicht sogar durch par- steht? Warum suggerieren Sie, es sei alles in Ordnung,
teipolitischen Filz einen Nährboden finden, der die wenn Sie genau wissen, dass dies nicht der Fall ist?
Grundlage dafür bildet, dass solche Skandale immer
(Beifall bei der FDP – Peter Bleser [CDU/
wieder auftreten.
CSU]: Das hat er doch gar nicht!)
Ich finde es gut, Herr Minister Seehofer, dass Sie der Sie wissen ganz genau, dass Sie unmittelbar nach dem
Verbraucherministerkonferenz zur Verfügung stehen. In-Kraft-Treten Ihres so genannten 10-Punkte-Sofort-
Dann sollten Sie allerdings auch morgen dem Ausschuss programms eine solche Aussage überhaupt nicht treffen
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- können. Diese Kühlhäuser haben zum Teil die Dimen-
schutz zu diesem Thema Rede und Antwort stehen. sion eines Plenarsaals. Wenn Sie zu Recht feststellen
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ – das nehme ich mit Interesse zur Kenntnis –, dass die
(B) DIE GRÜNEN) Lebensmittelkontrolle nicht auf der Höhe der Zeit ist, (D)
dann frage ich Sie, wie Sie in einer Antwort auf die An-
Ich sage auch: Herr Minister, Sie haben in dieser Frage frage einer Fraktion hier im Deutschen Bundestag dazu
einiges gutzumachen. Ich freue mich nicht, dass die kommen, eine so Frieden stiftende Aussage zu tätigen?
„Bild“-Zeitung hinsichtlich des Gammelfleischskandals
Ich will das weiterführen. Sie haben in meinen Augen
fragt: Warum reden Sie nur? Warum tun Sie nichts, Herr
nicht nur in dieser Frage die Dinge nicht richtig darge-
Seehofer?
stellt. In der schon genannten Kleinen Anfrage wird
Ich möchte gerne, dass sich das Ministerium, Sie per- nach der Verbesserung des Informationsflusses ge-
sönlich, aber auch der ganze Bereich Ernährung, Land- fragt. Antwort:
wirtschaft und Verbraucherschutz so darstellen können, In der Bund-Länder-Besprechung am 29. Novem-
dass die Verbraucher Vertrauen in unsere Produktions- ber 2005 hat das BVL
wege haben und dass sie eine sach- und fachgerechte
Entscheidung treffen können. Sehr geehrter Herr Minis- – das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
ter Seehofer, da hapert es bei Ihnen. Das will ich hier an mittelsicherheit –
Beispielen deutlich aufzeigen. die praktische Anwendung des Fachinformations-
Im „Focus“ vom 12. Dezember 2005 sagen Sie: „Wir systems … erläutert.
haben schnell gehandelt …“ Seit Monaten kündigen Sie Das Fazit der Antwort lautet:
ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb an. Sie ha-
ben ein 10-Punkte-Sofortprogramm – den Namen muss Das System bietet die Möglichkeit, zeitnah aktuelle
man auf der Zunge zergehen lassen – aufgelegt. In der Erkenntnisse bei derartigen Ereignissen allen Län-
Drucksache 16/1615 – Antwort der Bundesregierung auf dern und dem Bund zur Verfügung zu stellen.
die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion – mit der Über- Herr Seehofer, Sie und das System haben versagt.
schrift „Stand der Umsetzung des 10-Punkte-Sofortpro-
gramms als Konsequenz aus dem Fleischskandal“ erklä- Am 25. August dieses Jahres, so sagte es Gert
ren Sie schon in der Einführung: Lindemann, Ihr Staatssekretär, haben wir die Informatio-
nen über die Medien bekommen. Dann aber haben Sie
Das 10-Punkte-Sofortprogramm stellt die Maßnah- sich eben nicht mit aller Härte und mit allem Nachdruck
men dar, deren alsbaldige Umsetzung im Einver- an die Verfolgung gemacht, wie Sie eben ausgeführt ha-
nehmen mit den Ländern beschlossen wurde … Mit ben. Man kann es vielleicht etwas locker formulieren:
der Umsetzung … ist sofort begonnen worden. Bis zum 1. September haben Sie überhaupt nichts ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4417
Hans-Michael Goldmann
(A) macht. Warum haben Sie zwischen dem 25. August und einige Verbesserungen, aber es hat mit dem Fall, um den (C)
dem 1. September nichts gemacht? Warum waren Sie, es hier geht, nichts zu tun. In diesem Fall ist der Name
der sonst immer sehr präsent ist, abgetaucht? Hing das nach jeder Regelung zu nennen, weil gesundheitliche
möglicherweise damit zusammen, dass der Skandal aus Gefahr im Verzug ist.
Bayern kam und der Minister für Umwelt, Gesundheit
Das kritisiere ich an Ihnen: Sie setzen Sprechblasen
und Verbraucherschutz in Bayern und die ganze Regie-
ab. Das sind Botschaften an den Verbraucher, denen die
rung der CSU angehören?
inhaltliche Substanz fehlt.
Ich denke, dass wir ganz klar sagen müssen, Herr
(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])
Minister, dass es nicht wirklich um ein Zehn-Punkte-
Sofortprogramm und das Erreichen konkreter Ziele zum Wenn wir Ihnen in diesem Fall helfen sollen, die
Schutz der Verbraucher geht. Sie reden zwar viel, aber Kühe vom Eis zu kriegen, dann sage ich Ihnen ganz klar:
wenn es konkret wird, dann ist Ihr Handeln nicht von Drecksäcke und kriminelle Machenschaften gehören an
fachlicher Substanz geprägt. Das sage ich Ihnen schon, den Pranger gestellt. Ich habe – ich habe früher selber als
seit Sie im Amt sind, und ich fühle mich in meiner Ein- Tierarzt gearbeitet – hier auch sehr schnell ein Berufs-
schätzung immer wieder bestätigt. verbot bei der Hand. Wer Menschen mit Lebensmitteln
versorgt, mit denen gesundheitliche Gefahren verbunden
(Beifall bei der FDP) sind, der gehört aus dem Verkehr gezogen. Dabei bin ich
Es geht weiter, Herr Minister: Was denn nun? Heute hundertprozentig an Ihrer Seite. Das können wir gemein-
Morgen bin ich extra früh aufgestanden, weil das Früh- sam machen.
stücksfernsehen schon um 6.30 Uhr beginnt und ich (Beifall bei der FDP)
dachte, ich wäre dabei, aber das war ein Irrtum.
Wir würden aber schon gerne wissen, welche Lösung Sie
(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) über die allgemeine Botschaft hinaus vorsehen. Dabei
– Ja, das ist tragisch. Aber ich habe es überlebt, wie Sie sind Sie morgen, im Ausschuss, oder auch am Freitag
sehen. – Es kam ein Polizeivertreter, der feststellte, dass gefordert. Wir von der FDP-Fraktion sind zu jeder Zeit
die Polizei eingeschaltet werden soll. Ich bitte Sie! Dann bereit, Ihnen in dieser Frage zu helfen und Rede und
kam Herr Lindemann, den ich sehr gerne mag. Er kommt Antwort zu stehen.
ja auch aus Niedersachsen und hat sehr viel Ahnung. Herzlichen Dank.
Herr Lindemann hat gesagt, dass die Lebensmittel-
kontrolle nicht durch eine Bundesbehörde durchgeführt (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Auf
werden soll, sondern dass die Zuständigkeit bei den Län- diese Hilfe können wir gut verzichten!)
(B) dern und Kommunen bleiben muss. Das habe ich auch (D)
immer wieder gefordert; denn sie sind vor Ort und ken- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen sich aus. Berlin hat doch keine Ahnung davon, wie Das Wort hat der Kollege Ernst Bahr von der SPD-
die Lebensmittelkontrolle in Bayern, Hessen oder mögli- Fraktion.
cherweise in Cloppenburg stattzufinden hat.
(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber ziem- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD):
lich widersprüchlich! Eben war das noch an- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
ders!) gen! Herr Goldmann, Sie haben gesagt, Namensnennung
sollte nicht sein, aber die Betreffenden sollten an den
Eben haben Sie wiederum ausgeführt, dass Sie die Bun- Pranger gestellt werden. Ich kann den Unterschied nicht
deskompetenz für die Lebensmittelkontrolle für notwen- richtig erkennen; er ist nicht sehr groß. Dies ist ein Bei-
dig halten. Was denn nun? spiel für Ihre Widersprüchlichkeit, die sich durch Ihre
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto ganze Rede zieht.
Solms) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe
Gestern haben Sie festgestellt, eine einjährige Frei- Namensnennung gesagt! Dieser Fall kann
heitsstrafe sei genug. Eben haben Sie von drei bis fünf doch beim Namen genannt werden!)
Jahren gesprochen. Was denn nun? Bei Ihnen ist doch al- Wenn Sie Minister Seehofer zugehört haben, dann
les wirr und inkonsequent. werden Sie festgestellt haben, dass er nicht nur agiert hat
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Viel- – und zwar zielgenau, sachlich, kompetent, richtig und
leicht müssten Sie einfach mal zuhören, Herr der Rechtslage entsprechend –, sondern auch deutlich
Goldmann!) gemacht hat, dass die Rechtslage hier wie in anderen
Fällen viel besser ist, als die öffentliche Meinung sugge-
Warum verweisen Sie hinsichtlich der Lebensmittel- riert. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Das gilt übri-
kontrolle nicht auch auf Kräfte, die in der Wirtschaft gens auch für die Haushaltslage und die Haushaltsdis-
vorhanden sind? Warum schließen Sie sich nicht strikt kussion insgesamt. Die Rechtslage – das heißt, unsere
mit dem QS-System zusammen? politische Arbeit – ist viel besser als die öffentliche Mei-
nung darüber.
Des Weiteren haben Sie die Namensnennung ange-
sprochen. Was soll das, Herr Minister? Ihr VIG ist zwar Wenn man so polemisch vorgeht wie Sie und so wi-
in Ordnung und bringt hinsichtlich der Namensnennung dersprüchlich argumentiert, dann müssen wir uns nicht
4418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Georg Schirmbeck (CDU/CSU): (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das machen wir (C)
Verehrte Frau Kollegin, jeder von uns hat ja ein Vorle- doch!)
ben.
Was ist denn in der Zwischenzeit geschehen? Dieses
Verbraucherinformationsgesetz würde nicht dazu führen,
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass die schwarzen Schafe benannt werden, meine Da-
Ja. men und Herren. Das ist das Problem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Ich kann mich daran erinnern, dass Sie in einem Bun- Deshalb sage ich Ihnen im Auge des Hurrikans: Er-
desland, in Nordrhein-Westfalen nämlich, das meinen greifen Sie endlich Maßnahmen und setzen Sie sie um!
schönen Wahlkreis umgrenzt, große Verantwortung ge- Ein halbes Jahr später ist aus diesem groß angekündigten
tragen haben. Verbraucherinformationsgesetz eine lahme Ente gewor-
den. Ändern Sie dieses Verbraucherinformationsgesetz
jetzt! Jetzt haben Sie den Schwung und auch Rücken-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wind von der Bevölkerung; jetzt können Sie es ändern.
Richtig. Tun Sie es, nachdem Sie schon ein halbes Jahr nicht in
der Lage waren, etwas zu unternehmen!
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben gerade gesagt, wer alles unfähig ist, Land-
räte usw. Haben Sie den Namen Coppenrath & Wiese
schon einmal gehört? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Höhn, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, und zwar der Kollegin Heinen?
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. Bitte stoppen Sie die Zeit.
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Durch ein Fernsehinterview von Ihnen wurde dieser
Firma etwas angedichtet, das der Kollege Bartels aus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Niedersachsen dann heilen musste. Das hätte eine hoch- Bitte schön.
moderne, hocheffiziente, alle Gesetze einhaltende Firma
(B) fast den Kopf gekostet. Ursula Heinen (CDU/CSU): (D)
Wenn Sie hier jetzt alle Behörden, alle Institutionen Frau Höhn, ist Ihnen entgangen, dass der Deutsche
so kritisieren, wie Sie das gerade im Schnelldurchgang Bundestag noch vor der Sommerpause eine Änderung
wieder gemacht haben, dann sollten Sie sich einmal den des § 40 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch ver-
Spiegel Ihrer eigenen Vergangenheit vorhalten. abschiedet hat, nach der es in Zukunft ausdrücklich er-
laubt ist und die Behörden angewiesen sind, die Firmen
zu nennen, deren Produkte nicht in Ordnung sind, auch
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wenn sie vom Markt verschwunden bzw. nicht auf dem
Das mache ich gern. – Bei der Firma Coppenrath & Markt sind? Das heißt, im September wird es, wenn der
Wiese war es so, dass die CDU in Hessen uns damals ge- Bundesrat, der seine Zustimmung schon signalisiert hat,
sagt hat: Wir haben ein Problem. – Dieses Problem habe zustimmt, zu einer entsprechenden Änderung kommen.
ich aufgegriffen. Ich habe das noch nicht einmal so dra- Haben Sie an dieser Abstimmung nicht teilgenommen?
matisch gemacht wie die Hessen. Richten Sie diesen Außerdem frage ich: Wie haben Sie denn vor der Som-
Vorwurf also an die CDU in Hessen und gucken Sie sich merpause im Bundestag über § 40 Lebensmittel- und
den Fall noch einmal an! Futtermittelgesetzbuch abgestimmt?
(Widerspruch des Abg. Georg Schirmbeck
[CDU/CSU]) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Dieses Verbraucher-
Aber lenken Sie nicht ab; denn es geht hier um Herrn
informationsgesetz habe ich abgelehnt,
Seehofer
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört!
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nein, um Ihre Hört!)
Glaubwürdigkeit geht es, Frau Kollegin!)
und zwar weil es schlecht ist. Es ist in der Tat ein löchri-
und Herr Seehofer hat seine Hausaufgaben in diesem ger Käse.
Fall nicht gemacht.
(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann
Ich kann mich sehr genau erinnern, dass Herr [FDP])
Seehofer Anfang dieses Jahres gesagt hat: Wir werden
die schwarzen Schafe benennen. – Das war sein Haupt- Das, was Sie erreichen wollen, nämlich dass die in die-
punkt: das Verbraucherinformationsgesetz. Heute sagt sem Fall Betroffenen genannt werden, wird nicht eintre-
er, die Anbieter müssten öffentlich benannt werden. ten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4423
Bärbel Höhn
(A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hundert- ter wurde, der Erste, der hier gesagt hat, er kaufe beson- (C)
prozentig richtig!) ders preiswert ein; alles sei so wie früher, alles sei gut.
Wenn alle Lebensmittel gleich gut sind, meine Damen
Heute sagen Ihnen die Experten, dass die Betroffenen
und Herren, dann zählt für die Verbraucher nur noch ei-
nach diesem Verbraucherinformationsgesetz nicht ge-
nes, nämlich der Preis. Wir sind heute – das sagen Vete-
nannt werden müssten. Dass die gewünschte Wirkung
rinäre in Deutschland – ein Markt für Gammelfleisch.
des Verbraucherinformationsgesetzes nicht eingetreten
ist, sehen Sie ja. Es gibt doch offensichtlich niemanden (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU,
auf diesem Markt, der vor diesem Verbraucherinforma- der SPD und der FDP)
tionsgesetz Angst hat. Die abschreckende Wirkung, die
Sie sich erhofft haben, ist eben nicht eingetreten. Des- All das, was andere Länder hier in Europa nicht loswer-
halb ist es falsch, einfach auf dieses Verbraucherinfor- den, bringen sie in Deutschland auf den Markt.
mationsgesetz zu setzen. Wir müssen es ändern. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der Präsi-
Vor allen Dingen müssen wir eines machen: Wenn dent müsste einschreiten! Sie beleidigen das
Herr Seehofer heute von den Anbietern spricht, dann ist ganze deutsche Ernährungsgewerbe!)
das wieder nur eine radikale Forderung, hinter der nichts Wenn Sie von der CDU dieses Problem nicht einsehen,
steckt. Es soll nur wieder der kleine Fleischmakler be- dann werden wir den Gammelfleischskandal überhaupt
nannt werden. Aber wer hat denn von diesem kleinen nicht in den Griff bekommen.
Fleischmakler das Fleisch gekauft? Das waren große
Fleischkonzerne; sie haben es gemacht, weil sie dadurch (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie setzen
eine Menge Geld gespart haben. Genau die müssen auch Zehntausende Arbeitsplätze aufs Spiel!
benannt werden; denn sie wissen, was sie tun. Furchtbar, was Sie hier erzählen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Setzen wir wieder da an, wo wir gute Politik gemacht
haben: Setzen wir bei der Qualität an, meine Damen und
Nur über diese Selbstheilungskräfte der Branche
werden wir es schaffen, diesen Gammelfleischmarkt Herren! Nur bei einem vernünftigen Preis-Leistungs-
Verhältnis – wenn die Leute nach Qualität einkaufen –
endlich in den Griff zu bekommen. Das ist der richtige
werden wir die Diskussion um Gammelfleisch endlich
Weg; der richtige Weg sind nicht irgendwelche billigen
und auch rigorosen Ankündigungen, wie sie heute wie- wegbekommen in diesem Land.
der von Herrn Seehofer kommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Höhn,
Frau Höhn – –
(B) welcher Fleischkonzern hat denn gekauft? Das (D)
stimmt doch gar nicht, was Sie da sagen!)
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
An einem Punkt gebe ich Herrn Seehofer Recht, und
Ich komme zum Schluss.
zwar bezüglich der Strafen. Es gibt schon heute ein aus-
reichendes Maß an Strafen; das stimmt. Es ist Zeit, dass sich was dreht, meine Damen und
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Herren. Machen Sie eine andere Politik!
nicht!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Aber die Gerichte haben in den vergangenen Jahren
Frau Höhn, bevor Sie zum Schluss kommen, möchte
trotzdem ein relativ niedriges Strafmaß angewendet;
der Kollege Goldmann gern eine Zwischenfrage stellen.
auch das müssen wir sehen.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Und was Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sollen wir dagegen machen?)
Ja, bitte.
Der letzte Punkt. Herr Seehofer spricht von Quali-
tätsstandards. Ebenso spricht er davon, dass Bund und (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Länder sich besser abstimmen müssen. Ich kann mich NEN]: Herr Solms, Sie machen die schöne
sehr genau erinnern, dass er gesagt hat, die Abstimmung Rede kaputt für den FDP-Beitrag! Das war ja
zwischen Bund und Ländern werde er in den Griff be- wieder eine gute neutrale Amtsführung! – Ge-
kommen, anders als Frau Künast, die Symbolpolitik be- genruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/
trieben habe. Er hat sie aber nicht in den Griff bekom- CSU]: Keine Kritik am Präsidenten!)
men; Bayern hat eben nicht gemeldet. Jetzt spricht er
von Qualitätsstandards. Das finde ich richtig. Aber wa- Hans-Michael Goldmann (FDP):
rum hat er diesen Punkt nicht bei der Föderalismusre- Frau Künast, jetzt, wo Sie da sind, sollten Sie einen
form eingebracht? Er hatte monatelang die Möglichkeit, Moment zuhören. Frau Höhn hatte fünf Minuten Rede-
eine Änderung der verschiedenen Strukturen herbeizu- zeit – schauen Sie einmal, wie liebenswürdig der Präsi-
führen. Diese Möglichkeit hat er verstreichen lassen, dent zu Frau Höhn war.
stellt aber heute erneut die gleiche Forderung.
Bei der Qualität und den Qualitätsstandards holt ihn Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
seine eigene Politik ein. Herr Seehofer war, als er Minis- Sie sind jetzt ja auch dran!
4424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): andere ihre schlechten Produkte hierher bringen, dann (C)
Frau Höhn, ich finde das ja alles ganz spaßig, was Sie werden wir dieses Problem nicht in den Griff bekom-
sagen. Sind Sie bereit, am Freitag in der Ausschusssit- men.
zung – nicht öffentlich – zu sagen, welche Veterinäre Ih-
nen gesagt haben, dass Deutschland sozusagen ein Land (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist abenteu-
des Gammelfleisches ist? erlich, was Sie da von sich geben!)
Am Ende werden die Arbeitsplätze, die Sie jetzt schüt-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zen wollen, eher verloren gehen, als wenn wir das Pro-
Ja, ich bin bereit. blem rechtzeitig angehen und die Lösungen dazu nach
vorne bringen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Werden Sie am Freitag verifizieren, um welche Grö- Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist das
ßenordnungen es dabei geht? Ich finde das, was Sie hier Allerletzte! – Hans-Michael Goldmann [FDP]:
sagen, zutiefst skandalös. Wenn Sie, die Sie Fachminis- Das war aber heftig! – Weitere Zurufe des
terin eines Landes waren, in dem die Fleischwirtschaft Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] sowie
eine sehr zentrale Rolle spielt – ich denke zum Beispiel Gegenrufe der Abg. Bärbel Höhn [BÜND-
an das Münsterland oder an Wiedenbrück –, so etwas sa- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Glocke des Präsi-
gen, dann bezeichne ich das als einen klassischen Ar- denten)
beitsplatzvernichter ersten Ranges, der durch nichts,
durch überhaupt nichts zu rechtfertigen ist.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Bleser. Bitte
neten der FDP) schön.
Sie haben eben gesagt – wenn ich das ein bisschen (Beifall bei der CDU/CSU)
verkürzt wiederholen darf –: Deutsche Fleischkonzerne
handeln mit Gammelfleisch. – Sind Sie sich über die
Peter Bleser (CDU/CSU):
Aussage, die Sie gerade getätigt haben, im Klaren?
Glauben Sie, dass Sie wirklich einen deutschen Fleisch- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist
konzern nennen können, der mit Gammelfleisch han- diese Generaldebatte um den Haushalt durch ein Thema
delt? Oder sind es nicht vielleicht eher die Kleinen, die bestimmt, nämlich die Aufarbeitung des Gammel-
Schwachen in diesem System, die diese Situation miss- fleischskandals. Deswegen möchte und muss auch ich
(B) brauchen? Ich bitte Sie wirklich, in dieser Frage etwas dazu einige Äußerungen machen, gerade in Bezug auf (D)
rücksichtsvoller gegenüber einer leistungsfähigen Bran- die hier gerade vorgetragenen Reden von Herrn
che und gegenüber den Arbeitsplätzen in diesem Bereich Goldmann und von Frau Höhn.
zu sein, die viele, viele Haushalte finanzieren. Herr Kollege Goldmann, ich glaube, Sie waren nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sehr redlich, als Sie dem Minister unterstellt haben, dass
neten der FDP) er hier behauptet habe, es gebe bei der Lebensmittelkon-
trolle keine Probleme, es sei alles okay.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, er hat
Herr Goldmann, Sie tun der Fleischwirtschaft keinen ja das Gegenteil gesagt!)
Gefallen, wenn Sie dieses Problem negieren.
