Sie sind auf Seite 1von 112

Plenarprotokoll 16/45

Deutscher Bundestag
Stenografischer Bericht

45. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Inhalt:

Nachruf auf den ehemaligen Bundestagspräsi- Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . 4397 C
denten Dr. Rainer Barzel . . . . . . . . . . . . . . . . 4367 B
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . 4399 B
Nachruf auf den ehemaligen Bundesratspräsi-
Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . 4402 A
denten Holger Börner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4368 A
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/
Nachruf auf den Abgeordneten Dr. Herbert
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4404 A
Hupka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4368 C
Georg Fahrenschon (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4404 C
Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord-
neten Hans Raidel, Renate Blank, Uta Zapf, Ulrike Flach (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4406 D
Dr. Lothar Bisky, Hans-Michael Goldmann,
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD) . . . 4408 B
Gerhard Wächter und Franz Obermeier . . 4369 B
Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU) . . . . . . 4409 C
Begrüßung des neuen Abgeordneten Omid
Nouripour . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4369 C Jörg-Otto Spiller (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4411 D
Abwicklung der Tagesordnung . . . . . . . . . . . 4369 C
Einzelplan 10
Bundesministerium für Ernährung,
Tagesordnungspunkt 1:
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
a) Erste Beratung des von der Bundesregie-
Horst Seehofer, Bundesminister BMELV . . . 4413 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Geset-
zes über die Feststellung des Bundes- Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . 4416 A
haushaltsplans für das Haushaltsjahr
Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD) . . . . . . . . . . . . 4417 D
2007 (Haushaltsgesetz 2007)
(Drucksache 16/2300) . . . . . . . . . . . . . . . . 4369 C Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . 4419 B
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010 DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4421 B
(Drucksache 16/2301) . . . . . . . . . . . . . . . . 4369 C
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . 4422 A
Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . 4369 D
Ursula Heinen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4422 D
Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4378 B
Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . 4423 D
Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4380 D
Peter Bleser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . 4424 C
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4385 A
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/
Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4387 A DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4425 C
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/ Renate Künast (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4390 C DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4426 D
Steffen Kampeter (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4394 C Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . 4427 C
II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4428 C Anlage 1


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 4473 A
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4430 B
Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD) . . . . . . . . . 4430 D
Anlage 2
Julia Klöckner (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4431 B
Nachträglich abgedruckte Liste der entschul-
Georg Schirmbeck (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 4432 A
digten Abgeordneten (44. Sitzung) . . . . . . . . 4473 C
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . . 4434 A

Einzelplan 07 Anlage 3
Bundesministerium der Justiz Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des
Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 4435 C Versicherungsvermittlerrechts (43. Sitzung,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) 4438 A Tagesordnungspunkt 28)
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4439 B Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . 4473 D
Wolfgang Nešković (DIE LINKE) . . . . . . . . . 4441 D
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Anlage 4
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4443 D
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede zur
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . 4446 A Beratung:
Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4447 B
– Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde
Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 4449 A ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas-
Joachim Stünker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4450 C send reformieren

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 4452 B – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Passgesetzes
Einzelplan 06 (43. Sitzung, Tagesordnungspunkt 25 und Zu-
Bundesministerium des Innern satztagesordnungspunkt 10)

Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister Gert Winkelmeier (fraktionslos) . . . . . . . . . . . 4474 C


BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4453 C
Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4456 C Anlage 5
Fritz Rudolf Körper (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . 4458 B
Erklärung des Abgeordneten Garrelt Duin
Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4460 A (SPD) zur namentlichen Abstimmung über
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ den Änderungsantrag der Fraktion des
DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4461 C BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zum Ein-
zelplan 06 – Bundesministerium des Innern
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD) . . . . . . . . . . 4462 B (40. Sitzung, Tagesordnungspunkt I) . . . . . . . 4475 C
Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 4464 A
Dr. Max Stadler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4465 C Anlage 6
Sebastian Edathy (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4466 C Erklärung des Abgeordneten Ernst Kranz
Petra Pau (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4468 C (SPD) zur namentlichen Abstimmung über
den Änderungsantrag der Fraktion des
Dr. Michael Luther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4469 B BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf Druck-
Maik Reichel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4470 C sache 16/2065 über den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 22,
23, 33, 52, 72, 73, 74, 74 a, 75, 84, 85, 87 c,
Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4472 C 91 a, 91 b, 93, 98, 104 a, 104 b, 105, 107, 109,
125 a, 125 b, 125 c, 143 c) (44. Sitzung, Ta-
Berichtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4472 C gesordnungspunkt 29 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . 4475 C
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4367

(A) (C)

Redetext

45. Sitzung

Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Deutschlands. Bei den Bundestagswahlen im November


Die Sitzung ist eröffnet. 1972 trat er als Kanzlerkandidat der Unionsparteien an.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die Seine parlamentarische Tätigkeit begann Rainer
Tagesordnung eintreten, möchte ich Sie bitten, sich von Barzel im Jahr 1957 mit seinem Einzug in den Deut-
Ihren Plätzen zu erheben. schen Bundestag als Direktkandidat für den Wahlkreis
Paderborn-Wiedenbrück. Barzel gehörte unserem Haus
(Die Anwesenden erheben sich) ohne Unterbrechung 30 Jahre lang, bis zum Jahre 1987,
Seit unserer letzten Plenarsitzung vor der Sommer- an. Von 1964 bis 1973 bekleidete er den Fraktionsvorsitz
pause hat uns die Nachricht vom Tod einiger früherer von CDU/CSU.
Kollegen erreicht, von denen ich drei langjährige Parla- Von Januar 1977 bis Februar 1979 war er Vorsitzen-
mentarier mit einigen Hinweisen würdigen möchte. der des Wirtschaftsausschusses, von Dezember 1980 bis
Am 26. August dieses Jahres verstarb nach schwerer Oktober 1982 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschus-
(B) (D)
Krankheit Bundestagspräsident a. D. Dr. Rainer Barzel ses des Deutschen Bundestages.
im Alter von 82 Jahren. Heute Mittag wird er in Bonn zu Am 29. März 1983 wurde Rainer Barzel zum Präsi-
Grabe getragen. denten des 10. Deutschen Bundestages gewählt. Dieses
Rainer Barzel hat die Politik in der Bundesrepublik Amt hatte er bis zum 25. Oktober 1984 inne. In seiner
Deutschland in herausragenden Positionen über mehrere Amtszeit war ihm die Fortentwicklung der Parlaments-
Jahrzehnte entscheidend mitgestaltet. Er war Bundes- arbeit im Rahmen einer Parlamentsreform ein besonde-
tagspräsident, Bundesminister sowie Partei- und Frak- res Anliegen. Auf Anregung von Rainer Barzel fand am
tionsvorsitzender. Rainer Barzel gehörte zu jener Auf- 20. September 1983 zum ersten Mal seit 1949 im
baugeneration von Politikern, die mit ihrem politischen Plenum eine Debatte über das Selbstverständnis des
Engagement unser Land und seine Demokratie nachhal- Deutschen Bundestages statt. Er selber hat sich als Bun-
tig geprägt haben. destagspräsident in dieser Selbstverständnisdebatte mit
kritischen und selbstkritischen Bemerkungen zu Wort
Rainer Barzel wurde am 20. Juni 1924 im ostpreußi- gemeldet.
schen Braunsberg als fünftes von sieben Kindern gebo-
ren. Nach dem Abitur nahm er als Fliegerleutnant am Von Dezember 1962 bis Oktober 1963 war Rainer
Zweiten Weltkrieg teil. 1949 promovierte er nach dem Barzel in der letzten Regierung von Konrad Adenauer
Studium der Rechtswissenschaften und der Volkswirt- Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
schaft an der Uni Köln zum Doktor der Rechtswissen- Das Offenhalten der deutschen Frage und die Wieder-
schaften. Seine ersten beruflichen Stationen absolvierte erlangung der staatlichen Einheit in Frieden und Freiheit
er in der Verwaltung des noch jungen Bundeslandes waren für ihn immer ein Ziel, das es in stetigen Schritten
Nordrhein-Westfalen, unter anderem als Vertreter des zu verwirklichen galt.
Ministers für Bundesangelegenheiten.
Von Oktober 1982 bis März 1983 war Rainer Barzel
In seinem politischen Grundverständnis stark von der im ersten Kabinett von Bundeskanzler Helmut Kohl
katholischen Soziallehre beeinflusst, schloss sich Barzel Bundesminister für Innerdeutsche Beziehungen. Im Jahr
im Jahre 1954 der CDU an. Schon 1956 wurde er ge- 1980 sowie von 1986 bis 1990 war der Verstorbene
schäftsführendes Mitglied des CDU-Landespräsidiums Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-fran-
in Nordrhein-Westfalen, 1960 Mitglied im CDU- zösische Zusammenarbeit.
Bundesvorstand und 1966 erster stellvertretender CDU-
Vorsitzender. Von 1971 bis 1973 war Rainer Barzel Bun- Rainer Barzel hat die Entwicklung der Bundesrepu-
desvorsitzender der Christlich-Demokratischen Union blik an vorderster Stelle entscheidend mitgestaltet. Er
4368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) genoss über alle Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg Holger Börner schied 1976 aus dem Deutschen Bun- (C)
großes Ansehen. destag aus, um als Nachfolger von Albert Oswald hessi-
scher Ministerpräsident zu werden. Dieses Amt, das er
Der Herr Bundespräsident hat zu seinen Ehren einen nach seinen eigenen Worten als die Krönung seines Le-
Staatsakt angeordnet, der am 22. September im Plenar- bens ansah, hatte er bis zum Jahr 1987 inne.
saal des Bundestages stattfinden und Gelegenheit zu ei-
ner ausführlichen Würdigung geben wird. In der zweiten Hälfte seiner Regierungszeit kam es
unter seiner Führung zur ersten Regierungsbeteiligung
Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges der Partei Die Grünen auf Länderebene mit der unver-
Mitglied Holger Börner, der am 2. August 2006 in sei- gesslichen Vereidigung des ersten turnschuhbewehrten
ner Heimatstadt Kassel im Alter von 75 Jahren verstarb. grünen Ministers auf dem damals langen Marsch aus der
Holger Börner wirkte als Bundesratspräsident, Minis- außerparlamentarischen Opposition in Regierungsämter.
terpräsident, Parlamentarischer Staatssekretär, Bundes- Von 1986 bis 1987 war Holger Börner Präsident des
geschäftsführer, Ausschussvorsitzender und Mitglied Bundesrates. Nach seinem Rückzug aus der aktiven
des Bundestages über mehrere Jahrzehnte für das Wohl Politik engagierte sich Holger Börner noch über 16 Jahre
der Bundesrepublik Deutschland. als Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung, deren Eh-
Holger Börner wurde am 7. Februar 1931 in Kassel- renvorsitzender er im Jahr 2003 wurde.
Wolfsanger als erstes von insgesamt drei Geschwistern Aus einfachen sozialen Verhältnissen stammend, hat
einer traditionsbewussten Arbeiterfamilie geboren, die er seine eigenen Wurzeln nie vergessen. Sie prägten sein
sowohl im Kaiserreich als auch unter den Nationalsozia- Engagement. Er setzte sich zeitlebens insbesondere für
listen politisch verfolgt wurde. Sein Vater wie seine den Auf- und Ausbau des Sozialstaates und für gleiche
Mutter waren für die SPD aktiv. Bildungschancen für alle Kinder in unserer Gesellschaft
Nach dem Besuch der Mittelschule schloss Holger ein. Durch sein Handeln hat er sich für Deutschland
Börner 1950 seine Lehre zum Betonfacharbeiter erfolg- große Verdienste erworben.
reich ab; anschließend wurde er Hilfspolier, später Be- Wir gedenken heute auch unseres ehemaligen Kolle-
triebsratvorsitzender in einem Kasseler Bauunterneh- gen Dr. Herbert Hupka, der am 24. August dieses Jah-
men. Seinen eigentlichen Berufswunsch, Journalist zu res, kurz nach seinem 91. Geburtstag, verstorben ist.
werden, musste er fallen lassen, weil er in den ersten
Nachkriegsjahren zum Lebensunterhalt seiner Familie Während des Ersten Weltkrieges, am 15. August
beitragen musste; sein Vater war im Krieg gefallen. 1915, als Sohn eines Physikprofessors in einem briti-
(B) schen Internierungslager auf Ceylon geboren, wurde der (D)
Das politische Engagement Holger Börners begann weitere Lebensweg dieses streitbaren Journalisten und
im Jahr 1946, als er in die Vorläufergeneration der Fal- Politikers maßgeblich von den leidvollen Erfahrungen
ken eintrat. Mit 17 Jahren trat Holger Börner der SPD des Krieges und der sich daran anschließenden Vertrei-
bei. 1956 wurde er zum zweiten Vorsitzenden der SPD bung von Deutschen aus deutschen Ostgebieten sowie
Kassel gewählt. Fünf Jahre danach folgte der Sprung von der deutschen Teilung geprägt.
Börners auf die bundespolitische Ebene, als er von 1961
bis 1963 als Bundesvorsitzender der Jungsozialisten am- Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs er im oberschlesi-
tierte. Von 1972 bis 1976 bekleidete Holger Börner das schen Ratibor auf. Nach Abitur, Studium und Promotion
Amt des SPD-Bundesgeschäftsführers. Vorstand und wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Wegen seiner jüdi-
Präsidium der Bundes-SPD gehörte er von 1970 bis schen Abstammung 1943 zu einem Jahr Wehrmachts-
1988 an; zudem war er von 1977 an zehn Jahre lang gefängnis verurteilt, wurde Herbert Hupka 1944 aus der
Landesvorsitzender der hessischen SPD. Wehrmacht entlassen und kriegsdienstverpflichtet.
Seine parlamentarische Tätigkeit begann Holger Seine Mutter überlebte als rassisch Verfolgte bis
Börner im Jahr 1956 auf kommunaler Ebene, als er in zur Befreiung durch die Rote Armee im Jahr 1945
die Stadtverordnetenversammlung von Kassel gewählt eine 18-monatige Internierung im Konzentrationslager
wurde. Ihr gehörte er bis zum Jahr 1972 an, davon viele Theresienstadt.
Jahre als Fraktionsvorsitzender.
Nach der im Oktober 1945 erfolgten Vertreibung aus
Bei den Bundestagswahlen zog Holger Börner erst- Schlesien ging Herbert Hupka zunächst nach München,
mals als direkt gewählter Abgeordneter für den Wahl- wo er als Redakteur beim Bayerischen Rundfunk tätig
kreis Kassel in den Deutschen Bundestag ein, dem er war. Von 1957 bis 1958 wirkte er als Programmdirektor
ohne Unterbrechung bis zum Jahr 1976 angehörte. Im bei Radio Bremen. Von 1958 bis 1964 war er Presserefe-
Hohen Haus war Holger Börner zunächst Mitglied des rent des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“ in
Petitionsausschusses und des Ausschusses für Sozial- Bonn. Danach arbeitete er als freier Journalist und Autor.
politik. Später war er Vorsitzender des Verkehrsaus-
schusses des Deutschen Bundestages. Von April 1967 Das alles überragende Leitmotiv Herbert Hupkas war,
bis Februar 1972 gehörte Holger Börner der Bundes- die Erinnerung an Flucht und Vertreibung am Ende des
regierung als Parlamentarischer Staatssekretär beim Zweiten Weltkrieges wachzuhalten und den Heimatver-
Bundesminister für Verkehr bzw. für Verkehr, Post- und triebenen gesellschaftliche und politische Anerkennung
Fernmeldewesen an. zu verschaffen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4369
Präsident Dr. Norbert Lammert
(A) Um diese Ziele zu erreichen, gründete er 1948 zusam- gen Omid Nouripour, der am 1. September die Mit- (C)
men mit anderen Schicksalsgenossen die Landsmann- gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben hat.
schaft Schlesien, der er lange Jahre in verschiedenen
Funktionen, seit 1968 als Bundesvorsitzender, diente. (Beifall)
Später übernahm er auch die Vizepräsidentschaft des Alles Gute und gute Zusammenarbeit!
Bundes der Vertriebenen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 1 a und 1 b
Auch Hupkas parlamentarische Tätigkeit war ganz auf:
von diesen seinen Erfahrungen als Vertriebener geprägt.
Unermüdlich beharrte er darauf, dass sich die deutsche a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
Politik mit Teilung, Vertreibung und Gebietsabtretung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
nicht abfinden dürfe und die deutsche Frage offenzuhal- Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das
ten sei. Haushaltsjahr 2007
(Haushaltsgesetz 2007)
Aus dieser Haltung heraus lehnte Hupka, der seit
– Drucksache 16/2300 –
1955 der SPD angehörte und 1969 in den Deutschen
Bundestag einzog, die von der sozialliberalen Koalition Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
abgeschlossenen Ostverträge strikt ab. Sein Wechsel zur
CDU im Februar 1972 trug maßgeblich zur Gefährdung b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
der parlamentarischen Mehrheit der Regierung Brandt/ regierung
Scheel bei und war einer der Auslöser für das von der
CDU/CSU-Fraktion im April desselben Jahres einge- Finanzplan des Bundes 2006 bis 2010
brachte, schließlich erfolglose Misstrauensvotum gegen – Drucksache 16/2301 –
Bundeskanzler Willy Brandt, mit dem Rainer Barzels Überweisungsvorschlag:
Kandidatur scheiterte. Haushaltsausschuss
In seiner bis 1986 währenden Abgeordnetenzeit war Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
Herbert Hupka engagiertes Mitglied vor allem des Aus- die heutige Aussprache im Anschluss an die einstündige
wärtigen Ausschusses und des Ausschusses für Inner- Einbringung des Haushaltes siebeneinhalb Stunden, für
deutsche Beziehungen. Herbert Hupka hat mit seiner Ar- Mittwoch neun Stunden, für Donnerstag elf und für
beit wesentlich dazu beigetragen, das leidvolle Schicksal Freitag vier Stunden vorgesehen. Darf ich dazu Ihr Ein-
der Heimatvertriebenen im kollektiven Bewusstsein der vernehmen feststellen? – Das ist offenkundig der Fall.
Deutschen zu verankern. Dann ist das so beschlossen.
(B) (D)
Er war vielen, auch mir gelegentlich, lästig – Leuten, Ich erteile das Wort zur Einbringung des Haushaltes
die diese schmerzliche Erfahrung in ihrer Biografie nicht dem Bundesminister der Finanzen, Peer Steinbrück.
machen mussten. Auch für Herbert Hupka gilt, dass
seine Herkunft und seine Lebensgeschichte sein beruf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
liches und politisches Wirken geprägt haben. Sein der CDU/CSU)
Engagement verdient Respekt, auch wenn es oft umstrit-
ten und Gegenstand heftiger politischer Auseinanderset- Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen:
zungen war. Aber er war ein aufrechter Demokrat. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Vor gut einem halben Jahr habe ich
Wir gedenken der verstorbenen Parlamentarier in Ihnen mit dem Bundeshaushalt 2006 den ersten Haushalt
Dankbarkeit und Anerkennung. Ihren Familien spreche der großen Koalition vorgestellt. Damals herrschte ein
ich im Namen des ganzen Hauses unsere Anteilnahme offener und öffentlicher Konkurrenzkampf zwischen no-
aus. torischen Pessimisten und auch den unterschiedlichsten
Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen von Ihren Experten darüber, wer am schwächsten sei: die deutsche
Plätzen erhoben; ich danke Ihnen. Fußballnationalmannschaft oder die deutsche Wirt-
schaft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, während der parla-
mentarischen Sommerpause gab es auch eine Reihe von (Dirk Niebel [FDP]: Die Bundesregierung!)
runden Geburtstagen von Kolleginnen und Kollegen im Meine persönliche Schätzung lautet: So ähnlich, wie
Hause: Ihren 65. Geburtstag feierten die Kolleginnen rund drei Viertel aller Journalisten damals, Wochen, ja
und Kollegen Hans Raidel, Renate Blank, Uta Zapf Monate bevor Deutschland bei der Fußballweltmeister-
und Dr. Lothar Bisky, ihren 60. Geburtstag feierten die schaft den dritten Platz erreichen sollte, unser Team
Kollegen Hans-Michael Goldmann, Gerhard ziemlich heruntergeschrieben haben, haben das viele
Wächter und Franz Obermeier. Im Namen des ganzen auch mit den Aussichten der deutschen Konjunktur und
Hauses gratuliere ich nachträglich auch auf diesem den Aussichten der deutschen Wirtschaft getan. Es gibt
Wege noch einmal herzlich und wünsche alles Gute! viele Experten, für die die Konjunktur schon wieder zu
Ende war, bevor sie eigentlich begonnen hatte.
(Beifall)
Es ist anders gekommen, und darüber freue ich mich.
Schließlich begrüße ich als Nachfolger für den ausge-
schiedenen Kollegen Joseph Fischer herzlich den Kolle- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
4370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) Die deutsche Wirtschaft wächst so stark wie seit fünf Ich sage deshalb: Faszinierend und erschreckend zu- (C)
Jahren nicht mehr. Gleichzeitig hat der konjunkturelle gleich ist die oft unausgewogene und gelegentlich auch
Aufschwung an Breite und vor allen Dingen auch an Ro- schrille Tonlage, die bei uns in Deutschland in Bruchtei-
bustheit gewonnen. Während die Wachstumsimpulse der len von Sekunden einsetzt, wenn wir über die Gegenwart
letzten Jahre bis zum Frühjahr vor allem aus dem Aus- und auch über die Zukunft Deutschlands sprechen. Da
land kamen, erleben wir jetzt einen, wie wir glauben, geht es sehr schnell ins Extreme.
eher klassischen Konjunkturaufschwung, bei dem
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist richtig!)
sich die positiven außenwirtschaftlichen Impulse endlich
auch durch eine gute Entwicklung der Baukonjunktur, Einerseits wird uns bei jeder Eintrübung zum Beispiel
durch eine gute Entwicklung der Ausrüstungsinvestitio- des Geschäftsklimaindex im Promillebereich suggeriert,
nen und durch ein langsames – langsames! – Anziehen dass die ökonomische Apokalypse kurz vor der Haustür
auch der Binnenkonjunktur, der Binnennachfrage ergän- steht. Wöchentliche Wasserstandsmeldungen führen bei
zen. In diesen Wochen bewahrheitet sich deshalb wieder uns zu Atemlosigkeit. Nicht minder atemberaubend ist
einmal ein sehr kluger Satz von Winston Spencer andererseits die Geschwindigkeit, mit der bis vor kur-
Churchill, nämlich dass ein Experte ein Mann ist, der zem gültige Standpunkte und auch Erkenntnisse aufge-
hinterher genau sagen kann, warum seine Prognose nicht geben werden. Beliebigkeit statt Festigkeit beim Stand-
gestimmt hat. punkt ist für die Haushalts- und Finanzpolitik aber
tödlich und sie führt dazu, dass die Signale, die wir ge-
Ich will genauso deutlich sagen, dass umgekehrt kein ben wollen, die Empfänger nicht erreichen oder für sie
Anlass für Euphorie, Entwarnungen und geradezu ver- verwirrend sind.
klärte Augen aufgrund von Begehrlichkeiten besteht.
Das Wachstum des Bruttosozialprodukts wird in diesem War nicht noch bis vor kurzem mit Blick auf den un-
Jahr wahrscheinlich eine Zwei vor dem Komma haben. geheuren Schuldenberg, den wir haben, die Rede von der
Dass wir über die Klippe des 1. Januar 2007 hinweg- Generationengerechtigkeit? War nicht die Rede davon,
kommen müssen und dass wir noch nicht genau wissen, dass die heute Jungen eines Tages den Kapitaldienst zu
wie nachhaltig dieses Wachstum ist, steht aber ebenso übernehmen haben? Sprachen wir nicht über die Zinsen
auf dem Blatt. in Höhe von 40 Milliarden Euro, die diesen Haushalt
nach wie vor mit verkarsten? Sind wir nicht nach wie
Der Arbeitsmarkt hat sich erfreulich entwickelt. Wir vor in einer Phase, in der es nur darum geht, das Tempo
wissen aber, dass wir in Bezug auf die großen Problem- der Neuverschuldung zu reduzieren? Sind wir nicht weit
gruppen in diesem Arbeitsmarkt – Langzeitarbeitslose, entfernt von einer Entschuldung? Haben wir es nicht
jugendliche Arbeitslose, ältere Arbeitslose – nach wie nach wie vor mit dem Problem zu tun, dass auf der Aus-
(B) vor erhebliche Schwierigkeiten haben. gabenseite zu viel konsumtiv und zu wenig investiv in (D)
Richtung der Zukunftsbereiche ist? Hat uns die Bundes-
Auch bei den Steuereinnahmen ist Nüchternheit an- bank nicht gerade in einer zutreffenden Analyse bestä-
gesagt. Lassen Sie sich – das gilt auch für die Öffentlich- tigt, dass wir auf der Einnahmeseite ein strukturelles De-
keit – nicht davon verwirren, dass von 16 bis 18 Milliar- fizit haben? Ist das alles vergessen? Sind dies deshalb
den Euro Mehreinnahmen gesprochen wird. Man muss Hoch-Zeiten für Karikaturisten, bei deren Karikaturen
bedenken, dass mindestens 14 bis 15 Milliarden Euro der Bundesfinanzminister als Einsammler von Sternta-
davon bereits Gegenstand der Finanzplanungen des Bun- lern dargestellt wird, bei denen er unter dem Regenbo-
des, der Länder und der Kommunen sind. Um Ihnen gen Töpfe mit Gold findet oder bei denen er der taktisch
keine Antwort schuldig zu bleiben: Ich vermute, dass der aufgestellte Miesepeter ist, der sich und andere arm
Bund am Ende dieses Jahres gegenüber unseren bisheri- rechnet, um Begehrlichkeiten abzuwehren oder um an
gen Veranschlagungen 3 bis 3,5 Milliarden Euro mehr der Mehrwertsteuererhöhung festzuhalten?
haben wird. Mein Vorschlag wird sein, dass der Löwen-
Meine Damen und Herren, ich glaube, dieses politi-
anteil davon in die Absenkung der Nettokreditaufnahme
sche Karussell sich drehender Bestandsaufnahmen und
gesteckt und nicht an anderer Stelle ausgegeben wird.
sich verändernder Signale ist der Grund dafür, dass die
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bürgerinnen und Bürger Vertrauen verlieren und sogar
misstrauisch werden. Mehr als das werden sie vielleicht
Wir haben es in der Bundesrepublik Deutschland auch ihr Vertrauen in die Zukunft verlieren. Wenn Politik
– ich sage das auch vor dem Hintergrund der erfreuli- verlässlich und damit glaubwürdig sein will, dann darf
chen Entwicklung bei den Steuereinnahmen – nach wie sie sich nicht von jeder ungünstigen Prognose, von jeder
vor mit Schulden in Höhe von 1 500 Milliarden Euro zu momentanen Aufhellung der Stimmungslage, von popu-
tun. Unbenommen der vielleicht möglichen Absenkung listischen Einwürfen und von Kampagnen irritieren las-
der Nettokreditaufnahme werden wir in diesem Jahr sen.
– zumindest im Soll – immer noch von 38 Milliarden
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Euro neuen Schulden reden. Im Vergleich dazu investie-
ren wir nur 22 Milliarden Euro. Das alles sind Hinweise Die Politik darf sich ihre Themen übrigens auch nicht
dafür, dass man nicht plötzlich in eine Euphorie verfal- von medialer Seite mit entfachten Empörungswellen
len und sich durch eine erfreuliche Entwicklung, welche vorschreiben lassen. Gerade die Haushalts- und Finanz-
durch die Zahlen deutlich wird, die öffentlich gehandelt politik muss stetig und verlässlich sein. Sie darf die Lage
werden, nicht plötzlich den Blick verstellen lassen soll. oder die Verhältnisse nicht verzeichnen. Sie darf sie also
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4371
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) weder rosarot noch tiefschwarz malen. Die Finanzpolitik markt. Das ist die beste Nachricht seit langer Zeit, vor (C)
muss von realistischen, eher vorsichtigen Annahmen allem für die betroffenen Menschen, aber auch mit Blick
ausgehen, wie wir das im Koalitionsvertrag festgelegt auf die Finanzierungsgrundlagen unserer sozialen Siche-
und als große Koalition bisher getan haben. rungssysteme und damit auch auf die öffentlichen Haus-
halte. Nicht nur, dass im Vergleich zum Vorjahr über
Ich will sagen: Diese Bundesregierung hat den An- 420 000 Menschen weniger ohne Arbeit sind. Besonders
spruch, eine verlässliche, nachvollziehbare und bere- wichtig ist: Die Zahl der sozialversicherungspflichti-
chenbare Haushalts- und Finanzpolitik zu betreiben, ein- gen Beschäftigungsverhältnisse ist wieder gestiegen.
gelöst. Sie hat lupenrein das umgesetzt, was sie im
Koalitionsvertrag verabredet und angekündigt hat: von (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
einem Haushaltsbegleitgesetz 2006 über sieben bis acht
Steuergesetze bis hin zu diesem Entwurf des Bundes- Wir wissen – das wollen wir nicht verschweigen und
haushalts 2007. Sie wird diesen Kurs bei den noch offe- wir wollen auch nichts verharmlosen –, dass diese Ent-
nen Vorhaben genauso verlässlich und berechenbar fort- wicklung vornehmlich noch jenen zugute kommt, die
setzen. erst sehr kurze Zeit erwerbslos und relativ gut qualifi-
ziert sind, und erheblich weniger jenen zugute kommt,
Wir sagen den Menschen, wohin die Reise geht. Wir die über lange Zeit erwerbslos sind. Aber es ist ein Auf-
sagen ihnen allerdings auch, dass wir ihnen Schmerzhaf- schwung. Wir werden in diesem günstigeren Klima wei-
tes zumuten. Ja, es gibt Zumutungen. Wir versuchen, ih- ter daran arbeiten müssen, dass die Arbeitslosigkeit in
nen zu erklären – vielleicht nicht immer erfolgreich –, ihrer gesamten Breite abgebaut wird.
warum es nicht anders geht, um Zukunft zu gewinnen.
Ich weiß, es wäre sehr vermessen, das Verdienst für
Diese Bundesregierung knickt nicht ein. Es mag viele die deutlich besseren ökonomischen und beschäftigungs-
Menschen geben, die mit uns nicht in allen Punkten politischen Aussichten vornehmlich für die Politik zu re-
übereinstimmen und die Teile unserer Politik für falsch klamieren oder namentlich für diese Bundesregierung in
halten. Aber diese Menschen sollen sagen können: Wir Anspruch zu nehmen. Aber die Politik sollte in falscher
wissen ziemlich genau, woran wir mit dieser Bundes- Bescheidenheit nicht so tun, als hätte sie in der vergan-
regierung sind; diese Bundesregierung lässt uns über ihr genen und in dieser Legislaturperiode nichts getan, um
Handeln nicht im Unklaren. wirtschaftliches Wachstum und eine Erholung auf dem
Arbeitsmarkt möglich zu machen.
(Lachen bei Abgeordneten der FDP – Fritz
Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da ist Zweifellos hat die vorige Bundesregierung unter
was dran!) Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 großen Anteil
(B) Ich sage Ihnen: Viele Menschen stimmen sogar dort zu, an dieser positiven Entwicklung. (D)
wo es um Zumutungen geht, weil sie wissen, dass es uns (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ohne Anstrengungen und ohne Veränderungen nicht bes- der CDU/CSU)
ser gehen wird, und weil sie wissen, dass die Addition
Sie hat mit Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den
von individuellen und auch Gruppeninteressen nicht mit
sozialen Sicherungssystemen, mit Steuerreformschritten
dem Allgemeininteresse dieser Republik gleichzusetzen
erheblichen Ausmaßes und mit Reformen auf dem
ist.
Finanzmarkt die Grundlagen für diese Entwicklung ge-
Die gegenwärtige robuste wirtschaftliche Erholung schaffen.
zeigt uns einen weiteren Punkt: Unsere soziale Markt-
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Situation
wirtschaft – man kann auch sagen: das deutsche und das
der Unternehmensteuerreform sollten wir auch nicht ver-
kontinentaleuropäische Wirtschafts- und Sozialmodell –
gessen, dass die Steuerreform von 2000 und den Folge-
gehört mitnichten auf den Scheiterhaufen der Ge-
jahren, für die mein Vorgänger, Hans Eichel, maßgeblich
schichte. Diese soziale Marktwirtschaft vermag dyna-
verantwortlich war, die Bürger wie auch die Unterneh-
misch zweierlei zu leisten, nämlich auf der einen Seite
men in der Bundesrepublik Deutschland um sage und
wirtschaftlich-technologischen Wandel zu bewältigen
schreibe 60 Milliarden Euro pro Jahr entlastet hat. Das
– wenn Sie so wollen: auf der Höhe der Zeit zu sein und
war die größte Steuersenkung, die es in der Geschichte
die dafür notwendigen Veränderungen vorzunehmen –
der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat.
und dabei auf der anderen Seite den gesellschaftlichen
Zusammenhalt im Blick zu behalten, Fliehkräften entge- (Beifall bei der SPD)
genzuwirken, Chancengerechtigkeit herzustellen, all
das, was marktradikale Lösungen nicht zu leisten vermö- Wir sollten über den Nachrichten, in denen es um die zu-
gen. gemuteten Belastungen geht, nicht vergessen, dass wir
heute, am Ende dieser Steuerreform, insbesondere im
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Einkommensteuerbereich die Situation haben, dass ein
Alleinverdiener – verheiratet, zwei Kinder – unter An-
Mir ist sehr bewusst, dass das Wort „Aufschwung“ rechnung des Kindergeldes auf ein Einkommen in Höhe
mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen ist. Gäbe es eine von bis zu 37 000 Euro keinen Cent Steuern bezahlen
entsprechende Statistik, würde die sehr hohe Inflations- muss.
rate des Wortes „Aufschwung“ deutlich. Aber es gibt
eine sehr gute Entwicklung, nicht nur an den Börsen und Auch und gerade die mittelständischen Unternehmen
in den Bilanzen, sondern endlich auch auf dem Arbeits- haben konsequent auf die Herausforderungen der
4372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) globalisierten Wirtschaft reagiert, zum Beispiel in Form für Sorge tragen werden, dass auch im vierten Quartal (C)
von Innovationen, Qualitätssteigerung, Kostensenkun- keine Anträge liegen bleiben, sondern durch eine ent-
gen und einer ausgeklügelten Logistik. Auch dies trägt sprechende haushaltstechnische Vorsorge bedient wer-
zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. Richtig ist, dass den können, damit dieses Programm auch im letzten
große Unternehmen nach dem Platzen der New- Quartal mit Blick auf seine impulsgebende Funktion für
Economy-Blase ihre Bilanzen weitgehend in Ordnung die Konjunktur aufrechterhalten werden kann.
gebracht und damit den Spielraum für neue Investitionen
geschaffen haben, die jetzt mehr und mehr auch in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Deutschland zur wirtschaftlichen Erholung beitragen. der CDU/CSU)
Nicht zuletzt haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Mit der Einführung des Elterngeldes ab 2007 stärken
mer und die Gewerkschaften durch sehr moderate Tarif- wir gezielt die Familienförderung, nachdem wir im
abschlüsse und auch durch Verzicht auf Lohnbestand- Bundeshaushalt 2006 mit zusätzlichen Impulsen in den
teile, durch unbezahlte Mehrarbeit und flexible Bereichen Haushalt als Arbeitgeber, Forschung und In-
Arbeitszeitmodelle einen erheblichen Anteil an der inter- novation, Belebung der Wirtschaft und Verkehrsinvesti-
national gewachsenen Wettbewerbsfähigkeit der tionen damit begonnen haben, die Doppelstrategie von
Bundesrepublik Deutschland. Konsolidierung einerseits und Impulsen andererseits zu
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten implementieren.
der CDU/CSU)
Die stärkere Förderung von Zukunftsbereichen wird
Schließlich hat sich die alte Deutschland AG verän- mittel- und langfristig positiv auf den Haushalt zurück-
dert. Beteiligungskapital spielt eine sehr viel größere wirken. Deshalb ist auch der Pfad, auf dem wir die
Rolle als die klassische Kreditfinanzierung. Post, Tele- Nettokreditaufnahme des Bundes bis 2010 von 38,2 Mil-
kommunikation, Transportmärkte und andere Bereiche liarden Euro auf 20 Milliarden Euro zurückfahren,
wie die öffentlichen Personennahverkehre sind Märkten volkswirtschaftlich absolut richtig. Ich hätte sogar ein
zugeführt worden. Das alles sind Erscheinungen, die es offenes Ohr für diejenigen, die fragen, ob dies nicht noch
in den 90er-Jahren noch nicht in der Form gegeben hat. weiter gehen sollte.
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Wir haben beim Haushalt 2006 nur sehr behutsam mit
Kastner) der Konsolidierung begonnen, wie ich dargelegt habe,
All das macht deutlich: Wir sind weitaus mutiger und um die positive Wirtschaftsentwicklung nicht zu gefähr-
besser, als wir es uns selber zugetraut und andere uns den; das war Vorsatz. Aber ab 2007 muss die Konsoli-
eingeredet haben. – Die aktuelle wirtschaftliche Ent- dierung akzentuiert werden. Vor allem die bereits einge-
(B)
wicklung zeigt auch, dass die große Koalition mit ihrer leiteten Maßnahmen der Finanzpolitik tragen dazu bei. (D)
Doppelstrategie für den Haushalt 2006 und 2007 richtig Ich nenne als Beispiele die in dieser Legislaturperiode
lag und liegt. vorgenommenen Kürzungen im Bundeshaushalt in Höhe
von rund 32 Milliarden Euro – von manchen nicht so
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: richtig zur Kenntnis genommen –, den Abbau von Sub-
Abwarten!) ventionen in Höhe von rund 19 Milliarden Euro – ab-
Wir wollten 2006 einen konjunkturstützenden Haushalt strakt von vielen begrüßt, aber wehe, es wird konkret
fahren und 2007 sehr viel stärkere Akzente auf die Kon- und betrifft die eigene Klientel – und Steuererhöhungen
solidierung setzen. Dies war und ist richtig, so umstritten in Höhe von rund 28 Milliarden Euro. All diese Maßnah-
es auch in manchen Debatten gewesen ist. men werden erst ab 2007 – nicht schon im Jahre 2006! –
ihre volle Wirksamkeit entfalten können, das aber vor
Wir haben im Haushalt 2006 auf der Einnahmen- und dem Hintergrund eines sehr viel robusteren wirtschaftli-
Ausgabenseite alles unterlassen, was die Konjunktur chen Umfelds und Wachstums.
hätte eintrüben können. Das war im Hinblick darauf
richtig, dass sich der Konjunkturhimmel aufhellen sollte, Erste wichtige Fortschritte sind geschafft; das können
was er auch getan hat. wir schwarz auf weiß belegen. Erstens. Wir werden nach
dem Übergangsjahr 2006 die Regelgrenze des Art. 115
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten unseres Grundgesetzes wieder dauerhaft einhalten.
der CDU/CSU) Zweitens. Wir werden aller Voraussicht nach bereits in
In einer sehr schwierigen wirtschaftlichen Ausgangs- diesem Jahr wieder die 3-Prozent-Maastrichtdefizit-
lage haben wir mit dem Bundeshaushalt 2006 das öko- grenze einhalten, das heißt unterschreiten.
nomisch Richtige getan. Wir haben klare Prioritäten für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Wachstumsförderung gesetzt. Hierzu stellen wir der CDU/CSU)
bis 2009 25 Milliarden Euro zur Verfügung, die insbe-
sondere dem Bereich der Zukunftsinvestitionen zugute Der kürzlich vom Statistischen Bundesamt veröffent-
kommen werden. Wie Sie wissen, werden im nächsten lichte Maastrichtdefizitwert für das erste Halbjahr 2006
Jahr rund 6 Milliarden Euro fällig. Bekannt ist auch, untermauert diese Annahme. Es sind 2,5 Prozent ausge-
dass die Länder weitere 12 Milliarden Euro hinzufügen wiesen. Das darf man zwar nicht – darauf möchte ich Sie
werden, und vor allen Dingen, dass private Investitionen aufmerksam machen – auf das Haushaltsergebnis des ge-
auf breiter Ebene ausgelöst worden sind. Denken Sie an samten Jahres hochrechnen. Aber realistisch ist ein Defi-
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm, bei dem wir da- zit in der Größenordnung von 2,8 Prozent des Brutto-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4373
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) inlandsprodukts für das Gesamtjahr 2006. Diesen Wert trübt. Das ist zwingende Logik. Ich glaube, dass es abso- (C)
werden wir im Herbst der EU-Kommission melden. lut richtig gewesen ist, dass die Bundesregierung dieser
Logik gefolgt ist.
Politisch weitaus wichtiger als diese formale Mel-
dung ist: Mit unserer soliden Haushaltspolitik dokumen- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
tieren wir unser klares Bekenntnis zu Europa und
einem stabilen Euro. Unsere stabilitätsorientierte und Genauso hartnäckig hält sich auf einer anderen Seite
vorausschauende Finanzpolitik entlastet nicht zuletzt die dieses Hohen Hauses die Unterstellung, wir würden zur
Europäische Zentralbank bei ihrer geldpolitischen Steue- Haushaltskonsolidierung vorwiegend Steuern erhöhen,
rung und eröffnet ihr so zusätzliche Entscheidungsspiel- statt Ausgaben und staatliche Sonderregelungen zu kür-
räume. Kurzum: Wir signalisieren Verlässlichkeit und zen. Das Gegenteil ist der Fall.
Berechenbarkeit. Das wird im Übrigen auch von unseren (Lachen bei Abgeordneten der FDP)
europäischen Partnern und der EU-Kommission so gese-
hen und bewertet. Es geht nicht nur um unsere nationale – Schauen Sie sich den Haushalt an! Sie haben offenbar
Zukunft. Deutschland trägt in Europa vielmehr eine den Eindruck, hier stehe die Abteilung „Agitation und
große ökonomische Mitverantwortung. Deutschland ist Propaganda“.
einer der Architekten des Stabilitäts- und Wachstums- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Bei-
paktes und hätte deshalb in meinen Augen um keinen fall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP])
Preis diesen Pakt in seiner Bedeutung relativieren dür-
fen. Schauen Sie auf den Haushalt! Wenn ich Agitation und
Propaganda betreibe, dann hört sich das ganz anders an.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Dieses Pult diszipliniert. Insofern bin ich vorsichtig.
CDU/CSU sowie der Abg. Anna Lührmann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Jürgen Koppelin [FDP]: Das weiß ich! Das
kenne ich aus Kiel!)
Wir tragen mit unserer wirtschaftlichen Leistungskraft
eine besondere Verantwortung für den Erfolg dieses Pak- – Die Propaganda, die Sie in Kiel betrieben haben, hat
tes. Dieser Pakt ist eine wichtige Grundlage für den wirt- man bis hierhin hören können.
schaftlichen Wohlstand in Europa und für die Stabilität
des Euro, der sich – fast unbemerkt und nur selten ge- Rund 13 Milliarden Euro bzw. 60 Prozent des Konso-
würdigt – zur zweitwichtigsten Reservewährung der lidierungsvolumens im Haushaltsplanentwurf 2007 wer-
Welt entwickelt hat. Das ist eine Erfolgsgeschichte, wie den durch Kürzungen auf der Ausgabenseite oder durch
sie in den letzten zehn Jahren in kaum einem anderen die Kürzung von Steuersubventionen bzw. direkten Fi-
nanzsubventionen erbracht. Wir tragen mit 40 Prozent (D)
(B) Bereich unserer europäischen Politik vorgekommen ist.
über Steuererhöhungen zur Konsolidierung bei. Das gilt
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht nur für 2007. Wir konsolidieren stärker durch Aus-
gabenkürzungen und durch die Streichung von Steu-
Das soll so bleiben. Umso wichtiger ist daher, dass
ersubventionen – von vielen beklagt, von vielen aber
Deutschland die Glaubwürdigkeit des europäischen Sta-
vorher gefordert – über diese Legislaturperiode, und
bilitäts- und Wachstumspaktes stärkt, und zwar auf
zwar in dem von mir genannten Verhältnis von 60 : 40.
Dauer, und somit als Vorbild für andere fungiert, die
Das heißt, die Bundesausgaben werden in den kommen-
– sehr vorsichtig formuliert – noch nicht so weit sind.
den Jahren kaum steigen. Bereinigt um die haushaltsneu-
Zu den stereotypen Vorwürfen an die Adresse des trale Zuweisung der Einnahmen von einem Prozentpunkt
Bundesfinanzministers gehört die Behauptung, ich sei in aus der Mehrwertsteuererhöhung an die Bundesagentur
Sachen Maastrichtdefizitentwicklung ein notorischer für Arbeit soll der Bundeshaushalt 2007 gegenüber 2006
Tiefstapler, der ausschließlich Begehrlichkeiten abweh- sogar um 500 Millionen Euro sinken. Wir werden in die-
ren wolle. Ich werde aber – genauso wie Sie – am Ende sem Jahr weniger als im nächsten Jahr ausgeben, berei-
einer Entwicklung lieber von positiven als von negativen nigt um die Einnahme eines Prozentpunktes aus der
Nachrichten überrascht. Im Hinblick auf die Glaubwür- Mehrwertsteuererhöhung, der an die Bundesagentur
digkeit der Politik ist es mir daher generell wichtig, mit geht. Über den gesamten Finanzplanungszeitraum 2006
Prognosen eher vorsichtig zu sein. Ich sage nur all denje- bis 2010 wird es eine jahresdurchschnittliche nominale
nigen, die dies vielleicht zum Gegenstand der Haushalts- Steigerung von bloß 0,7 Prozent geben. Wenn Sie die In-
debatte machen – schon drei-, viermal bin ich damit kon- flationsrate mit einrechnen, dann wird der Bundeshaus-
frontiert worden –: Wenn wir zu Beginn dieses Jahres im halt über diesen Finanzplanungszeitraum real sinken.
Zusammenhang mit unserem Haushaltsentwurf 2006 ein Das hat es in dieser Republik in diesem Ausmaß noch
Maastrichtdefizitkriterium von weniger als 3 Prozent nicht gegeben.
angemeldet hätten, dann hätte dies auch mit entspre-
Damit bestärken wir eine Entwicklung, die in den
chenden Maßnahmen auf der Einnahme- und Ausgaben-
letzten Jahren eingeleitet wurde. Die Staatsquote sinkt
seite korrespondieren müssen. Allein mit vollmundigen
weiter. Das dürfte auch von der FDP zur Kenntnis ge-
Ankündigungen in Richtung Brüssel wäre es nicht getan
nommen werden. Schon im Jahre 2005 haben wir mit
gewesen; das hätte nicht gereicht.
46,8 Prozent den niedrigsten Stand der Staatsquote seit
Dann allerdings hätten wir den Vorsatz verletzt, Frau 1991 gehabt. Wenn ich mich richtig erinnere, war die
Hajduk, auf der Einnahmeseite und auf der Ausgaben- FDP 1991 und in den Folgejahren Teil der Bundesregie-
seite nichts tun zu wollen, was diese Entwicklung 2006 rung. Bald werden wir die Staatsquote von 46 Prozent
4374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) unterschreiten. Vor zehn Jahren lag die Staatsquote bei besseren Einsicht in sich verändernde Zusammenhänge (C)
49,3 Prozent. Ich wäre dankbar, wenn dies in einem Ih- zwangsläufig immer voraus.
rer Beiträge ganz vorsichtig gewürdigt werden könnte.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Können Sie das
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wiederholen?)
der CDU/CSU)
Das heißt, die Bundesregierung muss einen Bundeshaus-
Ohne dass ich jetzt Zahlensalat vortragen und in das halt aufstellen in Kenntnis von Unsicherheiten. Politik
typische Ritual verfallen will – es bleibt unter dem ist nichts anderes als das verantwortliche Handeln unter
Strich, dass die Opposition keine tragfähigen Beiträge Unsicherheiten. Das gilt selbstverständlich auch für die
zur weiteren Begrenzung der Bundesausgaben unterbrei- Aufstellung eines Bundeshaushalts. Sie können mich
tet hat. Wer wie die FDP bei den Eingliederungsleistun- also gerne darauf hinweisen, dass die Verhandlungen in
gen für Langzeitarbeitslose 3 Milliarden Euro und bei Sachen Kosten der Unterkunft noch ausstehen. Sie kön-
den Verwaltungs- und Betreuungskosten 1 Milliarde nen mich gerne darauf hinweisen, dass wir nicht so ge-
Euro sparen will, der unterschätzt schlicht und einfach nau wissen, wie die Zinspolitik der Europäischen Zen-
den sozialpolitischen Sprengstoff, der damit verbunden tralbank ist. Auch können wir im Augenblick einige
ist. Währungen, insbesondere die Entwicklung des Verhält-
nisses von Euro und Dollar zum Yen, nicht richtig ein-
(Beifall bei der SPD) schätzen. Selbstverständlich gibt es Risiken auf dem Ar-
Wer Vorschläge über abrupte Kürzungen in Milliarden- beitsmarkt. Das alles ist mir sehr bewusst. Wir müssen
höhe bei der Steinkohlesubvention macht, der suggeriert, allerdings in Kenntnis und in Abwägung dieser Unsi-
man könne sich über rechtskräftige Verträge hinwegset- cherheit handeln.
zen. So wichtig sie auch ist: Konsolidierung ist kein
(Ulrike Flach [FDP]: Nein, das tun wir nicht!) Selbstzweck. Wir müssen konsolidieren, um in den
Haushalten wieder klare Prioritäten für Zukunftsaufga-
– Selbstverständlich tun Sie das, wenn Sie so tun, als ob ben und Zukunftsinvestitionen zu setzen. Nur so bringen
man während der Laufzeit gültiger Bewilligungsbe- wir unsere Volkswirtschaft auf einen dauerhaft festeren
scheide Milliardenbeträge einsparen könne. Darüber Wachstumspfad, nur so können wir die Arbeitslosigkeit
habe ich mir schon einige Male den Mund fusselig gere- dauerhaft reduzieren und nur so können wir Politik ma-
det, aber ich werde bei Ihnen leider keinen Erkenntnis- chen, die auch über den Tag hinaus trägt und die auch im
fortschritt auslösen können. Ich verzweifle an dieser Interesse unserer Kinder und unserer Enkelkinder liegt.
Stelle.
Wir schulden unseren Kindern und Enkeln jede An-
(B) (D)
(Beifall bei der SPD – Klaus Brandner [SPD]: strengung für tragfähige, solide und verlässliche öffentli-
Merkwürdiges Rechtsverständnis, das die ha- che Finanzen. Wir wissen, was auf unsere Kinder und
ben!) Enkelkinder zukommt. Auch in dieser Hinsicht wäre es
im Augenblick falsch, die Tatsache zu ignorieren, dass
Das ist genauso realitätsfern und illusorisch wie die Vor-
wir 1 500 Milliarden Euro Schulden mit uns herum-
schläge der Linken und der Grünen, ungeachtet unserer
schleppen. Wie sollten wir unseren Kindern in zehn oder
internationalen Verpflichtungen massiv bei den Verteidi-
20 Jahren erklären, dass wir dies alles im Jahre 2006
gungsausgaben einzusparen.
zwar wussten, dass es uns aber egal war und dass wir
Ich sage an dieser Stelle, ohne mich in dem Fahrwas- noch nicht einmal unter den günstigeren Bedingungen
ser weiter bewegen zu wollen: Selbstverständlich gibt es eines Aufschwungs die Kraft hatten, die Wünsche der
Risiken für den Haushalt. gegenwärtig in der Verantwortung stehenden Generation
gegen die berechtigten Zukunftsinteressen unserer
(Jürgen Koppelin [FDP]: Also!) Kinder und Enkelkinder gegebenenfalls zurückzuwei-
– Ich weiß doch, dass das im Mittelpunkt Ihrer Ausfüh- sen?
rungen stehen wird. – Die Beschreibung von Risiken (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sagt aber noch nichts über die Eintrittswahrscheinlich- der CDU/CSU)
keit dieser Risiken aus.
Deshalb frage ich an dieser Stelle sehr bewusst ganz ge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) nerell: Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, auf
Der Bundeshaushalt ist wie in all den vergangenen Jah- mehr Vorsorge für die Zukunft zu drängen, auch unter
ren selbstverständlich von Risiken umzingelt. Das gilt Berücksichtigung unseres augenblicklichen Gegenwart-
übrigens auch für den Haushalt 2006. Der Punkt ist, dass konsums? Dies ist und bleibt die Kernfrage.
diese Risiken in dem von Ihnen beschriebenen Ausmaß Genau jetzt, in einem Klima des wirtschaftlichen Auf-
nicht eingetreten sind. schwungs, ist der richtige Zeitpunkt, die Haushaltskon-
(Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]: Der solidierung entschlossen anzugehen und das im Zusam-
Bundeshaushalt ist das größte Risiko!) menspiel mit gezielten Wachstumsimpulsen zu tun. Ich
habe hier, an gleicher Stelle, im März bei der Einbrin-
Im Übrigen gilt für den Bundesgesetzgeber, also für gungsrede für den Haushalt 2006 etwas gesagt, wovon
Sie genauso wie für die Bundesregierung, was Otmar ich glaube, dass ich damit ziemlich richtig lag – ich zi-
Issing gesagt hat: Der Zwang, zu entscheiden, läuft der tiere mit Billigung der Präsidentin –:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4375
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) Ich kann keinerlei Hoffnung … machen … Wir ha- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – (C)
ben die Anhebung der Umsatz- und der Versiche- Jürgen Koppelin [FDP]: Sie tragen auch kaum
rungsteuer zum 1. Januar 2007 beschlossen. Dabei noch Verantwortung!)
bleibt es,
Im Übrigen halte ich an einem Verdacht fest: Wenn
– Einschub: ja, dabei bleibt es – die FDP in die Verlegenheit gekommen wäre, Partner ei-
ner Koalition im Bund zu sein, dann hätte sie angesichts
auch wenn ich genau weiß, wie die Debatte in die- der Lage diese Mehrwertsteuererhöhung natürlich mit
sem Jahr verlaufen wird, und zwar aus zwei unter- beschlossen.
schiedlichen Richtungen mit demselben Ergebnis.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Nein!)
Ich habe im März gesagt, dass die eine Debatte in etwa
so verlaufen wird: Das Wirtschaftswachstum ist besser, – Aber selbstverständlich! Doch! Soll ich Ihnen etwas
als Sie, die Bundesregierung, prognostiziert haben, und erzählen? Die FDP hat zwischen 1983 und 1998 zwanzig
deshalb können Sie die Mehrwertsteuer senken. – Die Steuererhöhungen mit einer Gesamtbelastung für die Be-
andere Debatte könnte so verlaufen: Oh, die Konjunktur völkerung von 143 Milliarden DM, gut 70 Milliarden
läuft schlechter, als Sie, die Bundesregierung, gedacht Euro also, mit beschlossen.
haben, und deshalb müssen Sie die Mehrwertsteuer sen- (Klaus Brandner [SPD]: Erwischt!)
ken.
Der Verdacht ist schon deshalb begründet, weil Sie von
(Jürgen Koppelin [FDP]: Auch gut!) der FDP in der Zeit drei Mehrwertsteuererhöhungen mit
beschlossen haben.
Das erste Szenario ist eingetreten. Die für Deutschland
günstigere Variante ist jetzt da; die Fakten sind aller- (Beifall bei der SPD – Jürgen Koppelin [FDP]:
dings geblieben. Es ist unverändert: Es sind dieselben Mit euch zusammen!)
Fakten, mit denen wir es bei den Beratungen im März zu Herr Solms – bei aller gebotenen Vorsicht und Höflich-
tun gehabt haben. keit: Sie waren an diesen drei Mehrwertsteuererhöhun-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gen beteiligt –, vielleicht erklären Sie nachher, was Ihre
der CDU/CSU) Motive damals gewesen sind oder inwieweit sich Ihre
Begründungen von unseren Begründungen heute unter-
Das ändert nichts daran, dass es nicht nur der Bundes- scheiden.
haushalt, sondern auch die Länderhaushalte und die
kommunalen Haushalte mit strukturellen Einnahmedefi- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das lohnt
ziten zu tun haben. Man kann unterschiedlicher Auffas- sich nicht! Sie werden es nie verstehen!)
(B) sung über die Höhe sein – ich streite nicht um Zahlen –; (D)
In der Opposition sind Sie gegen Steuererhöhungen. Wo
aber uns liegt auch die Bestätigung vor, dass die kon- Sie in der Regierung waren, haben Sie alle Erhöhungen
junkturunabhängige Finanzlücke in Höhe von wahr- mitgetragen. Das ist eine klare Linie, aber keine sehr
scheinlich 15 bis 20 Prozent sich nicht durch konjunktur- mutige.
abhängige, temporäre Mehreinnahmen schließen lässt.
Davon auszugehen, das ist der Fehler, den Sie machen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der
CDU/CSU)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
CDU/CSU – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Damit ich nicht nur in eine Richtung rede, will ich mit
Blick auf eine andere positive Entwicklung, nämlich die
Sehr gut! Abkehr vom Keynesianismus!)
Überschüsse bei der Bundesagentur für Arbeit, meiner
Dass manche inzwischen so tun, als schwimme die Skepsis Ausdruck verleihen; das gehört nun mal zur
Bundesregierung in Geld und müsse sich nur überlegen, Rolle eines Bundesfinanzministers. Ja, wir wollen den
wie sie den neuen Reichtum ausgeben könnte, das ist mir Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf
sehr bewusst. Aber das ist gerade so, als würden Sie ei- 4,5 Prozent senken. Aber wir alle wissen, dass ein erheb-
ner Familie sagen: In den letzten Jahren haben Sie ja licher Teil der Überschüsse, wahrscheinlich ein Drittel,
mehr Schulden gemacht als geplant und in diesem Jahr Folge eines einmaligen Effektes ist; die Arbeitgeber zah-
machen Sie weniger Schulden als geplant. Was machen len ihre Beiträge zur Sozialversicherung in diesem Jahr
Sie denn jetzt mit dem Geld? – So ähnlich ist das, was einmal öfter als üblich. In diesem Jahr fließen 13 Mo-
Sie uns abverlangen. natsbeiträge in die Kassen der Sozialversicherung, aber
eben nur in diesem Jahr. Selbst mit Unterstützung des
Mir ist sehr klar, dass eine Partei, die in 13 von Deutschen Bundestages werden wir im kommenden Jahr
16 Ländern keine Regierungsverantwortung trägt, leich- nicht von zwölf auf 13 Monate gehen können.
ter – vielleicht sollte ich sagen: leichtfertiger – einen
Verzicht auf die Mehrwertsteuererhöhung fordern kann Es wäre in meinen Augen sträflich, wegen eines Ein-
als solche Parteien, die in diesen Ländern politische Ver- maleffekts zu einem dauerhaften Einnahmeverlust zu
antwortung tragen. kommen. Zieht man diesen Einmaleffekt vom Über-
schuss der Bundesagentur für 2006 ab, bleiben – dann
(Jürgen Koppelin [FDP]: In so vielen Ländern auch als Puffer für die kommenden Jahre – bestenfalls 6,
tragen Sie auch nicht Verantwortung!) vielleicht 7 Milliarden Euro übrig.
Das ist zweifellos populär. Aber besonders verantwor- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist doch
tungsbewusst ist es nicht. was!)
4376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) – Ja. Es sieht aber ganz danach aus, als wenn die Bun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C)
desagentur diesen Puffer in den nächsten Jahren auch der CDU/CSU)
brauchen könnte. Ich möchte nicht erleben, dass dann
Die Steuerbelastung der Personengesellschaften war un-
plötzlich wieder ein Griff in die Bundeskasse notwendig
ter der Regierung mit der FDP extrem hoch. Sie haben
wird.
damals 53 Prozent Spitzensteuersatz gezahlt; jetzt haben
(Beifall bei der SPD) sie einen Spitzensteuersatz von 42 Prozent. Der Ein-
gangsteuersatz betrug damals 25,9 Prozent; jetzt haben
Ihre Hinweise darauf – das geht quer durch das ganze sie einen von 15 Prozent. Auch die Regelung bezüglich
Haus –, es handele sich um Arbeitslosenversicherungs- der Anrechenbarkeit der Gewerbesteuer auf die Einkom-
beiträge, die nicht in die Bundeskasse gehörten, ist rich- mensteuer ist nun sehr viel günstiger. Das haben Sie al-
tig. Ich würde Ihren rechtlichen Sachverstand infrage les nicht gemacht, sondern daran hat jemand mitgewirkt,
stellen, wenn ich das nicht anerkennen würde. Aber was der dort hinten sitzt, und viele andere auch.
ist denn mit den ungefähr 40 Milliarden Euro, die in den
letzten zehn Jahren als Zuschuss an die Bundesagentur Das heißt, inzwischen haben ungefähr 90 Prozent der
bzw. an die Bundesanstalt geflossen sind? deutschen Personengesellschaften eine effektive Besteu-
erung von unter 20 Prozent. Das ist eine gute Nachricht.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Von den gleichen Ich weiß, dass 10 Prozent darüber liegen, einige sogar in
Steuerzahlern!) der Größenordnung der Besteuerung von Kapitalgesell-
schaften. Ich weiß, dass große Familienunternehmen da-
Bekommen wir die jetzt zurück? durch erhebliche Probleme haben. Aber zunächst einmal
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist haben 90 Prozent der deutschen Personengesellschaften
Auftragsverwaltung!) in den letzten Jahren eine ausgesprochen positive Steuer-
politik erlebt,
Wenn die Bundesagentur wieder klamm wird, wollen
wir nicht mehr die Debatte haben, wie sie in den letzten (Beifall bei der SPD)
Jahren durchgängig geführt worden ist. Da hieß es näm- die sich übrigens inzwischen auch auf die Gewerbesteu-
lich immer: Nun gebt uns mal einen Zuschuss von ereinnahmen der Kommunen ausgewirkt hat, wo wir
4 Milliarden Euro – vielleicht ein bisschen weniger –; zum dritten Mal in Folge ein Rekordjahr erleben. Das ist
nun gebt uns mal einen Kredit! – Das ist der Grund da- die zweite gute Nachricht.
für, dass der Bundesfinanzminister ein großes Interesse
daran hat, sich gerade in dieser guten Zeit wie ein Hams- Nun ein Wort zu den Kapitalgesellschaften. Das soll
ter etwas zurückzulegen, also einen Puffer zu bilden. nicht heißen, dass ich nachher nicht auf die Fragestel-
(B) Man soll Hilfe nicht mehr vom Bundeshaushalt erwar- lung zurückkommen will, was wir weiterhin für den Mit- (D)
ten. telstand tun müssen. Ich will aber nicht als Generalkritik
vorgehalten bekommen, wir täten nichts für den Mittel-
(Beifall bei der SPD) stand; selbstverständlich tun wir etwas für den Mittel-
stand. Vor allen Dingen haben wir für den Mittelstand
Ich glaube, dass es eine Rückkehr zu den alten Zeiten, schon etwas getan und fangen nicht erst heute damit an.
wo mit Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt im Zwei-
felsfall verhindert worden ist, dass der Beitragssatz zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Arbeitslosenversicherung erhöht werden musste, nicht der CDU/CSU)
geben sollte. Wir haben ein Problem bei den Kapitalgesellschaf-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Es gibt ten; da sieht es nämlich anders aus. Die Kapitalgesell-
keinen Bundeszuschuss mehr!) schaften haben einen Definitivsteuersatz von 38,65 Pro-
zent. Mit dieser Steuerbelastung liegen wir in Europa an
– Jetzt gibt es keinen mehr; richtig. der Spitze. Das heißt, die Kapitalgesellschaften sind
nicht wettbewerbsfähig. Die Folgen sind sichtbar: Poten-
Kurzum: Bevor wir die Sektkorken knallen lassen, zielle Investoren werden eher abgeschreckt; deutsche
sollten wir schauen, ob überhaupt etwas in der Flasche Unternehmen werden von niedrigeren Steuersätzen, vor
ist. allem in direkt angrenzenden Nachbarländern, magisch
Lassen Sie mich zu dem wichtigen Thema Unterneh- angezogen und verlagern Betriebe und Arbeitsplätze ins
mensteuerreform Stellung nehmen, das auch unter Ausland. Gleichzeitig führt diese Situation zu Steueraus-
Haushaltsgesichtspunkten diskutiert wird, wenn auch fällen. Vor allem international operierende Unternehmen
noch nicht mit Relevanz für den Haushaltsplanentwurf sorgen durch legale – ich betone: legale – steuerliche
2007, aber mit Blick auf die mittelfristige Finanzpla- Gestaltung dafür, dass ein erheblicher Teil der in
nung. Deutschland erwirtschafteten Gewinne nicht in Deutsch-
land besteuert wird. Das will diese Regierung ändern.
Wie ist die Ausgangslage? Deutschland liegt, auch
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
dank der Steuerreform in den Jahren 2000 folgende, bei
der steuerlichen Belastung von Personengesellschaften Über die aus diesen Verschiebebahnhöfen resultie-
seit Jahren in einem sehr guten europäischen Mittelfeld rende Summe kann man streiten; das weiß ich. Aber sie
und wird dort noch lange bleiben. Auch das darf gele- macht einen höheren zweistelligen Milliardenbetrag aus.
gentlich anerkennende Worte finden. Konsequenz ist eine immer größere Entkoppelung der in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4377
Bundesminister Peer Steinbrück
(A) Deutschland versteuerten Gewinne von der in Deutsch- Vorständen den Eindruck vermittelt, wir würden nur auf (C)
land erarbeiteten Wertschöpfung. Deshalb müssen wir, dem Bein der Steuerentlastung, der Senkung der nomi-
nicht zuletzt auch im Sinne eines handlungsfähigen Staa- nalen Steuersätze hüpfen. Nein, wir laufen auf zwei Bei-
tes, jetzt handeln, um die Steuerbasis in Deutschland zu nen: Wir reden auch über die Erweiterung der Bemes-
sichern. sungsgrundlage.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD)
CDU/CSU)
Welcher Unfug dabei teilweise betrieben wird und zu
Die Steuerreform verfolgt fünf zentrale Ziele: welchen Missverständnissen es kommt, will ich an ei-
Erstens sollen die Steuereinnahmen langfristig gesi- nem Beispiel, an dem mir gelegen ist, einmal deutlich
chert werden. machen. Alle haben plötzlich den Eindruck, wir wollten
Pachten, Leasingraten, Lizenzen in die Bemessungs-
Zweitens soll die internationale steuerliche Wettbe- grundlage hineinnehmen – große Aufregung! Die kon-
werbsfähigkeit der Unternehmen und der interessierten krete Formulierung in dem Eckpunktepapier ist, dass die
Investoren in Deutschland verbessert werden. Finanzierungsanteile in Rede stehen, hinzugerechnet zu
werden. Da sieht die Lage schon ganz anders aus und die
Drittens sollen Unternehmen, die ihre Gewinne in
Empörung und Aufregung ist etwas anders zu bewerten.
Deutschland versteuern, entlastet werden und Unterneh-
Nehmen wir einmal an, der pauschale Finanzierungsan-
men, die Gewinne ins Ausland verschieben, sollen mehr
teil beim Leasing läge bei 25 Prozent und es gäbe eine
bezahlen.
Verminderung des Steuerabzuges darauf in einer Grö-
Viertens soll bei der steuerlichen Belastung von Kapi- ßenordnung von 25 Prozent. Rechnen wir 25 Prozent
talgesellschaften und Personengesellschaften eine größt- von 25, dann kommen wir auf 6,25. Bei einem Steuer-
mögliche Gleichbehandlung erfolgen. Wir wollen im satz von 30 Prozent – ich runde ab – reden wir dann über
Ergebnis, technokratisch gesprochen, Rechtsformneutra- eine Mehrbelastung von 2,08 Prozent, aber nicht über
lität. den Untergang des Abendlandes und auch nicht über den
9. November 1918.
Fünftens wollen wir die Investitionskraft der Kom-
munen sichern, die immerhin 60 Prozent aller öffentli- Wir sind mit den Ländern, mit den Kommunen und
chen Investitionen in der Bundesrepublik Deutschland auch mit Wirtschaftsverbänden im Gespräch über eine
vornehmen. Unternehmensteuerreform. Ich bitte um Verständnis,
wenn ich jetzt nicht unseren gemeinsamen Beratungen
Dies alles wollen wir über die Absenkung der nomi-
vorauseile. Viele sind daran beteiligt: Herr Poß, Herr
(B) nalen Steuersätze erreichen, und zwar – das ist die Kon- Meister, Herr Bernhardt, Herr Spiller – ohne jetzt andere (D)
ditionierung – bei einer gleichzeitigen Verbreiterung der
zurücksetzen zu wollen. Ich vermute einmal, dass wir bis
Bemessungsgrundlage. Mit dieser Strategie folgen wir
Mitte Oktober in der Lage sind, uns spezifisch festzule-
den Steuerreformansätzen unserer europäischen Nach-
gen, und dass dann die Parteien, die Fraktionen und das
barn; die machen es nicht anders. Im Übrigen hat der
Parlament Gelegenheit haben sich vorzubereiten. Ich
Sachverständigenrat ebenso wie sehr viele andere Wis-
kündige einen Referentenentwurf für die Monatswende
senschaftler die Bundesregierung früher und bis heute
Dezember/Januar an – bitte, ohne dass Sie mich auf den
immer wieder aufgefordert, Steuersatzsenkungen vorzu-
Vorlagetermin 24. Dezember festnageln. Ich vermute,
nehmen und diese mit einer Erweiterung der Beitragsbe-
dass die Bundesregierung einen Regierungsentwurf bis
messungsgrundlage zu verbinden. Diese Strategie ist
zum Februar verhandeln wird, sodass die hiesigen parla-
nicht falsch.
mentarischen Beratungen bis Anfang Juli abgeschlossen
Naturgemäß entzündet sich die Debatte mit den Wirt- werden können und die deutsche Wirtschaft dann ein
schaftsverbänden an einer Verbreiterung der Bemes- halbes Jahr Zeit hat – andere Interessierte auch –, sich
sungsgrundlage. Wie sieht eine solche Verbreiterung auf diese Unternehmensteuerreform einzulassen.
genau aus? Wir haben in der von Herrn Koch und mir
geleiteten politischen Arbeitsgruppe eine intensive De- Wir streben – lassen Sie mich das abschließend dazu
batte über die im Raume stehenden Maßnahmen geführt. sagen – einen nachhaltigen europäischen Mittelfeldplatz
Wenn Sie die Eckpunktebeschlüsse des Koalitionsaus- bei der Steuerbelastung an. Wir haben gute Chancen, ei-
schusses und der Bundesregierung lesen, sehen Sie, dass nen solchen Platz mit unserer Reform auch dauerhaft zu
wir uns dabei in Korridoren bewegen, dass da nichts in erreichen. Es gibt übrigens deutliche Hinweise, dass der
Stein gemeißelt ist. Wir reden über die Beschränkung internationale Steuersenkungswettbewerb in Europa an
des Finanzierungskostenabzuges, über eine Zinsschran- ein Ende kommt. Dafür sorgt nicht zuletzt auch der Sta-
kenregelung, über eine Grundsteuer C, über verschie- bilitäts- und Wachstumspakt, der disziplinierend wirkt.
dene Varianten, die, auch mit Blick auf ihre Auswirkun- Ich weise auch darauf hin, dass einige unserer neuen ost-
gen, konkret berechnet werden müssen. europäischen Partner inzwischen erhebliche – teilweise
zweistellige, also weit über das Maastrichtkriterium hi-
Diese Vorschläge sind, wie aus dem Eckpunktepapier nausgehende – Haushaltsdefizite aufweisen, was dort
hervorgeht, nicht in Beton gegossen. Sie stehen aller- zunehmend zu einer Debatte führt, die auf eine Erhö-
dings auch nicht beliebig zur Disposition. Das sage ich hung von Körperschaftsteuern in der Größenordnung
genauso freimütig; denn ich bekomme zunehmend von von 20 Prozent – teilweise auch mehr – hinausläuft. All
Wirtschaftsverbänden und auch von einigen einzelnen dies findet statt. Man kann daran sehen: Auch unsere
4378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Peer Steinbrück


(A) östlichen Nachbarn können ohne stabile Einnahmen des Herr Bundesfinanzminister, da Sie so gerne auf an- (C)
Staates ihre öffentlichen Aufgaben nicht finanzieren. dere zeigen: Sie sind einige Jahre lang Mitglied im Bun-
desrat gewesen. Ich erinnere mich, dass Sie dort jeweils
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum den Bundeshaushalten zugestimmt haben. Das waren
Schluss kommen. Wir werden unseren Weg in der Haushaltspläne, von denen heute die Bundeskanzlerin
Steuer- und Finanzpolitik fortsetzen. Er lautet, die wirt- sagt, sie hätten dazu geführt, dass die Finanzen des Bun-
schaftlichen Rahmenbedingungen zu verbessern, das des ein Sanierungsfall seien. Sie haben all dem zuge-
Vertrauen in die Finanzpolitik durch solide Haushalts- stimmt; das will ich Ihnen einmal ins Stammbuch schrei-
politik zu stärken und so den uns nachfolgenden Genera- ben.
tionen finanzielle Luft zum Atmen zu verschaffen, die
sie zum Beispiel im globalen Wettbewerb auch um die (Beifall bei der FDP)
klügsten Köpfe dringend brauchen. Ich stehe für diese
und ich stehe zu dieser gestaltenden Finanzpolitik, die Der vorgelegte Bundeshaushalt 2007 ist ein Haushalt
die Perspektive auf die langfristigen Bedürfnisse einer der Ideenlosigkeit. Es gibt keine Ideen dazu, wo man
immer stärker von Globalisierung und Demografie be- zum Beispiel bei den Ausgaben kürzen kann. Das wäre
stimmten Gesellschaft erweitern soll. Wir wissen, dass doch das Entscheidende. Der Bundesfinanzminister ist
es das Erfolgsrezept, den Urknall, die große Lösung zusammen mit der Koalition nur im Hinblick auf stei-
nicht gibt; aber wir jagen auch nicht irgendwelchen Re- gende Steuereinnahmen tätig geworden, indem er bei
zepten hinterher. den Bürgern massiv abkassiert, zum Beispiel ab 2007 in
Form einer Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent-
Lassen Sie es mich mit dem amerikanischen Schau- punkte. Sie ziehen den Bürgern das Geld aus der Tasche,
spieler Jack Lemmon sagen: wo immer Sie können.
Ein Erfolgsrezept gibt es nicht, wohl aber ein Miss- (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
erfolgsrezept: Versuche, allen zu gefallen.
Auf der Ausgabenseite sind Sie völlig ideenlos und plan-
Mit Blick auf dieses Zitat von Jack Lemmon war diese los.
Bundesregierung bisher ziemlich erfolgreich.
Herr Bundesfinanzminister, es ist keine erfolgreiche
Herzlichen Dank. und solide Haushaltspolitik – das sage ich auch der
Koalition –, heute für 2007 einen Haushalt mit einer
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Neuverschuldung von 22 Milliarden Euro vorzulegen,
wenn man bedenkt, dass Hans Eichel in den Jahren 2000
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: und 2001 eine ähnlich hohe Neuverschuldung vorge-
(B) (D)
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin, FDP- nommen hat. Heute landen Sie da, wo Hans Eichel schon
Fraktion. in den Jahren 2000 und 2001 war. Das kann keine erfolg-
reiche Politik sein.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP)
Jürgen Koppelin (FDP): Der Union will ich übrigens ersparen, das zu zitieren,
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! was sie seinerzeit zu den Haushalten von Hans Eichel
Soeben hat der Bundesfinanzminister den Haushalt 2007 und der damaligen Neuverschuldung gesagt hat. Heute
eingebracht. Das ist der zweite Haushalt, den er uns in sind Sie da ebenfalls gelandet.
diesem Jahr vorlegt. Man kann an diesem Haushalt 2007
– Herr Bundesfinanzminister, das muss ich Ihnen deut- Ich finde, ein Bundesfinanzminister hätte die Kraft
lich sagen – weder den Kurs der Bundesregierung für die haben müssen – selbstverständlich unterstützt von der
kommende Zeit noch Ihre Handschrift erkennen. Das Bundeskanzlerin –, Einsparungen auf der Ausgaben-
Einzige, was man erkennen kann, ist: Sie haben sich als seite vorzunehmen. So, Herr Bundesfinanzminister, hät-
Buchhalter, aber nicht als Bundesfinanzminister betätigt; ten Sie vielleicht wieder ein Stück mehr Glaubwürdig-
darauf werde ich gleich eingehen. keit gewinnen können. Durch die Erhöhung der
Mehrwertsteuer haben Sie ja erheblich an Glaubwürdig-
(Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der keit verloren. Denn gerade die Sozialdemokraten und
SPD) Sie haben den Bürgern im Wahlkampf etwas anderes ge-
sagt. Damit haben Sie Stimmen gewonnen. Bei der SPD
Im Rahmen des Bundeshaushaltes 2007 will der Bun- säßen mindestens 50 Abgeordnete weniger, wenn Sie im
desfinanzminister noch einmal Schulden in Höhe von Wahlkampf nicht so gelogen hätten.
22 Milliarden Euro aufnehmen. Das heißt, Peer
Steinbrück hat in diesem Jahr eine Neuverschuldung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
des Bundes in Höhe von mehr als 60 Milliarden Euro zu des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verantworten. Vor allem darauf hätte er in seiner Rede
eingehen sollen und nicht auf die Politik der FDP in den Sparen, wie wir es fordern, ist für den Bundesfinanz-
Jahren 1991 und 1992. minister eigentlich kein Fremdwort. Anstatt aber selbst
zu sparen, empfiehlt er den Bürgern, zu sparen und im
(Zurufe von der SPD: Oh!) Zweifel auf eine Urlaubsreise zu verzichten.
Das wäre viel interessanter gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4379
Jürgen Koppelin
(A) Der Bundesfinanzminister hat noch gar nicht begriffen, nicht mehr davon! Im Übrigen kommen diese Bundeszu- (C)
dass sich mancher in unserem Lande aufgrund der Poli- schüsse, die einmal gezahlt worden sind, von den glei-
tik der Bundesregierung, zum Beispiel der Mehrwert- chen Leuten. Diejenigen, die Beiträge nach Nürnberg
steuererhöhung, bald gar keine Urlaubsreise mehr leisten zahlen, und diejenigen, die Steuern für die Bundeskasse
kann. Wo soll denn da der Bürger überhaupt noch spa- zahlen, sind die gleichen Leute. Es handelt sich also um
ren? das Geld der Bürger. Daran sollten Sie denken! Aber lei-
der denken Sie ja viel zu wenig daran.
(Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD)
(Beifall bei der FDP)
Es ist schon ein Witz – das sage ich Ihnen allerdings
auch –, die Bürger zum Sparen aufzufordern und gleich- Herr Bundesfinanzminister, man kann hinsichtlich der
zeitig ab 2007 den Sparerfreibetrag fast zu halbieren. Es Ausgabenseite nicht die Hände in den Schoß legen.
ist ein Witz – Herr Bundesfinanzminister, lassen Sie Auch darauf muss ich jetzt noch zurückkommen. Sie ha-
mich das so süffisant sagen –, die Bürger zum Sparen ben uns ja, was die Ausgaben angeht, etwas vorgegau-
aufzufordern und dazu, auf eine Urlaubsreise zu verzich- kelt. Die Ausgaben steigen in 2007 um 2,3 Prozent.
ten, und gleichzeitig hält die Bundeskanzlerin in Meck-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP)
lenburg-Vorpommern das teuerste Grillfest der Nation
mit Kosten von mehr als 15 Millionen Euro ab. Das ist An dieser Erkenntnis führt kein Weg vorbei. Schauen Sie
allerdings eine starke Nummer. einmal in Ihren Haushalt hinein! Es ist doch nicht wahr,
was Sie uns hier erzählt haben.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der
LINKEN) Wir freuen uns ja alle darüber, dass die Konjunktur
jetzt anläuft. Das bringt ja auch etwas; das sehen wir
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben den Freien De-
nicht nur bei den Einnahmen der Bundesagentur, son-
mokraten ein bestimmtes Verhalten in den Regierungs-
dern auch an den erheblich zugenommenen Steuerein-
koalitionen der Vergangenheit vorgehalten; darauf will
nahmen. Wenn wir uns dieses zarte Pflänzchen an-
ich zurückkommen. Ich finde, es ist schon ein starkes
schauen und sehen, wie dieses Pflänzchen Konjunktur
Stück – das kann man natürlich machen; wir stehen zu
endlich ein bisschen blüht, müssen wir uns fragen, wieso
unserer Verantwortung; wir waren in der Regierungsver-
Sie dann mit einer Mehrwertsteuererhöhung kommen.
antwortung –, dass Sozialdemokraten wie Sie und an-
Das fördert ja doch nicht die Konjunktur; das torpediert
dere der FDP Vorwürfe machen und Sie selber vor der
die Konjunktur. Dafür tragen Sie die Verantwortung.
Bundestagswahl versprochen hatten, keine Mehrwert-
steuererhöhung vorzunehmen. Das ist ein starkes Stück; (Beifall bei der FDP)
(B) das muss noch einmal deutlich gesagt werden. Ich sage Sie haben von den Risiken gesprochen. Es ist wahr: (D)
dies auch deswegen, weil das Allerstärkste ist – deswe-
gen erwähne ich das überhaupt –, dass jemand wie der Es gibt Risiken im Haushalt. Wir sind uns darüber ei-
Vizekanzler Müntefering in einer Pressekonferenz dann nig, Herr Bundesfinanzminister, wo die Risiken liegen.
noch sagt: Es ist unfair, uns an unsere Wahlversprechen Nur finde ich: Dann muss man bei den Ausgaben noch
zu erinnern. – Das ist doch inzwischen Ihre Linie. einmal kürzen und streichen und alles auf den Prüfstand
stellen, damit man mit Blick auf die Risiken einen Spiel-
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten raum hat. Diese Prüfung haben Sie unterlassen.
der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN) Nun haben Sie in Ihrer Rede der FDP mehrfach Vor-
haltungen gemacht und haben gerade auf den Bereich
Nun kommen wir – das haben Sie angesprochen – zu der Einsparungen hingewiesen. Herr Finanzminister, Sie
den Überschüssen bei der Bundesagentur. Der Kol- haben ja das Talent, unglaublich viele der uns zur Verfü-
lege Kauder, der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, gung stehenden Informationen zu unterdrücken oder hier
erklärt, diese Überschüsse seien ein Erfolg der Bundes- nicht vorzutragen. Ich nenne Ihnen eine Information.
kanzlerin. Das kann ich nun überhaupt nicht erkennen. Wenn Sie die hören – ich denke aber, Sie kennen sie be-
Diese Überschüsse verdanken sich den Beitragszahlern reits –, dann werden Sie feststellen, dass sich die Freien
und beruhen unter anderem – daran darf man wohl noch Demokraten mit ihrer Politik in bester Gesellschaft be-
erinnern – auf der zwangsweise erhobenen zusätzlichen, finden. Der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten,
dreizehnten, Zahlung der Versicherungsbeiträge. Es han- Peter Struck, der selbst einmal Mitglied im Haushalts-
delt sich um Beiträge, die die Beitragszahler aufbringen. ausschuss war, erklärte nach der Verabschiedung des
Ich finde, wenn in der Kasse zu viel Geld ist, dann ge- Bundeshaushalts 2006 in der „Frankfurter Allgemeinen
hört dieses Geld zurück in die Hand der Beitragszahler. Sonntagszeitung“ – Herr Bundesfinanzminister, hören
Sie zu! –, man hätte auch auf die Mehrwertsteuererhö-
(Beifall bei der FDP) hung verzichten und den Haushalt über knallharte Ein-
Kommen Sie mir in diesem Zusammenhang nicht mit sparungen in jedem Ressort sanieren können. So Peter
dem Zuschuss des Bundes für die Bundesagentur! Wis- Struck Ende Juni!
sen Sie eigentlich gar nicht, was wir beschlossen haben? (Beifall bei der FDP)
Es soll ja keinen Bundeszuschuss für die Bundesagentur
mehr geben. Sie könnten sich jetzt nur hinstellen und sa- Ja, Recht hat der Mann. Dazu haben Sie nichts gesagt.
gen: Jetzt machen wir doch etwas anderes. – Den Bun- Da wir Peter Struck seit vielen Jahren gerade als einen
deszuschuss gibt es gar nicht mehr. Also reden Sie auch Mann kennen, der sehr peinlich darauf achtet, was er
4380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Jürgen Koppelin
(A) sagt und warum er es sagt, denke ich, dass das auch eine Ausgaben! Das ist machbar. Wir haben anlässlich des (C)
herbe Kritik am Bundesfinanzminister und seiner Politik letzten Haushalts ein Sparpaket mit einem Volumen von
gewesen ist. Wir teilen die Auffassung von Peter Struck. 8 Milliarden Euro vorgelegt. Solche Einsparungen sind
Das heißt, auf die Mehrwertsteuererhöhung kann man machbar. Wir haben Ihnen unser Sparpaket übergeben
verzichten, wenn man knallharte Einsparungen bei den und Sie haben unsere Vorschläge überprüfen können.
Ausgaben vornimmt. Wenn Sie unsere Forderungen erfüllen würden, würden
Sie einen wichtigen Beitrag für unsere Konjunktur leis-
(Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: ten. So kämen wir zu weiteren Einnahmen für den Bun-
Wo? Wo denn?) desfinanzminister.
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben am Anfang ge- Mir wäre es mit Blick auf den Haushalt lieber gewe-
sagt – da war ich schon etwas erstaunt –: Wir als Bun- sen, die Bundeskanzlerin, der Bundeswirtschaftsminister
desregierung sind nicht besonders beliebt; wir wollen und der Bundesfinanzminister hätten sich zusammenge-
aber die Bürger darüber nicht im Unklaren lassen, was setzt und gemeinsam überlegt, welche Reformen auf
die Politik der Bundesregierung ist. Dazu von mir eine dem Arbeitsmarkt nötig sind. Wir brauchen schließlich
kleine Kostprobe, Herr Bundesfinanzminister. Vielleicht Reformen auf dem Arbeitsmarkt, sie würden zu weiteren
haben Sie bei all den Aktivitäten im Bundesfinanzminis- Einnahmen für den Bundesfinanzminister führen.
terium kaum Zeit gehabt, die Meldungen der letzten
Tage zu lesen. (Beifall bei der FDP)
Da haben wir erstens den Bundeswirtschaftsminister, Der Bundeshaushalt 2007, Herr Bundesfinanzminis-
von dem nicht allzu viel kommt, außer dass er jetzt viel- ter, den Sie uns vorgelegt haben, ist nicht der Haushalt
leicht die Rüstungsexporte nach Indien erhöhen will. eines Bundesfinanzministers, der politisch agiert und
Das hält er wahrscheinlich für eine Riesenidee. Ziele verfolgt. Es ist der Haushalt eines Finanzbuchhal-
ters, der die Bilanz durch viel Haushaltskosmetik schön-
Zweitens. Der baden-württembergische Ministerprä- rechnet. Ihre Haushaltstricksereien, Herr Bundesfinanz-
sident Oettinger und der CSU-Landesgruppenchef minister, machen den Haushalt 2007 nicht solider. Der
Ramsauer bezeichnen die Gesundheitsministerin Haushalt ist auf keinen Fall solide.
Schmidt als Belastung für die Koalition. Wichtige CDU-
Politiker fordern den Rücktritt der Ministerin. Ich hoffe – ich appelliere in diesem Sinne an die
Koalitionsfraktionen –, dass wir es in den Beratungen im
Drittens. Bundesverkehrsminister Tiefensee, der bis- Haushaltsausschuss schaffen werden, einen soliden
her auch nicht durch Aktivitäten aufgefallen ist, plädiert Haushalt aufzustellen. Dieser Haushalt wird sicher nicht
– das ist das Tollste; vielleicht haben Sie die Meldung so aussehen wie derjenige, den uns der Bundesfinanz- (D)
(B) nicht gelesen – dafür, Hartz-IV-Empfänger als unbewaff-
minister heute vorgelegt hat.
nete Patrouillen im öffentlichen Nahverkehr einzusetzen.
Ich sage dazu: Das ist populistischer Quatsch. Herzlichen Dank.
Viertens. Die SPD wirft dem Verteidigungsminister (Beifall bei der FDP)
Jung Alleingänge zulasten der Koalition vor; für das
Klima der Koalition sei das alles nicht gut, was der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Mann mache. Der gleiche Verteidigungsminister fordert Nächster Redner ist der Kollege Dr. Michael Meister,
übrigens für die nächsten Jahre 6 Milliarden Euro mehr CDU/CSU-Fraktion.
für seinen Etat, die er für Rüstungsprojekte ausgeben
will. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter
[CDU/CSU]: Jetzt kommt ein Meister seines
Fünftens. Peer Steinbrück – das habe ich schon er- Fachs!)
wähnt – fordert, auf Urlaub zu verzichten.
Daneben schlägt Herr Riester vor, die Leute sollten Dr. Michael Meister (CDU/CSU):
auf das Auto verzichten. Und das, was der Sprecher des Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Seeheimer Kreises der SPD über die Kanzlerin gesagt Herren! Ich möchte zum Auftakt der Haushaltsberatun-
hat, hätte ich nicht einmal als Oppositionspolitiker über gen für das Jahr 2007 als Erstes folgende Bemerkung
sie zu sagen gewagt. machen: Mit diesem Haushaltsentwurf kehrt die Haus-
Das ist das Spiegelbild der Koalition. Dieses Drunter haltspolitik in Deutschland in die Regelkreise zurück,
und Drüber innerhalb der Koalition erleben die Bürger, die von Recht und Gesetz vorgegeben sind.
es gibt keinen klaren Kurs. Die Bundesregierung ist völ- Lieber Herr Koppelin, die große Koalition ist in der
lig konzeptlos, folglich führungslos und das erkennen Haushaltspolitik mit der Zielsetzung angetreten, die
die Bürger, was die Umfragewerte deutlich unterstrei- Neuverschuldung zurückzuführen, den Bundeshaushalt
chen. nachhaltig zu sanieren und die Staatsfinanzen wieder
(Beifall bei der FDP) dauerhaft auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Der
heute eingebrachte Entwurf des Haushalts 2007 und der
Herr Bundesfinanzminister, die Forderungen der Finanzplan bis 2010 zeigen das klare Konzept und die
Freien Demokraten lauten: Verzichten Sie auf die Mehr- Handschrift dieser Koalition, um diese Zielsetzung im
wertsteuererhöhung! Sparen Sie, sparen Sie auch bei den vorgegebenen Zeitraum erreichen zu können.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4381
Dr. Michael Meister
(A) Ich will auf etwas hinweisen, was in den vergangenen – Lieber Herr Koppelin, da Sie sich hier mit Zwischen- (C)
fünf Jahren als Unmöglichkeit erschien, sich heute je- rufen hervortun, möchte ich Ihnen Folgendes sagen: Es
doch als Selbstverständlichkeit im Entwurf darstellt. Wir ist mit Sicherheit berechtigt, als Opposition Kritik am
werden mit diesem Haushalt zum ersten Mal wieder den Haushaltsentwurf der Regierungskoalition zu üben. Kri-
Regelkreis des Art. 115 des Grundgesetzes, der vor- tik ist angesichts der Probleme, vor denen wir in der
sieht, dass das Investitionsvolumen größer sein muss als Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik stehen, aber
die Nettoneuverschuldung, erreichen. zu wenig.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Das ist eine Selbstverständlichkeit, die leider in den letz- GRÜNEN)
ten Jahren in unserem Land keine Selbstverständlichkeit
war. Sie müssten nicht nur sagen, was Sie an unseren Vor-
schlägen kritisieren, sondern auch, wie Sie das struktu-
Darüber hinaus werden wir dank der guten konjunk- relle Defizit des Bundeshaushalts mit einem Volumen
turellen Entwicklung bereits in diesem Jahr das 3-Pro- von über 60 Milliarden Euro schließen wollen. Ihre bis-
zent-Defizitkriterium des Maastrichtvertrags einhal- herigen Vorschläge zielen auf nicht einmal 10 Prozent
ten. Die deutsche Finanzpolitik gewinnt damit auch dieser Summe und greifen deshalb wesentlich zu kurz.
international wieder an Glaubwürdigkeit. Denken wir Ich hätte erwartet, dass Sie heute früh einen konkreten
beispielsweise an die EU-Staaten Mittelosteuropas, die Vorschlag dazu auf den Tisch legen, über den wir uns in
kurz vor der Einführung des Euros in ihrem Land stehen: den nächsten Wochen unterhalten können. Herr
Auch ihnen verlangen wir die Einhaltung dieser Krite- Koppelin, das haben Sie leider nicht geleistet.
rien ab. Deshalb müssen wir mit gutem Beispiel voran-
gehen und diese Koalition tut das. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Populismus ist eine angenehme Sache, da man unheim-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lich viel Beifall erntet. Er ersetzt aber keine seriöse und
neten der SPD)
solide Finanzpolitik für eine der größten Volkswirtschaf-
Wir tun damit aber auch langfristig etwas für die Sta- ten dieser Welt. Wir stehen in der Verantwortung und wir
bilität unserer Währung. Erinnern wir uns an die Bedin- nehmen sie auch wahr.
gungen zur Einführung des Euros. Das waren einerseits (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD –
der Vertrag von Maastricht, andererseits die Unabhän- Jürgen Koppelin [FDP]: Sagen Sie das, was
gigkeit der Europäischen Zentralbank. Ich möchte sei- Sie gesagt haben, in Richtung Finanzministe-
(B) tens meiner Fraktion erklären, dass wir bereit sind und rium!) (D)
die Anstrengungen unternehmen wollen, unseren Bei-
trag dazu zu leisten, den europäischen Stabilitäts- und Am Anfang dieses Jahres haben wir – Herr
Wachstumspakt im Jahr 2007 und in den Folgejahren Steinbrück hat darauf hingewiesen – das Wachstums-
dauerhaft einzuhalten. impulsprogramm beschlossen. Damals gab es viele
Schwarzseher, die gesagt haben, dass das Programm in
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) die falsche Richtung zielt. Jetzt liegt uns der Haushalts-
Wir sollten aber auch hinsichtlich der Unabhängigkeit entwurf vor und wieder wird darüber geredet, welche ne-
der Europäischen Zentralbank den notwendigen Respekt gativen Wirtschaftsentwicklungen mit diesem Haus-
haltsentwurf und den begleitenden Gesetzen eingeleitet
(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werden könnten. Ich will an dieser Stelle darauf hinwei-
Steuererhöhungen!) sen, dass die negativen Botschaften, die am Jahresanfang
verkündet wurden, nicht eingetreten sind.
wahren und nicht in die Aufgaben einer unabhängigen
Notenbank eingreifen. (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist hervorragend, dass sie nicht eingetreten sind. All
neten der SPD) die Schwarzmaler haben nicht Recht gehabt.

Dieser Haushalt zeigt, dass die große Koalition hält, (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
was sie verspricht. Das ist das Kennzeichen einer neuen Es wäre ein schönes Zeichen gewesen, wenn Sie heute
Politik. Ich möchte Herrn Steinbrück, unserem Bundes- gesagt hätten: Gott sei Dank, unsere Befürchtungen sind
finanzminister, ausdrücklich dafür danken, dass er sich nicht eingetreten. Wir haben uns geirrt.
diesen Konsolidierungsauftrag zu Eigen gemacht hat.
Herr Steinbrück, ich darf Ihnen versprechen, dass meine (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Steffen
Fraktion und auch ich persönlich Sie bei der Umsetzung Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
dieser schwierigen Aufgabe nach besten Kräften unter- Deshalb sage ich ermunternd: Der Stillstand in
stützen werden. Das gilt auch für die Haushaltsverhand- Deutschland ist durch diese Koalition überwunden wor-
lungen, die mit dem heutigen Tage beginnen. den. Die Ampeln wurden auf Grün geschaltet.
(Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Koppelin (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
[FDP]: „Nach besten Kräften“ ist bei euch ja Sehr gut! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:
nicht viel!) Kuhn ist aufgewacht!)
4382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Michael Meister


(A) In Deutschland geht es aufwärts. Wir haben vorsichtig diese Entscheidung leider Gottes nicht herum. Deshalb (C)
geschätzt und werden auch zukünftig Vorsicht walten möchte ich ausdrücklich noch einmal unterstreichen,
lassen. dass sie notwendig war und in dieser Lage leider auch
richtig.
Herr Kuhn, wenn Sie sich Ihre Leistungsbilanz an-
schauen – fünfmal Maastricht gerissen, fünfmal Art. 115 Daraus muss erwachsen, dass sich die Haushaltssa-
gerissen, Stagnation in Deutschland herbeigeführt, Null- nierung in den kommenden Jahren – beginnend mit den
wachstum –, dann ist klar, dass Sie überhaupt kein Recht Haushaltsberatungen, vor denen wir stehen – noch stär-
haben, solche Zwischenrufe zu machen. Sie sollten sa- ker auf die Ausgabenseite fokussieren muss. Wir müssen
gen: Respekt vor dieser neuen Bundesregierung! Zum uns anstrengen, damit wir in den folgenden Jahren ver-
Glück sitzen wir Grünen endlich in der Opposition! stärkt auf der Ausgabenseite zur Konsolidierung beitra-
(Beifall bei der CDU/CSU – Fritz Kuhn gen können.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Steuererhö- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
hungen! Alles Steuererhöhungen!)
Jetzt könnte man sagen: Wenn die 3-Prozent-Grenze
Im Frühjahr dieses Jahres haben wir prognostiziert, erreicht ist, dann bedarf es gar keiner weiteren Anstren-
dass die Wirtschaft – vorsichtig gerechnet – um etwa gungen. Ich möchte darauf hinweisen, dass im Vertrag
1,6 Prozent wachsen wird. Diese Prognose wird vom Er- von Maastricht nicht steht, dass man jedes Jahr mindes-
gebnis übertroffen werden. Das soll auch so bleiben: Wir tens 3 Prozent neue Schulden machen muss. Im Vertrag
wollen erstens weiterhin vorsichtige Prognosen erstellen steht, dass man über den Konjunkturzyklus hinweg ei-
und zweitens weiter daran arbeiten, dass wir unsere Pro- nen ausgeglichenen Haushalt haben muss. Deshalb wer-
gnosen auch in den Folgejahren übertreffen. Das ist die den wir auch nach Erreichen der 3-Prozent-Grenze jedes
Philosophie dieser Regierung. Jahr einen Konsolidierungsbeitrag in Höhe von
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts leisten müssen.
neten der SPD) Allein für den Bund sind das etwa 7 Milliarden Euro pro
Jahr. Deshalb stehen wir mit diesem Haushalt nicht am
Die Arbeitslosenzahl sinkt auf breiter Front. Auch das Ende der Konsolidierung, sondern am Anfang.
ist ein positives Signal für die Menschen in diesem
Land. Die Arbeitslosigkeit belastet die Menschen in (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Deutschland nämlich am stärksten; sie ist das Hauptpro-
blem. Wir haben es geschafft, dass wir in diesem Land Wir werden weiter ernsthaft alle Möglichkeiten nutzen
knapp 500 000 Arbeitsplätze mehr haben als vor einem müssen, den Haushalt zu konsolidieren, bis wir bei ei-
(B) Jahr. Wenn wir das vor der letzten Bundestagswahl ange- nem ausgeglichenen Bundeshaushalt angelangt sind. (D)
kündigt hätten, dann wäre das als rosa Wolke bezeichnet (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
worden, aber nicht als realistische Perspektive. Mittler- neten der SPD)
weile sind wir auf diesem Feld gewaltig vorangekom-
men. Durch nachhaltige Strukturreformen müssen wir Mit Beginn dieser Haushaltsberatungen stellt sich die
jetzt dafür sorgen, dass diese Entwicklung anhält und Situation so dar, dass die Steuereinnahmen etwa
nicht wieder abbricht. 3 Milliarden Euro über der Summe liegen, die im Haus-
haltsplan 2006 veranschlagt wurde. Diesen Spielraum
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sollten wir – insofern unterstütze ich Herrn Steinbrück
Wann denn?) ausdrücklich – für eine weitere Absenkung der Netto-
– Frau Hajduk, Kassandrarufe sind bei Ihnen immer da- neuverschuldung nutzen, anstatt an dieser Stelle neue
bei. Sie haben doch in der Arbeitsmarktpolitik versagt, Verteilungsdebatten zu beginnen.
weil Sie den Konjunkturaufschwung in den Jahren 2000/
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
2001 nicht genutzt haben, um strukturelle Reformen um-
der SPD)
zusetzen. Sie haben die Chance, die Sie damals hatten,
vertan. Wir wollen unsere Chance im Sinne der Men- Wir stehen nicht am Ende der Konsolidierung, sondern
schen in Deutschland nutzen. am Anfang. Deshalb gibt es nichts zu verteilen.
(Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk [BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn?) neten der SPD)
Meine Damen und Herren, ich will noch einmal beto- Ich greife ernsthaft den Hinweis auf die Risiken, die
nen: Wir sind erst am Beginn der Haushaltssanierung. Herr Koppelin genannt hat, auf. Es ist richtig, dass wir
Unsere Konsolidierungsbemühungen beruhen – Herr Risiken haben. Ich glaube, die Koalition und auch der
Steinbrück hat es erwähnt – zu 60 Prozent auf der Aus- Finanzminister sind sich der Risiken, die existieren, be-
gabenseite, dem Abbau von Steuervergünstigungen, wusst. Aber man muss doch überlegen, welche Konse-
steuerlichen Sonderregelungen und Finanzhilfen, und zu quenzen man aus diesen Risiken zieht. Die Konsequenz
etwa 40 Prozent auf dem Anheben von Steuersätzen. kann doch nicht die sein, die in der Rede aufgezeigt
Das ist natürlich keine angenehme Botschaft. Aber wer wurde: Weil Risiken existieren, nehme ich Teile der
sich zu den finanzpolitischen Zielsetzungen bekennt und Konsolidierungsanstrengungen weg.
eine nachhaltige, den zukünftigen Generationen ver-
pflichtete Finanzpolitik machen möchte, der kam um (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4383
Dr. Michael Meister
(A) Damit stellen Sie ja die Mehrwertsteuererhöhung in- Recht das Thema Unternehmensteuer angesprochen. (C)
frage. Viel eher müsste man doch sagen: Weil Risiken Ich denke, die Unternehmensteuer ist ein Mosaikstein
bestehen, müssen die Konsolidierungsanstrengungen des gesamten Pakets von Strukturreformen, die wir brau-
verstärkt werden. chen, um nicht nur für konjunkturelles Wachstum, son-
dern auch für eine strukturelle Verbesserung der Wachs-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Bei den Ausgaben!)
tumskräfte in unserem Land zu sorgen.
Deshalb ist Ihr Hinweis auf die Risiken richtig, aber Ihre
Schlussfolgerung geht leider an der Sache vorbei. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Zwar kann man sehr viel darüber diskutieren, was frü-
neten der SPD) here Steuerreformen gebracht haben bzw. was sie nicht
gebracht haben. Aber wir sollten schlicht und ergreifend
Ich möchte auch das Thema „Mehreinnahmen bei der die Situation, wie sie sich zum jetzigen Zeitpunkt dar-
Bundesagentur für Arbeit“ aufgreifen. Aus Sicht meiner stellt, zur Kenntnis nehmen.
Fraktion sollten Beitragsmehreinnahmen bei der Bun-
desagentur für Arbeit zur Sanierung des Bundeshaus- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! Zum
haltes nicht zur Verfügung stehen. Wir sind sehr froh und jetzigen Zeitpunkt! Das ist richtig!)
dankbar darüber, dass wir jetzt und in den Folgejahren Betrachtet man den Umfang der Steuerbelastung von
hoffentlich keine Überweisungen aus dem Bundeshaus- Kapitalgesellschaften in Deutschland und in vergleich-
halt an die Bundesagentur leisten müssen, sondern die baren Ländern, stellt man fest, dass Deutschland bei die-
Bundesagentur in der Lage ist, sich selbst zu finanzieren. sem Vergleich leider am oberen Ende liegt. In dieser
Wenn es bei der Bundesagentur für Arbeit Spielräume Hinsicht sind wir gegenwärtig nicht hinreichend attrak-
gibt, die über die bereits beschlossene Senkung der Bei- tiv. Deshalb müssen wir an dieser Stellschraube arbeiten.
trägssätze hinausgehen und dauerhaft vorhanden sind,
sodass eine nachhaltige weitere Beitragssenkung mög- Herr Kollege Poß, Herr Steinbrück, Kolleginnen und
lich ist, dann sollten wir diese Spielräume in diesem Kollegen aus meiner Fraktion, ich bin sehr froh, dass wir
Sinne nutzen und keine anderen Verwendungen ins Auge uns bei diesem Thema auf einen Lösungskorridor hin zu-
fassen. bewegen und die Steuerbelastung für Unternehmen in
Deutschland zum 1. Januar 2008 gemeinsam auf unter
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und 30 Prozent senken wollen.
der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Warum
klatschen die Sozis nicht?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD)
Denn natürlich hängt die Haushaltssanierung auch von (D)
(B)
der nachhaltigen Verbesserung des Arbeitsmarktes und Das ist, was die zeitliche Planbarkeit und Verlässlichkeit
der wirtschaftspolitischen Lage in unserem Lande ab: betrifft, ein richtiges Signal. Wichtig ist auch die klare
Die Arbeitskosten, insbesondere die Lohnnebenkosten Ansage, in welcher Höhe Unternehmensgewinne in
sind wichtig für den Beschäftigungsstand und damit für Deutschland in Zukunft belastet werden.
die Ausgabenseite unseres Bundeshaushaltes. Wenn die
Zahl der Beschäftigten ansteigt, haben wir weniger Aus- Ich will ausdrücklich sagen: Für uns ist ungeheuer
gaben und gleichzeitig mehr Einnahmen, ohne Steuern wichtig, dass wir in diesem Zusammenhang nicht nur
oder Beiträge erhöhen zu müssen. über die etwa 20 Prozent Kapitalgesellschaften, sondern
auch über die 80 Prozent Personengesellschaften in
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und diesem Land sprechen. Wir müssen einen Mechanismus
der FDP – Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr gut! entwickeln, der die Personenunternehmen bei dieser
Die Sozis klatschen nicht, Herr Meister!) Entlastung in gleicher Weise berücksichtigt und sie nicht
Insofern ist es natürlich sehr positiv, dass die Lage auf allein lässt. Ich glaube, auch an dieser Stelle sind wir auf
dem Arbeitsmarkt – und damit die Lage bei Steuern und einem vernünftigen Weg.
Beiträgen – besser ist als vor einem Jahr. Wir müssen da- Ich bin allerdings nicht davon überzeugt, dass wir diese
für sorgen, dass die gegenwärtige wirtschaftliche Ent- Veränderungen im Hinblick auf Steuersatz und -strukturen
wicklung über den 1. Januar nächsten Jahres hinaus an- werden durchführen können, wenn wir sagen, dass diese
hält. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich Reform haushaltsneutral erfolgen muss. Denn dies
nämlich verbessert. Die Menschen erwirtschaften mehr würde letztlich Mehrbelastungen für die Unternehmen
Geld und mehr Menschen sind in Beschäftigung. Ich bin bedeuten. Dadurch würden wir Investitionen verhindern
zuversichtlich, dass diese seit vielen Jahren erstmals und weitere Arbeitsplätze aus dem Lande treiben. Das
wieder positive Entwicklung der Binnenkonjunktur trotz wäre eine Politik gegen und nicht für die Menschen in
der von uns beschlossenen Maßnahmen über den Deutschland.
1. Januar nächsten Jahres hinaus anhalten wird. Das
wäre ungeheuer wichtig. Das Fundament für diese Hoff- (Beifall bei der CDU/CSU)
nung wurde gelegt.
Außerdem warne ich davor, sich ständig in solchen
Ein weiterer Punkt. Ich glaube, wir müssen dringend staatlichen Betrachtungen zu ergehen. Wir wollen keine
über das Impulsprogramm hinaus investieren und im staatliche Wirtschaftspolitik, sondern wir wollen die
Rahmen der Haushaltssanierung Strukturreformen Rahmenbedingungen so setzen, dass die Akteure ihr
durchführen. Herr Bundesfinanzminister, Sie haben zu Verhalten ändern, dass Unternehmensgewinne, die hier
4384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Michael Meister


(A) erwirtschaftet werden, in Zukunft auch hier versteuert Generationenübergang. Immer wieder stellt sich die (C)
werden, Frage, ob bei dem Generationenübergang die Arbeits-
plätze im Unternehmen erhalten bleiben. Wir haben uns
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!)
schon beim Jobgipfel und auch im Koalitionsvertrag da-
dass mehr investiert und mehr gearbeitet wird, dass mehr rauf verständigt, dass wir eine Lösung für die Erbschaft-
Wachstum entsteht und der Fiskus dadurch auch mehr steuer und für die Schenkungsteuer finden müssen, die
Steuereinnahmen hat. es den Unternehmen erlaubt, bei Weiterführung und Er-
halt der Arbeitsplätze die Erbschaftsteuerschuld nach
(Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr gut! Da- und nach zu begleichen. Wir stehen als Koalition in der
rum geht es! – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Pflicht, dieses Problem zeitgerecht und sachgerecht zu
Sehr richtig!) lösen, auch um die Verlässlichkeit dieser Koalition wie-
Die staatliche Betrachtung, die in dieser Diskussion an- der deutlich zu machen.
gestellt wird, wird der Dynamik, die wir anstreben, nicht (Beifall bei der CDU/CSU)
gerecht. Deshalb geht diese Debatte an der Sache vorbei.
Ich will zum Abschluss auf zwei weitere Struktur-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) punkte eingehen. Ich glaube, der Bürokratieabbau ist
Wir sollten zum eigentlichen Kern, dem Ziel der Schaf- mit dem ersten Mittelstandsentlastungsgesetz und der
fung von mehr Wachstum und Beschäftigung, zurück- Errichtung des Normenkontrollrats auf ein vollkommen
kehren. neues Gleis gesetzt worden: ohne dass das den Staat et-
was kostet, können Bürger und Unternehmen, aber auch
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Staat Geld sparen. So können wir neue Handlungs-
neten der FDP) spielräume gewinnen. Es ist notwendig, dass der Nor-
Die Frage, wie wir es schaffen, dass die Unterneh- menkontrollrat jetzt seine Arbeit in dem von uns ge-
mensgewinne, die hierzulande anfallen, auch am Stand- wünschten Sinne aufnimmt und dass wir gleichzeitig
ort Deutschland versteuert werden, betrifft eine hoch zeitnah und gemeinsam mit dem Bundeswirtschafts-
komplexe Materie. Wir müssen ungeheuer aufpassen, minister ein zweites Mittelstandsentlastungsgesetz auf
dass wir dieses Problem sachgerecht lösen, ohne eine den Weg bringen, um den Bürokratieabbau fortzusetzen.
weitere Substanzbesteuerung der Unternehmen am Dabei müssen wir natürlich ein Stück weit an die Men-
Standort Deutschland in die Wege zu leiten. schen in diesem Lande appellieren. Wir müssen ihnen
deutlich machen, dass wir Vertrauen zu ihnen haben,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass wir ihnen etwas zutrauen. Deswegen sind wir be-
reit, ihnen mehr Freiheit zu übertragen. Ich glaube, das
(B) Meine Fraktion steht für Vorschläge, die bei der Körper- (D)
schaftsteuer oder auf anderen Gebieten, wie etwa bei den ist ein wichtiger Baustein, um zu mehr wirtschaftlicher
Ertragsteuern, weitere Substanzbelastungen mit sich Dynamik in diesem Lande zu kommen.
bringen würden, nicht zur Verfügung. Lieber Herr Koppelin, ich will zum Abschluss einen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Punkt von Ihnen aufgreifen: Ich teile Ihre Einschätzung,
wie des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) dass wir uns dringend der Regulierungsdichte des
Arbeitsmarktes in Deutschland zuwenden müssen. Wir
Ich will klar und deutlich festhalten: Solchen Vorschlä- haben mit der bestehenden Gesetzeslage dazu beigetra-
gen werden wir nicht zustimmen. gen, dass rund 5 Millionen Menschen in die Arbeitslo-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Schauen wir mal!) sigkeit geraten sind. Diese Zahl darf in Zukunft nicht
noch weiter steigen. Vielmehr müssen wir mit Blick auf
– Das liegt daran, Herr Koppelin, dass wir die gegenwär- die Regulierungsdichte überlegen, wie wir es schaffen,
tige wirtschaftliche Dynamik anregen und sie nicht zer- dass diese Zahl reduziert wird. Wir müssen uns in der
stören wollen. Koalition über all die Vorschläge, die im Koalitionsver-
trag stehen, in den nächsten Wochen und Monaten unter-
Dem, was der Herr Bundesfinanzminister formuliert
halten und auch hier zu sachgerechten und hilfreichen
hat, stehen wir allerdings sehr offen gegenüber. Wir
Lösungen kommen. Ich habe vorhin schon erwähnt, dass
müssen darüber nachdenken, wie wir für die Unterneh-
dies zwar nicht direkt mit dem Haushalt zu tun hat, sich
men eine Motivation schaffen können, ihre Gewinne in
aber maßgeblich auf die Haushaltslage unseres Landes
unserem Lande zu versteuern, und wie wir den Abzug
auswirkt. Deshalb ist es wichtig, dieses Thema in den
von Fremdfinanzierungsaufwendungen begrenzen kön-
Haushaltsberatungen mit anzusprechen und aufzugrei-
nen. Wir sind gerne bereit, zu überlegen, ob wir über die-
fen.
sen Weg eine Lösung dieses Problems finden können,
ohne wirtschaftspolitisch kontraproduktiv zu handeln. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der FDP)
Ich hoffe, dass wir rechtzeitig im Jahre 2006 auch ein
wichtiges Signal an die Familienunternehmen auf den Der vorgelegte Bundeshaushalt 2007 ist ein wichtiger
Weg bringen, um ihnen deutlich zu machen, dass sich Schritt zur Gesundung der Staatsfinanzen in unserem
die Lage verändert. Wir diskutieren ungeheuer viel über Land. Ich habe erwähnt, dass wir bei diesem Thema am
Existenzgründungen, wir diskutieren ungeheuer viel da- Anfang stehen, nicht am Ende. Ich möchte mit meinen
rüber, wie wir zu mehr Beschäftigung kommen können. Kollegen aus der Unionsfraktion meinen Beitrag dazu
Pro Jahr stehen knapp 50 000 Unternehmen vor einem leisten, dass wir diesen Weg erfolgreich weitergehen –
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4385
Dr. Michael Meister
(A) damit die Menschen in diesem Land ihren Wohlstand er- Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung für das (C)
halten und mehren können. nächste Jahr ist eine Kampfansage an alle Kinder, Ju-
gendlichen, Studierenden, Familien und Rentner. Die
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. steuerliche Entlastung der Spitzenverdiener und der Un-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – ternehmen unter Rot-Grün – mit Unterstützung der
Jürgen Koppelin [FDP]: Also keinen Urlaub CDU/CSU – hat große Löcher in die Haushalte des Bun-
streichen!) des, der Länder und der Gemeinden gerissen. Jährlich
gehen durch die rot-grün-schwarze Steuerreform Ein-
nahmen in Höhe von über 60 Milliarden Euro verloren,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die dringend gebraucht werden. Allein meine Heimat-
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine stadt Berlin hat durch diese Steuerreform Ausfälle in
Lötzsch, Fraktion Die Linke. Höhe von 800 Millionen Euro pro Jahr.
(Beifall bei der LINKEN) Das wissen übrigens auch der Herr Pflüger und die
Kandidaten der Grünen, die den Berlinerinnen und Ber-
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): linern im Wahlkampf Versprechungen machen, obwohl
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine sehr geehrten sie wissen, dass sie an der dramatischen Haushaltsnot-
Damen und Herren! Der Finanzminister hat sich von den lage des Landes mitschuldig sind. Die Berliner Wähler
SPD- und den CDU/CSU-Abgeordneten 320 000 Euro sollen wissen, dass hier schwarz-grüne Populisten unter-
für einen persönlichen Imageberater genehmigen lassen. wegs sind, denen wir das nicht durchgehen lassen.

(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN)


Hat nichts geholfen!) SPD, CDU/CSU und Grüne haben großzügig Steuer-
geschenke an Unternehmen und Besserverdienende ver-
Im Sommerloch präsentierten Sie nun Ihr neues Image:
teilt und jetzt will die Koalition Haushaltslöcher stopfen,
Sie forderten von den Bürgern den Verzicht auf eine
indem sie den Leuten in die Tasche greift, die am we-
Urlaubsreise zur Finanzierung der Rente. Sie waren üb-
nigsten haben. Das ist wirklich dreist.
rigens gerade selber aus dem Urlaub gekommen. Viel-
leicht war Ihr Urlaub nicht so schön, aber das muss ja (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
nicht für andere gelten. Immer noch nichts begriffen!)
(Beifall bei der LINKEN) Die Kanzlerin erklärt, dass die Mehrwertsteuererhö-
hung zur Entlastung der Arbeitskosten und zur Schlie-
(B) Augenscheinlich haben Sie bei Ihrem Vorschlag überse- ßung von Haushaltslöchern genutzt werden soll. Das ist (D)
hen, dass zum Beispiel in einem Land wie Mecklenburg- aber nur die halbe Wahrheit. Die Bürger sollen auch des-
Vorpommern der Tourismus der wichtigste Wirtschafts- halb mehr Steuern zahlen, damit die Bundesregierung
faktor ist. Ich frage mich: Braucht man wirklich eine die Unternehmen auch in den nächsten Jahren weiter
Imageberatung für 320 000 Euro, um so arrogant und steuerlich entlasten kann.
anmaßend zu sein?
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Sie
(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Anja werden es nie begreifen!)
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Übrigens: Zur Eröffnung der Internationalen Funkaus-
Das Image des Finanzministers könnte uns eigentlich stellung hier in Berlin hat die Kanzlerin den Finanz-
egal sein, wenn die Folgen nicht so katastrophal wären! minister etwas – ich würde einmal sagen – demontiert.
Es ist nicht gut für unser Land, dass die Koalition es sich Sie hat angekündigt, gerade die Teile der Unternehmen-
zur Aufgabe gemacht hat, permanent Angst zu verbrei- steuerreform zu streichen, die zur Gegenfinanzierung
ten. Die Bürger werden von der Bundesregierung stän- gedacht waren.
dig in Unsicherheit und Ungewissheit gehalten. Jeden
Tag wird von einem Minister der Untergang der Sozial- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Anja
systeme und des Abendlandes verkündet. Ich frage mich Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
wirklich, wie es die Bundesregierung so schnell ge- Die Unternehmensteuerreform wird die Kosten für den
schafft hat, die gute Stimmung, die während der Fuß- Steuerzahler also noch erhöhen.
ballweltmeisterschaft in unserem Land herrschte, wieder
gründlich zu vertreiben. Meine Damen und Herren, lediglich Herr Rüttgers
von der CDU hat inzwischen endlich verstanden, was
Einen muss ich allerdings ausnehmen: Der Innen- wir als Linkspartei seit Jahren sagen.
minister hat schon während der Fußballweltmeister-
schaft versucht, eine schlechte Stimmung zu verbreiten, (Zuruf von der SPD: Vorher PDS!)
indem er immer wieder den Einsatz der Bundeswehr for- – Vorher als PDS natürlich. Wenn Sie das gerne hören
derte. Ich habe den Eindruck, dass es Herrn Schäuble wollen, dann korrigiere ich das, Herr Kollege. – Es ist
völlig egal ist, was gerade passiert. Ob in China ein eine Lebenslüge, zu glauben, dass die permanente Sen-
Reissack umfällt oder die Gletscher schmelzen: Er for- kung der Unternehmensteuer zu mehr Arbeitsplätzen
dert immer den Einsatz der Bundeswehr. führt.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
4386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Gesine Lötzsch