Gerade Herr Seehofer hat unabhängig von der politi-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Tue ich schen Farbe einer Landesregierung sehr deutlich ge-
nicht!) macht, welche Fehler zu beheben sind und was bisher
Wir alle wissen von vielen Bereichen – von der Fleisch- nicht richtig gelaufen ist. Ich glaube, es ehrt einen Bun-
wirtschaft, aber auch von anderen Bereichen –, dass der desminister insbesondere, wenn er in dieser Klarheit und
deutsche Markt mittlerweile ein Markt ist, der nicht ohne parteipolitische Zuordnung vorgeht. Das ist zu
mehr von Qualitätsprodukten gekennzeichnet ist. rechtfertigen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist ja (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Schwachsinn, was Sie da sagen! – Weitere Zu- neten der SPD)
rufe von der CDU/CSU) Das Nächste, was Sie hier unterstellt haben, hat eine
Wir zwei waren gemeinsam in den Niederlanden. Was besondere Qualität. Sie meinen, das Verbraucherinfor-
haben uns da die Gemüsehändler erzählt? Sie haben ge- mationsgesetz – wenn es denn in Kraft getreten ist; das
sagt: Die Gemüse mit der hohen Qualität gehen nach wird noch einige Wochen dauern; das wissen die Men-
Großbritannien, die Gemüse mit der niedrigen Qualität schen draußen nicht – schaffe keine verbesserte Lage.
nach Deutschland. Das liegt auch an dem harten Wettbe- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Für diesen
werb der Händler hier in Deutschland. Wenn wir dieses Fall keine verbesserte Lage! Richtig!)
Problem negieren – für mich ist Großbritannien kein
Gourmetland, das muss ich ganz ehrlich sagen – und der Herr Goldmann, ich erinnere daran, dass die FDP und
harte Preiswettbewerb bei uns am Ende dazu führt, dass insbesondere Sie es waren, die in den Verhandlungen des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4425
Peter Bleser
(A) Vermittlungsausschusses in den letzten Legislaturperio- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
den Herr Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höhn?
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Früher! Das
ist lange her!)
Peter Bleser (CDU/CSU):
darauf bestanden haben, dass nur dann Namen genannt Bitte schön.
werden dürfen, wenn Verwaltungsverfahren rechtskräf-
tig abgeschlossen sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Höhn.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig! Es
sei denn, es ist gesundheitliche Gefahr in Ver-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zug! Das ist doch jetzt schon!)
Herr Bleser, Sie haben gerade gesagt, ich hätte etwas
Das würde bedeuten, dass es unter Umständen Jahre unterstellt, was ich begründen müsse, nämlich dass in
dauert, bis ein Gerichtsurteil verkündet ist, infolgedessen den Landkreisen eine zu große Nähe zwischen den Kon-
man die entsprechende Person oder das entsprechende trolleuren und den dortigen Wirtschaftsvertretern be-
Unternehmen nennen darf. Das ist kein Verbraucher- stehe. Herr Bleser, was sagen Sie dann zu dem Wild-
schutz, so wie wir ihn wollen. fleischskandal in Bayern, bei dem erwiesen ist, dass die
Behörden nicht eingegriffen haben, obwohl sie wussten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – dass der Wildfleischlieferant Berger Fleisch, dessen
Hans-Michael Goldmann [FDP]: Vertrau dem Haltbarkeit abgelaufen war, weiterverkauft hat? Was für
Tierarzt!) ein Verhalten ist das Ihrer Meinung nach? Belegt das
nicht eine zu große Nähe zwischen Behörden und dem
Nach dem bald in Kraft tretenden Verbraucherinfor- Unternehmen? Fällt das nicht genau unter den Punkt,
mationsgesetz ist nicht nur die Nennung des Namens den ich genannt habe, nämlich dass Behörden nicht tätig
desjenigen Unternehmens, welches gegen Gesetze ver- werden, obwohl ihnen bekannt ist, dass vor Ort ein nicht
stoßen hat, möglich, sondern auch die Nennung derjeni- gesetzmäßiges Verhalten stattfindet?
gen, die das Produkt nicht mehr auf dem Markt haben,
und derjenigen, die das Produkt bezogen haben. Das ist
Peter Bleser (CDU/CSU):
eine neue Qualität, die ihre Auswirkung auf den Markt
mit Sicherheit nicht verfehlen wird. Frau Höhn, das ist ganz banal: Sie können nicht einen
Einzelfall – den ich natürlich beanstande und kritisiere –
(B) (Beifall bei der CDU/CSU) verallgemeinern und damit eine ganze politische Kultur (D)
infrage stellen.
Ich hoffe, dass die abnehmenden Unternehmen, aber
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
insbesondere auch die Verbraucher die öffentlich ge-
nannten Unternehmen durch Kaufverweigerung entspre- neten der SPD und der FDP)
chend sanktionieren. Wenn es nicht anders geht, kann Ganz im Gegenteil: Die räumliche Nähe führt dazu, dass
dies zum Schließen eines Unternehmens führen; denn insbesondere die Kommunen ihre Pappenheimer – so
nur so bekommen wir eine veränderte Situation, die zu will ich sie einmal bezeichnen – eher kennen, als es der
Qualität zwingt. Das ist unser Antritt. Den haben wir Fall ist, wenn nicht vor Ort ansässige oder ferngesteuerte
sehr klar mit unseren Festlegungen im Verbraucherinfor- Kontrolleure auftreten.
mationsgesetz verfolgt.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ferngesteuert? Unabhängig heißt das!)
Die Nähe kann hilfreich sein. Aber in dem einen Fall hat
Sie, Frau Höhn – wenn Sie mir Ihre geneigte Auf-
sie sicher nicht zu besonderer Objektivität geführt.
merksamkeit zuwenden würden! –,
Meine Damen und Herren, wir beraten heute den
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Agrarhaushalt. Erlauben Sie mir, dass ich neben dem
NEN]: Dann müssen Sie aber auch etwas jetzt angesprochenen Thema auch auf dieses Spektrum
Spannendes sagen!) eingehe.
haben den Landräten unterstellt, dass die Kommunen die Ich denke, wir können schon voller Stolz sagen, dass
Produzenten bzw. Vertreiber von Gammelfleisch decken die Politik der ersten gut neun Monate dieser Bundesre-
würden. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Das sollten Sie gierung gerade in der Agrarwirtschaft enorme Erfolge zu
belegen; ansonsten würde ich so etwas hier in diesem verzeichnen hat. Es gibt einen Stimmungswandel, Frau
Haus nicht sagen. Künast, allein schon durch die Tatsache, dass Sie nicht
mehr hier vorne sitzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich sage auch Ihnen: Sie erwecken den Eindruck, dass neten der FDP – Renate Künast [BÜND-
durch das Verbraucherinformationsgesetz nichts verän- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber! – Zuruf von
dert werde. Das ist eine Fehleinschätzung, deren Ursa- der SPD: Das ist nicht sauber! – Gegenruf des
che eine gewisse Realitätsferne ist. Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das war
4426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Peter Bleser
(A) aber gut! So denken die Leute draußen! Das mern das begrüßt. Er muss doch wissen, dass in der Öf- (C)
war richtig!) fentlichkeit nur sehr schwer ein Verständnis dafür herzu-
stellen ist, dass Mittel an Großstrukturen übertragen
– Man soll sich hier halt nicht mit Zwischenrufen profi-
werden. Ich meine, die Menschen haben einen Anspruch
lieren.
auf Verlässlichkeit. Sie müssen sich darauf verlassen
Dieser Stimmungswechsel drückt sich ganz konkret können, dass die GAP-Reform, die bis 2013 abgeschlos-
in der Tatsache aus, dass sich das Agrarkonjunkturbaro- sen sein wird, auch so umgesetzt wird, wie sie beschlos-
meter von 50 Punkten im März 2004 auf 113 Punkte im sen worden ist.
Juni dieses Jahres mehr als verdoppelt hat. Die Land-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
wirte investieren wieder. Sie haben Vertrauen in die Zu-
kunft. Ihre Einkommen sind gestiegen. Diesen hoff- Die Maßnahmen müssen so ausfallen, wie es die Land-
nungsvollen Weg setzen wir konsequent fort und wirte kalkuliert haben.
deswegen sind wir schon ein Stück stolz darauf, dass es
Wir haben nämlich – das muss man der Öffentlichkeit
auch im Haushalt 2007 gelungen ist, eine Kürzung der
sagen – eine Kürzung in der ersten Säule um circa
Bundesmittel bei der landwirtschaftlichen Unfallversi-
15 Prozent zu erwarten, wenn Bulgarien und Rumänien
cherung
der Europäischen Union beitreten. Bei der zweiten Säule
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: sind es – jedenfalls nach der jetzt vorliegenden Berech-
Trickreich, ja!) nung – nur 12 Prozent. Es wäre angebracht, dass hier
eine Gleichbehandlung erfolgt.
und Beitragssatzerhöhungen, die Sie immer wieder ver-
ursacht haben, zu vermeiden. Es besteht die Gefahr, dass, wenn wir die Transpa-
renzrichtlinie so umsetzen, wie sie die Europäische
Wir haben im Übrigen auch die Mittel für den Verbrau-
Union vorschlägt, Neid und Missgunst in die Dörfer ge-
cherschutz in diesem Haushaltsentwurf um 13,2 Millionen
tragen werden.
Euro angehoben. Ich bin sicher: Auch das wird zu einer ent-
sprechenden Veränderung des Bewusstseins draußen füh- (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP)
ren.
Ich glaube, die Landwirte haben einen Anspruch darauf,
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass ihre Privatsphäre geschützt wird
Ich dachte, es wäre die bessere Stimmung!)
(Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
Ich will aber jetzt noch etwas zu der landwirtschaft- GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
lichen Unfallversicherung sagen, weil die von den Be- frage – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau
(B) troffenen in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik in den Künast!) (D)
letzten Wochen zugenommen hat. Ich bin nicht sicher,
wie lange es noch gelingt, und dass sie nicht als einzige Berufsgruppe, die staatli-
che Hilfen erhält, ihr Einkommen, das zu einem wesent-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: lichen Teil aus diesen staatlichen Hilfen besteht, offen
Was willst du denn?) legen müssen.
diese Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfall- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
versicherung zur Verfügung zu stellen. Deswegen ist NEN]: „Zu einem wesentlichen Teil“?)
eine grundsätzliche Reform der landwirtschaftlichen Un-
fallversicherung, auch nach dem Bericht des Bundes- Hier gehen wir an die Ehre der Bauern und das ist mit
rechnungshofes, unvermeidlich. uns nicht zu machen.
Dabei sind uns die Beitragszahler, die Bauern und ihre Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Mitarbeiter, am wichtigsten. Ich hoffe, dass die Ange- Herr Kollege Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage
stellten der Unfallversicherungen das nötige Verständnis der Kollegin Künast?
aufbringen und sie die notwendigen Veränderungen mit-
tragen.
Peter Bleser (CDU/CSU):
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sagt das der Ja, bitte.
Minister auch?)
Darüber hinaus stehen wir in den nächsten Monaten Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
auch vor der Frage, ob wir bei der Bewertung der ersten Herr Bleser, die von Ihnen aufgeworfene Frage der
und der zweiten Säule eine Umschichtung durch eine hö- Ehre beschäftigt mich an der Stelle. Zunächst einmal
here Modulation vornehmen sollen oder nicht. In diesem habe ich Zweifel daran, dass sich die Einkommen der
Zusammenhang und auch im Zusammenhang mit der Bauern „im Wesentlichen“, wie Sie es gerade gesagt ha-
EU-Transparenzrichtlinie wird eine heftige Debatte ben, aus den Zahlungen aus Brüssel ergeben. Was mich
geführt. Nicht wenige hier in diesem Haus wollen ja, aber besonders wundert, ist, dass Sie hier eine Sonder-
dass alle Zahlungen an die Landwirte veröffentlicht wer- stellung der Bauern behaupten. Können Sie mir erklären,
den. Ich wundere mich insbesondere darüber, dass der warum für Landwirte die Veröffentlichung der erhalte-
Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpom- nen Subventionen irgendwie ungerecht wäre – das ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4427
Renate Künast
(A) Ihre Formulierung –, während Ihr Gehalt als Mitglied Ich fasse zusammen: Wir müssen beim Verbraucher- (C)
des Deutschen Bundestages, mein Gehalt oder das des schutz natürlich weitergehen und dürfen uns nicht nur
Ministers per Gesetz veröffentlicht wird? auf den Lebensmittelsektor beschränken. Wir haben
durch unsere Initiativen bei den Roamingentgelten schon
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist das eine zu einer Veränderung beigetragen, wir werden auch bei
Subvention? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: den Fahrgastrechten bei der Bahn weitere Verbesserun-
Frau Künast wird subventioniert!) gen zugunsten des Verbraucherschutzes erreichen. Wir
Sie müssten doch gleichermaßen eine Kampagne dafür werden in den nächsten Jahren ganz sicher dazu beitra-
führen, dass Minister- und Abgeordnetenbezüge in Zu- gen, dass die Verbraucher mehr zu Qualitätsprodukten
kunft nicht mehr öffentlich gemacht werden, frei nach greifen. Da bei Markenprodukten eine direkte Bezie-
dem Motto, das diskriminiere sie und sei der Gesell- hung zwischen Kunde und Hersteller besteht, ist es mir
schaft nicht zu vermitteln. ein besonderes Anliegen, dass Markenprodukte größere
Marktanteile erreichen und weniger zu No-Name-Pro-
Durch das Verbraucherinformationsgesetz soll mehr dukten gegriffen wird.
Transparenz geschaffen werden. Meinen Sie nicht, dass
Wir haben erreicht, dass Verbraucher und Landwirt-
die Steuerzahler das gute Recht haben zu erfahren, wo-
schaft wieder Vertrauen zueinander finden. Beim Le-
hin das Geld fließt? Wohlgemerkt, es geht um die Höhe
bensmittelhandel müssen wir noch zu mehr Vertrauen
der erhaltenen Subventionen, nicht um den Umsatz eines
kommen, aber auch daran werden wir arbeiten. An die-
jeden Betriebes. Wie kommen Sie dazu zu behaupten,
sen Aussagen können Sie uns messen.
das sei ungerecht, da Ihr eigenes Gehalt öffentlich ist?
Herzlichen Dank.
Peter Bleser (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Frau Künast, wir könnten das für alle Berufsgruppen FDP)
und diejenigen, die staatliche Transferleistungen erhal-
ten – das fängt beim Hartz-IV-Empfänger an und geht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
über die Kohlesubvention bis hin zu den Gehaltszahlun- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Edmund Geisen
gen der Beamten und Angestellten des öffentlichen von der FDP-Fraktion.
Dienstes –, öffentlich machen. Das würde zu einem ge-
waltigen Bürokratieaufwand führen und unter Umstän-
den sogar Arbeitsplätze schaffen. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
(B) (Ulrich Kelber [SPD]: Ich erkläre Ihnen ein- Herren! Ich bin in vielerlei Hinsicht anderer Meinung als (D)
mal, wie Computer funktionieren!) mein Vorredner. Ich denke, dass von der jetzigen Regie-
rung bisher noch kein Problem im Bereich Landwirt-
– Herr Kelber, sicher ist das elektronisch zu vereinfa- schaft, Ernährung und Verbraucherschutz gelöst wurde
chen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber was sagen Sie, Frau Künast, als Repräsentantin
der Grünen in diesem Zusammenhang zum Daten- und keine wirksamen Reformen in Gang gesetzt wurden.
schutz? Was hat das mit dem Schutz der Privatsphäre zu
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tun?
der LINKEN)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Schlimmste, was man dem zuständigen Minister
NEN]: Man muss das Geld ja nicht nehmen! vorzuwerfen hat, ist der andauernde Zick-Zack-Kurs sei-
Dann hat man auch kein Datenschutzpro- ner Politik.
blem!)
Herr Minister Seehofer, wir von der FDP haben sorg-
– Das, Frau Künast, war die größte Unverschämtheit, die fältig notiert, dass Sie innerhalb eines halben Jahres min-
ich mir bisher von Ihnen anhören musste. destens 13 unterschiedliche Bewertungen zum System
der landwirtschaftlichen Unfallversicherung öffent-
Sie haben eine Agrarpolitik betrieben, in deren Folge
lich abgegeben haben. Das heißt: Durchschnittlich alle
landwirtschaftliche Betriebe bis zum Jahr 2013 vor gra-
14 Tage plädierten Sie für eine neue Reformvariante.
vierende Veränderungen gestellt wurden, die sie ohne
diese Hilfen überhaupt nicht überstehen können. In die- Bei den Beratungen zum Koalitionsvertrag vom No-
ser Situation wollen Sie die Menschen an die Öffentlich- vember 2005 setzen Sie sich für ein modernisiertes land-
keit zerren und durch eine Neiddiskussion um diese Hil- wirtschaftliches Sozialversicherungssystem ein. Am
fen bringen. Das ist der wahre Grund, der hinter Ihrem 12. Dezember 2005 kritisieren Sie Frau Künast im
Handeln steht. „Focus“ wegen der 50-Millionen-Euro-Kürzung der
LUV-Bundesmittel mit der Begründung, dies werde über
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken Beitragserhöhungen zum Knock-out des Berufsstandes
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das führen. Übrigens: Genau dasselbe machen Sie nun im
der CSU! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ aktuellen Haushaltsentwurf.
DIE GRÜNEN]: Das war zwar keine Antwort,
aber als Versuch gut!) (Beifall bei der FDP)
4428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Manfred Zöllmer
(A) und Stiftungen. Der Zuschuss für die Stiftung Warentest Auch wenn die Zahlen es auf den ersten Blick nicht (C)
wird in Höhe von 6,5 Millionen Euro gehalten und das erkennen lassen – der Haushaltsentwurf 2007 ist ein
ist auch gut so. Haushalt gegen den ländlichen Raum. Die von der
deutschen Regierung zu verantwortenden Kürzungen der
(Beifall bei der SPD) EU-Mittel für die zweite Säule werden mit keinem Cent
Darüber hinaus halte ich es für richtig, dass die Stiftung kompensiert. Im Gegenteil, die Titel zur Sicherung einer
Warentest seit dem Jahr 2004 bei ausgewählten Tests As- zukunftsfähigen Agrar- und Verbraucherpolitik werden
pekte der sozialen Unternehmensverantwortung mit planmäßig abgewickelt. Zum Beispiel werden die Mittel
berücksichtigt. Mehr und mehr Verbraucherinnen und für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben für Umwelt-
Verbraucher sind an diesen Hintergrundinformationen schutz im Agrarbereich, das sind 1,6 Millionen Euro,
interessiert und richten ihre Kaufentscheidungen zu komplett gestrichen. Sie kürzen den Etat für das Bundes-
Recht an ihnen aus. Wirtschaft sowie Verbraucherinnen programm „Tiergerechte Haltungsverfahren“ um 83 Pro-
und Verbraucher tragen Verantwortung auch für soziale zent; das sind 2,5 Millionen Euro weniger.
und Umweltstandards. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie wollten
Die institutionelle Förderung der Verbraucherzen- doch zur Sache sprechen!)
trale Bundesverband bleibt nahezu unverändert. Den Etat für das Bundesprogramm „Ökologischer Land-
bau“ wollen Sie um 20 Prozent kürzen; das bedeutet
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
4 Millionen Euro weniger. Und das, obwohl die Branche
der CDU/CSU)
Zukunft hat: zweistellige Zuwachsraten in den letzten
Wenn sich der Bund zu seiner Verantwortung bekennt Jahren, 150 000 Arbeitsplätze in der Naturkostbranche.
und die Arbeit der vzbv als wichtige ordnungspolitische Die Förderung von Modell- und Demonstrationsvorha-
Aufgabe betrachtet und entsprechend fördert, müssten ben wollen Sie um 18 Prozent, also 1,8 Millionen Euro,
auch die Länder die Förderung der Verbraucher- kürzen. Sie schrecken selbst vor Kürzungen bei der Ver-
zentralen als ihre Pflicht ansehen. Leider werden in im- braucheraufklärung und den nachwachsenden Rohstof-
mer mehr Bundesländern die Mittel gekürzt. Viele Bera- fen nicht zurück.
tungsstellen und -angebote bluten regelrecht aus. Viele (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Länder lassen die Verbraucherinnen und Verbraucher im GRÜNEN]: So wenig Zukunft!)
Regen stehen. Die Arbeit der Verbraucherzentralen vor
Ort ist von unschätzbarem Wert. Es ist eine wichtige Summa summarum streichen Sie, Herr Minister,
Aufgabe der Landespolitik, dafür zu sorgen, dass 13,7 Millionen Euro bei Zukunftsaufgaben – und das,
niedrigschwellige Beratungsangebote in Deutschland obwohl der Agrarhaushalt im Vergleich zum laufenden
(B) (D)
flächendeckend vorhanden sind. Haushaltsjahr um 82,5 Millionen Euro aufgestockt wird.
Sie kommen also nicht etwa schmerzlichen Kürzungs-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da meine Redezeit vorgaben nach, sondern Sie streichen Künast-Titel, um
abgelaufen ist, komme ich zum Schluss. Dieser Haushalt ein Zeichen zu setzen. Das ist ideologisch, also genau
macht deutlich, wie eine aktive Verbraucherpolitik, die das, was Sie uns – zu Unrecht – immer vorwerfen.
die Wirtschaft als Bündnispartner betrachtet und die Ver-
braucherinnen und Verbraucher nicht bevormunden will, Gleichzeitig wollen Sie die Mittel für die Förderung
in Zahlen ihren Ausdruck finden kann. Wir müssen uns von Innovationen um 16,6 Millionen Euro erhöhen.
den Herausforderungen neuer Märkte, neuer Geschäfts- Grundsätzlich begrüße ich das, allerdings kommt es da-
modelle und der digitalen Welt stellen und sie aktiv mit- rauf an, was Sie mit dem Geld machen. Sie wollen damit
gestalten. Dafür sorgen wir. zum Beispiel die Forschung im Bereich der Agro-
gentechnik forcieren.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Behm, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Bahr von der SPD-Fraktion?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm vom
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bündnis 90/Die Grünen.
Ja, gerne.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie haben
jetzt die einmalige Chance, zur Sache zu spre- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD):
chen, Frau Kollegin! – Ursula Heinen [CDU/ Frau Behm, ist Ihnen bekannt, dass die entsprechen-
CSU]: Ja, einmalig für die Grünen!) den Mittel in den vergangenen Jahren unter Frau Künast
gar nicht vollständig abgerufen worden sind und dass
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): jetzt um weniger gekürzt werden soll, als gar nicht abge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr rufen wurde?
Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gar
nicht so einfach, vom Gammelfleisch zurück zum Haus- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
halt zu kommen; aber da wir die erste Lesung haben, Darüber wird zu reden sein. Auf jeden Fall brauchen
sollten wir das jetzt tun. wir Titel – insbesondere das Programm, auf das Sie an-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4431
Cornelia Behm
(A) spielen –, die sich mit artgerechter Tierhaltung befassen. Kürzung der EU-Mittel erstmals massiv zu Buche schla- (C)
Es kommt sehr darauf an, wie wir diese Titel in Zukunft gen. Die fehlenden Mittel aus der zweiten Säule werden
ausgestalten. den Bauern richtig wehtun, und zwar besonders im Sü-
den dieser Republik.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bei der
Hühnerhaltung jetzt Gesetz!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wo ist das?)
– Wir müssen doch jetzt nicht über die Hühnerstallge- Hier hätte eine nationale Kompensation erfolgen müs-
schichte diskutieren! sen.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie uns mal über Eier reden!)
Sie wäre auch möglich gewesen; denn infolge des ausge-
Wie gesagt, die Frage ist, was man mit den Mitteln für handelten Kompromisses müssen ja viel weniger natio-
Innovationsförderung macht. Ich meine, sie in die Agro- nale Mittel nach Brüssel überwiesen werden.
gentechnikforschung zu stecken, ist der falsche Weg; mit
diesem Geld könnte man wahrlich Besseres machen. Sehr geehrter Herr Minister, bei den Mitteln aus der
zweiten Säule und der GAK handelt es sich nicht um ir-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gendwelche Subventionen, mit denen man mal mehr und
Denn Sie wissen alle, meine Damen und Herren: Die mal weniger Klientelpolitik betreiben kann. Im Gegen-
Akzeptanz für Agrogentechnik ist in Deutschland ein- teil: Die Förderung des ländlichen Raums ist entschei-
fach nicht vorhanden. Daher wird diese Forschung nicht dend für die Wettbewerbschancen unserer Landwirt-
wirklich Innovationen hervorbringen, die den Markt er- schaft in den nächsten 20 Jahren. Nicht umsonst spricht
reichen. Sie werden mit Ihrer Innovationsstrategie eine Frau Fischer Boel von der zweiten Säule als der Lebens-
Bauchlandung machen. versicherung der Landwirtschaft. Ihre Haushaltspolitik
zeugt jedoch nicht davon, dass Sie das wirklich verstan-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den haben.
Frau Kollegin Behm, erlauben Sie auch eine Zwi- Darüber hinaus frage ich mich, was Ihre Haushalts-
schenfrage der Kollegin Klöckner von der CDU/CSU- politik mit Planungssicherheit für die Landwirte zu tun
Fraktion? haben soll. Wo ist denn die Planungssicherheit für die
Bauern, die an Programmen der zweiten Säule teilneh-
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men? Wo bleibt Ihre viel beschworene Verlässlichkeit?
Ja, gerne. Im Koalitionsvertrag schreiben Sie:
(B) (D)
Die Finanzierung der Zweiten Säule muss ausrei-
Julia Klöckner (CDU/CSU): chend abgesichert und die gleichgewichtige Ent-
Liebe Kollegin Behm, Sie sagten, Sie lehnen es ab, in wicklung beider Säulen gewährleistet bleiben.
die Agrogentechnik Geld zu stecken. Aber ist es nicht
gerade Ihre Fraktion, die Fraktion der Grünen, die die Gleichzeitig streichen Sie als eine der ersten Amtshand-
Anwendung der Grünen Gentechnik ablehnt mit dem lungen aber die Mittel für den ländlichen Raum radikal
Hinweis, dass es nicht genug Forschung auf diesem Ge- zusammen.
biet gebe?
In diesem Zusammenhang bin ich schon sehr ge-
spannt auf den Kongress Ihres Hauses am 5. Oktober
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 2006. Was wollen Sie den Leuten denn da erzählen?
Wir lehnen die Agrogentechnik nicht aus diesem Wollen Sie sagen, dass der ländliche Raum und die
Grund ab, sondern wir lehnen sie ab, weil wir die Hoheit Landwirtschaft zukünftig auch ohne Fördermittel aus-
über unsere Teller und über unsere Äcker nicht großen kommen? Unsere Alternative ist ganz klar: Als Aus-
Monopolen überlassen wollen. gleich für die drastischen Kürzungen bei ELER fordern
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wir eine entsprechende Aufstockung der GAK-Mittel.
Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hört sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
aber anders an!)
Darüber hinaus brauchen wir ein neues Förderpro-
Wir meinen, dass diese Innovationsmittel eher in anwen-
gramm, durch das der überwältigende Erfolg des Pilot-
dungsrelevante Anbau- und Züchtungsforschung ge-
projekts „Regionen Aktiv – Land gestaltet Zukunft“
steckt werden müssen, und zwar nicht nur im Bereich
fortgesetzt wird. Ich habe im Sommer zehn der 18 Mo-
nachwachsender Rohstoffe; denn damit kann man etwas
dellregionen besucht und mit vielen Akteuren vor Ort
für die Zukunft der Landwirtschaft tun. Dies ist ange-
gesprochen. Alle waren sich in dem einen Punkt einig,
sichts des Klimawandels dringend notwendig.
dass dieses Förderprogramm das Beste war, was es für
Lassen Sie mich zur Gemeinschaftsaufgabe „Ver- den ländlichen Raum bisher gegeben hat. Es wurde mehr
besserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- regionale Wertschöpfung generiert und es wurden mehr
zes“ kommen. Dass Sie die Mittel für die GAK nach der Arbeitsplätze geschaffen als bei jedem anderen Pro-
Absenkung um 50 Millionen Euro in diesem Jahr nicht gramm mit vergleichbaren Mitteln. Ich fordere Sie des-
weiter zusammenstreichen, ist kein Trost für den ländli- halb dringend auf, eine entsprechende Anschlussförde-
chen Raum; denn ab Januar 2007 wird die drastische rung bzw. ein analoges Programm aufzulegen.
4432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stellt wird – wollen gar keine Zuschüsse oder Subventio- (C)
Frau Behm, kommen Sie bitte zum Schluss. nen. Sie wollen, dass man sie in Ruhe lässt und dass sie
nach guter handwerklicher Art arbeiten können.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich komme gleich zum Schluss. – Mit der Markt- neten der SPD und der FDP – Hans-Michael
einführung regionaler Qualitätsprodukte kann man im Goldmann [FDP]: Aber ihr wollt doch jetzt
Übrigen durchaus etwas gegen Gammelfleischskandale mehr Kontrollen!)
tun.
Die eine oder andere Gängelei durch die rot-grünen Ge-
Sehr geehrter Herr Minister, liebe Kolleginnen und setze aus der Vergangenheit muss natürlich durch staatli-
Kollegen, noch ist es nicht zu spät. Gehen Sie in sich che Mittel ausgeglichen werden.
und prüfen Sie den Agrarhaushalt auf seine Zukunftsfä-
higkeit. Denken Sie daran, dass wir hier nicht nur Politik (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
für die Städter machen, sondern dass etwa die Hälfte der Beifall bei der FDP)
deutschen Bevölkerung im ländlichen Raum lebt. Diesen
Menschen können wir den Stuhl nicht vor die Tür set- Das kann dann zwischenzeitlich in einen kleinkarierten
zen. Parteienstreit ausarten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass in Deutsch-
land Tausende von Veterinären und Gesundheitsaufse-
hern arbeiten, Zehntausende Betriebsinhaber leben und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hunderttausende von Menschen in den verschiedenen
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Schirmbeck von Fabriken und Anlagen einen guten Job machen. Für die
der CDU/CSU-Fraktion. Arbeit, die sie leisten, sollten wir ihnen danken.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Manchmal habe ich den Eindruck: Wir verdrängen,
ren! Zwischenzeitlich hat es ja einige Aufgeregtheiten dass wir das Glück haben, in der Hälfte der Welt zu le-
gegeben. Allerdings muss man sich fragen, worüber wir ben, in der man sich satt essen kann, während wir es ne-
hier eigentlich reden. gieren, dass die halbe Menschheit schmachtet, um es
ganz deutlich und krass zu sagen. Wenn man so manche
(Ursula Heinen [CDU/CSU]: Gammelfleisch!) Diskussion in Ruhe verfolgt, gewinnt man den Eindruck, (D)
(B)
Wenn ich durch die Gegenden in Deutschland fahre, dass wir irgendwann so weit sind, vor einem vollen
in denen die Landwirtschaft und die Ernährungswirt- Kühlschrank mit den allerbesten Lebensmitteln dieser
schaft eine große Rolle spielen, dann sehe ich, dass dort Welt zu stehen, aber so hysterisch geworden zu sein,
neue Schweineställe, Hühnerställe und Kuhställe gebaut dass wir Angst haben, von diesen Lebensmitteln zu es-
werden und Wurstfabriken, Salatfabriken, Gewürz- sen, und stattdessen lieber verhungern. Manche Diskus-
werke, Biogasanlagen, Sägewerke und Gärtnereien ent- sionen führt man nur, wenn man einen solch vollen Ma-
stehen. Ich stelle fest, dass die Investoren im länd- gen hat, wie wir ihn haben. Auch das muss man einmal
lichen Raum Vertrauen in die Zukunft haben. an dieser Stelle sagen.
(Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist das Ergebnis der Arbeit eines souveränen Minis- Das ist wirklich verrückt!)
ters und einer überzeugenden großen Koalition, also des-
sen, was wir in den letzten neun Monaten auf den Weg Jetzt können Sie natürlich für den einen oder anderen
gebracht haben. Das wollten wir so und darauf sind wir Haushaltstitel mehr Geld fordern. Über Geld diskutiere
stolz. ich auch immer zu Hause mit meiner Frau. Das Ergebnis
ist: Es ist immer zu wenig Geld da.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Hans-Michael Goldmann (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und der
[FDP]: Aber kein anderer merkt das! Deshalb FDP: Oh!)
habt ihr ja auch die tollen Umfragewerte!)
Darüber kann man lange reden. Fakt ist: Aus diesem
– Michael, du bist in einer schwierigen Situation. Wir Haushalt werden nicht wesentlich mehr Mittel herauszu-
beide sind uns in den allermeisten Fragen ja durchaus ei- quetschen sein. Wir werden für diesen Einzelplan nicht
nig. mehr Geld bereitstellen können. Deshalb ist es unsere
Aufgabe – das ist natürlich schwierig und das muss man
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Höchstens
intelligent anstellen –, auf Dauer mit weniger Geld mehr
im Flieger!)
zu bewegen. Das gilt für jeden einzelnen Haushaltsan-
Du kannst nicht alles, was im Emsland – bei dir zu satz. Darüber muss man diskutieren. Manchmal ist das
Hause im Wahlkreis – geschieht, zur Kenntnis nehmen. auch heilsam. Schließlich wissen wir, dass manche Pro-
Wenn du mit den Betriebsinhabern sprichst, dann wirst gramme und Ansätze rein gar nichts gebracht haben.
du feststellen: Die Bauern – auch wenn es anders darge- Diese müssen ganz einfach gestrichen werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4433
Georg Schirmbeck
(A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Verrate Putin als Frau Dr. Merkel zuständig ist und ob wir dafür (C)
doch mal eines!) Geld bereitstellen müssen oder nicht einmal den Finger
in die Wunde legen müssten. Das schließt nicht aus, dass
Wir haben eine Verstetigung der Politik. Aus der mit-
man an der einen oder anderen Stelle trotz allem etwas
telfristigen Finanzplanung kann man ganz einfach er-
tut. Aber es ist sicherlich auch wichtig, zu hinterfragen,
sehen, dass im ländlichen Bereich mit den 615 Millionen
ob sich die Verhältnisse geändert haben.
Euro aus der GAK gerechnet werden kann. Das heißt,
alle Bundesländer können kalkulieren, was zukünftig auf Wir haben im Wesentlichen nicht den Haushaltsplan
sie zukommt. beraten, sondern über den Verbraucherschutz gespro-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was habt ihr chen. Das war aufgrund der aktuellen Situation vielleicht
auf uns geschimpft!) auch nachvollziehbar. Aber dann sollte man wenigstens
noch das Argument in die Haushaltsplanberatungen ein-
Manche sagen uns auch: Wir brauchen gar nicht mehr bringen, dass wir für unsere Forschungsanstalten In-
Geld. Wir müssen bloß wissen, was mittelfristig auf uns vestitionen in einem bisher nicht da gewesenen Umfang
zukommt. Wenn das berechenbar ist, können wir mit der tätigen. Das heißt, wir machen unsere Einrichtungen, de-
einen oder anderen Einschränkung leben. ren Sachverstand wir brauchen und in Anspruch nehmen
Aber bei der GAK – das habe ich schon bei den letz- wollen, fit für die Zukunft. Ich glaube, auch das gehört
ten Haushaltsberatungen gesagt – stellt sich mir an der zu den Wahrheiten und Fakten, die hier vorgetragen wer-
einen oder anderen Stelle die Frage, ob das nicht eine den müssen.
ganz und gar undemokratische Einrichtung ist. Schließlich und endlich wissen wir, dass der Agrar-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da hast du haushalt zu etwa 80 Prozent – das schwankt vielleicht
Recht!) um ein paar Zehntel – eigentlich ein Sozialhaushalt ist.
Wir müssen dabei zur Kenntnis nehmen, dass beispiels-
An der wirklichen Mittelverteilung sind weder der Bun- weise beim landwirtschaftlichen Altersgeld in den
destag noch die Länderparlamente beteiligt. Daher muss nächsten Jahren steigende Ausgaben zu verzeichnen sein
man sich schon fragen, ob da nicht Beamte bürokra- werden; es sei denn, es gäbe jemanden, der eine Geset-
tische Verteilungsorganismen aufbauen, sodass diese zesinitiative anstoßen würde, um an dieser Stelle zu kür-
615 Millionen Euro gar nicht in dem vorgesehenen Um- zen. Das sehe ich aber nicht. Die Reden, in denen zum
fang dort ankommen, wo sie ankommen sollen. Es ist Sparen aufgefordert wird, und das tatsächliche Tun sind
unsere Aufgabe, das gezielt zu überprüfen. Es bringt eben zweierlei Dinge.
nichts, nur zu sagen: Mein Gott, hier sind die Mittel ge-
kürzt worden und wir brauchen mehr Geld. – Vielmehr Ich schließe mich aber ausdrücklich dem an, was der
(B)
müssen wir ganz konkret auf die Effizienz achten, Herr Kollege Bahr festgestellt hat. Bei der landwirtschaftli- (D)
Kollege Goldmann. Das ist gleichzeitig die Antwort auf chen Krankenkasse und der Unfallversicherung müs-
die Frage, die Sie eben als Zwischenruf gestellt haben. sen wir zu neuen Ufern kommen. Die anderen Redner
bekommen sicherlich ähnliche E-Mails wie ich. Es ist
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Niedersach- wünschenswert, die landwirtschaftliche Unfallversiche-
sen hat gut lachen!) rung für die Zukunft auf Kapitaldeckung umzustellen.
Angesichts all der Aufregung um die angeblichen (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
großen Kürzungen stelle ich mir die Frage, ob Sie die
Vorlage vielleicht gar nicht gelesen haben. Der Kollege Dann müssen wir uns aber auch damit auseinander set-
Bahr hat es richtigerweise angesprochen: Nebelhaus- zen, wo das Kapital herkommen soll. Es ist zwar ein-
haltsansätze helfen nichts, wenn die Mittel gar nicht ab- fach, dafür 1 Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt zu
fließen. Auch in der Vergangenheit hat es offensichtlich fordern. Eine solche Politik haben wir in der Vergangen-
für das eine oder andere Programm gar keine Notwen- heit gemacht. So können wir in Zukunft nicht vorgehen,
digkeit gegeben. weil uns das Geld dafür fehlt.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) (Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/
Diese Programme werden an das angepasst, was sachge- CSU] – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE
recht ist. Da die Mittel dann auch berechenbar sind, kön- GRÜNEN]: Ach so!)
nen die Programme im Bereich des Verbraucherschutzes Was ich damit sagen will, ist: Wenn es für die große
und in allen anderen Bereichen, die hier schon diskutiert Koalition in einem Politikbereich eine Erfolgsgeschichte
worden sind, sehr gut laufen. gibt, dann ist das in dem Bereich der Fall, über den wir
Wir müssen natürlich auch noch über andere Dinge hier diskutiert haben. Das zeigt sich daran, dass der
diskutieren. Ein Beispiel: Die Unterstützung für Pro- Minister alle Säle füllt und die Leute, die die Veranstal-
gramme für Hilfsmaßnahmen in Osteuropa wird den tung besucht haben, zufrieden nach Hause gehen. In dem
Einzelplan nicht zu Fall bringen. Aber wenn wir sehen, Sinne sollten wir gemeinsam weitermachen. Ich glaube,
dass es mittlerweile in Osteuropa Staaten gibt, die im wir beide schaffen es, das auf den Weg zu bringen, Ernst
Geld umkommen und bei uns sogar vorzeitig ihre Schul- Bahr.
den ablösen, dann stellt sich die Frage, ob beispielsweise Herzlichen Dank.
für das Elend in Kaliningrad – die deutsche Geschichte
ist hier natürlich emotional hoch belastet – nicht eher (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
4434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chern. Uns allen ist klar, dass im Zuge der finanziellen (C)
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Ausgestaltung der EU die Mittel für die Entwicklung der
hat das Wort die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD- ländlichen Räume nicht mehr, sondern weniger wer-
Fraktion. den. Trotzdem werden wir Wege finden müssen, um die
ländlichen Räume weiterzuentwickeln. Dabei kann die
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): nationale Kofinanzierung nicht das Allheilmittel sein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Weil dieses Thema von gesamtgesellschaftlicher Be-
Kollegen! Ich bin meinen beiden Haushältern Herrn deutung ist, von der Telekommunikation über den Perso-
Bahr und Herrn Schirmbeck sehr dankbar – ich glaube, nennahverkehr bis hin zur Wertschöpfung der ländlichen
ich spreche auch im Namen beider Arbeitsgruppen –; Betriebe, kann man nur im Einklang mit allen Akteuren
denn der vorgelegte Haushaltsentwurf zeigt, dass die Lösungen finden. Wir, die SPD-Fraktion, widmen uns
schwarz-rote Bundesregierung von Kontinuität geprägt diesem Thema auf einer Tagung am 12. September. Ich
ist: Dieser Haushaltsplan entspricht dem vorigen. Was glaube, dass wir dort zu sehr guten Lösungen kommen
von der Opposition in allen Teilen geäußert wurde, werden.
bringt mich dazu, festzustellen: Wenn Sie schon Reden
halten, dann sollten Sie wenigstens den Ausführungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ihrer Vorredner bzw. des Herrn Ministers Seehofer fol- der CDU/CSU)
gen. Dann hätten Sie manche Äußerung nicht getan.
Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe kann die
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundesregierung gute Erfolge verzeichnen. So förderte
Die großen Posten wie die Gemeinschaftsaufgabe das Bundesministerium mit insgesamt 50 Millionen
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- Euro verschiedene Projekte. Ich nenne als Beispiele nur
zes“ oder die agrarsoziale Sicherung werden auf dem den Einsatz biogener Schmierstoffe, Demonstrationsvor-
diesjährigen Niveau gehalten. Darauf werde ich später haben der energetischen Nutzung nachwachsender Roh-
noch eingehen. stoffe und den Einsatz der Biomasse. Ich weise zu Recht
darauf hin; denn der deutsche Energiebedarf wird schon
Ich möchte mit einem eher selten diskutierten Posten – das sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen las-
des Haushalts beginnen, nämlich dem Titel für Tagun- sen – zu etwa 4 Prozent über die Biomasse gedeckt. Die-
gen, Messen und Ausstellungen. Das hat heute noch ser Prozentsatz steigt und ist noch steigerbar.
niemand angesprochen, weil das Thema Gammelfleisch
im Vordergrund stand. Die Mittel für öffentliche Auf- Der große Posten der landwirtschaftlichen Sozial-
politik macht – Sie sehen mir sicherlich nach, dass auch
(B) tritte werden von 4,9 Millionen auf 6,6 Millionen Euro (D)
aufgestockt. Das halte ich für ausgesprochen wichtig. ich zu diesem Thema Aussagen mache – den Löwenan-
Ich denke dabei nur an die Werbung für deutsche Quali- teil des Einzelplans 10 aus. Wir haben im Koalitionsver-
tätsprodukte aus der Landwirtschaft. Aber auch die be- trag die Reform der agrarsozialen Sicherung vereinbart.
vorstehende EU-Ratspräsidentschaft wird hierbei si- Sie ist notwendig. Vor allem drängt die Zeit. Natürlich
cherlich eine Verpflichtung sein. ist es wichtig, dass diese Reform mit der allgemeinen
Reform des Gesundheitswesens einhergeht. Wir können
Finnland, das zurzeit die EU-Präsidentschaft innehat, hier nicht vorangehen, sondern müssen warten und ge-
geht beherzt schwierige Themen wie die Transparenzini- meinsam den Weg gehen. Aber wir haben keine Zeit
tiative und den Bürokratieabbau an. Österreich hat sich mehr zu verlieren. Herr Geisen, Ihrer Forderung nach
in seiner Amtszeit im ersten Halbjahr 2006 verstärkt der Einführung eines kapitalgedeckten Verfahrens in der
Entwicklung der ländlichen Räume und der Biomasse landwirtschaftlichen Unfallversicherung muss ich eine
gewidmet. eindeutige Absage erteilen. Versicherungen haben sich
Nach allen Erfahrungen der letzten Monate und Jahre bereits damit befasst und Gutachten erstellt. Demnach
wäre eine Fokussierung auf den Verbraucherschutz bzw. kann der Bund die alten Lasten nicht übernehmen; denn
auf die Verbraucherpolitik für die EU-Präsidentschaft so etwas schüttelt man nicht einfach aus dem Ärmel.
unter deutschem Vorsitz ein hervorragendes Thema, weil Darauf weisen wir bereits seit Jahren hin. Zudem ist für
sich auch die deutsche Bevölkerung damit identifizieren die Versicherten kein erkennbarer Nutzen durch die Um-
würde. Ich glaube, das wäre ein sehr geeignetes Thema. stellung auf ein kapitalgedecktes Verfahren zu erwarten.
Wenn wir eine Reform machen, sollten wir aber die Ver-
(Beifall bei der SPD) sicherten im Blick haben und nicht nur sehen, wie wir
das Problem vom Tisch bekommen.
Trotz des sehr engen Spielraums des Haushalts wer-
den die GAK-Mittel nicht weiter gesenkt. Aber in Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
kunft gilt in wesentlich stärkerem Maße, dass wir haus-
haltstechnisch die Mittel zur Verfügung stellen, die am In allen Bereichen des landwirtschaftlichen Sozial-
wenigsten marktpolitisch verzerrende Wirkungen zei- versicherungssystems brauchen wir Beitragsgerechtig-
gen. Die Agrarreform, die wir unter der Vorgängerregie- keit, eine größere Transparenz und mehr Effizienz. Wir
rung auch im Hinblick auf die WTO gemacht haben, brauchen ein Konzept, bei dem die Interessen der Ar-
wird sicherlich nicht der letzte Schritt sein, den wir in beitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Träger im Blick
der Politik gehen, um die landwirtschaftliche Produktion behalten werden und das gleichzeitig gewährleistet, dass
und die Wertschöpfung in den ländlichen Räumen zu si- die Bundesländer mit im Boot sind. Aber noch einmal:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4435
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
(A) Wir haben keine Zeit zu verlieren. Herr Minister, die gern verkünden können, welche Firmen unlauter arbei- (C)
SPD steht in dieser Frage an Ihrer Seite. ten, wer sich krimineller Machenschaften bedient und
wer vom Markt verschwinden muss. Unser Einzel-
(Beifall bei der SPD) plan 10 – ich habe das deutlich gemacht – hat eine solide
Der Bundeshaushalt sieht vor, dass die Forschungs- Grundlage. Ich hoffe auf gute Beratungen, natürlich
mittel aufgestockt werden. Da Frau Behm vorhin von auch auf Zustimmung von der Opposition.
Kürzungen geredet hat, bin ich froh, dass Herr
Vielen Dank.
Schirmbeck das klargestellt hat. Ich finde, es ist ein gu-
tes Zeichen, wenn wir die Einrichtungen und die Labors (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
so ausstatten, dass gute Arbeit geleistet werden kann.
Fortschritt bei der Forschung bedeutet ein Plus für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Unternehmen. Daran besteht ein öffentliches Interesse. Weitere Wortmeldungen zu dem Geschäftsbereich des
Nehmen wir als Beispiel die Impfung von Geflügel. Wir Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
alle warten auf wirksame Impfstoffe, die Entwarnung in Verbraucherschutz liegen nicht vor.