(A) Leider ist das nicht die einzige Lebenslüge der CDU, Die Bundesregierung kann sich offensichtlich nicht von (C)
von der sie sich nicht trennen will. ihren Lebenslügen trennen und setzt ihre erfolglose Poli-
tik fort.
Die Bundesregierung glaubt wirklich daran, dass die
Privatisierung von öffentlichen Unternehmen der Kö- In den gemeinsamen Leitlinien der Haushälter der
nigsweg ist. Es ist eine Lebenslüge, zu glauben, dass Koalition steht an erster Stelle nicht der Kampf gegen
kommerzielle Unternehmen von vornherein besser als die Arbeitslosigkeit, wie Sie es den Wählerinnen und
öffentliche Unternehmen sind. Das beste Beispiel ist die Wählern versprochen haben, sondern die Einhaltung der
Bahn. Wenn man an all die Bahnunfälle der letzten Jahre Maastrichter Kriterien.
in Großbritannien denkt, dann weiß man, dass eine pri- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist
vatisierte Bahn unpünktlich, teuer und sogar lebensge- Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, Frau Kolle-
fährlich sein kann. gin Lötzsch! Akzeptieren Sie das endlich ein-
(Joachim Poß [SPD]: Wir machen das aber mal!)
nicht wie in Großbritannien!) Nun soll man sie nicht ignorieren. Aber ich weiß nicht,
Diese Regierung lässt sich durch die Realitäten aber ob das jeder Arbeitslose verstehen wird.
nicht schrecken. Die Deutsche Bahn soll auf Biegen und Interessant ist aber auch, was nicht in den Leitlinien
Brechen verkauft werden und der Steuerzahler soll die steht, zum Beispiel dass CDU/CSU und SPD einen
Zeche bzw. die Dividende zahlen. Das ist das zweit- Haushalt aufgestellt haben, in dem die Ausgaben für den
größte Enteignungsprogramm seit dem Zweiten Welt- Verteidigungshaushalt am zweithöchsten sind.
krieg.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was steht
(Beifall bei der LINKEN – Jochen-Konrad denn an erster Stelle? Die Sozialausgaben, so
Fromme [CDU/CSU]: Mit Enteignung kennt wie sich das gehört!)
ihr euch aus! – Joachim Poß [SPD]: Von Ent-
Was vielleicht auch einmal hervorgehoben werden
eignen verstehen Sie ja etwas!)
sollte: Die Bundesregierung will mehr für die Verteidi-
Die Bundesregierung hat einen Haushaltsentwurf vor- gung – rund 28 Milliarden Euro – als für zivile Investi-
gelegt, der in sich so widersprüchlich wie die große tionen ausgeben. Gerade an Investitionen fehlt es jedoch
Koalition selbst ist. Es wird ein bisschen saniert, ein bis- in unserem Land.
schen reformiert und ein bisschen investiert. Ich finde, (Beifall bei der LINKEN)
das ist mehr als ein bisschen konzeptionslos.
Ich komme noch einmal zum Verteidigungshaushalt
(B) Es gibt für unser Land eigentlich nur zwei denkbare (D)
zurück. Schaut man sich die Ausgaben an, können einem
Modelle, nämlich das US-amerikanische und das skandi- – sofern vorhanden – die Haare zu Berge stehen.
navische. CDU/CSU, SPD und leider auch Teile der
Grünen versuchen seit über zehn Jahren, unserem Land (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist wirk-
das für uns untaugliche amerikanische Modell überzu- lich unfair, Frau Kollegin!)
stülpen. Dieses Modell besteht aus Steuergeschenken für Die Bundesregierung versucht, die hohen Ausgaben mit
Unternehmen, der Privatisierung öffentlicher Aufgaben, der Terrorgefahr zu begründen. Aber die großen Be-
dem Abbau der Sozialsysteme, der Kommerzialisierung schaffungsprojekte stammen noch aus der Zeit des Kal-
des Gesundheitswesens, Lohndumping, rücksichtslosem ten Krieges. Kann mir jemand in diesem Hause erklären,
Wettbewerb, dem Abbau von Bürgerrechten und einer warum wir ein neues Mittelstreckenraketensystem brau-
aggressiven Außenpolitik. Ich bin davon überzeugt – das chen? Wollen Sie damit auf deutschen Bahnhöfen Bom-
wissen wir aus vielen Umfragen und Gesprächen –: Die benleger jagen? Oder wie stellen Sie sich das vor?
Menschen in unserem Land sagen Ja zu Reformen und
Ja zu einer solidarischen Gesellschaft. Aber sie sagen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN –
Nein zu einer Ellbogengesellschaft. Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die klatschen
sogar für so einen Unsinn!)
(Beifall bei der LINKEN)
In einer Frage möchte ich die Kollegen Haushälter,
Daran kann zum Glück auch die große Koalition die sich dazu öffentlich geäußert haben, unterstützen.
nichts ändern. Selbst die konservative „Wirtschaftswo- Auch ich bin dafür, dass die kostenintensive Teilung der
che“ muss zugeben, dass das skandinavische Modell Bundesregierung auf die Standorte Bonn und Berlin in
sehr erfolgreich ist: Im Vergleich der gesamtwirtschaftli- absehbarer Zeit ein Ende findet.
chen Wachstumspotenziale stehen Finnland auf Platz
eins, Schweden und Dänemark auf den Plätzen drei und (Beifall bei der LINKEN)
vier, Deutschland aber auf Platz 15. Die Arbeitslosigkeit Es kann doch wirklich nicht sein, dass die Bundesregie-
ist in den skandinavischen Ländern niedriger als bei uns. rung von allen Bürgern Mobilität und Flexibilität ver-
Die Schere zwischen Arm und Reich geht nicht so dra- langt, aber selber nicht in der Lage ist, ihre Ministerial-
matisch auseinander, wie wir das hier in Deutschland un- beamten von Bonn nach Berlin zu holen. Diesen Luxus
ter der CDU/CSU- und SPD-Regierung erleben. an ministerialem Beharrungsvermögen können wir uns
wirklich nicht leisten.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Und was ist
in Kuba?) (Beifall bei der LINKEN)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4387
Dr. Gesine Lötzsch
(A) Wir als Linksfraktion haben den Antrag eingebracht, nehmen. Ob man Deutschland mit einem Land wie Finn- (C)
die Erhöhung der Mehrwertsteuer zurückzunehmen. land mit 5 Millionen Einwohnern vergleichen kann,
Diese Erhöhung ist unsozial und Gift für die Konjunktur. wage ich ebenfalls zu bezweifeln.
Wir wollen steuerlich da ansetzen, wo Menschen ohne
eigenes Zutun Extragewinne in die eigene Tasche ste- Wenn Sie das Ausmaß der Jugendarbeitslosigkeit ver-
cken. Wir fordern unter anderem eine Steuer auf Sonder- gleichen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die
gewinne der Stromversorger aus dem Emissionshandel. Jugendarbeitslosigkeit im hoch gelobten Finnland weit
Es ist nicht einzusehen, dass die Stromriesen Extrage- höher ist als in Deutschland. So gemischt ist das Bild.
winne einfach einstreichen, ohne dafür einen Finger Man sollte zwar über den Grenzzaun schauen, aber es
krumm gemacht zu haben. gibt nirgendwo Vorbilder, die man einfach abkupfern
Wir werden in den Haushaltsberatungen alle Vor- kann. Wir stehen im deutschen Parlament in der Verant-
schläge im Einzelnen durchgehen. Unsere Vorschläge wortung, unseren Weg zu finden und zu formulieren,
lassen sich auf einen Nenner bringen: In einer solidari- und wir sind auf einem guten Weg.
schen und gerechteren Gesellschaft lassen sich die Pro- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
bleme unseres Landes lösen, sei es die Arbeitslosigkeit, der CDU/CSU)
die die Verarmung ganzer Regionen bedeutet, sei es die
Umgestaltung unserer Sozialsysteme. Lassen Sie uns die Wir haben eine bemerkenswerte wirtschaftliche Ent-
vor uns liegenden Haushaltsberatungen nutzen, um den wicklung zu verzeichnen, die uns Recht gibt. Die wirt-
Haushalt vom Kopf auf die Füße zu stellen. schafts- und finanzpolitische Strategie der Regierungs-
koalition geht voll auf. Wenn wir ehrlich sind, dann
Vielen Dank. müssen wir zugeben, dass auf dem Arbeitsmarkt mehr
(Beifall bei der LINKEN) Bewegung entstanden ist, als wir alle es uns eigentlich
haben vorstellen können. Auch das ist die Wirklichkeit.
Wir haben nicht mit einer so schnellen Bewegung ge-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rechnet. Das geht zwar in der Tat auf das Wachstum,
Das Wort hat der Kollege Joachim Poß, SPD-Frak- aber auch auf die Weichenstellung im Zusammenhang
tion. mit den heftig kritisierten Hartz-Reformen und anderen
Reformen der Regierung Schröder zurück. Beides gehört
Joachim Poß (SPD): zur Wirklichkeit.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Peer
Steinbrück hat die wirtschaftliche Lage und Entwicklung (Beifall bei der SPD)
zutreffend beschrieben. Nach meinem Eindruck ist die Was Ihren Vorwurf betreffend die Buchhalterei an- (D)
(B)
Opposition durch die wirtschaftliche Entwicklung regel- geht, Herr Koppelin: Ein Buchhalter hätte in der Tat nur
recht entwaffnet worden. konsolidiert und verkündet, wir müssten sparen, sparen,
(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen sparen.
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Jürgen Koppelin [FDP]: Das tut er ja!)
– Lesen Sie bitte Ihre Reden vom Frühjahr dieses Jahres! Diese Sparforderungen und -vorschläge kamen von ver-
Dann werden Sie feststellen, inwiefern Sie durch die schiedenen – auch prominenten – Seiten. Wir sind die-
wirtschaftliche Entwicklung entwaffnet wurden. sen, Ihren Vorschlägen aber zu Recht nicht gefolgt.
Zu Ihren Ausführungen, Frau Lötzsch: Ich glaube, (Jürgen Koppelin [FDP]: Leider!)
dass wir mit Schwarz-Weiß-Rezepten
Der Verzicht auf zusätzliche Konsolidierungsmaßnah-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Schwarz-Rot!) men im laufenden Jahr über das hinaus, was wir bereits
– meinetwegen auch Schwarz-Rot – nach dem Motto tun, hat sich als zielführende konjunkturpolitische Maß-
„Kupfern wir doch etwas von Finnland ab!“ nicht wei- nahme im Interesse der Binnenkonjunktur erwiesen.
terkommen. Wir haben in Deutschland unsere eigene (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Lage, die insbesondere von der Überwindung der deut-
schen Teilung geprägt ist. Dieser Lage müssen wir uns Die Binnennachfrage belebt sich deutlich. Es war also
stellen. Wir gehen nicht den amerikanischen Weg. Wir richtig, diesen Forderungen nach einem forcierten Spar-
gehen auch nicht den skandinavischen Weg. Wir müssen kurs schon im Jahr 2006, die auch aus dem wirtschafts-
vielmehr unseren Weg finden und wir sind auf einem gu- wissenschaftlichen Umfeld erhoben wurden, nicht zu
ten Weg, wenn man das an den Ergebnissen misst. folgen. Die Koalition hat gegen alle Experten, die anders
geraten haben, richtig gehandelt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Betrachten Sie einmal die skandinavische Arbeits-
marktpolitik, ob in Dänemark oder in Finnland! Dann Zur Konjunkturbelebung trägt auch das 25-Milliar-
werden Sie sehen, was den Menschen dort abverlangt den-Euro-Investitionsprogramm bei, das alles zusam-
wird. Wenn Sie auf Skandinavien verweisen, dann dür- mengenommen sogar ein Volumen von 37 Milliarden
fen Sie sich nicht nur auf die Seite beschränken, die Ih- Euro erreichen wird. Wenn Sie sich nicht nur in Berlin
nen gefällt; Sie müssen vielmehr das Ganze in den Blick umhören, sondern auch mit den Handwerkern vor Ort in
4388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Joachim Poß
(A) Ihren Wahlkreisen reden, dann wird Ihnen das tagtäglich anhebungen in den nächsten Monaten weitere folgen (C)
bestätigt. werden. Ich sage dazu nur – möglicherweise in der Ak-
zentsetzung etwas anders als mein Kollege Meister und
Noch wichtiger als die derzeitige Lage ist, dass auch bei allem Respekt vor der Unabhängigkeit der Europäi-
die ökonomische Perspektive so positiv ist wie seit lan- schen Zentralbank –: Die Europäische Zentralbank sollte
gem nicht mehr. Die Voraussetzungen für einen auch sich noch einmal genau überlegen, ob das die richtige
länger andauernden Aufschwung sind gegeben. Es ist Strategie ist.
bereits erwähnt worden, dass Gerhard Schröder und die
Regierungskoalition aus SPD und dem Bündnis 90/Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Grünen mit ihrer Politik die richtigen Weichen gestellt
Sie sollte mit ihrer Zinspolitik nicht die Verantwortung
haben. Frau Merkel hat kürzlich darauf hingewiesen. Die
dafür übernehmen, dass die wirtschaftliche Aufwärtsbe-
Wirkungen werden sichtbar.
wegung in Europa und insbesondere in Deutschland wie-
Ich erwähne das bewusst, weil im Sommer an man- der niedergedrückt wird.
chen Orten – nicht nur in der politischen Opposition – (Beifall bei der SPD)
schon wieder Miesmacher und Schwarzmaler unterwegs
waren, deren Verlautbarungen einem einfachen Erklä- Auch hier muss die Zeit der Dogmatiker und Ideologen
rungsmuster folgen. Ein wirtschaftlicher Aufschwung vorbei sein.
ist offensichtlich etwas, was es in Deutschland nicht ge-
ben darf, jedenfalls nicht, solange die Sozialdemokratie (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Vorsicht, Herr
an der Regierung beteiligt ist. Das ist das Muster man- Kollege! Und das aus Ihrem Munde!)
cher Verlautbarungen. Die Europäische Zentralbank hat noch jede Chance, zu-
künftig eine vernünftige und angemessene Politik zu be-
(Lothar Mark [SPD]: Das ist der Wunsch eini-
treiben. Ich hoffe, dass sie diese Chance nutzt.
ger! Herr Koppelin!)
Wenn die politische Opposition von Risiken für die
Natürlich gibt es Risiken für die wirtschaftliche Ent-
wirtschaftliche Entwicklung spricht, dann geht es stän-
wicklung. Peer Steinbrück hat auf diese Risiken hinge-
dig nur um die Mehrwertsteuererhöhung zum
wiesen. Die gibt es aber in jedem Jahr. Sie sind einmal
1. Januar nächsten Jahres. Aber das viel relevantere Ri-
groß und ein anderes Mal klein. Ihre Eintrittswahr-
siko einer falschen EZB-Leitzinspolitik haben meines
scheinlichkeit ist sehr unterschiedlich. Risiken können
Wissens weder Herr Westerwelle noch Herr Koppelin
auf eine robuste oder auf eine weniger robuste Ökono-
noch Herr Brüderle in ihren vielen Statements zum
mie treffen. Es bedarf deshalb einer differenzierten und
(B) differenzierenden Analyse und Argumentation, um ab- Thema gemacht. (D)
zuschätzen, was im nächsten Jahr auf die Wirtschaft in (Jürgen Koppelin [FDP]: Müntefering auch
Deutschland zukommt. Es muss auf jeden Fall etwas nicht!)
mehr sein als die erschreckende Oberflächlichkeit der
FDP und interessegeleitete Äußerungen von Verbänden. So wie sich die Dinge entwickeln – das gehört zur Wahr-
heit; das kann man jeden Tag von verschiedenen Seiten
(Beifall bei der SPD) deutlich vernehmen, ob vom Internationalen Währungs-
fonds oder von anderen kompetenten Stellen –, ist fest-
Ein relevantes Risiko ist sicherlich die weitere Ent- zustellen, dass die Mehrwertsteuererhöhung nicht das
wicklung im Nahen und Mittleren Osten. Aber es ist Risiko für die Konjunktur sein wird, wie es von vielen
noch nicht ausgemacht, dass der Ölpreis im Zuge des vorhergesagt wurde
Konflikts in Israel und dem Libanon oder im Zuge des
Atomstreits mit dem Iran noch einmal stark steigen wird, (Jürgen Koppelin [FDP]: Auch von der SPD!)
wenn es auch nicht unwahrscheinlich ist. Allerdings
– richtig –, wie es auch von uns gesehen wurde. Es ent-
kann es – unter anderem spekulationsbedingt – auf dem
wickelt sich Gott sei Dank in eine andere Richtung. Wir
Öl- und Benzinmarkt zeitweise zu hohen Ausschlägen
werden sehr wahrscheinlich im nächsten Jahr einen ge-
kommen. Das ist ein Risiko, das wir sehen müssen. Weil
ringeren Dämpfer erleiden, als wir vielfach erwartet ha-
ich gerade die Robustheit einer Ökonomie angesprochen
ben. Für die Menschen im Land und insbesondere für die
habe: Wir müssen uns klar machen, dass der vorhandene
Arbeitslosen ist das auch gut so. Daran sollten Sie,
Aufschwung auf der Grundlage eines bereits heute
meine Damen und Herren von der Opposition, egal ob
enorm hohen Ölpreises stattfindet. Vor fünf oder zehn
von rechts oder von links, nicht rühren.
Jahren hätte niemand vorhergesagt, dass auf der Grund-
lage eines so hohen Ölpreises ein solcher Aufschwung (Beifall bei der SPD)
möglich ist. Offensichtlich besitzt unsere Ökonomie das
Vermögen, sehr hohe Energie- und Ölpreise zu verkraf- Das „Handelsblatt“ und andere Publikationen weisen
ten. Aber natürlich gibt es Grenzen der Verträglichkeit zu Recht darauf hin, dass die Mehrwertsteuererhöhung
von weltwirtschaftlichen Verwerfungen. besser verkraftet wird als angenommen und dass die
Konjunktur dieser Erhöhung trotzen wird. Umfragen un-
Ein weiteres Risiko für den wirtschaftlichen Auf- ter Führungskräften machen deutlich, dass im nächsten
schwung ist die zukünftige Zinspolitik der Europäi- Jahr nicht weniger, sondern mehr investiert wird und
schen Zentralbank. Die kundigen Thebaner erwarten, dass die Belegschaften aufgestockt werden sollen. Das
dass den bereits seit dem letzten Jahr erfolgten Leitzins- sind gute Botschaften für das Land.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4389
Joachim Poß
(A) Als Fazit bleibt damit festzuhalten: Es gibt Risiken rungen der letzten Jahre weitere umfangreiche Eingriffe (C)
für die Wirtschaftsentwicklung. Aber die geplante Mehr- in Sozialleistungen verbieten – auch das sage ich für
wertsteuererhöhung spielt dabei keine dominierende meine Fraktion ganz eindeutig, nämlich dass wir keine
Rolle. weiteren Eingriffe in Sozialleistungen wollen –, kann die
Rückführung der Nettokreditaufnahme des Bundes nur
Deswegen, mit Blick auf die Westerwelle-FDP: Wenn mithilfe der Einnahmen aus dem einen Prozentpunkt der
man die eigene Politik-Agenda auf den einen Satz redu- Mehrwertsteuererhöhung, der dem Bund zusteht, gelin-
ziert, dass, wenn es immer weniger Steuern, immer we- gen. Wir werden außerdem natürlich keine Abstriche an
niger Abgaben, immer weniger Arbeitnehmerrechte und dem 25-Milliarden-Euro-Impulsprogramm machen.
immer weniger Gewerkschaften gibt, Wachstum und Durch die Verklammerung der Haushalte von 2006 und
Wohlstand explodieren, dann kann ich nur sagen, dass 2007 wird unsere Doppelstrategie aufgehen.
Ihnen, meine Damen und Herren von der FDP, die ge-
genwärtige Entwicklung nicht Recht gibt. Ihre Einschät- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
zung hat mit der Realität nichts zu tun.
Wenn man selbstkritisch ist, muss man sagen, dass sie
(Beifall bei der SPD) noch nicht ausreichend kommuniziert ist,
Andere sprechen in diesem Zusammenhang von „Le- (Jürgen Koppelin [FDP]: Aber das machen Sie
benslügen“ und treffen mit ihren kritischen Aussagen ja jetzt!)
schon eher die Tatsachen.
auch weil das Thema relativ kompliziert ist. Außerdem
Mich betrübt im Übrigen, dass sich das Bündnis 90/ wird diese Doppelstrategie systematisch von den Kriti-
Die Grünen, mit dem wir in gemeinsamer Regierungs- kern in der Darstellung verfälscht. Ich sage: Die Strate-
verantwortung gute Politik für Deutschland gemacht ha- gie für 2007 wird ebenso aufgehen, wie die für 2006 in
ben diesem Jahr aufgegangen ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD)
DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP: Oh!)
Wir schaffen eine stabile, positive Wirtschaftsentwick-
– ja, so ist das, meine Damen und Herren –, schon jetzt, lung in Deutschland und konsolidieren ohne Konjunk-
nach weniger als einem Jahr, bemüht, in der Wirtschafts- tureinbrüche. Das werden Sie sehen, wenn wir uns im
und Finanzpolitik den Debattenstil der Westerwelle-FDP November treffen und über diese Fragen sprechen. Dann
zu kopieren. kann man das noch besser absehen als heute.
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kollege Meister und Peer Steinbrück haben etwas zur
(B) Oh!) Reform der Unternehmensbesteuerung gesagt. Es ist (D)
selbstverständlich, dass wir gemeinsam verpflichtet sind,
Ich halte die Mehrwertsteuererhöhung für nicht so
so wie es im Koalitionsvertrag und in den Eckpunkten
konjunkturgefährdend, wie ich es noch vor einigen Mo-
der Bundesregierung vereinbart ist, zu einer guten Lö-
naten gedacht habe. Ich bin fest davon überzeugt, dass
sung zu kommen. Es geht hier nicht um „Steuerge-
die Mehrwertsteuererhöhung zur nachhaltigen Stabilisie-
schenke“ oder Steuerentlastungen für Unternehmen in
rung nicht nur des Bundeshaushaltes, sondern auch der
Milliardenhöhe, wie öfter zu lesen ist, es geht vielmehr
Länderhaushalte zwingend erforderlich ist. Es geht um
um die Verbesserung einer völlig unzulänglichen Be-
einen Wirtschafts- und Finanzpakt für ganz Deutschland.
steuerung in Deutschland und Europa. Es gibt einen
Das dürfen wir bei unseren Debatten nicht vergessen.
Handlungszwang, auch im Interesse derjenigen, die treu
(Beifall bei der SPD) und brav jeden Monat ihre Steuern abliefern. Diese Re-
form ist notwendig, weil der internationale steuerliche
Peer Steinbrück hat zu Recht darauf hingewiesen, Wettbewerb Maßnahmen zur nachhaltigen Sicherung der
dass die sonstigen zusätzlichen Steuereinnahmen, die deutschen Steuerbasis erfordert. Denn wir wissen, dass
sich für 2007 ankündigen, nicht ausreichen, um die international operierende Unternehmen ihre Steuerstra-
Wundertüte aufzumachen. Deswegen kann eine verant- tegie zunehmend optimiert haben. Es gibt Berichte in se-
wortungsbewusste und vorsichtige Finanzpolitik ihm in riösen Zeitungen über Seminare zur Optimierung der
dieser Frage nur folgen. Steuerstrategie, die von sehr bekannten Adressen ange-
So wie der Bundeshaushalt 2006 im Zeichen der Sta- boten werden. Das können wir nicht länger hinnehmen.
bilisierung und Vertiefung des wirtschaftlichen Auf- Deshalb müssen wir handeln und die Unternehmensbe-
schwungs steht, so steht im Zentrum des Bundeshaus- steuerung entsprechend modifizieren.
halts 2007 die unabdingbare Zurückführung der (Beifall bei der SPD)
Nettokreditaufnahme des Bundes. Kollege Meister und
andere haben darauf hingewiesen. Auch das erreichen Das heißt, durch die Senkung der nominalen Steuerbe-
wir entgegen allen Unkenrufen. Wir müssen aber denje- lastung und durch eine Beschränkung des Abzugs von
nigen, die nicht jeden Tag mit solchen Dingen zu tun ha- Finanzierungsaufwendungen sollen die durch bestimmte
ben, sagen, dass es auch da Risiken gibt und wir noch Finanzierungskonstruktionen ins Ausland verlagerten
nicht ganz auf der sicheren Seite sind. Gewinne wieder für die Besteuerung in Deutschland zu-
rückgewonnen werden. Das ist die Aufgabe.
Weil wir das Niveau der Investitionen nicht absenken
wollen, weil sich nach den Zumutungen und Verände- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
4390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Joachim Poß
(A) Die Unternehmen, die ihre Gewinne schon jetzt in sollten sie unter dem Druck der Lobby in den nächsten (C)
Deutschland versteuern, werden durch die Reform ent- Tagen und Wochen nicht verspielen.
lastet. Der Steuer- und Investitionsstandort Deutschland
wird attraktiver. Wir wissen: Wir müssen die hohen no- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Otto
minalen Steuersätze für Kapitalgesellschaften senken, Bernhardt [CDU/CSU])
weil ansonsten bei uns Risiken der weiteren Verlagerung Deswegen bitte ich unseren Koalitionspartner aus-
ins Ausland bestehen. Diese Verlagerungsrisiken wollen drücklich, auch im Interesse des Erfolges dieser Koali-
wir beseitigen, da sie auch negative Effekte für den öf- tion, zu versuchen, die Widerstände, von denen man je-
fentlichen Haushalt haben. den Tag lesen kann, zu überwinden. Wenn das geschieht,
dann können wir, glaube ich, so gut und so optimistisch
Nach den Berechnungen des Bundesfinanzministe- weitermachen, wie das bisher der Fall war.
riums, die von Professor Wiegard vom Sachverständi-
genrat als plausibel bestätigt wurden, werden in Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Deutschland erwirtschaftete Gewinne bereits heute in ei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ner Größenordnung von rund 60 Milliarden Euro der in-
der CDU/CSU)
ländischen Besteuerung entzogen. Deswegen sage ich:
Das ist noch ein hartes Stück Arbeit. Ich verweise in die-
sem Zusammenhang auch auf das, was Herr Meister hier Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
ausgeführt hat. Wir haben die Eckpunkte vereinbart; Das Wort hat die Kollegin Anja Hajduk, Fraktion des
aber wir können sie nur umsetzen, wenn man offen ist Bündnisses 90/Die Grünen.
für die Vorschläge des Bundesfinanzministeriums oder
auch für Vorschläge aus den Ländern, die auf die Siche- Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
rung der Steuerbasis zielen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Es kann nicht angehen, dass wir unter dem anwach- Herren! Lieber Kollege Poß, es hat schon fast Tradition,
senden Druck der Lobby denen sozusagen noch nach dass ich eingangs auf Sie eingehe, wenn Sie vor mir ge-
dem Mund reden. redet haben. Wenn Sie auf den wirtschaftlichen Auf-
schwung verweisen – wir stellen ihn nicht infrage – und
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) behaupten, damit seien der Opposition schon die Zähne
gezogen, dann kann ich Ihnen nur sagen: So billig
Diese Lobby, Wirtschaftswissenschaftler und Wirt- kommt die Regierung nicht davon.
schaftsjournalisten haben über Jahre gefordert: Runter
mit den nominalen Steuersätzen. Immer haben sie hinzu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(B) sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- (D)
gefügt: Die Steuerbasis muss natürlich verbreitert wer-
den. Mittlerweile haben wir ein solches Konzept entwi- KEN – Joachim Poß [SPD]: Nicht die Opposi-
ckelt, das übrigens kommunalfreundlich ist und die tion! Manche Behauptungen der Opposition!)
kommunale Finanzierungsbasis im Interesse der Investi- Das wollen wir einmal festhalten. Ein wirtschaftlicher
tionen in den Kommunen stärkt. Wir haben also alle Ele- Aufschwung und die jetzt in Deutschland existierende
mente miteinander verbunden. Dennoch kommt die glei- Situation verpflichten zu wirklichen und konsequenten
che Lobby – warum denn wohl? – und sagt: Das geht so Reformen bei der Konsolidierung und zu Reformen bei
nicht an. – Herr Börner vom Bundesverband des Deut- der sozialen Sicherung. Da ist das, was Sie nach zehn
schen Groß- und Außenhandels sagte gestern: Lieber Monaten hingelegt haben, viel zu wenig. Sie hätten et-
keine Reform als diese Reform. Was stimmt denn nun was ganz anderes leisten müssen.
bei der Unternehmensbesteuerung?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wir werden kritisiert. Auch in der SPD gibt es eine sowie bei Abgeordneten der FDP)
kritische Diskussion über Steuergeschenke. Bei der
Ich komme darauf noch zurück.
Linkspartei und bei den Gewerkschaften findet eine sol-
che Diskussion sowieso statt. Das ist die eine Seite. Auf Ich möchte noch eine andere Vorbemerkung machen,
der anderen Seite melden sich die betroffenen Wirt- und zwar zum Finanzminister Steinbrück. Ich finde, dass
schaftsverbände und die Unternehmen protestieren laut- die Tonlage, die Sie bei Ihrer Rede gewählt haben, Herr
stark, dass wir durch dieses Konzept die Wertschöp- Steinbrück – sie hatte für mich den Anschein von
fungsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland Arroganz –,
erschüttern. Was stimmt denn nun? Es kann ja nur eines
stimmen; beides geht nicht zusammen. Deswegen for- (Jürgen Koppelin [FDP]: Empfindlich ist er
dere ich beide Seiten auf, ihre Vorwürfe und ihre Fest- jetzt, ganz empfindlich!)
stellungen zu überprüfen. wirklich in einem seltsamen Gegensatz – ich könnte es
auch scharf sagen: in einem lächerlichen Gegensatz –
Ich glaube, wir haben dank des vorgelegten Konzepts, zur Widersprüchlichkeit Ihrer Politik steht; auch darauf
das Peer Steinbrück und sein Haus entwickelt haben, alle komme ich noch zurück.
Möglichkeiten, beide Ziele zu erreichen: die nominalen
Steuersätze zu senken und die Besteuerungsgrundlagen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
für die Bundesrepublik Deutschland im Interesse der sowie des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und
Steuerzahler zu sichern. Wir haben diese Chance. Wir der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4391
Anja Hajduk
(A) Angesichts dessen, was Sie schon an Niederlagen haben Euro. Da gibt es zum anderen Risiken von 8 Milliarden (C)
einstecken müssen, etwa bei der Steuerfinanzierung im Euro im Arbeitsmarktbereich. Da werden nämlich die
Gesundheitsbereich, was Sie für ein chaotisches Verhält- Kosten für das Arbeitslosengeld II mal hoppla hopp um
nis zur Beitrags- oder Steuerfinanzierung bei den Lohn- 5 Milliarden Euro niedriger angesetzt. Da wird unter-
nebenkosten anrichten, könnten Sie ein bisschen be- stellt, dass die Kommunen nur 2 Milliarden Euro als
scheidener auftreten oder dem parlamentarischen Streit Ausgleich für die Übernahme der Unterkunftskosten er-
auch ein bisschen demütiger folgen. halten. In dieser Sache hat Herr Müntefering schon im
letzten Jahr sehr schnell klein beigeben müssen und das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Doppelte bezahlt. Eine weitere Milliarde Euro kalkulie-
sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. ren Sie als eine höhere Strafzahlung der Bundesagentur
Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]) für Arbeit ein, obwohl diese im Moment im ersten Ar-
Sie brauchen nicht meiner Meinung zu sein, aber kom- beitsmarkt nachweislich enorme Vermittlungserfolge
men Sie vom Sockel herunter! Das steht Ihnen nicht gut hat. Das sind zusammen Risiken von 8 Milliarden Euro.
zu Gesicht. Ihren Humor finde ich in Ordnung, aber (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Als Nächstes
nicht diese Überheblichkeit. fordern Sie, die Mehrwertsteuererhöhung aus-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Jetzt ist er sauer auf zusetzen!)
fünf Jahre!) Die passen nicht zu der vom Finanzminister eigentlich
Ich komme zum Haushalt 2007. Ich möchte in meiner proklamierten neuen Ehrlichkeit und Seriosität in der
Rede auf fünf Punkte eingehen. Beginnen wir mit dem Haushaltsplanung.
Haushalt 2007 selbst. Auf den ersten Blick hat er zumin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
dest eine bessere Kennzahl als der Haushalt 2006; denn
man will mit einer Neuverschuldung von 22 statt Neben der Nettokreditaufnahme von 22 Milliarden
38 Milliarden Euro auskommen. Auf den zweiten Blick Euro gibt es also Risiken von 8 Milliarden Euro und
stellt man fest: Das zeugt noch nicht davon, dass jetzt – von Ihnen selbst zugestanden – Einmaleffekte von
wirklich eine ausreichende Konsolidierung begonnen 16 Milliarden Euro. Addieren Sie das doch einmal!
wird. Einer Absenkung um 16 Milliarden Euro bei der Trotz einer massiven Steuererhöhung von über 20 Mil-
Nettokreditaufnahme stehen 20 Milliarden Euro an Steu- liarden Euro haben Sie weiterhin ein strukturelles Defizit
ermehreinnahmen gegenüber. Das ist nun wirklich kein von ungefähr 46 Milliarden Euro. Das zeugt wirklich
Konsolidierungskunststück. nicht von einer soliden Haushaltspolitik und einem Auf-
bruch hin zur Konsolidierung. Das ist haushaltspoliti-
Was Sie machen, ist einnahmefixiert. Herr Poß, ge- scher Stillstand bei – zugegeben – günstigen wirtschaft-
(B) rade in Zeiten guter wirtschaftlicher Rahmenbedingun- (D)
lichen Rahmenbedingungen.
gen muss man mehr für den Haushalt tun; da darf man
nicht nur einnahmeseitig konsolidieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie bei Abgeordneten der FDP)
(Joachim Poß [SPD]: Das machen wir ja auch
nicht!) Ich möchte in einem zweiten Punkt auf die Finanz-
planung eingehen. Die Finanzplanung vermittelt viel-
Jetzt ist die Gelegenheit, wirklich weitere Reformmaß- leicht auch einen ehrlicheren Eindruck von der Qualität
nahmen zu ergreifen. der Haushaltspolitik. Zugegebenermaßen kann man
Ich sage das vor dem Hintergrund, dass wir beide Haushalte nicht jährlich brutal umsteuern.
doch wissen, wovon wir reden. Rot-Grün – das hat Herr Da muss man ganz nüchtern Folgendes sehen: Es
Meister zu Recht gesagt – hat im Jahr 2000 in einem gibt, wie gesagt, erhebliche Steuermehreinnahmen. Nach
Zeitfenster mit günstiger wirtschaftlicher Entwicklung in der Finanzplanung bis zum Jahr 2010 steigen die Zahlen
der Tat nicht mit den notwendigen arbeitsmarktpoliti- bei der Alterssicherung von 96 auf 103 Milliarden Euro
schen Reformen begonnen. und die Zinsen von 37,6 auf 44,8 Milliarden Euro. Wenn
(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des man auf die andere Seite blickt, einmal nicht auf die al-
Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU]) ten Verpflichtungen, sondern in die Zukunft schaut, stellt
man fest: Die Investitionen stagnieren bei 23,3 Milliar-
Rot-Grün hat erst später mit den notwendigen arbeits- den Euro. Bei Bildung und Forschung gibt es von 2006
marktpolitischen Reformen begonnen, aus denen jetzt auf 2007 einen Schub, aber ab 2007 stagnieren die Aus-
eine gewisse Reformdividende zu verzeichnen ist. gaben dafür bei 13,1 Milliarden Euro. Daran kann man
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo waren Sie sehen: Die notwendige Umsteuerung zu einer stärkeren
da eigentlich, Frau Hajduk?) Ausrichtung auf Zukunftsfähigkeit, auf Zukunftsinvesti-
tionen ist der großen Koalition bislang nicht gelungen;
Die Blockade in der großen Koalition nun ist aber wirk- eine solche Umsteuerung ist aus diesem Finanztableau
lich ein Problem für das Land. Sie tun weitaus zu wenig. schlicht und ergreifend nicht abzulesen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) und bei der FDP)
Ich möchte das am Haushalt 2007 belegen. Da gibt es Herr Poß, Sie haben darauf hingewiesen, dass die
zum einen eine Neuverschuldung von 22 Milliarden Nettokreditaufnahme stark abgesenkt werde. Haben Sie
4392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Anja Hajduk
(A) auch einmal in die Finanzplanung gesehen? Die Netto- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut (C)
kreditaufnahme bleibt fast stetig auf dem Niveau – ich zugehört!)
will das gerne noch einmal nachschauen und vorlesen –
von 20 Milliarden Euro. sondern auch darüber hinaus von der CDU/CSU als Ziel
nicht verfolgt werde.
(Joachim Poß [SPD]: Ja, das weiß ich!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)
Als Rot-Grün regiert hat, haben wir Finanzplanungen
aufgelegt, in denen die Nettokreditaufnahme gesenkt – Sie sagen „sehr gut“; da haben wir den Beweis. – Das
wurde. Damals haben wir versucht, in den 10-Milliar- steht diametral dem entgegen, was Herr Steinbrück ge-
den-Euro-Korridor zu kommen. sagt hat, nämlich dass er sich eine deutliche Tarifsen-
kung bei der Unternehmensteuer zutraue.
(Joachim Poß [SPD]: Das ist in der Realität
leider nicht eingetreten!) Das wollen wir Grünen erst einmal gar nicht infrage
stellen.
In unserer Situation, in der in ungefähr zehn, zwölf,
13 Jahren die demografische Spitzenbelastung in den öf- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Was ist ei-
fentlichen Finanzen erreicht wird, sollte eine seriöse, gentlich mit dem Steuerkonzept von Frau
langfristige Politik einen Haushaltsausgleich suchen; Scheel passiert, Frau Hajduk? Sagen Sie doch
von mir aus ruhig über eine Strecke von sechs Jahren. mal, was in dem Steuerkonzept von Frau
Bei Ihnen sieht man keine Bewegung in diese Rich- Scheel steht!)
tung. – Jetzt muss Herr Schneider richtig die Zähne auf- Wir wollen aber dann den Nachweis haben, dass die Ver-
einander beißen, weil er mir an dieser Stelle am liebsten schiebung von Gewinnen und damit auch von Arbeits-
Applaus geben würde. plätzen ins Ausland nicht weiter subventioniert wird,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weil wir nicht die Kraft haben, die Privilegierung der
und bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ Kreditfinanzierung in Deutschland wirklich einzugren-
CSU]: Er klatscht in der Regel mit den Hän- zen. Da sind Sie zutiefst gespalten.
den, Frau Kollegin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte neben der Finanzplanung aber noch auf Das hat Folgen für die Haushaltsplanung ab 2008. Wenn
einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, der die Sie nämlich erneut einen faulen Kompromiss machen,
Haushaltssituation, in der wir uns befinden, in Zukunft werden wir in der Finanzplanung wieder Haushaltslö-
sehr negativ belasten wird: Das ist schlicht und ergrei- cher haben, die diese wirklich nicht mehr verträgt.
(B) fend die große Koalition selbst. Ich komme zu einem weiteren Thema: Arbeits- (D)
(Jürgen Koppelin [FDP]: So ist es!) marktpolitik. Tiefer gespalten ging es am Ende der
Sie sind bei den großen Reformthemen zutiefst gespal- Haushaltsberatungen auch bei diesem Thema kaum. Die
ten. Ole von Beust, CDU/CSU hat eine Haushaltssperre bei den Fördermit-
teln für den schwierigen Bereich der Langzeitarbeits-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Guter Mann! losen, beim Arbeitslosengeld II, erzwungen. Diese
Hohe Zustimmung!) Sperre hat die CDU/CSU durchgesetzt.
der Bürgermeister meiner Heimatstadt, hat unlängst in (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Überschät-
einem Interview gesagt, Unternehmensteuer, Arbeits- zen Sie unseren Einfluss nicht!)
marktpolitik und Gesundheit, das seien die Reform-
themen, die jetzt anstünden. Heute Morgen wurden dann 200 Millionen Euro wieder
entsperrt. Das ist zu wenig, aber schon einmal ein Schritt
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Da hat er in die richtige Richtung. Die SPD hat, obwohl sie eine
Recht!) andere Arbeitsmarktpolitik gewollt hätte, bei der das
Fördern, gerade bei den Langzeitarbeitslosen, von vorn-
Man musste nur die heutige Debatte zur Unternehmen- herein nicht infrage gestellt wird, die Pille einer Haus-
steuer verfolgen, um zu sehen, was hier eigentlich los haltssperre schlucken müssen, damit die CDU/CSU ihr
ist. Herr Poß, zu wem haben Sie eigentlich gesprochen, Gesicht wahren kann.
als Sie dafür geworben haben, die Bemessungsgrundlage
zu erweitern? Ich hatte den Eindruck, Sie haben zur Das, was ich hier schildere, ist nicht irgendein haus-
Union gesprochen. haltstechnisches Problem. Diese Haushaltssperre seit
Ende Juni hat in den Arbeitsgemeinschaften, zum Bei-
(Joachim Poß [SPD]: Das habe ich nicht spiel in Mecklenburg-Vorpommern jenseits von
verhehlt!) Rostock, zu einem totalen Einstellen der Vermittlungstä-
Denn Herr Meister hat, wie man feststellen konnte, wenn tigkeit geführt.
man gut zugehört hat, deutlich gemacht, dass die CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
CSU im Grunde weiterhin ihr Ziel verfolgt, die Gewer-
besteuer auszuhöhlen. Er hat hier deutlich gesagt, dass Das ist ein absoluter Widerspruch zu dem Konzept vom
die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage nicht mach- Fördern und Fordern. Das war nicht nur eine haushalts-
bar sei, nicht etwa nur mit Blick auf die Körperschaft- technische Sperre, die der Gesichtswahrung der Union
steuer, diente, sondern ein Tritt gegenüber den Leuten, die in
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4393
Anja Hajduk
(A) den Arbeitsgemeinschaften Vermittlungserfolge erzie- Ich kann Ihnen nur sagen: Auf die Menschen kommt (C)
len wollen, und gegenüber den Arbeitslosen, die davon am 1. Januar 2007 eine ganze Menge zu.
betroffen sind. Da sieht man: Diese Spaltung der Koali-
tion ist nicht gut fürs Land. (Jürgen Koppelin [FDP]: Knüppeldick!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Bild, das Sie hier abgeben, dass die große Koalition
wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs vielleicht noch
Jetzt komme ich zu dem ganz schweren Thema der nicht die Sektkorken knallen lassen möchte, sich aber
großen Koalition: schon in diesem Erfolg sonnt, steht in einem krassen
Missverhältnis zu der Belastung, die am 1. Januar die
(Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist der Minister Arbeitnehmer und die Arbeitgeber treffen wird.
selbst!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das ist die Gesundheitsreform. sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ach so!) KEN)
Sie bildet sich in einem sagenhaften Widerspruch in die- Mit den Steigerungen, die ich genannt habe, kommt
sem Haushalt ab. Da hat der Herr Steinbrück mich noch man auf einen Rentenversicherungsbeitrag von 19,9 Pro-
kritisiert, ich solle doch nicht so positiv über die zukünf- zent und auf einen Krankenversicherungsbeitrag von
tige Steuerfinanzierung in der Gesundheit reden; sie über 14 Prozent – sagen wir einmal 14,5 Prozent; das ist
würde – das steht auch in den Unterlagen, die wir zu den noch konservativ geschätzt. Wenn man diese Zahlen ein-
Haushaltsberatungen bekommen haben – ab 2008 end- mal ganz einfach zusammenrechnet und sieht, dass Sie
gültig abgeschafft und in 2007 gäbe es nur noch die Arbeitslosenversicherung zwar auf 4,5 Prozent ab-
1,5 Milliarden Euro. Und was ist dann? Nachdem Sie senken, aber die Pflegeversicherung bei 1,7 Prozent plus
diese Kritik geübt haben, ist eine knappe Woche später x steht, dann wird jedem Menschen, der der Addition fä-
von der großen Koalition beschlossen worden: Ab 2008 hig ist, klar: Das Ziel, die Lohnnebenkosten unter
gibt es wieder Steuergeld in Höhe von 1,5 Milliarden 40 Prozent zu drücken, ist komplett aufgegeben.
Euro (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Blödsinn!)
(Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das Ich frage mich: Wo ist eigentlich der Wirtschaftsminis-
war ganz gezielt für einen bestimmten Zweck ter?
und nicht pauschal!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
und ab 2009 in Höhe von 3 Milliarden Euro – nur mit
(B) dem Unterschied, dass das in der Finanzplanung nicht Das Ziel von unter 40 Prozent Lohnnebenkosten ist auf- (D)
berücksichtigt ist und dass Herr Steinbrück immer noch gegeben. Das kann man, wie gesagt, leicht nachweisen.
mit den alten Einsparzielen, die Ausgaben in der Ge- Dazu ist in dieser Debatte von Ihnen gar nichts gesagt
sundheit zurückzuführen, herumläuft. Das ist ein kom- worden.
pletter Widerspruch. Was soll denn die Öffentlichkeit da-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben of-
von halten, dass Sie innerhalb einer Woche bei so einem
fensichtlich nicht zugehört!)
grundlegenden Reformthema – mehr oder weniger Steu-
erfinanzierung in den sozialen Sicherungssystemen – Das spricht nicht für Selbstkritik und Ehrlichkeit, die Sie
völlig richtungslos auseinander laufen? Man sieht es also gebrauchen könnten.
auch bei der Gesundheitsreform: Die große Koalition ist
tief zerstritten. Es ist bis heute noch nicht absehbar, was Ich komme zu grünen Alternativen und Vorschlä-
am 1. Januar 2007 gelten soll. gen. Ich will hier nur einen Punkt nennen; alles andere
wird noch im Prozess der Haushaltsberatung dazukom-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men. Der Vorschlag, den wir machen – das sage ich ganz
sowie bei Abgeordneten der FDP) deutlich an die Vorredner aus der SPD gerichtet –, ist
folgender: Wenn man auf die Mehrwertsteuererhö-
Auf den 1. Januar 2007 muss ich als Nächstes kom- hung nicht verzichten will, dann sollte man zumindest
men. Ich habe das vielleicht nicht ganz richtig ausge- darauf verzichten – das halten wir für unablässig –, sie
drückt: Was ab dem 1. Januar 2007 gelten wird, das ist mit einem abrupten Schlag um 3 Prozentpunkte zu erhö-
ziemlich klar und entfaltet schon jetzt seine fatale wirt- hen. Das ist keine stetige Politik, das ist eine abrupte
schaftspolitische Wirkung. Ab dem 1. Januar 2007 wer- Politik, die zu Verwerfungen führt. Wenn man es anders
den wir eine Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozent- machte, etwa indem man die Erhöhung über drei Jahre
punkte haben. Dazu kommt für die Menschen eine streckt somit die Mehrwertsteuer jahresweise um
Beitragssatzsteigerung um 0,4 Prozentpunkte bei der 1 Prozentpunkt anhebt und diese Erhöhung verlässlich
Rente. Dann kommt bei den Krankenkassenbeiträgen und nachweisbar komplett in die Senkung der Lohnne-
eine Steigerung um nicht nur 0,5 Prozentpunkte, wie ich benkosten steckt, dann hielte ich das langfristig für eine
im Frühjahr noch bescheiden gedacht habe. Nein, keiner viel erfolgreichere und bessere Strategie – nicht nur für
stellt mehr in Abrede, dass im Januar 2007 die Kranken- den Arbeitsmarkt, sondern auch für den Haushalt. Da ge-
kassenbeiträge um mehr als 1 Prozentpunkt steigen müs- ben uns viele Wirtschaftsinstitute und Experten Recht.
sen. Außerdem besteht auch das Risiko – das habe ich
noch gar nicht erwähnt – einer Beitragssatzsteigerung in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
der Pflegeversicherung. Joachim Poß [SPD]: Aber Sie wissen doch,
4394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Anja Hajduk
(A) dass das aus Sicht der Länderhaushalte und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
des Bundeshaushaltes nicht ausreicht!) neten der SPD)
Wir schlagen ganz konkret eine Priorität für mehr Be-
schäftigung, Herr Poß, und nicht für die Sanierung der Steffen Kampeter (CDU/CSU):
Haushaltslöcher bei Bund und Ländern vor. So ist es Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
richtig. Herren! Ich bin durch die Rede meiner Vorrednerin et-
was irritiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Joachim Poß [SPD]: Sie wissen es doch bes- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
ser!) Ulrike Flach [FDP]: Wäre ich auch!)
Wir wollen die Einnahmen aus dem ersten Mehrwert- Noch vor weniger als einem Jahr waren die Grünen als
steuerpunkt zusammen mit den strukturellen Überschüs- Regierungspartei für all das, was in diesem Haus be-
sen der BA konsequent für die Absenkung der Lohn- schlossen worden ist, mitverantwortlich. Innerhalb weni-
nebenkosten im Niedriglohnbereich vorsehen. Wir ger Wochen halten Sie Reden, bei denen man den Ein-
haben ein Progressivmodell entwickelt, mit dem die druck haben kann, dass Sie an keinen Entscheidungen,
Lohnnebenkosten im Niedriglohnbereich bis 1 800 Euro die nach dem Zweiten Weltkrieg im Bundestag oder in
stark gesenkt werden können. Dieses Geld fließt also an den Landtagen getroffen worden sind, in irgendeiner
die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber zurück. Das wäre Form beteiligt waren. Ich muss ganz ehrlich sagen:
eine intelligente Politik. Einen so hemmungslosen Populismus, eine so verant-
wortungslose Art und Weise der politischen Auseinan-
Wir bemühen uns, Ihnen diese Alternative schmack- dersetzung verschlägt selbst mir die Sprache.
haft zu machen. Sie können uns nicht unterstellen, dass
wir rigoros und stur gegen Ihre Politik sind. Ich erwarte (Beifall bei der CDU/CSU)
von Ihnen, dass Sie sich mit solchen Vorschlägen kon-
Frau Hajduk, wo waren Sie eigentlich, als vor einem
struktiv auseinander setzen. Sie selber haben ja schon
Jahr beispielsweise der Etatentwurf der damaligen Re-
ein bisschen Sorge, was am 1. Januar 2007 sonst passie-
gierung nicht mehr beschlossen, sondern im damaligen
ren wird.
Kabinett lediglich zur Kenntnis genommen worden ist?
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie fordern hier, der Bundesfinanzminister möge uns
keine oberlehrerhaften Ratschläge geben.
Ich komme zum Schluss. Es wurde hier viel davon
gesprochen, dass das Vertrauen der Bevölkerung nötig (Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr gut!)
(B) ist, dieses Vertrauen gerechtfertigt werden muss und Sie Aber Sie waren vor einem Jahr in der Regierung. Heute (D)
als große Koalition dieses Vertrauen angeblich schaffen
könnten. Ich muss Ihnen sagen: Ihr selbst gesetzter An- tun Sie so, als ob Sie alles besser wissen. Wo waren Sie
spruch der Stetigkeit in Ihrer Politik ist mit Blick auf die eigentlich vor einem Jahr?
abrupte Mehrwertsteuererhöhung nicht zu rechtfertigen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Die versprochene Verlässlichkeit und Berechenbarkeit
Ihrer Politik ist mit dem Chaos bei der Gesundheitsre- Und da blasen Sie sich hier so kräftig auf!
form überhaupt nicht in Einklang zu bringen. Auch fin- (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau)
den sich im Haushalt keine realistischen und vorsichti-
gen Annahmen im Hinblick auf die Kosten beim Ich gewinne langsam den Eindruck, dass die Verbes-
Arbeitsmarkt wieder. Nach zehn Monaten haben die serung der Situation in Deutschland im Wesentlichen
Menschen deswegen das Vertrauen in die große Koali- damit zusammenhängt, dass die Grünen keine Regie-
tion verloren. rungsverantwortung mehr tragen. Das scheint mir im
Vergleich zur Situation vor einem Jahr eine qualitativ
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
wirklich positive Veränderung zu sein.
Frau Kollegin! (Beifall bei der CDU/CSU)
Die Herangehensweise unseres Koalitionspartners,
Anja Hajduk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der Sozialdemokraten, die gemeinsam mit uns einen
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. – Kassensturz gemacht, in schonungsloser Offenheit ge-
Der Sommer hat gezeigt: Die Politik ist zwar von der sagt haben, was notwendig ist, und unangenehme Ent-
Profilsuche der Partner der großen Koalition geprägt, scheidungen getroffen haben, ist der ehrlichere Weg als
aber nicht von der Suche nach Lösungen für Reformen. der opportunistische der Grünen. Die Erfolge dieses
Das hat das Land wahrlich nicht verdient. Richtungswechsels in der Haushaltspolitik lassen sich
(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE bereits am laufenden Etat ablesen.
GRÜNEN – Beifall bei Abgeordneten der Während in der Zeit, als die Grünen Verantwortung
FDP) getragen haben, alle Prognosen nach unten gewiesen ha-
ben, werden wir aller Voraussicht nach im Etat des lau-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: fenden Jahres bei den Einnahmen nicht nur im Vergleich
Das Wort hat der Kollege Steffen Kampeter, CDU/ zur Steuerschätzung, sondern auch im Vergleich zu den
CSU-Fraktion. Ansätzen im Etat um 3 bis 4 Milliarden Euro besser ab-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4395
Steffen Kampeter
(A) schneiden. Wir haben erste Konsolidierungsmaßnahmen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C)
eingeleitet und ein Haushaltsbegleitgesetz der „doppel- neten der SPD)
ten Tonlage“ verabschiedet und schon stellen sich gute
Nachrichten ein. Das zeigt doch, dass sich diese Haus- Die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Stand-
haltspolitik wesentlich von der Haushaltspolitik unter- orts Deutschland hat sich verbessert. Ich will ausdrück-
scheidet, für die Sie, Frau Hajduk, mit die Verantwor- lich festhalten, dass die Tarifvertragsparteien durch
tung übernommen haben. moderate Abschlüsse einen wesentlichen Anteil daran
haben. Es ist erfreulich, dass wir erstmals seit langem ei-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen Aufschwung haben, der auch von der Binnennach-
frage, das heißt von der Zuversicht der Menschen in die-
Diese verbesserte finanzpolitische Lage des sem Land – nicht nur in den Unternehmen, sondern auch
Jahres 2006 ist auch Ursache dafür, dass wir heute Mor- in den Privathaushalten –, getragen wird. Diesen
gen bei der Arbeitsmarktpolitik in einer Größenord- Schwung wollen wir in das Jahr 2007 mitnehmen. Alle
nung von 230 Millionen Euro nachsteuern konnten. Wir diejenigen, die noch vor wenigen Monaten in Pessimis-
haben erst fleißig konsolidiert, damit wir das Geld, über mus gemacht haben, was die Steuerpolitik angeht, und
das wir verfügen, dafür verwenden, was nötig ist. Des- einen Konjunktureinbruch für das Jahr 2007 prognosti-
wegen glaube ich, dass nicht nur der Haushalt 2006, son- ziert haben, schweigen jetzt. Nationale wie auch interna-
dern auch der Haushaltsentwurf für 2007 – das ist der tionale Experten sagen, dass sich dieser Aufschwung im
erste Haushalt, den die Koalition vollständig zu verant- nächsten Jahr fortsetzen wird. Wir haben ein solides
worten hat – uns auf dem Weg der Konsolidierung vor- wirtschaftliches Wachstum.
anbringen.
Wir verschweigen den konjunkturdämpfenden Effekt
Erstens. Erstmals wird die in der Verfassung vorgese- der Mehrwertsteuererhöhung nicht. Sie bleibt aber
hene Regelgrenze bei der Neuverschuldung im Entwurf notwendig und ist ohne Alternative. Sie ist mit dem Auf-
eingehalten; die Nettokreditaufnahme geht um 16 Mil- schwung kompatibel. Das halte ich für eine gute Bot-
liarden auf 22 Milliarden Euro zurück und liegt damit schaft.
um 1,5 Milliarden Euro unter dem Investitionsvolumen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Zweitens. Erstmals seit vier Jahren wird das neten der SPD)
Maastrichtkriterium wieder sicher erreicht werden.
Das wird aller Voraussicht nach schon in diesem Jahr der Ich habe gesagt: Der Kurs stimmt. Die Aufgabe ist
Fall sein. aber noch nicht erledigt. Deswegen gehört zu dem Bild,
das wir heute, am Beginn der Haushaltsdebatte, zeichnen
(B) (Zuruf von der FDP: Aber wie?) müssen, auch, dass der Bundeshaushalt selbstverständ- (D)
Das stellt einen Unterschied zu den vergangenen Jahren lich ein Sanierungsfall bleibt.
dar. Es mag vielleicht auch eine kleine Bürde sein, weil Wenn ein Unternehmen jedes Jahr einen Verlust in
wir in den nächsten Schritten – der Kollege Meister hat Höhe von ungefähr einem Viertel seines Umsatzes
es deutlich gesagt – in Richtung ausgeglichener Etat macht, wird jeder dort Beschäftigte, auch ein Mitglied
marschieren. Dies ist das Ziel der großen Koalition. der Geschäftsführung oder des Betriebsrates, sagen: Un-
Schließlich drittens. Die Staatsquote sinkt; die Inan- ser Unternehmen befindet sich in einer schwierigen
spruchnahme des Bürgers durch den Staat wird erheblich Lage, es ist ein Sanierungsfall. Seit Mitte der 90er-Jahre,
weiter zurückgeführt. Wir werden am Ende dieser Legis- mit wechselnden politischen Mehrheiten, weist der Bun-
laturperiode eine Staatsquote haben, die wir zuletzt vor deshaushalt ein strukturelles Defizit auf, weil große
der Wiedervereinigung hatten. Teile unserer Ausgaben nicht durch dauerhafte Einnah-
men gedeckt sind.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD) Wir in der Union sind der Auffassung, dass wir mit
dem Haushalt, solange er nicht ausgeglichen ist, nicht
Bei diesem Konsolidierungskurs helfen uns – es ist zufrieden sein können. Die Sanierungsaufgabe bleibt
wichtig, das festzustellen – gute wirtschaftliche Rah- also bestehen.
menbedingungen. Die konjunkturelle Aufwärtsbewe-
gung der deutschen Wirtschaft hat im laufenden Jahr (Joachim Poß [SPD]: Richtig!)
deutlich an Kraft gewonnen; der konjunkturelle Knoten Der Bundeshaushalt ist eine Sanierungsaufgabe für uns
ist geplatzt. Wir verzeichnen das stärkste Wachstum seit alle.
fünf Jahren. Michael Glos hat geradezu prophetisch
schon Anfang des Jahres die Werte bei etwa 2 Prozent (Joachim Poß [SPD]: Die Länderhaushalte
gesehen; jetzt sprechen alle wirtschaftswissenschaftli- auch!)
chen Forschungsinstitute von einem Wachstum von Dieser Aufgabe werden wir uns in dieser Legislatur-
mehr als 2 Prozent. Damit gibt es zum ersten Mal seit periode engagiert stellen. Für Entwarnung gibt es – weiß
vielen Jahren ein Wachstum auch der deutschen Wirt- Gott! – keinen Grund. Wir müssen den Sparkurs fortfüh-
schaft. 426 000 Arbeitslose weniger und 129 000 sozial- ren.
versicherungspflichtig Beschäftigte mehr sprechen eine
sehr konkrete Sprache. Dies sind die Anzeichen einer so- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
liden wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land. neten der SPD)
4396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Steffen Kampeter
(A) Ziel der Union ist in diesem Zusammenhang, die offen anspricht, um die Begehrlichkeiten bezüglich des (C)
Kreditaufnahme des Bundes im Laufe der Legislatur- Etats gering zu halten.
periode unter die 20-Milliarden-Euro-Grenze zu senken.
Dazu bedarf es zusätzlicher Anstrengungen, insbeson- Die Vorgaben des Art. 115 des Grundgesetzes halten
dere auf der Ausgabenseite. Wir wollen eines zurückge- wir ein – um anderthalb Milliarden Euro –; das habe ich
winnen: das Vertrauen der Menschen in die Finanz- und bereits ausgeführt. Das ist nicht die Welt und zeigt, dass
Haushaltspolitik dieses Landes. Die ersten Signale gibt wir hier noch nachbessern und Vorsorge treffen können.
es schon: steigendes Verbrauchervertrauen und steigen- Es ist offen angesprochen worden, dass es erhebliche
des Investorenvertrauen. Es muss jedoch deutlich wer- Meinungsunterschiede im Haus hinsichtlich der Ent-
den: Das sind keine Eintagsfliegen, vielmehr muss die wicklungen auf dem Arbeitsmarkt gibt. Wir teilen nicht
Konsolidierung nachhaltig und generationengerecht die pessimistische Sicht der Dinge, aber wir sind der
sein. Deswegen werden wir auf diesem Kurs gemeinsam Meinung, dass wir uns in den Haushaltsberatungen sehr
mit unserem Koalitionspartner weiter voranschreiten. intensiv mit allen Titeln der Arbeitsmarktpolitik – so-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wohl auf der Einnahme- als auch auf der Ausgaben-
neten der SPD) seite – auseinander setzen müssen.

Wir wollen keine Wunschlisten anlegen und keine Zweifelsohne ist das falsch, was Bündnis 90/Die Grü-
voreiligen Schlüsse ziehen. Eine Schwalbe macht noch nen hier vorgetragen haben. Sie sprachen davon, dass es
keinen Frühling. um 8 Milliarden Euro Mehrbedarf geht. Zweifelsohne
richtig bleibt aber, dass wir uns diese Titel sehr genau
(Zurufe von der SPD: Sommer!) anschauen müssen. Das ist insbesondere vor dem Hinter-
Die Konsequenz und Beharrlichkeit bei den beschlosse- grund nötig, dass die Unionsfraktion gemeinsam mit der
nen Maßnahmen zeigen die entsprechende nachhaltige SPD beabsichtigt, noch in diesem Jahr Vorschläge dazu
Stärkung der Auftriebskräfte. zu machen, wie wir die Gerechtigkeitslücke in der Ar-
beitsmarktpolitik weiter schließen können. Die Gerech-
Ich begrüße ausdrücklich, Herr Finanzminister, dass tigkeitslücke in der Arbeitsmarktpolitik entsteht, wenn
Sie festgestellt haben, dass der Löwenanteil an den wir Geld nicht für das ausgeben, wofür die Steuerzahler
Mehreinnahmen 2006 zur Senkung der Nettokreditauf- es einsetzen wollen. Es ist aber gleichermaßen unge-
nahme verwendet wird. Die Union ist der Auffassung, recht, arbeitsmarktpolitische Mittel mit der Gießkanne
dass der Löwe ebenso wie der Löwenanteil ziemlich zu verteilen. Arbeitsmarktpolitische Mittel müssen die-
groß sein muss. Die Formulierung lässt ein kleines Hin- jenigen erreichen, die tatsächlich bedürftig sind, die die
tertürchen. Die Löwen der Union, insbesondere die Hilfe des Staates in Anspruch nehmen müssen. Nach un-
(B) bayerischen, sind ausgesprochen groß. Das sollten Sie serer Auffassung besteht auf diesem Gebiet eine erhebli- (D)
zur Kenntnis nehmen. che Gerechtigkeitslücke.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich will noch ein Wort zur Situation der Bundesagen- Diese Gerechtigkeitslücke wollen wir beispielsweise
tur für Arbeit sagen. Wir haben in der Debatte deutlich durch die Effektivierung der arbeitsmarktpolitischen
herausgearbeitet, dass der Überschuss nachhaltig und so- Instrumente schließen. Im steuer-, wie im beitragsfinan-
lide ist. Das war die Voraussetzung dafür, dass man über zierten Bereich gibt es 70 bis 80 arbeitsmarktpolitische
Beitragsabsenkungen nachdenken kann. Wir von der Instrumente. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Arbeits-
Union sind der Auffassung: Der nachhaltige Anteil des marktpolitik gerecht sein kann, wenn sie mit einer
Überschusses sollte frühestmöglich zur weiteren Absen- solchen Vielzahl bürokratischer und wenig effektiver
kung der Sozialversicherungsbeiträge verwandt werden. Instrumente vollzogen wird.
Hier sehen wir noch Spielräume. Ich denke, wir befinden
uns darüber seit einigen Tagen in einem guten Gespräch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich hoffe, dass wir relativ rasch zum Abschluss der Ge-
Ich glaube, wir sollten insbesondere auf diesem Gebiet
spräche kommen werden. Dies ist insbesondere vor dem
Einsparpotenziale suchen, und zwar ohne die Betroffe-
Hintergrund wichtig, dass wir in niedrigen Sozialversi-
nen – Herr Poß, Sie haben das angesprochen – mit Leis-
cherungsbeiträgen, mehr Wachstum und mehr Haus-
tungskürzungen zu konfrontieren. Die Notwendigkeit
haltseinnahmen einen sinnvollen Beitrag zur Konsolidie-
von Leistungskürzungen kann man leicht in Abrede stel-
rung sehen. Die Union ist für weitere Gespräche
len. Ich glaube, die Effektivierung arbeitsmarktpoliti-
ausgesprochen offen.
scher Instrumente kann in diesem Zusammenhang eini-
(Beifall bei der CDU/CSU) ges bringen.
Folge des Klimawechsels in diesem Hause ist, dass Ein weiteres Haushaltsrisiko besteht im Bereich der
auch über Haushaltsrisiken nicht nur von der Opposi- Zinsen. Wir haben in den vergangenen Jahren – darüber
tion, sondern sogar noch intensiver von der Regierungs- will ich offen reden – von der Niedrigzinspolitik profi-
koalition gesprochen wird. Für Entwarnung ist aber noch tiert und sie stillschweigend zur Kenntnis genommen.
nicht die richtige Zeit, das will ich deutlich machen. Na- Jetzt gibt es eine muntere Debatte über Zinserhöhungen.
türlich sehen wir uns Haushaltsrisiken gegenüber. Ich Die Unabhängigkeit der Notenbanken stellen wir nicht
bin der Auffassung, dass man eine Regierung auch da- infrage. Im Koalitionsvertrag kann ich keine Stelle ent-
durch unterstützen kann, dass man die Haushaltsrisiken decken, aus der das abgeleitet werden könnte.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4397
Steffen Kampeter
(A) (Beifall der CDU/CSU und der FDP – Anja len die Risiken – ich habe einen Teil davon benannt; (C)
Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege Poß sprach die auswärtige Politik an –, beherr-
Steinbrück hat sich dazu geäußert!) schen. Wir wollen einen soliden Etat beraten. Ende No-
vember wollen wir mit gutem Gewissen sagen können:
Ich will all denjenigen, die sich zu der Fragestellung, wie
Das ist das, was möglich ist. Das ist solide. Das ist unser
sich die Zinsen zukünftig entwickeln, äußern, raten: Die-
Beitrag für eine gute Zukunft dieses Landes.
ses Thema kann man in das Nachtgebet einbeziehen; bei
öffentlichen Verlautbarungen wäre ich zurückhaltend. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das hat doch aber der Finanzminister ge- Vizepräsidentin Petra Pau:
macht!) Das Wort hat der Kollege Dr. Hermann Otto Solms
für die FDP-Fraktion.
Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens. Wir stehen zur
Aufgabenteilung zwischen der Politik, die die strukturel- (Beifall bei der FDP)
len Anpassungen vornehmen soll, und der Notenbank,
die für die Geldpolitik zuständig ist. Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
der FDP) Herren! Ich will eines vorausschicken: Die FDP freut
sich genauso wie die Bundesregierung über die leichte
Zweitens habe ich nicht den Eindruck, dass Mäßigungs- konjunkturelle Erholung, die wir gegenwärtig erleben
appelle an die Zentralbank produktiv sind. Um es kon- können.
kret zu sagen: Ich vermute, dass öffentliche Appelle eher
kontraproduktiv sind. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stärkstes Wachs-
tum seit fünf Jahren, Herr Solms!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der FDP) Das ist eine Freude für uns alle. Es ist aber nicht so, dass
das auf das Handeln dieser Bundesregierung zurückzu-
Das heißt: Wenn man niedrige Zinsen haben möchte, führen wäre. Das wäre ein gewaltiger Trugschluss.
dann sollte man zu diesem Thema besser schweigen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wir haben klare Ziele für die Haushaltsberatungen im der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
Jahre 2007. Die Union steht gemeinsam mit ihrem Part- GRÜNEN)
ner für seriöse Finanzen. Nachdem in den vergangenen
vier Jahren gegen die Maastrichtkriterien verstoßen Man kann geradezu sagen: Die konjunkturelle Erholung
(B) findet trotz dieser Bundesregierung statt. (D)
wurde, wollen wir sie nicht nur 2006, sondern auch in
den Folgejahren – bis wir einen ausgeglichenen Haushalt (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des
haben und darüber hinaus – einhalten. Wir wollen einen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verfassungskonformen Bundeshaushalt. Das heißt,
die Höhe der Investitionen muss deutlich über der Höhe Denn sie ist auf eine Politik der Verbesserung der Ange-
der Nettokreditaufnahme liegen. Mehr Forderungen an botsbedingungen in den letzten Jahren zurückzuführen.
den Etat können vor diesem Hintergrund nicht realisiert Die wesentlichen Punkte dabei waren: die zurückhal-
werden. tende Politik der Tarifvertragsparteien,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das habe ich
Am Ende dieser Legislaturperiode – so die Forderung angesprochen, Herr Kollege!)
der Union – sollte die Neuverschuldung wieder deutlich die maßvolle Zinspolitik der Europäischen Zentralbank,
unter 20 Milliarden Euro liegen. Wir dürfen aufgrund
unserer Verantwortung gegenüber den nachfolgenden Steffen Kampeter (CDU/CSU): Auch ange-
Generationen bei der Nettokreditaufnahme nicht aasen, sprochen!)
sondern müssen sparsam sein. Die Grenze muss deutlich
aber auch die Politik der Steuersenkung der Vorgänger-
unterschritten werden.
regierung insbesondere bei der Einkommen- und Kör-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) perschaftsteuer.
Wir wollen die Staatsquote auf das Niveau von 1989 (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist
absenken, nämlich auf unter 44 Prozent. Wir glauben, unstrittig!)
dass die Entscheidung, wofür Geld ausgegeben wird,
In diesem Zusammenhang, Herr Finanzminister
eher beim Bürger als beim Staat liegen sollte. Wir glau-
Steinbrück, möchte ich in Erinnerung rufen: Als die alte
ben, dass dieser Grundsatz vor allem für die Ausgaben-
bürgerliche Koalition eine grundsätzliche Steuerreform
seite gelten sollte. Wenn ich mir die mittelfristige
auf den Weg gebracht hat – Stichwort: Petersberger
Finanzplanung anschaue, dann stelle ich fest, dass wir
Beschlüsse –, hat die SPD-Opposition unter dem dama-
kein Einnahmeproblem haben.
ligen Parteivorsitzenden Lafontaine ihre Blockademög-
Wir werden an allen konstruktiven Beiträgen zur Aus- lichkeiten im Bundesrat genutzt. Die Steuerreform ist
gabensenkung, die von der Opposition und innerhalb der nicht zustande gekommen, obwohl sie im Bundestag
Koalition vorgelegt werden, gerne mitarbeiten. Wir wol- eine Mehrheit gefunden hatte. Damit ist viel Zeit
4398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Hermann Otto Solms


(A) verschwendet worden. Denn wir hätten schon einige vorzunehmen? Sie fordern das immer, aber Sie nehmen (C)
Jahre früher eine angebotsorientierte Politik betreiben ihnen die finanziellen Möglichkeiten, dies zu tun.
können.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dazu kommen die Erhöhungen der Beiträge zur Ren-
Als die rot-grüne Regierung diese Steuerreform auf tenversicherung, zur Krankenversicherung und vermut-
den Weg gebracht hat, hätten wir sie im Bundesrat blo- lich auch zur Pflegeversicherung, sodass die Senkung
ckieren können. Wir haben es aber nicht getan. Durch der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gleich wieder
das Mitwirken von Rainer Brüderle und Kurt Beck, Ih- kompensiert wird. Eine Entlastung bei den Sozialkosten
rem neuen Parteivorsitzenden, in Rheinland-Pfalz haben findet nicht statt. Das ist die falsche Politik; von Entlas-
wir durchgesetzt, dass die Steuerreform tatsächlich ins tung keine Spur. Die Ausgaben für soziale Sicherung
Gesetzbuch gekommen ist machen unverändert die Hälfte des Budgets aus. An ei-
ner Flexibilisierung der Kernbereiche des Arbeitsmark-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist nur
tes traut sich die Regierung nicht heran. Betriebliche
ein Teil der Wahrheit, Herr Solms, das wissen
Bündnisse für Arbeit sind vergessen. Die Liberalisierung
Sie!)
des Kündigungsschutzes ist passé. Eine langfristige Ab-
und dass der Spitzensteuersatz von 45 auf 42 Prozent ge- senkung der Lohnzusatzkosten ist Schnee von gestern.
senkt worden ist. Gibt es eine tragfähige Gesundheitsreform? Fehlanzeige.
Ganz im Gegenteil: Die gesundheitspolitische Diskus-
(Beifall bei der FDP) sion ist das reinste Chaos und der Bürger wendet sich
Deswegen fühle ich mich – mit der FDP – mitverant- mit Schrecken ab. Die Bürger werden zur Kasse gebeten.
wortlich für die positiven Entwicklungen, die wir gegen- Das ist die Quintessenz dieser Politik; die ist schlicht
wärtig erleben. falsch.

(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP)


Wir auch!) Die Koalition wird damit scheitern. Deshalb fordern
Diese Politik der Entlastung und der Verbesserung der wir, die FDP, die Angebotsbedingungen für Investitio-
Angebotsbedingungen müsste jetzt fortgesetzt werden. nen und Konsum konsequent zu verbessern. Nur so kön-
Diese Bundesregierung tut aber genau das Gegenteil. nen wieder Arbeitsplätze entstehen. Ganz konkret – wir
haben gestern einen Antrag dazu eingebracht –: Nehmen
(Beifall bei der FDP) Sie die Erhöhung der Mehrwertsteuer zurück. Die Er-
(B) höhung ist falsch und nicht notwendig. Denn die Steuer- (D)
Sie erhöht die Kosten, sie erhöht die Steuern, sie erhöht
einnahmen, die aufgrund der konjunkturellen Entwick-
die Beiträge und baut die immense Bürokratie nicht ab.
lungen in diesem Jahr stärker sprudeln, kompensieren
Ich möchte einige Beispiel in Erinnerung rufen: Das
das erwartete Mehraufkommen bereits.
wichtigste ist natürlich die Erhöhung der Mehrwert-
steuer. Das ist ökonomisch gesehen ein grundsätzlicher (Beifall bei der FDP – Carsten Schneider [Erfurt]
Fehler. [SPD]: Ja, ja! Die ganzen 3 Prozent?)
(Beifall bei der FDP) Zweitens. Legen Sie ein durchdachtes Konzept für
Weitere Beispiele sind die Erhöhung der Versicherungs- eine Unternehmensteuerreform vor, in dem die Unter-
steuer, die Erhöhung der Einkommenssteuer unter dem nehmen, egal in welcher Rechtsform sie agieren, gleich
Stichwort Reichensteuer – man findet immer schöne Be- behandelt und gleich belastet werden,
gründungen für Steuererhöhungen –, (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])
(Zuruf von der SPD: Das betrifft aber nicht bei dem das Besteuerungsniveau auf das durchschnittli-
viele!) che europäische Niveau gesenkt wird und das nicht
die Verschlechterung bei der Pendlerpauschale, keine durch die Einbeziehung von Kostentatbeständen in die
Abzugsfähigkeit der Kosten für das Arbeitszimmer, Besteuerung gegenfinanziert wird. Wie Sie das technisch
Streichung der Abzugsfähigkeit der Steuerberatungskos- machen, ist völlig egal. Aber das ist ein grundsätzlicher
ten und die Halbierung des Sparerfreibetrags. Das wird Fehler. Das ruiniert den deutschen Mittelstand,
jetzt in das Jahressteuergesetz gemogelt, damit es mög- (Joachim Poß [SPD]: Der ist davon überhaupt
lichst nicht auffällt. Allein diese Steuererhöhungen nicht betroffen!)
werden die Bürger und Unternehmen im nächsten Jahr
um 27 Milliarden Euro zusätzlich belasten. Wie soll das der ja in aller Regel mit nur 10 bis 20 Prozent Eigenkapi-
die Konjunktur fördern? tal leben und sich zu 80, 90 Prozent fremdfinanzieren
muss. Hier geht es um die Existenz des Mittelstandes.
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Sie sind sonst
immer gegen Subventionen!) (Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]:
Das ist doch richtig dummes Zeug!)
Wie soll das den Menschen die Möglichkeit geben, mehr
zu konsumieren, mehr zu investieren oder mehr Eigen- Drittens. Beginnen Sie endlich mit der Vereinfachung
vorsorge für das Alter und für die Risiken des Lebens des Steuersystems. Das haben alle Parteien in ihren
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4399
Dr. Hermann Otto Solms
(A) Wahlkampfparolen gefordert. Nichts ist bis jetzt gesche- – Glauben Sie mir: Ich kann das von beiden Seiten ganz (C)
hen. gut beurteilen, insbesondere weil das Bundesfinanzmi-
nisterium seit nunmehr acht Jahren in sozialdemokrati-
Viertens. Überprüfen Sie Ihr Jahressteuergesetz 2007, scher Hand ist.
in dem auf 127 Seiten herumgeregelt wird.
Kolleginnen und Kollegen, die Haushaltsdebatte 2007
Fünftens. Führen Sie die Abgeltungsteuer auf Kapi- und die Finanzplanung bis 2010, die bereits Gegenstand
talerträge ein. Schaffen Sie endlich eine Bundesfinanz- der heutigen Debatte war, sind von einem Gesetzentwurf
verwaltung, die auch Sie, Herr Bundesfinanzminister, gekennzeichnet, der mutig ist und in den die Erfahrun-
immer gefordert haben; dabei unterstützen wir Sie. gen aus der Vergangenheit eingeflossen sind. Im Hin-
Sechstens. Senken Sie die Beiträge zur Arbeitslosen- blick auf die konjunkturellen Rahmendaten und die
versicherung um mindestens 2,5 Prozentpunkte. Höhe der Steuereinnahmen wurden vorsichtige, konser-
vative Schätzungen zugrunde gelegt. Dieser Gesetzent-
(Zuruf von der SPD: Was? Mehr nicht?) wurf verdeutlicht die Entschlossenheit der Koalition, die
Ziele, die sie sich in der Haushalts- und Finanzpolitik
Siebtens. Stoppen Sie die Diskussion über die Ge-
gesetzt und im Koalitionsvertrag festgehalten hat, umzu-
sundheitsreform.
setzen.
Achtens. Beginnen Sie endlich zu sparen, und zwar
Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2007 haben wir so-
beim Staat und nicht beim Bürger.
wohl auf der Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite
(Beifall bei der FDP) strukturelle Veränderungen vorgenommen. Ich per-
sönlich bin der Auffassung – das mag eine kleine Remi-
Die ökonomische Wirkungskette gilt auch heute niszenz an die vergangenen Jahre sein –, dass das schon
noch: Nur weniger Steuern und Abgaben bringen mehr früher hätte geschehen können, hätte der Bundesrat, ins-
Arbeitsplätze. Nur mit mehr Beschäftigten hat der Staat besondere was die Einnahmeseite betrifft, an der einen
mehr Steuer- und Beitragseinnahmen. Nur so erreichen oder anderen Stelle Einsicht gezeigt.
Sie eine nachhaltige Konsolidierung des Bundeshaushal-
tes und der anderen Haushalte. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Anna Lührmann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Entweder fehlt Ihnen der Mut zu dieser Politik oder
die Einsicht. Beides ist verhängnisvoll. Wir brauchen im Dass er das nicht getan hat, hat uns in den vergangenen
Interesse der Bürgerinnen und Bürger Fortschritt in Jahren immer wieder, gerade beim Steuervergünsti-
Deutschland. gungsabbau, geschadet und zu geringeren Steuereinnah-
men geführt. Das haben wir jetzt korrigiert. Auch an die-
(B) Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (D)
ser Stelle sei auf den maßgeblichen Einfluss der SPD auf
die Kollegen von der Union hingewiesen.
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Auf der Ausgabenseite haben wir deutliche Einspa-
rungen vorgenommen. Nicht, wie die FDP das fordert
Vizepräsidentin Petra Pau: – um Gottes willen; wir wollen keinen Staat, den sich
Das Wort hat der Kollege Carsten Schneider für die nur Reiche leisten können –, aber so, dass sich die nor-
SPD-Fraktion. malen Bürgerinnen und Bürger sicher sein können, dass
der Deutsche Bundestag solide mit dem ihm anvertrau-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ten Geld umgeht. Die Ausgabensteigerung liegt für 2007
CDU/CSU) bei 0,2 Prozent, im gesamten Finanzplanungszeitraum
bis 2010 bei gerade einmal 0,7 Prozent. Bei einer unter-
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): stellten Inflationsrate von über 1 Prozent – was wahr-
scheinlich ist; hoffentlich liegt sie unter 2 Prozent – ent-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
spricht dies einer Ausgabensenkung, und dies trotz der
Ich habe während der heutigen Debatte, die ich aufmerk-
Mehrausgaben, die wir in den vergangenen Jahren im
sam verfolgt habe, neue und alte Freunde kennen gelernt
Bereich des Arbeitsmarktes und der sozialen Siche-
bzw. wiedergefunden. Ich hatte den Eindruck, Frau
rungssysteme hatten.
Hajduk, dass nach Ansicht der alten Freunde von den
Grünen alles, was in der rot-grünen Regierungszeit ge- Der eingeschlagene Kurs, nämlich 2006 den Anschub
schehen ist, super war. Dieser Auffassung bin auch ich. zu geben, die Konjunktur auf Fahrt zu bringen, war in-
Bei den neuen Freunden von der Union hatte ich den nerhalb der SPD – das muss ich auch für mich persön-
Eindruck, dass sie alles, was in dieser Zeit auf den Weg lich sagen – nicht unumstritten. Nun stimulieren wir die
gebracht wurde, schlecht fanden, dass aber, seitdem die Wirtschaft mit einem 25-Milliarden-Euro-Wachstums-
Union mitregiert, alles super ist. Ich glaube, die Wahr- paket, wir erhöhen damit die Mittel für Forschung um
heit liegt irgendwo in der Mitte: Es liegt an der Konti- 6 Prozent und setzen Akzente bei den Infrastrukturinves-
nuität der Regierungsbeteiligung der SPD. titionen. Ich glaube, das ist richtig, insbesondere weil
sich die Bevölkerung und die Wirtschaftsakteure darauf
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Lothar
verlassen können, dass die Maßnahmen, die wir ange-
Mark [SPD]: Jawohl! Die Wahrheit muss aus-
kündigt haben, auch umgesetzt werden.
gesprochen werden! – Jürgen Koppelin [FDP]:
Ha, ha! Was für ein Brüller!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
4400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Carsten Schneider (Erfurt)


(A) Dieses Vertrauen in eine stetige Finanzpolitik ist für den sichtig. Wenn Sie sagen, dass Sie die Erhöhung nicht (C)
sich jetzt deutlich abzeichnenden Konjunkturauf- wollen, dann müssen Sie an dieser Stelle auch sagen, wo
schwung entscheidend, entscheidender als kurzfristiges Sie die Mehreinnahmen durch die Mehrwertsteuererhö-
Hoch und Runter von Steuersätzen oder auch – um die hung, die wir im Bundeshaushalt mit 7 Milliarden Euro
aktuelle Debatte aufzugreifen – des Beitrags zur Arbeits- verbuchen – dieser Anteil ist allein für den Bund vorge-
losenversicherung. Wichtiger ist langfristige Stabilität, sehen –, stattdessen erzielen wollen. Wenn Sie den Bun-
dass sich die Bürgerinnen und Bürger darauf verlassen deshaushalt zur Grundlage nehmen und berücksichtigen,
können, dass diese Bundesregierung und dieses Parla- dass wir im Bereich der öffentlichen Sicherheit nicht
ment langfristig im Blick haben, einen Haushalt vorzu- sparen wollen, dann wissen Sie, dass Sie die Mittel letzt-
legen, der nicht nur dem Art. 115 des Grundgesetzes endlich nur noch im Sozialbereich kürzen können. Wir
entspricht, sondern auch – in der nächsten Legislatur- als SPD wollen dies nicht.
periode – ausgeglichen ist.
(Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter [CDU/
Die Konjunkturdaten für die Bundesrepublik CSU]: Effektivität, Herr Kollege!)
Deutschland, insbesondere die Wachstumsraten im ers-
Schauen Sie sich den Sozialhaushalt an! Der Gesamt-
ten und zweiten Quartal, zeigen, dass das Wachstum ro-
haushalt hat ein Volumen von 267 Milliarden Euro. Der
bust ist. Im zweiten Quartal hatten wir real ein Wachs-
Sozialetat macht 120 Milliarden Euro aus. Danach folgt
tum von 0,9 Prozent; das ist mehr, als die Vereinigten
die Zinsbelastung mit 38 Milliarden Euro. Der Verteidi-
Staaten in diesem Quartal hatten. Viel wird jetzt davon
gungshaushalt hat einen Umfang von 22 bis 24 Milliar-
abhängen, wie sich die Rohstoffpreise, insbesondere der
den Euro, je nachdem worauf wir uns während der Bera-
Ölpreis, entwickeln. Es kommt aber auch darauf an, wie
tungen einigen. Danach kommt der Verkehrshaushalt. In
sich die konjunkturelle Situation in den USA entwickelt,
diesen Bereichen wollen Sie auch nicht sparen. Wenn
die ja immer Wachstumsmotor für uns waren und die ein
Sie die Steuermehreinnahmen wirklich nicht wollen,
sehr stark exportgetriebenes Wachstum hatten. Ich sehe
sondern den Staat zurückschneiden wollen, wie Sie das
da mehr Licht als Schatten am Horizont. Dementspre-
ankündigen, dann müssen Sie auch sagen, dass Sie bei
chend bin ich, was die Steuereinnahmen betrifft, auch
den Renten nicht nur keine Steigerungen, sondern tat-
eher zuversichtlich.
sächlich Kürzungen wollen. Um das klar und deutlich zu
Ich will aber auch klar unterstreichen, was der Bun- sagen: Dies findet nicht unsere Zustimmung.
desfinanzminister ausgeführt hat: Wenn wir in Zeiten
(Beifall bei der SPD)
guter Konjunktur zusätzliche Steuereinnahmen erzielen
sollten, müssen wir diese zur Senkung der Neuverschul- Es trifft auch nicht auf unsere Zustimmung, wenn Sie
dung verwenden. das bei den Empfängern von Arbeitslosengeld II versu-
(B) (D)
chen. Um das klar zu sagen: Wir haben dort ein haushal-
(Beifall bei der SPD – Lothar Mark [SPD]:
terisches Risiko. Für das Jahr 2007 haben wir
Ganz genau so muss das sein!)
21,4 Milliarden Euro veranschlagt. Ich hoffe, dass dies
In den vergangenen Jahren haben wir eine antizyklische realistisch ist. Wir werden das im Laufe der Beratungen
Politik betrieben. Ich halte es für richtig, dass man in ei- noch sehen. Ich denke, das ist insbesondere dann realis-
nem Abschwung nicht hinterherspart; das funktioniert tisch, wenn sich der abzeichnete Konjunkturaufschwung
nicht. Da sollte sich der eine oder andere Ökonom ein- nicht nur für die Empfänger von Arbeitslosengeld I, son-
mal an die eigene Nase fassen und bei seinen Modellen dern auch für die Empfänger von Arbeitslosengeld II
nicht so tun, als gäbe es den Faktor Staat nicht. Jetzt ist auswirkt. Dafür ist aber notwendig, dass wir, wie es bei
jedoch der entscheidende Zeitpunkt, um für die zukünf- den Hartz-Reformen angedacht war, nicht nur das For-
tige Finanzentwicklung noch Maßstäbe zu setzen und dern, sondern auch das Fördern betonen.
die Neuverschuldung oder die Privatisierungserlöse zu-
Aus diesem Grund haben wir als Koalition heute
rückzufahren.
Morgen die Sperre beim Eingliederungstitel in Höhe von
Werfen wir noch einen Blick auf die konjunkturelle 230 Millionen Euro aufgehoben, damit die Arbeitsagen-
Situation: Auffällig ist nicht nur der deutliche Anstieg turen vor Ort Planungssicherheit bis zum Ende des Jah-
der Ausrüstungsinvestitionen, sondern auch dass die res haben, um entsprechende Maßnahmen zu bezahlen
Baukonjunktur, die in den letzten Jahren geschwächelt und Menschen wieder in Beschäftigung zu bringen.
hat, Zuwächse zu verzeichnen hat – 2,5 Prozent – und
(Beifall bei der SPD)
erstmals auch der private Konsum, mit 0,5 Prozent. Wir
sind insgesamt auf einem guten Weg. Von daher muss Das geht nur mit beiden Seiten. Ihre Forderung, um
die Finanzpolitik jetzt die unterstützenden Maßnahmen, 3,5 Milliarden Euro zu kürzen – das wäre eine Halbie-
die angekündigt und auch beschlossen worden sind, rung dieses Betrages –, würde dazu führen, dass die
durchsetzen. Leute überhaupt keine Chancen mehr hätten. Von daher
findet das absolut nicht unsere Zustimmung, sondern das
Durchsetzen heißt letztendlich auch Verlässlichkeit
stößt auf unsere entschiedene Ablehnung.
und kein ständiges Hin und Her.
(Roland Claus [DIE LINKE]: Dass Sie ge-
Alle Anträge der FDP zur Aushebelung der Mehr-
sperrt haben, ist doch der Skandal!)
wertsteuererhöhung und zu allen anderen Punkten, die
ich so sicher erwartet habe wie die Tatsache, dass es im Ich komme zu einem weiteren Punkt, der sich in den
Winter schneit, sind meines Erachtens ziemlich kurz- Beratungen zu diesem Haushaltsplan niederschlagen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4401
Carsten Schneider (Erfurt)
(A) wird. Wir müssen uns die Steuerentwicklung natürlich nehmensteuerreform eingehen. Ich unterstütze die Bun- (C)
sehr genau anschauen. Ich möchte aber klar sagen, dass deskanzlerin ausdrücklich und nachhaltig in ihrer Posi-
ich für zusätzliche Ausgabewünsche keinerlei Spiel- tion. Der Auffassung, dass die vorgesehene Reform die
raum sehe. internationale Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh-
men erhält und die Steuersätze angepasst werden müs-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sen, habe ich nichts hinzuzufügen.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Maximalbetrag von 5 Milliarden Euro Entlas-
Ich sage das ganz gezielt auch an die Kabinettskollegen tung, den sie genannt hat, sollte aber nur ein Mittelwert
von Finanzminister Steinbrück. Es kann nicht sein, dass sein. Ich unterstütze dies nachdrücklich, weil ich der
der eine oder andere immer fordert, er müsse mehr spa- Meinung bin, dass wir es uns nicht leisten können, auf
ren, mehr tun und dieses oder jenes finanzieren, während der einen Seite die Vorgaben des Grundgesetzes und des
er den Finanzminister auf der anderen Seite durch die Maastrichtvertrages einzuhalten und die Ausgaben zu
Hintertür mit Forderungen konfrontiert, was dazu führt, deckeln – das unterstütze ich –, aber dann auf der ande-
dass es immer mehr Wünsche nach Mehrausgaben gibt. ren Seite die Einnahmen zu vernachlässigen. Ich finde,
Wir kennen das als Haushälter natürlich. Ich weise dies es ist eine Verpflichtung der Unternehmen, dass sie hier
entschieden zurück. ihre Steuern zahlen. Jeder Art und Weise – Sie haben die
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zinsgeschäfte angesprochen –, die dazu führt, dass hier
erwirtschaftetes Geld nicht hier versteuert wird, muss
Bevor tatsächlich Mehrausgaben gefordert werden, Einhalt geboten werden.
muss klar sein, dass diese sachgerecht sind und sich in
den tatsächlichen Begebenheiten widerspiegeln. Ich (Beifall bei der SPD)
glaube nicht, dass man die Situation nutzen sollte, die ei- Ich möchte, an die FDP gerichtet, mit einem Zitat von
nem die derzeitige politische Diskussion eröffnet. Es Bertolt Brecht
geht nicht, die Zahlen immer gleich zu lassen und nur
die Begründung ab und zu zu ändern. Ich denke, den (Zurufe von der SPD: Hört! Hört! – Bernhard
Eingeweihten ist bekannt, worum es geht. Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: FDP und
Brecht!)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
aus der gerade hier in Berlin aufgeführten „Drei-
Ich möchte noch zu einem weiteren Punkt kommen, groschenoper“ enden, die ziemlich kritisiert wurde. Ich
nämlich dem Bund-Länder-Verhältnis. Wir haben nicht finde die Inszenierung gut; aber darüber lässt sich strei-
nur die Föderalismusreform durch den Bundestag ge- ten. Ich beziehe mich auf die erste Verfilmung der „Drei-
(B) bracht, sondern wir haben in den nächsten Monaten auch groschenoper“ von 1930, in der es heißt: (D)
die Föderalismusreform II vor uns. Ich lege Hoffnung in
dieses Projekt, auch wenn ich weiß, dass es viele Wider- Denn die einen sind im Dunklen
stände geben wird, wenn es hart auf hart kommen und und die anderen sind im Licht.
vor allem ums Geld gehen wird. Ich glaube aber, dass es Und man siehet die im Lichte,
bezüglich der Gesamtrahmenbedingungen, unter denen die im Dunklen sieht man nicht.
wir haushaltswirtschaftlich arbeiten – insbesondere be- Was meine ich wohl damit?
zogen auf die Verschuldungsgrenzen und die Abstim-
mung im Finanzplanungsrat –, Optimierungsmöglich- (Ulrike Flach [FDP]: Das fragen wir uns jetzt
keiten gibt. So wie ich die eine oder andere Debatte auch auch!)
auf der Länderseite sehe, hoffe ich, dass es dort zu einer Ich meine damit Folgendes: Machen Sie wirklich klar,
Einigung kommt. was Ihre Vorschläge zu den Kürzungen im Sozialbereich
Diese Einigung darf nicht daran scheitern, dass wir bedeuten. Es kann nicht sein, dass Sie sich hier hinstel-
uns über solche Sachfragen zerstreiten. Wir müssen ins- len und immer wieder den Steuer- und Abgabenstaat gei-
besondere zu einer stärkeren Koordinierung in der Aus- ßeln. Auf der anderen Seite tun Sie so, als würden Sie
gabenpolitik zwischen dem Bund und den Ländern kom- die Menschen mit sozialen Wohltaten beglücken. Das
men. Darüber hinaus brauchen wir eine Umsetzung des Gegenteil ist der Fall. Sie sind diejenigen, die zur Ero-
europäischen Stabilitätspaktes in nationales Recht, wie sion der Gesellschaft beitragen. Das würde letztendlich
wir das in einem ersten Schritt bei der Aufteilung der dem Wirtschaftsstandort Deutschland schaden.
Sanktionszahlungen zwischen Bund und Ländern im (Dr. Uwe Küster [SPD]: Soziale Kälte! Ganz
Rahmen der Föderalismusreform I bereits getan haben. einfach!)
Ich bin aber ausdrücklich dagegen, dies mit Fragen der
Finanz- und Steuerverteilung zu verknüpfen. Eine sach- Danke sehr.
fremde Debatte nach dem Motto „Was bleibt mir am (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ende übrig?“ halte ich an dieser Stelle für schädlich, der CDU/CSU)
weil sie zu einem Wettbewerbsföderalismus führen
würde. Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Dr. Dietmar Bartsch.
Ich möchte noch kurz auf die bereits vom Kollegen
Poß und vom Kollegen Meister angesprochene Unter- (Beifall bei der LINKEN)
4402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): (Lothar Mark [SPD]: Das ist das Ergebnis der (C)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Koalitionsverhandlungen! Das muss man ein-
Rede des Finanzministers und diese Debatte haben fach so sehen!)
ebenso wie die Worte von Herrn Schneider eindeutig ge- Sie begründen die Mehrwertsteuererhöhung immer
zeigt, dass der Haushalt 2007 die Agenda 2010 plus wieder mit den EU-Stabilitätskriterien und dem Haus-
Angela Merkel ist. Sie als große Koalition haben einige haltsdefizit. Wir alle wissen aber – Herr Meister hat es
Monate von der Hoffnung gelebt, dass jenseits macht- vorhin festgestellt –, dass die EU-Stabilitätskriterien in
politischer Blockaden die Lösung der großen Probleme diesem Jahr eingehalten werden. Das hat – das ist völlig
des Landes angegangen werden kann. Im Haushalt ist richtig – mit dem wirtschaftlichen Aufschwung zu tun.
davon nichts, aber auch gar nichts zu spüren. Die Blo- Den bringt aber niemand ernsthaft mit Ihrer Politik in
ckaden sind deutlich sichtbar. Verbindung. Das ist die Realität.
(Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)
In der Regierungserklärung hat die Bundeskanzlerin Von Ihrer Regierung geht vielmehr Gefahr für den Auf-
erklärt: schwung in Deutschland aus.
Wir müssen uns in jeder Generation neu besinnen, Sie haben die Mehrwertsteuererhöhung damit begrün-
was gerecht und was ungerecht ist. det, dass ein Prozentpunkt davon der Absenkung der
Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zugute kom-
Das haben Sie völlig richtig gesagt. Ich will ausnahms-
men soll. Sie weigern sich aber, zur Kenntnis zu neh-
weise noch einmal die Kanzlerin zitieren:
men, dass der Überschuss der Bundesagentur für Arbeit
Gerecht ist, wenn den Schwachen geholfen wird. in diesem Jahr 9 Milliarden Euro beträgt. Ich stimme mit
Ungerecht ist, wenn sich Starke als Schwache ver- Ihnen überein, dass die Einnahme aus dem 13. Monats-
kleiden und damit die Gemeinschaft ausnutzen. beitrag nicht angetastet werden sollte. Wie finden Sie
aber die Idee, das Vorhaben aus dem erzielten Über-
Da haben Sie etwas völlig Richtiges gesagt. Aber Sie schuss statt aus den Einnahmen der Mehrwertsteuererhö-
handeln ganz anders. hung um einen Prozentpunkt zu finanzieren? Es ist viel-
leicht nicht völlig abwegig, darüber zu diskutieren.
Ihre Maßnahmen gehen zulasten der sozial Schwä-
cheren und der wenig Vermögenden. Gerechtigkeit Beweisen Sie Ihre Lernfähigkeit! Tragen Sie der ver-
sieht anders aus. Wen treffen Sie denn mit der Kürzung änderten Realität Rechnung! Sie wissen doch, dass
des Sparerfreibetrages? Sie treffen eben diejenigen, de- durch die Mehrwertsteuererhöhung die Binnenkaufkraft
(B) nen das Sparen wirklich schwer fällt. Sie nehmen den (D)
abgeschöpft und der wirtschaftliche Aufschwung gefähr-
15 Millionen Pendlern durch die Kürzung der Pauschale det wird. Sie haben feststellen müssen, dass die Politik
richtig Geld weg. Das ist insbesondere für Ostdeutsch- nach dem Motto „Steuersenkung bei Unternehmen
land eine katastrophale Entscheidung. schafft Arbeitsplätze“ gescheitert ist, und zwar seit Jah-
ren.
Sie nehmen 450 000 jungen Erwachsenen durch die
Beschränkung des Kindergeldes bis zum 25. Lebensjahr Kehren Sie um! Steigern Sie die Binnenkaufkraft und
die finanziellen Mittel für ihren Lebensunterhalt. Im verzichten Sie auf die Erhöhung der Mehrwertsteuer!
Kern finanzieren Sie Ihre Steuermehreinnahmen aus Verfahren Sie nicht nach dem untauglichen Motto „Wir
Einnahmen der einfachen Bürgerinnen und Bürger. Sie setzen den einmal als richtig erkannten Weg bis zum
nehmen den sozial Schwächeren. Wenn man dazu noch Ende fort“!
die Erhöhung der Beiträge bei den Krankenkassen und
zur Rentenversicherung rechnet, kann man nur sagen: (Beifall bei der LINKEN)
Das sind katastrophale Entscheidungen. Hinzu kommt, dass Sie zur gleichen Zeit über eine
Unternehmensteuerreform diskutieren, mit der auf
In besonderer Weise trifft das aber auf die fatalste
Steuereinnahmen von bis zu 22 Milliarden Euro verzich-
Entscheidung zu, die Sie getroffen haben: die Erhöhung
tet werden soll. Natürlich handelt es sich dabei um Steu-
der Mehrwertsteuer. Sie weigern sich vor allen Din-
ergeschenke, Herr Poß. Um was denn sonst? Die Idee
gen, Herr Steinbrück, neue Erkenntnisse, die nach dieser
stammt von einem SPD-Minister. Da würde sich man-
Entscheidung sichtbar geworden sind, zur Kenntnis zu
cher Sozialdemokrat im Grabe umdrehen.
nehmen. Ich will Sie alle daran erinnern, dass es noch
kein Jahr her ist – es war im Wahlkampf im vorigen (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Sie haben nichts
Jahr –, als Sie, Herr Steinbrück, und die Kolleginnen und mitgekriegt!)
Kollegen der SPD die Mehrwertsteuererhöhung gegei-
ßelt haben. „Merkelsteuer, das wird teuer!“ lautete Ihr Den Unternehmen, den Vermögenden, den Banken und
Slogan. Er war völlig richtig. Konzernen geben Sie Steuergeschenke und den Men-
schen, die ihre Euros mit schwerer Arbeit verdienen
(Beifall bei der LINKEN) müssen, greifen Sie in die Tasche.
Ich frage mich, ob Ihre heutigen Reden ähnlich glaub- (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg
würdig sind. Ist das so oder haben wir jetzt eine andere [CDU/CSU]: Die Diskussion scheint an Ihnen
Situation? vorbeigegangen zu sein!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4403
Dr. Dietmar Bartsch
(A) Sie wissen doch, dass Rot-Grün mit der Steuerreform alle wissen, dass uns jeder Auslandseinsatz enorm viel (C)
Mindereinnahmen von über 60 Milliarden Euro verur- Geld kostet. Die Bundesregierung hat sich inzwischen
sacht hat. Das hat sich für die Konzerne und ihre Share- angewöhnt, schon „Hier!“ zu rufen, wenn noch niemand
holder gelohnt. Nicht gelohnt hat es sich für die Men- gefragt hat. Das ist eine ganz neue Qualität in Deutsch-
schen; denn gleichzeitig sind viele Arbeitnehmerinnen land.
und Arbeitnehmer entlassen worden. Das kann nicht der
Weg sein. Es geht auch anders. Richten Sie den Blick auf (Beifall bei der LINKEN)
andere Länder, Der Mut verlässt sie aber immer dann, wenn es um
(Zuruf von der CDU/CSU: Kuba!) die Hinterfragung bestimmter vertraglicher Regelungen
geht. Nehmen wir als Beispiel das Raketensystem zur
in denen das Wirtschaftswachstum höher ist und die öf- Panzerabwehr, das über 17 Jahre zu einem Preis von ei-
fentlichen Haushalte besser dastehen! ner halben Milliarde Euro entwickelt wurde. Obwohl
Warum unternehmen Sie keinen ernsthaften Versuch, sich der Preis pro Rakete um das 15fache erhöht hat, er-
die Erbschaftsteuer grundlegend zu reformieren? In füllt das System, von dem die Bundeswehr nach Kritik
den nächsten Jahren werden Billionen vererbt. Warum des Bundesrechnungshofes nicht mehr 30 000, sondern
brauchen wir in Deutschland neue Dynastien, die nichts nur noch 1 000 bestellt hat, längst nicht mehr die Anfor-
mit Leistung zu tun haben? Warum sollen die sozialen derungen. Aber den Steuerzahler kostet nun jeder ein-
Unterschiede in unserem Land weiter vererbt werden? zelne Schuss 1 Million Euro. Bei 1 000 Schuss sind das
Das ist ein großer Fehler. 1 Milliarde Euro. Das ist absurd.

(Beifall bei der LINKEN) Ich rate Ihnen, mehr für Konversion auszugeben. Das
ist eine richtige Entscheidung. Hier müssen wir mehr
Sie haben von Kindern und Enkeln gesprochen, Herr tun, gerade dort, wo Standorte geschlossen werden. Das
Steinbrück. Auch das gehört dazu. Warum werden einige trifft sowohl auf den Osten als auch auf den Westen
so privilegiert? Sie verweisen darauf, dass zunächst die Deutschlands zu. Entsprechende strukturpolitische Maß-
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abzuwar- nahmen sind notwendig. Deswegen werden wir in den
ten ist. Es gibt immer Begründungen, abzuwarten. Sie Etatberatungen vorschlagen, im Rahmen des Einzel-
hätten aber schon lange einen Gesetzentwurf vorlegen plans 14 2 Milliarden Euro zu kürzen, aber 600 Millio-
können, der auch für alle Haushalte 2007 haushaltsrele- nen Euro für die Konversion einzusetzen. Davon soll
vant geworden wäre. auch einiges für zivilen Friedensdienst und Minenräu-
Warum weigern Sie sich, wieder eine Vermögen- mung aufgewendet werden.
steuer einzuführen oder wenigstens darüber zu diskutie- (Beifall bei der LINKEN)
(B) (D)
ren? Es gibt Ministerpräsidenten, die das auch weiterhin
für vernünftig halten. Sie haben nicht im Entferntesten Wir werden als Linke im Zuge der Haushaltsberatun-
den Ansatz beherzigt, dass starke Schultern mehr tragen gen konkrete Einsparungen vorschlagen sowie Vor-
müssen. schläge machen, die einen Richtungswechsel in der Poli-
tik beinhalten. Nehmen Sie unsere Vorschläge ernst!
Über viele Jahre hinweg gab es eine Umverteilung Meine Damen und Herren von der SPD, lassen Sie ins-
von unten nach oben. Was wir nun brauchen, ist eine besondere nicht nur die Vorschläge, die auf weniger
Umverteilung von oben nach unten. Ausgaben abzielen, an sich heran, sondern auch diejeni-
(Beifall bei der LINKEN) gen, die zu Mehreinnahmen führen! Mehr soziale Ge-
rechtigkeit ist möglich. Der vorliegende Haushaltsent-
Wir brauchen eine andere Politik. Denn Sie betreiben wurf zeigt, dass Deutschland seine Möglichkeiten nicht
eine falsche Politik. ausschöpft. Einer Regierung, die große Unternehmen,
Lassen Sie mich – weil Sie immer wieder von Haus- Banken und Konzerne entlastet und es dafür bei den
haltsrisiken und Ähnlichem sprechen – einen Bereich er- kleinen Leuten nimmt, fehlt der Mut, für die Mehrzahl
wähnen, auf den schon eingegangen worden ist, und der Menschen in diesem Lande zu entscheiden,
zwar den Einzelplan 14, Verteidigung. In diesem Etat (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]:
spiegeln sich sehr deutlich die Veränderungen in der Au- Nichts dazugelernt!)
ßenpolitik wider. Frau Merkel hat gleich nach ihrem
Amtsantritt deutlich gemacht, dass sie anders als ihr Vor- genauso wie die Menschlichkeit, zugunsten der Schwä-
gänger eine unkritische Verbündete von Präsident Bush cheren in diesem Land bessere Lösungen zu finden.
sein will. Es gibt keine Distanz zu den Vereinigten Staa-
Wir haben über viele Jahre Erfahrungen mit großen
ten, auch nicht dann, wenn diese auf imperiale Gesten
Koalitionen und ihrer Haushaltspolitik gemacht.
und militärische Abenteuer setzen.
Schauen Sie nach Berlin! Ich nenne nur den Ban-
Für eine soziale und gerechte Politik ist angeblich nie kenskandal als Beispiel. Heute muss eine rot-rote Regie-
Geld vorhanden. Aber Ihre Vorgängerregierungen haben rung das beiseite räumen, was dort angerichtet wurde. In
in den Jahren 1992 bis 2005 für Zusatzaufgaben auf- Mecklenburg-Vorpommern hat die große Koalition, die
grund internationaler Einsätze insgesamt 8,8 Milliarden bis 1998 regierte, das Land in eine völlig inakzeptable
Euro ausgegeben. Wenn es, wie heute früh, um Aus- Verschuldung gebracht. Auch dort muss nun eine rot-
landseinsätze wie im Kongo geht, dann wird sofort rote Regierung aufräumen. Sorgen Sie dafür, dass das
„Hier!“ gerufen. Das sind reale Haushaltsrisiken. Wir auf Bundesebene nicht passiert!
4404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Dietmar Bartsch


(A) Danke schön. (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Das ist (C)
doch schon was!)
(Beifall bei der LINKEN)
Dem stehen über 20 Milliarden Euro Steuermehreinnah-
Vizepräsidentin Petra Pau: men gegenüber. Hinzu kommen Privatisierungserlöse
Das Wort hat die Kollegin Anna Lührmann für die von 2,64 Milliarden Euro. Das heißt, dass Sie die Ein-
Fraktion der Grünen. nahmeseite in viel stärkerem Maße verbessern, als Sie
die Nettokreditaufnahme senken.
Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP])
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege Kampeter – schade, er ist Das heißt unter dem Strich, dass Sie keine Konsoli-
gar nicht da; dann müssen Sie ihm ausrichten, was ich dierungsanstrengungen unternehmen und keine Ausga-
ihm zu sagen habe – und lieber Herr Steinbrück, ich ben kürzen, obwohl wir uns in einer wirtschaftlichen
fand, die Diskussion und die offensichtlichen Meinungs- Lage befinden, angesichts der selbst Keynes gesagt
verschiedenheiten innerhalb der Koalition über die hätte, dass man jetzt den Schuldenberg abbauen muss.
Frage, was man nun mit den wegen der besseren Kon- Das fordere ich von Ihnen im Rahmen der Haushaltsbe-
junktur sprudelnden Steuereinnahmen machen soll, wa- ratungen ein. Wir Grüne werden dazu konkrete Anträge
ren sehr interessant zu beobachten. Sie sprachen ver- stellen. Wir sind gespannt, ob Sie am Ende der Haus-
niedlichend von einem zu verwendenden Löwenanteil. haltsberatungen immer noch sagen, Sie hätten für all die-
Ich möchte Sie noch einmal an den Ernst der Lage erin- jenigen offene Ohren, die Konsolidierungsanstrengun-
nern. Herr Steinbrück, im Haushaltsjahr 2006 haben Sie gen unternehmen.
eine Nettokreditaufnahme in Höhe von 38,5 Milliarden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Euro vorgesehen und dies mit einer Störung des gesamt-
wirtschaftlichen Gleichgewichts begründet. Deshalb
Vizepräsidentin Petra Pau:
sollte es selbstverständlich sein, dass jetzt, wo die Kon-
junktur einigermaßen gut läuft und das Wachstum in die- Das Wort hat der Kollege Georg Fahrenschon für die
sem Jahr sehr wahrscheinlich bei 2 Prozent liegt, die Unionsfraktion.
Steuermehreinnahmen komplett zur Reduzierung der (Beifall bei der CDU/CSU)
Nettokreditaufnahme verwendet werden. Alles andere
wäre unverantwortlich.
Georg Fahrenschon (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
(B) Herren! Eines steht fest: Mit diesem Haushalt, der ange- (D)
Wir reden nicht über einen einigermaßen ausgegliche-
sichts der Übergabeprobleme des Jahres 2005/2006
nen Haushalt und sprudelnde Quellen oder Manna, das
quasi der erste Haushalt ist, den die unionsgeführte Bun-
vom Himmel fällt, sondern über einen Haushalt, der un-
desregierung in eigener Verantwortung auflegt, errei-
ter dem Vorzeichen einer Störung des gesamtwirtschaft-
chen wir etwas, was Rot-Grün in den gesamten letzten
lichen Gleichgewichts aufgestellt wurde. Herr
Jahren nicht geschafft hat.
Steinbrück, bei einem Wirtschaftswachstum in Höhe von
2 Prozent können Sie nicht mehr von einer Störung des (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sprechen. Ich
finde, Ihre Verantwortung gegenüber künftigen Genera- Wir erreichen die Umkehr von stetig steigenden Schul-
tionen besteht darin, nun dafür zu sorgen, dass die Steu- den hin zu einer verantwortungsvollen europa- und ver-
ermehreinnahmen komplett für die Sanierung des Haus- fassungskonformen Haushaltspolitik.
halts und die Senkung der Nettokreditaufnahme Bei allen unterschiedlichen Einschätzungen ist doch
verwendet werden. eines unstrittig: Die zwei wesentlichen Eckpfeiler der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Finanzpolitik, die Regelgrenze des Art. 115 des Grund-
gesetzes und das Maastrichtkriterium, werden erstmals
Ich möchte Sie fragen: Wann ist es denn an der Zeit, seit dem Jahr 2001 mit diesem Haushalt eingehalten. Da-
wenn nicht jetzt in diesem konjunkturellen Umfeld, zu ran können Sie nichts ändern.
sparen und mit der Konsolidierung zu beginnen? Ich
kann mich gut an die Debatten der letzten Jahre erinnern, (Beifall bei der CDU/CSU)
als immer wieder gesagt worden ist, die wirtschaftliche Das ist nicht nur ein wichtiges Signal an Brüssel für die
Lage sei so schlecht und deshalb könne nicht gespart europäische Stabilitätskultur, es ist auch ein wichtiges
werden. Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, wo man Signal an die Bürgerinnen und Bürger im Land;
auf die Konjunktur hoffen kann und wo man mit Blick
auf 2007 mehr Einsparanstrengungen unternehmen (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Genau!)
sollte, als Sie tatsächlich machen.
denn binnen Jahresfrist nach Amtsantritt einer unionsge-
Wenn man sich den Haushalt 2007 anschaut, dann führten Bundesregierung erfüllen wir wieder das, was
sieht er auf dem Papier auf den ersten Blick schön aus. Rot-Grün in mehreren Jahren nicht gelungen ist. Es gilt
Wenn man ihn aber genau anschaut, dann stellt man fest, also: Wenn die Union in der Verantwortung steht, wer-
dass Sie eine Senkung der Nettokreditaufnahme von den die Regeln nicht gebrochen, sondern sie werden
16 Milliarden Euro für 2007 vorschlagen. wieder eingehalten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4405
Georg Fahrenschon
(A) (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C)
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Okay!)
wirklich billig! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Na,
na! – Lothar Mark [SPD]: Was war vor 1998?) Insbesondere im Bereich der Personalausgaben werden
wir weiterhin genau hinschauen
Dass diese Erfolge keine Eintagsfliegen sind, sondern
im Verlauf der Legislaturperiode konsequent fortgesetzt (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr wohl!)
werden, zeigt auch der Finanzplan auf. In den Folgejah- und vor allem nach Effizienzsteigerungen suchen. Ich
ren ist ein stetiger Abbau des Staatsdefizits in Schritten nenne beispielhaft: Bei 52 nachgeordneten Bundesober-
von einem halben Prozent vorgesehen. Damit rückt die behörden und 24 Bundesanstalten muss etwas zu finden
CDU/CSU wieder das Ziel eines ausgeglichenen Haus- sein, sodass wir die Situation des Bundeshaushalts auch
halts in den Mittelpunkt. Wir werden daran weiter arbei- auf der Ausgabeposition noch einmal verbessern.
ten. An der Erreichung dieses Ziels lassen wir uns nach
Abschluss dieser Legislaturperiode messen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN)
Vor allem im Hinblick auf die wichtige Frage der Ge- Die große Koalition setzt in der laufenden Sanierung
nerationengerechtigkeit werden wir sparen, reformieren allerdings auch weiterhin erkennbar politische Akzente.
und investieren; denn mittelfristig eröffnet nur ein aus- Die doppelte Tonlage von Konsolidierung einerseits und
geglichener Haushalt ohne neue Schulden den kommen- Wachstum andererseits wird uns auch im Hinblick auf
den Generationen die Möglichkeiten, in ihrer Zeit Politik den Bundeshaushalt 2007 beschäftigen und leiten; denn
zu gestalten und nicht nur Zins und Tilgung der Vorgän- Konsolidierung und Wachstum bedingen einander. Zu
gerregierung abzuzahlen. sagen, wir würden dem Wachstum durch Einsparungen
(Lothar Mark [SPD]: Das mussten wir nach entgegenwirken, ist eine Mär. Wir legen mit soliden
1998 auch sehr intensiv machen!) Staatsfinanzen die Grundlage für Wachstum und Zu-
kunft.
Doch diese positive Entwicklung darf den Blick nicht
dafür verstellen, dass wir beim aktuellen Bundeshaushalt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
nach wie vor vor schwierigen Herausforderungen ste- der FDP – Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir
hen. Auch wenn das Konsolidierungspaket der großen sind ja keine Keynesianer!)
Koalition im Bundeshaushalt 2007 bereits seine ersten Wir sollten uns auch davor hüten, die Grenzen zwi-
Wirkungen zeigt, ist und bleibt der Bundeshaushalt ein schen der Haushaltspolitik und der Finanzpolitik einer- (D)
(B) Sanierungsfall,
seits und der Kompetenz für die Geldpolitik andererseits
(Beifall der Abg. Ulrike Flach [FDP]) überspringen zu wollen. Wir sollten unsere Aufgabe lö-
sen. Wir sollten die Notenbanker sowohl in der Bundes-
in dem für politische Gestaltung weiterhin zu wenig bank als auch in der Europäischen Zentralbank ihren
finanzieller Spielraum besteht. Wir dürfen nicht verges- Aufgaben nachgehen lassen.
sen: Allein mit den vier Ausgabepositionen Rentenzu-
schuss, Zins und Tilgung, Personal und Arbeitsmarkt- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so-
politik sind bereits knapp drei Viertel des gesamten wie der Abg. Ulrike Flach [FDP])
Volumens des Bundeshaushalts fest gebunden. Vor die- Neben dem Sparen ist es allerdings auch wichtig, dass
sem Hintergrund muss einem klar werden: Die Sanie- wir politische Impulse geben.
rung der Staatsfinanzen ist nach wie vor Topthema auf
der Agenda der Finanz- und Haushaltspolitik. (Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr wahr!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb müssen wir die positive wirtschaftliche Ent-
wicklung auch über konkrete Maßnahmen mit den richti-
An dieser Stelle muss man ausdrücklich auch all de- gen Impulsen unterstützen. Ich möchte zwei Impulspro-
nen widersprechen, die in diversen Interviews und Re- jekte nennen.
den immer wieder betonen, der Bund habe zu wenig Ein-
nahmen. Das ist unserer Auffassung nach nicht der Fall. Erstens. Für den deutschen Mittelstand brauchen wir
eine rasche Neuregelung der betrieblichen Erbschaft-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) steuer. Allein in Bayern stehen in den nächsten fünf
Bei einer Einnahmesteigerung bis zum Jahr 2009 von Jahren mehr als 60 000 Unternehmen zur Übergabe an.
satten 15 Prozent haben wir kein Einnahmeproblem. Wir Deshalb ist es dringend notwendig, dass das Stundungs-
haben ein Ausgabeproblem und daran müssen wir uns modell, auf das wir uns im Koalitionsvertrag geeinigt
messen lassen. An dieser Stelle müssen wir etwas än- haben, auch wirklich zum 1. Januar 2007 in Kraft tritt.
dern. Nur das schafft Sicherheit für Investitionen und für Ar-
beitsplätze. Nur dieses Datum zeigt auch, dass die Si-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und cherheit bezogen auf Grundgesetzkonformität und den
der FDP) Europäischen Stabilitätspakt in konkreter Politik fortbe-
steht.
Deshalb werden wir im Zuge der Haushaltsberatun-
gen alle Ausgabenpositionen kritisch prüfen. (Beifall bei der CDU/CSU)
4406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Georg Fahrenschon
(A) Die Menschen müssen darauf vertrauen können, dass Die gute Nachricht lautet deshalb: Mit dem Haus- (C)
wir zu unserem Wort und zu unserer Programmatik ste- halt 2007 schaffen wir die Abkehr von einer Politik der
hen. überbordenden Verschuldung. Die Spielräume bleiben
jedoch weiterhin äußerst eng, sodass der Konsolidie-
Zweitens. Ein ganz anderer, aber für den Finanzmarkt rungsdruck hoch bleibt. Für die CDU/CSU ist aller-
Deutschland ebenso wichtiger Bereich ist die Einfüh- dings auch klar: Für einen echten Schuldenabbau müs-
rung von REITs. Das ist ein zentraler Punkt, den wir ab- sen neue Schulden ganz vermieden werden.
arbeiten müssen.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig! –
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Weltweit gibt es mittlerweile in rund 20 Staaten solche Oh!)
Konstruktionen, darunter in den Beneluxstaaten und in
Frankreich. Die Einführung britischer REITs wird noch Das heißt, wir brauchen ausgeglichene Haushalte bzw.
in diesem Jahr erfolgen. Damit müssen wir zur Kenntnis wir müssen in den Haushalten Überschüsse erzielen, um
nehmen: Dieses Finanzmarktinstrument hat sich zu ei- die Staatsverschuldung abzubauen.
nem internationalen Standardprodukt für die indirekte (Beifall des Abg. Steffen Kampeter [CDU/
Immobilienanlage entwickelt. Der Finanzplatz Deutsch- CSU] – Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE
land kann es sich einfach nicht leisten, auf dieses Instru- GRÜNEN]: Wann soll das sein? – Ulrike
ment zu verzichten. Flach [FDP]: In allen?)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dieser Schritt ist weitaus schwieriger. Doch die CDU/
Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir setzen auf CSU wird ihn gehen. Wir lassen uns an dieser Heraus-
den Bundesfinanzminister!) forderung messen.
Lieber Herr Finanzminister, es kann daher nicht sein, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
dass der Gesetzentwurf quasi fertig in den Schubladen
des Finanzministeriums liegt und Staub ansetzt, nur weil (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
wir weiterhin auf eine kleine Gruppe ständiger Be- neten der FDP)
denkenträger Rücksicht nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Vizepräsidentin Petra Pau:
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Ulrike Flach
Ich will schon die Gelegenheit nutzen, Folgendes zu das Wort.
sagen: Ich glaube, dass die Einführung von REITs die
(B) Nagelprobe für die Finanzmarktpolitik der großen Koali- (Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter (D)
tion ist. Ich fordere Sie auf: Bringen Sie diesen Gesetz- [CDU/CSU]: Jetzt müssen wir uns warm an-
entwurf ein! Lassen Sie uns die parlamentarische Dis- ziehen!)
kussion über dieses Instrument starten und verzögern Sie
die Debatte nicht!
Ulrike Flach (FDP):
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ja. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle-
neten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Ihr gen! Wer dem Finanzminister oder auch dem Kollegen
Koalitionspartner ist die SPD-Fraktion! Das Kampeter zugehört hat, hat den Eindruck gewonnen:
müssen Sie mal zur Kenntnis nehmen! – Wir haben es hier mit einem Haushalt zu tun, mit dem
Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie müssen noch viel man auf dem richtigen Weg ist, der solide und konzis
lernen!) durchorganisiert ist.
Bezogen auf den Haushalt treibt die Union eine politi- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Kann ich das noch
sche Überzeugung und, wenn Sie so wollen, auch eine mal hören? – Steffen Kampeter [CDU/CSU]:
moralische Verantwortung an. So vernünftig hat die Kollegin Flach seit lan-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr wahr!) gem nicht hier vorgetragen!)

Insbesondere unter Berücksichtigung des Gebots der Es wird Sie nicht weiter erstaunen, dass die FDP genau
Nachhaltigkeit darf die heutige Generation nicht dauer- an dieser Stelle diametral anderer Meinung ist als Sie.
haft mehr verbrauchen, als sie leistet. Gegenwartskon- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
sum oder Zukunftsinvestitionen, das ist die entschei- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
dende Frage. Für uns, für die CDU/CSU, ist die Antwort
klar: Wir wollen die Gegenwartsinteressen nicht länger Uns liegt hiermit eine Kopie früherer verfassungswid-
höher bewerten als die Zukunftsinteressen. riger Haushalt von Rot-Grün vor; der einzige Unter-
schied ist, dass Sie an der Stelle, wo Sie sagen, der Haus-
Wir haben im ersten Jahr der Regierungsverantwor- halt sei jetzt plötzlich verfassungsgemäß, schonungslos
tung die Aufgabe angepackt und einen beachtlichen Teil beim Bürger abkassieren, und zwar in einem Maße, wie
erreicht. Die Nettokreditaufnahme wird dauerhaft unter wir es in der Vergangenheit noch nie erlebt haben.
die Regelgrenze der Verfassung gedrückt. Das
Maastrichtkriterium wird deutlich und im Zeitablauf zu- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Das
nehmend unterschritten. stimmt aber nicht!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4407
Ulrike Flach
(A) Herr Poß, für jemanden, der die Diskussionen vor ein (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und (C)
paar Jahren miterlebt hat, ist es schon ein bisschen merk- der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE
würdig, festzustellen, mit welcher Leidenschaft Sie sonst GRÜNEN])
eigentlich immer das Gegenteil von dem erzählt haben,
was Sie gerade gesagt haben. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie in Ihrer
Rede darzulegen versucht haben.
(Jürgen Koppelin [FDP]: Ja! – Joachim Poß
In der mittelfristigen Finanzplanung setzt sich diese
[SPD]: Worauf beziehen Sie das? – Gegenruf
finanzielle Fehlentwicklung noch fort. Es besteht ein
des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]: Auf die
eklatantes Missverhältnis zwischen Schuldenrückgang
Mehrwertsteuer! – Gegenruf des Abg. Joachim
und Steuereinnahmen. Frau Kollegin Hajduk hat eben zu
Poß [SPD]: Da habe ich sehr differenziert ar-
Recht darauf hingewiesen. Im Zeitraum von 2007 bis
gumentiert!)
2010 soll die Neuverschuldung nur um 1,5 Milliarden
Offensichtlich – um an das anzuknüpfen, was wir eben Euro sinken, nämlich von 22 auf 20,5 Milliarden Euro,
schon hatten – prägt das Sein das Dasein. aber nicht darunter, wie Sie, Herr Kampeter, uns das
eben weiszumachen versucht haben.
Herr Poß, Sie haben heute genau das Gegenteil von
dem geäußert, was Sie vor einem Jahr gesagt haben. Da- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und des
mals haben Sie entschieden dagegen gesprochen, einen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Georg
Haushalt über die Einnahmeseite zu sanieren. Heute Fahrenschon [CDU/CSU]: Wir sind am An-
sind Sie auf der Seite der CDU/CSU. Das erstaunt uns. fang der Beratung! – Steffen Kampeter [CDU/
Ich denke nicht, dass die Bürger Ihnen das positiv quit- CSU]: Unterschätzen Sie uns nicht!)
tieren. Die Steuereinnahmen steigen aber um 16,6 Milliarden
(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Euro. Das ist doch ein Ungleichgewicht!
Machen Sie sich da keine Sorgen! Gucken Sie (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
sich meine Wahlergebnisse an, Frau Flach!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Dieser Haushalt atmet die Mutlosigkeit einer großen Das Ziel eines ausgeglichenen Haushaltes hat die
Koalition. Sie konsolidieren über die Einnahmeseite. Bundesregierung vollends aus den Augen verloren. Die
Herr Steinbrück, schon zum zweiten Mal – Sie sind nun Schuldenlast, die unsere Kinder und Enkel zu tragen ha-
zum zweiten Mal dabei – machen Sie den Fehler, die ben, steigt weiter an.
Ausgabenseite bei der Konsolidierung zum größten
(B) Teil außen vor zu lassen. Der Investitionsverfall findet in der mittelfristigen (D)
Finanzplanung seine Fortsetzung. Die Investitionsquote
Meine Damen und Herren, Sie haben obendrein Risi- sinkt, Herr Steinbrück, und zwar von 8,8 Prozent auf
ken im Haushalt. Ich bin froh darüber, dass Herr 8,4 Prozent im Jahre 2010. Sie haben eben nicht die
Fahrenschon das eben so deutlich gesagt hat. Diese Risi- Chance genutzt, drastische Einsparungen vorzunehmen,
ken betreffen nicht nur den Zinsbereich, den Sie, Herr wie Herr Kampeter sie eigentlich jeden Tag über die Me-
Poß, eben angeführt haben, sondern natürlich vor allem dien von Ihnen fordert. Ich bin erstaunt, Herr Kampeter,
den Arbeitsmarktbereich. Das bleibt trotz der Bele- wie wenig Sie sich in den Klausurtagungen der letzten
bung so. Tage durchgesetzt haben. Er hat doch eben erklärt, er sei
offen für positive Vorschläge. Aber Sie fordern gestern
Im letzten Jahr musste der Bund 3,6 Milliarden Euro
wiederum Einsparungen von rund 7 Milliarden Euro.
für Unterkunft und Heizung von Hartz-IV-Empfängern
an die Kommunen zahlen. Für 2007 setzen Sie nur (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wo habe ich das
2 Milliarden Euro an, Herr Steinbrück. Die Kommunen denn gestern gefordert, Frau Kollegin?)
selbst rechnen mit 5,5 Milliarden Euro. Da frage ich
mich wirklich, inwiefern hier eine solide Haushaltsfüh- Sie können sicher sein: Die Haushälter der FDP werden
rung erfolgt, wie Sie sie uns eigentlich in jedem Satz Sie in den nächsten Wochen jeden Tag daran erinnern.
vorzumachen versuchen. (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herr Schneider hält die Rückführung der Netto-
kreditaufnahme für nicht ambitioniert genug. Jetzt ist
Sie selbst haben gesagt: Konsolidierung kann man
er gerade nicht mehr da; deswegen können wir ihn nicht
nur in Zeiten betreiben, in denen sich die Konjunktur
noch einmal fragen.
verbessert, nicht in der Krise. Konsolidierung – das ist
die Meinung der FDP – darf aber nicht nur auf der Ein- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Schneider
nahmeseite, sondern muss auch auf der Ausgabenseite kommt aus dem Hintergrund!)
stattfinden.
Er hat uns aber gesagt, wenn die Wirtschaft wächst und
Ich sage noch einmal das, was Kollege Koppelin eben die Steuereinnahmen steigen, dann muss der Staat bei
dargelegt hat. Die Ausgaben in Ihrem Haushalt steigen seinen Ausgaben sparen und weniger Kredite aufneh-
von 261,6 auf 267,6 Milliarden Euro. Das ist ein Plus men. Der Präsident des Bundes der Steuerzahler hat Ih-
von 2,3 Prozent. nen vorgerechnet,
4408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Ulrike Flach
(A) (Joachim Poß [SPD]: Oh! Das ist aber eine Investitionen wird unverändert fortgeführt, Herr Kollege (C)
seriöse Quelle!) Koppelin. Wir setzen damit auch unsere Bemühungen
fort, den Staatshaushalt zu konsolidieren.
dass es bei der von Ihnen geplanten Rückführung der
Nettokreditaufnahme von 500 Millionen Euro per an- Ich will etwas zu den Anmerkungen und Hinweisen
num erst im Jahre 2050 einen Bundeshaushalt ohne Neu- zum Schuldenmachen sagen. Da sollten wir uns alle ein
verschuldung gäbe. Liebe Damen und Herren, selbst wenig zurücknehmen. Wir waren alle dabei, als es da-
Frau Lührmann wird dann nicht mehr in diesem Bundes- rum ging, Ausgaben, die nicht durch Einnahmen gedeckt
tag sitzen. werden konnten, durch entsprechende Nettokreditauf-
nahmen auszugleichen. Die Freien Demokraten waren,
Ich denke, das ist weder konzis noch solide, Herr
glaube ich, am längsten dabei, wenn es darum ging, auf
Steinbrück. Wir fordern von Ihnen, dass Sie an dieser
diese Weise zum Ausgleich des Haushaltes beizutragen.
Stelle nachsteuern, wie Sie es uns noch vor Jahren mit
Herrn Koch vorgemacht haben. Wo ist denn das wirklich (Ulrike Flach [FDP]: Deswegen drängen wir
ambitionierte Subventionssparprogramm, das Sie uns jetzt ja auch so!)
damals vorgelegt haben? Das erkennen wir weder im
Haushalt 2006 noch im Haushalt 2007. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Rahmenbedin-
gungen sind in den letzten Monaten besser geworden.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie haben halt Das scheint dem einen oder anderen nicht zu gefallen.
Erkenntnisdefizite, Frau Kollegin!) Wer sich an die Ausführungen bei der Verabschiedung
Die Höhe der Subventionen beträgt laut Bericht des des Haushaltes 2006 erinnert, weiß, dass damals an der
Kieler Institutes 145 Milliarden Euro und genau um die einen oder anderen Stelle von der Opposition etwas ge-
geht es. Genau um die werden wir in den nächsten Tagen äußert worden ist, was Gott sei Dank nicht eingetreten
kämpfen. ist.