Bezug auf die Vogelgrippe geben könnten. Das würde
zum einen die Geflügelhalter aufatmen lassen, weil diese Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
nicht in der Lage sind, die finanzielle Last zu tragen, ministeriums der Justiz, Einzelplan 07. Als erste Red-
wenn der ganze Geflügelbestand getötet werden muss. nerin hat die Bundesministerin Brigitte Zypries das
Die finanziellen Auswirkungen sind enorm und könnten Wort. Frau Ministerin, bitte schön.
vermieden werden, wenn man die Infektionskrankheit in
den Griff bekommt. Zum anderen ist es mindestens ge-
Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz:
nauso wichtig, Schaden von der Bevölkerung abzuwen-
den und die gesundheitliche Sicherheit der Bevölkerung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
zu gewährleisten. Deshalb müssen wir in hohem Maße Es ist jetzt über neun Wochen her, dass das Haushaltsge-
in die verbraucherorientierte Forschung investieren. setz 2006 verabschiedet wurde. Heute befassen wir uns
erneut mit den Finanzen.
(Beifall bei der SPD)
Wenn man den Etat des Justizministeriums mit denen
Forschung soll effizient sein. Mittel können an Dritte der übrigen Ressorts vergleicht, dann stellt man fest:
vergeben werden. So kann man bundesseitig sparen. Die Nicht nur für den letzten Haushalt, sondern auch für den
nachgeordneten Einrichtungen des Bundes haben in den jetzt vorgelegten gilt, dass wir zwar am wenigsten aus-
vergangenen zehn Jahren ungefähr 20 Prozent – sprich: geben, aber am meisten einnehmen. Es sind 0,17 Prozent (D)
(B) 800 Stellen – eingespart. Warum sage ich das? Den Be-
des Bundeshaushalts. Damit ist unser Einzelplan der
hörden geht es um Inhalte und nicht darum, ob sie mög- kleinste des Bundeshaushalts. Wir haben mit
licherweise bei der nächsten Ausschreibung wieder den 72,5 Prozent aber nunmehr die mit Abstand höchste
Zuschlag erhalten oder nicht. Die Neutralität ist für das Kostendeckungsquote der Ressorts.
Bundesministerium ganz sicher von großem Nutzen.
Passen wir also auf, dass wir nicht an dem Ast sägen, auf (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])
dem wir sitzen.
Wer in den letzten Jahren aufmerksam zugehört hat,
Absolut wichtig ist außerdem, die Verbraucherauf- der wird sich fragen, warum unsere Kostendeckungs-
klärung zu stärken. Auch hier haben wir die Mittel auf- quote eigentlich so gesunken ist. Das liegt nicht daran,
gestockt. Wir haben im Laufe der Debatte gehört, wie dass das Deutsche Patent- und Markenamt weniger Ein-
wichtig es ist, für die Verbraucher zu sorgen und harte nahmen hat, sondern daran, dass die Pensionskosten in
Strafen für eine gewisse Art von Wirtschaftskriminalität diesem Jahr zum ersten Mal auf die Einzelhaushalte um-
zu verhängen. Ich glaube, dass Herr Minister Seehofer gelegt sind. Das heißt für ein Ministerium wie das Justiz-
mit dem Zehnpunkteprogramm die richtigen Stellschrau- ministerium, das einen sehr hohen Personalkostenanteil
ben gefunden hat. Ich glaube, man muss dieses Programm hat, natürlich, dass die entsprechenden Pensionslasten
umsetzen. Das ist in der heutigen Debatte deutlich gewor- sehr zu Buche schlagen.
den. Die Länder haben den wichtigsten Part bei der Um-
setzung: die Kontrollen. An dieser Stelle darf nicht ge- Ich möchte deshalb gleich an dieser Stelle den freund-
spart werden. Wir brauchen eine hohe Kontrolldichte lichen Hinweis geben, dass das Ausweisen der Pensions-
sowie unangemeldete und konsequente Kontrollen. Zu- lasten das eine ist; das andere ist die Frage, inwieweit die
sätzlich sind länderübergreifende Qualitätskontrollen not- Pensionslasten aus dem eigenen Haushalt gedeckt wer-
wendig. Wir haben mit dem Verbraucherinformationsge- den müssen.
setz die richtigen Schritte unternommen. Wenn der
(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)
Bundesrat im September hier noch etwas draufsattelt,
dann freuen wir als SPD uns ganz besonders. Ich bitte herzlich, nicht in die Versuchung zu geraten, in
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike Höfken ein oder zwei Jahren zu sagen: Wenn man es schon ein-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mal ausgewiesen hat, dann kommen Sie doch bitte selber
für Ihre Pensionslasten auf. Das könnte der Einzelplan
Ich hoffe, dass der Bundesrat zu solchen Konsequenzen des Justizministeriums nicht leisten. Dann müssten wir,
kommt und wir im September den Bürgerinnen und Bür- das Justizministerium, die Arbeit einstellen.
4436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Frau Ministerin, ich nehme gern auf, dass Sie sagen,
Gesetze müssten lesbar, verständlich und – das ist wirk-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
lich das Entscheidende – handwerklich gut sein. Da darf
gen! Der Justizhaushalt, Frau Ministerin, gibt wirklich,
ich nur an das „handwerklich gut gemachte“ Allgemeine
was das rein Finanzielle angeht, nicht allzu viel her. Gut,
Gleichbehandlungsgesetz erinnern,
dass Sie das Deutsche Patent- und Markenamt haben;
denn es ist doch immer wieder sehr schön, das in Haus- (Otto Fricke [FDP]: Vorsicht, Ironie!)
haltsdebatten zu nennen. Deshalb ist es wichtig, dass von
bei dem jetzt mit einer Nachbesserung endlich der Wille
Ihrer Seite aus immer ein sehr wohlwollendes Auge
(B) des Parlaments in Gesetzesform gegossen werden muss. (D)
– am besten zwei – auf diese „Goldkuh“ geworfen wird.
Ich kann nur sagen: Das ist wirklich hochnotpeinlich; da
In den knapp zehn Monaten der Legislaturperiode ist versteht der Bürger Politik nicht mehr. Ich hoffe, dass
noch nicht allzu viel passiert in der Rechtspolitik. Das das wirklich der einzige Ausreißer in dieser Dimension
steht uns jetzt im Herbst bevor, wenn wir einen Anhö- gewesen ist. So etwas hat es in der Gesetzgebung in den
rungsmarathon zu vielen wichtigen Vorhaben im Rechts- letzten Jahren nicht gegeben.
ausschuss durchführen werden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag
Geprägt war die Arbeit – die Föderalismusreform [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
nehme ich jetzt ausdrücklich aus als ein natürlich wichti- Das darf es natürlich nicht geben bei den wichtigen
ges Werk, mit dem sich aber das ganze Parlament unter Vorhaben, die bevorstehen. Das Projekt der Urheber-
Federführung des Rechtsausschusses befasst hat – in ers- rechtsreform ist jetzt mit dem Gesetzentwurf des Justiz-
ter Linie dadurch, dass Urteile des Bundesverfassungs- ministeriums in die Debatte im Bundestag eingebracht
gerichtes aufgearbeitet werden mussten. Ich nenne hier worden. Ich sage klar für die FDP-Fraktion: Wir halten
nur den Europäischen Haftbefehl; dass das Zollfahn- gerade die Weiterentwicklung des Urheberrechtes mit
dungsdienstgesetz noch darauf wartet, verfassungskon- der Stärkung der Stellung des Urhebers in einer für ihn
form zu werden, sei nur am Rande erwähnt. Ich sage das immer schwieriger werdenden digitalen Informationsge-
hier an dieser Stelle, weil ich sehr besorgt bin, wenn ich sellschaft für ganz wichtig. Deshalb ist es dringend not-
sehe, wie gerade auch in Kreisen der Politik mit den Ur- wendig, dass wir mit Sachverständigen diesen Entwurf
teilen des Bundesverfassungsgerichtes umgegangen in einigen Punkten wirklich offen, konstruktiv und – das
wird. sage ich für die FDP – kritisch erörtern. Wenn es in be-
(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie stimmten Bereichen Änderungsvorschläge gibt, werden
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir die Letzten sein, die nicht versuchen, gemeinsam mit
GRÜNEN) den anderen Fraktionen hier im Hause zu einem Ergeb-
nis zu kommen. Aber in der jetzigen Form darf der Ge-
Es kann einen nur sehr beunruhigen, wenn man hört, setzentwurf nicht bleiben; das sage ich an dieser Stelle
dass es Urteile gäbe – Rasterfahndung, Lauschangriff, ganz deutlich.
Luftsicherheitsgesetz –, die dringend wieder der Korrek-
(Beifall bei der FDP)
tur bedürften, weil sie zwar sehr wohl Grundrechtsrecht-
sprechung beinhalten, aber Teilen der Praxis so nicht Ein weiteres wichtiges gesellschaftspolitisches Vorha-
passen. ben ist die Reform des Unterhaltsrechts. Es geht dabei
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4439
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) darum, Kindern eine gesicherte, prioritäre Position im Monate zuwende, will ich uns alle ganz kurz daran erin- (C)
Unterhaltsrecht zu geben. Frau Ministerin, wir teilen nern, dass seit Freitag der vergangenen Woche die Ver-
zwar die Ansätze Ihres Entwurfs, den Sie vorgelegt ha- fassungsänderungen in Kraft getreten sind, die wir vor
ben. Wir werden aber über Details reden müssen. der Sommerpause verabschiedet haben. Diese Grundge-
setzänderungen – es wurde in diesem Zusammenhang
Hier wird ein Stück weit ein Paradigmenwechsel vor-
eine siebentägige Anhörung durchgeführt; das war ein-
genommen. Die gesellschaftlichen Realitäten und Verän-
malig in der Geschichte der Bundesrepublik – waren ein
derungen im Hinblick auf die Ehe mit und ohne Kinder,
großer Kraftakt. Daran sollte man in einer Rechtsdebatte
auf Familie und Erziehung werden aufgegriffen. Dies
ruhig einmal erinnern.
wird zu gewissen Einschränkungen bei Unterhaltsan-
sprüchen derjenigen Ehepartner führen, die keine Kinder (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
betreuen; das müssen wir offen sagen. Ich denke, es geht
In der Vergangenheit mögen zwar viele Koalitionen da-
nicht anders, weil in den allermeisten Fällen nur Man-
rüber geredet haben. Aber wir als große Koalition haben
gelverwaltung möglich ist.
gehandelt und können stolz auf diese Verfassungsände-
Ich hoffe, dass dann auch der Streit in der CDU/CSU rungen sein.
über das moderne Familienbild, über Familie und Ehe
Nun haben wir die Finanzverfassung einstweilen aus-
im 21. Jahrhundert beendet sein wird. Wenn wir den Be-
geklammert. Auch etwas anderes haben wir ausgeklam-
treuungsunterhalt für allein erziehende und verheiratete
mert, nämlich die Aufnahme weiterer Staatsziele in un-
Mütter regeln werden, wird sich erweisen, wie modern
ser Grundgesetz. Ich will heute nur wenige Worte dazu
die CDU/CSU tatsächlich ist.
sagen:
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ma-
Erstens. Wir stehen zu der Zusage, dass wir hierüber
chen Sie sich mal keine Sorgen!)
bald diskutieren werden und hierzu eine Anhörung im
Wir werden uns konstruktiv in diese notwendigen gesell- Rechtsausschuss durchführen werden.
schaftspolitischen Reformen einbringen.
Zweitens. Ich halte viele der Anliegen, die als poten-
Lassen Sie mich zum Schluss kurz einen weiteren Be- zielle Staatsziele in der Diskussion sind, für mehr als eh-
reich ansprechen; leider habe ich keine Zeit mehr, näher renwert.
darauf einzugehen. Natürlich sind für die rechtsberaten-
den freien Berufe in Deutschland entsprechende Rah- Drittens. Erlauben Sie mir aber, in diesem Zusam-
menbedingungen sehr wichtig. Wir verschließen uns Än- menhang eine Sorge auszusprechen, die mich wirklich
derungen, die jetzt unter anderem im Rahmen eines umtreibt, und zwar die Sorge, dass sich in der Öffent-
lichkeit, aber auch unter den Kollegen mehr und mehr
(B) Rechtsdienstleistungsgesetzes angedacht werden, (D)
nicht. der Eindruck festsetzt, dass ein politisches Ziel oder
Recht nur noch dann als angemessen verortet gilt, wenn
Dies sollte aber in ein Gesamtkonzept eingebettet es seinen Platz im Grundgesetz gefunden hat. Alles an-
werden. Wir müssen sehen: Es gibt viele andere Berei- dere wird anscheinend nur noch als zweit- oder drittran-
che, die die rechtsberatenden freien Berufe genauso be- gig wahrgenommen.
treffen, zum Beispiel die EU-Geldwäscherichtlinie oder
der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt Für mich ist dies eine Fehlentwicklung. Beschreiten
und Mandant. Da hat sich eine Lücke aufgetan, wie wir wir diesen Weg weiter, dann habe ich ernsthaft die Be-
in der Rechtsprechung sehen. Auch die Stärkung des fürchtung, dass wir das Ansehen einfachgesetzlicher Re-
Schwächeren durch den Anwalt muss eine Rolle spielen. gelungen schädigen und damit letztlich unser aller Ar-
Man muss sehen, durch welche Änderungen des Gesetz- beit entwerten.
entwurfes im Hinblick auf die Scheidung light dieser As- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
pekt eingebracht werden kann.
Gerade bei den einfachgesetzlichen Regelungen haben
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) wir im ersten Halbjahr vieles erreicht und angestoßen,
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bin was unter Rot-Grün nicht möglich war. Wir Christdemo-
froh, dass das nächste Jahr dieser Legislaturperiode der kraten freuen uns, dass wir mit unserem Partner bei-
Zeitpunkt für Entscheidungen zu wichtigen rechtspoliti- spielsweise Scheinvaterschaften – Stichwort: Imbissvä-
schen Vorhaben sein wird. ter – endlich bekämpfen, das Stalking unter Strafe stellen
oder Lücken bei der Sicherungsverwahrung schließen
Vielen Dank. können – viele Gesetzeswerke, die noch in Bundestags-
(Beifall bei der FDP) drucksachen aus der letzten und vorletzten Legislatur-
periode standen und die jetzt im Bundesgesetzblatt ste-
hen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
der CDU/CSU-Fraktion. Aber in keiner von diesem Jahr!)
Für die zweite Hälfte des Jahres stehen ebenso wich-
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): tige Themen auf der Agenda der Rechtspolitik. Ohne
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, will ich nur sa-
mich der Agenda unserer Themen für die kommenden gen: Wir werden uns auch und ganz sicher der Stärkung
4440 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) Die Zeit und ihre Umstände sind von einer anhalten- ger Einfluss auf die sich ändernde Ökonomie haben als (C)
den Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die Auto- die Erwerbslosen dieses Landes, ihre Familien und ihre
matisierung von Arbeitsabläufen durch Computer und Kinder. Sie sind ohne Einfluss und ohne Schuld, werden
Roboter macht, unter den Bedingungen des von Ihnen aber dennoch bestraft; denn sie treffen die Folgen der ge-
präferierten Wirtschaftssystems, menschliche Arbeit zu- schilderten Entwicklung zwei Mal mit aller Kraft. Der
nehmend entbehrlich. Die Globalisierung des Arbeits- erste Schlag ist die Arbeitslosigkeit und die Abhängig-
marktes führt zu einer Verschiebung von Arbeitsplätzen keit von staatlicher Hilfe.
aus den klassischen Industrieländern in die Schwellen-
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fangen
länder der Welt.
Sie einmal mit Rechtspolitik an!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Juristen soll-
Der zweite Schlag ist die Kürzung der staatlichen Hilfe
ten sich nicht zu ökonomischen Sachverhalten
in dieser Situation. Diesen zweiten Schlag führen Sie. Er
äußern, zumindest nicht Sie, Herr Nešković!)
ist politisch gewollt. Politische Entscheidungen haben
Ganz überwiegend aufgrund dieser Entwicklungen sich auch vor den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu ver-
stehen die Töchter und Söhne der einst händeringend ge- antworten.
suchten Industriearbeiter heute ohne Erwerbsarbeit da.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-
Noch im Jahre 1999 stellte die sozialdemokratische Jus-
Brömer [CDU/CSU]: Jetzt zur Rechtspoli-
tizministerin, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin, im „Vor-
tik!)
wärts“ fest, es komme nun darauf an, die Schwachen zu
schützen. Für Erinnerungsschwache eine Seh- und Erin- Es ist ein unbezweifelbares Prinzip der Gerechtigkeit,
nerungshilfe aus dem „Vorwärts“. dass die Folgen eines Übels niemals den treffen dürfen,
der zu diesem Übel keine Ursache gesetzt hat. Hartz IV
(Der Abgeordnete hält einen Artikel hoch:
„Die Schwachen schützen“) verletzt dieses Prinzip. Auch die neuerliche Verschär-
fung von Hartz IV verletzt dieses Prinzip. Dieses Prinzip
Wörtlich heißt es: droht nun erneut verletzt zu werden. Vermutlich noch im
Herbst werden wir über zwei Entwürfe des Bundesrates
Deshalb stehen der Schutz der Schwachen durch
zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Be-
das Recht und die Grundwerte des Sozial- und
grenzung der Prozesskostenhilfe zu entscheiden haben.
Rechtstaates im Vordergrund meiner Politik.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommen
Das finde ich gut. Das findet unsere Unterstützung.
wir wenigstens zur Rechtspolitik!)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb
Diese Entwürfe sind ebenfalls in jenem Geist des Stolzes (D)
(B) [CDU/CSU]: Wann kommen die Trikots
auf die eigene Härte geschrieben. Auch Sie schmücken
dran?)
sich eitel damit, den Mut für das längst Überfällige auf-
Die rot-grüne Koalition hingegen reagierte auf die ge- zubringen.
schilderte Entwicklung ganz anders. Sie antwortete auf
Das PKH-Begrenzungsgesetz bezweckt, die Prüfung
die Fragen der Zeit mit einer hilflosen Doppelstrategie:
von Prozesskostenhilfe auch für große Teile der ärmeren
Einerseits versuchte sie vergeblich, den Verbleib von
Bevölkerungsschichten von einer Bearbeitungsgebühr
Unternehmen im Inland durch Anreize zu befördern,
von 50 Euro abhängig zu machen. Hier wird die un-
zum Beispiel indem sie die Steuern für Unternehmen
rühmliche Idee der Praxisgebühr im Gesundheitswesen
und Bezieher hoher Einkommen senkte. Sie verzichtete
in gesteigerter Form auf den Zugang zu den Gerichten
damit „erfolgreich“ auf staatliche Einnahmen in Milliar-
übertragen. Diese und die weiteren beabsichtigten Ver-
denhöhe, die heute nicht zuletzt bei der Finanzierung der
änderungen laufen letztlich darauf hinaus – der VdK
Sozialsysteme fehlen.
stellte das in einer Presseerklärung am 17. Juli 2006
Zweitens verringerte und verringert die alte und neue fest –, das vor 26 Jahren abgeschaffte Armenrecht wie-
politische Mehrheit die individuell gewährten sozialen der einzuführen. Die Entwurfsersteller wollen mit längst
Leistungen des Staates. Sie setzt dem breiten Bedarf an überwundenen Konzepten aus der Vergangenheit dieses
staatlicher Unterstützung möglichst schmale Ausgaben Land fit für die Zukunft machen. Das muss scheitern.
entgegen. Vielleicht möchten Sie nun einwenden, die Anachronismus gestaltet keine Zukunft.
deutsche Politik könne schließlich nichts für die verän-
(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter
derten Umgebungsvariablen ihrer Entscheidungen.
[CDU/CSU]: Die anachronistische Fraktion
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist kein sitzt dort drüben! Der gehören Sie an!)
unkluger Einwand!)
Das Sozialgerichtsänderungsgesetz sieht darüber hin-
Automatisierung und Globalisierung hätten doch nicht aus vor, eine allgemeine Gebühr für klagende Bürger
die deutsche Politik zu verantworten und es sei schließ- einzuführen. Grundsätzlich soll diese Gebühr im Fall des
lich aussichtslos, diese Prozesse zu blockieren. Unterliegens 75 Euro betragen. Während also Hartz IV
und seine Verschärfung die Erwerbslosen auf das abso-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt wird es
lute Minimum der Lebensführung zurückdrängen, be-
ein bisschen trivial!)
zwecken diese Entwürfe, den Leistungsempfänger dazu
Vielleicht ist das ein Teil der Wahrheit. Es ist aber höchs- zu bewegen, darauf zu verzichten, um die Rechtmäßig-
tens ein Teil und nicht ihr Kern. Niemand könnte weni- keit seines Leistungsbescheides zu prozessieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4443
Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommt Fairness sein? Ich wähnte mich auf einem Eiland, (C)
die Verschwörungstheorie!) wo Verstand, Recht und Gerechtigkeit Hand in
Hand gehen, an einem Platz, wo das Parlament oder
Wer am Existenzminimum lebt, führt kein Sparbuch für sogar die Regierung … moralisch gewachsen war.
mögliche Rechtsstreitigkeiten. Wer wenig im Leben hat, Aber offenkundig gehen solche Erkenntnisse und
braucht viel im Recht. Er ist ohne staatliche Hilfe prak- Errungenschaften verloren.
tisch völlig rechtlos, wenn es zum Streit kommt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir kriegen gleich
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welchen An- alle einen Hörerschein! – Heiterkeit bei der
teil haben die Ölmultis daran?) CDU/CSU)
Ich sehe keinen Anlass zu dem geschilderten Stolz auf – Es wäre gut, wenn Sie sich solche Gedanken zu Her-
die eigene Härte. Ich kann bei denjenigen, die diese Ge- zen nehmen würden. Das wäre etwas für Ihr Kopfkissen
setzgebung zu verantworten haben, und bei denjenigen, bzw. für morgens nach dem Aufwachen.
die die geschilderten Entwürfe auf den Weg gebracht ha-
ben, keinen Mut ausmachen. Die Kürzung der sozialen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das fehlte ge-
Leistungen und nun auch der Rechtsweggarantie trifft rade noch! Ich will wegen Ihnen keine Alb-
die Schwachen und Schwächsten der Gesellschaft. träume kriegen!)
(Beifall bei der LINKEN) Sie erodieren, wenn sie nicht fortwährend … vertei-
digt werden. Tatsächlich nehme ich heute wahr,
Welcher Mut gehört dazu, von denen zu nehmen, die dass fundamentale Grundprinzipien des Zusam-
sich kaum wehren können? Welchen Mut bringt man menlebens in diesem Land offen von der regieren-
auf, wenn man ihnen auch noch die gerichtliche Gegen- den Politik torpediert werden.
wehr nimmt? Was ist das für ein Mut, der sich darin ge-
fällt, das Ungerechte zu tun? Mut hätte es erfordert, eine (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gesetzgebung auf die Beine zu stellen, aus der heraus NEN]: Ist damit vielleicht der Berliner Senat
die Menschen dieses Landes die Folgen des von mir ein- mit seinem Sozialabbau gemeint?)
gangs beschriebenen ökonomischen Wandels gemein- Abschließend möchte ich feststellen: Mir ist nicht
sam tragen. Mut hätte es erfordert, zur Abfederung der entgangen, dass die Bundesregierung zu den hier kriti-
Belastungen des sozialen Systems die Bezieher hoher sierten Gesetzentwürfen zur PKH-Begrenzung und zur
und höchster Einkommen heranzuziehen. Es wäre ge- Sozialgerichtsgebühr ihrerseits kritische bis ablehnende
recht gewesen, so zu verfahren. Diesen Einkommens- Stellungnahmen abgegeben hat.
gruppen bescheren die Effektivierung der Produktion
(B) und die Erschließung globaler Märkte jährlich beachtli- (Joachim Stünker [SPD]: Das hätten Sie gleich (D)
che Gewinne. Diese Strategie hätte den Willen der Ge- sagen sollen!)
sellschaft zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit an Frau Zypries, ich kann Ihnen nur die Kraft wünschen,
der richtigen Stelle auf die Probe gestellt. Diese Strategie
hätte echten Anlass zu Stolz gegeben. (Zuruf von der SPD: Danke! Aber die haben
wir schon!)