(Joachim Poß [SPD]: Sie sind doch, wenn es Ich will aber auch nicht verhehlen, dass trotz dieser
konkret wird, der Schutzengel! – Steffen verbesserten Rahmenbedingungen die Haushaltslage
Kampeter [CDU/CSU]: Die strukturkonserva- nach wie vor sehr ernst ist. Wir können gegenüber dem
tive FDP!) Jahr 2006 zwar eine Reduzierung der Nettokreditauf-
nahme vorweisen; sie beträgt aber immer noch 22 Mil-
– Wir sind die Schutzengel derjenigen, die diese Subven- liarden Euro. Mit dieser Nettokreditaufnahme werden al-
tionen nicht wollen, Herr Poß. lerdings die Ziele erreicht, die sich der Finanzminister
(Joachim Poß [SPD]: Sie sind der Schutzengel schon im Haushalt 2006 vorgenommen hat. Wir werden
von Steuersubventionen! Lesen Sie einmal die also bei den Investitionen erstmals wieder oberhalb der
(B) (D)
Reden nach, die Sie hier gehalten haben!) Nettokreditaufnahme liegen und werden auch die
Maastrichtkriterien einhalten.
Sie werden es jeden Tag erleben: Wir werden Ihnen, an-
gefangen bei Kollegen Glos bis hin zu Kollegen Gabriel, Wenn die FDP immer davon spricht – manchmal viel-
vorrechnen, an welcher Stelle diese Subventionen zu leicht auch wider besseres Wissen –, auf der Ausgaben-
kürzen sind, und damit sicherlich auch die Frage beant- seite alles auf den Prüfstand zu stellen, dann, glaube ich,
worten, wo die Milliarden herkommen, die die FDP zur weiß sie auch, dass es dort nur sehr eingegrenzte Mög-
Sanierung des Haushaltes braucht. lichkeiten gibt. Selbst wenn Ihre Sparvorschläge in der
Größenordnung von 8 Milliarden Euro, für die ja dann
Herzlichen Dank. auch in bestehende Verträge und rechtskräftige Be-
(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anja Hajduk scheide eingegriffen werden müsste, im Haushalt 2007
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) berücksichtigt werden könnten, läge das Defizit immer
noch in einer Größenordnung, die uns letztendlich dazu
veranlassen würde, weitere Schritte zu unternehmen, die
Vizepräsidentin Petra Pau: sich auf der Einnahmeseite in 2006 und 2007 positiv
Das Wort hat der Kollege Bernhard Brinkmann für auswirken.
die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es sollte
eine gemeinsame Aufgabe dieses Hauses sein, in den
Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD):
nächsten Jahren darauf hinzuwirken, dass die Nettokre-
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ditaufnahme sinkt und dass wir zu einem ausgegliche-
Wenn man nach der Einbringung des Bundeshaushalts
nen Haushalt kommen. Das ist natürlich nicht von uns
2007 ziemlich zum Schluss der Debatte an die Reihe
allein zu schaffen. Vielmehr ist das auch von vielen Ein-
kommt, dann hat man es einerseits etwas leichter, ande-
wirkungen, die von außen auf uns zukommen können,
rerseits aber auch etwas schwerer, weil die Zeit vielleicht
abhängig. Ich will an die Steigerung bei den Energieprei-
nicht ausreicht, um das richtigzustellen, was an der einen
sen und auch an die unsichere Lage im Nahen Osten, die
oder anderen Ecke ganz einfach falsch oder auch etwas
letztendlich Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben
nebulös dargestellt worden ist.
könnte, erinnern. Das schlägt dann auch auf uns zurück.
Meine Damen und Herren, der Dreiklang Konsolidie-
Ich möchte einen Vorschlag machen, dessen wir uns
rung, strukturelle Reformen und
in den nächsten Wochen und Monaten im Rechnungs-
(Jürgen Koppelin [FDP]: Abkassieren!) prüfungsausschuss durchaus ohne Vorurteile annehmen
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4409
Bernhard Brinkmann (Hildesheim)
(A) sollten. Es gibt in der Schweiz ein Modell, das über eine am Donnerstag hier in diesem Hause einstimmig er- (C)
Regelung, die mit dem Art. 115 in unserer Verfassung folgte.
vergleichbar ist, die Neuverschuldung und die weitere
Aufnahme von Krediten eingrenzt. Man kann das natür- Lassen Sie mich zum Schluss zum Bundeshaushalt
lich nicht eins zu eins umsetzen, weil wir ja nicht die 2007 Folgendes sagen: Wie bei der Beratung des Bun-
deshaushaltes 2006 erwarten wir natürlich in den kom-
Schweiz sind und weil von der Schweiz bestimmte Son-
menden Wochen und Monaten Vorschläge, die sich auf
derlasten – etwa wenn es um die Kosten der deutschen
den Bundeshaushalt 2007 auswirken, allerdings keine
Einheit geht – nicht zu tragen sind.
Vorschläge, die dann vielleicht wieder in einem dicken
Am Donnerstag soll ohne Debatte die Entlastung der Buch der Freien Demokraten als nicht darstellbare Ein-
Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2004 be- sparvorschläge landen werden.
schlossen werden. Der Rechnungsprüfungsausschuss hat In diesem Sinne herzlichen Dank für Ihre Aufmerk-
in acht Sitzungen ausführlich über den Haushaltsvoll- samkeit. Wir beraten den Haushalt in den nächsten Wo-
zug 2004 und die dazu ergangenen Bemerkungen 2005 chen und Monaten, wie ich es hier dargestellt habe.
des Bundesrechnungshofes beraten. Wie die Berichte in
den Vorjahren zeigen auch die Bemerkungen 2005, dass (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
betriebswirtschaftliches Denken und Handeln immer
noch nicht flächendeckend das exekutive Handeln be- Vizepräsidentin Petra Pau:
stimmt. Nach den Berechnungen des Bundesrech- Für die Unionsfraktion hat der Kollege Fromme das
nungshofes belaufen sich die einmaligen Ausgabemin- Wort.
derungen und Einnahmesteigerungen, die in den
87 Bemerkungen beschrieben werden, auf mehrere Mil-
liarden Euro. Wegen der nur ausschnittsweisen Prüfung Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU):
des Haushaltes müssen wir davon ausgehen, dass die tat- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sächlichen Spar- und Einnahmemöglichkeiten im Bund Wir beraten über einen Haushalt, der auch anders ausse-
und sicherlich auch in den Ländern noch um einiges hö- hen könnte; das würden wir uns wünschen. Aber er ist
her sein dürften. den Realitäten angepasst.
Lieber Kollege Koppelin, wenn Sie keine Linie er-
Ein fachlicher Schwerpunkt des Bundesrechnungsho-
kennen können, dann sollten Sie sich einmal eine neue
fes in den Bemerkungen 2005 war mit Blick auf die Ver-
Brille zulegen. Dann werden Sie vielleicht eher erken-
handlungen in der gemeinsamen Kommission zur
nen, was wir wollen.
Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung die Auf-
(B) gaben- und Finanzverteilung zwischen Bund und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (D)
Ländern. Der Hof kritisierte die Vielzahl von Verant-
wortlichkeiten, die unklaren Aufgabenverteilungen, die Sie trommeln immer wieder auf der Mehrwertsteuer-
komplizierten Entscheidungen und den Ressourcenver- frage herum.
brauch. Mit der von Bundestag und Bundesrat beschlos- (Zuruf von der LINKEN: Zu Recht!)
senen, letzte Woche in Kraft getretenen Föderalismus-
reform ist die dringend notwendige Entflechtung der Wahr ist doch, dass Sie vor der Wahl, als Sie noch glaub-
Bund-Länder-Beziehungen in Angriff genommen wor- ten, mit uns eine Regierung bilden zu können, gesagt ha-
den. Es muss jetzt auch die zweite Stufe, die Reform ben, an der Mehrwertsteuererhöhung, die wir ange-
der Finanzbeziehungen, zügig folgen. kündigt hatten, würde eine Koalition nicht scheitern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Prüfungen des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Bundesrechnungshofes zeigen, dass es zu Fehlern quer Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt einfach
durch alle Ministerien gekommen ist, es aber keine Kon- nicht!)
zentration von Defiziten, Nachlässigkeiten und fehlen- – Sie sollten die Wahrheit zur Kenntnis nehmen.
der Personalaufsicht und -führung in einzelnen Häusern
gibt. Wichtig ist mir auch, festzuhalten, dass die Fehler- Die Wirkung der Mehrwertsteuererhöhung ist in der
beschreibungen des Hofes nicht verallgemeinert und auf Wissenschaft sehr unterschiedlich beurteilt worden. Wir
die gesamte Verwaltung übertragen werden dürfen. Die sehen doch heute, wie die Realitäten sind. Es geht um
Bundesverwaltung arbeitet insgesamt, im internationa- die Stimmung. Wirtschaft, wirtschaftliche Entwicklung
len Vergleich und nach Einschätzung des Bundesrech- hat etwas mit Stimmung zu tun. Der private Konsum
nungshofes, durchaus gut. – das ist das, woran es in unserer Volkswirtschaft jahre-
lang gemangelt hat – steigt.
Wie in der Vergangenheit konnten über weite Berei-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut!)
che einvernehmliche Beschlüsse gefasst werden – dafür
bin ich sehr dankbar –, denen immer ausgiebige und Entgegen allen Unkenrufen steigt er. Wir haben es ge-
durchaus sehr kritische Beratungen der jeweiligen Be- schafft – das ist doch klar –, die Abwärtsspirale umzu-
richterstatter mit den Ministerien und dem Bundesrech- drehen. Der Trend zu immer weniger Arbeitsplätzen, im-
nungshof vorausgingen. Ich bin davon überzeugt, dass mer weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigten,
wir mit Ihnen sachgerechte Antworten gefunden haben. immer mehr Arbeitslosen, immer weniger Einnahmen
Ich würde mich daher sehr freuen, wenn die Entlastung aus Steuern und Sozialabgaben und immer höheren
4410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Jochen-Konrad Fromme
(A) Ausgaben für die Sozialsysteme ist umgedreht worden. beschert haben. Das wollen wir einmal wirklich deutlich (C)
Es geht aufwärts. machen.
Wir wissen: Nichts ist so gut, dass es nicht besser sein Wir haben einen Paradigmenwechsel in der Haus-
kann. Aber man muss doch erst einmal über das reden, haltspolitik herbeigeführt. Ich nenne nur ein einziges
was man erreicht hat. Wir haben fünf Jahre lang wie das Beispiel, den Primärsaldo. Kein Mensch nimmt davon
Kaninchen auf die Schlange gestarrt, wenn die Arbeits- Kenntnis, dass wir erstmals seit Jahren weniger ausge-
marktdaten veröffentlicht wurden. Jetzt sind sie positiv ben, als wir einnehmen. Das ist nicht das Ziel, das wir
– plus 130 000 sozialversicherungspflichtig Beschäf- erreichen möchten, aber es ist ein wichtiger Zwischen-
tigte, fast 500 000 weniger Arbeitslose – und kein schritt.
Mensch redet darüber. Wenn wir über das Gute nicht
auch reden, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
wenn sich die Stimmung nicht verbessert. Das ist doch Woran liegt das?)
das Geheimnis. – Das liegt daran, dass wir das Klima für das Wirtschaf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten verbessert haben.
der SPD) (Ulrike Flach [FDP]: Ach was! – Jürgen
Deswegen müssen wir hier vorwärts gehen. Koppelin [FDP]: Erhöhung der Mehrwert-
steuer! Ja klar!)
Frau Kollegin Hajduk, Sie haben sich in Polemik ge-
gen den Finanzminister erschöpft. Das heißt, Sie haben – Ich komme auf das Sparen gleich noch zurück; keine
keine Vorschläge; sonst hätten Sie etwas Inhaltliches ge- Angst.
sagt, statt nur über Personen zu reden. Sie sollten einmal
Primärsaldo heißt ja, dass man unter Absehen von der
anerkennen, dass es bei der Bundesagentur Erfolge gibt.
Vergangenheit schaut: Gebe ich in diesem Jahr mehr aus
Natürlich ist ein Drittel der Überschüsse auf die
oder gebe ich weniger aus? Auch für den Staat gilt der
13. Zahlung der Sozialbeiträge zurückzuführen. Aber
alte Grundsatz: Niemand kann auf Dauer mehr ausge-
ein Drittel der Ersparnisse beruhen darauf, dass uns Effi-
ben, als er einnimmt. Also muss man dieses Ziel errei-
zienzsteigerungen gelungen sind.
chen. In diesem Jahr haben wir erstmals seit Jahren, wie
(Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: gesagt, einen positiven Primärsaldo. Diesen Saldo haben
Ja, durch unsere Reformen!) wir in diesem Haushalt im Vergleich zum letzten um
15 Milliarden Euro verbessert.
Ein Drittel beruht darauf, dass wir den Maßnahmenkata-
(B) log verändert haben. Im zweiten Schritt muss man dazu kommen, dass man (D)
den Primärüberschuss so weit erhöht, dass man die aus
Ich sage Ihnen: Wenn es eine dauerhafte Entlastung der Vergangenheit stammenden Zinslasten tragen kann,
gibt, dann werden wir dafür sorgen, dass diese dauer- und im dritten Schritt muss man den Primärüberschuss
hafte Entlastung zu Beitragssenkungen führt. Das ist so weit entwickeln, dass man die Schulden zurückzahlen
das Geld der Beitragszahler. Deswegen muss es in einem kann. Auf diesem Weg haben wir die Wende geschafft
geschlossenen Kreislauf bleiben. All das, was da mög- und einen ersten Schritt getan. Darauf kommt es an.
lich ist, werden wir tun. Wir müssen uns natürlich nur
anschauen, ob die Entlastung auch wirklich dauerhaft ist. Ferner kommt es darauf an, dass wir zwei Dinge
gleichzeitig tun: den Haushalt sanieren, weil nur geord-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nete öffentliche Finanzen den Hintergrund für eine ver-
Wenn es nach dem gegangen wäre, was Sie während nünftige wirtschaftliche Entwicklung abgeben, und die
Ihrer Regierungsverantwortung geplant haben, wären Konsumkraft fördern. Wenn die „Financial Times“ von
wir schon längst bei einer Nettoneuverschuldung von „Merkels Aufschwung“ spricht, dann zeigt das ganz ein-
null. Nur, solche Ansagen auf Papier nützen uns nichts. deutig: Es ist auch eine Frage der Politik und der Stim-
Wir betrachten die Dinge realistisch und versuchen, in mung. Wir lassen uns von unserer Ansicht nicht abbrin-
kleinen Schritten zumindest das zu erreichen, dem Sie gen, dass in dieser Hinsicht etwas geschehen ist.
immer hinterhergerannt sind. (Beifall bei der CDU/CSU – Anja Hajduk
Dass die PDS unsere Leitlinien nicht versteht, dass sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Stim-
überhaupt nicht begriffen hat, dass all das, was wir ma- mung war ja bei Ihnen im Sommer ziemlich
chen, dazu dient, das Hauptproblem zu lösen, nämlich schlecht!)
für mehr Arbeitsplätze zu sorgen, ist klar. Natürlich dürfen wir in unseren Anstrengungen über-
(Beifall bei der CDU/CSU) haupt nicht nachlassen. Dies sage ich insbesondere auch
an die Adresse der Fachkollegen, denen ja immer viel
Es tut mir Leid: Sie haben offensichtlich aus den Erfah- einfällt, wenn die Haushaltslage etwas besser wird. Wir
rungen mit der Staatswirtschaft überhaupt nichts gelernt. müssen weiter sparen. In dieser Frage haben wir – das
Da Sie sich gegen alles wenden und sagen: „Nichts darf will ich gar nicht verhehlen – in der Koalition unter-
privatisiert, nichts darf verändert werden“, frage ich schiedliche Grundauffassungen. Der Finanzminister re-
mich schon, welche Erfahrungen uns nach dem Krieg det ständig davon, dass wir ein Einnahmeproblem ha-
die ersten 40 Jahre im östlichen Teil unseres Vaterlandes ben; ich dagegen sage: Wir haben ein Ausgabeproblem.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4411
Jochen-Konrad Fromme
(A) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie so lange gibt es noch zu viel Personal, und deswegen (C)
der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE werden wir in dieser Beziehung nicht nachlassen.
GRÜNEN])
Die Arbeitszeitverlängerung haben wir relativ schnell
Da müssen wir ansetzen und da wollen wir auch anset- umgesetzt, aber nicht alle strukturpolitischen Aufgaben
zen. Im Zeitraum der Finanzplanung werden die Steuer- kann man in einem Jahr lösen. Das heißt aber nicht, dass
einnahmen um 19 Prozent steigen; deswegen kann man wir diesbezüglich nachlassen; vielmehr müssen wir sol-
überhaupt nicht davon reden, dass wir nur ein Einnah- che Fragen über einen längeren Zeitraum angehen, aber
meproblem hätten. auf jeden Fall werden sie gelöst.
Nichts darf außen vor bleiben. Als Erstes müssen wir Ich bin auf die Haushaltsberatungen 2007 sehr ge-
da sparen, wo es dem Bürger am wenigsten weh tut, bei spannt; denn bei dieser Debatte hat sich eines gezeigt: Es
den Verwaltungskosten. Ich bekenne mich dazu, dass ist wie beim Streit über den Haushalt 2006, jeder findet
ich in der Arbeitsgruppe vorgetragen habe, dass wir das alles falsch, aber wenn es um konstruktive Vorschläge
Thema Bonn/Berlin noch einmal auf den Prüfstand geht, kommt nichts. Auch die Sparbücher der FDP wa-
stellen. ren keine wirklichen Sparbücher, weil sie nichts auf die
hohe Kante gelegt hat. Etwas auf die hohe Kante legen,
(Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und das verstehe ich unter Sparen. Sie haben dicke Papiere
der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE vorgelegt, aber leider konnten wir damit nichts anfan-
GRÜNEN]) gen.
Wenn uns das Finanzministerium in einer sehr vorsichti- (Jürgen Koppelin [FDP]: Da waren 60 Anträge
gen Schätzung mitteilt, dass sich im letzten Haushalts- von euch dabei!)
jahr Mehrkosten in Höhe von 350 000 Euro aufgrund der
Teilung des Regierungssitzes zwischen Bonn und Berlin Ich freue mich auf eine muntere Beratung und hoffe,
ergeben haben, müssen wir hinschauen. Wir werden uns dass uns viele gute Vorschläge gemacht werden, die wir
die Entwicklung für jedes Haus angucken. Es ist doch vielleicht übernehmen können.
ein Unding, dass der Pendelverkehr 16 000 Flüge im
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Jahr ausmacht. Deshalb werden wir uns dieses an-
schauen.
Vizepräsidentin Petra Pau:
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- Als letzter Redner in dieser Debatte hat der Kollege
wie des Abg. Detlef Dzembritzki [SPD], des Jörg-Otto Spiller für die SPD-Fraktion das Wort.
Abg. Jürgen Koppelin [FDP] und der Abg.
(B) Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D)
Jörg-Otto Spiller (SPD):
Ich weiß natürlich, dass es ein Bonn/Berlin-Gesetz gibt. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir füh-
Aber wir ändern jeden Tag Gesetze, um sie der Entwick- ren diese Haushaltsdebatte vor dem Hintergrund sehr er-
lung anzupassen. Der Stadt Bonn ist es ja – wie die freulicher ökonomischer Rahmenbedingungen. Die Bun-
Oberbürgermeisterin selber erklärt hat – nach dem Re- desbank schreibt in ihrem jüngsten Monatsbericht:
gierungsumzug nicht schlecht ergangen. Die Prognosen,
die man seinerzeit hören konnte, sind nicht eingetreten. Die konjunkturelle Aufwärtsbewegung der deut-
Weil das so ist, können wir das überprüfen. Ich bin dafür, schen Wirtschaft hat im bisherigen Jahresverlauf er-
dass wir dies auch tun. heblich an Kraft gewonnen.

Wir werden ebenfalls in der Frage des Personal- Auf Jahresrate hochgerechnet beträgt das reale Wachs-
abbaus hart bleiben. Wir streiten uns innerhalb der tum des Sozialprodukts im ersten Halbjahr rund zwei-
Koalition ja nicht darüber, dass wir Verwaltung abbauen einhalb Prozent. Die meisten wirtschaftswissenschaftli-
wollen; es geht nur um den richtigen Weg. Ich sage: Da, chen Institute kommen zu einer ähnlichen Einschätzung.
wo Personal ist, finden sich auch Aufgaben. Deswegen Es ist eine deutliche Belebung der Wirtschaftstätigkeit
muss man den Umkehrschluss ziehen und Personal ab- in Deutschland zustande gekommen.
bauen. Dann muss gegebenenfalls auch ein Vorschlag Wir haben nicht ausschließlich Wachstumsimpulse
gemacht werden, welche Aufgaben nicht mehr erledigt durch die Auslandsnachfrage erhalten, sondern auch
werden können. Natürlich wird die Bürokratie alles für eine sehr kräftige Belebung der Investitionstätigkeit, ins-
wichtig halten. besondere bei Ausrüstungsinvestitionen, und eine Zu-
(Ulrike Flach [FDP]: Oder neue Aufgaben nahme der Bautätigkeit erfahren. Erfreulich ist, dass es
erfinden!) bei den Ausrüstungsinvestitionen nicht nur um Ersatz-
investitionen geht, sondern angesichts guter Kapazitäts-
Wir von der Politik müssen eine Rangfolge der Aufga- auslastungen in wachsendem Maße auch um Erweite-
ben aufstellen. Solange ein Ministerium eine neue Abtei- rungsinvestitionen in den Unternehmen.
lung für Fragen einrichten kann, für die es gar nicht zu-
ständig ist, Die günstige gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat
inzwischen auch den Arbeitsmarkt erreicht. Es gibt
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eine deutliche Minderung der Arbeitslosigkeit und einen
neten der FDP und der Abg. Anja Hajduk – wenn auch noch bescheidenen – Zuwachs bei der
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Beschäftigtenzahl. Darüber hinaus gibt es einen
4412 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Jörg-Otto Spiller
(A) erfreulichen Zuwachs der Steuereinnahmen bei Bund, Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen dazu machen, (C)
Ländern und Gemeinden. warum es aus meiner Sicht überhaupt notwendig ist, die
Unternehmensbesteuerung zu reformieren. Fast alle gro-
Wenn ich mir die Situation von vor einigen Monaten ßen deutschen Unternehmen sind inzwischen multinatio-
vor Augen führe, so haben wir damals ganz andere De- nal. Das bedeutet nicht nur, dass der Standortwett-
batten geführt. Natürlich stellt sich die Frage: Worauf bewerb zwischen Deutschland und den anderen Ländern
lässt sich diese positive Entwicklung zurückführen? Die Europas bzw. den außereuropäischen Ländern eine steu-
Antwort, die beispielsweise Herr Professor Rürup, der erliche Seite hat, sondern das heißt auch, dass es inner-
Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutach- halb einer Unternehmensgruppe Gestaltungsspielräume
tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, gibt, lau- hinsichtlich der Frage gibt, wo man Kosten anfallen lässt
tet, dass mehreres zusammenkommt. Es waren die und wo man Erträge anfallen lässt. Dafür gibt es Spiel-
strukturellen Reformen der Regierung Schröder, es räume.
hat aber auch die Umstrukturierung im Unternehmens-
bereich zu einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit beige- Es ist nicht selbstverständlich, dass der Mutterkon-
tragen. Beide Faktoren zusammen führen zu dieser Ent- zern und das Tochter- oder Schwesterunternehmen über
wicklung. ein Patent verfügen, das durch Lizenzgebühren bedient
werden muss. Es gibt Entscheidungsspielräume, wie
Ich glaube aber, wir können selbstbewusst sagen, dass man größere Investitionen finanziert. Wenn beispiels-
die Finanz- und Haushaltspolitik der großen Koali- weise ein großes deutsches Unternehmen eine Finan-
tion ebenfalls einen Beitrag dazu geleistet hat; zierungstochter in Dublin hat, dann ist es sehr wohl
möglich, dass ein größeres Investitionsvorhaben, bei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten spielsweise in Höhe von 100 Millionen Euro, durch
der CDU/CSU) einen Kredit finanziert wird – die Konditionen müssen
denn wir haben mit dem Haushalt 2006, dessen Kernaus- nicht unbedingt günstig sein –, den die Tochter in Dublin
sagen schon im Frühjahr feststanden, den Mut gehabt, der Mutter in Stuttgart oder wo auch immer gewährt.
einen aufkeimenden Aufschwung trotz der Konsolidie- (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: In
rungsnotwendigkeiten nicht mit einer restriktiven Haus- Berlin!)
haltspolitik zu bremsen. Im Gegenteil: Wir haben durch
Anreize für private Investitionstätigkeiten – beispiels- Die Zinsen werden bei dem deutschen Mutterkonzern als
weise für Aufträge an Handwerksbetriebe durch private Betriebskosten und die Zinsspanne wird beim Toch-
Haushalte – und durch ein Programm zur energetischen terunternehmen in Dublin – es wird günstiger refinanzie-
Gebäudesanierung kräftige Impulse für die Konjunktur- ren – als Gewinn verbucht. Der Gewinn wird in Dublin
(B) belebung gegeben. Ich komme, auch wenn es altmodisch minimal besteuert und kann dann zu 95 Prozent steuer- (D)
klingt, zu dem Ergebnis: Die gute alte Makroökonomie frei an den deutschen Mutterkonzern ausgeschüttet wer-
hat noch immer Bedeutung für den Haushalt und umge- den.
kehrt hat der Haushalt Bedeutung für die gesamtwirt- Herr Kollege Solms, ich finde nicht, dass das der
schaftliche Entwicklung. marktwirtschaftlichen Ordnung entspricht.
(Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Da kann (Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Das hat
keiner widersprechen!) mit Marktwirtschaft wenig zu tun!)
Wir haben einen guten Weg beschritten und das Ziel er- Nach der marktwirtschaftlichen Ordnung soll es im Be-
reicht. lieben des einzelnen Unternehmens liegen, wie es eine
Investition finanziert. In diesem Zusammenhang können
Es gibt keinen anderen Bereich, bei dem der Zusam- zwar viele Gesichtspunkte eine Rolle spielen, steuerliche
menhang zwischen Haushalt, Steuern und wirtschaftli- Gesichtspunkte sollen aber keine Rolle spielen; denn der
cher Entwicklung so deutlich ist wie bei der Unterneh- Staat soll die Unternehmen, unabhängig davon, wie sie
mensbesteuerung. Dieses Thema hat in der heutigen sich aufgestellt haben, für welche Finanzierungsform sie
Debatte schon mehrfach eine Rolle gespielt. Ich will in sich entschieden haben, fair und gleich behandeln. Des-
Erinnerung rufen – der Bundesfinanzminister hat es wegen entspricht es einer strengen marktwirtschaftlichen
selbst erwähnt –, dass wir nicht bei null anfangen. In der Ordnung, dass man die Gestaltungsmöglichkeiten, die
vorvergangenen Wahlperiode, in der Regierung entstanden sind, einschränkt.
Schröder, haben wir zum einen eine deutliche Entlastung
der Personenunternehmen durchgesetzt. Zum anderen (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Anja Hajduk
haben wir eine moderne und wirksame Körperschaft- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
steuerreform durchgeführt. Ich finde es sehr angenehm, dass in der politischen
Arbeitsgruppe der Koalition, die sich mit solchen Fragen
Gleichwohl muss man zugestehen, dass es im Bereich
befasst, ein sehr konstruktives und sachliches Klima
der Unternehmensbesteuerung Handlungsbedarf gibt.
herrscht.
Die große Koalition hat verabredet – das haben mehrere
Kollegen gesagt –, das Gesetzgebungsverfahren recht- Es geht ja nicht darum – in der öffentlichen Diskus-
zeitig zur Sommerpause 2007 abzuschließen, damit die sion wird immer mit dem Holzhammer gearbeitet –, dem
veränderten Bedingungen nach einer Vorbereitungszeit Mittelständler, der vielleicht schwach auf der Brust ist,
zum 1. Januar 2008 in Kraft gesetzt werden können. den Weg zum Leasing oder zur Kreditfinanzierung einer
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4413
Jörg-Otto Spiller
(A) Maschine, die 1 Million Euro kostet, zu versperren. Na- Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung, (C)
türlich wird es Freibeträge geben. Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Horst Seehofer.
(Ulrike Flach [FDP]: Aber die Gefahr ist doch (Beifall bei der CDU/CSU)
da!)
Aber das kann doch nicht heißen, dass wir aufgrund der Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung,
Situation des Mittelständlers auch dem großen interna- Landwirtschaft und Verbraucherschutz:
tionalen Konzern gestatten, durch diese Form der Finan- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
zierung seine Steuerschuld in Deutschland so weit zu re- legen! Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich an-
duzieren, dass ein weltweit operierendes, ertragsstarkes gesichts der aktuellen Probleme im Zusammenhang mit
Unternehmen in Deutschland weniger Steuern zahlt als dem Verbraucherschutz heute nur sehr kurz auf Schwer-
der mittelständische Familienbetrieb, der vielleicht in punkte meines Haushaltes eingehe. Das werden dann die
der vierten Generation als Maschinenbaubetrieb im deut- Kollegen der beiden Fraktionen übernehmen. Ange-
schen Südwesten erfolgreich arbeitet, treu und brav sichts des Interesses der Öffentlichkeit an den Vorgängen
seine Steuern zahlt und dessen Familie die Tradition des im Bereich der Lebensmittelsicherheit in der Bundesre-
Unternehmensgründers wach hält: Der Gewinn gehört publik Deutschland möchte ich vor allem die Haltung
zunächst einmal der Firma und wird nicht voll entnom- der Regierung dazu zum Ausdruck bringen.
men.
(Beifall bei der SPD) Ich beginne mit einer Meldung von heute, die besagt,
dass EU-Kommissar Marcos Kyprianou moniert hat,
Die Benachteiligung von Eigenkapital kann kein dass die Europäische Kommission erst am Freitagabend
Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein. Ich glaube, wir wer- und damit mehr als 24 Stunden nach den Funden von
den hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Rege- vergammeltem Fleisch darüber informiert worden sei.
lung zu einem sehr ordentlichen Kompromiss kommen. Ein Sprecher der EU-Kommission hat daran erinnert,
Mittelständler werden eine Benachteiligung von Eigen- dass die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet sind, Verstöße
kapital nicht zu befürchten haben. Im Gegenteil: Sie gegen die Lebensmittelsicherheit unverzüglich zu mel-
müssen sich eigentlich freuen, dass eine zu ihren Lasten den. Das ist deshalb wichtig, weil nur dadurch gewähr-
unfaire Steuerregelung eingeschränkt und nach Möglich- leistet werden kann, dass in den anderen Mitgliedslän-
keit unterbunden wird. dern Maßnahmen zum Verbraucherschutz ergriffen
(Beifall bei der SPD) werden können. Die EU-Kommission weist auch darauf
hin, dass dies im Verhältnis zur Bundesrepublik
(B) Ich sage auch: Das Ziel ist nicht, dass wir die Unter- Deutschland nicht zum ersten Mal der Fall gewesen sei. (D)
nehmen insgesamt mehr belasten. Ich möchte nur, dass
das Steueraufkommen in Deutschland steigt. Es mag ja Ich beginne mit der Einlassung der EU-Kommission,
sein, dass wir durch eine Steuersatzsenkung erreichen, um deutlich zu machen, dass es in diesem Fall nicht um
dass für eine große Zahl von Unternehmen, die in Taktiken, um Parteipolitik oder um persönliche Eitelkei-
Deutschland und anderswo tätig sind, die Steuerlast ten geht, sondern dass es einzig und allein um die natio-
sinkt. Aber die sozialdemokratische Fraktion im Deut- nale und internationale Gewährleistung des Verbraucher-
schen Bundestag möchte erreichen, dass das Steuerauf- schutzes im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in der
kommen in Deutschland steigt. Bundesrepublik Deutschland geht.
(Beifall bei der SPD) Durch diese Meldung der EU-Kommission wird sehr
deutlich, dass wir Verpflichtungen haben und die Dinge
Das wird möglich sein. Lassen Sie uns gemeinsam an so gestalten müssen, dass wir unsere Verpflichtungen auf
diesem Ziel arbeiten. Es wird noch ein paar Debatten nationaler und internationaler Ebene – nicht um die Be-
dazu geben; da bin ich mir ganz sicher. Es kann ja nicht hörden zu beschäftigen, sondern um den Gesundheits-
schaden, wenn noch die eine oder andere intelligente Lö- schutz der Bevölkerung zu gewährleisten – erfüllen kön-
sung eingebracht wird. Aber fairer Wettbewerb verlangt, nen.
dass wir die Steuerbasis in Deutschland sichern und dass
wir durchsetzen, dass sich Unternehmen wie Bürger an (Ute Kumpf [SPD]: Ja! Das müssen wir tun!)
der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beteiligen.
Denn sonst können wir die Qualität des Wirtschafts- Als es beim letzten Mal um eine Herausforderung auf
standortes Deutschland nicht sichern. diesem Gebiet ging, habe ich hier vor dem Plenum ein
Zehnpunkteprogramm vorgestellt, das sehr weitge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hend realisiert worden ist. Auf drei Punkte kommt es mir
der CDU/CSU) in diesen Tagen besonders an:

Vizepräsidentin Petra Pau: Der erste Punkt. Wir waren uns im Parlament vor ei-
Weitere Wortmeldungen zur allgemeinen Finanz- nigen Monaten ganz überwiegend einig, dass eine der
debatte liegen mir nicht vor. wichtigsten Präventionsmaßnahmen die Transparenz,
die Veröffentlichung der Namen der Firmen, die gegen
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes- die Lebensmittelvorschriften verstoßen, ist.
ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, Einzelplan 10. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
4414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Horst Seehofer


(A) Heute wiederhole ich, dass dies im Hinblick auf die wirt- dieser Betriebe durch die dafür zuständigen staatlichen (C)
schaftlichen Konsequenzen für einen solchen Betrieb Lebensmittelkontrolleure nichts beanstandet wurde.
aus meiner Sicht die wichtigste Präventionsmaßnahme
Ich wiederhole mein Angebot bzw. meine Forderung
ist.
an die Bundesländer, dass Bund und Länder gemeinsam
Wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Der Deutsche Bun- Qualitätssicherungsmaßnahmen und Qualitätsstandards
destag hat das Verbraucherinformationsgesetz, das für die Lebensmittelkontrolle in der Bundesrepublik
zwar noch einige andere Bestandteile enthält, das aber in Deutschland entwickeln müssen.
diesen Fällen vor allem eine sichere Rechtsgrundlage für Bei Achtung der Verfassungslage, die eine primäre
die Veröffentlichung der Namen der Firmen schafft, ver- Länderzuständigkeit vorsieht, ergibt sich die Legitima-
abschiedet. Der Bundesrat hat am 22. September dieses tion des Bundes für eine Koordinierung, also für eine
Jahres die Gelegenheit, dieses vom Deutschen Bundes- zwischen Bund und Ländern abgestimmte Qualitäts-
tag bereits verabschiedete Gesetz zu billigen. sicherung bei der Lebensmittelkontrolle, schon deshalb,
Ich möchte an den Bundesrat appellieren, diese Gele- weil die Bundesregierung bzw. wir alle gemeinsam im
genheit insbesondere vor dem Hintergrund der Entwick- Rahmen der internationalen Warenbeziehungen ver-
lungen der letzten Tage und Wochen, in Anbetracht einer pflichtet sind, darauf hinzuwirken – ich habe meine Rede
mehr als fünfjährigen Diskussion über das Verbraucher- mit einer Äußerung von EU-Kommissar Kyprianou be-
informationsgesetz und angesichts seines mehrmaligen gonnen –, dass die bei den Ländern angesiedelte Lebens-
Scheiterns im Bundesrat jetzt beim Schopfe zu ergreifen mittelkontrolle in erstklassiger Qualität, mit hoher Effi-
und das Verbraucherinformationsgesetz endlich in Kraft zienz und nach modernen Gesichtspunkten gestaltet
zu setzen. wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bei Abgeordneten der FDP)
Der zweite wichtige Punkt ist die Lebensmittel- Die Legitimation des Bundes ergibt sich trotz dieser
kontrolle in der Bundesrepublik Deutschland. Verfassungslage daraus, dass die Folgen von Lebensmit-
(Ute Kumpf [SPD]: Sehr wohl!) telkontrollen international, aber auch für die übrigen
Bundesländer relevant werden können. Das heißt, wir
Das sage ich nicht als Vorwurf gegen irgendjemanden, können uns nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die
sondern als objektive Beschreibung der Situation in der Zuständigkeit für Lebensmittelkontrollen liege allein bei
Bundesrepublik Deutschland. den Ländern, die Folgen müssten jedoch auch andere
Länder in Kauf nehmen. Deshalb appelliere ich heute
(B) (Zuruf von der SPD: In Bayern!) noch einmal und ich werde das am Donnerstag mit allem (D)
Sie bezieht sich nicht nur auf ein Bundesland. Die „Süd- Nachdruck in der Verbraucherschutzministerkonferenz
deutsche Zeitung“ schrieb gestern, dass die Ermittler tun, dass wir, Bund und Länder, gemeinsam Qualitäts-
– in diesem Fall die Polizei – öffentlich erklärten, dass standards und Qualitätssicherungsmaßnahmen ent-
die Täuschungsversuche, die manipulierten Etiketten, wickeln. Ich werde zu keiner Entscheidung meine Hand
bei genauerem Hinsehen hätten erkannt werden können. reichen, die nur ein Placebo oder nur eine Scheinlösung
ist. Ich möchte, da wir es bei den entsprechenden wirt-
(Ute Kumpf [SPD]: Kann der Bayer denn schaftlichen Akteuren offensichtlich mit Leuten zu tun
nicht lesen?) haben, die ein hohes Maß an Energie
Der ermittlungsführende Polizeibeamte teilte mit, die (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD:
Originaletiketten seien grob ausgeschnitten oder ge- Kriminelle Energie!)
schwärzt und dann überklebt worden; sie hätten, so die und an Raffinesse einsetzen, dass wir eine intelligente,
Polizei, allenfalls flüchtigen Überprüfungen standgehal- eine wirksame, eine effiziente Lebensmittelkontrolle in
ten. der Bundesrepublik Deutschland bekommen, die auf
Daran wird deutlich: Auf der einen Seite sagen die gleicher Augenhöhe mit denen agieren kann, die gegen
Ermittlungsbehörden bzw. sagt die Polizei, dass die Recht und Gesetz gewissenlos verstoßen.
Manipulationen so offenkundig waren, dass man sie ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
gentlich hätte erkennen müssen; auf der anderen Seite ist
dieser Betrieb von Lebensmittelkontrolleuren und Vete- Das soll kein Vorwurf sein. Die Lebensmittelkontrolle
rinären mehrfach kontrolliert worden und es wurde hat sich über viele Jahrzehnte so entwickelt; sie ist aller-
nichts beanstandet. dings nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Wir verfolgen
das seit vielen Monaten. Das sage ich nicht erst, seit der
Deshalb bleibt dieser Aspekt unseres Zehnpunktepro- neue Fall aufgetreten ist. Wir haben Verbraucherschutz-
gramms relevant und aktuell. Die Effizienz und Wirk- ministerkonferenzen abgehalten und die Fachleute der
samkeit der Lebensmittelkontrolle, die auch nach der Veterinäre versammelt. Leider hatten wir bei unseren
Föderalismusreform richtigerweise dezentral bei den Koordinierungsbemühungen bisher keinen Erfolg. Ich
Ländern angesiedelt ist, muss in Deutschland reformiert hoffe, dass die neue Situation dazu beiträgt, dass wir ver-
werden. Denn es kann nicht sein, dass Ermittlungsbehör- suchen, die Probleme gemeinsam zu lösen. Ich glaube,
den solche Täuschungsversuche bereits nach sehr kurzer wir werden niemanden überzeugen und schon gar nicht
Zeit feststellen, während trotz mehrfacher Kontrollen das Vertrauen der Öffentlichkeit herstellen, wenn jeder
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4415
Bundesminister Horst Seehofer
(A) sich auf seine Zuständigkeit zurückzieht. Nein, das wird Strafandrohung möglich ist – sowohl an Geldstrafe als (C)
uns nur gelingen, wenn wir gemeinsam zu einem Ergeb- auch an Freiheitsstrafe –, konsequent ausgeschöpft und
nis kommen. angewandt wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/CSU])
Mein dritter Punkt betrifft die Diskussion, die in den Ich sehe wenig Sinn darin, über die Erhöhung der Geld-
letzten Tagen eingesetzt hat, das wahre Problem bestehe buße und des Strafrahmens zu reden, wenn der vorhan-
nicht in der Kontrolle, sondern in der Höhe der Straf- dene Strafrahmen und die vorhandenen Möglichkeiten
bewehrung. Man muss hier deutlich auf die geltende zur Verhängung einer Geldbuße nur zu einem Bruchteil
Rechtslage hinweisen. Ich beziehe mich jetzt gar nicht in Anspruch genommen werden.
auf das allgemeine Strafrecht, nach dem bei schweren
Betrugsfällen eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren Ich setze noch ein Letztes hinzu: Wir haben ein Ge-
verhängt werden kann – solche schweren Fälle mit Er- werberecht, das auf die persönliche Zuverlässigkeit
schleichung eines großen Vermögensvorteils könnte man des Betreibers abstellt. Bei gewissenlosen Geschäfte-
durchaus auch einmal unter diesem Gesichtspunkt prü- machern, die aus reiner Raffgier und ohne Rücksicht auf
fen –, sondern ich beschränke mich auf unseren Fachbe- die Gesundheit und den Verbraucherschutz Gewinne ma-
reich: das Lebensmittelrecht. Im Lebensmittelrecht gibt chen wollen, sollte und muss man auch in Erwägung zie-
es eine eindeutige Regel: Bei vorsätzlichem In-Verkehr- hen, deren Betriebe zu schließen. Auch diese Möglich-
Bringen oder Herstellen von gesundheitsschädlichen Le- keit gibt das Gewerberecht her. Sie wird aber leider viel
bensmitteln droht eine Freiheitsstrafe oder Geldstrafe zu selten angewandt.
von bis zu fünf Jahren, bei Fahrlässigkeit von bis zu drei
Jahren. Nach dem Lebensmittelrecht reicht die Gesund- Deshalb darf ich Ihnen sagen, dass ich mich bei allen
heitsschädlichkeit; eine Gesundheitsbeeinträchtigung Diskussionen, die dazu stattfinden – zum Teil auch mit
muss für diese Strafbewehrung gar nicht eingetreten einem parteipolitischen Anstrich –, alleine von unserem
sein. Wir haben es hier eigentlich noch schärfer als im Auftrag leiten lasse, Schaden von der Bevölkerung abzu-
allgemeinen Strafrecht bei der gefährlichen oder fahrläs- wenden und alles Menschenmögliche zu tun, damit es
sigen Körperverletzung formuliert: Das Lebensmittel solchen gewissenlosen Rechtsbrechern in der Bundes-
muss gar nicht verzehrt worden sein; es reicht bereits, republik Deutschland möglichst schwer gemacht wird.
wenn man es hergestellt oder in Verkehr gebracht hat. Das ist der einzige Auftrag, den wir haben. Ich werde
Unterhalb der Schwelle der Gesundheitsschädlichkeit ihm auch weiterhin mit allem Nachdruck nachkommen,
haben wir bei bedenklichen Lebensmitteln, die für Ge- auch wenn die Diskussionen dazu immer wieder in die
nuss oder Verzehr nicht geeignet sind, wenngleich nicht Aussagen abgleiten, dass das persönliche Profilierungen
(B) gesundheitsschädlich sind, die Androhung einer Frei- und parteitaktische Spielchen seien. Die einzige Mess- (D)
heitsstrafe von bis zu einem Jahr und einer Geldbuße latte ist, wie wir in der Bundesrepublik Deutschland den
von bis zu 20 000 Euro. Die Behauptung, die Geldstrafe Verbraucherschutz für die Bevölkerung sicherstellen. Ich
könne maximal 20 000 Euro betragen, auch dann, wenn hoffe, ich habe dazu die Unterstützung der Mehrheit des
der Gewinn, den jemand durch ein rechtswidriges Ver- Parlaments.
halten erzielt hat, höher ist, entspricht so nicht der
Rechtslage. Im Gesetz steht eindeutig: Wenn der wirt- Als mich die Vorsitzende der Verbraucherschutz-
schaftliche Erfolg infolge eines Rechtsverstoßes höher ministerkonferenz, die wir übrigens auch infolge der
ist als die zu verhängende Geldbuße von 20 000 Euro, zehn Punkte neu eingerichtet haben – bisher gab es sie
kann die Geldbuße entsprechend erhöht werden. nicht –, gebeten hat, am Donnerstag an einer Sitzung der
Verbraucherschutzministerkonferenz teilzunehmen, war
Wenn Sie sich anschauen, wie das Strafmaß bei den ich sehr erfreut und habe sofort zugestimmt, weil ich
Freiheitsstrafen, den Geldstrafen und den Geldbußen in glaube, dass diese lange Diskussion keine weitere Ver-
der Bundesrepublik Deutschland bisher ausgefallen ist längerung mehr verträgt, sondern dass die dafür zustän-
– diese werden nicht durch den Bundesverbraucher- digen Minister von Bund und Ländern möglichst am
schutzminister verhängt –, dann sehen Sie, dass man bei Donnerstag zu den von mir beschriebenen Vereinbarun-
der Festsetzung im Durchschnitt immer am unteren gen kommen sollten. Wir sollten dann versuchen, diese
Rand geblieben ist. Auch diesen Punkt haben wir in den Qualitätsstandards für die Bundesrepublik Deutsch-
letzten Monaten in voller Absprache mit der Bundesjus- land in sehr kurzer Zeit zu erreichen. Daneben sollten
tizministerin mit den Bundesländern dahin gehend be- wir den Rechtsrahmen bezüglich der Geldbußen und
sprochen, dass sie mit der Justiz Gespräche führen und Freiheitsstrafen in den jetzt aktuellen Fällen voll aus-
dort ein Bewusstsein dafür schaffen sollen, dass Ver- schöpfen. Ich bitte Sie für diesen Weg um Ihre Unter-
stöße gegen das Lebensmittelrecht keine Bagatelldelikte stützung.
sind, sondern mit aller Härte und mit allem Nachdruck
– das gilt auch für die Höhe des Strafmaßes – verfolgt Danke.
werden müssen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
FDP) Vizepräsidentin Petra Pau:
Auch hier gilt die Feststellung: Wir alle zusammen Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Michael
sollten helfen, dass das, was heute nach dem Gesetz als Goldmann das Wort.
4416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): In der Antwort auf Frage 3 „Welche der Maßnahmen (C)
Sehr geehrte, liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolle- des 10-Punkte-Sofortprogramms sind bereits in Kraft ge-
ginnen und Kollegen! Natürlich ist eine Haushaltsde- treten?“ heißt es im zweiten Punkt „Flächendeckende
batte unter den aktuellen Ereignissen so zu gewichten, Kühlhausüberprüfung (Nr. 4 des Sofortprogramms)“:
wie Sie, Herr Minister, das getan haben. Wir müssen uns Die Überprüfung aller 317 EU-zugelassenen Kühl-
heute in besonderer Weise erneut mit den Auswirkungen häuser ist abgeschlossen.
eines dramatischen Fleischskandals auf die Verbraucher
befassen. Diese Auseinandersetzung muss heute natür- (Ursula Heinen [CDU/CSU]: Das war ja auch
lich im Zentrum stehen. so!)

Ich will vorher aber trotzdem noch einmal sagen, dass Bei dem Kühlhaus in Bayern handelt es sich um ein EU-
die deutsche Ernährungswirtschaft – die große Mehrheit zugelassenes Kühlhaus, wie uns heute der Verband
der Menschen, die dort arbeiten, und die Produkte, die Deutscher Kühlhäuser und Kühllogistikunternehmen
dort erstellt werden – einen absoluten Weltstandard hat nachdrücklich bestätigt.
und eine Qualität aufweist, um die uns andere Länder (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist ja
beneiden. spannend!)
Es gibt allerdings – ich glaube, dieses Wort darf man Sehr geehrter Herr Minister, warum übermitteln Sie
auch im Parlament benutzen – einige Drecksäcke und den Verbrauchern eine solche Botschaft, wohl wissend,
kriminelle Elemente, die – darüber müssen wir genau dass in diesem Bereich trotz dem, was Sie hier eben ge-
nachdenken – manchmal wohl auch in Verbindung mit sagt haben, noch jede Menge Aufarbeitungsbedarf be-
Strukturen vor Ort, manchmal vielleicht sogar durch par- steht? Warum suggerieren Sie, es sei alles in Ordnung,
teipolitischen Filz einen Nährboden finden, der die wenn Sie genau wissen, dass dies nicht der Fall ist?
Grundlage dafür bildet, dass solche Skandale immer
(Beifall bei der FDP – Peter Bleser [CDU/
wieder auftreten.
CSU]: Das hat er doch gar nicht!)
Ich finde es gut, Herr Minister Seehofer, dass Sie der Sie wissen ganz genau, dass Sie unmittelbar nach dem
Verbraucherministerkonferenz zur Verfügung stehen. In-Kraft-Treten Ihres so genannten 10-Punkte-Sofort-
Dann sollten Sie allerdings auch morgen dem Ausschuss programms eine solche Aussage überhaupt nicht treffen
für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- können. Diese Kühlhäuser haben zum Teil die Dimen-
schutz zu diesem Thema Rede und Antwort stehen. sion eines Plenarsaals. Wenn Sie zu Recht feststellen
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ – das nehme ich mit Interesse zur Kenntnis –, dass die
(B) DIE GRÜNEN) Lebensmittelkontrolle nicht auf der Höhe der Zeit ist, (D)
dann frage ich Sie, wie Sie in einer Antwort auf die An-
Ich sage auch: Herr Minister, Sie haben in dieser Frage frage einer Fraktion hier im Deutschen Bundestag dazu
einiges gutzumachen. Ich freue mich nicht, dass die kommen, eine so Frieden stiftende Aussage zu tätigen?
„Bild“-Zeitung hinsichtlich des Gammelfleischskandals
Ich will das weiterführen. Sie haben in meinen Augen
fragt: Warum reden Sie nur? Warum tun Sie nichts, Herr
nicht nur in dieser Frage die Dinge nicht richtig darge-
Seehofer?
stellt. In der schon genannten Kleinen Anfrage wird
Ich möchte gerne, dass sich das Ministerium, Sie per- nach der Verbesserung des Informationsflusses ge-
sönlich, aber auch der ganze Bereich Ernährung, Land- fragt. Antwort:
wirtschaft und Verbraucherschutz so darstellen können, In der Bund-Länder-Besprechung am 29. Novem-
dass die Verbraucher Vertrauen in unsere Produktions- ber 2005 hat das BVL
wege haben und dass sie eine sach- und fachgerechte
Entscheidung treffen können. Sehr geehrter Herr Minis- – das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebens-
ter Seehofer, da hapert es bei Ihnen. Das will ich hier an mittelsicherheit –
Beispielen deutlich aufzeigen. die praktische Anwendung des Fachinformations-
Im „Focus“ vom 12. Dezember 2005 sagen Sie: „Wir systems … erläutert.
haben schnell gehandelt …“ Seit Monaten kündigen Sie Das Fazit der Antwort lautet:
ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb an. Sie ha-
ben ein 10-Punkte-Sofortprogramm – den Namen muss Das System bietet die Möglichkeit, zeitnah aktuelle
man auf der Zunge zergehen lassen – aufgelegt. In der Erkenntnisse bei derartigen Ereignissen allen Län-
Drucksache 16/1615 – Antwort der Bundesregierung auf dern und dem Bund zur Verfügung zu stellen.
die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion – mit der Über- Herr Seehofer, Sie und das System haben versagt.
schrift „Stand der Umsetzung des 10-Punkte-Sofortpro-
gramms als Konsequenz aus dem Fleischskandal“ erklä- Am 25. August dieses Jahres, so sagte es Gert
ren Sie schon in der Einführung: Lindemann, Ihr Staatssekretär, haben wir die Informatio-
nen über die Medien bekommen. Dann aber haben Sie
Das 10-Punkte-Sofortprogramm stellt die Maßnah- sich eben nicht mit aller Härte und mit allem Nachdruck
men dar, deren alsbaldige Umsetzung im Einver- an die Verfolgung gemacht, wie Sie eben ausgeführt ha-
nehmen mit den Ländern beschlossen wurde … Mit ben. Man kann es vielleicht etwas locker formulieren:
der Umsetzung … ist sofort begonnen worden. Bis zum 1. September haben Sie überhaupt nichts ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4417
Hans-Michael Goldmann
(A) macht. Warum haben Sie zwischen dem 25. August und einige Verbesserungen, aber es hat mit dem Fall, um den (C)
dem 1. September nichts gemacht? Warum waren Sie, es hier geht, nichts zu tun. In diesem Fall ist der Name
der sonst immer sehr präsent ist, abgetaucht? Hing das nach jeder Regelung zu nennen, weil gesundheitliche
möglicherweise damit zusammen, dass der Skandal aus Gefahr im Verzug ist.
Bayern kam und der Minister für Umwelt, Gesundheit
Das kritisiere ich an Ihnen: Sie setzen Sprechblasen
und Verbraucherschutz in Bayern und die ganze Regie-
ab. Das sind Botschaften an den Verbraucher, denen die
rung der CSU angehören?
inhaltliche Substanz fehlt.
Ich denke, dass wir ganz klar sagen müssen, Herr
(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP])
Minister, dass es nicht wirklich um ein Zehn-Punkte-
Sofortprogramm und das Erreichen konkreter Ziele zum Wenn wir Ihnen in diesem Fall helfen sollen, die
Schutz der Verbraucher geht. Sie reden zwar viel, aber Kühe vom Eis zu kriegen, dann sage ich Ihnen ganz klar:
wenn es konkret wird, dann ist Ihr Handeln nicht von Drecksäcke und kriminelle Machenschaften gehören an
fachlicher Substanz geprägt. Das sage ich Ihnen schon, den Pranger gestellt. Ich habe – ich habe früher selber als
seit Sie im Amt sind, und ich fühle mich in meiner Ein- Tierarzt gearbeitet – hier auch sehr schnell ein Berufs-
schätzung immer wieder bestätigt. verbot bei der Hand. Wer Menschen mit Lebensmitteln
versorgt, mit denen gesundheitliche Gefahren verbunden
(Beifall bei der FDP) sind, der gehört aus dem Verkehr gezogen. Dabei bin ich
Es geht weiter, Herr Minister: Was denn nun? Heute hundertprozentig an Ihrer Seite. Das können wir gemein-
Morgen bin ich extra früh aufgestanden, weil das Früh- sam machen.
stücksfernsehen schon um 6.30 Uhr beginnt und ich (Beifall bei der FDP)
dachte, ich wäre dabei, aber das war ein Irrtum.
Wir würden aber schon gerne wissen, welche Lösung Sie
(Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) über die allgemeine Botschaft hinaus vorsehen. Dabei
– Ja, das ist tragisch. Aber ich habe es überlebt, wie Sie sind Sie morgen, im Ausschuss, oder auch am Freitag
sehen. – Es kam ein Polizeivertreter, der feststellte, dass gefordert. Wir von der FDP-Fraktion sind zu jeder Zeit
die Polizei eingeschaltet werden soll. Ich bitte Sie! Dann bereit, Ihnen in dieser Frage zu helfen und Rede und
kam Herr Lindemann, den ich sehr gerne mag. Er kommt Antwort zu stehen.
ja auch aus Niedersachsen und hat sehr viel Ahnung. Herzlichen Dank.
Herr Lindemann hat gesagt, dass die Lebensmittel-
kontrolle nicht durch eine Bundesbehörde durchgeführt (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: Auf
werden soll, sondern dass die Zuständigkeit bei den Län- diese Hilfe können wir gut verzichten!)
(B) dern und Kommunen bleiben muss. Das habe ich auch (D)
immer wieder gefordert; denn sie sind vor Ort und ken- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
nen sich aus. Berlin hat doch keine Ahnung davon, wie Das Wort hat der Kollege Ernst Bahr von der SPD-
die Lebensmittelkontrolle in Bayern, Hessen oder mögli- Fraktion.
cherweise in Cloppenburg stattzufinden hat.
(Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist aber ziem- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD):
lich widersprüchlich! Eben war das noch an- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-
ders!) gen! Herr Goldmann, Sie haben gesagt, Namensnennung
sollte nicht sein, aber die Betreffenden sollten an den
Eben haben Sie wiederum ausgeführt, dass Sie die Bun- Pranger gestellt werden. Ich kann den Unterschied nicht
deskompetenz für die Lebensmittelkontrolle für notwen- richtig erkennen; er ist nicht sehr groß. Dies ist ein Bei-
dig halten. Was denn nun? spiel für Ihre Widersprüchlichkeit, die sich durch Ihre
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto ganze Rede zieht.
Solms) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich habe
Gestern haben Sie festgestellt, eine einjährige Frei- Namensnennung gesagt! Dieser Fall kann
heitsstrafe sei genug. Eben haben Sie von drei bis fünf doch beim Namen genannt werden!)
Jahren gesprochen. Was denn nun? Bei Ihnen ist doch al- Wenn Sie Minister Seehofer zugehört haben, dann
les wirr und inkonsequent. werden Sie festgestellt haben, dass er nicht nur agiert hat
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Viel- – und zwar zielgenau, sachlich, kompetent, richtig und
leicht müssten Sie einfach mal zuhören, Herr der Rechtslage entsprechend –, sondern auch deutlich
Goldmann!) gemacht hat, dass die Rechtslage hier wie in anderen
Fällen viel besser ist, als die öffentliche Meinung sugge-
Warum verweisen Sie hinsichtlich der Lebensmittel- riert. Das sollten wir zur Kenntnis nehmen. Das gilt übri-
kontrolle nicht auch auf Kräfte, die in der Wirtschaft gens auch für die Haushaltslage und die Haushaltsdis-
vorhanden sind? Warum schließen Sie sich nicht strikt kussion insgesamt. Die Rechtslage – das heißt, unsere
mit dem QS-System zusammen? politische Arbeit – ist viel besser als die öffentliche Mei-
nung darüber.
Des Weiteren haben Sie die Namensnennung ange-
sprochen. Was soll das, Herr Minister? Ihr VIG ist zwar Wenn man so polemisch vorgeht wie Sie und so wi-
in Ordnung und bringt hinsichtlich der Namensnennung dersprüchlich argumentiert, dann müssen wir uns nicht
4418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Ernst Bahr (Neuruppin)


(A) wundern, wenn die Leute nur noch über uns lachen und Der Haushalt des Bundesministeriums für Ernährung, (C)
uns nicht ernst nehmen. Sie haben zu Beginn Ihrer Rede Landwirtschaft und Verbraucherschutz hat ein Volumen
festgestellt, dass es eine bestimmte Personengruppe sei, von etwa 5,17 Milliarden Euro. Im Vergleich zum ver-
die ausfällig ist; ansonsten sei die Lebensmittelsituation gangenen Jahr bedeutet das einen leichten Zuwachs in
in Deutschland hervorragend. Letzterem stimme ich zu. Höhe von 82 Millionen Euro bzw. 1,6 Prozent. Gleich-
Die Qualität der Lebensmittel in Deutschland ist wirk- zeitig haben wir einen Konsolidierungsbeitrag in Höhe
lich vorzeigbar. Wir können uns darauf verlassen und von 200 Millionen Euro jährlich zu erbringen. Nach dem
wir müssen unseren Landwirten, der Nahrungsmittel- Entwurf werden wir das einhalten.
industrie und den Händlern dafür danken.
Einen wesentlichen Teil stellen wie in jedem Jahr die
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) landwirtschaftlichen Sozialausgaben dar. Hier gibt es
nach wie vor einen Zuwachs aufgrund der gesamtgesell-
Ich richte an dieser Stelle auch einen Appell an den so schaftlichen Situation und der guten sozialen Bedingun-
oft geschmähten öffentlichen Dienst. Ich stehe für den gen. Wir müssen diese Bedingungen erhalten, aber auch
öffentlichen Dienst; ich war selbst einmal als Landrat tä- dafür sorgen, dass sie finanzierbar bleiben. Das legt
tig. Aber eines steht fest: Der öffentliche Dienst hat die nicht nur den Schluss nahe, sondern erfordert geradezu,
Verpflichtung, seine Arbeit so zu gestalten, dass die Kri- dass wir im Zuge der Gesundheitsreform auch über die
tik unberechtigt ist. Offenbar hat der öffentliche Dienst, von uns mehrfach angesprochene Reform der Agrar-
der für die Kontrolle zuständig war, an einer Stelle ver- sozialsysteme sprechen; das ist überfällig. Wir werden
sagt. das in den bevorstehenden Beratungen angehen.
Wir brauchen den öffentlichen Dienst in seiner der- Für die landwirtschaftliche Unfallversicherung haben
zeitigen Form – so hoch organisiert, kompetent und fort- wir zunächst 100 Millionen Euro für 2007 eingestellt.
schrittlich – für eine so hoch organisierte Gesellschaft. Der Betrag wird um weitere Mittel aus Erlösen durch
den Verkauf von Forderungen des Bundes aus Sied-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aber Herr lungsdarlehen auf die notwendige Höhe aufgestockt
Bahr, der Minister hat doch gesagt, er sei nicht werden. Die Ausgaben für die Alterssicherung der Land-
auf der Höhe der Zeit!) wirte und die landwirtschaftliche Krankenversicherung
nehmen leicht zu, während die Zahlungen für die Pro-
Umso mehr müssen wir aber dafür sorgen, dass die Auf- duktionsaufgabenrente und die Landabgabenrente wie
gaben im öffentlichen Dienst auch verantwortungs- vorgesehen zurückgehen. Sie werden in den nächsten
bewusst wahrgenommen werden und dass man sich im Jahren gen null tendieren.
öffentlichen Dienst etwas konkreter mit Vergehen, Ober-
(B) flächlichkeiten und Ähnlichem auseinander setzt, die Insgesamt betragen die landwirtschaftlichen Sozial- (D)
uns in solche Schwierigkeiten bringen, dass europaweit ausgaben 3,7 Milliarden Euro. Das entspricht einem An-
eine Diskussion geführt wird, die der Lage nicht ange- teil von 72 Prozent des Gesamtbudgets des Einzel-
messen ist. Das sage ich ausdrücklich. plans 10. Wenn man die Abgrenzungen konkretisiert,
dann kommt man vielleicht sogar auf 74 bis 76 Prozent.
Ich möchte nun zu dem kommen, worüber wir eigent- Das ist ein Signal, dass wir über eine Reform dringend
lich diskutieren wollen. Ich freue mich, dass ich ein paar nachdenken müssen.
Anmerkungen zum Haushaltsplanentwurf machen darf,
weil der Minister aus bestimmten Gründen nichts dazu Um die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der
sagen konnte. Mit dem Haushaltsplanentwurf 2007 sind landwirtschaftlichen Arbeit bzw. der Arbeit im landwirt-
wir wieder im Zeitplan. Wir haben mit unserer politi- schaftsnahen Bereich zu verbessern, haben wir die Mit-
schen Arbeit solide Grundlagen gelegt, und zwar nicht tel für Forschung und Entwicklung in allen Bereichen
erst seit gestern. Wir arbeiten kontinuierlich. Wir haben aufgestockt. Einen Schwerpunkt dabei bildet die Förde-
von 2006 bis 2009 für Bund, Länder und Gemeinden rung innovativer Produkte und Verfahren, insbesondere
eine Entlastung in Höhe von etwa 120 Milliarden Euro der nachwachsenden Rohstoffe. Hierfür sind 50 Millio-
vorgesehen. Das lässt sich sehen. Ich denke, das ist ein nen Euro eingestellt. Diese Mittel werden dazu beitra-
wichtiger Konsolidierungsbeitrag in der Haushaltspoli- gen, dass sich die Landwirte andere Einkommensquellen
tik. Wir halten damit die Vorgaben des Art. 115 des erschließen können.
Grundgesetzes und das Defizitkriterium des europäi- Zur Verbraucherpolitik: Wir wollen die Verbrau-
schen Stabilitätspaktes – das sind die Eckpfeiler – wie- cherberatung und Verbraucherinformation weiter-
der ein. Damit hat die große Koalition einen guten Kurs hin stärken und das bisher erreichte Niveau stabilisieren.
eingeschlagen. Das, was wir gerade besprochen haben, ist ja nichts an-
deres als ein Teil von Verbraucheraufklärung und Ver-
Wir müssen bei der Gestaltung des Einzelplans 10 da- braucherbewusstsein. Wir haben hier eine wesentliche
für sorgen, dass die Landwirtschaft eine verlässliche Ba- Aufgabe zu erfüllen. Deswegen haben wir die Ausgaben
sis erhält. Dass wir das tun, belegen die vorliegenden für diesen Bereich stabil gehalten. Das ist bei der Ge-
Zahlen. Wir stärken zudem den Verbraucherschutz. Es samtkonzeption von Kürzungen eine erwähnenswerte
ist deutlich geworden, dass das notwendig ist. Die Men- Maßnahme.
schen auf dem Lande können sich auf unsere politischen
Maßnahmen verlassen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Es wurde uns oft vorgehalten, dass wir bei der
Entwicklung der ländlichen Regionen. Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4419
Ernst Bahr (Neuruppin)
(A) struktur und des Küstenschutzes“ viel kürzen würden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (C)
Das haben uns viele vorgeworfen, die selbst über Jahre NIS 90/DIE GRÜNEN)
in diesem Bereich Kürzungen beschlossen haben. Wir
haben in diesem Haushaltsplanentwurf vorgesehen, den Ich zitiere Punkt 4 von Seehofers Aktionsplan – Herr
Betrag mit 615 Millionen Euro stabil zu halten. Der Be- Goldmann hat schon darauf hingewiesen –, in dem es
trag, der im laufenden Haushaltsjahr zur Verfügung hieß:
steht, wird somit auch für das neue Jahr vorgesehen. Die Überprüfung aller EU-zugelassenen Kühlhäu-
Dass damit eine Stabilisierung erfolgt, finde ich bemer- ser in Deutschland wird kurzfristig abgeschlossen
kenswert. sein.
Die Forderungen der Opposition, angesichts mögli- Das ist jetzt neun Monate her und das Problem besteht
cher Kürzungen der EU mehr und andere Dinge zu ma- weiter. Abgelaufen – darauf muss man auch hinweisen –
chen, sind sicherlich sehr löblich und werden in man- war das Haltbarkeitsdatum des Gammelfleischpostens
chen Ohren gut klingen. Man muss aber wissen, woher allerdings auch schon zu rot-grünen Zeiten.
man das Geld nimmt. Ich denke, es ist abzusehen, dass
wir keine neuen Wege gehen können. Wenn wir die Aus- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Waltraud
gaben stabilisieren können, um im Bereich der ländli- Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das wird zu allen
chen Strukturentwicklung etwas zu tun, müssten wir ei- Zeiten so sein!)
gentlich schon zufrieden sein. Die Rufe nach Pranger, Haft und Kompetenzneuver-
Wir haben mit unserem Haushaltsplanentwurf für teilung lenken davon ab, dass es erst wenige Wochen her
2007 keine wesentlichen Änderungen vorgenommen, ist, dass die Chance auf ein wirksames Verbraucher-
aber dennoch einen Beitrag zu dem geleistet, was wir informationsgesetz vertan wurde. Bei Zustimmung zu
Konsolidierungs- und Stabilisierungspolitik nennen. Es den Änderungsvorschlägen meiner Fraktion hätten skru-
wurde darüber hinaus ein Beitrag zur ländlichen Ent- pellose Profiteure deutlich weniger Chancen, ihr Gam-
wicklung und dem Strukturwandel auf dem Land geleis- melfleisch über Verbrauchermägen zu entsorgen. Statt-
tet. Ich wünschte mir, dass es uns gelingt, die Agrar- dessen wird gemauert und werden Stellen in Kontroll-
sozialpolitik im Sinne der Betroffenen, aber auch im und Untersuchungsstellen massiv abgebaut – in Bayern
Sinne der Entwicklung des Bundeshaushaltes so zu ge- 20 Prozent – und Vertrauen wird weiter verspielt.
stalten, dass sie zukunftsträchtig ist. In diesem Sinne (Manfred Zöllmer [SPD]: Dafür ist der Bund ja
wünsche ich uns gute Beratungen. auch zuständig, für die bayerischen Stellen!)
Herzlichen Dank. Ob die geplante Aufstockung des Etats für das Bun-
(B)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) desinstitut für Risikobewertung und das Bundesamt für (D)
Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sinnvoll
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: oder nur leere Symbolik ist, wird zu besprechen sein.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann Doch weiter in der seehoferschen Problembilanz. Im
von der Fraktion Die Linke. Februar kam überraschend die Geflügelpest. Das heißt,
(Beifall bei der LINKEN) überraschend waren eigentlich nur Ort und Zeit des Auf-
tretens. Dass H5N1 Asia die Bundesrepublik erreichen
würde, war spätestens ab Spätsommer 2005 wahrschein-
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): lich. Trotz bundesministerieller Beteuerungen, es
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und brauchten nur die Notfallpläne in Kraft gesetzt zu wer-
Kollegen! Liebe Gäste! Haushaltsdebatten erinnern im- den, war niemand auf diesen Fall einer langfristigen In-
mer etwas an die Zeugnisausgabe. Zunächst muss man fektionsgefahr für Nutzgeflügel aus Wildvogelbeständen
Geleistetes bewerten, bevor man ein neues Schul- oder wirklich vorbereitet.
Haushaltsjahr startet. Mein Fazit ist: Das erste Jahr der
Regentschaft von Horst Seehofer war von Skandalen Über das Aufstallungsgebot wird unterdessen anhand
und ungelösten Problemen geprägt, für die er zwar nicht regionaler Risikobewertung entschieden. Nur, das wirk-
immer verantwortlich, aber doch zuständig war. Bei liche Risiko kennt niemand. Wir spielen also seit Wo-
einer so kritischen Bilanz ist ein ehrlicher Blick auf die chen und Monaten russisches Roulette. Auf der anderen
reale Problemlage zu Beginn einer Haushaltsdebatte Seite werden die Halterinnen und Halter von Kleinst-,
wirklich wichtig; denn die Problemlage ist das Ergebnis Hobby- und Wassergeflügelbeständen in den Risikoge-
der bisherigen Haushaltspolitik. bieten, die ihre Tiere nicht längere Zeit und schon gar
nicht auf Dauer einstallen können, mit dieser Situation
Das erste Regierungsjahr begann mit Gammelfleisch allein gelassen.
– wir haben es heute schon gehört – und ich denke, es
wird auch so enden. Die am 30. November 2005 eilig Das eigentliche Problem aber ist nach meiner Wahr-
präsentierten 10 Punkte Seehofers haben das Problem nehmung: Wir werden das nächste Mal – vielleicht
offensichtlich nicht gelöst. Statt einer ehrlichen schon in wenigen Wochen – nicht besser vorbereitet
Schwachstellenanalyse wurden schwarze Schafe ge- sein; denn die wirklichen Probleme sind nicht aufgear-
zählt. Ich frage mich – das fragen sich auch andere –: beitet. Vom eilig aufgelegten 60-Millionen-Euro-For-
Wie kann man eigentlich 40 bis 50 Tonnen Gammel- schungsprogramm geht nur wenig Geld in die dringend
fleisch übersehen? notwendige Qualifizierung der Risikobewertung und des
4420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Kirsten Tackmann