(Beifall bei der LINKEN)
bei dieser Notbremsung zu bleiben, damit der schon er-
Nur so hätten Sie Ihre Mutfähigkeit im sozialen und im wähnte sozialdemokratische Grundsatz, die Schwachen
christlichen Sinne und den sich daraus ergebenden not- zu schützen, nicht endgültig im Museum sozialdemokra-
wendigen Willen zur sozialen Gerechtigkeit unter Be- tischer Grundwerte verschwindet.
weis stellen können.
Vielen Dank.
Ich habe am 1. Juli 2006 einen Brief von einem
Göttinger Bürger erhalten, aus dem ich zum Abschluss (Beifall bei der LINKEN)
zitieren möchte:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut! Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Abschluss!) Die Grünen.
Ich habe, während ich aufwuchs, gelernt, was
soziale Verantwortung meint und bedeutet. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Unruhe) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
gen! Ich werde jetzt versuchen, im Rahmen der Haus-
– Haben Sie doch wenigstens so viel Respekt, einem haltsdebatte zur Rechtspolitik zurückzukehren.
Bürger, der mir geschrieben hat, zuzuhören.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
[CDU/CSU]: Ich höre Ihnen zu, Herr Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ein eh-
Nešković!) renwertes Vorhaben!)
Der Geist des Grundgesetzes, so wie ich es verstan- Seitdem ich im Bundestag bin, haben sich die Zahlen
den habe, gab mir bei diesem Gefühl stets Recht. im Haushalt des Bundesjustizministeriums und auch die
Da ging es um Fairness und wer kann schon gegen in Einzelplan 19 – Bundesverfassungsgericht – nicht
4444 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Jerzy Montag
(A) wesentlich geändert. Sie sind so solide wie seit vielen Ausstattung und nicht weitere Strafverschärfungen (C)
Jahren. könnten hier Abhilfe schaffen.
Vielleicht sollte ich an die Adresse der Union sagen: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Selbst die Union hat die ideologisch verbrämten An- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
griffe auf einzelne Posten im Haushalt des Bundesjustiz-
Nun kann man natürlich sagen: Die geforderte Aus-
ministeriums, die wir noch aus der rot-grünen Regie- stattung ist Ländersache.
rungszeit kennen, inzwischen aufgegeben.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unterschät-
zen Sie uns nie, Herr Kollege! Sie haben die Das ist richtig. Aber es ist eine nationale Aufgabe der
Rede von Herrn Schröder noch nicht gehört!) Rechtspolitik, hier Druck auszuüben, konkrete Forde-
rungen zu stellen, ein Engagement der Länder einzufor-
Es scheint bezüglich des Haushalts des BMJ mittler- dern. Gute Rechtspolitik wäre es, hier aktiv zu werden.
weile große Einigkeit zu herrschen. Es ist immer noch Aber dies geschieht nicht.
so, dass sich die Finanzen des Bundesjustizministeri-
ums im Vergleich zum Gesamthaushalt im Promillebe- (Joachim Stünker [SPD]: Doch! Doch!)
reich bewegen. Es ist immer noch so, dass jeder Bürger Rechtspolitik hat in diesem Hause leider keinen Stellen-
dieses Staates auf Bundesebene einige Cent im Jahr für wert mehr.
die Justiz ausgibt und auf Landesebene weniger als für
einen Kinobesuch pro Jahr. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ho!)
In diesem Zusammenhang möchte ich den Kollegen Sie kommt im Koalitionsvertrag als eigener Abschnitt
Dr. Röttgen, den früheren rechtspolitischen Sprecher der überhaupt nicht vor.
Union, zitieren, der hier im Bundestag gesagt hat: (Daniela Raab [CDU/CSU]: Herr Montag! –
Der Stellenwert der Rechtspolitik wird nicht in Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihre Angriffe
Geld bemessen. Er drückt sich … darin aus, welche auf Frau Zypries weisen wir zurück!)
Bedeutung die Politik … dem Recht … als gestal- Diese Bundesregierung hat inzwischen die Rechtspolitik
tende Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen als eine rechtsstaatliche, grundrechtsorientierte, die Bür-
beimisst. gerrechte schützende Kraft abgeschrieben. Ich zitiere,
(Daniela Raab [CDU/CSU]: Guter Mann!) was Bundesjustizministerin Zypries am 14. November
2005 zur Koalitionsvereinbarung gesagt hat: Rechts-
Meine Damen und Herren, der zweite, wortgewaltige staatlichkeit und Grundrechtsschutz sind der Maßstab,
(B) Satz versperrt die Sicht darauf, dass der erste falsch ist. (D)
an dem sich die große Koalition messen lassen muss. –
Zur Rechtsstaatlichkeit in einer Gesellschaft gehört eine Diese Worte sind einsam in der Debatte der großen
Justiz. Deshalb ist Rechtspolitik dann gut, wenn sie die Koalition um die großen, notwendigen Aufgaben, die in
Justiz, konkret die Staatsanwaltschaften und die Ge- diesem Hause zu bewältigen wären.
richte, bei der Bewältigung ihrer Aufgaben nicht alleine
lässt. So gesehen lässt sich Rechtspolitik selbstverständ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
lich nicht ohne Geld machen und denken. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen]
[CDU/CSU]: Nur weil Sie die Legislatur-
Im März dieses Jahres habe ich in der Debatte über periode nicht geschafft haben!)
den Haushalt 2006 das Bundesverfassungsgericht zi-
tiert. Diese Passage will ich an dieser Stelle, da sich Ich sage an dieser Stelle: Messen wir die große Koali-
nichts geändert hat, ausdrücklich wiederholen. Das Bun- tion doch daran, was sie in den ersten elf Monaten in der
desverfassungsgericht hat in einigen Fällen mutmaßliche Rechtspolitik angerichtet hat! Ich komme zum ersten
Straftäter aus der Haft entlassen und dazu gesagt: Punkt, zur Föderalismusreform. Ihre übergroße Mehr-
heit wurde genutzt, um das Grundgesetz – Sie haben da-
Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verant- rauf hingewiesen, Herr Gehb – umfänglich und fast zu
wortungsbereich der staatlich verfassten Gemein- hundert Prozent gegen den ausdrücklichen Vorschlag al-
schaft … Hilft der Staat der Überlastung der Ge- ler geladenen Sachverständigen zu verändern.
richte nicht ab, so muss er … seinen … Bürgern
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
erklären, dass mutmaßliche Straftäter … sich der
Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist überhaupt
Strafverfolgung … entziehen und erneut Strafta-
nicht wahr!)
ten … begehen.
Dazu hat Ihre Mehrheit genützt. Aber die Kraft, dabei
Ich sage: Es hat sich nichts geändert. Im Dezember
die Einheit des Rechts auf nationaler Ebene zu wahren
letzten Jahres hat der Fünfte Strafsenat des Bundesge-
und es rechtsstaatlich auszubauen, hatte diese große Ko-
richtshofs unter seiner Vorsitzenden Frau Harms, die
alition nicht.
jetzt Generalbundesanwältin geworden ist, in dem Revi-
sionsverfahren zum Kölner Müllskandal Folgendes ge- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Waren Sie gar
sagt: In vielen großen Wirtschaftsstrafverfahren kann nicht da?)
eine adäquate Aufklärung und Bestrafung nicht erfolgen,
Ich will dafür nur ein einziges Beispiel anführen:
weil hierfür die ausreichenden justiziellen Ressourcen
nicht zur Verfügung stehen. Alleine bessere finanzielle (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht so laut!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4445
Jerzy Montag
(A) Das Bundesjustizministerium hat mit seinen Gesetzent- [CDU/CSU]: Das hat er aber viel vornehmer (C)
würfen zu Untersuchungshaft und Jugendstrafvollzug ausgedrückt!)
nicht nur eine jahrzehntelang versäumte Aufgabe erfüllt,
sondern durchaus auch ein Zeichen gesetzt. Dadurch erklärt sich vielleicht auch, wer für diese Ver-
schlimmbesserung in der Koalition wahrscheinlich die
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Verantwortung trägt.
[CDU/CSU]: In dieser Legislaturperiode!)
Dafür hat die Union aber heldenhaft und erfolgreich
Doch es hat keine Kraft in Ihrer übergroßen Koalition gekämpft, die Weltanschauung in letzter Sekunde aus
gegeben, diese nationale Aufgabe einer einheitlichen dem Gesetz zu streichen. Das Bundesjustizministerium
Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft und des war aber nicht in der Lage, diesen Auftrag durchzufüh-
Jugendstrafvollzugs beim Bund zu belassen. Sie haben ren, weswegen es bald zu einem Bereinigungsgesetz
diese Rechtsmaterie billig verscherbelt und damit der kommen wird.
Rechtspolitik und auch den betroffenen Menschen ge-
schadet. (Otto Fricke [FDP]: Erstes Bereinigungs-
gesetz!)
(Otto Fricke [FDP]: Und was ist unter Rot-
Grün passiert?) Ich sage Ihnen: Wenn es nicht zum Weinen wäre, dann
würden wir als Opposition uns nicht nur klammheim-
Die Kritiker dieser Entwicklung haben einen „Wettlauf lich, sondern offen über Ihren Murks freuen können.
der Schäbigkeit“ angekündigt.
(Joachim Stünker [SPD]: Na, na, Herr
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ho, ho! – Daniela Montag!)
Raab [CDU/CSU]: Ist ja übel!)
Europäischer Haftbefehl: Es wäre wirklich den
Dieser „Wettlauf der Schäbigkeit“ hat bereits begonnen. Schweiß der Edlen wert gewesen, sich darüber Gedan-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr ken zu machen, wie man die Entscheidung des Bundes-
Nešković war ja harmlos im Vergleich zu Ih- verfassungsgerichts in ein vernünftiges Gesetz gießt.
nen, Herr Montag!) Stattdessen haben Sie ganze Absätze der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts wortwörtlich ins Gesetz
Die ersten Entwürfe, aus Bayern und aus Baden- geschrieben
Württemberg, zur Regelung dieser Materie auf Landes-
ebene zeigen, wohin die Reise geht: Es wird in Deutsch- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da kann man
land nur noch Strafvollzug nach Kassenlage geben. nichts falsch machen!)
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und damit nicht zur Klärung des Sachverhalts beigetra- (D)
Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ben Hur lässt gen. Über alle vernünftigen Vorschläge, im zweiten An-
grüßen! Die Galeere: Unten wird gerudert, lauf ein besseres Gesetz zu machen, haben Sie im
oben wird getrommelt!) Rechtsausschuss nicht einmal diskutiert, sondern Sie ha-
ben sie mit Ihrer übergroßen Mehrheit stillschweigend
Frau Bundesjustizministerin Zypries, Sie haben auf die- abgelehnt.
sem Gebiet – und dies ist nur ein Beispiel – Rechtsstaat-
lichkeit und Grundrechtsschutz eben nicht wahren kön- Ich könnte etwas zur Vorratsdatenspeicherung sagen.
nen. (Otto Fricke [FDP]: Oh ja!)
Ich will ein zweites Beispiel aus den ersten elf Mona-
Ich könnte auch etwas zum elektronischen Handelsre-
ten nennen: das Antidiskriminierungsgesetz, das Sie in
gister sagen. Das ist ein ganz interessantes Gesetz, wel-
„Allgemeines Gleichstellungsgesetz“ umbenannt haben.
ches die deutsche Wirtschaft dringend braucht. Wir wa-
Man muss ja froh sein, dass sich die Rechtspolitik der
ren eigentlich schon so gut wie fertig damit, bis das
Union in diesem Gesetzentwurf nur marginal verwirk-
Chaos der großen Koalition wiederum zugeschlagen hat
licht hat. Bis zur letzten Nacht, der entscheidenden
und Sie den Gesetzentwurf, der mit uns allen bereits ab-
Rechtsausschusssitzung, bestand der Beitrag von Ihnen
gestimmt war, in letzter Sekunde wieder zurückgezogen
von der Union in der Namensänderung.
haben. Kein Mensch weiß, wo er geblieben ist. Er ist
(Otto Fricke [FDP]: Muss ja eine tolle Nacht nicht wieder aufgetaucht.
gewesen sein!)
Ich könnte über das Stalking reden. Es ist eine Ver-
Dann ist das Chaos der großen Koalition über dieses Ge- hohnepipelung des Bundestages, dass Sie eine Anhörung
setz gekommen. Sie haben die seit vielen Jahren be- über ein Gesetz des Bundesrates, das dem Inhalt nach
währte Regel der Beweislastverteilung im bisherigen zurückgezogen worden ist, und über ein Gesetz der Bun-
§ 611 a Abs. 1 Satz 3 BGB, die wir wortwörtlich in das desregierung, das ebenfalls zurückgezogen worden ist,
ursprüngliche ADG übertragen haben, so verhunzt, dass durchführen wollen, während Sie das Gesetz, das Sie ei-
der rechtspolitische Sprecher der Union erklärte, er gentlich verabschieden wollen, noch niemandem vorge-
könne sich jetzt auf keiner juristischen Fachtagung mehr stellt haben. Über so etwas sollen wir im September im
sehen lassen, ohne zum Gespött zu werden. Rechtsausschuss beraten!
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Herr Montag,
NEN]: Soll er wegbleiben! – Dr. Jürgen Gehb das taucht alles wieder auf!)
4446 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Jerzy Montag
(A) Meine Damen und Herren, alles, was wir bisher von Freiheitsgrade im Haus –, dass fast keine Projektmittel (C)
der Rechtspolitik der großen Koalition gehört haben und zur Verfügung stehen und deshalb die weiteren Gestal-
was angekündigt wird – von der Kronzeugenregelung tungsmöglichkeiten relativ stark beschränkt sind.
bis zur nachträglichen Sicherungsverwahrung –, lässt
nichts Gutes vermuten. Deswegen sage ich Ihnen: Eine Besonderheit – sie wurde bereits erwähnt –: Es
Rechtspolitik ist in Ihren Händen nicht mehr gut aufge- gibt keinen Haushalt, der so viel Geld in seinem eigenen
hoben. Bereich erwirtschaftet. Diesen Umstand verdanken wir
dem Deutschen Patent- und Markenamt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) In diesem Jahr weist dieses Zahlenwerk eine weitere
Besonderheit auf, die aufgrund seiner Strukturmerkmale
insbesondere den Haushalt des Verfassungsgerichts, aber
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch den des BMJ betrifft: die Überführung der einzel-
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding, SPD-Frak- nen Positionen des Einzelplans 33 in die Einzelhaus-
tion. halte.
Otto Fricke
(A) – Lieber Herr Kollege, die Frage des Regresses gerade – ein Sozialdemokrat, wenn ich das richtig sehe –, Fol- (C)
gegenüber Großen ist eine der wesentlichen Aufgaben, gendes gesagt: „Prozesskostenhilfe soll keinerlei staatli-
die ein Anwalt bei kleinen Bürgern – wie man so schön cher Kombilohn für Rechtsanwälte sein.“ Dass die Pro-
sagt – wahrnehmen sollte und die er mit viel größerer zesskostenhilfe in erster Linie für den Mandanten
Freude wahrnimmt, als sich beim Nachbarschaftsstreit gedacht ist, damit er sein Recht bekommt – Herr
damit auseinander zu setzen, wer denn nun Recht hat Nešković, Sie haben es eben angesprochen –, und dass
und wo und wie der Baum beschnitten werden muss. eine Vorkontrolle der möglichen Aussichten besteht,
wird völlig außer Acht gelassen. Aber genau darum geht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es.
der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen Damit sind wir bei den Gesetzen. Die Bundesländer
verdienen wollen Sie schon dabei!) legen ständig neue Entwürfe eines Justizmodernisie-
rungsgesetzes vor und weisen unter anderem darauf hin,
Was die Argumentation im Zusammenhang mit der
dass das Recht zu viel koste und dass die Rechtsanwälte
Nebenleistung angeht, Frau Ministerin, halte ich dieses
zu viel verdienten. Ich bin gespannt, ob die Mehrheit im
Kriterium – ich kenne die Diskussion; sie ist sehr um-
Bundestag weiterhin in der Lage ist, sich dagegen zu
fangreich – für höchst gefährlich.
verteidigen. Ich sehe das gegenwärtig noch nicht.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Er redet pro domo!) (Joachim Stünker [SPD]: Ganz sicher!)
Die Nebenleistung gaukelt nämlich vor, dass es auch – Herr Stünker, wenn Sie ganz sicher sind, bin ich beru-
dann, wenn es einmal zu einem Fehler kommt, nur higt. Man muss es allerdings deutlich sagen.
kleine Nebenprobleme gibt. Häufig ist es so, dass es bei Herr Kollege Montag, Sie haben gesagt, dass das
einem Fehler aufgrund einer eigentlichen Nebenleistung beim Strafvollzug gefährlich werden könne. Ich gebe
für die Betroffenen zu erheblichen Schäden, Fristver- Ihnen Recht: Es kann zu einem Abbau kommen. Den-
säumnissen und vielen Folgen kommt, die den Bürger noch bin ich optimistisch. Erstens. Ich vertraue darauf,
viel teurer – und zwar nicht im monetären Sinne, son- dass das Bundesverfassungsgericht dem Abbau Einhalt
dern nach dem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden – gebieten wird.
zu stehen kommen.
(Joachim Stünker [SPD]: Was sagt denn der Justiz-
Das EU-Parlament hat zu den rechtsberatenden Beru-
minister in Baden-Württemberg dazu?)
fen einige – wie ich finde, sehr schöne – Erläuterungen
(B) formuliert. Zweitens. Schauen Sie sich einmal genau an, was Herr (D)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Goll dazu gesagt hat. Drittens. Sie haben uns Vorwürfe
NEN]: Halten Sie doch Ihr Praxisschild in die gemacht. Aber wo sind denn das rot-grüne Untersu-
Kamera!) chungshaftvollzugsgesetz und das rot-grüne Jugendstraf-
vollzugsgesetz? Obwohl Sie sieben Jahre Zeit hatten,
Ich halte es auch für notwendig, Folgendes klarzustellen: gibt es diese Gesetze bislang nicht. Sie wissen ganz ge-
Die EU verlangt von uns nicht, dass wir komplett so viel nau, dass Sie damals ähnliche Probleme hatten.
Gleichmacherei betreiben wie möglich.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Es geht um
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE den Umgang mit den Institutionen. Ich bin sehr froh,
GRÜNEN]: Aber ein bisschen!) dass der Kollege Binding auf die zukünftigen Aufgaben
des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen hat. Um es
Im Gegenteil: Sie will den Schutz der Verbraucher er- deutlich zu sagen: Das Bundesverfassungsgericht wird
reichen. die Aufgabe haben, innerhalb der nächsten Jahre in sei-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nem Haushalt eine sechsstellige Summe für Rückstellun-
GRÜNEN]: Ein bisschen Gleichmacherei gen für die Altersversorgung von Richtern, wissen-
wäre doch ganz gut!) schaftlichen Mitarbeitern und anderen aufzubringen.
Aber das kann aus diesem Haushalt nicht erwirtschaftet
Darum muss es in erster Linie gehen. Deswegen halte werden. Ich bitte Sie daher um Unterstützung. Herr Kol-
ich es auch für richtig, dass die Verbraucherschutzver- lege Binding, meine haben Sie auf jeden Fall; denn wenn
bände in dem Gesetz an bestimmter Stelle noch deutli- wir mit den Institutionen und den Menschen, die mit
cher dargestellt werden. Denn sie sind unabhängig und dem Recht arbeiten, nicht gut umgehen und wenn wir
nehmen an vielen Stellen Aufgaben wahr, bei denen sich mit den Gesetzen so schlecht umgehen, wie das beim
die Anwaltschaft fragen muss, ob sie das in der richtigen Antidiskriminierungsgesetz der Fall ist, dann wird der
Art und Weise getan hat oder ob sie sie vielleicht manch- Rechtsstaat leider vor die Hunde gehen. Liebe Haus-
mal vernachlässigt hat, weil sie es für Kleinkram gehal- haltskollegen, das wäre für den Standort Deutschland
ten hat. und im Hinblick auf die Steuereinnahmen des Staates
sehr schlecht.
Ich will auf einen weiteren Punkt hinweisen, nämlich
auf die Frage, wie mit Anwälten als Vertretern von Herzlichen Dank.
Rechteinhabern umgegangen wird. Dazu hat der Justiz-
minister des Landes Schleswig-Holstein, Herr Döring (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4449
(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Natürlich handelt es sich bei der nachträglichen Si- (C)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab, cherungsverwahrung um einen erheblichen Eingriff in
CDU/CSU-Fraktion. die Rechte des Betroffenen. Jedoch sind diese Rechte
immer klar gegen das Recht der Bevölkerung auf Sicher-
(Beifall bei der CDU/CSU) heit und gegen den Schutz potenzieller Opfer abzuwä-
gen. Deshalb muss gelten: Die nachträgliche Siche-
Daniela Raab (CDU/CSU): rungsverwahrung gerade für Heranwachsende – das
betone ich nochmals – darf kein Tabu sein. Wir müssen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns über das Strafmaß der Anlasstat unterhalten und
Es ist schon mehrfach erwähnt worden, wenn auch mit über die strengen Anforderungen an die nachträgliche
unterschiedlichem Zungenschlag: Am 1. September die- Anordnung; denn beides gehört untrennbar zusammen
ses Jahres ist die Föderalismusreform in Kraft getreten. und eines geht nicht ohne das andere. Hier ist mit Be-
Verehrter Herr Kollege Montag, ich kann Ihre sehr pessi- dacht vorzugehen. Jedoch sollte – das sage ich auch ganz
mistische Einschätzung dieser Reform nicht teilen. Ich deutlich – kein zahnloser Papiertiger entstehen und ein
weiß nicht, ob wir in unterschiedlichen Anhörungen wa- Gesetz verabschiedet werden, das wegen unangemessen
ren. hoher Hürden in der Praxis nie zur Anwendung kommt.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU)
GRÜNEN]: Was? Sie sollten es einmal durch-
lesen!) Rechtspolitik ist nicht nur Strafrecht. In den nächsten
Wochen werden wir den schon häufig erwähnten Ent-
– Herr Ströbele, ich habe es durchgelesen, keine Sorge. – wurf eines Rechtsdienstleistungsgesetzes zu beraten
Ich bin jedenfalls der Meinung, dass dies ein erfolgrei- haben. Wir als Unionsfraktion begrüßen diesen Entwurf
ches Projekt ist. Das wird sich in der Praxis sicherlich grundsätzlich und begrüßen auch die notwendige Neure-
noch zeigen. Ich denke, dass uns die Neuverteilung der gelung. Ziel dieser Neuregelung muss aber immer sein,
Rechte und Pflichten in Zukunft einige Entzerrungen im die ausgesprochen hohe Qualität der Rechtsberatung in
Gesetzgebungsverfahren und sehr viel mehr Transparenz Deutschland zu bewahren. Hier geht es zum einen um
bringen wird. Es war gut, was wir gemacht haben. Die den Schutz des Rechtsuchenden vor unqualifizierter Be-
Art der Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bun- ratung; zum anderen ist gerade unsere Justiz und alles,
desrat, die Verwirklichung von Parlamentarismus pur, was mit ihr zusammenhängt, ein klassischer deutscher
war für uns alle eine Freude. Standortvorteil.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das alte Rechtsberatungsgesetz sah ein strenges Mo-
(B) neten der SPD) nopol für sämtliche Rechtsdienstleistungen zugunsten (D)
der Anwaltschaft vor. Die Justizministerin hat dies be-
Wir haben uns im Rechtsausschuss neben diesem sehr reits ausgeführt. Dies entspricht sicherlich nicht mehr
umfangreichen Prozess, der uns lange beschäftigt hat, den Entwicklungen im heutigen Wirtschaftsleben, wo
mit anderen bedeutenden Themen auseinander zu setzen. kaum eine geschäftliche Tätigkeit ohne rechtliche Bera-
Eine Auswahl daraus möchte ich kurz ansprechen. tung bleibt. Deshalb werden – so sieht es der Entwurf
Mit Bestürzung müssen wir feststellen, dass schwere vor – Rechtsdienstleistungen, die nur eine so genannte
und schwerste Kriminalität ein zunehmend jüngeres Ge- Nebenleistung darstellen, für alle unternehmerisch täti-
sicht bekommt. Natürlich geschehen viele Straftaten aus gen Personen erlaubt. Zum Beispiel könnte ein Architekt
jugendlichem Übermut und jugendlicher Unreife, auf die in Zukunft auch über Fragen des Baurechts oder der
man maßvoll reagieren muss. Unser Jugendstrafrecht Baumängelhaftung informieren.
bietet dazu gute und ausreichende Möglichkeiten. Aber Umfassender Rechtsrat muss aber auch in Zukunft
es gibt auch Jugendliche und insbesondere Heranwach- den Anwälten vorbehalten bleiben. Das neue Rechts-
sende, die schwere und schwerste Straftaten begehen. dienstleistungsgesetz stellt deshalb nach meiner Ein-
Gerade was die Bestrafung der Heranwachsenden, also schätzung eine zunächst angemessene Kombination von
derjenigen im Alter von 18 bis 21, angeht, gibt es Lü- notwendiger Liberalisierung des Rechtsberatungsmark-
cken, die unserer Ansicht nach dringend geschlossen tes und einem nach wie vor unerlässlichen Verbraucher-
werden müssen. schutz dar. Jedoch gibt es Punkte, die im Gesetzgebungs-
verfahren durchaus noch kritisch hinterfragt werden
Nehmen wir nur den abstrakten Fall als Beispiel – da-
müssen. Der vorher schon erwähnte Begriff der Neben-
mit es für die Zuschauer nicht zu realitätsfern ist –, dass
leistung ist nach meiner Ansicht nicht hinreichend im
ein 20-Jähriger zu sechs Jahren Haft nach Jugendstraf-
Entwurf definiert. Gerade zum Schutz des Verbrauchers
recht verurteilt wird. Nach Verbüßung seiner Strafe ge-
müssen wir hier zu einer ausgesprochen engen Ausle-
hen Sachverständige weiterhin von einer erheblichen
gung kommen. Der Regierungsentwurf wird meiner An-
Gefährlichkeit dieses jungen Mannes aus. Nach gelten-
sicht nach dieser Anforderung noch nicht gerecht.
dem Recht ist es aber nicht möglich, ihn nachträglich in
Sicherungsverwahrung zu nehmen, da eine Verurteilung Nach jetzigem Stand könnten die viel zitierten Kfz-
nach Jugendstrafrecht dem entgegensteht. Mir ist be- Werkstätten beispielsweise eine umfassende Rechtsbera-
wusst, dass solche Fälle nicht in Massen auftreten. Das tung vornehmen. Bei einer Schmerzensgeldklage nach
wäre schlimm und das möchte ich auch nicht behaupten. einem Verkehrsunfall – um ein weiteres Beispiel zu
Aber wir wissen, es gibt sie. nennen – kann sich aber eine mangelnde oder eine
4450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Daniela Raab
(A) mangelhafte Beratung für den Betroffenen negativ aus- praxisnäher, als manche glauben. Auch wenn die Jalou- (C)
wirken; denn hier fehlt jegliche fachliche Kontrolle und sien dort drüben uns heute einen etwas düsteren Ein-
die Haftung, wenn etwas schief läuft. druck vermitteln: Um die Rechtspolitik in diesem Lande
mit dieser Koalition ist mir dennoch nicht bange.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich danke Ihnen.
Deshalb ist für uns klar: Verbraucherschutz muss vor
Vereinfachung gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wenn wir schon beim Thema Verbraucherschutz sind,
müssen wir auch über das vereinfachte Scheidungsver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
fahren vor einem Notar sprechen, despektierlich auch Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-
Scheidung light genannt. Natürlich muss es unser aller Fraktion.
Anliegen sein, die Gerichte zu entlasten. Gerade Famili-
ensachen sind zeit- und arbeitsaufwendig. Nun muss Joachim Stünker (SPD):
aber die Frage erlaubt sein, ob das vereinfachte Schei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
dungsverfahren tatsächlich schneller und unkomplizier- Die Kritik heute Nachmittag an einem Jahr schwarz-ro-
ter ist und zu einer Entlastung der Justiz führt. Bereits ter Rechtspolitik war, wie ich sagen muss, moderat. Da-
nach jetziger Rechtslage verursacht eine einvernehmli- her brauche ich nicht viel Gewicht auf das Replizieren
che Scheidung vor dem Familiengericht nur geringen zu legen. Ich möchte zunächst nur drei Dinge anspre-
Arbeitsaufwand. Fällt nun aber die anwaltliche Vertre- chen.
tung weg, wie es das Bundesjustizministerium derzeit Erstens. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie kön-
vorsieht, fehlen dem Richter oft die kompetenten An- nen ganz sicher sein: Entscheidungen des Bundesverfas-
sprechpartner, sollten doch noch Fragen offen sein. sungsgerichts werden von dieser Koalition auch zukünf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tig respektiert und akzeptiert.
Außerdem soll ja der meist aufwendige Versorgungsaus- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
gleich nach wie vor beim Gericht anhängig bleiben. GRÜNEN]: Sie wollen ein neues Verfassungs-
gericht! Neue Richter!)
Der Verzicht auf anwaltliche Beratung kann aber
noch weitere Nachteile bringen. Die Gefahr besteht, dass Zweitens. Herr Kollege Nešković, Sie können ganz
einer der Beteiligten, vermutlich der wirtschaftlich sicher sein, dass das, was Sie über das berichtet haben,
Schwächere, übervorteilt oder – sagen wir es grob – über was über den Bundesrat auf uns zukommt, in diesem
Haus in absehbarer Zeit keine Mehrheit finden wird. Sie (D)
(B) den Tisch gezogen wird, weil er vorher nicht individuell
beraten wurde. haben zum Schluss dankenswerterweise gesagt, dass
auch die Stellungnahme der Bundesregierung negativ
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gewesen ist.
GRÜNEN]: Das ist heute auch schon so! Eine
Scheidung mit Anwalt ist natürlich normal!) Drittens. Lieber Kollege Montag, nehmen Sie mir
nicht übel, dass ich auf Folgendes hinweise. Wie ich in
Selbstverständlich müssen auch Notare, die eine einver- den Sommerferien gelesen habe, sind Sie derjenige Kol-
nehmliche Scheidungsvereinbarung durchführen, auf et- lege, der die zweitmeisten Reden im ersten Jahr dieser
waige nachteilige Regelungen hinweisen. Sie dürfen Legislaturperiode gehalten hat. Ich will jetzt nicht bösar-
aber dem intellektuell oder auch wirtschaftlich unterle- tig werden und sagen: Ich warte darauf, dass Quantität in
genen Partner nicht vom Vertragsschluss abraten. Qualität umschlägt, Herr Montag.
Wo der Anwalt parteiisch sein darf, muss der Notar (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
neutral bleiben. Der nächste Streit ist hier sozusagen NEN]: Das wäre zu billig!)
schon vorprogrammiert und der ohnehin zweifelhafte
Einspareffekt dürfte damit ebenfalls dahin sein. Das ge- – Das weiß ich ja. Das will ich auch nicht sagen. Es wäre
plante vereinfachte Scheidungsverfahren verschiebt auch mir zu billig gewesen. –
Konflikte nur auf einen späteren Zeitpunkt. Das ist je- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Non multa, sed
denfalls meine Meinung. multum!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich meine wirklich, Sie könnten manchmal ein biss-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen freundlicher mit uns umgehen, Herr Kollege
Montag. Das ist eigentlich das Einzige, was ich jetzt
All diese Punkte müssen im Gesetzgebungsverfahren
dazu sagen will.
noch sehr kritisch hinterfragt werden. Bekanntlich sind
wir, das Parlament, der Gesetzgeber. Ich denke, wir wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
den uns noch entscheidende Mitspracherechte heraus- CDU/CSU)
nehmen. Das ist auch unser gutes Recht.
In den mir verbleibenden sechseinhalb Minuten
Diese Themenauswahl zeigt schon, liebe Zuschauer möchte ich kurz auf drei Themenbereiche eingehen, die
auf der Tribüne und liebe Zuhörer, wie sehr die oft als uns in diesem Herbst, wie ich meine, ganz unmittelbar
trocken und abstrakt empfundene Rechtspolitik den All- beschäftigen werden und die bisher noch nicht angespro-
tag der Menschen auf das Nächste berührt. Wir sind viel chen worden sind. Das eine ist eine sehr anspruchsvolle
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4451
Joachim Stünker
(A) Aufgabe, die wir als Parlament vor uns haben. Unter der gaben, die wir zu lösen haben. Ich fordere uns auf, diese (C)
Überschrift Korruptionsbekämpfung müssen wir uns alle Aufgabe in diesem Herbst gemeinsam zu lösen.
gemeinsam mit den Fragen der Abgeordnetenbeste-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
chung auf allen parlamentarischen Ebenen beschäftigen.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Das wird in diesem Herbst im Rechtsausschuss unsere
GRÜNEN)
Aufgabe sein.
Hierzu gibt es Überlegungen und Eckpunkte, sodass wir
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zu einer auch in der Öffentlichkeit glaubwürdigen Lö-
GRÜNEN]: Hoffentlich!) sung kommen können.
Der geltende Straftatbestand des Stimmenkaufs, geregelt Zweiter Punkt – mir läuft die Zeit weg –: Verabschie-
in § 108 e StGB, genügt den von Deutschland eingegan- dung einer Antiterrordatei. Ich will es kurz machen. Et-
genen internationalen Verpflichtungen nicht mehr, wie was Schriftliches liegt uns bisher nicht vor. Der Rechts-
einige vielleicht wissen. Ich möchte hier insbesondere ausschuss wird in dieser Sache nicht federführend,
auf das von uns unterzeichnete UN-Übereinkommen ge- sondern nur mitberatend sein. Auch wir im Rechtsaus-
gen Korruption vom 30. Oktober 2003 hinweisen, das schuss haben aber die Verantwortung, uns das, was si-
am 14. Dezember 2005 in Kraft getreten ist. cherlich notwendig ist, sehr gründlich anzusehen. Wir
müssen uns unserer Verantwortung bewusst werden, bei
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der entschlossenen Bekämpfung von Terrorismus und
NEN]: Ja!) bei allem Einsatz für die innere Sicherheit auch die
Im Dezember dieses Jahres wird die erste Vertragsstaa- Grenzen des rechtsstaatlich Verantwortbaren ganz genau
tenkonferenz zu diesem Übereinkommen stattfinden. Ich zu sehen.
meine, es ist deshalb angezeigt, dass wir noch vor Be- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ginn dieser Konferenz deutlich machen, dass Deutsch- Vergleiche Religionszugehörigkeit!)
land auf dem Weg der Ratifizierung und der Umsetzung
in deutsches Recht ist. Gerade wir in der Rechtspolitik müssen sehr genau da-
rauf Obacht geben, dass wir hier gemeinsam das Rich-
(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] tige wollen und auch schaffen.
[SPD] sowie bei Abgeordneten des BÜND-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Be-
denken Sie, dass wir als Einzige geklatscht ha- Lassen Sie mich einen letzten Punkt nennen. Man
(B) ben!) könnte fast bösartig sagen: So wie Cato immer forderte: (D)
„Aber auf jeden Fall muss Karthago zerstört werden“,
Eine zweite Notwendigkeit ergibt sich aus zwei Urtei- kommt der Stünker zum Schluss jeder Haushaltsrede
len der Strafsenate des Bundesgerichtshofs aus jüngster zum selben Thema. – Ja, ich komme wieder zum Thema
Zeit. Ein Urteil des 5. Strafsenats vom 9. Mai 2006 be- der großen Justizreform. Quo vadis? Wohin geht der
traf den so genannten Wuppertaler Korruptionsskandal. Weg bei der großen Justizreform? Ich sage das aus gege-
Ein zweites Urteil des 2. Strafsenats vom 12. Juli 2006 benem Anlass. Wir werden in einigen Wochen darüber
betraf den so genannten Kölner Müllskandal. In beiden zu reden haben.
Urteilen haben die Senate klargestellt, dass kommunale
Mandatsträger keine Amtsträger im Sinne von Ich bin der festen Überzeugung – das gilt, denke ich,
§ 11 StGB sind – dieser Meinung war ich schon immer; für meine Fraktion und meine Arbeitsgruppe genauso –:
die überwiegende Anzahl der OLGs war anderer Mei- Der Deutsche Bundestag wird es nicht hinnehmen kön-
nung –, sodass §§ 331 ff. StGB – Amtshaftungsdelikte, nen, wenn als Ergebnis der größten Justizreform seit
wie wir früher gesagt haben – keine Anwendung finden 1889, wie die größte deutsche Tageszeitung schon vor
können. Frau Harms, die jetzt Generalbundesanwältin zwei Jahren getitelt hat, nur bleiben sollte: erstens die
ist, hat im Urteil des 5. Strafsenats ausdrücklich darauf Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens und zwei-
hingewiesen, dass wir hier mittlerweile eine Regelungs- tens die Übertragung der Zuständigkeit für die Nachlass-
lücke haben. Es gehört zur Glaubwürdigkeit der Politik, sachen vom Amtsgericht auf die Notare. Das kann es
dass wir uns jetzt der Aufgabe stellen, diese Regelungs- nicht sein. Das wird der Weg nicht sein, der mit uns zu
lücke in der Tat zu schließen. gehen ist.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN]) Aber nach den letzten Beschlüssen der JuMiKo scheint
es dort in diese Richtung zu laufen. Das ist nicht unser
Deshalb wollte ich heute in dieser Debatte mit Nach-
Weg.
druck auf die genannten Problemkreise hinweisen. Da es
sich hierbei letztlich um Parlamentsrecht handelt, sollten Wenn man das Gerichtsvollzieherwesen ändern will,
wir nicht gemeinsam auf einen Regierungsentwurf war- muss man sogar Art. 34 Grundgesetz ändern. Dafür
ten; darauf dürfen wir auch nicht warten. Wir müssen die braucht man eine Zweidrittelmehrheit in diesem Haus.
Kraft haben, genau dies aus dem Parlament heraus zu re- Wir werden diesen Weg nicht mitgehen. Das ist der fal-
geln. Das gehört zu den ureigenen demokratischen Auf- sche Weg. Ich kann von daher nur dazu auffordern und
4452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Joachim Stünker
(A) dafür werben, dass wir uns in der Tat über Struktur- beraten – Einzelplan 07 für das Bundesministerium der (C)
reformen unterhalten. Justiz und Einzelplan 19 für das Bundesverfassungsge-
richt –, sind weniger wegen des Volumens der veran-
Wenn man eine Reform der Justiz will, dann ist auch
schlagten Haushaltsmittel von Bedeutung. Von Bedeu-
das der falsche Weg, was jetzt wieder von einigen Län-
tung sind sie aber aufgrund der Institutionen, die in
derjustizministern vorgeschlagen wurde. Man meint, die
unserem Rechtsstaat eine große Rolle spielen.
Entlastung der Strafgerichte über eine Ausweitung des
beschleunigten Verfahrens erreichen zu können, wie in Für die Einzelpläne gilt, dass sich gegenüber dem
diesen Tagen in der Presse zu lesen war. Das sind die Jahr 2006 nur geringfügige Veränderungen zeigen. Das
Gedanken der 90er-Jahre, die uns schon damals nicht ist bedingt durch die Strukturen, in denen die Personal-
weitergebracht haben. Wer das beschleunigte Verfahren ausgaben die übrigen Ausgaben deutlich dominieren.
kennt, der weiß, was das heißt: einfacher Sachverhalt, Das bedeutet einerseits, dass in diesen Einzelplänen
klare Beweislage. Wer meint, dass dies die Verfahren nicht kurzfristig wirkliche Einsparungen erzielt werden
sind, die die Strafgerichte wirklich belasten, der kennt können. Andererseits bedeutet das aber auch, dass wir
sich in der Strafjustiz nicht aus, der kennt sich im Ergeb- uns als Mitglieder des Haushaltsausschusses insbeson-
nis im eigenen Haus nicht aus. dere die Stellenpläne genau anschauen müssen.
(Beifall bei der SPD – Jerzy Montag [BÜND- Das Justizministerium wird in den kommenden Be-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Eine Rede ratungen daher noch erläutern, warum zwei zusätzliche
voller Wahrheiten! – Zuruf von der SPD: Eine Stellen notwendig sind. Diese Tendenz zum Stellenauf-
Rede voller Kompetenz!) bau zeigt sich übrigens auch in anderen Ministerien. Of-
fenbar vollzieht sich der Stellenabbau in den nachgela-
Das kann also nicht der Weg sein.
gerten Behörden wesentlich erfolgreicher als in den
Deshalb werbe ich dafür, dass wir in diesem Herbst in Ministerien selbst. Jedenfalls weisen im Einzelplan 07
wirklich fundierte Gespräche mit den Länderjustizminis- lediglich das Justizministerium selbst und das Deutsche
tern einsteigen, wenn es darum geht, über die Reform Patent- und Markenamt eine Aufstockung der Haus-
der Justiz zu reden, über die Bereitstellung der notwen- haltsansätze auf. Beim Justizministerium sind es knapp
digen Ressourcen für die Justiz im Sinne des Rechts- 5 Millionen Euro, natürlich auch bedingt durch die kom-
staats. Darüber sind wir uns hier alle einig. Wir reden zu- mende EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. Beim
künftig über Strafbarkeit von Doping, über erhöhte Deutschen Patent- und Markenamt sind das gut
Strafandrohung bei Fleischskandalen oder auch über ein 4,5 Millionen Euro. Diese werden durch das Projekt
Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen. Wenn Poli- „Elektronische Schutzrechtsakte“ verursacht, ein IT-Pro-
tik so etwas auf den Weg bringt, brauchen wir überall ir- jekt, das die führende Rolle des Deutschen Patent- und
(B) (D)
gendwann die Justiz. Dafür brauchen wir in der Justiz Markenamtes sichern soll; denn in keinem anderen Pa-
die sachlichen und personellen Ressourcen. Die werden tentamt Europas werden so viele Anträge eingereicht
wir nicht über mehr Geld bekommen können, liebe Kol- wie in Deutschland.
leginnen und Kollegen; das weiß ich auch. Dafür brau-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
chen wir auch nicht mehr Geld. Dafür brauchen wir auch
nicht mehr Personal in den Ländern. Was wir brauchen, Damit das so bleibt, müssen wir investieren, um die Pro-
sind wirkliche Strukturreformen. Man muss den Mut ha- zesse zu optimieren und elektronisch unterstützen zu
ben, die durchzuführen. können.
Ich nenne noch drei Punkte und dann bin ich mit mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
ner Rede auch fertig, Frau Präsidentin: erstens Dreistu-
figkeit in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, zweitens Meine Damen und Herren, das Bundesministerium
neue Strukturen der sachlichen Zuständigkeiten in Straf- der Justiz erfüllt zwei Aufgaben: einerseits die Gesetzge-
verfahren und drittens eine einheitliche öffentliche Ge- bung und Gesetzesanwendung im Bereich der Justiz, an-
richtsbarkeit. Lassen Sie uns darüber reden und nicht dererseits die Koordinierung der gesetzgeberischen Ak-
über die alten Kamellen aus den 90er-Jahren; denn damit tivitäten auf nationaler und auf internationaler Ebene.
werden wir die Justiz im neuen Jahrhundert nicht weiter- Diese Querschnittsfunktion ist in den vergangenen Jah-
bringen. ren immer komplexer geworden. Neben der reinen
Quantität der Vorschriften auf nationaler, europäischer
Schönen Dank. und supranationaler Ebene ist auch die Komplexität der
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gesetzgebung massiv angestiegen.
Auf europäischer Ebene bietet sich dem BMJ im
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kommenden Jahr eine ganz besondere Möglichkeit, Ein-
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege fluss zu nehmen. Es ist die schon erwähnte EU-Rats-
Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion. präsidentschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
alle kennen die zum Teil absurden bürokratischen Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU) setze aus Brüssel. Ich möchte jetzt keine Beispiele nen-
nen; wir kennen solche skurrilen Richtlinien alle aus der
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Presse. Von der deutschen Ratspräsidentschaft verspre-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen che ich mir nicht nur, dass unnötige bürokratische Richt-
und Herren! Die beiden Einzelpläne, über die wir heute linien und Verordnungen ausbleiben; vielmehr fordere
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4453
Dr. Ole Schröder
(A) ich unsere Bundesjustizministerin auf, sich auf ihre ori- Ich bin auf die Beratungen gespannt, die wir zu diesen (C)
ginäre Aufgabe zu besinnen, nämlich das Abschaffen beiden Einzelplänen erleben werden. Wir werden sicher-
von unnötigen Richtlinien und Verordnungen. lich die einzelnen Haushaltsansätze intensiv diskutieren.
Ich hoffe, dass wir ebenso erfolgreich sein werden wie
(Beifall bei der CDU/CSU)
im letzten Haushaltsjahr.
Dies muss auf europäischer Ebene und auf nationaler
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ebene forciert werden.
Klar ist, dass diese Aufgaben Geld kosten werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Aus diesem Grund sieht der Kabinettsentwurf die Auf- Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
stockung einiger Haushaltstitel des Ministeriums vor; in
der Summe sind das etwa 5 Millionen Euro. Wichtig ist, Wir kommen schließlich zu dem Geschäftsbereich
dass wir das Geld nicht nur ausgeben, sondern es in des Bundesministeriums des Innern, Einzelplan 06.
Bürokratieabbau investieren. Das wird uns mittel- und Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang
langfristig nutzen. Schäuble.