(A) Krisenmanagements, und das, obwohl auch die Schwei- renzinitiative der EU und die Wortmeldung von (C)
nepestausbrüche in diesem Jahr und die erstmals in 30 Nichtregierungsorganisationen zum Thema Agrar-
Deutschland aufgetretene Blauzungenkrankheit bewei- beihilfen haben die Frage nach Sinn und Zweck von
sen, dass gerade auf dem Gebiet der Risikobewertung Subventionen neu aufgeworfen. Die Position meiner
und des Risikomanagements von Infektionskrankheiten Fraktion ist eindeutig. Es ist ein legitimer Anspruch der
bei Tieren schwerwiegende Wissenslücken bestehen, Gesellschaft auf Informationen, was mit öffentlichen
von denen große volkswirtschaftliche Gefahren ausge- Geldern geschieht. Das gilt übrigens in allen Bereichen
hen. der Wirtschaftsförderung, nicht nur bei der Landwirt-
schaft.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg.
Hans-Michael Goldmann [FDP]) (Beifall bei der LINKEN)
Ich kann Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr Fehlende Transparenz schafft dagegen auch Freiräume
geehrter Herr Minister, die Wiederholung meiner Forde- für sachfremdmotivierte Denunzierungen. Gerade des-
rung nach einem epidemiologischen Zentrum mit ange- halb sage ich im Namen meiner Fraktion: Wir werden
messenen Personalkapazitäten und einem geeigneten uns jedem Versuch widersetzen, diese dringend notwen-
Standort nicht ersparen. dige Diskussion dafür zu missbrauchen, verschiedene
Akteure gegeneinander auszuspielen oder die ostdeut-
(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael
schen Landwirtschaftsbetriebe zu benachteiligen.
Goldmann [FDP]: Wo?)
(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck
Eine ernsthafte Prüfung dieses Vorschlags ist längst
[CDU/CSU]: Ich dachte, Sie wären eine Partei
überfällig; denn wir brauchen dringend effektive und be-
für ganz Deutschland!)
zahlbare Tierseuchenbekämpfungsstrategien.
Die Landwirtschaft ist wichtig: In den strukturschwa-
Apropos bezahlbar: Der Landkreis Rügen ist nach
chen ländlichen Regionen bietet sie oft die allerletzten
meinen Informationen auf 750 000 Euro Geflügelpestbe-
Arbeitsplätze.
kämpfungskosten sitzen geblieben. Das ist eine Summe,
die nicht zu schultern ist. Ich möchte daran erinnern: Der Fakt ist aber auch eines: Wir brauchen dringend eine
Einsatz der Bundeswehr wurde höchstministeriell er- Überprüfung der Effekte der öffentlichen Förderungen.
zwungen. Ich kann die Empörung über dieses nicht Mit Fördermitteln eine flächendeckende, multifunktio-
selbst verschuldete Haushaltsloch vor Ort gut verstehen. nale Landnutzung zu sichern, ist zum Beispiel sinnvoll,
Ich fordere hier nochmals unbürokratische Hilfe. weil im gesamtgesellschaftlichen Interesse. In der Land-
wirtschaft werden nicht nur Produkte für den Lebensmit-
Der Fall Rügen ist gleichzeitig ein Hinweis auf ein
(B) telmarkt erzeugt; vielmehr werden dort auch weitere ge- (D)
grundsätzliches Problem: Die zunehmend klammen
sellschaftlich erwünschte Leistungen erbracht, die nicht
Kommunalhaushalte sind bei Katastrophenfällen über-
direkt „verkauft“ werden können. Dazu zählen: Offen-
fordert. Zudem geraten Feuerwehr, THW, DRK und an-
haltung der Kulturlandschaft, Schutz von Wasser, Boden
dere Organisationen zunehmend in Nachwuchsprobleme
und einer vielfältigen Pflanzenwelt usw. usf. Für all
aufgrund des Wegzugs junger und motivierter Menschen
diese Zusatzleistungen gibt es am Markt derzeit kaum
aus den ländlichen Regionen.
Gegenleistungen. Fördergelder müssen daher den not-
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Es hängt wendigen Ausgleich schaffen, nicht mehr und nicht we-
eben alles mit allem zusammen!) niger. Schließlich müssen auch Landwirte von ihrer Ar-
beit leben können.
Wir dürfen die Kommunen mit diesen Problemen nicht
allein lassen. „Von Arbeit leben können“ ist mein nächstes Stich-
wort. Dass man von der Arbeit leben kann, ist unterdes-
(Beifall bei der LINKEN)
sen nicht mehr selbstverständlich. Die „Lausitzer Rund-
Doch zurück zur Agrarforschung. Ich bin eigentlich schau“ meldete vor wenigen Tagen:
ganz gespannt auf das schon mehrfach angekündigte
Wo es wenig Arbeit gibt, greifen Menschen zu je-
Konzept für eine zukunftsfähige Agrarressortfor-
dem Strohhalm. So nehmen sie Jobs an, deren
schung. Wer jedoch bei der Erarbeitung dieses Konzepts
Bezahlung oft nicht ausreicht, um ihren Lebensun-
nur „bürokratische Abläufe straffen und die Strukturen
terhalt zu bestreiten. Damit sind sie auf Zusatzleis-
effizienter gestalten“ will, wie Staatssekretär Paziorek
tungen von Hartz IV angewiesen.
vor wenigen Tagen erklärte, macht die gleichen Fehler,
die schon das letzte Rahmenkonzept von 1996 scheitern Das deckt sich leider mit Erfahrungen aus der Prignitz,
ließen. Richtig wäre, erst den wissenschaftlichen Bera- meinem Wahlkreis. Durch die dramatische Ausweitung
tungsbedarf der Bundesregierung zu definieren und dann des Niedriglohnsektors gibt es Armut nicht mehr nur
die vorhandenen wissenschaftlichen Ressourcen zu prü- durch ALG II; Armut gibt es unterdessen immer häufi-
fen. Die Beschäftigten in den Einrichtungen haben ger auch trotz Arbeit.
schließlich ein Recht auf eine belastbare und sinnvolle
Im ländlichen Raum spitzt sich diese dramatische Si-
Entscheidungsgrundlage über die Zukunft ihrer Arbeits-
tuation zusätzlich zu. Zum Beispiel registrieren wir eine
plätze.
zunehmende Verschiebung regulärer in Saisonarbeits-
Die aktuelle Haushaltsdiskussion findet aber auch vor plätze, die dann oft für den regionalen Arbeitsmarkt
einem neuen Diskussionshintergrund statt. Die Transpa- vollständig verloren gehen. Wenn die saisonal anfallende
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4421
Dr. Kirsten Tackmann
(A) Arbeit für die Ausübenden wieder verstetigt werden dere diesem Thema widmen. Es ist auch richtig, dass die (C)
könnte, wie es zum Beispiel französischen Arbeitgeber- Opposition das zum Hauptpunkt macht.
zusammenschlüssen gelingt, würde das viele aufgeregte
Diskussionen des Sommers zum Thema Saisonarbeit Nur, was die Politik auf Bundes- und Landesebene
sinnvoll beenden. jetzt macht, Herr Seehofer,
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: „Herr Minis-
Mit Schwierigkeiten verbunden ist zudem die Ten-
ter Seehofer“, heißt das!)
denz, dass in kleinen bäuerlichen Wirtschaften, insbe-
sondere in Südwestdeutschland, das Einkommen offen- ist Folgendes: Die Länder schieben dem Bund die Ver-
sichtlich nicht mehr ausreicht, um die Pflichtbeiträge zur antwortung zu und der Bund schiebt den Ländern die
Kranken- und Altersversicherung sowie zur Berufsge- Verantwortung zu. Man hat den Eindruck, dass niemand
nossenschaft zahlen zu können. etwas tut. Das wollen die Leute nicht hören. Vielmehr
muss jeder seine Hausaufgaben machen.
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Darum
wollen wir reformieren!) Es trifft zu, dass auch in Bayern einiges schief gelau-
fen ist. Ich finde es erschreckend, muss ich sagen, dass
In dem Willen, ihren Hof zu halten, verarmen Bäuerin-
auch dieser Skandal wieder durch einen anonymen Hin-
nen und Bauern trotz schwerer Arbeit und Selbstausbeu-
weis aufgedeckt wurde.
tung.
(Ursula Heinen [CDU/CSU]: Genau!)
Aber es geht nicht nur um den sozialen Brennpunkt
der ländlichen Räume. Menschen werden auf den Dör- Übrigens – das ist auch interessant – ging der Hinweis
fern in weiteren Bereichen zunehmend ihrer Selbstbe- nicht an die Veterinärbehörden, sondern an die Polizei.
stimmung beraubt. Zum Beispiel gibt es Regionen, in Die Veterinärbehörden sind in Bayern den Landräten
denen außer dem Schülertransport kein öffentlicher Per- untergeordnet.
sonennahverkehr mehr stattfindet. Aufgrund der Kür-
zung der Regionalisierungsmittel sollen jetzt weitere (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr gut!)
Strecken abgestellt werden, zum Beispiel in Branden- Wir müssen exakt diskutieren, ob das in Ordnung ist; ich
burg, obwohl von Arbeitskräften Mobilität erwartet habe es immer angekreidet.
wird.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist in
Auch für Verbraucherinnen und Verbraucher wird es Nordrhein-Westfalen doch nicht anders!)
auf den Dörfern immer schwieriger. Einzelhandel und
Bibliothek kommen, wenn überhaupt, nur noch mobil. Die Landräte oder die Bürgermeister sind natürlich dicht
(B) Ärzte, Schulen, Geldautomaten und Poststellen sind im- an der Gewerbesteuer dran. Sie sind auch dicht dran in (D)
mer öfter nur schwer erreichbar. Auch vom Zugang zu der Frage, was zum Beispiel mit den Arbeitsplätzen ist.
Verbraucherberatungen und -informationen sind viele Das führt leicht zu einer Verquickung. Das führt dazu,
Menschen abgeschnitten; Herr Bahr ist schon darauf ein- dass es zu große Nähe gibt.
gegangen. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. In Bayern war es so, dass die Behörde bei der Firma
Dieser schwierigen Situation im ländlichen Raum Berger Wild über den Skandal Bescheid wusste, aber
müssen wir uns stellen. Die Linken jedenfalls werden nicht agiert hat. Es ist also wichtig, die Struktur zu än-
sich nicht vom Leitbild gleichwertiger Lebensverhält- dern. Die Kontrolle darf nicht zu dicht an der Kommune
nisse in diesem Land verabschieden. dran sein, weil das zu Verwerfungen führt.

(Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:


Wir alle, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen politi- Frau Kollegin Höhn, eine Sekunde. Erlauben Sie eine
sche Verantwortung auch für die Menschen, die auf dem Zwischenfrage des Kollegen Schirmbeck?
platten Land leben.
Recht herzlichen Dank. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das wird doch nicht angerechnet. Dann stoppen Sie
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. die Zeit bitte.
Hans-Michael Goldmann [FDP])
(Heiterkeit – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das
wissen Sie doch inzwischen, Frau Höhn!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Bärbel Höhn vom
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bündnis 90/Die Grünen.
Nein, das wird nicht angerechnet.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Es ist ge-
rade mal zehn Monate her, dass wir über einen Gammel- Die Zeit läuft hier aber und läuft.
fleischskandal diskutiert haben, und schon diskutieren
wir wieder über einen solchen Skandal. Deshalb ist es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
richtig, dass wir die Haushaltsdebatte heute insbeson- Bitte schön.
4422 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Georg Schirmbeck (CDU/CSU): (Peter Bleser [CDU/CSU]: Das machen wir (C)
Verehrte Frau Kollegin, jeder von uns hat ja ein Vorle- doch!)
ben.
Was ist denn in der Zwischenzeit geschehen? Dieses
Verbraucherinformationsgesetz würde nicht dazu führen,
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass die schwarzen Schafe benannt werden, meine Da-
Ja. men und Herren. Das ist das Problem.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Ich kann mich daran erinnern, dass Sie in einem Bun- Deshalb sage ich Ihnen im Auge des Hurrikans: Er-
desland, in Nordrhein-Westfalen nämlich, das meinen greifen Sie endlich Maßnahmen und setzen Sie sie um!
schönen Wahlkreis umgrenzt, große Verantwortung ge- Ein halbes Jahr später ist aus diesem groß angekündigten
tragen haben. Verbraucherinformationsgesetz eine lahme Ente gewor-
den. Ändern Sie dieses Verbraucherinformationsgesetz
jetzt! Jetzt haben Sie den Schwung und auch Rücken-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wind von der Bevölkerung; jetzt können Sie es ändern.
Richtig. Tun Sie es, nachdem Sie schon ein halbes Jahr nicht in
der Lage waren, etwas zu unternehmen!
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben gerade gesagt, wer alles unfähig ist, Land-
räte usw. Haben Sie den Namen Coppenrath & Wiese
schon einmal gehört? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Höhn, erlauben Sie eine weitere Zwi-
schenfrage, und zwar der Kollegin Heinen?
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ja. Bitte stoppen Sie die Zeit.
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Durch ein Fernsehinterview von Ihnen wurde dieser
Firma etwas angedichtet, das der Kollege Bartels aus Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Niedersachsen dann heilen musste. Das hätte eine hoch- Bitte schön.
moderne, hocheffiziente, alle Gesetze einhaltende Firma
(B) fast den Kopf gekostet. Ursula Heinen (CDU/CSU): (D)
Wenn Sie hier jetzt alle Behörden, alle Institutionen Frau Höhn, ist Ihnen entgangen, dass der Deutsche
so kritisieren, wie Sie das gerade im Schnelldurchgang Bundestag noch vor der Sommerpause eine Änderung
wieder gemacht haben, dann sollten Sie sich einmal den des § 40 Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch ver-
Spiegel Ihrer eigenen Vergangenheit vorhalten. abschiedet hat, nach der es in Zukunft ausdrücklich er-
laubt ist und die Behörden angewiesen sind, die Firmen
zu nennen, deren Produkte nicht in Ordnung sind, auch
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wenn sie vom Markt verschwunden bzw. nicht auf dem
Das mache ich gern. – Bei der Firma Coppenrath & Markt sind? Das heißt, im September wird es, wenn der
Wiese war es so, dass die CDU in Hessen uns damals ge- Bundesrat, der seine Zustimmung schon signalisiert hat,
sagt hat: Wir haben ein Problem. – Dieses Problem habe zustimmt, zu einer entsprechenden Änderung kommen.
ich aufgegriffen. Ich habe das noch nicht einmal so dra- Haben Sie an dieser Abstimmung nicht teilgenommen?
matisch gemacht wie die Hessen. Richten Sie diesen Außerdem frage ich: Wie haben Sie denn vor der Som-
Vorwurf also an die CDU in Hessen und gucken Sie sich merpause im Bundestag über § 40 Lebensmittel- und
den Fall noch einmal an! Futtermittelgesetzbuch abgestimmt?
(Widerspruch des Abg. Georg Schirmbeck
[CDU/CSU]) Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Dieses Verbraucher-
Aber lenken Sie nicht ab; denn es geht hier um Herrn
informationsgesetz habe ich abgelehnt,
Seehofer
(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört!
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Nein, um Ihre Hört!)
Glaubwürdigkeit geht es, Frau Kollegin!)
und zwar weil es schlecht ist. Es ist in der Tat ein löchri-
und Herr Seehofer hat seine Hausaufgaben in diesem ger Käse.
Fall nicht gemacht.
(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann
Ich kann mich sehr genau erinnern, dass Herr [FDP])
Seehofer Anfang dieses Jahres gesagt hat: Wir werden
die schwarzen Schafe benennen. – Das war sein Haupt- Das, was Sie erreichen wollen, nämlich dass die in die-
punkt: das Verbraucherinformationsgesetz. Heute sagt sem Fall Betroffenen genannt werden, wird nicht eintre-
er, die Anbieter müssten öffentlich benannt werden. ten.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4423
Bärbel Höhn
(A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Hundert- ter wurde, der Erste, der hier gesagt hat, er kaufe beson- (C)
prozentig richtig!) ders preiswert ein; alles sei so wie früher, alles sei gut.
Wenn alle Lebensmittel gleich gut sind, meine Damen
Heute sagen Ihnen die Experten, dass die Betroffenen
und Herren, dann zählt für die Verbraucher nur noch ei-
nach diesem Verbraucherinformationsgesetz nicht ge-
nes, nämlich der Preis. Wir sind heute – das sagen Vete-
nannt werden müssten. Dass die gewünschte Wirkung
rinäre in Deutschland – ein Markt für Gammelfleisch.
des Verbraucherinformationsgesetzes nicht eingetreten
ist, sehen Sie ja. Es gibt doch offensichtlich niemanden (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU,
auf diesem Markt, der vor diesem Verbraucherinforma- der SPD und der FDP)
tionsgesetz Angst hat. Die abschreckende Wirkung, die
Sie sich erhofft haben, ist eben nicht eingetreten. Des- All das, was andere Länder hier in Europa nicht loswer-
halb ist es falsch, einfach auf dieses Verbraucherinfor- den, bringen sie in Deutschland auf den Markt.
mationsgesetz zu setzen. Wir müssen es ändern. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Der Präsi-
Vor allen Dingen müssen wir eines machen: Wenn dent müsste einschreiten! Sie beleidigen das
Herr Seehofer heute von den Anbietern spricht, dann ist ganze deutsche Ernährungsgewerbe!)
das wieder nur eine radikale Forderung, hinter der nichts Wenn Sie von der CDU dieses Problem nicht einsehen,
steckt. Es soll nur wieder der kleine Fleischmakler be- dann werden wir den Gammelfleischskandal überhaupt
nannt werden. Aber wer hat denn von diesem kleinen nicht in den Griff bekommen.
Fleischmakler das Fleisch gekauft? Das waren große
Fleischkonzerne; sie haben es gemacht, weil sie dadurch (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie setzen
eine Menge Geld gespart haben. Genau die müssen auch Zehntausende Arbeitsplätze aufs Spiel!
benannt werden; denn sie wissen, was sie tun. Furchtbar, was Sie hier erzählen!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Setzen wir wieder da an, wo wir gute Politik gemacht
haben: Setzen wir bei der Qualität an, meine Damen und
Nur über diese Selbstheilungskräfte der Branche
werden wir es schaffen, diesen Gammelfleischmarkt Herren! Nur bei einem vernünftigen Preis-Leistungs-
Verhältnis – wenn die Leute nach Qualität einkaufen –
endlich in den Griff zu bekommen. Das ist der richtige
werden wir die Diskussion um Gammelfleisch endlich
Weg; der richtige Weg sind nicht irgendwelche billigen
und auch rigorosen Ankündigungen, wie sie heute wie- wegbekommen in diesem Land.
der von Herrn Seehofer kommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Höhn,
Frau Höhn – –
(B) welcher Fleischkonzern hat denn gekauft? Das (D)
stimmt doch gar nicht, was Sie da sagen!)
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
An einem Punkt gebe ich Herrn Seehofer Recht, und
Ich komme zum Schluss.
zwar bezüglich der Strafen. Es gibt schon heute ein aus-
reichendes Maß an Strafen; das stimmt. Es ist Zeit, dass sich was dreht, meine Damen und
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt Herren. Machen Sie eine andere Politik!
nicht!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Aber die Gerichte haben in den vergangenen Jahren
Frau Höhn, bevor Sie zum Schluss kommen, möchte
trotzdem ein relativ niedriges Strafmaß angewendet;
der Kollege Goldmann gern eine Zwischenfrage stellen.
auch das müssen wir sehen.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Und was Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
sollen wir dagegen machen?)
Ja, bitte.
Der letzte Punkt. Herr Seehofer spricht von Quali-
tätsstandards. Ebenso spricht er davon, dass Bund und (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Länder sich besser abstimmen müssen. Ich kann mich NEN]: Herr Solms, Sie machen die schöne
sehr genau erinnern, dass er gesagt hat, die Abstimmung Rede kaputt für den FDP-Beitrag! Das war ja
zwischen Bund und Ländern werde er in den Griff be- wieder eine gute neutrale Amtsführung! – Ge-
kommen, anders als Frau Künast, die Symbolpolitik be- genruf des Abg. Georg Schirmbeck [CDU/
trieben habe. Er hat sie aber nicht in den Griff bekom- CSU]: Keine Kritik am Präsidenten!)
men; Bayern hat eben nicht gemeldet. Jetzt spricht er
von Qualitätsstandards. Das finde ich richtig. Aber wa- Hans-Michael Goldmann (FDP):
rum hat er diesen Punkt nicht bei der Föderalismusre- Frau Künast, jetzt, wo Sie da sind, sollten Sie einen
form eingebracht? Er hatte monatelang die Möglichkeit, Moment zuhören. Frau Höhn hatte fünf Minuten Rede-
eine Änderung der verschiedenen Strukturen herbeizu- zeit – schauen Sie einmal, wie liebenswürdig der Präsi-
führen. Diese Möglichkeit hat er verstreichen lassen, dent zu Frau Höhn war.
stellt aber heute erneut die gleiche Forderung.
Bei der Qualität und den Qualitätsstandards holt ihn Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
seine eigene Politik ein. Herr Seehofer war, als er Minis- Sie sind jetzt ja auch dran!
4424 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Hans-Michael Goldmann (FDP): andere ihre schlechten Produkte hierher bringen, dann (C)
Frau Höhn, ich finde das ja alles ganz spaßig, was Sie werden wir dieses Problem nicht in den Griff bekom-
sagen. Sind Sie bereit, am Freitag in der Ausschusssit- men.
zung – nicht öffentlich – zu sagen, welche Veterinäre Ih-
nen gesagt haben, dass Deutschland sozusagen ein Land (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist abenteu-
des Gammelfleisches ist? erlich, was Sie da von sich geben!)
Am Ende werden die Arbeitsplätze, die Sie jetzt schüt-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zen wollen, eher verloren gehen, als wenn wir das Pro-
Ja, ich bin bereit. blem rechtzeitig angehen und die Lösungen dazu nach
vorne bringen.
Hans-Michael Goldmann (FDP): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Werden Sie am Freitag verifizieren, um welche Grö- Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist das
ßenordnungen es dabei geht? Ich finde das, was Sie hier Allerletzte! – Hans-Michael Goldmann [FDP]:
sagen, zutiefst skandalös. Wenn Sie, die Sie Fachminis- Das war aber heftig! – Weitere Zurufe des
terin eines Landes waren, in dem die Fleischwirtschaft Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP] sowie
eine sehr zentrale Rolle spielt – ich denke zum Beispiel Gegenrufe der Abg. Bärbel Höhn [BÜND-
an das Münsterland oder an Wiedenbrück –, so etwas sa- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Glocke des Präsi-
gen, dann bezeichne ich das als einen klassischen Ar- denten)
beitsplatzvernichter ersten Ranges, der durch nichts,
durch überhaupt nichts zu rechtfertigen ist.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das Wort hat jetzt der Kollege Peter Bleser. Bitte
neten der FDP) schön.
Sie haben eben gesagt – wenn ich das ein bisschen (Beifall bei der CDU/CSU)
verkürzt wiederholen darf –: Deutsche Fleischkonzerne
handeln mit Gammelfleisch. – Sind Sie sich über die
Peter Bleser (CDU/CSU):
Aussage, die Sie gerade getätigt haben, im Klaren?
Glauben Sie, dass Sie wirklich einen deutschen Fleisch- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist
konzern nennen können, der mit Gammelfleisch han- diese Generaldebatte um den Haushalt durch ein Thema
delt? Oder sind es nicht vielleicht eher die Kleinen, die bestimmt, nämlich die Aufarbeitung des Gammel-
Schwachen in diesem System, die diese Situation miss- fleischskandals. Deswegen möchte und muss auch ich
(B) brauchen? Ich bitte Sie wirklich, in dieser Frage etwas dazu einige Äußerungen machen, gerade in Bezug auf (D)
rücksichtsvoller gegenüber einer leistungsfähigen Bran- die hier gerade vorgetragenen Reden von Herrn
che und gegenüber den Arbeitsplätzen in diesem Bereich Goldmann und von Frau Höhn.
zu sein, die viele, viele Haushalte finanzieren. Herr Kollege Goldmann, ich glaube, Sie waren nicht
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sehr redlich, als Sie dem Minister unterstellt haben, dass
neten der FDP) er hier behauptet habe, es gebe bei der Lebensmittelkon-
trolle keine Probleme, es sei alles okay.
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, er hat
Herr Goldmann, Sie tun der Fleischwirtschaft keinen ja das Gegenteil gesagt!)
Gefallen, wenn Sie dieses Problem negieren.
Gerade Herr Seehofer hat unabhängig von der politi-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Tue ich schen Farbe einer Landesregierung sehr deutlich ge-
nicht!) macht, welche Fehler zu beheben sind und was bisher
Wir alle wissen von vielen Bereichen – von der Fleisch- nicht richtig gelaufen ist. Ich glaube, es ehrt einen Bun-
wirtschaft, aber auch von anderen Bereichen –, dass der desminister insbesondere, wenn er in dieser Klarheit und
deutsche Markt mittlerweile ein Markt ist, der nicht ohne parteipolitische Zuordnung vorgeht. Das ist zu
mehr von Qualitätsprodukten gekennzeichnet ist. rechtfertigen.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist ja (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Schwachsinn, was Sie da sagen! – Weitere Zu- neten der SPD)
rufe von der CDU/CSU) Das Nächste, was Sie hier unterstellt haben, hat eine
Wir zwei waren gemeinsam in den Niederlanden. Was besondere Qualität. Sie meinen, das Verbraucherinfor-
haben uns da die Gemüsehändler erzählt? Sie haben ge- mationsgesetz – wenn es denn in Kraft getreten ist; das
sagt: Die Gemüse mit der hohen Qualität gehen nach wird noch einige Wochen dauern; das wissen die Men-
Großbritannien, die Gemüse mit der niedrigen Qualität schen draußen nicht – schaffe keine verbesserte Lage.
nach Deutschland. Das liegt auch an dem harten Wettbe- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Für diesen
werb der Händler hier in Deutschland. Wenn wir dieses Fall keine verbesserte Lage! Richtig!)
Problem negieren – für mich ist Großbritannien kein
Gourmetland, das muss ich ganz ehrlich sagen – und der Herr Goldmann, ich erinnere daran, dass die FDP und
harte Preiswettbewerb bei uns am Ende dazu führt, dass insbesondere Sie es waren, die in den Verhandlungen des
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4425
Peter Bleser
(A) Vermittlungsausschusses in den letzten Legislaturperio- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C)
den Herr Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höhn?
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Früher! Das
ist lange her!)
Peter Bleser (CDU/CSU):
darauf bestanden haben, dass nur dann Namen genannt Bitte schön.
werden dürfen, wenn Verwaltungsverfahren rechtskräf-
tig abgeschlossen sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Frau Höhn.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig! Es
sei denn, es ist gesundheitliche Gefahr in Ver-
Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
zug! Das ist doch jetzt schon!)
Herr Bleser, Sie haben gerade gesagt, ich hätte etwas
Das würde bedeuten, dass es unter Umständen Jahre unterstellt, was ich begründen müsse, nämlich dass in
dauert, bis ein Gerichtsurteil verkündet ist, infolgedessen den Landkreisen eine zu große Nähe zwischen den Kon-
man die entsprechende Person oder das entsprechende trolleuren und den dortigen Wirtschaftsvertretern be-
Unternehmen nennen darf. Das ist kein Verbraucher- stehe. Herr Bleser, was sagen Sie dann zu dem Wild-
schutz, so wie wir ihn wollen. fleischskandal in Bayern, bei dem erwiesen ist, dass die
Behörden nicht eingegriffen haben, obwohl sie wussten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – dass der Wildfleischlieferant Berger Fleisch, dessen
Hans-Michael Goldmann [FDP]: Vertrau dem Haltbarkeit abgelaufen war, weiterverkauft hat? Was für
Tierarzt!) ein Verhalten ist das Ihrer Meinung nach? Belegt das
nicht eine zu große Nähe zwischen Behörden und dem
Nach dem bald in Kraft tretenden Verbraucherinfor- Unternehmen? Fällt das nicht genau unter den Punkt,
mationsgesetz ist nicht nur die Nennung des Namens den ich genannt habe, nämlich dass Behörden nicht tätig
desjenigen Unternehmens, welches gegen Gesetze ver- werden, obwohl ihnen bekannt ist, dass vor Ort ein nicht
stoßen hat, möglich, sondern auch die Nennung derjeni- gesetzmäßiges Verhalten stattfindet?
gen, die das Produkt nicht mehr auf dem Markt haben,
und derjenigen, die das Produkt bezogen haben. Das ist
Peter Bleser (CDU/CSU):
eine neue Qualität, die ihre Auswirkung auf den Markt
mit Sicherheit nicht verfehlen wird. Frau Höhn, das ist ganz banal: Sie können nicht einen
Einzelfall – den ich natürlich beanstande und kritisiere –
(B) (Beifall bei der CDU/CSU) verallgemeinern und damit eine ganze politische Kultur (D)
infrage stellen.
Ich hoffe, dass die abnehmenden Unternehmen, aber
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
insbesondere auch die Verbraucher die öffentlich ge-
nannten Unternehmen durch Kaufverweigerung entspre- neten der SPD und der FDP)
chend sanktionieren. Wenn es nicht anders geht, kann Ganz im Gegenteil: Die räumliche Nähe führt dazu, dass
dies zum Schließen eines Unternehmens führen; denn insbesondere die Kommunen ihre Pappenheimer – so
nur so bekommen wir eine veränderte Situation, die zu will ich sie einmal bezeichnen – eher kennen, als es der
Qualität zwingt. Das ist unser Antritt. Den haben wir Fall ist, wenn nicht vor Ort ansässige oder ferngesteuerte
sehr klar mit unseren Festlegungen im Verbraucherinfor- Kontrolleure auftreten.
mationsgesetz verfolgt.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ferngesteuert? Unabhängig heißt das!)
Die Nähe kann hilfreich sein. Aber in dem einen Fall hat
Sie, Frau Höhn – wenn Sie mir Ihre geneigte Auf-
sie sicher nicht zu besonderer Objektivität geführt.
merksamkeit zuwenden würden! –,
Meine Damen und Herren, wir beraten heute den
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Agrarhaushalt. Erlauben Sie mir, dass ich neben dem
NEN]: Dann müssen Sie aber auch etwas jetzt angesprochenen Thema auch auf dieses Spektrum
Spannendes sagen!) eingehe.
haben den Landräten unterstellt, dass die Kommunen die Ich denke, wir können schon voller Stolz sagen, dass
Produzenten bzw. Vertreiber von Gammelfleisch decken die Politik der ersten gut neun Monate dieser Bundesre-
würden. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. Das sollten Sie gierung gerade in der Agrarwirtschaft enorme Erfolge zu
belegen; ansonsten würde ich so etwas hier in diesem verzeichnen hat. Es gibt einen Stimmungswandel, Frau
Haus nicht sagen. Künast, allein schon durch die Tatsache, dass Sie nicht
mehr hier vorne sitzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich sage auch Ihnen: Sie erwecken den Eindruck, dass neten der FDP – Renate Künast [BÜND-
durch das Verbraucherinformationsgesetz nichts verän- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber! – Zuruf von
dert werde. Das ist eine Fehleinschätzung, deren Ursa- der SPD: Das ist nicht sauber! – Gegenruf des
che eine gewisse Realitätsferne ist. Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das war
4426 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Peter Bleser
(A) aber gut! So denken die Leute draußen! Das mern das begrüßt. Er muss doch wissen, dass in der Öf- (C)
war richtig!) fentlichkeit nur sehr schwer ein Verständnis dafür herzu-
stellen ist, dass Mittel an Großstrukturen übertragen
– Man soll sich hier halt nicht mit Zwischenrufen profi-
werden. Ich meine, die Menschen haben einen Anspruch
lieren.
auf Verlässlichkeit. Sie müssen sich darauf verlassen
Dieser Stimmungswechsel drückt sich ganz konkret können, dass die GAP-Reform, die bis 2013 abgeschlos-
in der Tatsache aus, dass sich das Agrarkonjunkturbaro- sen sein wird, auch so umgesetzt wird, wie sie beschlos-
meter von 50 Punkten im März 2004 auf 113 Punkte im sen worden ist.
Juni dieses Jahres mehr als verdoppelt hat. Die Land-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
wirte investieren wieder. Sie haben Vertrauen in die Zu-
kunft. Ihre Einkommen sind gestiegen. Diesen hoff- Die Maßnahmen müssen so ausfallen, wie es die Land-
nungsvollen Weg setzen wir konsequent fort und wirte kalkuliert haben.
deswegen sind wir schon ein Stück stolz darauf, dass es
Wir haben nämlich – das muss man der Öffentlichkeit
auch im Haushalt 2007 gelungen ist, eine Kürzung der
sagen – eine Kürzung in der ersten Säule um circa
Bundesmittel bei der landwirtschaftlichen Unfallversi-
15 Prozent zu erwarten, wenn Bulgarien und Rumänien
cherung
der Europäischen Union beitreten. Bei der zweiten Säule
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: sind es – jedenfalls nach der jetzt vorliegenden Berech-
Trickreich, ja!) nung – nur 12 Prozent. Es wäre angebracht, dass hier
eine Gleichbehandlung erfolgt.
und Beitragssatzerhöhungen, die Sie immer wieder ver-
ursacht haben, zu vermeiden. Es besteht die Gefahr, dass, wenn wir die Transpa-
renzrichtlinie so umsetzen, wie sie die Europäische
Wir haben im Übrigen auch die Mittel für den Verbrau-
Union vorschlägt, Neid und Missgunst in die Dörfer ge-
cherschutz in diesem Haushaltsentwurf um 13,2 Millionen
tragen werden.
Euro angehoben. Ich bin sicher: Auch das wird zu einer ent-
sprechenden Veränderung des Bewusstseins draußen füh- (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP)
ren.
Ich glaube, die Landwirte haben einen Anspruch darauf,
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dass ihre Privatsphäre geschützt wird
Ich dachte, es wäre die bessere Stimmung!)
(Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE
Ich will aber jetzt noch etwas zu der landwirtschaft- GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen-
lichen Unfallversicherung sagen, weil die von den Be- frage – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau
(B) troffenen in der Öffentlichkeit geäußerte Kritik in den Künast!) (D)
letzten Wochen zugenommen hat. Ich bin nicht sicher,
wie lange es noch gelingt, und dass sie nicht als einzige Berufsgruppe, die staatli-
che Hilfen erhält, ihr Einkommen, das zu einem wesent-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: lichen Teil aus diesen staatlichen Hilfen besteht, offen
Was willst du denn?) legen müssen.
diese Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfall- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
versicherung zur Verfügung zu stellen. Deswegen ist NEN]: „Zu einem wesentlichen Teil“?)
eine grundsätzliche Reform der landwirtschaftlichen Un-
fallversicherung, auch nach dem Bericht des Bundes- Hier gehen wir an die Ehre der Bauern und das ist mit
rechnungshofes, unvermeidlich. uns nicht zu machen.

(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wie?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dabei sind uns die Beitragszahler, die Bauern und ihre Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Mitarbeiter, am wichtigsten. Ich hoffe, dass die Ange- Herr Kollege Bleser, erlauben Sie eine Zwischenfrage
stellten der Unfallversicherungen das nötige Verständnis der Kollegin Künast?
aufbringen und sie die notwendigen Veränderungen mit-
tragen.
Peter Bleser (CDU/CSU):
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sagt das der Ja, bitte.
Minister auch?)
Darüber hinaus stehen wir in den nächsten Monaten Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
auch vor der Frage, ob wir bei der Bewertung der ersten Herr Bleser, die von Ihnen aufgeworfene Frage der
und der zweiten Säule eine Umschichtung durch eine hö- Ehre beschäftigt mich an der Stelle. Zunächst einmal
here Modulation vornehmen sollen oder nicht. In diesem habe ich Zweifel daran, dass sich die Einkommen der
Zusammenhang und auch im Zusammenhang mit der Bauern „im Wesentlichen“, wie Sie es gerade gesagt ha-
EU-Transparenzrichtlinie wird eine heftige Debatte ben, aus den Zahlungen aus Brüssel ergeben. Was mich
geführt. Nicht wenige hier in diesem Haus wollen ja, aber besonders wundert, ist, dass Sie hier eine Sonder-
dass alle Zahlungen an die Landwirte veröffentlicht wer- stellung der Bauern behaupten. Können Sie mir erklären,
den. Ich wundere mich insbesondere darüber, dass der warum für Landwirte die Veröffentlichung der erhalte-
Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpom- nen Subventionen irgendwie ungerecht wäre – das ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4427
Renate Künast
(A) Ihre Formulierung –, während Ihr Gehalt als Mitglied Ich fasse zusammen: Wir müssen beim Verbraucher- (C)
des Deutschen Bundestages, mein Gehalt oder das des schutz natürlich weitergehen und dürfen uns nicht nur
Ministers per Gesetz veröffentlicht wird? auf den Lebensmittelsektor beschränken. Wir haben
durch unsere Initiativen bei den Roamingentgelten schon
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist das eine zu einer Veränderung beigetragen, wir werden auch bei
Subvention? – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: den Fahrgastrechten bei der Bahn weitere Verbesserun-
Frau Künast wird subventioniert!) gen zugunsten des Verbraucherschutzes erreichen. Wir
Sie müssten doch gleichermaßen eine Kampagne dafür werden in den nächsten Jahren ganz sicher dazu beitra-
führen, dass Minister- und Abgeordnetenbezüge in Zu- gen, dass die Verbraucher mehr zu Qualitätsprodukten
kunft nicht mehr öffentlich gemacht werden, frei nach greifen. Da bei Markenprodukten eine direkte Bezie-
dem Motto, das diskriminiere sie und sei der Gesell- hung zwischen Kunde und Hersteller besteht, ist es mir
schaft nicht zu vermitteln. ein besonderes Anliegen, dass Markenprodukte größere
Marktanteile erreichen und weniger zu No-Name-Pro-
Durch das Verbraucherinformationsgesetz soll mehr dukten gegriffen wird.
Transparenz geschaffen werden. Meinen Sie nicht, dass
Wir haben erreicht, dass Verbraucher und Landwirt-
die Steuerzahler das gute Recht haben zu erfahren, wo-
schaft wieder Vertrauen zueinander finden. Beim Le-
hin das Geld fließt? Wohlgemerkt, es geht um die Höhe
bensmittelhandel müssen wir noch zu mehr Vertrauen
der erhaltenen Subventionen, nicht um den Umsatz eines
kommen, aber auch daran werden wir arbeiten. An die-
jeden Betriebes. Wie kommen Sie dazu zu behaupten,
sen Aussagen können Sie uns messen.
das sei ungerecht, da Ihr eigenes Gehalt öffentlich ist?
Herzlichen Dank.
Peter Bleser (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der
Frau Künast, wir könnten das für alle Berufsgruppen FDP)
und diejenigen, die staatliche Transferleistungen erhal-
ten – das fängt beim Hartz-IV-Empfänger an und geht Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
über die Kohlesubvention bis hin zu den Gehaltszahlun- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Edmund Geisen
gen der Beamten und Angestellten des öffentlichen von der FDP-Fraktion.
Dienstes –, öffentlich machen. Das würde zu einem ge-
waltigen Bürokratieaufwand führen und unter Umstän-
den sogar Arbeitsplätze schaffen. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine
(B) (Ulrich Kelber [SPD]: Ich erkläre Ihnen ein- Herren! Ich bin in vielerlei Hinsicht anderer Meinung als (D)
mal, wie Computer funktionieren!) mein Vorredner. Ich denke, dass von der jetzigen Regie-
rung bisher noch kein Problem im Bereich Landwirt-
– Herr Kelber, sicher ist das elektronisch zu vereinfa- schaft, Ernährung und Verbraucherschutz gelöst wurde
chen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber was sagen Sie, Frau Künast, als Repräsentantin
der Grünen in diesem Zusammenhang zum Daten- und keine wirksamen Reformen in Gang gesetzt wurden.
schutz? Was hat das mit dem Schutz der Privatsphäre zu
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
tun?
der LINKEN)
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Schlimmste, was man dem zuständigen Minister
NEN]: Man muss das Geld ja nicht nehmen! vorzuwerfen hat, ist der andauernde Zick-Zack-Kurs sei-
Dann hat man auch kein Datenschutzpro- ner Politik.
blem!)
Herr Minister Seehofer, wir von der FDP haben sorg-
– Das, Frau Künast, war die größte Unverschämtheit, die fältig notiert, dass Sie innerhalb eines halben Jahres min-
ich mir bisher von Ihnen anhören musste. destens 13 unterschiedliche Bewertungen zum System
der landwirtschaftlichen Unfallversicherung öffent-
Sie haben eine Agrarpolitik betrieben, in deren Folge
lich abgegeben haben. Das heißt: Durchschnittlich alle
landwirtschaftliche Betriebe bis zum Jahr 2013 vor gra-
14 Tage plädierten Sie für eine neue Reformvariante.
vierende Veränderungen gestellt wurden, die sie ohne
diese Hilfen überhaupt nicht überstehen können. In die- Bei den Beratungen zum Koalitionsvertrag vom No-
ser Situation wollen Sie die Menschen an die Öffentlich- vember 2005 setzen Sie sich für ein modernisiertes land-
keit zerren und durch eine Neiddiskussion um diese Hil- wirtschaftliches Sozialversicherungssystem ein. Am
fen bringen. Das ist der wahre Grund, der hinter Ihrem 12. Dezember 2005 kritisieren Sie Frau Künast im
Handeln steht. „Focus“ wegen der 50-Millionen-Euro-Kürzung der
LUV-Bundesmittel mit der Begründung, dies werde über
(Beifall bei der CDU/CSU – Ulrike Höfken Beitragserhöhungen zum Knock-out des Berufsstandes
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das führen. Übrigens: Genau dasselbe machen Sie nun im
der CSU! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ aktuellen Haushaltsentwurf.
DIE GRÜNEN]: Das war zwar keine Antwort,
aber als Versuch gut!) (Beifall bei der FDP)
4428 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Edmund Peter Geisen


(A) 19. Dezember 2006, „top agrar“: Sie sprechen von der Ver- andere Signal aus. Passen Sie auf, dass Sie die Bauern (C)
zahnung der Systeme. 16. Januar 2006, „Agra-Europe“: auf dieser Spielwiese nicht ins Abseits manövrieren.
Kürzungen werden vermieden. 8. April 2006, „Badische
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Bauern Zeitung“: Der Minister spricht vom System-
wechsel in Richtung Kapitaldeckungsverfahren. 29. Mai (Beifall bei der FDP)
2006 „top agrar Online“: Kein Systemwechsel. Während
er am 19. Juni in „Agra-Europe“ die Privatisierung for- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
dert, lehnen seine Staatssekretäre diese am 26. Juni in Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der
„top agrar Online“ ab. Am 4. Juli, „dlz agrarmagazin SPD-Fraktion.
Online“, kommt das Kapitaldeckungsverfahren wieder
auf den Tisch. Am 17. Juli, „Bayerisches Landwirt-
schaftliches Wochenblatt“, heißt es: Die Privatisierung Manfred Zöllmer (SPD):
ist nicht möglich. Und nun der Haushaltsentwurf 2007: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kürzungsvorschläge ähneln denen von 2005. Es Herr Goldmann, Frau Tackmann, Frau Höhn, wer das
handelt sich um eine Kürzung: Sie nehmen zunächst eine Verbraucherinformationsgesetz, das mehr Transparenz
Verlagerung der Mittel vor, die später in eine direkte schafft und die Namensnennung von Unternehmen er-
Beitragskürzung einmünden wird. möglicht, hier im Parlament abgelehnt hat, ist als Kriti-
ker der Bundesregierung völlig unglaubwürdig.
Verehrter Herr Seehofer, Ihr Vorgehen – rein in die
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln – ist für den betroffe-
der CDU/CSU)
nen Berufsstand unerträglich und bedeutet einen enor-
men Verlust des Vertrauens in die Politik. Dieses Verhal- Verbraucherpolitische Themen stehen – die Debatte
ten führt zu einer großen Verunsicherung. Wir von der hat das deutlich gemacht – wieder einmal an der Spitze
FDP fragen Sie deshalb: Erstens. Welchen Weg schlagen der Nachrichtenagenda. Wir haben bereits über den
Sie als ausgewiesener Sozialpolitiker tatsächlich vor? Gammelfleischskandal in Bayern gesprochen. Ich werde
Zweitens. Was halten Sie von dem FDP-Vorschlag einer dieses Thema auch noch einmal aufgreifen. Die Strom-
kapitalgedeckten landwirtschaftlichen Unfallversiche- anbieter verkünden höhere Preise. Zu den auf der Inter-
rung? nationalen Funkausstellung vorgestellten technischen In-
novationen zählt insbesondere die Verbindung von
(Zurufe von der SPD: Nichts! Gar nichts!) Fernsehen, Internet und Sprachkommunikation. Allein
Drittens. Warum verunsichern Sie permanent die zum diese drei Felder belegen sehr deutlich, welche Band-
Teil am Existenzminimum Berührten durch drohende breite eine aktive und gestaltende Verbraucherpolitik be-
(B) Beitragserhöhungen, anstatt eine Altlastenbefreiung vor- kommen hat. (D)
zunehmen und einen Reformvorschlag auf den Tisch zu In dieser Debatte ist eines sehr deutlich geworden:
legen? Übrigens: Unsere Einsparvorschläge geben die Wir können und werden es nicht mehr zulassen, dass
Absicherung im sozialen Bereich her. sich skrupellose Unternehmer auf Kosten der Gesund-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) heit vieler bereichern. Es ist wirklich bitter, dass auch
nach dem letzten Skandal, der nur wenige Monate her
Wir stehen nun vor der Obst- und Weinernte. Die vor ist, viele Bundesländer ihre Hausaufgaben offenbar nicht
wenigen Monaten beschlossene Eckpunkteregelung für gemacht haben. Wieder einmal ist der Fall nur durch
die Saisonarbeitskräfte war ein Flop. anonyme Hinweise und nicht aufgrund staatlicher Kon-
trollen aufgedeckt worden. Es kann und darf nicht sein,
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!)
dass viele Bundesländer die Kontrollen im Lebensmit-
Sie hilft weder den Arbeitslosen noch den Saisonarbeits- telbereich zum Sparziel bei schwieriger Haushaltslage
kräften noch den Bauern. Nein, sie verdirbt die Ernte. machen. Die Gesundheit der Menschen muss Vorrang
Die FDP hat dazu übrigens einen Antrag eingebracht. vor den Sparnotwendigkeiten der Landeshaushalte ha-
Geben Sie den Erntehelfern eine Chance, indem Sie für ben.
Freiheit sorgen und bilaterale Vereinbarungen ermögli- Im Radio wurde berichtet, dass in München die Zahl
chen. der Lebensmittelkontrollen in den letzten Jahren halbiert
(Beifall bei der FDP) worden ist. Das deutet darauf hin, dass man sich hier auf
einem wirklich schlechten Weg befindet und Herr Minis-
Wir brauchen eine Zukunftspolitik für die deutsche ter Seehofer mit seiner Kritik an den Ländern und an ih-
Landwirtschaft und das Vertrauen der Verbraucher in die rem Gebaren in diesem Zusammenhang Recht hat.
angebotenen Produkte. Die Agrarpolitik der großen Ko-
alition gleicht einem Spiel, bei dem sich alle lustig aus- Herr Goldmann, Sie haben Unrecht, weil Sie die Ver-
toben, aber kein Tor fällt. antwortlichkeiten nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Ich
kann das Gleiche in Richtung von Frau Höhn sagen.
(Beifall bei der FDP) Wenn die Länder im real existierenden Föderalismus
nicht bereit sind, die notwendige Verantwortung zu über-
Für die betroffenen Landwirte ist dieses ewige Hin und
nehmen, dann muss der Bund reagieren.
Her indes weniger lustig. Die FDP fordert klare Zielset-
zungen, Verlässlichkeit und nachhaltige Entscheidungen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!
Von Ihrer Agrarpolitik geht aber weder das eine noch das Das hat er nicht gemacht!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4429
Manfred Zöllmer
(A) Wir haben bei der Diskussion über die Föderalismus- Ein weiteres Drehen an der Preisspirale ist nicht mehr (C)
reform erlebt, wie sehr die Länder ihre Besitzstände in hinnehmbar. Wenn man sich die Entwicklung ansieht,
diesem Bereich verteidigt haben. Das kann auf Dauer so dann stellt man fest, dass in diesem Bereich in den letz-
nicht mehr gehen. ten Jahren Preissteigerungen von teilweise bis zu
50 Prozent zu verzeichnen sind.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie wollen
noch mehr Föderalismus!) Deshalb müssen die Landesregierungen etwas tun.
Hier sind die Länder verantwortlich, die noch bis zum
Wichtig ist – das hat der Minister deutlich gemacht –, 1. Juli 2007 die Anträge auf Strompreiserhöhungen zu
dass bundeseinheitliche Qualitätsstandards bei der Le- genehmigen haben. Sie müssen diese Anträge sorgfältig
bensmittelüberwachung eingeführt werden. prüfen und die Verbraucherinteressen dabei besonders
(Mechthild Rawert [SPD]: Auf hohem berücksichtigen. Wenn die Anträge ungerechtfertigt
Niveau!) sind, sollten sie sie auf jeden Fall ablehnen. Den entspre-
chenden Ankündigungen vieler Länderminister müssen
– Auf sehr hohem Niveau. Taten folgen.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Vor allen (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
Dingen in Berlin!) FDP)
Darüber hinaus müssen wir dafür sorgen, dass die Ich sage auch: In diesem Bereich ist kein Platz für Po-
Rückverfolgbarkeit der Waren verbessert wird. pulismus. Der Vorschlag der nordrhein-westfälischen
Wirtschaftsministerin, die Länderaufsicht über den
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja richtig! 1. Juli 2007 hinaus zu verlängern, stellt keine Lösung
Macht QS!) dar. Denn bei diesen Genehmigungen geht es nur um ein
Das ist ganz wichtig, damit klar ist, wer an wen was ge- Drittel der Kosten: um die Netznutzungsgebühren für die
liefert hat. Der Einsatz moderner Technologien, zum privaten Haushalte. Auf diesem Markt brauchen wir
Beispiel der RFID-Tags, kann helfen, eine lückenlose wirklichen Wettbewerb, keine staatlichen Placebos.
Rückverfolgbarkeit möglich zu machen. Durch die Novellierung des Energiewirtschafts-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Gute wirt- gesetzes stehen die Bundesnetzagentur und zukünftig
schaftliche Betriebe machen das! Das ist QS- die Kartellbehörden in der Verantwortung, für Preisklar-
Bestandteil!) heit, Missbrauchsaufsicht und mehr Wettbewerb zu sor-
gen. Das ist der richtige Weg. Ich fordere die großen
– Genau. Energieunternehmen nachdrücklich auf, die niedrigeren
(B) Netzentgelte, die von der Bundesnetzagentur durchge- (D)
Das Strafrecht muss in viel stärkerem Maße ange- setzt worden sind, in Preissenkungen am Markt umzu-
wandt werden. Es muss sehr sorgfältig geprüft werden, setzen.
ob eine Strafverschärfung sinnvoll ist. Unternehmer, die
in diesem Sinne tätig geworden sind, müssen wissen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
dass sie ihre Gewerbeerlaubnis verspielt haben. Hier der CDU/CSU und der FDP)
muss vor Ort gehandelt werden. In der Vergangenheit ist
Wenn dies nicht geschieht, muss sich der Gesetzgeber
das zu wenig geschehen. Es muss sichergestellt sein,
über weitere Maßnahmen Gedanken machen. Die Ent-
dass illegale Gewinne abgeschöpft werden. Die Verbrau-
wicklungen auf dem Telekommunikationsmarkt haben
cherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, dass
deutlich gezeigt, dass es möglich ist, erfolgreich vom
Ross und Reiter genannt werden.
Monopol zum Wettbewerb überzugehen.
Wir können nicht versprechen, alle kriminellen Ma- Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Haushalt des
chenschaften zukünftig zu verhindern. Aber wir können Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
versprechen, es diesen Wirtschaftskriminellen so schwer Verbraucherschutz unterstreicht die Bedeutung, die die
wie möglich zu machen. Wir unterstützen nachdrücklich Verbraucherpolitik für die Bundesregierung hat. Trotz
alle Bemühungen von Herrn Minister Seehofer, dieses aller Konsolidierungsnotwendigkeiten konnte das bishe-
Ziel zu erreichen. rige Niveau insgesamt gehalten werden. Das ist ein gro-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ßer Erfolg.
der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Erneut haben die Stromversorger Preiserhöhungen Eine aktive Verbraucherpolitik braucht handlungsfä-
zum Beginn des kommenden Jahres angekündigt. Die hige Institutionen. Neben dem Bundesministerium sind
Schmerzgrenze für viele Verbraucherinnen und Verbrau- dies nachgeordnete Behörden wie das Bundesinstitut für
cher ist längst überschritten. Risikobewertung und das Bundesamt für Verbraucher-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) schutz und Lebensmittelsicherheit. In Anbetracht der
Bedeutung ihrer Aufgaben ist es gut, dass sich ihre Etats
Es ist nicht akzeptabel, dass einige wenige Stromkon- nachhaltig erhöhen.
zerne ihre Gewinne auf Kosten der Allgemeinheit und
der deutschen Wirtschaft vervielfachen. Wenn ich über Institutionen rede, dann geht es mir
nicht nur um die staatlichen Institutionen und Organisa-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) tionen, sondern auch um die unabhängigen Verbände
4430 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Manfred Zöllmer
(A) und Stiftungen. Der Zuschuss für die Stiftung Warentest Auch wenn die Zahlen es auf den ersten Blick nicht (C)
wird in Höhe von 6,5 Millionen Euro gehalten und das erkennen lassen – der Haushaltsentwurf 2007 ist ein
ist auch gut so. Haushalt gegen den ländlichen Raum. Die von der
deutschen Regierung zu verantwortenden Kürzungen der
(Beifall bei der SPD) EU-Mittel für die zweite Säule werden mit keinem Cent
Darüber hinaus halte ich es für richtig, dass die Stiftung kompensiert. Im Gegenteil, die Titel zur Sicherung einer
Warentest seit dem Jahr 2004 bei ausgewählten Tests As- zukunftsfähigen Agrar- und Verbraucherpolitik werden
pekte der sozialen Unternehmensverantwortung mit planmäßig abgewickelt. Zum Beispiel werden die Mittel
berücksichtigt. Mehr und mehr Verbraucherinnen und für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben für Umwelt-
Verbraucher sind an diesen Hintergrundinformationen schutz im Agrarbereich, das sind 1,6 Millionen Euro,
interessiert und richten ihre Kaufentscheidungen zu komplett gestrichen. Sie kürzen den Etat für das Bundes-
Recht an ihnen aus. Wirtschaft sowie Verbraucherinnen programm „Tiergerechte Haltungsverfahren“ um 83 Pro-
und Verbraucher tragen Verantwortung auch für soziale zent; das sind 2,5 Millionen Euro weniger.
und Umweltstandards. (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie wollten
Die institutionelle Förderung der Verbraucherzen- doch zur Sache sprechen!)
trale Bundesverband bleibt nahezu unverändert. Den Etat für das Bundesprogramm „Ökologischer Land-
bau“ wollen Sie um 20 Prozent kürzen; das bedeutet
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
4 Millionen Euro weniger. Und das, obwohl die Branche
der CDU/CSU)
Zukunft hat: zweistellige Zuwachsraten in den letzten
Wenn sich der Bund zu seiner Verantwortung bekennt Jahren, 150 000 Arbeitsplätze in der Naturkostbranche.
und die Arbeit der vzbv als wichtige ordnungspolitische Die Förderung von Modell- und Demonstrationsvorha-
Aufgabe betrachtet und entsprechend fördert, müssten ben wollen Sie um 18 Prozent, also 1,8 Millionen Euro,
auch die Länder die Förderung der Verbraucher- kürzen. Sie schrecken selbst vor Kürzungen bei der Ver-
zentralen als ihre Pflicht ansehen. Leider werden in im- braucheraufklärung und den nachwachsenden Rohstof-
mer mehr Bundesländern die Mittel gekürzt. Viele Bera- fen nicht zurück.
tungsstellen und -angebote bluten regelrecht aus. Viele (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE
Länder lassen die Verbraucherinnen und Verbraucher im GRÜNEN]: So wenig Zukunft!)
Regen stehen. Die Arbeit der Verbraucherzentralen vor
Ort ist von unschätzbarem Wert. Es ist eine wichtige Summa summarum streichen Sie, Herr Minister,
Aufgabe der Landespolitik, dafür zu sorgen, dass 13,7 Millionen Euro bei Zukunftsaufgaben – und das,
niedrigschwellige Beratungsangebote in Deutschland obwohl der Agrarhaushalt im Vergleich zum laufenden
(B) (D)
flächendeckend vorhanden sind. Haushaltsjahr um 82,5 Millionen Euro aufgestockt wird.
Sie kommen also nicht etwa schmerzlichen Kürzungs-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da meine Redezeit vorgaben nach, sondern Sie streichen Künast-Titel, um
abgelaufen ist, komme ich zum Schluss. Dieser Haushalt ein Zeichen zu setzen. Das ist ideologisch, also genau
macht deutlich, wie eine aktive Verbraucherpolitik, die das, was Sie uns – zu Unrecht – immer vorwerfen.
die Wirtschaft als Bündnispartner betrachtet und die Ver-
braucherinnen und Verbraucher nicht bevormunden will, Gleichzeitig wollen Sie die Mittel für die Förderung
in Zahlen ihren Ausdruck finden kann. Wir müssen uns von Innovationen um 16,6 Millionen Euro erhöhen.
den Herausforderungen neuer Märkte, neuer Geschäfts- Grundsätzlich begrüße ich das, allerdings kommt es da-
modelle und der digitalen Welt stellen und sie aktiv mit- rauf an, was Sie mit dem Geld machen. Sie wollen damit
gestalten. Dafür sorgen wir. zum Beispiel die Forschung im Bereich der Agro-
gentechnik forcieren.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Frau Kollegin Behm, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Bahr von der SPD-Fraktion?
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt die Kollegin Cornelia Behm vom
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Bündnis 90/Die Grünen.
Ja, gerne.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Sie haben
jetzt die einmalige Chance, zur Sache zu spre- Ernst Bahr (Neuruppin) (SPD):
chen, Frau Kollegin! – Ursula Heinen [CDU/ Frau Behm, ist Ihnen bekannt, dass die entsprechen-
CSU]: Ja, einmalig für die Grünen!) den Mittel in den vergangenen Jahren unter Frau Künast
gar nicht vollständig abgerufen worden sind und dass
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): jetzt um weniger gekürzt werden soll, als gar nicht abge-
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr rufen wurde?
Minister! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gar
nicht so einfach, vom Gammelfleisch zurück zum Haus- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
halt zu kommen; aber da wir die erste Lesung haben, Darüber wird zu reden sein. Auf jeden Fall brauchen
sollten wir das jetzt tun. wir Titel – insbesondere das Programm, auf das Sie an-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4431
Cornelia Behm
(A) spielen –, die sich mit artgerechter Tierhaltung befassen. Kürzung der EU-Mittel erstmals massiv zu Buche schla- (C)
Es kommt sehr darauf an, wie wir diese Titel in Zukunft gen. Die fehlenden Mittel aus der zweiten Säule werden
ausgestalten. den Bauern richtig wehtun, und zwar besonders im Sü-
den dieser Republik.
(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Bei der
Hühnerhaltung jetzt Gesetz!) (Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wo ist das?)
– Wir müssen doch jetzt nicht über die Hühnerstallge- Hier hätte eine nationale Kompensation erfolgen müs-
schichte diskutieren! sen.
(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie uns mal über Eier reden!)
Sie wäre auch möglich gewesen; denn infolge des ausge-
Wie gesagt, die Frage ist, was man mit den Mitteln für handelten Kompromisses müssen ja viel weniger natio-
Innovationsförderung macht. Ich meine, sie in die Agro- nale Mittel nach Brüssel überwiesen werden.
gentechnikforschung zu stecken, ist der falsche Weg; mit
diesem Geld könnte man wahrlich Besseres machen. Sehr geehrter Herr Minister, bei den Mitteln aus der
zweiten Säule und der GAK handelt es sich nicht um ir-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
gendwelche Subventionen, mit denen man mal mehr und
Denn Sie wissen alle, meine Damen und Herren: Die mal weniger Klientelpolitik betreiben kann. Im Gegen-
Akzeptanz für Agrogentechnik ist in Deutschland ein- teil: Die Förderung des ländlichen Raums ist entschei-
fach nicht vorhanden. Daher wird diese Forschung nicht dend für die Wettbewerbschancen unserer Landwirt-
wirklich Innovationen hervorbringen, die den Markt er- schaft in den nächsten 20 Jahren. Nicht umsonst spricht
reichen. Sie werden mit Ihrer Innovationsstrategie eine Frau Fischer Boel von der zweiten Säule als der Lebens-
Bauchlandung machen. versicherung der Landwirtschaft. Ihre Haushaltspolitik
zeugt jedoch nicht davon, dass Sie das wirklich verstan-
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den haben.
Frau Kollegin Behm, erlauben Sie auch eine Zwi- Darüber hinaus frage ich mich, was Ihre Haushalts-
schenfrage der Kollegin Klöckner von der CDU/CSU- politik mit Planungssicherheit für die Landwirte zu tun
Fraktion? haben soll. Wo ist denn die Planungssicherheit für die
Bauern, die an Programmen der zweiten Säule teilneh-
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men? Wo bleibt Ihre viel beschworene Verlässlichkeit?
Ja, gerne. Im Koalitionsvertrag schreiben Sie:
(B) (D)
Die Finanzierung der Zweiten Säule muss ausrei-
Julia Klöckner (CDU/CSU): chend abgesichert und die gleichgewichtige Ent-
Liebe Kollegin Behm, Sie sagten, Sie lehnen es ab, in wicklung beider Säulen gewährleistet bleiben.
die Agrogentechnik Geld zu stecken. Aber ist es nicht
gerade Ihre Fraktion, die Fraktion der Grünen, die die Gleichzeitig streichen Sie als eine der ersten Amtshand-
Anwendung der Grünen Gentechnik ablehnt mit dem lungen aber die Mittel für den ländlichen Raum radikal
Hinweis, dass es nicht genug Forschung auf diesem Ge- zusammen.
biet gebe?
In diesem Zusammenhang bin ich schon sehr ge-
spannt auf den Kongress Ihres Hauses am 5. Oktober
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 2006. Was wollen Sie den Leuten denn da erzählen?
Wir lehnen die Agrogentechnik nicht aus diesem Wollen Sie sagen, dass der ländliche Raum und die
Grund ab, sondern wir lehnen sie ab, weil wir die Hoheit Landwirtschaft zukünftig auch ohne Fördermittel aus-
über unsere Teller und über unsere Äcker nicht großen kommen? Unsere Alternative ist ganz klar: Als Aus-
Monopolen überlassen wollen. gleich für die drastischen Kürzungen bei ELER fordern
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – wir eine entsprechende Aufstockung der GAK-Mittel.
Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das hört sich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
aber anders an!)
Darüber hinaus brauchen wir ein neues Förderpro-
Wir meinen, dass diese Innovationsmittel eher in anwen-
gramm, durch das der überwältigende Erfolg des Pilot-
dungsrelevante Anbau- und Züchtungsforschung ge-
projekts „Regionen Aktiv – Land gestaltet Zukunft“
steckt werden müssen, und zwar nicht nur im Bereich
fortgesetzt wird. Ich habe im Sommer zehn der 18 Mo-
nachwachsender Rohstoffe; denn damit kann man etwas
dellregionen besucht und mit vielen Akteuren vor Ort
für die Zukunft der Landwirtschaft tun. Dies ist ange-
gesprochen. Alle waren sich in dem einen Punkt einig,
sichts des Klimawandels dringend notwendig.
dass dieses Förderprogramm das Beste war, was es für
Lassen Sie mich zur Gemeinschaftsaufgabe „Ver- den ländlichen Raum bisher gegeben hat. Es wurde mehr
besserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- regionale Wertschöpfung generiert und es wurden mehr
zes“ kommen. Dass Sie die Mittel für die GAK nach der Arbeitsplätze geschaffen als bei jedem anderen Pro-
Absenkung um 50 Millionen Euro in diesem Jahr nicht gramm mit vergleichbaren Mitteln. Ich fordere Sie des-
weiter zusammenstreichen, ist kein Trost für den ländli- halb dringend auf, eine entsprechende Anschlussförde-
chen Raum; denn ab Januar 2007 wird die drastische rung bzw. ein analoges Programm aufzulegen.
4432 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: stellt wird – wollen gar keine Zuschüsse oder Subventio- (C)
Frau Behm, kommen Sie bitte zum Schluss. nen. Sie wollen, dass man sie in Ruhe lässt und dass sie
nach guter handwerklicher Art arbeiten können.
Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
Ich komme gleich zum Schluss. – Mit der Markt- neten der SPD und der FDP – Hans-Michael
einführung regionaler Qualitätsprodukte kann man im Goldmann [FDP]: Aber ihr wollt doch jetzt
Übrigen durchaus etwas gegen Gammelfleischskandale mehr Kontrollen!)
tun.
Die eine oder andere Gängelei durch die rot-grünen Ge-
Sehr geehrter Herr Minister, liebe Kolleginnen und setze aus der Vergangenheit muss natürlich durch staatli-
Kollegen, noch ist es nicht zu spät. Gehen Sie in sich che Mittel ausgeglichen werden.
und prüfen Sie den Agrarhaushalt auf seine Zukunftsfä-
higkeit. Denken Sie daran, dass wir hier nicht nur Politik (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
für die Städter machen, sondern dass etwa die Hälfte der Beifall bei der FDP)
deutschen Bevölkerung im ländlichen Raum lebt. Diesen
Menschen können wir den Stuhl nicht vor die Tür set- Das kann dann zwischenzeitlich in einen kleinkarierten
zen. Parteienstreit ausarten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass in Deutsch-
land Tausende von Veterinären und Gesundheitsaufse-
hern arbeiten, Zehntausende Betriebsinhaber leben und
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Hunderttausende von Menschen in den verschiedenen
Das Wort hat jetzt der Kollege Georg Schirmbeck von Fabriken und Anlagen einen guten Job machen. Für die
der CDU/CSU-Fraktion. Arbeit, die sie leisten, sollten wir ihnen danken.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD und der FDP)
Georg Schirmbeck (CDU/CSU):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Manchmal habe ich den Eindruck: Wir verdrängen,
ren! Zwischenzeitlich hat es ja einige Aufgeregtheiten dass wir das Glück haben, in der Hälfte der Welt zu le-
gegeben. Allerdings muss man sich fragen, worüber wir ben, in der man sich satt essen kann, während wir es ne-
hier eigentlich reden. gieren, dass die halbe Menschheit schmachtet, um es
ganz deutlich und krass zu sagen. Wenn man so manche
(Ursula Heinen [CDU/CSU]: Gammelfleisch!) Diskussion in Ruhe verfolgt, gewinnt man den Eindruck, (D)
(B)
Wenn ich durch die Gegenden in Deutschland fahre, dass wir irgendwann so weit sind, vor einem vollen
in denen die Landwirtschaft und die Ernährungswirt- Kühlschrank mit den allerbesten Lebensmitteln dieser
schaft eine große Rolle spielen, dann sehe ich, dass dort Welt zu stehen, aber so hysterisch geworden zu sein,
neue Schweineställe, Hühnerställe und Kuhställe gebaut dass wir Angst haben, von diesen Lebensmitteln zu es-
werden und Wurstfabriken, Salatfabriken, Gewürz- sen, und stattdessen lieber verhungern. Manche Diskus-
werke, Biogasanlagen, Sägewerke und Gärtnereien ent- sionen führt man nur, wenn man einen solch vollen Ma-
stehen. Ich stelle fest, dass die Investoren im länd- gen hat, wie wir ihn haben. Auch das muss man einmal
lichen Raum Vertrauen in die Zukunft haben. an dieser Stelle sagen.

(Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU –
Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Das ist das Ergebnis der Arbeit eines souveränen Minis- Das ist wirklich verrückt!)
ters und einer überzeugenden großen Koalition, also des-
sen, was wir in den letzten neun Monaten auf den Weg Jetzt können Sie natürlich für den einen oder anderen
gebracht haben. Das wollten wir so und darauf sind wir Haushaltstitel mehr Geld fordern. Über Geld diskutiere
stolz. ich auch immer zu Hause mit meiner Frau. Das Ergebnis
ist: Es ist immer zu wenig Geld da.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
neten der SPD – Hans-Michael Goldmann (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und der
[FDP]: Aber kein anderer merkt das! Deshalb FDP: Oh!)
habt ihr ja auch die tollen Umfragewerte!)
Darüber kann man lange reden. Fakt ist: Aus diesem
– Michael, du bist in einer schwierigen Situation. Wir Haushalt werden nicht wesentlich mehr Mittel herauszu-
beide sind uns in den allermeisten Fragen ja durchaus ei- quetschen sein. Wir werden für diesen Einzelplan nicht
nig. mehr Geld bereitstellen können. Deshalb ist es unsere
Aufgabe – das ist natürlich schwierig und das muss man
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Höchstens
intelligent anstellen –, auf Dauer mit weniger Geld mehr
im Flieger!)
zu bewegen. Das gilt für jeden einzelnen Haushaltsan-
Du kannst nicht alles, was im Emsland – bei dir zu satz. Darüber muss man diskutieren. Manchmal ist das
Hause im Wahlkreis – geschieht, zur Kenntnis nehmen. auch heilsam. Schließlich wissen wir, dass manche Pro-
Wenn du mit den Betriebsinhabern sprichst, dann wirst gramme und Ansätze rein gar nichts gebracht haben.
du feststellen: Die Bauern – auch wenn es anders darge- Diese müssen ganz einfach gestrichen werden.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4433
Georg Schirmbeck
(A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Verrate Putin als Frau Dr. Merkel zuständig ist und ob wir dafür (C)
doch mal eines!) Geld bereitstellen müssen oder nicht einmal den Finger
in die Wunde legen müssten. Das schließt nicht aus, dass
Wir haben eine Verstetigung der Politik. Aus der mit-
man an der einen oder anderen Stelle trotz allem etwas
telfristigen Finanzplanung kann man ganz einfach er-
tut. Aber es ist sicherlich auch wichtig, zu hinterfragen,
sehen, dass im ländlichen Bereich mit den 615 Millionen
ob sich die Verhältnisse geändert haben.
Euro aus der GAK gerechnet werden kann. Das heißt,
alle Bundesländer können kalkulieren, was zukünftig auf Wir haben im Wesentlichen nicht den Haushaltsplan
sie zukommt. beraten, sondern über den Verbraucherschutz gespro-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was habt ihr chen. Das war aufgrund der aktuellen Situation vielleicht
auf uns geschimpft!) auch nachvollziehbar. Aber dann sollte man wenigstens
noch das Argument in die Haushaltsplanberatungen ein-
Manche sagen uns auch: Wir brauchen gar nicht mehr bringen, dass wir für unsere Forschungsanstalten In-
Geld. Wir müssen bloß wissen, was mittelfristig auf uns vestitionen in einem bisher nicht da gewesenen Umfang
zukommt. Wenn das berechenbar ist, können wir mit der tätigen. Das heißt, wir machen unsere Einrichtungen, de-
einen oder anderen Einschränkung leben. ren Sachverstand wir brauchen und in Anspruch nehmen
Aber bei der GAK – das habe ich schon bei den letz- wollen, fit für die Zukunft. Ich glaube, auch das gehört
ten Haushaltsberatungen gesagt – stellt sich mir an der zu den Wahrheiten und Fakten, die hier vorgetragen wer-
einen oder anderen Stelle die Frage, ob das nicht eine den müssen.
ganz und gar undemokratische Einrichtung ist. Schließlich und endlich wissen wir, dass der Agrar-
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da hast du haushalt zu etwa 80 Prozent – das schwankt vielleicht
Recht!) um ein paar Zehntel – eigentlich ein Sozialhaushalt ist.
Wir müssen dabei zur Kenntnis nehmen, dass beispiels-
An der wirklichen Mittelverteilung sind weder der Bun- weise beim landwirtschaftlichen Altersgeld in den
destag noch die Länderparlamente beteiligt. Daher muss nächsten Jahren steigende Ausgaben zu verzeichnen sein
man sich schon fragen, ob da nicht Beamte bürokra- werden; es sei denn, es gäbe jemanden, der eine Geset-
tische Verteilungsorganismen aufbauen, sodass diese zesinitiative anstoßen würde, um an dieser Stelle zu kür-
615 Millionen Euro gar nicht in dem vorgesehenen Um- zen. Das sehe ich aber nicht. Die Reden, in denen zum
fang dort ankommen, wo sie ankommen sollen. Es ist Sparen aufgefordert wird, und das tatsächliche Tun sind
unsere Aufgabe, das gezielt zu überprüfen. Es bringt eben zweierlei Dinge.
nichts, nur zu sagen: Mein Gott, hier sind die Mittel ge-
kürzt worden und wir brauchen mehr Geld. – Vielmehr Ich schließe mich aber ausdrücklich dem an, was der
(B)
müssen wir ganz konkret auf die Effizienz achten, Herr Kollege Bahr festgestellt hat. Bei der landwirtschaftli- (D)
Kollege Goldmann. Das ist gleichzeitig die Antwort auf chen Krankenkasse und der Unfallversicherung müs-
die Frage, die Sie eben als Zwischenruf gestellt haben. sen wir zu neuen Ufern kommen. Die anderen Redner
bekommen sicherlich ähnliche E-Mails wie ich. Es ist
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Niedersach- wünschenswert, die landwirtschaftliche Unfallversiche-
sen hat gut lachen!) rung für die Zukunft auf Kapitaldeckung umzustellen.
Angesichts all der Aufregung um die angeblichen (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
großen Kürzungen stelle ich mir die Frage, ob Sie die
Vorlage vielleicht gar nicht gelesen haben. Der Kollege Dann müssen wir uns aber auch damit auseinander set-
Bahr hat es richtigerweise angesprochen: Nebelhaus- zen, wo das Kapital herkommen soll. Es ist zwar ein-
haltsansätze helfen nichts, wenn die Mittel gar nicht ab- fach, dafür 1 Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt zu
fließen. Auch in der Vergangenheit hat es offensichtlich fordern. Eine solche Politik haben wir in der Vergangen-
für das eine oder andere Programm gar keine Notwen- heit gemacht. So können wir in Zukunft nicht vorgehen,
digkeit gegeben. weil uns das Geld dafür fehlt.
(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) (Beifall der Abg. Julia Klöckner [CDU/
Diese Programme werden an das angepasst, was sachge- CSU] – Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE
recht ist. Da die Mittel dann auch berechenbar sind, kön- GRÜNEN]: Ach so!)
nen die Programme im Bereich des Verbraucherschutzes Was ich damit sagen will, ist: Wenn es für die große
und in allen anderen Bereichen, die hier schon diskutiert Koalition in einem Politikbereich eine Erfolgsgeschichte
worden sind, sehr gut laufen. gibt, dann ist das in dem Bereich der Fall, über den wir
Wir müssen natürlich auch noch über andere Dinge hier diskutiert haben. Das zeigt sich daran, dass der
diskutieren. Ein Beispiel: Die Unterstützung für Pro- Minister alle Säle füllt und die Leute, die die Veranstal-
gramme für Hilfsmaßnahmen in Osteuropa wird den tung besucht haben, zufrieden nach Hause gehen. In dem
Einzelplan nicht zu Fall bringen. Aber wenn wir sehen, Sinne sollten wir gemeinsam weitermachen. Ich glaube,
dass es mittlerweile in Osteuropa Staaten gibt, die im wir beide schaffen es, das auf den Weg zu bringen, Ernst
Geld umkommen und bei uns sogar vorzeitig ihre Schul- Bahr.
den ablösen, dann stellt sich die Frage, ob beispielsweise Herzlichen Dank.
für das Elend in Kaliningrad – die deutsche Geschichte
ist hier natürlich emotional hoch belastet – nicht eher (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
4434 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chern. Uns allen ist klar, dass im Zuge der finanziellen (C)
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt Ausgestaltung der EU die Mittel für die Entwicklung der
hat das Wort die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD- ländlichen Räume nicht mehr, sondern weniger wer-
Fraktion. den. Trotzdem werden wir Wege finden müssen, um die
ländlichen Räume weiterzuentwickeln. Dabei kann die
Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): nationale Kofinanzierung nicht das Allheilmittel sein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Weil dieses Thema von gesamtgesellschaftlicher Be-
Kollegen! Ich bin meinen beiden Haushältern Herrn deutung ist, von der Telekommunikation über den Perso-
Bahr und Herrn Schirmbeck sehr dankbar – ich glaube, nennahverkehr bis hin zur Wertschöpfung der ländlichen
ich spreche auch im Namen beider Arbeitsgruppen –; Betriebe, kann man nur im Einklang mit allen Akteuren
denn der vorgelegte Haushaltsentwurf zeigt, dass die Lösungen finden. Wir, die SPD-Fraktion, widmen uns
schwarz-rote Bundesregierung von Kontinuität geprägt diesem Thema auf einer Tagung am 12. September. Ich
ist: Dieser Haushaltsplan entspricht dem vorigen. Was glaube, dass wir dort zu sehr guten Lösungen kommen
von der Opposition in allen Teilen geäußert wurde, werden.
bringt mich dazu, festzustellen: Wenn Sie schon Reden
halten, dann sollten Sie wenigstens den Ausführungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ihrer Vorredner bzw. des Herrn Ministers Seehofer fol- der CDU/CSU)
gen. Dann hätten Sie manche Äußerung nicht getan.
Im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe kann die
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundesregierung gute Erfolge verzeichnen. So förderte
Die großen Posten wie die Gemeinschaftsaufgabe das Bundesministerium mit insgesamt 50 Millionen
„Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- Euro verschiedene Projekte. Ich nenne als Beispiele nur
zes“ oder die agrarsoziale Sicherung werden auf dem den Einsatz biogener Schmierstoffe, Demonstrationsvor-
diesjährigen Niveau gehalten. Darauf werde ich später haben der energetischen Nutzung nachwachsender Roh-
noch eingehen. stoffe und den Einsatz der Biomasse. Ich weise zu Recht
darauf hin; denn der deutsche Energiebedarf wird schon
Ich möchte mit einem eher selten diskutierten Posten – das sollte man sich einmal auf der Zunge zergehen las-
des Haushalts beginnen, nämlich dem Titel für Tagun- sen – zu etwa 4 Prozent über die Biomasse gedeckt. Die-
gen, Messen und Ausstellungen. Das hat heute noch ser Prozentsatz steigt und ist noch steigerbar.
niemand angesprochen, weil das Thema Gammelfleisch
im Vordergrund stand. Die Mittel für öffentliche Auf- Der große Posten der landwirtschaftlichen Sozial-
politik macht – Sie sehen mir sicherlich nach, dass auch
(B) tritte werden von 4,9 Millionen auf 6,6 Millionen Euro (D)
aufgestockt. Das halte ich für ausgesprochen wichtig. ich zu diesem Thema Aussagen mache – den Löwenan-
Ich denke dabei nur an die Werbung für deutsche Quali- teil des Einzelplans 10 aus. Wir haben im Koalitionsver-
tätsprodukte aus der Landwirtschaft. Aber auch die be- trag die Reform der agrarsozialen Sicherung vereinbart.
vorstehende EU-Ratspräsidentschaft wird hierbei si- Sie ist notwendig. Vor allem drängt die Zeit. Natürlich
cherlich eine Verpflichtung sein. ist es wichtig, dass diese Reform mit der allgemeinen
Reform des Gesundheitswesens einhergeht. Wir können
Finnland, das zurzeit die EU-Präsidentschaft innehat, hier nicht vorangehen, sondern müssen warten und ge-
geht beherzt schwierige Themen wie die Transparenzini- meinsam den Weg gehen. Aber wir haben keine Zeit
tiative und den Bürokratieabbau an. Österreich hat sich mehr zu verlieren. Herr Geisen, Ihrer Forderung nach
in seiner Amtszeit im ersten Halbjahr 2006 verstärkt der Einführung eines kapitalgedeckten Verfahrens in der
Entwicklung der ländlichen Räume und der Biomasse landwirtschaftlichen Unfallversicherung muss ich eine
gewidmet. eindeutige Absage erteilen. Versicherungen haben sich
Nach allen Erfahrungen der letzten Monate und Jahre bereits damit befasst und Gutachten erstellt. Demnach
wäre eine Fokussierung auf den Verbraucherschutz bzw. kann der Bund die alten Lasten nicht übernehmen; denn
auf die Verbraucherpolitik für die EU-Präsidentschaft so etwas schüttelt man nicht einfach aus dem Ärmel.
unter deutschem Vorsitz ein hervorragendes Thema, weil Darauf weisen wir bereits seit Jahren hin. Zudem ist für
sich auch die deutsche Bevölkerung damit identifizieren die Versicherten kein erkennbarer Nutzen durch die Um-
würde. Ich glaube, das wäre ein sehr geeignetes Thema. stellung auf ein kapitalgedecktes Verfahren zu erwarten.
Wenn wir eine Reform machen, sollten wir aber die Ver-
(Beifall bei der SPD) sicherten im Blick haben und nicht nur sehen, wie wir
das Problem vom Tisch bekommen.
Trotz des sehr engen Spielraums des Haushalts wer-
den die GAK-Mittel nicht weiter gesenkt. Aber in Zu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
kunft gilt in wesentlich stärkerem Maße, dass wir haus-
haltstechnisch die Mittel zur Verfügung stellen, die am In allen Bereichen des landwirtschaftlichen Sozial-
wenigsten marktpolitisch verzerrende Wirkungen zei- versicherungssystems brauchen wir Beitragsgerechtig-
gen. Die Agrarreform, die wir unter der Vorgängerregie- keit, eine größere Transparenz und mehr Effizienz. Wir
rung auch im Hinblick auf die WTO gemacht haben, brauchen ein Konzept, bei dem die Interessen der Ar-
wird sicherlich nicht der letzte Schritt sein, den wir in beitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Träger im Blick
der Politik gehen, um die landwirtschaftliche Produktion behalten werden und das gleichzeitig gewährleistet, dass
und die Wertschöpfung in den ländlichen Räumen zu si- die Bundesländer mit im Boot sind. Aber noch einmal:
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4435
Waltraud Wolff (Wolmirstedt)
(A) Wir haben keine Zeit zu verlieren. Herr Minister, die gern verkünden können, welche Firmen unlauter arbei- (C)
SPD steht in dieser Frage an Ihrer Seite. ten, wer sich krimineller Machenschaften bedient und
wer vom Markt verschwinden muss. Unser Einzel-
(Beifall bei der SPD) plan 10 – ich habe das deutlich gemacht – hat eine solide
Der Bundeshaushalt sieht vor, dass die Forschungs- Grundlage. Ich hoffe auf gute Beratungen, natürlich
mittel aufgestockt werden. Da Frau Behm vorhin von auch auf Zustimmung von der Opposition.
Kürzungen geredet hat, bin ich froh, dass Herr
Vielen Dank.
Schirmbeck das klargestellt hat. Ich finde, es ist ein gu-
tes Zeichen, wenn wir die Einrichtungen und die Labors (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
so ausstatten, dass gute Arbeit geleistet werden kann.
Fortschritt bei der Forschung bedeutet ein Plus für Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Unternehmen. Daran besteht ein öffentliches Interesse. Weitere Wortmeldungen zu dem Geschäftsbereich des
Nehmen wir als Beispiel die Impfung von Geflügel. Wir Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
alle warten auf wirksame Impfstoffe, die Entwarnung in Verbraucherschutz liegen nicht vor.
Bezug auf die Vogelgrippe geben könnten. Das würde
zum einen die Geflügelhalter aufatmen lassen, weil diese Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-
nicht in der Lage sind, die finanzielle Last zu tragen, ministeriums der Justiz, Einzelplan 07. Als erste Red-
wenn der ganze Geflügelbestand getötet werden muss. nerin hat die Bundesministerin Brigitte Zypries das
Die finanziellen Auswirkungen sind enorm und könnten Wort. Frau Ministerin, bitte schön.
vermieden werden, wenn man die Infektionskrankheit in
den Griff bekommt. Zum anderen ist es mindestens ge-
Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz:
nauso wichtig, Schaden von der Bevölkerung abzuwen-
den und die gesundheitliche Sicherheit der Bevölkerung Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
zu gewährleisten. Deshalb müssen wir in hohem Maße Es ist jetzt über neun Wochen her, dass das Haushaltsge-
in die verbraucherorientierte Forschung investieren. setz 2006 verabschiedet wurde. Heute befassen wir uns
erneut mit den Finanzen.
(Beifall bei der SPD)
Wenn man den Etat des Justizministeriums mit denen
Forschung soll effizient sein. Mittel können an Dritte der übrigen Ressorts vergleicht, dann stellt man fest:
vergeben werden. So kann man bundesseitig sparen. Die Nicht nur für den letzten Haushalt, sondern auch für den
nachgeordneten Einrichtungen des Bundes haben in den jetzt vorgelegten gilt, dass wir zwar am wenigsten aus-
vergangenen zehn Jahren ungefähr 20 Prozent – sprich: geben, aber am meisten einnehmen. Es sind 0,17 Prozent (D)
(B) 800 Stellen – eingespart. Warum sage ich das? Den Be-
des Bundeshaushalts. Damit ist unser Einzelplan der
hörden geht es um Inhalte und nicht darum, ob sie mög- kleinste des Bundeshaushalts. Wir haben mit
licherweise bei der nächsten Ausschreibung wieder den 72,5 Prozent aber nunmehr die mit Abstand höchste
Zuschlag erhalten oder nicht. Die Neutralität ist für das Kostendeckungsquote der Ressorts.
Bundesministerium ganz sicher von großem Nutzen.
Passen wir also auf, dass wir nicht an dem Ast sägen, auf (Beifall des Abg. Joachim Stünker [SPD])
dem wir sitzen.
Wer in den letzten Jahren aufmerksam zugehört hat,
Absolut wichtig ist außerdem, die Verbraucherauf- der wird sich fragen, warum unsere Kostendeckungs-
klärung zu stärken. Auch hier haben wir die Mittel auf- quote eigentlich so gesunken ist. Das liegt nicht daran,
gestockt. Wir haben im Laufe der Debatte gehört, wie dass das Deutsche Patent- und Markenamt weniger Ein-
wichtig es ist, für die Verbraucher zu sorgen und harte nahmen hat, sondern daran, dass die Pensionskosten in
Strafen für eine gewisse Art von Wirtschaftskriminalität diesem Jahr zum ersten Mal auf die Einzelhaushalte um-
zu verhängen. Ich glaube, dass Herr Minister Seehofer gelegt sind. Das heißt für ein Ministerium wie das Justiz-
mit dem Zehnpunkteprogramm die richtigen Stellschrau- ministerium, das einen sehr hohen Personalkostenanteil
ben gefunden hat. Ich glaube, man muss dieses Programm hat, natürlich, dass die entsprechenden Pensionslasten
umsetzen. Das ist in der heutigen Debatte deutlich gewor- sehr zu Buche schlagen.
den. Die Länder haben den wichtigsten Part bei der Um-
setzung: die Kontrollen. An dieser Stelle darf nicht ge- Ich möchte deshalb gleich an dieser Stelle den freund-
spart werden. Wir brauchen eine hohe Kontrolldichte lichen Hinweis geben, dass das Ausweisen der Pensions-
sowie unangemeldete und konsequente Kontrollen. Zu- lasten das eine ist; das andere ist die Frage, inwieweit die
sätzlich sind länderübergreifende Qualitätskontrollen not- Pensionslasten aus dem eigenen Haushalt gedeckt wer-
wendig. Wir haben mit dem Verbraucherinformationsge- den müssen.
setz die richtigen Schritte unternommen. Wenn der
(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)
Bundesrat im September hier noch etwas draufsattelt,
dann freuen wir als SPD uns ganz besonders. Ich bitte herzlich, nicht in die Versuchung zu geraten, in
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike Höfken ein oder zwei Jahren zu sagen: Wenn man es schon ein-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mal ausgewiesen hat, dann kommen Sie doch bitte selber
für Ihre Pensionslasten auf. Das könnte der Einzelplan
Ich hoffe, dass der Bundesrat zu solchen Konsequenzen des Justizministeriums nicht leisten. Dann müssten wir,
kommt und wir im September den Bürgerinnen und Bür- das Justizministerium, die Arbeit einstellen.
4436 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries


(A) Das wäre schade. Ich meine nämlich, dass die Justiz Wir befinden uns deshalb mit den Banken und den (C)
in diesem Lande eine große Bedeutung hat und eine sehr Sparkassen in Gesprächen darüber. Wir haben in unse-
gute Arbeit macht. rem letzten Bericht an den Deutschen Bundestag ange-
mahnt, dass es nunmehr nach der allgemeinen Selbstver-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ pflichtung endlich auch eine rechtlich verbindliche
CSU, der FDP und der LINKEN) Selbstverpflichtung geben muss,
Das ist an dieser Stelle und bei solchen Gelegenheiten (Beifall bei der LINKEN)
schon oft gewürdigt worden. Die Arbeit, die wir ma-
chen, bezieht sich oft auch darauf, dass wir uns bemü- dass Banken und Sparkassen die Zusage eines Girokon-
hen, die Verwirklichung des sozialen Rechtsstaats durch tos für jedermann einlösen. Anderenfalls müssen wir tat-
Gesetze sicherzustellen, auch und gerade im Bereich des sächlich darüber nachdenken, ob es gesetzlicher Rege-
Verbraucherschutzes. Ich will jetzt nicht über verdorbe- lungen bedarf.
nes Fleisch und die Frage des Verbraucherschutzes re- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/
den, sondern über andere Aspekte des Verbraucher- CSU und der LINKEN)
schutzes, nämlich über den Ausgleich des freien Spiels
der Kräfte. Das gilt übrigens auch für das so genannte Scoring.
Richtig ist natürlich: Wer einen Kredit haben will, muss
Wir haben als Ideal des Wirtschaftslebens Vertrags- sich gefallen lassen, dass er auf seine Kreditwürdigkeit
freiheit und Privatautonomie. Aber dieses freie Spiel der überprüft wird. Aber er sollte schon wissen, anhand wel-
Kräfte muss staatlich oft genug reguliert werden, um zu cher Kriterien seine Bonität beurteilt wird; denn nur
einem gerechten Ausgleich zu kommen. Die Verbrau- dann kann er dafür sorgen, dass aus allgemeinen Daten
cher sind vielfach in einer schwächeren Position, wirt- nicht Schlüsse gezogen werden, die für ihn selbst gar
schaftlich, strukturell und auch hinsichtlich der Informa- nicht zutreffen. Das heißt konkret: Wenn eine Bank auf-
tionen. Tatsächlich ist es doch so: Wer einen Job oder grund einer bestimmten Postleitzahl oder aufgrund be-
eine Wohnung dringend sucht, ist ein schlechter Ver- stimmter Straßennamen davon ausgeht, dass die Men-
handlungspartner. Er kann nämlich nicht mit den Mus- schen, die dort leben, nicht kreditwürdig sind, weil sie
keln spielen, schließlich ist er auf den Job oder die Woh- kein so hohes Einkommen haben, dann ist das eine Form
nung angewiesen. Ein Verbraucher, der sich mit einem von Vorurteil, die wir nicht wollen. Wir sagen vielmehr:
Großkonzern anlegen will, hat allein keine Chance. Wer Es muss im Einzelfall geprüft werden. Solche generellen
vor einem Vertragsschluss nicht über alle Risiken und Beurteilungen darf es nicht geben.
Details aufgeklärt wurde, der kann nicht frei entschei-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
den. (D)
(B) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE
Wir wollen aber Entscheidungsfreiheit und Selbstbe- GRÜNEN)
stimmung der Verbraucherinnen und Verbrauchern stär- Das ist die Frage der Beteiligung oder des Zugangs.
ken. Wir wollen den mündigen Verbraucher bzw. die
mündige Verbraucherin. Daher sorgen wir zunächst da- Eine andere Frage ist die: Wie können Verbraucher
für, dass jedermann einen freien Zugang zum Markt be- mündig entscheiden? Mündig entscheiden können sie
kommt. Diskriminierung soll und darf es in diesem Be- nur, wenn sie hinreichende Informationen haben und da-
reich nicht geben. mit auch wissen, worüber sie entscheiden. Das ist eine
Frage der Transparenz – ein Stichwort, das an dieser
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Stelle schon oft gefallen ist.
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie wissen, dass wir dem Bundeskabinett in Kürze
Wenn Sie das hören, dann denken Sie alle natürlich den Entwurf eines neuen Versicherungsvertragsgeset-
gleich an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, mit zes vorlegen werden. Dabei ist Ziel, dass die Versiche-
dem wir einen ersten wichtigen Schritt getan haben. Das rungen ihre Kunden künftig vor Abschluss eines Vertra-
will ich aber gar nicht ausführen. Ich will sagen, dass es ges besser beraten und informieren. Das Kleingedruckte
noch zahlreiche andere Bereiche gibt, wo wir einen Be- soll man auch nicht erst mit dem Versicherungsschein,
darf an Lösungen sehen. Ich möchte als ein Beispiel das sondern bereits vorher bekommen. Wenn Anlass besteht,
Thema Girokonto nennen. Ein solches Konto ermög- dann muss in Zukunft auch während eines laufenden
licht jedermann, am Wirtschaftsverkehr teilzunehmen; Vertrages über Rechte aus dem Versicherungsvertrag in-
denn, wie Sie alle wissen, ohne ein Girokonto ist die formiert werden. Wenn jemand zur Versicherung kommt
Teilnahme am Wirtschaftsleben heute so gut wie nicht und sagt: „Ich kann aufgrund von Arbeitslosigkeit die
möglich. Jemand, der einen Job sucht und nicht angeben Beiträge im Moment nicht weiter bezahlen und muss den
kann, auf welches Konto das Geld überwiesen werden Vertrag kündigen“, dann muss er beraten werden, dass
soll, hat auch nicht annähernd eine Chance, diesen Job ihm gesagt wird: Man kann den Vertrag auch ruhen las-
zu bekommen. Die Zeiten der Lohntüte sind lange vor- sen; man muss ihn nicht gleich kündigen.
bei. Für mehr Transparenz wollen wir nicht zuletzt bei den
(Otto Fricke [FDP]: Das wäre doch eine Auf- Kosten sorgen. Beim Abschluss von Lebensversicherun-
gabe für die Sparkassen!) gen ist die Verrechnung von Prämien und Provisionen
oft nicht erkennbar. Vor allem wird sie auf einen zu kur-
– Genau. zen Zeitraum beschränkt. Das wollen wir offen legen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4437
Bundesministerin Brigitte Zypries
(A) Wir wollen den Verbraucherinnen und Verbrauchern da- müssen, wer dafür aufkommt und ob nicht der Staat im (C)
mit deutlich machen, welche Kosten von ihnen zu tragen Zweifel zahlen muss. Ich meine, wir müssen mit dieser
sind. Thematik sorgsam und vorsichtig umgehen und sorgfäl-
tig darüber diskutieren. Vor allen Dingen müssen wir se-
Verbraucherrechte spielen beim Abschluss von Ver-
hen, dass wir nicht allzu bürokratisch abgestufte Verfah-
trägen eine große Rolle. Sie sollen auch im Laufe des
rensregelungen schaffen, die mehrere Möglichkeiten des
Vertrages beachtet werden und notfalls erstritten werden
Ersatzes vorsehen.
können. Dafür müssen wir – auch dafür ist das Rechts-
wesen zuständig – im Zweifel den Einzelnen stärken, Das Ideal des mündigen Verbrauchers oder der mün-
wenn es darum geht, seine Rechte durchzusetzen; denn digen Verbraucherin, der bzw. die frei und selbstbe-
einer gewissen Waffengleichheit bedarf es schon. Wir stimmt entscheiden kann, wird also von zwei Seiten
machen das, indem wir Verbraucherverbände einbin- bedroht: einerseits durch die Überlegenheit des Ge-
den. Das haben wir bei dem neuen AGG ebenfalls getan, schäftspartners und andererseits durch ein Übermaß an
wenn auch, zugegebenermaßen, sehr behutsam. Antidis- gesetzlicher Regelung, wodurch der Verbraucher über-
kriminierungsverbände können jetzt als Beistände vor mäßig bevormundet wird. Regelmäßig wird hinterfragt,
Gericht auftreten und Benachteiligte in Verfahren unter- ob wir eine solche Regelungsdichte brauchen. Manche
stützen. neigen dazu, nur eine Seite zu sehen. Aufgabe dieses
Wir stellen noch weitere neue Instrumente zur Verfü- Hauses ist es auch, einen Mittelweg zu finden, einen
gung, damit auch diejenigen, die beispielsweise nur we- Ausgleich zwischen diesen unterschiedlichen Anschau-
nige Aktienanteile haben, die Möglichkeit haben, sich ungen.
zur Wehr zu setzen. Seit knapp einem Jahr zum Beispiel Mit der Neufassung des Rechtsberatungsgesetzes ha-
sind Musterverfahren möglich, mit denen Anleger ihre ben wir einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Wir
Schadensersatzansprüche einfacher geltend machen kön- haben den Entwurf für ein neues Rechtsdienstleistungs-
nen. Damit tragen wir der Tatsache Rechnung, dass es gesetz vorgelegt. Darin haben wir die Möglichkeit ge-
immer mehr Menschen gibt, die Aktien als eine Form schaffen, dass Rechtsrat in geringer Form auch von
der Altersvorsorge halten. Wir haben beim elektroni- Menschen erteilt werden kann, die nicht dafür ausgebil-
schen Bundesanzeiger ein Klageregister und ein Aktio- det sind. Warum, fragt man sich, soll nicht eine Kfz-
närsforum geschaffen, womit wir Kleinaktionären die Werkstatt, die mit der gegnerischen Versicherung die Re-
Möglichkeit geben, sich zu organisieren und abzuspre- paraturkosten abrechnet, auch die Schadenspauschale
chen. geltend machen können? Warum soll nicht ein Architekt
Maßnahmen des Verbraucherschutzes brauchen wir, etwas zum Baurecht sagen oder ein Volljurist einen Be-
(B) um Verbraucher zum Teil auf Augenhöhe mit Großunter- kannten kostenlos beraten dürfen? (D)
nehmen zu bekommen. Ein Großunternehmen, über das
im Moment geredet wird, ist die Bahn. Sie wissen, dass In all diesen Randbereichen können wir, wie wir mei-
es dort in vielen Bereichen noch eine Monopolstellung nen, das generell vorhandene Monopol der Anwaltschaft
gibt und die Souveränität des Verbrauchers damit nicht auflösen und damit auch ein Stück weit dem Bedürfnis
sonderlich ausgeprägt ist; ein Wahlrecht gibt es nicht. nach weniger Regelung in diesem Bereich nachkommen.
Ich glaube, dass Verbraucherinnen und Verbraucher sehr
Eine Debatte, die in diesem Zusammenhang im Mo- gut wissen, wann sie dem Rat der Kfz-Werkstatt oder
ment geführt wird, ist die über die Stärkung der Fahr- des Architekten besser nicht vertrauen und stattdessen zu
gastrechte im Bahnverkehr. Wir führen diese Debatte einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt gehen
sowohl auf nationaler Ebene als auch auf europäischer sollten. Denn das, meine Damen und Herren, sieht der
Ebene. Innerhalb Deutschlands gab es gerade Vorschläge Gesetzentwurf natürlich auch vor: Es bleibt dabei, dass
für ein sehr ausdifferenziertes System der Schaden- der Rechtsanwalt derjenige ist, der für die qualifizierte
ersatzzahlung bei Verspätung. Auf europäischer Ebene Rechtsberatung berufen und dem die gerichtliche Vertre-
ist dieses System nicht so ausdifferenziert. Ausnahms- tung vorbehalten ist.
weise ist es einmal so, dass auf europäischer Ebene we-
niger Bürokratie vorgesehen ist, was ja durchaus nicht Mehr Transparenz, Klarheit und Verständlichkeit, das
immer der Fall ist. gilt nicht nur im Wirtschaftsleben, sondern das muss
auch bei den Regelungen gelten, die diese Verfahren
Ich meine, dass wir Regelungen mit Augenmaß brau- vorschreiben; ich meine ganz konkret bei den Gesetzen.
chen, insbesondere in dem sehr stark subventionierten Es bleibt deshalb dabei, dass wir im Hause nach wie vor
Nahverkehrsbereich. Wir müssen, wenn wir die Rege- Anstrengungen unternehmen, Gesetze so zu formulieren,
lung nicht auf gravierende Fälle beschränken, überlegen, dass sie möglichst verständlich und klar sind. Wir wer-
wem wir die Ersatzleistungen aufbürden. Denn wenn die den jetzt aber zusätzlich mit der Gesellschaft für deut-
Bahn Verspätung hat, weil sie, um die Sicherheit ihrer sche Sprache ein neues Projekt starten, das auch in die-
Reisenden zu garantieren, herrenlos herumstehende Kof- sem Haushalt ausgewiesen ist; deswegen erwähne ich es
fer kontrolliert und Bahnhöfe räumt, auch wenn sich das in diesem Zusammenhang. Wir wollen gemeinsam un-
hinterher als nicht erforderlich herausstellt, oder weil tersuchen, wie Gesetze und Verordnungen von unver-
sich Menschen – leider, muss man sagen – in großer An- ständlichem Amtsdeutsch befreit und lesbarer werden
zahl in Selbstmordabsicht vor die Züge werfen, wird sie können.
als Unternehmen Ersatzleistungen nicht allein zu tragen
haben. Dann wird eine Debatte darüber eröffnet werden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
4438 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries


(A) Das geht auf eine Anregung von zwei Berichterstattern Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsge- (C)
für den Justizhaushalt zurück. Ich danke den Kollegen richt ist die anerkannte, glaubwürdige Institution, die das
Binding und Schröder für ihre Initiative. Ebenso möchte Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger genießt. Sie hat in
ich aber auch all denen danken, die den Haushalt des den letzten Jahren genug Anlass gehabt, immer wieder
Justizministeriums mit befördert haben und denen die der Politik sagen zu müssen, was sie zu beachten hat. Ich
Rechtspolitik am Herzen liegt. darf hier in diesem Zusammenhang die frühere Präsiden-
tin des Bundesverfassungsgerichtes zitieren, Frau Jutta
Meine Damen und Herren, auch in den nächsten Wo- Limbach, die vor zwei Wochen sagte:
chen kommen auf die Rechtspolitikerinnen und Rechts-
politiker eine Menge Vorhaben zu. Es gibt zahlreiche Es sollte der Ehrgeiz der Politik sein, der verfas-
Anhörungen und Beratungen; der Rechtsausschuss ist sungsgerichtlichen Nachhilfe zuvorzukommen.
gut ausgelastet. Lassen Sie uns gemeinsam bei all diesen Recht hat sie;
Beratungen daran denken, dass wir nicht nur richtige
und gute Gesetze machen wollen, sondern auch ver- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/
ständliche. DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) denn nur das schafft Vertrauen in die Politik. Dann sind
es nicht nur verständliche Gesetze, sondern auch verfas-
sungsrechtlich standfeste Gesetze. Es ist gerade für den
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Verbraucher und für jeden Bürger bzw. jede Bürgerin
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser- wichtig, wenn sie sehen, was der Gesetzgeber produ-
Schnarrenberger für die FDP-Fraktion. ziert. Deshalb muss alles getan werden, damit das Anse-
(Beifall bei der FDP) hen des Bundesverfassungsgerichtes nicht beschädigt
wird.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Frau Ministerin, ich nehme gern auf, dass Sie sagen,
Gesetze müssten lesbar, verständlich und – das ist wirk-
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-
lich das Entscheidende – handwerklich gut sein. Da darf
gen! Der Justizhaushalt, Frau Ministerin, gibt wirklich,
ich nur an das „handwerklich gut gemachte“ Allgemeine
was das rein Finanzielle angeht, nicht allzu viel her. Gut,
Gleichbehandlungsgesetz erinnern,
dass Sie das Deutsche Patent- und Markenamt haben;
denn es ist doch immer wieder sehr schön, das in Haus- (Otto Fricke [FDP]: Vorsicht, Ironie!)
haltsdebatten zu nennen. Deshalb ist es wichtig, dass von
bei dem jetzt mit einer Nachbesserung endlich der Wille
Ihrer Seite aus immer ein sehr wohlwollendes Auge
(B) des Parlaments in Gesetzesform gegossen werden muss. (D)
– am besten zwei – auf diese „Goldkuh“ geworfen wird.
Ich kann nur sagen: Das ist wirklich hochnotpeinlich; da
In den knapp zehn Monaten der Legislaturperiode ist versteht der Bürger Politik nicht mehr. Ich hoffe, dass
noch nicht allzu viel passiert in der Rechtspolitik. Das das wirklich der einzige Ausreißer in dieser Dimension
steht uns jetzt im Herbst bevor, wenn wir einen Anhö- gewesen ist. So etwas hat es in der Gesetzgebung in den
rungsmarathon zu vielen wichtigen Vorhaben im Rechts- letzten Jahren nicht gegeben.
ausschuss durchführen werden. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Jerzy Montag
Geprägt war die Arbeit – die Föderalismusreform [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
nehme ich jetzt ausdrücklich aus als ein natürlich wichti- Das darf es natürlich nicht geben bei den wichtigen
ges Werk, mit dem sich aber das ganze Parlament unter Vorhaben, die bevorstehen. Das Projekt der Urheber-
Federführung des Rechtsausschusses befasst hat – in ers- rechtsreform ist jetzt mit dem Gesetzentwurf des Justiz-
ter Linie dadurch, dass Urteile des Bundesverfassungs- ministeriums in die Debatte im Bundestag eingebracht
gerichtes aufgearbeitet werden mussten. Ich nenne hier worden. Ich sage klar für die FDP-Fraktion: Wir halten
nur den Europäischen Haftbefehl; dass das Zollfahn- gerade die Weiterentwicklung des Urheberrechtes mit
dungsdienstgesetz noch darauf wartet, verfassungskon- der Stärkung der Stellung des Urhebers in einer für ihn
form zu werden, sei nur am Rande erwähnt. Ich sage das immer schwieriger werdenden digitalen Informationsge-
hier an dieser Stelle, weil ich sehr besorgt bin, wenn ich sellschaft für ganz wichtig. Deshalb ist es dringend not-
sehe, wie gerade auch in Kreisen der Politik mit den Ur- wendig, dass wir mit Sachverständigen diesen Entwurf
teilen des Bundesverfassungsgerichtes umgegangen in einigen Punkten wirklich offen, konstruktiv und – das
wird. sage ich für die FDP – kritisch erörtern. Wenn es in be-
(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie stimmten Bereichen Änderungsvorschläge gibt, werden
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE wir die Letzten sein, die nicht versuchen, gemeinsam mit
GRÜNEN) den anderen Fraktionen hier im Hause zu einem Ergeb-
nis zu kommen. Aber in der jetzigen Form darf der Ge-
Es kann einen nur sehr beunruhigen, wenn man hört, setzentwurf nicht bleiben; das sage ich an dieser Stelle
dass es Urteile gäbe – Rasterfahndung, Lauschangriff, ganz deutlich.
Luftsicherheitsgesetz –, die dringend wieder der Korrek-
(Beifall bei der FDP)
tur bedürften, weil sie zwar sehr wohl Grundrechtsrecht-
sprechung beinhalten, aber Teilen der Praxis so nicht Ein weiteres wichtiges gesellschaftspolitisches Vorha-
passen. ben ist die Reform des Unterhaltsrechts. Es geht dabei
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4439
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
(A) darum, Kindern eine gesicherte, prioritäre Position im Monate zuwende, will ich uns alle ganz kurz daran erin- (C)
Unterhaltsrecht zu geben. Frau Ministerin, wir teilen nern, dass seit Freitag der vergangenen Woche die Ver-
zwar die Ansätze Ihres Entwurfs, den Sie vorgelegt ha- fassungsänderungen in Kraft getreten sind, die wir vor
ben. Wir werden aber über Details reden müssen. der Sommerpause verabschiedet haben. Diese Grundge-
setzänderungen – es wurde in diesem Zusammenhang
Hier wird ein Stück weit ein Paradigmenwechsel vor-
eine siebentägige Anhörung durchgeführt; das war ein-
genommen. Die gesellschaftlichen Realitäten und Verän-
malig in der Geschichte der Bundesrepublik – waren ein
derungen im Hinblick auf die Ehe mit und ohne Kinder,
großer Kraftakt. Daran sollte man in einer Rechtsdebatte
auf Familie und Erziehung werden aufgegriffen. Dies
ruhig einmal erinnern.
wird zu gewissen Einschränkungen bei Unterhaltsan-
sprüchen derjenigen Ehepartner führen, die keine Kinder (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
betreuen; das müssen wir offen sagen. Ich denke, es geht
In der Vergangenheit mögen zwar viele Koalitionen da-
nicht anders, weil in den allermeisten Fällen nur Man-
rüber geredet haben. Aber wir als große Koalition haben
gelverwaltung möglich ist.
gehandelt und können stolz auf diese Verfassungsände-
Ich hoffe, dass dann auch der Streit in der CDU/CSU rungen sein.
über das moderne Familienbild, über Familie und Ehe
Nun haben wir die Finanzverfassung einstweilen aus-
im 21. Jahrhundert beendet sein wird. Wenn wir den Be-
geklammert. Auch etwas anderes haben wir ausgeklam-
treuungsunterhalt für allein erziehende und verheiratete
mert, nämlich die Aufnahme weiterer Staatsziele in un-
Mütter regeln werden, wird sich erweisen, wie modern
ser Grundgesetz. Ich will heute nur wenige Worte dazu
die CDU/CSU tatsächlich ist.
sagen:
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ma-
Erstens. Wir stehen zu der Zusage, dass wir hierüber
chen Sie sich mal keine Sorgen!)
bald diskutieren werden und hierzu eine Anhörung im
Wir werden uns konstruktiv in diese notwendigen gesell- Rechtsausschuss durchführen werden.
schaftspolitischen Reformen einbringen.
Zweitens. Ich halte viele der Anliegen, die als poten-
Lassen Sie mich zum Schluss kurz einen weiteren Be- zielle Staatsziele in der Diskussion sind, für mehr als eh-
reich ansprechen; leider habe ich keine Zeit mehr, näher renwert.
darauf einzugehen. Natürlich sind für die rechtsberaten-
den freien Berufe in Deutschland entsprechende Rah- Drittens. Erlauben Sie mir aber, in diesem Zusam-
menbedingungen sehr wichtig. Wir verschließen uns Än- menhang eine Sorge auszusprechen, die mich wirklich
derungen, die jetzt unter anderem im Rahmen eines umtreibt, und zwar die Sorge, dass sich in der Öffent-
lichkeit, aber auch unter den Kollegen mehr und mehr
(B) Rechtsdienstleistungsgesetzes angedacht werden, (D)
nicht. der Eindruck festsetzt, dass ein politisches Ziel oder
Recht nur noch dann als angemessen verortet gilt, wenn
Dies sollte aber in ein Gesamtkonzept eingebettet es seinen Platz im Grundgesetz gefunden hat. Alles an-
werden. Wir müssen sehen: Es gibt viele andere Berei- dere wird anscheinend nur noch als zweit- oder drittran-
che, die die rechtsberatenden freien Berufe genauso be- gig wahrgenommen.
treffen, zum Beispiel die EU-Geldwäscherichtlinie oder
der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen Anwalt Für mich ist dies eine Fehlentwicklung. Beschreiten
und Mandant. Da hat sich eine Lücke aufgetan, wie wir wir diesen Weg weiter, dann habe ich ernsthaft die Be-
in der Rechtsprechung sehen. Auch die Stärkung des fürchtung, dass wir das Ansehen einfachgesetzlicher Re-
Schwächeren durch den Anwalt muss eine Rolle spielen. gelungen schädigen und damit letztlich unser aller Ar-
Man muss sehen, durch welche Änderungen des Gesetz- beit entwerten.
entwurfes im Hinblick auf die Scheidung light dieser As- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
pekt eingebracht werden kann.
Gerade bei den einfachgesetzlichen Regelungen haben
(Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) wir im ersten Halbjahr vieles erreicht und angestoßen,
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit und bin was unter Rot-Grün nicht möglich war. Wir Christdemo-
froh, dass das nächste Jahr dieser Legislaturperiode der kraten freuen uns, dass wir mit unserem Partner bei-
Zeitpunkt für Entscheidungen zu wichtigen rechtspoliti- spielsweise Scheinvaterschaften – Stichwort: Imbissvä-
schen Vorhaben sein wird. ter – endlich bekämpfen, das Stalking unter Strafe stellen
oder Lücken bei der Sicherungsverwahrung schließen
Vielen Dank. können – viele Gesetzeswerke, die noch in Bundestags-
(Beifall bei der FDP) drucksachen aus der letzten und vorletzten Legislatur-
periode standen und die jetzt im Bundesgesetzblatt ste-
hen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Jürgen Gehb von (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
der CDU/CSU-Fraktion. Aber in keiner von diesem Jahr!)
Für die zweite Hälfte des Jahres stehen ebenso wich-
Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): tige Themen auf der Agenda der Rechtspolitik. Ohne
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, will ich nur sa-
mich der Agenda unserer Themen für die kommenden gen: Wir werden uns auch und ganz sicher der Stärkung
4440 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Jürgen Gehb