Ebenfalls im Haushalt vorgesehen sind erste Mittel (Beifall bei der CDU/CSU)
für die Umsetzung eines Modellprojekts zur Überprü-
fung von Gesetzen auf Verständlichkeit. Jeder kennt Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
die Beispiele aus der eigenen Praxis. Wir können viel Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Geld einsparen, wenn die Gesetzesanwendung durch Herren! Wir leben in einer Zeit angespannter Sicherheit
bessere Verständlichkeit günstiger wird. und wir sind Teil eines weltweiten Gefahrenraums. Wir
haben durch die jüngsten Vorfälle – die beiden Koffer-
Wichtig ist aber auch, dass wir uns als Parlamentarier
bomben, die glücklicherweise nicht zur Explosion ge-
um dieses Projekt kümmern. Das ist nicht nur Aufgabe
kommen sind, aber auch die Planungen von Anschlägen
des Bundesministeriums der Justiz, sondern auch Auf-
gegen die zivile Luftfahrt in Großbritannien sowie die
gabe von uns Parlamentariern. Viele Gesetze werden
Besorgnisse der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang
auch durch unsere Ideen und durch unsere Anregungen
mit einem großen Popkonzert in Gelsenkirchen Ende des
komplizierter. Wir können viele zu kompliziert formu-
vergangenen Monats – Grund, den Kampf gegen die Ge-
lierte Gesetzesvorschläge auch im parlamentarischen
fahren, die aus dem internationalen Terrorismus dro-
Verfahren heilen. Daran sollten wir uns erinnern.
hen, mit aller Entschiedenheit ernst zu nehmen.
Noch nicht explizit ausgewiesen im Haushaltsentwurf
Ich bin jemand, der immer sagt: Es gibt keine hun-
ist das neu zu schaffende Bundesamt für Justiz. Ich be-
(B) dertprozentige Sicherheit. Das muss man auch in sol- (D)
fürworte die angestrebte Trennung von den eigentlich
chen Zeiten sagen. Die gibt es nicht und die kann es
ministeriellen Aufgaben im engeren Sinne und den Auf-
nicht geben. Kein Staat kann diese Sicherheit garantie-
gaben der nichtministeriellen Bereiche. Ich meine, dass
ren, auch nicht der freiheitliche Rechtsstaat. Aber das
wir dadurch Gelder einsparen können und dass das ein
heißt natürlich nicht, dass wir nicht die Verpflichtung ha-
hervorragendes Vorbild dafür ist, wie wir die Rollenver-
ben, das Menschenmögliche zu tun, um so viel Sicher-
teilung zwischen Berlin und Bonn vernünftig und effi-
heit wie irgend möglich zu gewährleisten und auch zu
zient gestalten können. Das ist ein Modell, das vor dem
versuchen, aus Erfahrungen, die wir sammeln, die richti-
Hintergrund der aktuellen Diskussionen sicherlich auch
gen Konsequenzen zu ziehen.
für andere Ministerien als Vorbild dienen kann.
Deswegen bin ich froh, dass sich gestern die
Das BMJ ist natürlich auch für die Rechtsdurchset-
16 Innenminister und -senatoren der Bundesländer vor
zung zuständig. Im Bereich des Sozialleistungsmiss-
dem Hintergrund der Vorlage der Bundesregierung, die
brauchs, der auch haushaltspolitisch von großer Bedeu-
wir gemeinsam innerhalb der Regierung erarbeitet ha-
tung ist – 33 Milliarden Euro des gesamten Haushaltes
ben, auf ein Konzept für eine gemeinsame Antiterror-
2007 geben wir für Sozialleistungen aus –, sehe ich gro-
datei geeinigt haben. Das ist eine gute Bewährungs-
ßen Handlungsbedarf. Sozialleistungsmissbrauch scha-
probe für den Föderalismus. Ich bin ein überzeugter
det allen in unserer Gesellschaft – sowohl den Leistungs-
Anhänger des Föderalismus: Wir brauchen gerade auf
trägern, die zu hohe Abgaben auf ihre Einkünfte zahlen
dem Feld der inneren Sicherheit das Zusammenwirken
müssen, als auch denjenigen, die wirklich hilfebedürftig
von Bund und Ländern. Aber wir müssen uns auch im
sind. Das Problem ist: In unserer Gesellschaft wird der
Hinblick darauf bewähren, handlungs- und einigungsfä-
Sozialleistungsmissbrauch nicht ausreichend geächtet
hig zu sein. Es hat lange genug gedauert. Jetzt haben wir
und verfolgt. Unsere formellen Normen, die Gesetze,
es auf den Weg gebracht.
werden nicht ausreichend umgesetzt. Auch die informel-
len Regeln, die Sozialnormen, funktionieren nicht rich- Wir werden einen entsprechenden Gesetzentwurf zü-
tig. Im Gegenteil, häufig erleben wir, dass Sozialleis- gig erarbeiten, die Formulierungen abstimmen und
tungsmissbrauch nicht nur toleriert wird, sondern auch schnell in Gesetzesberatungen eintreten. Dann müssen
von Dritten explizit Anerkennung findet. Nur wenn wir wir natürlich über die Einzelheiten reden. Ich glaube
den Sozialleistungsmissbrauch mit aller Härte verfolgen aber, wir haben insgesamt eine richtige Linie zwischen
und bestrafen, dürfen wir auf eine gesellschaftliche Äch- den Begrenzungen unserer Verfassung und dem Grund-
tung dieses asozialen Verhaltens hoffen. Ich meine, das recht auf informationelle Selbstbestimmung im Rahmen
ist ein wichtiges rechtspolitisches Projekt. des Datenschutzes einerseits und den Notwendigkeiten
4454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Gisela Piltz
(A) Auch mir ist natürlich aufgefallen, dass die Mittel sich seit dem Jahr 1998 darstellt, so denke ich, ist das ein Be- (C)
nicht verändert haben. Alle Fraktionen haben das beim weis dafür, wie man Personalpolitik aufgaben- und sach-
letzten Haushalt kritisiert. Ich denke: Es wird ohne eine gerecht gestaltet. Daran wird nämlich sehr deutlich, dass
Mittelerhöhung nicht gehen können. Denn eines ist uns der Stellenbestand – den Sicherheitsbereich ausgenom-
klar – wir haben hier schon über viele Details gespro- men – wesentlich reduziert wurde, insgesamt um
chen –: Egal, was wir tun, es wird teurer werden, weil 12,5 Prozent. Herr Minister, auf Ihr Ministerium bezo-
mehr Qualität Geld kostet. gen fiel diese Reduzierung mit 4,9 Prozent etwas gerin-
ger aus. Demgegenüber hat der Sicherheitsbereich seit
(Beifall bei der FDP) dem Jahr 1998 bis zum Jahr 2007 einen Aufwuchs in
Mein letzter Punkt betrifft den Bundesdatenschutz- Höhe von 6,3 Prozent erfahren. Wir sind der Auffas-
beauftragten. Auch da kann man sehen, dass sich der sung: Das ist fach- und sachgerecht.
Ansatz nicht verändert hat. Wenn wir immer mehr Ein- Das liegt daran, dass sich die Sicherheitslage dement-
griffe in die Bürgerrechte vornehmen – das tun wir und sprechend entwickelt hat. Die Ereignisse der letzten
insbesondere Sie in konsequenter Fortsetzung der rot- Jahre haben in der heutigen Diskussion bereits eine
grünen Koalition –, dann muss man den Bundesdaten- Rolle gespielt. Es ist auch darauf hingewiesen worden,
schutzbeauftragten als unabhängige Aufsicht stärken. dass wir in Deutschland Glück hatten, dass es hierzu-
Das tun wir nicht. Von daher appelliere ich an alle, noch lande zu keinen schlimmeren Vorfällen gekommen ist.
einmal zu überlegen, ob das nicht möglich wäre. Denn Wir dürfen nicht in Angst und Panik verfallen. Aber wir
Antiterrordatei, Vorratsdatenspeicherung und vieles an- müssen unsere Aufmerksamkeit schärfen und unser
dere bedeuten ein Mehr an Aufgaben für den Bundesda- Möglichstes tun, wohl wissend, dass es keine hundert-
tenschutzbeauftragten. prozentige Sicherheit gibt. Es kommt nicht in erster Li-
nie auf den Ruf nach neuen Gesetzen an, sondern vor al-
(Beifall bei der FDP)
len Dingen auf einen guten Gesetzesvollzug im
Zum Schluss noch zwei Bemerkungen: Sicherheitsbereich. Dieser muss gewährleistet werden.
Erstens. Weil heute die erste Sitzungswoche nach der Weil innere Sicherheit ein gemeinsames Produkt von
Sommerpause ist, kann man auch einmal nett sein: Herr Bund und Ländern ist, war und ist es richtig, dass im
Edathy, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich Jahre 2004 ein „Gemeinsames Terrorismusabwehr-
wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. zentrum“ in Berlin eingerichtet wurde. Lieber Herr
Ströbele, es ist zwar so, dass der Erfolg viele Väter hat.
(Beifall) Aber wir wissen, was für Ressentiments gegenüber die-
Zweitens. Wenn es um wirkliche Sicherheit und nicht ser Einrichtung vonseiten mancher Bundesländer geäu-
(B) nur um Scheinsicherheit geht, sind wir, was den Haus- ßert worden sind. Heute können wir nur froh sein, dass (D)
halt des Bundesministers des Innern angeht, gerne an Ih- sich alle 16 Bundesländer daran beteiligen; denn das ist
rer Seite. notwendig.
– Ich will Ihnen nur sagen: Darüber sollten Sie einmal Es ist richtig, über ein solch schwieriges Thema eine
nachdenken. sorgfältige Debatte zu führen. Ich finde, dass die Ergeb-
nisse, die wir im Hinblick auf die Antiterrordatei erzielt
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE haben, gut, richtig, effektiv und effizient sind. Dabei
GRÜNEN]: Dazu kann man schon ein paar wurden die verfassungs- und datenschutzrechtlichen
Worte mehr sagen!) Prinzipien, insbesondere das Gebot der Verhältnismäßig-
keit, berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, wenn man den Haushalt
des Bundesinnenministeriums betrachtet und sich an- Deswegen bin ich froh, dass es zu einem guten Dis-
schaut, wie sich insbesondere die Personalentwicklung kussionsprozess auch mit der Bundesjustizministerin ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4459
Fritz Rudolf Körper
(A) kommen ist, die bei der Konzeption dieser Antiterror- vielmehr bin ich der Auffassung: Wir brauchen ein Anti- (C)
datei sehr hilfreich gewesen ist. Das Ergebnis hat die dopinggesetz.
Zustimmung der Länderinnenminister gefunden, wenn
auch der Innenminister von Nordrhein-Westfalen sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
der Stimme enthalten hat; auf die Gründe dafür ist Frau Wir sollten uns zusammensetzen und ein solches konzi-
Piltz eingegangen, damit will ich mich nicht näher be- pieren. Wenn wir dopingfreien Sport wollen, haben wir
schäftigen. keine Alternative.
Was ist darüber hinaus zu tun? Ich finde, wir müssen (Beifall bei der SPD)
einlösen, was im Zusammenhang mit der Föderalismus-
debatte beschlossen worden ist: Das Bundeskriminal- Im Kampf gegen Doping spielt die Nationale Anti-
amt soll für den Kampf gegen den internationalen Terro- Doping-Agentur eine ganz wichtige Rolle. Ein besseres
rismus mit Präventionsbefugnissen ausgestattet werden. finanzielles Fundament täte dieser Agentur gut. Viel-
Wir müssen jetzt ein Gesetz so ausgestalten, dass das leicht gibt es im Haushalt eine Möglichkeit, die Natio-
Bundeskriminalamt die dafür notwendigen Kompeten- nale Anti-Doping-Agentur finanziell zu stärken.
zen bekommt; das ist wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir haben erkannt, dass dies für die Zukunft des Sports
CDU/CSU) notwendig ist.
Im Übrigen müssen sich die Koalitionsfraktionen, Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Leis-
was das Terrorismusbekämpfungsgesetz angeht, über- tungen des Sports für die so genannte Integration hin-
haupt keinen Vorwurf gefallen lassen. Frau Piltz, wer weisen.
sich mit den Ergebnissen beschäftigt, wird feststellen,
dass sie beachtlich sind. Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass es zu
einem Integrationsgipfel gekommen ist, der noch ein-
(Otto Fricke [FDP]: Wie immer!) mal sehr deutlich gemacht hat, wie wichtig diese Auf-
gabe für die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Ich bin
Es war richtig, große Teile des Terrorismusbekämp- auch sehr froh darüber, dass diese Fragen jetzt glückli-
fungsgesetzes zu befristen: um den Zwang zu erzeugen, cherweise weitgehend aus dem parteipolitischen Streit
nach einer gewissen Zeit zu prüfen, ob sich in der Praxis herausgehalten worden sind. Ich finde, wir sollten die
bewährt hat, was wir da zu Papier gebracht haben. Das Ergebnisse des Integrationsgipfels gemeinsam nutzen,
ist auch hier so entschieden und gesehen worden. Jetzt um die Integrationspolitik voranzutreiben.
wird das Terrorismusbekämpfungsgesetz sachbezogen,
(B)
sachgerecht und maßvoll ein Stück weiterentwickelt. Zwei Dinge will ich kurz bemerken. Die Antwort auf (D)
Damit zeigt die Koalition deutlich ihre Handlungsfähig- die Frage, wer bei der Integrationspolitik für was zustän-
keit. dig ist, ist sehr vielfältig; denn wir wissen, dass das eine
gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemein-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den ist. Der Bund hat nur in wenigen Bereichen die allei-
der CDU/CSU) nige Zuständigkeit. Im Bereich der Sprach- und Integra-
Ich will nun ein ganz anderes Thema ansprechen, das tionskurse haben wir sie aber. Wir alle wissen, dass sie
auch zu diesem Haushaltstitel gehört: den Bereich des ein ganz wichtiges Instrument für eine gelingende Inte-
Sports. Rückblickend auf die Fußballweltmeisterschaft gration sind. Ich will es kurz machen – das wird auch die
kann man nur sagen: Das war ein großartiges und fröhli- Erkenntnis bei der Evaluierung sein –: Wir brauchen
ches Ereignis, auf das unser Land in der Tat stolz sein schlichtweg mehr Differenzierung, um mehr auf den ein-
kann. Aber, meine Damen und Herren, die Fußballwelt- zelnen Kursteilnehmer und seine mitgebrachten Sprach-
meisterschaft war kaum vorbei, da hat sich im Bereich fähigkeiten einzugehen. Ich glaube, das ist ein ganz
des Radsports etwas abgespielt, was uns sehr nachdenk- wichtiger Aspekt, und wir brauchen diese wichtige Er-
lich stimmen muss: die Dopingskandale bei der Tour de fahrung in diesem Bereich.
France, die der gesamten Sportszene immensen Schaden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gebracht haben. Wir müssen alles tun, dass der Sport
wieder sauber wird und insbesondere seine Vorbildfunk- Noch eine Bemerkung zum Thema Integration.
tion für junge Leute erfüllen kann. Schaffen wir es, eine Bleiberechtsregelung für lang-
jährig hier Geduldete zu erreichen? Insbesondere für
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kinder, Jugendliche und Familien gibt es heute zum Teil
der CDU/CSU) unerträgliche humanitäre Situationen. Deswegen appel-
liere ich an uns alle, dafür zu sorgen, im Zuge der nächs-
Das ist eine Aufgabe, der wir uns stellen. ten Innenministerkonferenz eine entsprechende Bleibe-
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE rechtsregelung für langjährig hier Geduldete zu finden,
GRÜNEN]: Dopinggesetz!) und zwar insbesondere unter Berücksichtigung des
Schicksals von Kindern, Jugendlichen und Familien.
Ich teile nicht die Meinung einiger Sportfunktionäre,
(Beifall bei der SPD und der FDP – Hans-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Meinen Sie Herrn Scharping?) NEN]: Allein mir fehlt der Glaube!)
4460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dennoch gilt: Panikmache ist in dieser Situation nicht (C)
Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt, CDU/CSU- angebracht. Aber eine nüchterne Analyse der Situation
Fraktion. ist ebenso notwendig wie die Umsetzung sich hieraus er-
gebender Schlussfolgerungen. Die innere Sicherheit ist
(Beifall bei der CDU/CSU) ein hohes und notwendiges Gut. Zu Recht erwarten die
Bürgerinnen und Bürger unseres Staates, dass er ihnen
Helmut Brandt (CDU/CSU): Sicherheit gewährleistet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Der Einzelplan 06 des Haushaltsentwurfs hat in sei-
nen und Kollegen! Nach der Rückkehr aus den Ferien nen Eckpunkten die sicherheitspolitischen Weichen rich-
hat sich durch die zwischenzeitlichen Ereignisse die Si- tig gestellt und stellt sicher, dass die Bundesrepublik
cherheitslage unseres Landes augenscheinlich verändert. Deutschland auch in Zukunft als sicheres Land gelten
Jedenfalls wird jetzt von der breiten Öffentlichkeit die wird. Auch in Zukunft soll es den Bürgern in Deutsch-
Gefährdung unseres Landes völlig anders eingeschätzt. land und unseren Gästen möglich sein, sich frei und
Unseren Bürgern ist bewusster geworden, dass die Ein- sorglos zu bewegen. Freiheit, Freizügigkeit und grenzen-
schätzung unserer Sicherheitspolitiker bezüglich des Ge- loses Reisen innerhalb der EU sowie darüber hinaus
fährdungsgrades in punkto innerer Sicherheit leider zu- wollen wir nicht aufgeben.
treffend war und ist. Der positive Schwung der grandios
verlaufenden Fußballweltmeisterschaft hatte viele in Die vorgesehenen Aufwendungen für die innere
dem Glauben bestärkt, in Deutschland sicher zu sein und Sicherheit werden deshalb gegenüber dem Haushalts-
Anschläge nicht befürchten zu müssen. jahr 2006 um 1,8 Prozent steigen. Insgesamt sind
4,439 Milliarden Euro für den Haushaltsbereich Inneres
Erlauben Sie auch mir an dieser Stelle, kurz den Dank vorgesehen; denn es gilt, die Freiheit und die Freizügig-
an all jene zum Ausdruck zu bringen, die – ob ehrenamt- keit für einen jeden zu gewährleisten. Die persönliche
lich oder hauptamtlich – ihren Beitrag zur vorzüglichen Freiheit des Einzelnen und die Sicherheit im Ganzen be-
Organisation und Durchführung dieser Weltmeister- dingen sich dabei gegenseitig und stellen keinen Wider-
schaft geleistet haben. spruch dar, wie es oft fälschlich darzustellen versucht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wird.
SPD und der FDP) Freiheit und Freizügigkeit nutzen allerdings auch die
Feinde unseres demokratischen Rechtsstaats. Hier muss
Dies gilt im Übrigen in gleicher Weise für die am Sonn-
die Sicherheitspolitik ansetzen und mit geeigneten Maß-
tag zu Ende gegangene Weltmeisterschaft der Reiter in
nahmen reagieren. Hierzu gehören nach meiner festen
Aachen. Ich komme aus der Nähe.
(B) Überzeugung auch bessere Videoüberwachungen auf (D)
(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Man hört es!) Bahnhöfen, Flug- und Seehäfen sowie gefährdeten öf-
fentlichen Plätzen. Der rechtschaffene Bürger hat gegen
Daher ist mir dies ein Anliegen. Sie alle, aber auch un- diese – im Übrigen auch weltweit erfolgreich praktizier-
sere Bürger insgesamt, haben der Welt vermittelt: ten – Überwachungsmaßnahmen nichts einzuwenden;
Deutschland ist ein weltoffenes und gastfreundliches, im Gegenteil: Er fordert sie sogar, und zwar zu Recht.
aber auch ein sicheres Land.
(Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE
Dieser nicht bezahlbare Imagegewinn für unser Land LINKE]: Woher wissen Sie das?)
wird auch wirtschaftlich gesehen positive Folgen haben,
insbesondere im Bereich der Tourismuswirtschaft. All Die derzeitige Situation – Herr Kollege, darin werden
dies werden wir sicherlich spätestens im nächsten Jahr Sie mir folgen – macht diese Maßnahmen meiner Mei-
positiv registrieren können. nung nach unbedingt notwendig.
(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein!)
Andererseits wissen wir heute: Es hätte auch anders – Wenn Sie mir nicht folgen, haben Sie etwas zu verber-
kommen können. Inzwischen wurde bekannt, dass die gen.
beiden festgenommenen Attentäter ihre Anschläge auf (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
die Regionalzüge bereits während der Weltmeisterschaft wie bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte
umsetzen wollten. Den Entschluss dazu hatten sie jeden- [DIE LINKE]: Wenn Sie wüssten!)
falls bereits gefasst. Man wagt es nicht, sich vorzustel-
len, wie diese Fußballweltmeisterschaft dann verlaufen Das Ergebnis der gestrigen Innenministerkonferenz
wäre und welcher Eindruck dann in der Welt entstanden ist insoweit ein für unsere Fraktion ermutigendes Signal.
wäre. Sofort wird man an die Ereignisse bei der Olym- Die Antiterrordatei stellt ein wesentliches Element dar,
piade in München erinnert. wenn es darum geht, die Zusammenarbeit von Polizei,
Verfassungsschutz und Nachrichtendiensten zu verbes-
Allzu schnell ist man aber auch bereit, diese Gedan- sern. Man muss sich vor Augen führen, dass aufgrund
ken nach den gescheiterten Versuchen und der Fest- unserer föderalen Strukturen die Landeskriminalämter,
nahme der Attentäter zu verdrängen. Es wäre nicht nur die Landesämter für Verfassungsschutz und die Bundes-
töricht und es stellte nicht nur politisch ein völlig fal- behörden, also mindestens 38 verschiedene Behörden,
sches Signal dar, sondern es wäre auch sicherheitspoli- künftig Zugriff auf diese Datei haben werden. Dann wer-
tisch grob fahrlässig, wenn man dies täte. den bestehende Lücken in der Ermittlungsarbeit ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4465
Helmut Brandt
(A) schlossen und wird verhindert, dass solche Lücken von Bei aller Ausgabendisziplin und vorbehaltlich sich (C)
Extremisten und Terroristen zum Nachteil unserer Be- noch als notwendig erweisender Korrekturen – auch da-
völkerung genutzt werden können. rauf hat der Minister schon hingewiesen – während der
Debatten in den nächsten Wochen kann man zusammen-
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch fassend sagen, dass der Haushaltsentwurf im Bereich des
an die schon einmal geführte Diskussion über die Ver- Inneren solide aufgestellt ist und der Herausforderung
wendung von Daten aus der Mauterfassung bei LKW. zur Wahrung der inneren Sicherheit in vollem Umfang
Wir sind der Auffassung, dass diese Daten für polizeili- gerecht wird.
che Ermittlungen herangezogen werden müssen, wenn
sich dies aufgrund der Verdachtslage und der besonderen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Umstände im Einzelfall aufdrängt und für die Ermitt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lungstätigkeit der Polizei unabdingbar ist. Ich erinnere neten der SPD)
nur an den kürzlich aufgeklärten Fall des so genannten
Autobahnmörders.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Man wird auch prüfen müssen, in welchem Umfang Das Wort hat nun der Kollege Dr. Max Stadler für die
das Ausländerrecht stärker zur Gefahrenabwehr ge- FDP-Fraktion.
nutzt bzw. dahin gehend verbessert werden kann. Dabei
sind die Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Dr. Max Stadler (FDP):
Visa-Untersuchungsausschuss der letzten Wahlperiode
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
besonders zu berücksichtigen.
ren! Der geschätzte Kollege Hartmann hat am Ende der
Aber nicht nur restriktive und Gefahren abwehrende letzten Haushaltsdebatte die Gemeinsamkeit aller Frak-
Maßnahmen sind erforderlich und insoweit im Haus- tionen bei der inneren Sicherheit beschworen. Wir von
haltsplan vorgesehen. Wichtig sind auch die weiteren der FDP können dem zustimmen, aber nur teilweise.
Maßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung von Ge- Wie Kollegin Gisela Piltz vorhin richtig ausgeführt hat,
fährdungspotenzial. Im Bereich des Inneren zielen diese tragen wir Maßnahmen, die die innere Sicherheit wirk-
insbesondere auf die Integration. Ich danke hier der lich erhöhen, mit, wenn sie verfassungsgemäß sind.
Kanzlerin ausdrücklich dafür, dass sie den Dialog mit (Beifall bei der FDP)
dem Islam und den Religionsgemeinschaften insgesamt
initiiert hat. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Wer
entscheidet das? Das Bundesverfassungsgericht. Es
Ein in Deutschland voll integrierter, unser Staatswe- musste leider des Öfteren die Entscheidung treffen, dass
sen bejahender Ausländer wird nicht mehr für Hasstira- Gesetze, die hier mit Mehrheit verabschiedet worden (D)
(B)
den und Aufrufe zum Terror oder zur Unterstützung des sind, nicht dem Grundgesetz entsprechen.
Terrors empfänglich sein. Jeder ausgegrenzte oder in ei-
ner Nebengesellschaft Lebende wird demgegenüber Wir meinen, die richtige Reaktion darauf ist nicht, die
hierfür anfällig sein und bleiben. Karlsruher Richter in die Ecke der Weltfremden zu stel-
len. Die richtige Reaktion ist vielmehr, sich künftig an
die Vorgaben der Verfassung zu halten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Zeit. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Helmut Brandt (CDU/CSU): NEN])
Herr Präsident, ich danke für den Hinweis. Der Bun- Verehrter Herr Kollege Brandt, wer sich gegen über-
desinnenminister, den ich sehr schätze, hat mir etwas zogene Überwachung ausspricht, hat doch nicht selber
meiner Zeit gestohlen. etwas zu verbergen.
(Zurufe von der SPD und der FDP: Oh! – Dr. Dieter (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na ja!)
Wiefelspütz [SPD]: Gestohlen?)
Das ist ein typischer Kurzschluss, der hier zwar ein we-
Aber das macht nichts; denn er hat in vortrefflicher nig Heiterkeit hervorgerufen hat. In Wahrheit ist das ein
Weise all das vorgetragen, was ich jetzt noch vortragen Argument, dem man in der Sicherheitsdebatte oft begeg-
wollte. Insofern nehme ich es ihm natürlich nicht übel. net. Es ist ein Argument, mit dem das Bemühen um die
Einhaltung der Verhältnismäßigkeit der Mittel diskredi-
Präsident Dr. Norbert Lammert: tiert wird. Deswegen kann dieses Argument hier nicht
Herr Kollege, ich empfehle eine leichte Glättung für gelten.
das Protokoll: Minister stehlen prinzipiell nicht und In- (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN
nenminister schon gar nicht. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Leute ha-
SPD) ben Angst vor Anschlägen und nicht vor Über-
wachung!)
Helmut Brandt (CDU/CSU): Sicherheitspolitik ist nicht etwa nur Polizeirecht. Des-
Ich gehe davon aus, dass dies weder rechtswidrig wegen unterstützen wir Sie, Herr Minister Schäuble,
noch schuldhaft war. wenn Sie mit dem Islamgipfel einen Dialog beginnen
4466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Wir sind der Auffassung, dass die für Bundeswehrein- wertete sie als Meilenstein, der das gewachsene ge-
sätze in Deutschland geltenden grundgesetzlichen Vor- sellschaftspolitische Engagement der islamischen
gaben im Kern absolut ausreichend sind. In dem Zusam- Gemeinden zeige.
menhang möchte ich auf zwei Dinge hinweisen. Zum Ich sehe das genauso wie der Integrationsbeauftragte.
einen hat nicht zuletzt – bei aller Skepsis, die es im Vor-
(B) feld teilweise gegeben hat – die Fußballweltmeister- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D)
schaft in Deutschland sehr eindrücklich unter Beweis Ich hoffe, der Kollege Pflüger, der heute nicht anwesend
gestellt, dass unsere Polizei sehr wohl und in hervorra- ist und der meint, das Thema Moscheebau zum Wahl-
gender Weise dazu in der Lage ist, auch mit schwierigen kampfthema machen zu müssen, wird das ähnlich sehen.
Situationen umzugehen. Zum anderen gehört es auch zur
Redlichkeit in der Debatte, sehr deutlich zu sagen, dass Wir können sehr stolz darauf sein, dass wir in diesem
es beim Thema „Umgang mit den Herausforderungen Land Religionsfreiheit, basierend auf einem gemeinsa-
durch den internationalen Terrorismus“ nicht so sehr auf men Wertefundament, haben. Ob ein Bürger dieses Lan-
die Muskeln in den Armen als auf die Muskeln zwischen des am Freitag in die Moschee, am Samstag in die Syna-
den Ohren ankommt. Die entscheidende Waffe ist mög- goge oder am Sonntag in die Kirche geht oder nichts von
lichst gute Informationserhebung und möglichst gute In- alledem macht, weil er Atheist ist, kann uns als Demo-
formationsvernetzung. Das heißt, neben der Polizei muss kraten relativ gleichgültig sein. Das unterliegt der per-
es nachrichtendienstliche Arbeit geben, die natürlich de- sönlichen Freiheit. Wenn ein gemeinsamer Wertekanon
mokratischer Kontrolle und Legitimation unterliegt. Es vorhanden ist – das gilt für die ganz überwiegende
kommt aber nicht so sehr auf das an – das ist der ent- Mehrheit der Muslime in Deutschland wie für die Chris-
scheidende Punkt –, was dann in Form von Manpower ten in Deutschland –, dann gibt es keine Probleme. Ich
zum Beispiel im direkten Sicherheitsbereich zu leisten glaube, dass die Entwicklung, die mit dem Integrations-
wäre. gipfel angeregt worden ist, auf etwas aufbauen kann,
was deutlich besser ist, als es gelegentlich in den öffent-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zuge der Haus- lichen Diskussionen im Lande dargestellt wird.
haltsberatungen in den nächsten Wochen wird sehr ge-
nau darauf zu achten sein, dass von den Vorschlägen zur Der größte Ausgabenposten für den Bereich der Inte-
personellen und zur sächlichen Verbesserung der Aus- grationsmaßnahmen im Entwurf des Haushaltes des
stattung unserer Sicherheitsbehörden diejenigen, die nö- Bundesinnenministeriums sind die Sprach- und Inte-
tig sind, umgesetzt werden, und dass wir vor allen Din- grationskurse. Für das Jahr 2007 ist ebenso wie für das
gen den Bereich der Prävention, den Bereich der Jahr 2006 eine Summe von 141 Millionen Euro vorgese-
Vorbeugung stärken. hen. Der Minister hat darauf hingewiesen, dass es richtig
gewesen sei, die gleiche Summe anzusetzen, weil wir im
Lassen Sie mich mit Blick auf die Sicherheitsdebatte Parlament oder in den sonstigen zuständigen Gremien
sagen, dass ich sehr froh darüber bin, dass ganz bewusst noch nicht darüber entschieden hätten, wie die Integra-
und zu Recht parteiübergreifend davon Abstand genom- tionskurse, was ihre Qualität und Ausgestaltung betrifft,
men wurde, Bürger muslimischen Glaubens mit einem weiterentwickelt würden. Das stimmt. Aber wir haben
4468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
Sebastian Edathy
(A) unter anderem im Innenausschuss sehr lange, sehr inten- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
siv und von einem breiten Konsens getragen über dieses Auch diesem Wunsch schließt sich das Präsidium
Thema geredet. Ich habe jetzt gehört, es solle aus dem an. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Frak-
Integrationsgipfel heraus eine Arbeitsgruppe geben, die tion Die Linke.
sich auch mit diesem Thema beschäftigt. (Beifall bei der LINKEN – Klaus Uwe Benneter
Eines muss doch klar sein: Auf die lange Bank wird [SPD]: Jetzt kommt die Sonne raus!)
man die notwendigen Veränderungen im Bereich der In-
tegrationskurse nicht schieben können. Wenn der Haus- Petra Pau (DIE LINKE):
haltsentwurf so bleibt, wie er jetzt eingebracht worden Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ist, und im Haushaltsverfahren nicht nachgebessert wird, Wenn wir hier über Leitlinien der Innenpolitik reden,
hieße das logischerweise, es würde sich erst 2008 etwas dann dürfen wir einen wichtigen Pfad nicht aussparen:
ändern. Das wäre meiner Fraktion und mir deutlich zu den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
spät. Wir gehen davon aus, dass die notwendigen Verän- Antisemitismus.
derungen, zum Beispiel längere Kurse für bestimmte (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Zielgruppen, eine bessere Ausdifferenzierung, eine Aus- neten der SPD)
weitung der Betreuung von Kindern muslimischer
Frauen, die an Kursen teilnehmen, eine Intensivierung Wir erleben gerade aktuell in den Wahlkämpfen in
der Arbeit mit Analphabeten und die Klärung der Vergü- Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern, wie rechts-
tung der Lehrenden, so zeitig geklärt werden, dass sie extremistische Kameraden zunehmend aggressiv und ge-
walttätig agieren. Aber es geht hier nicht nur um Wahl-
bereits für 2007 haushaltsrelevant werden. Ich bitte da-
kampf; es geht um den Alltag in Ost und West. Sie wis-
rum, im Haushaltsausschuss darüber zu reden, ob man
sen: Wir fragen seit Jahren Monat für Monat nach den
nicht vorsorglich für 2007 ein bisschen mehr Geld für Straf- und Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hin-
diesen Bereich einstellen sollte als gegenwärtig veran- tergrund. Allein der offizielle Befund ist alarmierend: Im
schlagt. Bundesdurchschnitt werden inzwischen stündlich drei
(Beifall bei der SPD) rechtsextrem motivierte Straftaten registriert und täglich
drei Gewalttaten.
Teurer wird es auf jeden Fall. Deshalb muss das ein Thema bleiben. Ich wünsche
Ich will noch etwas zum Ausdruck bringen, was ich mir, dass wir dazu, auch im Plenum des Bundestages,
eine konstruktive und ressortübergreifende Debatte zu
sehr löblich finde, weil es deutlich macht: Auch Bundes-
(B) regierungen sind lernende Systeme. Wir hatten im Zuge Strategien und nachhaltigem Widerstand gegen diese (D)
Entwicklung führen.
der Beratungen über den Bundeshaushalt 2006 sehr
lange darüber diskutiert, ob der Mittelansatz für die Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Silke
beit der Bundeszentrale für politische Bildung, der da- Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mals vorgesehen war, ausreichend ist. Ich bin froh da- NEN])
rüber, dass, nachdem wir im Zuge der Beratungen des Nun wurde in diesen Tagen wieder vorgeschlagen, die
Haushalts 2006 diesen Ansatz angehoben haben, genau NPD verbieten zu lassen. Ich halte das im Moment für
dieser erhöhte Ansatz auch zur Grundlage für das Jahr eine untaugliche Ersatzdebatte. Denn erstens wurde ge-
2007 gemacht worden ist. rade ein Verbotsverfahren blamabel in den Sand gesetzt
und zweitens reduzieren sich Rechtsextremismus und
Demokratie lebt davon, vermittelt zu werden. Das
Rassismus keineswegs nur auf Mitglieder dieser Partei
muss sich neben allen anderen Aspekten der inneren Si- oder den rechten Rand.
cherheit – ich glaube, dass die entscheidende Vorausset-
zung für innere Sicherheit in Deutschland eine stabile Ich will das an einem aktuellen Beispiel aus dem Ber-
Demokratie ist – auch im Haushalt des Innenministeri- liner Alltag illustrieren. In Pankow-Heinersdorf tobt der-
ums widerspiegeln. zeit ein Streit, ob eine seit 1924 hier in Berlin ansässige
muslimische Gemeinde dort eine Moschee bauen darf.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Der große Vor- Viele Bürgerinnen und Bürger sind verängstigt. Sie er-
teil – wahrscheinlich der einzige – daran, dass die SPD halten – gewollt oder ungewollt – Flankenschutz von der
nicht mehr den Innenminister stellt, ist, dass man als NPD und von rechtsextremen Kameradschaften. Und sie
SPD-Redner nicht Angst haben muss, dass für einen am erfahren großzügiges Verständnis von Teilen der Berli-
Ende keine Redezeit mehr übrig ist. Aber ich habe meine ner CDU. Ich finde das verantwortungslos. Natürlich
Redezeit ohnehin ausnahmsweise diesmal einhalten kön- muss man die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern
nen. ernst nehmen. Aber man darf sie nicht noch schüren und
schon gar nicht darf man Bestrebungen unterstützen,
(Heiterkeit) nach denen Pankow-Heinersdorf eine Enklave sei, wo
das Grundgesetz, das Toleranzgebot und die Religions-
Ich wünsche uns eine gute Beratung. freiheit nicht gelten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Das ist keine alleinige Angelegenheit von Teilen der
bei Abgeordneten der FDP) Berliner CDU oder der Berliner Politik, sondern der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4469
Petra Pau
(A) Bundespolitik. Schauen Sie nur einmal, welches Bild Ratspräsidentschaft und die G-8-Präsidentschaft an. (C)
von Muslimen und anderen Bevölkerungsgruppen all- Auch diese kosten Geld, nämlich 12,4 Millionen Euro.
täglich gezeichnet wird. Sie erscheinen viel zu oft syno-
nym für Gewalt und Terror. Damit werden Millionen Trotz der geringfügigen Steigerung kann man festhal-
Mitbürgerinnen und Mitbürger in eine gefährliche Sip- ten, dass der Haushalt des Einzelplans 06 von dem Drei-
penhaft genommen, für die es keinerlei Grund gibt. klang gekennzeichnet ist, der das Handeln der großen
Koalition prägt, nämlich: Sanieren, Investieren und Re-
Auch die gestern auf der Innenministerkonferenz be- formieren. Es bleibt in diesem Zusammenhang festzu-
schlossene Antiterrordatei droht ein weiterer Baustein halten, dass der Haushalt nach wie vor ein Sanierungs-
dafür zu werden. fall ist. Das ist die Realität.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das beschließen Wir kommen daher nicht um das Thema Haushalts-
wir hier!) konsolidierung herum. Diesem Thema werden wir uns
auch in den Beratungen zum Einzelplan 06 stellen müs-
Ich will jetzt nicht über die Datei an sich reden; dazu
sen. Denn eines bleibt richtig: Wir müssen es schaffen,
werden wir noch viel Zeit haben. Aber durch die Auf-
irgendwann einmal ohne Neuverschuldung auszukom-
nahme solcher Daten wie Religionszugehörigkeit wird
men. Ansonsten kann der Staat nicht handlungsfähig
eine große Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht
sein.
genommen. Ich finde, das schafft ein Klima, das für eine
weltoffene und tolerante Gesellschaft Gift ist. Deshalb Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich
ist die Linke prinzipiell dagegen. festhalten, dass in dem Haushalt des Einzelplans 06 ein
Nun noch ein abschließender Gedanke zum Geld; paar wichtige Aufgaben enthalten sind, die wir mit dem
denn wir führen ja hier eine Haushaltsdebatte. Ich kann nötigen Ernst zu betrachten haben. Über das Thema in-
namens der Linken im Bund und in den Ländern nur in- nere Sicherheit ist heute schon sehr intensiv beraten
ständig appellieren: Kürzen Sie nicht die Mittel, die für worden. Nach den gescheiterten Anschlagsversuchen
die Initiativen vor Ort nötig sind, die sich für Demokra- auf Regionalzüge der Deutschen Bahn in Koblenz und
tie und Toleranz engagieren! Schaffen wir gemeinsam Dortmund ist vielen bewusst geworden, dass auch wir
eine Lösung zur Förderung der Strukturprojekte gegen im Fadenkreuz des Terrorismus und der islamischen
Rechtsextremismus. Fundamentalisten stehen.
Maik Reichel
(A) sollten unsere Kraft für die Sicherheit in Deutschland (Heiterkeit – Fritz Rudolf Körper [SPD]: Es (C)
einsetzen. war ja alles gesagt!)
Herr Kollege Wieland, vielen Dank. Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) destages auf Mittwoch, den 6. September 2006, 9 Uhr,
ein. Um Missverständnisse auszuschließen: Das ist mor-
gen früh.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Präsidium bedankt sich insbesondere für die Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
großzügig geschenkte letzte Minute. Das ist ein seltener Die Sitzung ist geschlossen.
Vorgang, der Ihnen für künftige Auftritte besondere
Sympathien sichert. (Schluss: 18.31 Uhr)
Berichtigungen
42. Sitzung, Seite 3907 (C) zweiter Absatz, der dritte
Satz ist wie folgt zu lesen: „Das Zuteilungsgesetz für die
Handelsperiode 2005 bis 2007 hatte das Ziel, den Aus-
stoß in der zweiten Periode 2008–2012 um 10 Millionen
Tonnen zu reduzieren.“
Seite 3908 (A) erster Absatz, der erste Satz ist wie
folgt zu lesen: „Wir haben eine Vielzahl von Ausnahme-
regelungen abgeschafft: die Optionsregel, die uns im ers-
ten Allokationsplan große Probleme bereitet hat, ebenso
(B) wie die Early-Action-Regel.“ (D)
Seite 3914 (B) erster Absatz, der dritte Satz ist wie
folgt zu lesen: „Wenn das Europäische Gericht erster In-
stanz zugunsten der Bundesrepublik Deutschland ent-
scheiden sollte, müssten wir eine neue Entscheidung prü-
fen.“
43. Sitzung, Seite 4125, die Fußnoten 2) und 3) sind
zu streichen.
43. Sitzung, Seite 4227 (B), die abgedruckte Rede von
Christian Lange (Backnang) (SPD) ist durch die Rede
von Gabriele Fograscher (SPD) zu ersetzen (Anlage 3).
44. Sitzung, Seite V und 4363, in die Anlage 16 ist der
Name „Ernst Kranz“ einzufügen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4473
Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Nachträglich abgedruckte
Liste der entschuldigten Abgeordneten
(44. Sitzung)
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Adam, Ulrich CDU/CSU 05.09.2006*
Bär, Dorothee CDU/CSU 30.06.2006
Bär, Dorothee CDU/CSU 05.09.2006
Bodewig, Kurt SPD 30.06.2006
Bätzing, Sabine SPD 05.09.2006
Bollen, Clemens SPD 30.06.2006
Bellmann, Veronika CDU/CSU 05.09.2006
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 30.06.2006
Joseph DIE GRÜNEN
Bodewig, Kurt SPD 05.09.2006*
Fricke, Otto FDP 30.06.2006
Brase, Willi SPD 05.09.2006
Hilsberg, Stephan SPD 30.06.2006
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 05.09.2006 Lopez, Helga SPD 30.06.2006
Dr. Hofreiter, Anton BÜNDNIS 90/ 05.09.2006 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 30.06.2006
DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN
(B) (D)
Strothmann, Lena CDU/CSU 30.06.2006
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 05.09.2006
DIE GRÜNEN
Anlage 3
Kühn-Mengel, Helga SPD 05.09.2006
Zu Protokoll gegebene Rede
Kunert, Katrin DIE LINKE 05.09.2006
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts
Lafontaine, Oskar DIE LINKE 05.09.2006
(43. Sitzung, Tagesordnungspunkt 28)
Liebing, Ingbert CDU/CSU 05.09.2006*
Gabriele Fograscher (SPD): Die Bundesregierung
hat am 22. Juni 2005 den Entwurf eines Gesetzes zur Re-
Meckel, Markus SPD 05.09.2006 form des Personenstandsrechts – Personenstandsrechts-
reformgesetz – PStRG – beschlossen. Der Gesetzentwurf
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 05.09.2006 sieht die Ablösung des geltenden Personenstandsgeset-
zes durch ein neues Personenstandsgesetz und die damit
Thönnes, Franz SPD 05.09.2006* zusammenhängenden Änderungen sonstigen Bundes-
rechts vor. Schwerpunkte der Reform sind, die Einfüh-
rung elektronischer Personenstandsregister anstelle der
Wächter, Gerhard CDU/CSU 05.09.2006 bisherigen papiergebundenen Personenstandsbücher, die
Begrenzung der Fortführung der Personenstandsregister
Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 05.09.2006 durch das Standesamt sowie die Abgabe der Register an
Margareta DIE GRÜNEN die Archive, die Ersetzung des Familienbuchs durch Be-
urkundungen in den Personenstandsregistern, die Redu-
Zapf, Uta SPD 05.09.2006 zierung der Beurkundungsdaten auf das für die Doku-
mentation des Personenstandes erforderliche Maß, die
Neuordnung der Benutzung der Personenstandsbücher
* für die Teilnahme an der 15. Jahrestagung der Ostseeparlamenta- sowie die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für
rierkonferenz eine Testamentsdatei.
4474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006
(A) fen zudem auch nicht verheiratet sein. Gegebenenfalls troffenen sollte hier sehr schnell ein vernünftiges und der (C)
müssen sie sich scheiden lassen. Das ist der momentane Realität entsprechendes Gesetz vorgelegt werden.
Ist-Zustand. Zum Glück hat das Bundesverfassungsge-
richt festgestellt, dass diese Voraussetzungen in der heu-
tigen Zeit unhaltbar sind. Der operative Eingriff bezüg- Anlage 5
lich des äußeren Erscheinungsbildes und die Herstellung Erklärung
der Fortpflanzungsunfähigkeit dürfen nicht mehr in das
neue Transsexuellenrecht einfließen. der Abgeordneten Garrelt Duin (SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Änderungs-
Transsexuelle haben derzeit auch Probleme in ihrer antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
Reisefreiheit. Im Zusammenhang mit der Einführung ei- GRÜNEN zum Einzelplan 06 – Bundesministe-
nes maschinenlesbaren Reisepasses muss im Pass ein rium des Innern (40. Sitzung, Tagesordnungs-
Geschlechtsvermerk stehen. Transsexuelle kommen mit punkt 1)
ihrem äußeren Erscheinungsbild und einem anders sexua-
lisierten Vornamen in Widerspruch zu dem, was in ihrem In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt.
maschinenlesbaren Reisepass steht. Daraus resultieren Mein Votum lautet „Nein“.
enorme Schwierigkeiten, wenn sie sich zum Beispiel bei
der Einreise in ein anderes Land in einer fremden Spra-
che über einen so intimen Sachverhalt wie die Transse- Anlage 6
xualität verständigen müssen. Dazu können auch noch Erklärung
nicht vorhandene Toleranz und Vorurteile seitens der
Grenzbehörden kommen. Bis zum 31. Dezember 2005 des Abgeordneten Ernst Kranz (SPD) zur na-
konnten sich die Betroffenen mit einem nichtmaschinen- mentlichen Abstimmung über den Änderungs-
lesbaren Reisepass behelfen. Diese Möglichkeit ist aber antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
seit einem halben Jahr ausgelaufen, weil diese Reise- GRÜNEN auf Drucksache 16/2065 über den
pässe nicht mehr ausgestellt werden dürfen. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Art. 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74,
Auch dies ist ein Grund, warum die Bundesregierung 74 a, 75, 84, 85, 87 c, 91 a, 91 b, 93, 98, 104 a,
noch in diesem Jahr einen Gesetzesentwurf zur Refor- 105, 107, 109, 125 a, 125 b, 125 c, 143 c) (44. Sit-
mierung des Transsexuellenrechts vorlegen muss. Das zung, Tagesordnungspunkt 29 a)
Problem ist bekannt. Bisher redet sich die Bundesregie-
(B) rung damit heraus, dass sie dieses Gesetz zeitnah vorle- In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. (D)
gen will. Was aber heißt zeitnah? Im Interesse der Be- Mein Votum lautet „Nein“.
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