(A) der Verbraucherrechte annehmen – und dies nicht nur (Beifall bei der CDU/CSU) (C)
im Zusammenhang mit dem Stichwort Gammelfleisch.
Die große Koalition hat es sich zum Ziel gesetzt, un-
(Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne ser Land an vielen Stellen wieder fit für die Zukunft zu
Kastner) machen. Das ist nicht nur Aufgabe der Wirtschafts- und
Finanzpolitik. Auch wir in der Rechtspolitik können
Bei der Neuregelung des Rechtsdienstleistungsgeset-
– als große Koalition werden wir das tun – unseren ganz
zes wird es für uns Christdemokraten oberste Maxime
spezifischen Beitrag hierzu beisteuern. Ich nenne nur ne-
sein, die hohe Qualität der Rechtsberatung in unserem
ben der Novelle des Urheberrechts zum Schutz des geis-
Land für den rechtsuchenden Bürger zu erhalten.
tigen Eigentums – das ist eben schon angesprochen wor-
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den – unter der Rubrik „Unser Land wieder fit machen“
Das hören wir gerne, Herr Gehb!) die notwendige Reform weiter Teile unseres Gesell-
schaftsrechts.
Daher darf auch zukünftig der qualifizierte und umfas-
sende Rechtsrat nur von Rechtsanwälten und Rechtsan- Wir können zu Recht stolz auf unsere GmbH sein,
wältinnen erbracht werden. die sich seit ihrer Geburtsstunde im Jahr 1892 zu einem
regelrechten Erfolgsmodell speziell für den Mittelstand
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der entwickelt hat. Doch Erfolgsmodelle bleiben nur dann
FDP) erfolgreich, wenn sie von Zeit zu Zeit den veränderten
Es nützt auch nichts – da bin ich nicht so ganz konform Umständen und Bedürfnissen der Kunden angepasst
mit meiner Justizministerin –: Rechtsanwälte oder werden. Und vergessen wir auch nicht: Die Angebote
Leute, die vielleicht rechtskundig, aber keine zugelasse- der Konkurrenz spielen ebenfalls eine Rolle.
nen Anwälte sind, sollten auch nicht kostenlos irgendje- So hat die Justizministerkonferenz bereits im
mandem Rechtsrat erteilen können. Wer haftet denn hin- Jahr 2002 das Bundesjustizministerium mit der Prüfung
terher? Es gibt weder eine Haftpflichtversicherung noch beauftragt, welche Vorschriften im Recht der GmbH re-
gibt es ein Aussageverweigerungsrecht. Diese Personen formbedürftig seien. Nach zwei vergeblichen Anläufen
unterliegen nicht der Verschwiegenheitspflicht. Nie- unter Rot-Grün
mand käme auf die Idee, selbst einen guten Piloten bei
einem Segelflugzeug einen Jumbojet fliegen zu lassen. (Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN])
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD) gibt es nun einen weiteren hausinternen Diskussionsent-
wurf des Bundesjustizministeriums zur GmbH-Reform,
(B) Diesen Schutz sind wir allen Verbrauchern schuldig. der kurz vor der Sommerpause das Licht der Welt er- (D)
Dies schließt gewisse Öffnungen des anwaltlichen Bera- blickt hat.
tungsmonopols nicht aus; das ist ganz klar. Es gibt eine
europäische Richtlinie – aber alles mit Augenmaß. Das (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
werden wir in der gewohnten Gemeinsamkeit hinbekom- NEN]: Auch noch auf keiner Bundestags-
men. drucksache!)
Gegenüber den Bürgern stehen wir im Wort, alles zu Dieser Entwurf greift viele regelungsbedürftige Fragen
tun, damit schwere und schwerste Verbrechen aufgeklärt auf, ist solide und gut, was aber nicht heißt, dass man aus
werden können. Ich bin froh, dass wir bei der Nutzung einem guten Entwurf nicht auch noch einen besseren
der DNA-Analyse – das ist ein naturwissenschaftlicher machen kann.
Quantensprung – weitergekommen sind, und spreche
Nun stehen wir am Beginn der Diskussion und da wir
mich mit Blick auf die FDP ausdrücklich dafür aus, zu-
Parlamentarier nicht die Erfüllungsgehilfen der Ministe-
künftig auch Mautdaten zur Aufklärung schwerer und
rialbürokratie sind – so jedenfalls mein ganz bescheide-
schwerster Verbrechen nutzbar zu machen.
nes Selbstverständnis; das teile ich vielleicht mit der
(Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian Mehrheit des Hauses –,
Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wa-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
rum haben wir in das Gesetz reingeschrieben,
dass das nicht sein soll?) sollten wir uns auch ganz selbstbewusst an dieser Dis-
kussion beteiligen. Dies sollten wir auch deswegen tun,
Auch hier gilt: Diese Daten sollen nicht zur Aufklä-
weil die Reform unseres deutschen Gesellschaftsrechts
rung von Ladendiebstählen oder von Schwarzarbeit ge-
keine Kleinigkeit ist. Lange lebten wir in Deutschland
nutzt werden. Entsprechende Presseerklärungen, Frau
mit unserem Gesellschaftsrecht abgeschottet in einer Art
Kollegin Dyckmans, liebe Mechthild, oder Herr
Paradies. Da gab es neben der GmbH als Golf-Klasse die
Friedrich, muten schon zynisch an. Ich finde, man
ebenfalls wohlangesehene Aktiengesellschaft quasi als
könnte den Mut aufbringen, den Eltern der getöteten
S-Klasse. Aber attraktive Kleinwagen waren nicht im
Kinder zu sagen, dass man hier Mörder mit Schwarz-
Angebot und entsprechenden Modellen aus dem Aus-
arbeitern oder Ladendieben gleichsetzen will. Das ist
land war der Zutritt zum deutschen Markt nicht gestattet.
nicht unser Ziel. Deswegen bitte ich darum, dass wir es
endlich wahr machen, dass Datenschutz nicht Täter- All dies ist Vergangenheit. Nach mehreren Urteilen
schutz sein kann und dass Opferschutz vor Datenschutz des Europäischen Gerichtshofs sind diese schützenden
geht. Mauern weg. Jedem Firmengründer in unserem Land
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4441
Dr. Jürgen Gehb
(A) stehen alle in der EU angebotenen Gesellschaftsformen Wochen in Verzug ist und trotz erneuter Fristsetzung (C)
zur Verfügung. Es wird in unserem Land bei ausländi- keine Leistung innerhalb von zwei weiteren Wochen er-
schen Modellen auch rege zugegriffen. Wenn sich in un- folgt.
serem Land Monat für Monat über 1 000 Unternehmer
entscheiden, eine britische Limited als Gesellschafts- Damit nach der Vorstellung dieser Unternehmerge-
form zu wählen, dann müssen wir uns als deutscher Ge- sellschaft auch nicht der Hauch eines Missverständnisses
setzgeber die Frage gefallen lassen, warum und wieso im Raum stehen bleibt, sage ich ganz klar: Die legitimen
sie dies tun. Wir müssen uns auch die Frage stellen, ob Gläubigerinteressen – lassen Sie mich in diesem Zusam-
wir hierauf eine geeignete Antwort geben wollen, indem menhang nur das Stichwort Bestattungsfälle nennen –
wir beispielsweise unsere Angebotspalette heimischer verlangen nach einer umfassenden Modernisierung des
Rechtsformen erweitern. GmbH-Rechts. Der vorliegende Entwurf aus dem Bun-
desjustizministerium stellt in diesem Bereich einen wert-
Wir stehen also in Europa in einem rauen, harten und vollen Diskussionsansatz dar.
echten Wettbewerb nicht nur der Güterproduktionen und
(Lachen des Abg. Otto Fricke [FDP])
der Dienstleistungen, sondern auch der Rechtsformen.
Vor diesem Hintergrund ist die notwendige Reform un- Allerdings bietet der MoMiG-Entwurf für Existenz-
seres Gesellschaftsrechts wichtig, richtig und viel bedeu- gründer keine neue Perspektive. Umso wichtiger ist un-
tungsvoller, als manche dies im ersten Augenblick mei- sere Ergänzung durch die Unternehmergesellschaft. Las-
nen. Daher sind zumindest die Rechtspolitiker der Union sen Sie uns also zum Wohl der Gläubiger als auch zum
der Überzeugung, dass die aus der Feder eines Ministe- Wohl der Unternehmer die Reform unseres Gesell-
rialbeamten stammenden Vorschläge zur GmbH-Re- schaftsrechts zügig anpacken und die jeweils spezifische
form an vielen Stellen nützlich und auch interessant Antwort geben.
sind, aber beispielsweise keine überzeugende Lösung
hinsichtlich des Problems der britischen Limited darstel- All dies sind wichtige Aufgaben für die kommenden
len. Wir sind der festen Überzeugung, dass es dazu ne- Monate. Ich kann Ihnen versichern, dass die große
ben der wohl etablierten GmbH einer zusätzlichen, einer Koalition unter Leitung unserer Kanzlerin Angela
neuen, einer extrem einfach geregelten sowie einer Merkel und in bewährter Zusammenarbeit – mit kleinen
preiswerten Gesellschaftsform bedarf. Nuancen ist die Zusammenarbeit immer gut – mit unse-
rer Justizministerin Brigitte Zypries zukunftstaugliche
(Beifall bei der CDU/CSU) Lösungen anbieten wird.
Diese neue Gesellschaft soll ganz bewusst ein Aliud (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
zur bestehenden GmbH sein: klein, preiswert, selbstbe-
(B) wusst und anspruchsvoll. Nennen wir sie einmal Unter- Das ist das Ende meines Redebeitrags. Ich danke Ih- (D)
nen für Ihre wohlwollende Aufmerksamkeit und den
nehmergesellschaft. Wir wollen die notwendige Re-
großen Beifall vom ganzen Hause.
form unseres Gesellschaftsrechts sozusagen in der Form
eines Zweisäulenmodells. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Erlauben Sie mir – es soll keine Exegese werden –,
Ihnen wichtige Eckpunkte unserer Überlegungen zu die- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
ser neuen Gesellschaftsform kurz mitzuteilen: kurze Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Nešković,
Gründungszeit, Eintragung im Handelsregister innerhalb Fraktion Die Linke.
von 24 Stunden, (Beifall bei der LINKEN)
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Warum so
lange?) Wolfgang Nešković (DIE LINKE):
kein Mindestkapital und Gründungskosten in Höhe von Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
maximal 100 Euro. Es soll noch eine Reihe anderer Er- Damen und Herren! Ein unstrittiges Prinzip der Gerech-
leichterungen in der Gründungsphase geben. tigkeit besteht darin, dass die Folgen eines Übels grund-
sätzlich nur den treffen dürfen, der dieses Übel durch
All das muss natürlich mit den Regeln des Gläubi- sein Handeln zu verantworten hat. Die Suche nach dem
gerschutzes korrespondieren. Es ist etwa an erweiterte richtigen Recht ist deswegen immer identisch mit der
Pflichtangaben – ich nenne die Stichworte Geschäfts- Suche nach Gerechtigkeit.
briefe und Internet – gedacht. Ausschüttungen sollen nur
aus Gewinnen erfolgen, eventuell unter der zusätzlichen Ich frage mich, ob sich dieses Haus bei der Gesetzge-
Voraussetzung eines Solvenztests. Außerdem ist an eine bung noch diesem, wie ich finde, sehr einfachen und kla-
Gesellschafterhaftung wie bei der GmbH und zusätzlich ren Grundsatz verpflichtet fühlt. Ich erinnere mich gut
beim Vorliegen einer evidenten Unterkapitalisierung ge- an die öffentlichen Kommentierungen der Beratungen
dacht. und Beschlussfassungen der Hartz-IV-Gesetze seitens
der Politik. Die Kürzungen am Sozialstaat wurden mit
Die Insolvenz ist ein kritischer Fall. Dabei geht es im einer Art befremdlichem Stolz auf die eigene Härte ver-
Durchschnitt um Beträge in Höhe von 800 000 Euro. kündet. Man sollte den Eindruck erhalten, es habe sich
Die Vermutung der Zahlungsunfähigkeit soll gegeben endlich jemand aufgerafft und den Mut gefunden, das
sein, wenn die Gesellschaft mit der Erfüllung einer For- Schwere, das Unbeliebte zu tun, weil es die Zeit und ihre
derung in Höhe von mindestens 600 Euro länger als vier Umstände erforderten.
4442 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) Die Zeit und ihre Umstände sind von einer anhalten- ger Einfluss auf die sich ändernde Ökonomie haben als (C)
den Massenarbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die Auto- die Erwerbslosen dieses Landes, ihre Familien und ihre
matisierung von Arbeitsabläufen durch Computer und Kinder. Sie sind ohne Einfluss und ohne Schuld, werden
Roboter macht, unter den Bedingungen des von Ihnen aber dennoch bestraft; denn sie treffen die Folgen der ge-
präferierten Wirtschaftssystems, menschliche Arbeit zu- schilderten Entwicklung zwei Mal mit aller Kraft. Der
nehmend entbehrlich. Die Globalisierung des Arbeits- erste Schlag ist die Arbeitslosigkeit und die Abhängig-
marktes führt zu einer Verschiebung von Arbeitsplätzen keit von staatlicher Hilfe.
aus den klassischen Industrieländern in die Schwellen-
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fangen
länder der Welt.
Sie einmal mit Rechtspolitik an!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Juristen soll-
Der zweite Schlag ist die Kürzung der staatlichen Hilfe
ten sich nicht zu ökonomischen Sachverhalten
in dieser Situation. Diesen zweiten Schlag führen Sie. Er
äußern, zumindest nicht Sie, Herr Nešković!)
ist politisch gewollt. Politische Entscheidungen haben
Ganz überwiegend aufgrund dieser Entwicklungen sich auch vor den Grundsätzen der Gerechtigkeit zu ver-
stehen die Töchter und Söhne der einst händeringend ge- antworten.
suchten Industriearbeiter heute ohne Erwerbsarbeit da.
(Beifall bei der LINKEN – Michael Grosse-
Noch im Jahre 1999 stellte die sozialdemokratische Jus-
Brömer [CDU/CSU]: Jetzt zur Rechtspoli-
tizministerin, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin, im „Vor-
tik!)
wärts“ fest, es komme nun darauf an, die Schwachen zu
schützen. Für Erinnerungsschwache eine Seh- und Erin- Es ist ein unbezweifelbares Prinzip der Gerechtigkeit,
nerungshilfe aus dem „Vorwärts“. dass die Folgen eines Übels niemals den treffen dürfen,
der zu diesem Übel keine Ursache gesetzt hat. Hartz IV
(Der Abgeordnete hält einen Artikel hoch:
„Die Schwachen schützen“) verletzt dieses Prinzip. Auch die neuerliche Verschär-
fung von Hartz IV verletzt dieses Prinzip. Dieses Prinzip
Wörtlich heißt es: droht nun erneut verletzt zu werden. Vermutlich noch im
Herbst werden wir über zwei Entwürfe des Bundesrates
Deshalb stehen der Schutz der Schwachen durch
zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und zur Be-
das Recht und die Grundwerte des Sozial- und
grenzung der Prozesskostenhilfe zu entscheiden haben.
Rechtstaates im Vordergrund meiner Politik.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommen
Das finde ich gut. Das findet unsere Unterstützung.
wir wenigstens zur Rechtspolitik!)
(Beifall bei der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb
Diese Entwürfe sind ebenfalls in jenem Geist des Stolzes (D)
(B) [CDU/CSU]: Wann kommen die Trikots
auf die eigene Härte geschrieben. Auch Sie schmücken
dran?)
sich eitel damit, den Mut für das längst Überfällige auf-
Die rot-grüne Koalition hingegen reagierte auf die ge- zubringen.
schilderte Entwicklung ganz anders. Sie antwortete auf
Das PKH-Begrenzungsgesetz bezweckt, die Prüfung
die Fragen der Zeit mit einer hilflosen Doppelstrategie:
von Prozesskostenhilfe auch für große Teile der ärmeren
Einerseits versuchte sie vergeblich, den Verbleib von
Bevölkerungsschichten von einer Bearbeitungsgebühr
Unternehmen im Inland durch Anreize zu befördern,
von 50 Euro abhängig zu machen. Hier wird die un-
zum Beispiel indem sie die Steuern für Unternehmen
rühmliche Idee der Praxisgebühr im Gesundheitswesen
und Bezieher hoher Einkommen senkte. Sie verzichtete
in gesteigerter Form auf den Zugang zu den Gerichten
damit „erfolgreich“ auf staatliche Einnahmen in Milliar-
übertragen. Diese und die weiteren beabsichtigten Ver-
denhöhe, die heute nicht zuletzt bei der Finanzierung der
änderungen laufen letztlich darauf hinaus – der VdK
Sozialsysteme fehlen.
stellte das in einer Presseerklärung am 17. Juli 2006
Zweitens verringerte und verringert die alte und neue fest –, das vor 26 Jahren abgeschaffte Armenrecht wie-
politische Mehrheit die individuell gewährten sozialen der einzuführen. Die Entwurfsersteller wollen mit längst
Leistungen des Staates. Sie setzt dem breiten Bedarf an überwundenen Konzepten aus der Vergangenheit dieses
staatlicher Unterstützung möglichst schmale Ausgaben Land fit für die Zukunft machen. Das muss scheitern.
entgegen. Vielleicht möchten Sie nun einwenden, die Anachronismus gestaltet keine Zukunft.
deutsche Politik könne schließlich nichts für die verän-
(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter
derten Umgebungsvariablen ihrer Entscheidungen.
[CDU/CSU]: Die anachronistische Fraktion
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist kein sitzt dort drüben! Der gehören Sie an!)
unkluger Einwand!)
Das Sozialgerichtsänderungsgesetz sieht darüber hin-
Automatisierung und Globalisierung hätten doch nicht aus vor, eine allgemeine Gebühr für klagende Bürger
die deutsche Politik zu verantworten und es sei schließ- einzuführen. Grundsätzlich soll diese Gebühr im Fall des
lich aussichtslos, diese Prozesse zu blockieren. Unterliegens 75 Euro betragen. Während also Hartz IV
und seine Verschärfung die Erwerbslosen auf das abso-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt wird es
lute Minimum der Lebensführung zurückdrängen, be-
ein bisschen trivial!)
zwecken diese Entwürfe, den Leistungsempfänger dazu
Vielleicht ist das ein Teil der Wahrheit. Es ist aber höchs- zu bewegen, darauf zu verzichten, um die Rechtmäßig-
tens ein Teil und nicht ihr Kern. Niemand könnte weni- keit seines Leistungsbescheides zu prozessieren.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4443
Wolfgang Nešković
Neškoviæ
(A) (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Jetzt kommt Fairness sein? Ich wähnte mich auf einem Eiland, (C)
die Verschwörungstheorie!) wo Verstand, Recht und Gerechtigkeit Hand in
Hand gehen, an einem Platz, wo das Parlament oder
Wer am Existenzminimum lebt, führt kein Sparbuch für sogar die Regierung … moralisch gewachsen war.
mögliche Rechtsstreitigkeiten. Wer wenig im Leben hat, Aber offenkundig gehen solche Erkenntnisse und
braucht viel im Recht. Er ist ohne staatliche Hilfe prak- Errungenschaften verloren.
tisch völlig rechtlos, wenn es zum Streit kommt.
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir kriegen gleich
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welchen An- alle einen Hörerschein! – Heiterkeit bei der
teil haben die Ölmultis daran?) CDU/CSU)
Ich sehe keinen Anlass zu dem geschilderten Stolz auf – Es wäre gut, wenn Sie sich solche Gedanken zu Her-
die eigene Härte. Ich kann bei denjenigen, die diese Ge- zen nehmen würden. Das wäre etwas für Ihr Kopfkissen
setzgebung zu verantworten haben, und bei denjenigen, bzw. für morgens nach dem Aufwachen.
die die geschilderten Entwürfe auf den Weg gebracht ha-
ben, keinen Mut ausmachen. Die Kürzung der sozialen (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das fehlte ge-
Leistungen und nun auch der Rechtsweggarantie trifft rade noch! Ich will wegen Ihnen keine Alb-
die Schwachen und Schwächsten der Gesellschaft. träume kriegen!)
(Beifall bei der LINKEN) Sie erodieren, wenn sie nicht fortwährend … vertei-
digt werden. Tatsächlich nehme ich heute wahr,
Welcher Mut gehört dazu, von denen zu nehmen, die dass fundamentale Grundprinzipien des Zusam-
sich kaum wehren können? Welchen Mut bringt man menlebens in diesem Land offen von der regieren-
auf, wenn man ihnen auch noch die gerichtliche Gegen- den Politik torpediert werden.
wehr nimmt? Was ist das für ein Mut, der sich darin ge-
fällt, das Ungerechte zu tun? Mut hätte es erfordert, eine (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Gesetzgebung auf die Beine zu stellen, aus der heraus NEN]: Ist damit vielleicht der Berliner Senat
die Menschen dieses Landes die Folgen des von mir ein- mit seinem Sozialabbau gemeint?)
gangs beschriebenen ökonomischen Wandels gemein- Abschließend möchte ich feststellen: Mir ist nicht
sam tragen. Mut hätte es erfordert, zur Abfederung der entgangen, dass die Bundesregierung zu den hier kriti-
Belastungen des sozialen Systems die Bezieher hoher sierten Gesetzentwürfen zur PKH-Begrenzung und zur
und höchster Einkommen heranzuziehen. Es wäre ge- Sozialgerichtsgebühr ihrerseits kritische bis ablehnende
recht gewesen, so zu verfahren. Diesen Einkommens- Stellungnahmen abgegeben hat.
gruppen bescheren die Effektivierung der Produktion
(B) und die Erschließung globaler Märkte jährlich beachtli- (Joachim Stünker [SPD]: Das hätten Sie gleich (D)
che Gewinne. Diese Strategie hätte den Willen der Ge- sagen sollen!)
sellschaft zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit an Frau Zypries, ich kann Ihnen nur die Kraft wünschen,
der richtigen Stelle auf die Probe gestellt. Diese Strategie
hätte echten Anlass zu Stolz gegeben. (Zuruf von der SPD: Danke! Aber die haben
wir schon!)
(Beifall bei der LINKEN)
bei dieser Notbremsung zu bleiben, damit der schon er-
Nur so hätten Sie Ihre Mutfähigkeit im sozialen und im wähnte sozialdemokratische Grundsatz, die Schwachen
christlichen Sinne und den sich daraus ergebenden not- zu schützen, nicht endgültig im Museum sozialdemokra-
wendigen Willen zur sozialen Gerechtigkeit unter Be- tischer Grundwerte verschwindet.
weis stellen können.
Vielen Dank.
Ich habe am 1. Juli 2006 einen Brief von einem
Göttinger Bürger erhalten, aus dem ich zum Abschluss (Beifall bei der LINKEN)
zitieren möchte:
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr gut! Das Wort hat der Kollege Jerzy Montag, Bündnis 90/
Abschluss!) Die Grünen.
Ich habe, während ich aufwuchs, gelernt, was
soziale Verantwortung meint und bedeutet. Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
(Unruhe) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
gen! Ich werde jetzt versuchen, im Rahmen der Haus-
– Haben Sie doch wenigstens so viel Respekt, einem haltsdebatte zur Rechtspolitik zurückzukehren.
Bürger, der mir geschrieben hat, zuzuhören.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
(Beifall bei der LINKEN – Steffen Kampeter bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP –
[CDU/CSU]: Ich höre Ihnen zu, Herr Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist ein eh-
Nešković!) renwertes Vorhaben!)
Der Geist des Grundgesetzes, so wie ich es verstan- Seitdem ich im Bundestag bin, haben sich die Zahlen
den habe, gab mir bei diesem Gefühl stets Recht. im Haushalt des Bundesjustizministeriums und auch die
Da ging es um Fairness und wer kann schon gegen in Einzelplan 19 – Bundesverfassungsgericht – nicht
4444 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Jerzy Montag
(A) wesentlich geändert. Sie sind so solide wie seit vielen Ausstattung und nicht weitere Strafverschärfungen (C)
Jahren. könnten hier Abhilfe schaffen.
Vielleicht sollte ich an die Adresse der Union sagen: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
Selbst die Union hat die ideologisch verbrämten An- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)
griffe auf einzelne Posten im Haushalt des Bundesjustiz-
Nun kann man natürlich sagen: Die geforderte Aus-
ministeriums, die wir noch aus der rot-grünen Regie- stattung ist Ländersache.
rungszeit kennen, inzwischen aufgegeben.
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unterschät-
zen Sie uns nie, Herr Kollege! Sie haben die Das ist richtig. Aber es ist eine nationale Aufgabe der
Rede von Herrn Schröder noch nicht gehört!) Rechtspolitik, hier Druck auszuüben, konkrete Forde-
rungen zu stellen, ein Engagement der Länder einzufor-
Es scheint bezüglich des Haushalts des BMJ mittler- dern. Gute Rechtspolitik wäre es, hier aktiv zu werden.
weile große Einigkeit zu herrschen. Es ist immer noch Aber dies geschieht nicht.
so, dass sich die Finanzen des Bundesjustizministeri-
ums im Vergleich zum Gesamthaushalt im Promillebe- (Joachim Stünker [SPD]: Doch! Doch!)
reich bewegen. Es ist immer noch so, dass jeder Bürger Rechtspolitik hat in diesem Hause leider keinen Stellen-
dieses Staates auf Bundesebene einige Cent im Jahr für wert mehr.
die Justiz ausgibt und auf Landesebene weniger als für
einen Kinobesuch pro Jahr. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ho!)
In diesem Zusammenhang möchte ich den Kollegen Sie kommt im Koalitionsvertrag als eigener Abschnitt
Dr. Röttgen, den früheren rechtspolitischen Sprecher der überhaupt nicht vor.
Union, zitieren, der hier im Bundestag gesagt hat: (Daniela Raab [CDU/CSU]: Herr Montag! –
Der Stellenwert der Rechtspolitik wird nicht in Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ihre Angriffe
Geld bemessen. Er drückt sich … darin aus, welche auf Frau Zypries weisen wir zurück!)
Bedeutung die Politik … dem Recht … als gestal- Diese Bundesregierung hat inzwischen die Rechtspolitik
tende Antwort auf gesellschaftliche Entwicklungen als eine rechtsstaatliche, grundrechtsorientierte, die Bür-
beimisst. gerrechte schützende Kraft abgeschrieben. Ich zitiere,
(Daniela Raab [CDU/CSU]: Guter Mann!) was Bundesjustizministerin Zypries am 14. November
2005 zur Koalitionsvereinbarung gesagt hat: Rechts-
Meine Damen und Herren, der zweite, wortgewaltige staatlichkeit und Grundrechtsschutz sind der Maßstab,
(B) Satz versperrt die Sicht darauf, dass der erste falsch ist. (D)
an dem sich die große Koalition messen lassen muss. –
Zur Rechtsstaatlichkeit in einer Gesellschaft gehört eine Diese Worte sind einsam in der Debatte der großen
Justiz. Deshalb ist Rechtspolitik dann gut, wenn sie die Koalition um die großen, notwendigen Aufgaben, die in
Justiz, konkret die Staatsanwaltschaften und die Ge- diesem Hause zu bewältigen wären.
richte, bei der Bewältigung ihrer Aufgaben nicht alleine
lässt. So gesehen lässt sich Rechtspolitik selbstverständ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
lich nicht ohne Geld machen und denken. Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen]
[CDU/CSU]: Nur weil Sie die Legislatur-
Im März dieses Jahres habe ich in der Debatte über periode nicht geschafft haben!)
den Haushalt 2006 das Bundesverfassungsgericht zi-
tiert. Diese Passage will ich an dieser Stelle, da sich Ich sage an dieser Stelle: Messen wir die große Koali-
nichts geändert hat, ausdrücklich wiederholen. Das Bun- tion doch daran, was sie in den ersten elf Monaten in der
desverfassungsgericht hat in einigen Fällen mutmaßliche Rechtspolitik angerichtet hat! Ich komme zum ersten
Straftäter aus der Haft entlassen und dazu gesagt: Punkt, zur Föderalismusreform. Ihre übergroße Mehr-
heit wurde genutzt, um das Grundgesetz – Sie haben da-
Die Überlastung eines Gerichts fällt in den Verant- rauf hingewiesen, Herr Gehb – umfänglich und fast zu
wortungsbereich der staatlich verfassten Gemein- hundert Prozent gegen den ausdrücklichen Vorschlag al-
schaft … Hilft der Staat der Überlastung der Ge- ler geladenen Sachverständigen zu verändern.
richte nicht ab, so muss er … seinen … Bürgern
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
erklären, dass mutmaßliche Straftäter … sich der
Daniela Raab [CDU/CSU]: Das ist überhaupt
Strafverfolgung … entziehen und erneut Strafta-
nicht wahr!)
ten … begehen.
Dazu hat Ihre Mehrheit genützt. Aber die Kraft, dabei
Ich sage: Es hat sich nichts geändert. Im Dezember
die Einheit des Rechts auf nationaler Ebene zu wahren
letzten Jahres hat der Fünfte Strafsenat des Bundesge-
und es rechtsstaatlich auszubauen, hatte diese große Ko-
richtshofs unter seiner Vorsitzenden Frau Harms, die
alition nicht.
jetzt Generalbundesanwältin geworden ist, in dem Revi-
sionsverfahren zum Kölner Müllskandal Folgendes ge- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Waren Sie gar
sagt: In vielen großen Wirtschaftsstrafverfahren kann nicht da?)
eine adäquate Aufklärung und Bestrafung nicht erfolgen,
Ich will dafür nur ein einziges Beispiel anführen:
weil hierfür die ausreichenden justiziellen Ressourcen
nicht zur Verfügung stehen. Alleine bessere finanzielle (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht so laut!)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4445
Jerzy Montag
(A) Das Bundesjustizministerium hat mit seinen Gesetzent- [CDU/CSU]: Das hat er aber viel vornehmer (C)
würfen zu Untersuchungshaft und Jugendstrafvollzug ausgedrückt!)
nicht nur eine jahrzehntelang versäumte Aufgabe erfüllt,
sondern durchaus auch ein Zeichen gesetzt. Dadurch erklärt sich vielleicht auch, wer für diese Ver-
schlimmbesserung in der Koalition wahrscheinlich die
(Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Verantwortung trägt.
[CDU/CSU]: In dieser Legislaturperiode!)
Dafür hat die Union aber heldenhaft und erfolgreich
Doch es hat keine Kraft in Ihrer übergroßen Koalition gekämpft, die Weltanschauung in letzter Sekunde aus
gegeben, diese nationale Aufgabe einer einheitlichen dem Gesetz zu streichen. Das Bundesjustizministerium
Regelung des Vollzugs der Untersuchungshaft und des war aber nicht in der Lage, diesen Auftrag durchzufüh-
Jugendstrafvollzugs beim Bund zu belassen. Sie haben ren, weswegen es bald zu einem Bereinigungsgesetz
diese Rechtsmaterie billig verscherbelt und damit der kommen wird.
Rechtspolitik und auch den betroffenen Menschen ge-
schadet. (Otto Fricke [FDP]: Erstes Bereinigungs-
gesetz!)
(Otto Fricke [FDP]: Und was ist unter Rot-
Grün passiert?) Ich sage Ihnen: Wenn es nicht zum Weinen wäre, dann
würden wir als Opposition uns nicht nur klammheim-
Die Kritiker dieser Entwicklung haben einen „Wettlauf lich, sondern offen über Ihren Murks freuen können.
der Schäbigkeit“ angekündigt.
(Joachim Stünker [SPD]: Na, na, Herr
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ho, ho! – Daniela Montag!)
Raab [CDU/CSU]: Ist ja übel!)
Europäischer Haftbefehl: Es wäre wirklich den
Dieser „Wettlauf der Schäbigkeit“ hat bereits begonnen. Schweiß der Edlen wert gewesen, sich darüber Gedan-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Herr ken zu machen, wie man die Entscheidung des Bundes-
Nešković war ja harmlos im Vergleich zu Ih- verfassungsgerichts in ein vernünftiges Gesetz gießt.
nen, Herr Montag!) Stattdessen haben Sie ganze Absätze der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts wortwörtlich ins Gesetz
Die ersten Entwürfe, aus Bayern und aus Baden- geschrieben
Württemberg, zur Regelung dieser Materie auf Landes-
ebene zeigen, wohin die Reise geht: Es wird in Deutsch- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da kann man
land nur noch Strafvollzug nach Kassenlage geben. nichts falsch machen!)
(B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – und damit nicht zur Klärung des Sachverhalts beigetra- (D)
Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ben Hur lässt gen. Über alle vernünftigen Vorschläge, im zweiten An-
grüßen! Die Galeere: Unten wird gerudert, lauf ein besseres Gesetz zu machen, haben Sie im
oben wird getrommelt!) Rechtsausschuss nicht einmal diskutiert, sondern Sie ha-
ben sie mit Ihrer übergroßen Mehrheit stillschweigend
Frau Bundesjustizministerin Zypries, Sie haben auf die- abgelehnt.
sem Gebiet – und dies ist nur ein Beispiel – Rechtsstaat-
lichkeit und Grundrechtsschutz eben nicht wahren kön- Ich könnte etwas zur Vorratsdatenspeicherung sagen.
nen. (Otto Fricke [FDP]: Oh ja!)
Ich will ein zweites Beispiel aus den ersten elf Mona-
Ich könnte auch etwas zum elektronischen Handelsre-
ten nennen: das Antidiskriminierungsgesetz, das Sie in
gister sagen. Das ist ein ganz interessantes Gesetz, wel-
„Allgemeines Gleichstellungsgesetz“ umbenannt haben.
ches die deutsche Wirtschaft dringend braucht. Wir wa-
Man muss ja froh sein, dass sich die Rechtspolitik der
ren eigentlich schon so gut wie fertig damit, bis das
Union in diesem Gesetzentwurf nur marginal verwirk-
Chaos der großen Koalition wiederum zugeschlagen hat
licht hat. Bis zur letzten Nacht, der entscheidenden
und Sie den Gesetzentwurf, der mit uns allen bereits ab-
Rechtsausschusssitzung, bestand der Beitrag von Ihnen
gestimmt war, in letzter Sekunde wieder zurückgezogen
von der Union in der Namensänderung.
haben. Kein Mensch weiß, wo er geblieben ist. Er ist
(Otto Fricke [FDP]: Muss ja eine tolle Nacht nicht wieder aufgetaucht.
gewesen sein!)
Ich könnte über das Stalking reden. Es ist eine Ver-
Dann ist das Chaos der großen Koalition über dieses Ge- hohnepipelung des Bundestages, dass Sie eine Anhörung
setz gekommen. Sie haben die seit vielen Jahren be- über ein Gesetz des Bundesrates, das dem Inhalt nach
währte Regel der Beweislastverteilung im bisherigen zurückgezogen worden ist, und über ein Gesetz der Bun-
§ 611 a Abs. 1 Satz 3 BGB, die wir wortwörtlich in das desregierung, das ebenfalls zurückgezogen worden ist,
ursprüngliche ADG übertragen haben, so verhunzt, dass durchführen wollen, während Sie das Gesetz, das Sie ei-
der rechtspolitische Sprecher der Union erklärte, er gentlich verabschieden wollen, noch niemandem vorge-
könne sich jetzt auf keiner juristischen Fachtagung mehr stellt haben. Über so etwas sollen wir im September im
sehen lassen, ohne zum Gespött zu werden. Rechtsausschuss beraten!
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Herr Montag,
NEN]: Soll er wegbleiben! – Dr. Jürgen Gehb das taucht alles wieder auf!)
4446 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Jerzy Montag
(A) Meine Damen und Herren, alles, was wir bisher von Freiheitsgrade im Haus –, dass fast keine Projektmittel (C)
der Rechtspolitik der großen Koalition gehört haben und zur Verfügung stehen und deshalb die weiteren Gestal-
was angekündigt wird – von der Kronzeugenregelung tungsmöglichkeiten relativ stark beschränkt sind.
bis zur nachträglichen Sicherungsverwahrung –, lässt
nichts Gutes vermuten. Deswegen sage ich Ihnen: Eine Besonderheit – sie wurde bereits erwähnt –: Es
Rechtspolitik ist in Ihren Händen nicht mehr gut aufge- gibt keinen Haushalt, der so viel Geld in seinem eigenen
hoben. Bereich erwirtschaftet. Diesen Umstand verdanken wir
dem Deutschen Patent- und Markenamt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) In diesem Jahr weist dieses Zahlenwerk eine weitere
Besonderheit auf, die aufgrund seiner Strukturmerkmale
insbesondere den Haushalt des Verfassungsgerichts, aber
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch den des BMJ betrifft: die Überführung der einzel-
Das Wort hat der Kollege Lothar Binding, SPD-Frak- nen Positionen des Einzelplans 33 in die Einzelhaus-
tion. halte.

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Otto Fricke [FDP]: Sehr richtig!)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Der 33er, der ehemalige Haushalt für Versorgung, der
Kollegen! Liebe Gäste! Ich möchte nichts zur Rechtspo- die Pensionen für Richter, Soldaten usw. umfasste, ist in
litik, sondern etwas zu einzelnen Bereichen und dem die Einzelhaushalte überführt worden. Das führt dort zu
Zahlenwerk dieses kleinen Haushalts sagen. Bevor ich Verwerfungen, die man besser abfedern könnte, wenn
dazu komme, möchte ich aber Herrn Nešković gern eine man mehr Freiheitsgrade hätte. Sie existieren aber, wie
Quizaufgabe stellen, nachdem er in diesem Hause wie- eben beschrieben, in diesem Haushalt nicht.
derholt davon gesprochen hat, in welcher Art die Rei-
chen besteuert und entlastet werden. Dies hat etwa für das Verfassungsgericht sehr gravie-
rende Folgen. Dort muss ein Pensionsfonds gebildet
Nehmen Sie einen Millionär, der im Jahre 1998 ziem- werden, und zwar auch für Richter, die nur ganz kurz
lich genau null D-Mark an Steuern gezahlt hat. Nehmen – höchstens zwölf, manchmal aber nur zehn, acht oder
Sie eine steuerpolitische Maßnahme, zum Beispiel die weniger Jahre – hoch dotiert in diesem Bereich tätig
Senkung des Spitzensteuersatzes! Nennen Sie weitere sind. Wenn man einen solchen Pensionsfonds bilden
Maßnahmen! Es ist jetzt Ihre Aufgabe, diese zu finden. muss, bringt das natürlich einen Haushalt schnell unter
Betrachten Sie jetzt den gleichen Millionär im Druck. Ich wollte das nur erwähnen; denn wir müssen
Jahre 2004, der plötzlich sehr viel mehr Steuern zahlt uns überlegen, ob wir für solche vom Haus selbst nicht
(B) – in einer Größenordnung von 20 Prozent und manchmal abzufedernden Strukturverwerfungen später einstehen (D)
mehr –, obwohl wir den Spitzensteuersatz gesenkt ha- müssen.
ben. Ich gebe Ihnen diese Aufgabe zum Lösen, damit Sie
erkennen, wie die Steuerpolitik wirken kann, wenn man (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP])
nicht nur den Steuersatz, sondern gleichzeitig auch noch
Trotz extrem sparsamer Bewirtschaftung gibt es im
die Bemessungsgrundlage berücksichtigt.
Einzelplan für 2007 – ich möchte dem Ministerium dafür
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bewunderung zum Ausdruck bringen – eine Reihe von
der CDU/CSU) besonderen Aufgaben, die, wie ich finde, in exzellenter
Weise im Haushalt untergebracht wurden. Zum einen
Ich denke, die Lösung dieser Aufgabe dient auch dazu,
muss Sorge dafür getragen werden, dass die EU-Rats-
den Bürgern die Wahrheit nicht zu verschweigen.
präsidentschaft ordentlich vorbereitet und begleitet
(Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das kann er wird. Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von zusätzli-
dann unters Kopfkissen legen!) chen Aufgaben und von zusätzlichen Personalkosten,
zum Beispiel für informelle Räte, für den JI-Rat und für
Im Zweifelsfall hilft Ihnen auch der Kollege in der PDS, Sonderveranstaltungen jeglicher Art. Es gibt auch zu-
der Millionär ist, um Ihnen zu erklären, wie so etwas sätzliche Aufgaben inhaltlicher Art im Zusammenhang
funktioniert. mit dem EU-Vertragsrecht, der internationalen Standar-
(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) disierung des Strafrechts, dem elektronischen Rechtsver-
kehr, insbesondere bei der Vernetzung der Register usw.
Gemessen an den großen Aufgaben des BMJ und des All das sind letztendlich kosteninduzierende Aufgaben,
Bundesverfassungsgerichts ist der Haushalt – wir haben die wir im Blick haben müssen. Wir wollen dafür sorgen,
das schon gehört – extrem klein. Ich will kurz anspre- dass dies mit den, wie ich meine, spärlichen Mitteln im
chen, was in diesem Haushalt subsumiert ist und haus- Haushalt gemeistert werden kann. Es gibt eine weitere
halterisch veranlagt wird: der Bundesgerichtshof, der Aufgabe, an die wir denken müssen: die G-8-Präsident-
Generalbundesanwalt, das Bundesverwaltungsgericht, schaft. Sie induziert ähnliche Aufgaben und Folgekos-
der Bundesfinanzhof, das Bundespatentgericht sowie ten.
das Deutsche Patent- und Markenamt. Man sieht, es ist
ein sehr großes Arbeitsfeld. Damit lässt sich leicht erklä- Über ein weiteres Vorhaben wird gegenwärtig disku-
ren, dass mehr als 80 Prozent der Mittel in diesem Haus- tiert. Sie wollen es – das möchte ich voranstellen – fi-
halt Personalkosten sind. Daraus folgt umgekehrt – das nanzneutral umsetzen. Es geht um die Errichtung des
ist ein Nachteil im Hinblick auf die Flexibilität und die BfJ, des Bundesamtes für Justiz. Nachdem die erste
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4447
Lothar Binding (Heidelberg)
(A) Lesung des Errichtungsgesetzes stattgefunden hat, kön- tiere als an anderer Stelle, wenn es um viel größere Aus- (C)
nen jetzt die Mittel für das Bundesamt für Justiz in den gabenposten geht.
Haushalt eingestellt werden. Das soll erreicht werden
– das ist für uns als Haushälter wichtig –, indem Mittel Der Rechtsstandort Deutschland ist von enormer
aus vielen Titeln, die bisher existieren, so zusammenge- Wichtigkeit für unser Gemeinwesen, unsere Wirtschaft,
fasst werden, dass sie für das Bundesamt für Justiz zur unser Miteinander und unseren sozialen Frieden. Das
Verfügung stehen. Deshalb erwarten wir eine Größen- heißt, wir müssen als Haushälter auf Bundesebene dafür
ordnung von 100 bis 200 Anträgen, die eingebracht wer- Sorge tragen, dass der Rechtsstandort funktioniert. Das
den müssen, um, wenn das Errichtungsgesetz es erlaubt, bedeutet, wir haben drei Orientierungspunkte. Wir haben
diesen haushalterischen Übergang ins Jahr 2007 vorzu- die Personen, die Gesetze und die Institutionen. Um alle
bereiten. Die bisherigen Aufgaben des Bundeszentralre- drei Orientierungspunkte müssen wir uns gut kümmern.
gisters, des Generalbundesanwalts, der Normendoku- Ich komme zu den Personen und damit zum Rechts-
mentation und der Redaktion des Bundesgesetzblatts dienstleistungsgesetz. Zunächst einmal bekenne ich
sowie des Bundesanzeigers sollen hierbei zusammenge- meine absolute Befangenheit bei diesem Gesetz. Ich bin
fasst werden. Das ist ein Vorhaben, über das im Rechts- das, was man einen Feld-, Wald- und Wiesenanwalt
ausschuss und im Haushaltsausschuss sicherlich noch zu nennt.
diskutieren sein wird.
(Joachim Stünker [SPD]): Sie sind befangen!)
Mittelfristig muss auch über die Frage nachgedacht
werden, ob nicht klugerweise der Standort, der sich auf- – Nein. Das ist der Unterschied, Herr Stünker. Jeder hat
grund der räumlichen Möglichkeiten im ehemaligen seine Befangenheiten. Man sollte sie aufzeigen und da-
Auswärtigen Amt in Bonn befindet, langfristig nach rüber reden. Dann muss man sich seine Meinung bilden.
Berlin überführt werden sollte. Ich glaube, dass obliegt
Ich sage Ihnen als Feld-, Wald- und Wiesenanwalt:
der späteren Diskussion.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: GRÜNEN]: Was ist das denn?)
Herr Kollege, schauen Sie bitte auf die Uhr. Sonst re- Sie müssen genau darauf achten, welches Verbraucher-
den Sie zulasten Ihres Kollegen. bild Sie bei diesem Gesetz haben, Frau Ministerin. Das
gilt übrigens auch für die Scheidung light. Glauben Sie
Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): wirklich, dass ein Bürger, der zur Bank geht, im Allge-
Dann muss ich leider die Personalentwicklung im meinen meint, die Bank sei sein Gegner, die sein Geld
(B) DPMA weglassen. wolle? Oder glauben Sie, dass die Mehrheit der Men- (D)
schen davon ausgeht, dass die Bank ihnen hilft? Ich er-
Ich möchte mich nur noch dafür bedanken, dass Sie lebe es im Zusammenhang mit Rechtschutzversicherun-
160 000 Euro eingestellt haben, um das Projekt zur ver- gen immer wieder: Die Leute erzählen mir, ihre
besserten Formulierung der Gesetzgebung hinsichtlich Rechtschutzversicherung habe ihnen gesagt, das gehe
der Prozessbetrachtung eines Gesetzgebungsverfahrens auch so; das sei gar nicht anders möglich. Dass diese
und der Umformulierung eines bestehenden Gesetzes Auskunft der Rechtschutzversicherungen nie nachzu-
aufzulegen. Das hat uns sehr gefreut. Ich glaube, dass weisen ist – sie werden das sofort bestreiten; wahr-
Sie diese Aufgabe mit Bravour gelöst haben. Dafür scheinlich bekomme ich gleich entsprechende Faxe ins
möchten wir uns bedanken. Büro –, ist klar. Sie würden nie offiziell eine solche Aus-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kunft geben. Aber sie haben ihre eigenen Interessen.
Wenn sie aber in rechtsgeschäftlichen Fragen bzw. in der
Rechtsberatung eigene Interessen haben, dann wird im
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ergebnis immer ein Makel festzustellen sein.
Nächster Redner ist der Kollege Otto Fricke, FDP-
Fraktion. Das stört mich als Anwalt eigentlich nicht. Ich habe
auch keine Angst, dass wir als Feld-, Wald- und Wiesen-
(Beifall bei der FDP) anwälte weniger Mandate bekommen.
(Daniela Raab [CDU/CSU]: Im Gegenteil!)
Otto Fricke (FDP):
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Im Gegenteil: All das, was im Rechtsdienstleistungsge-
legen! Es ist schon viel zu den finanziellen Fragen des setz steht, wird dazu führen, dass ich mehr Regresspro-
Einzelplans 07 gesagt worden. Ich will auch dieses Mal zesse führen kann. Wenn ich Glück habe, habe ich – falls
die Juristen nicht zu sehr mit Anmerkungen zum Haus- es sich um eine Bank oder eine Rechtschutzversicherung
halt nerven. Wiewohl wir Juristen rechnen können, wir handelt – auch noch einen solventen und potenten Zah-
tun es nur nicht, um zu Rechtsergebnissen zu kommen. ler, an den ich mich wenden kann. In solchen Fällen
Der Hinweis sei mir immer wieder erlaubt. kann ich den Mandanten sagen, sie könnten froh sein,
dass der etwas falsch gemacht hat.
Ich will aber eines ansprechen: Warum ist für Haus-
hälter der Justizhaushalt wichtig? Da die beiden Spre- (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dann sind Sie
cher der Koalitionsfraktionen anwesend sind, will ich aber kein Feld-, Wald- und Wiesenanwalt!
darauf hinweisen, warum ich hier etwas anders argumen- Dann sind Sie ein Regressanwalt!)
4448 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Otto Fricke
(A) – Lieber Herr Kollege, die Frage des Regresses gerade – ein Sozialdemokrat, wenn ich das richtig sehe –, Fol- (C)
gegenüber Großen ist eine der wesentlichen Aufgaben, gendes gesagt: „Prozesskostenhilfe soll keinerlei staatli-
die ein Anwalt bei kleinen Bürgern – wie man so schön cher Kombilohn für Rechtsanwälte sein.“ Dass die Pro-
sagt – wahrnehmen sollte und die er mit viel größerer zesskostenhilfe in erster Linie für den Mandanten
Freude wahrnimmt, als sich beim Nachbarschaftsstreit gedacht ist, damit er sein Recht bekommt – Herr
damit auseinander zu setzen, wer denn nun Recht hat Nešković, Sie haben es eben angesprochen –, und dass
und wo und wie der Baum beschnitten werden muss. eine Vorkontrolle der möglichen Aussichten besteht,
wird völlig außer Acht gelassen. Aber genau darum geht
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten es.
der CDU/CSU – Hans-Christian Ströbele
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen Damit sind wir bei den Gesetzen. Die Bundesländer
verdienen wollen Sie schon dabei!) legen ständig neue Entwürfe eines Justizmodernisie-
rungsgesetzes vor und weisen unter anderem darauf hin,
Was die Argumentation im Zusammenhang mit der
dass das Recht zu viel koste und dass die Rechtsanwälte
Nebenleistung angeht, Frau Ministerin, halte ich dieses
zu viel verdienten. Ich bin gespannt, ob die Mehrheit im
Kriterium – ich kenne die Diskussion; sie ist sehr um-
Bundestag weiterhin in der Lage ist, sich dagegen zu
fangreich – für höchst gefährlich.
verteidigen. Ich sehe das gegenwärtig noch nicht.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN]: Er redet pro domo!) (Joachim Stünker [SPD]: Ganz sicher!)

Die Nebenleistung gaukelt nämlich vor, dass es auch – Herr Stünker, wenn Sie ganz sicher sind, bin ich beru-
dann, wenn es einmal zu einem Fehler kommt, nur higt. Man muss es allerdings deutlich sagen.
kleine Nebenprobleme gibt. Häufig ist es so, dass es bei Herr Kollege Montag, Sie haben gesagt, dass das
einem Fehler aufgrund einer eigentlichen Nebenleistung beim Strafvollzug gefährlich werden könne. Ich gebe
für die Betroffenen zu erheblichen Schäden, Fristver- Ihnen Recht: Es kann zu einem Abbau kommen. Den-
säumnissen und vielen Folgen kommt, die den Bürger noch bin ich optimistisch. Erstens. Ich vertraue darauf,
viel teurer – und zwar nicht im monetären Sinne, son- dass das Bundesverfassungsgericht dem Abbau Einhalt
dern nach dem persönlichen Gerechtigkeitsempfinden – gebieten wird.
zu stehen kommen.
(Joachim Stünker [SPD]: Was sagt denn der Justiz-
Das EU-Parlament hat zu den rechtsberatenden Beru-
minister in Baden-Württemberg dazu?)
fen einige – wie ich finde, sehr schöne – Erläuterungen
(B) formuliert. Zweitens. Schauen Sie sich einmal genau an, was Herr (D)
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Goll dazu gesagt hat. Drittens. Sie haben uns Vorwürfe
NEN]: Halten Sie doch Ihr Praxisschild in die gemacht. Aber wo sind denn das rot-grüne Untersu-
Kamera!) chungshaftvollzugsgesetz und das rot-grüne Jugendstraf-
vollzugsgesetz? Obwohl Sie sieben Jahre Zeit hatten,
Ich halte es auch für notwendig, Folgendes klarzustellen: gibt es diese Gesetze bislang nicht. Sie wissen ganz ge-
Die EU verlangt von uns nicht, dass wir komplett so viel nau, dass Sie damals ähnliche Probleme hatten.
Gleichmacherei betreiben wie möglich.
Ich komme zum Schluss meiner Rede. Es geht um
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE den Umgang mit den Institutionen. Ich bin sehr froh,
GRÜNEN]: Aber ein bisschen!) dass der Kollege Binding auf die zukünftigen Aufgaben
des Bundesverfassungsgerichts hingewiesen hat. Um es
Im Gegenteil: Sie will den Schutz der Verbraucher er- deutlich zu sagen: Das Bundesverfassungsgericht wird
reichen. die Aufgabe haben, innerhalb der nächsten Jahre in sei-
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nem Haushalt eine sechsstellige Summe für Rückstellun-
GRÜNEN]: Ein bisschen Gleichmacherei gen für die Altersversorgung von Richtern, wissen-
wäre doch ganz gut!) schaftlichen Mitarbeitern und anderen aufzubringen.
Aber das kann aus diesem Haushalt nicht erwirtschaftet
Darum muss es in erster Linie gehen. Deswegen halte werden. Ich bitte Sie daher um Unterstützung. Herr Kol-
ich es auch für richtig, dass die Verbraucherschutzver- lege Binding, meine haben Sie auf jeden Fall; denn wenn
bände in dem Gesetz an bestimmter Stelle noch deutli- wir mit den Institutionen und den Menschen, die mit
cher dargestellt werden. Denn sie sind unabhängig und dem Recht arbeiten, nicht gut umgehen und wenn wir
nehmen an vielen Stellen Aufgaben wahr, bei denen sich mit den Gesetzen so schlecht umgehen, wie das beim
die Anwaltschaft fragen muss, ob sie das in der richtigen Antidiskriminierungsgesetz der Fall ist, dann wird der
Art und Weise getan hat oder ob sie sie vielleicht manch- Rechtsstaat leider vor die Hunde gehen. Liebe Haus-
mal vernachlässigt hat, weil sie es für Kleinkram gehal- haltskollegen, das wäre für den Standort Deutschland
ten hat. und im Hinblick auf die Steuereinnahmen des Staates
sehr schlecht.
Ich will auf einen weiteren Punkt hinweisen, nämlich
auf die Frage, wie mit Anwälten als Vertretern von Herzlichen Dank.
Rechteinhabern umgegangen wird. Dazu hat der Justiz-
minister des Landes Schleswig-Holstein, Herr Döring (Beifall bei der FDP)
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4449

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Natürlich handelt es sich bei der nachträglichen Si- (C)
Nächste Rednerin ist die Kollegin Daniela Raab, cherungsverwahrung um einen erheblichen Eingriff in
CDU/CSU-Fraktion. die Rechte des Betroffenen. Jedoch sind diese Rechte
immer klar gegen das Recht der Bevölkerung auf Sicher-
(Beifall bei der CDU/CSU) heit und gegen den Schutz potenzieller Opfer abzuwä-
gen. Deshalb muss gelten: Die nachträgliche Siche-
Daniela Raab (CDU/CSU): rungsverwahrung gerade für Heranwachsende – das
betone ich nochmals – darf kein Tabu sein. Wir müssen
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! uns über das Strafmaß der Anlasstat unterhalten und
Es ist schon mehrfach erwähnt worden, wenn auch mit über die strengen Anforderungen an die nachträgliche
unterschiedlichem Zungenschlag: Am 1. September die- Anordnung; denn beides gehört untrennbar zusammen
ses Jahres ist die Föderalismusreform in Kraft getreten. und eines geht nicht ohne das andere. Hier ist mit Be-
Verehrter Herr Kollege Montag, ich kann Ihre sehr pessi- dacht vorzugehen. Jedoch sollte – das sage ich auch ganz
mistische Einschätzung dieser Reform nicht teilen. Ich deutlich – kein zahnloser Papiertiger entstehen und ein
weiß nicht, ob wir in unterschiedlichen Anhörungen wa- Gesetz verabschiedet werden, das wegen unangemessen
ren. hoher Hürden in der Praxis nie zur Anwendung kommt.
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU)
GRÜNEN]: Was? Sie sollten es einmal durch-
lesen!) Rechtspolitik ist nicht nur Strafrecht. In den nächsten
Wochen werden wir den schon häufig erwähnten Ent-
– Herr Ströbele, ich habe es durchgelesen, keine Sorge. – wurf eines Rechtsdienstleistungsgesetzes zu beraten
Ich bin jedenfalls der Meinung, dass dies ein erfolgrei- haben. Wir als Unionsfraktion begrüßen diesen Entwurf
ches Projekt ist. Das wird sich in der Praxis sicherlich grundsätzlich und begrüßen auch die notwendige Neure-
noch zeigen. Ich denke, dass uns die Neuverteilung der gelung. Ziel dieser Neuregelung muss aber immer sein,
Rechte und Pflichten in Zukunft einige Entzerrungen im die ausgesprochen hohe Qualität der Rechtsberatung in
Gesetzgebungsverfahren und sehr viel mehr Transparenz Deutschland zu bewahren. Hier geht es zum einen um
bringen wird. Es war gut, was wir gemacht haben. Die den Schutz des Rechtsuchenden vor unqualifizierter Be-
Art der Zusammenarbeit zwischen Bundestag und Bun- ratung; zum anderen ist gerade unsere Justiz und alles,
desrat, die Verwirklichung von Parlamentarismus pur, was mit ihr zusammenhängt, ein klassischer deutscher
war für uns alle eine Freude. Standortvorteil.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Das alte Rechtsberatungsgesetz sah ein strenges Mo-
(B) neten der SPD) nopol für sämtliche Rechtsdienstleistungen zugunsten (D)
der Anwaltschaft vor. Die Justizministerin hat dies be-
Wir haben uns im Rechtsausschuss neben diesem sehr reits ausgeführt. Dies entspricht sicherlich nicht mehr
umfangreichen Prozess, der uns lange beschäftigt hat, den Entwicklungen im heutigen Wirtschaftsleben, wo
mit anderen bedeutenden Themen auseinander zu setzen. kaum eine geschäftliche Tätigkeit ohne rechtliche Bera-
Eine Auswahl daraus möchte ich kurz ansprechen. tung bleibt. Deshalb werden – so sieht es der Entwurf
Mit Bestürzung müssen wir feststellen, dass schwere vor – Rechtsdienstleistungen, die nur eine so genannte
und schwerste Kriminalität ein zunehmend jüngeres Ge- Nebenleistung darstellen, für alle unternehmerisch täti-
sicht bekommt. Natürlich geschehen viele Straftaten aus gen Personen erlaubt. Zum Beispiel könnte ein Architekt
jugendlichem Übermut und jugendlicher Unreife, auf die in Zukunft auch über Fragen des Baurechts oder der
man maßvoll reagieren muss. Unser Jugendstrafrecht Baumängelhaftung informieren.
bietet dazu gute und ausreichende Möglichkeiten. Aber Umfassender Rechtsrat muss aber auch in Zukunft
es gibt auch Jugendliche und insbesondere Heranwach- den Anwälten vorbehalten bleiben. Das neue Rechts-
sende, die schwere und schwerste Straftaten begehen. dienstleistungsgesetz stellt deshalb nach meiner Ein-
Gerade was die Bestrafung der Heranwachsenden, also schätzung eine zunächst angemessene Kombination von
derjenigen im Alter von 18 bis 21, angeht, gibt es Lü- notwendiger Liberalisierung des Rechtsberatungsmark-
cken, die unserer Ansicht nach dringend geschlossen tes und einem nach wie vor unerlässlichen Verbraucher-
werden müssen. schutz dar. Jedoch gibt es Punkte, die im Gesetzgebungs-
verfahren durchaus noch kritisch hinterfragt werden
Nehmen wir nur den abstrakten Fall als Beispiel – da-
müssen. Der vorher schon erwähnte Begriff der Neben-
mit es für die Zuschauer nicht zu realitätsfern ist –, dass
leistung ist nach meiner Ansicht nicht hinreichend im
ein 20-Jähriger zu sechs Jahren Haft nach Jugendstraf-
Entwurf definiert. Gerade zum Schutz des Verbrauchers
recht verurteilt wird. Nach Verbüßung seiner Strafe ge-
müssen wir hier zu einer ausgesprochen engen Ausle-
hen Sachverständige weiterhin von einer erheblichen
gung kommen. Der Regierungsentwurf wird meiner An-
Gefährlichkeit dieses jungen Mannes aus. Nach gelten-
sicht nach dieser Anforderung noch nicht gerecht.
dem Recht ist es aber nicht möglich, ihn nachträglich in
Sicherungsverwahrung zu nehmen, da eine Verurteilung Nach jetzigem Stand könnten die viel zitierten Kfz-
nach Jugendstrafrecht dem entgegensteht. Mir ist be- Werkstätten beispielsweise eine umfassende Rechtsbera-
wusst, dass solche Fälle nicht in Massen auftreten. Das tung vornehmen. Bei einer Schmerzensgeldklage nach
wäre schlimm und das möchte ich auch nicht behaupten. einem Verkehrsunfall – um ein weiteres Beispiel zu
Aber wir wissen, es gibt sie. nennen – kann sich aber eine mangelnde oder eine
4450 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Daniela Raab
(A) mangelhafte Beratung für den Betroffenen negativ aus- praxisnäher, als manche glauben. Auch wenn die Jalou- (C)
wirken; denn hier fehlt jegliche fachliche Kontrolle und sien dort drüben uns heute einen etwas düsteren Ein-
die Haftung, wenn etwas schief läuft. druck vermitteln: Um die Rechtspolitik in diesem Lande
mit dieser Koalition ist mir dennoch nicht bange.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Ich danke Ihnen.
Deshalb ist für uns klar: Verbraucherschutz muss vor
Vereinfachung gehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Wenn wir schon beim Thema Verbraucherschutz sind,
müssen wir auch über das vereinfachte Scheidungsver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
fahren vor einem Notar sprechen, despektierlich auch Das Wort hat der Kollege Joachim Stünker, SPD-
Scheidung light genannt. Natürlich muss es unser aller Fraktion.
Anliegen sein, die Gerichte zu entlasten. Gerade Famili-
ensachen sind zeit- und arbeitsaufwendig. Nun muss Joachim Stünker (SPD):
aber die Frage erlaubt sein, ob das vereinfachte Schei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
dungsverfahren tatsächlich schneller und unkomplizier- Die Kritik heute Nachmittag an einem Jahr schwarz-ro-
ter ist und zu einer Entlastung der Justiz führt. Bereits ter Rechtspolitik war, wie ich sagen muss, moderat. Da-
nach jetziger Rechtslage verursacht eine einvernehmli- her brauche ich nicht viel Gewicht auf das Replizieren
che Scheidung vor dem Familiengericht nur geringen zu legen. Ich möchte zunächst nur drei Dinge anspre-
Arbeitsaufwand. Fällt nun aber die anwaltliche Vertre- chen.
tung weg, wie es das Bundesjustizministerium derzeit Erstens. Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie kön-
vorsieht, fehlen dem Richter oft die kompetenten An- nen ganz sicher sein: Entscheidungen des Bundesverfas-
sprechpartner, sollten doch noch Fragen offen sein. sungsgerichts werden von dieser Koalition auch zukünf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tig respektiert und akzeptiert.
Außerdem soll ja der meist aufwendige Versorgungsaus- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
gleich nach wie vor beim Gericht anhängig bleiben. GRÜNEN]: Sie wollen ein neues Verfassungs-
gericht! Neue Richter!)
Der Verzicht auf anwaltliche Beratung kann aber
noch weitere Nachteile bringen. Die Gefahr besteht, dass Zweitens. Herr Kollege Nešković, Sie können ganz
einer der Beteiligten, vermutlich der wirtschaftlich sicher sein, dass das, was Sie über das berichtet haben,
Schwächere, übervorteilt oder – sagen wir es grob – über was über den Bundesrat auf uns zukommt, in diesem
Haus in absehbarer Zeit keine Mehrheit finden wird. Sie (D)
(B) den Tisch gezogen wird, weil er vorher nicht individuell
beraten wurde. haben zum Schluss dankenswerterweise gesagt, dass
auch die Stellungnahme der Bundesregierung negativ
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gewesen ist.
GRÜNEN]: Das ist heute auch schon so! Eine
Scheidung mit Anwalt ist natürlich normal!) Drittens. Lieber Kollege Montag, nehmen Sie mir
nicht übel, dass ich auf Folgendes hinweise. Wie ich in
Selbstverständlich müssen auch Notare, die eine einver- den Sommerferien gelesen habe, sind Sie derjenige Kol-
nehmliche Scheidungsvereinbarung durchführen, auf et- lege, der die zweitmeisten Reden im ersten Jahr dieser
waige nachteilige Regelungen hinweisen. Sie dürfen Legislaturperiode gehalten hat. Ich will jetzt nicht bösar-
aber dem intellektuell oder auch wirtschaftlich unterle- tig werden und sagen: Ich warte darauf, dass Quantität in
genen Partner nicht vom Vertragsschluss abraten. Qualität umschlägt, Herr Montag.
Wo der Anwalt parteiisch sein darf, muss der Notar (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
neutral bleiben. Der nächste Streit ist hier sozusagen NEN]: Das wäre zu billig!)
schon vorprogrammiert und der ohnehin zweifelhafte
Einspareffekt dürfte damit ebenfalls dahin sein. Das ge- – Das weiß ich ja. Das will ich auch nicht sagen. Es wäre
plante vereinfachte Scheidungsverfahren verschiebt auch mir zu billig gewesen. –
Konflikte nur auf einen späteren Zeitpunkt. Das ist je- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Non multa, sed
denfalls meine Meinung. multum!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich meine wirklich, Sie könnten manchmal ein biss-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chen freundlicher mit uns umgehen, Herr Kollege
Montag. Das ist eigentlich das Einzige, was ich jetzt
All diese Punkte müssen im Gesetzgebungsverfahren
dazu sagen will.
noch sehr kritisch hinterfragt werden. Bekanntlich sind
wir, das Parlament, der Gesetzgeber. Ich denke, wir wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
den uns noch entscheidende Mitspracherechte heraus- CDU/CSU)
nehmen. Das ist auch unser gutes Recht.
In den mir verbleibenden sechseinhalb Minuten
Diese Themenauswahl zeigt schon, liebe Zuschauer möchte ich kurz auf drei Themenbereiche eingehen, die
auf der Tribüne und liebe Zuhörer, wie sehr die oft als uns in diesem Herbst, wie ich meine, ganz unmittelbar
trocken und abstrakt empfundene Rechtspolitik den All- beschäftigen werden und die bisher noch nicht angespro-
tag der Menschen auf das Nächste berührt. Wir sind viel chen worden sind. Das eine ist eine sehr anspruchsvolle
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4451
Joachim Stünker
(A) Aufgabe, die wir als Parlament vor uns haben. Unter der gaben, die wir zu lösen haben. Ich fordere uns auf, diese (C)
Überschrift Korruptionsbekämpfung müssen wir uns alle Aufgabe in diesem Herbst gemeinsam zu lösen.
gemeinsam mit den Fragen der Abgeordnetenbeste-
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie
chung auf allen parlamentarischen Ebenen beschäftigen.
bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE
Das wird in diesem Herbst im Rechtsausschuss unsere
GRÜNEN)
Aufgabe sein.
Hierzu gibt es Überlegungen und Eckpunkte, sodass wir
(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zu einer auch in der Öffentlichkeit glaubwürdigen Lö-
GRÜNEN]: Hoffentlich!) sung kommen können.
Der geltende Straftatbestand des Stimmenkaufs, geregelt Zweiter Punkt – mir läuft die Zeit weg –: Verabschie-
in § 108 e StGB, genügt den von Deutschland eingegan- dung einer Antiterrordatei. Ich will es kurz machen. Et-
genen internationalen Verpflichtungen nicht mehr, wie was Schriftliches liegt uns bisher nicht vor. Der Rechts-
einige vielleicht wissen. Ich möchte hier insbesondere ausschuss wird in dieser Sache nicht federführend,
auf das von uns unterzeichnete UN-Übereinkommen ge- sondern nur mitberatend sein. Auch wir im Rechtsaus-
gen Korruption vom 30. Oktober 2003 hinweisen, das schuss haben aber die Verantwortung, uns das, was si-
am 14. Dezember 2005 in Kraft getreten ist. cherlich notwendig ist, sehr gründlich anzusehen. Wir
müssen uns unserer Verantwortung bewusst werden, bei
(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der entschlossenen Bekämpfung von Terrorismus und
NEN]: Ja!) bei allem Einsatz für die innere Sicherheit auch die
Im Dezember dieses Jahres wird die erste Vertragsstaa- Grenzen des rechtsstaatlich Verantwortbaren ganz genau
tenkonferenz zu diesem Übereinkommen stattfinden. Ich zu sehen.
meine, es ist deshalb angezeigt, dass wir noch vor Be- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
ginn dieser Konferenz deutlich machen, dass Deutsch- Vergleiche Religionszugehörigkeit!)
land auf dem Weg der Ratifizierung und der Umsetzung
in deutsches Recht ist. Gerade wir in der Rechtspolitik müssen sehr genau da-
rauf Obacht geben, dass wir hier gemeinsam das Rich-
(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] tige wollen und auch schaffen.
[SPD] sowie bei Abgeordneten des BÜND-
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem
NISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Be-
denken Sie, dass wir als Einzige geklatscht ha- Lassen Sie mich einen letzten Punkt nennen. Man
(B) ben!) könnte fast bösartig sagen: So wie Cato immer forderte: (D)
„Aber auf jeden Fall muss Karthago zerstört werden“,
Eine zweite Notwendigkeit ergibt sich aus zwei Urtei- kommt der Stünker zum Schluss jeder Haushaltsrede
len der Strafsenate des Bundesgerichtshofs aus jüngster zum selben Thema. – Ja, ich komme wieder zum Thema
Zeit. Ein Urteil des 5. Strafsenats vom 9. Mai 2006 be- der großen Justizreform. Quo vadis? Wohin geht der
traf den so genannten Wuppertaler Korruptionsskandal. Weg bei der großen Justizreform? Ich sage das aus gege-
Ein zweites Urteil des 2. Strafsenats vom 12. Juli 2006 benem Anlass. Wir werden in einigen Wochen darüber
betraf den so genannten Kölner Müllskandal. In beiden zu reden haben.
Urteilen haben die Senate klargestellt, dass kommunale
Mandatsträger keine Amtsträger im Sinne von Ich bin der festen Überzeugung – das gilt, denke ich,
§ 11 StGB sind – dieser Meinung war ich schon immer; für meine Fraktion und meine Arbeitsgruppe genauso –:
die überwiegende Anzahl der OLGs war anderer Mei- Der Deutsche Bundestag wird es nicht hinnehmen kön-
nung –, sodass §§ 331 ff. StGB – Amtshaftungsdelikte, nen, wenn als Ergebnis der größten Justizreform seit
wie wir früher gesagt haben – keine Anwendung finden 1889, wie die größte deutsche Tageszeitung schon vor
können. Frau Harms, die jetzt Generalbundesanwältin zwei Jahren getitelt hat, nur bleiben sollte: erstens die
ist, hat im Urteil des 5. Strafsenats ausdrücklich darauf Privatisierung des Gerichtsvollzieherwesens und zwei-
hingewiesen, dass wir hier mittlerweile eine Regelungs- tens die Übertragung der Zuständigkeit für die Nachlass-
lücke haben. Es gehört zur Glaubwürdigkeit der Politik, sachen vom Amtsgericht auf die Notare. Das kann es
dass wir uns jetzt der Aufgabe stellen, diese Regelungs- nicht sein. Das wird der Weg nicht sein, der mit uns zu
lücke in der Tat zu schließen. gehen ist.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU)
DIE GRÜNEN]) Aber nach den letzten Beschlüssen der JuMiKo scheint
es dort in diese Richtung zu laufen. Das ist nicht unser
Deshalb wollte ich heute in dieser Debatte mit Nach-
Weg.
druck auf die genannten Problemkreise hinweisen. Da es
sich hierbei letztlich um Parlamentsrecht handelt, sollten Wenn man das Gerichtsvollzieherwesen ändern will,
wir nicht gemeinsam auf einen Regierungsentwurf war- muss man sogar Art. 34 Grundgesetz ändern. Dafür
ten; darauf dürfen wir auch nicht warten. Wir müssen die braucht man eine Zweidrittelmehrheit in diesem Haus.
Kraft haben, genau dies aus dem Parlament heraus zu re- Wir werden diesen Weg nicht mitgehen. Das ist der fal-
geln. Das gehört zu den ureigenen demokratischen Auf- sche Weg. Ich kann von daher nur dazu auffordern und
4452 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Joachim Stünker
(A) dafür werben, dass wir uns in der Tat über Struktur- beraten – Einzelplan 07 für das Bundesministerium der (C)
reformen unterhalten. Justiz und Einzelplan 19 für das Bundesverfassungsge-
richt –, sind weniger wegen des Volumens der veran-
Wenn man eine Reform der Justiz will, dann ist auch
schlagten Haushaltsmittel von Bedeutung. Von Bedeu-
das der falsche Weg, was jetzt wieder von einigen Län-
tung sind sie aber aufgrund der Institutionen, die in
derjustizministern vorgeschlagen wurde. Man meint, die
unserem Rechtsstaat eine große Rolle spielen.
Entlastung der Strafgerichte über eine Ausweitung des
beschleunigten Verfahrens erreichen zu können, wie in Für die Einzelpläne gilt, dass sich gegenüber dem
diesen Tagen in der Presse zu lesen war. Das sind die Jahr 2006 nur geringfügige Veränderungen zeigen. Das
Gedanken der 90er-Jahre, die uns schon damals nicht ist bedingt durch die Strukturen, in denen die Personal-
weitergebracht haben. Wer das beschleunigte Verfahren ausgaben die übrigen Ausgaben deutlich dominieren.
kennt, der weiß, was das heißt: einfacher Sachverhalt, Das bedeutet einerseits, dass in diesen Einzelplänen
klare Beweislage. Wer meint, dass dies die Verfahren nicht kurzfristig wirkliche Einsparungen erzielt werden
sind, die die Strafgerichte wirklich belasten, der kennt können. Andererseits bedeutet das aber auch, dass wir
sich in der Strafjustiz nicht aus, der kennt sich im Ergeb- uns als Mitglieder des Haushaltsausschusses insbeson-
nis im eigenen Haus nicht aus. dere die Stellenpläne genau anschauen müssen.
(Beifall bei der SPD – Jerzy Montag [BÜND- Das Justizministerium wird in den kommenden Be-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es! Eine Rede ratungen daher noch erläutern, warum zwei zusätzliche
voller Wahrheiten! – Zuruf von der SPD: Eine Stellen notwendig sind. Diese Tendenz zum Stellenauf-
Rede voller Kompetenz!) bau zeigt sich übrigens auch in anderen Ministerien. Of-
fenbar vollzieht sich der Stellenabbau in den nachgela-
Das kann also nicht der Weg sein.
gerten Behörden wesentlich erfolgreicher als in den
Deshalb werbe ich dafür, dass wir in diesem Herbst in Ministerien selbst. Jedenfalls weisen im Einzelplan 07
wirklich fundierte Gespräche mit den Länderjustizminis- lediglich das Justizministerium selbst und das Deutsche
tern einsteigen, wenn es darum geht, über die Reform Patent- und Markenamt eine Aufstockung der Haus-
der Justiz zu reden, über die Bereitstellung der notwen- haltsansätze auf. Beim Justizministerium sind es knapp
digen Ressourcen für die Justiz im Sinne des Rechts- 5 Millionen Euro, natürlich auch bedingt durch die kom-
staats. Darüber sind wir uns hier alle einig. Wir reden zu- mende EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands. Beim
künftig über Strafbarkeit von Doping, über erhöhte Deutschen Patent- und Markenamt sind das gut
Strafandrohung bei Fleischskandalen oder auch über ein 4,5 Millionen Euro. Diese werden durch das Projekt
Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen. Wenn Poli- „Elektronische Schutzrechtsakte“ verursacht, ein IT-Pro-
tik so etwas auf den Weg bringt, brauchen wir überall ir- jekt, das die führende Rolle des Deutschen Patent- und
(B) (D)
gendwann die Justiz. Dafür brauchen wir in der Justiz Markenamtes sichern soll; denn in keinem anderen Pa-
die sachlichen und personellen Ressourcen. Die werden tentamt Europas werden so viele Anträge eingereicht
wir nicht über mehr Geld bekommen können, liebe Kol- wie in Deutschland.
leginnen und Kollegen; das weiß ich auch. Dafür brau-
(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Hört! Hört!)
chen wir auch nicht mehr Geld. Dafür brauchen wir auch
nicht mehr Personal in den Ländern. Was wir brauchen, Damit das so bleibt, müssen wir investieren, um die Pro-
sind wirkliche Strukturreformen. Man muss den Mut ha- zesse zu optimieren und elektronisch unterstützen zu
ben, die durchzuführen. können.
Ich nenne noch drei Punkte und dann bin ich mit mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
ner Rede auch fertig, Frau Präsidentin: erstens Dreistu-
figkeit in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, zweitens Meine Damen und Herren, das Bundesministerium
neue Strukturen der sachlichen Zuständigkeiten in Straf- der Justiz erfüllt zwei Aufgaben: einerseits die Gesetzge-
verfahren und drittens eine einheitliche öffentliche Ge- bung und Gesetzesanwendung im Bereich der Justiz, an-
richtsbarkeit. Lassen Sie uns darüber reden und nicht dererseits die Koordinierung der gesetzgeberischen Ak-
über die alten Kamellen aus den 90er-Jahren; denn damit tivitäten auf nationaler und auf internationaler Ebene.
werden wir die Justiz im neuen Jahrhundert nicht weiter- Diese Querschnittsfunktion ist in den vergangenen Jah-
bringen. ren immer komplexer geworden. Neben der reinen
Quantität der Vorschriften auf nationaler, europäischer
Schönen Dank. und supranationaler Ebene ist auch die Komplexität der
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gesetzgebung massiv angestiegen.
Auf europäischer Ebene bietet sich dem BMJ im
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: kommenden Jahr eine ganz besondere Möglichkeit, Ein-
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege fluss zu nehmen. Es ist die schon erwähnte EU-Rats-
Dr. Ole Schröder, CDU/CSU-Fraktion. präsidentschaft. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir
alle kennen die zum Teil absurden bürokratischen Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU) setze aus Brüssel. Ich möchte jetzt keine Beispiele nen-
nen; wir kennen solche skurrilen Richtlinien alle aus der
Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Presse. Von der deutschen Ratspräsidentschaft verspre-
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen che ich mir nicht nur, dass unnötige bürokratische Richt-
und Herren! Die beiden Einzelpläne, über die wir heute linien und Verordnungen ausbleiben; vielmehr fordere
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4453
Dr. Ole Schröder
(A) ich unsere Bundesjustizministerin auf, sich auf ihre ori- Ich bin auf die Beratungen gespannt, die wir zu diesen (C)
ginäre Aufgabe zu besinnen, nämlich das Abschaffen beiden Einzelplänen erleben werden. Wir werden sicher-
von unnötigen Richtlinien und Verordnungen. lich die einzelnen Haushaltsansätze intensiv diskutieren.
Ich hoffe, dass wir ebenso erfolgreich sein werden wie
(Beifall bei der CDU/CSU)
im letzten Haushaltsjahr.
Dies muss auf europäischer Ebene und auf nationaler
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Ebene forciert werden.
Klar ist, dass diese Aufgaben Geld kosten werden. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Aus diesem Grund sieht der Kabinettsentwurf die Auf- Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.
stockung einiger Haushaltstitel des Ministeriums vor; in
der Summe sind das etwa 5 Millionen Euro. Wichtig ist, Wir kommen schließlich zu dem Geschäftsbereich
dass wir das Geld nicht nur ausgeben, sondern es in des Bundesministeriums des Innern, Einzelplan 06.
Bürokratieabbau investieren. Das wird uns mittel- und Das Wort hat der Bundesinnenminister Dr. Wolfgang
langfristig nutzen. Schäuble.
Ebenfalls im Haushalt vorgesehen sind erste Mittel (Beifall bei der CDU/CSU)
für die Umsetzung eines Modellprojekts zur Überprü-
fung von Gesetzen auf Verständlichkeit. Jeder kennt Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister des Innern:
die Beispiele aus der eigenen Praxis. Wir können viel Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Geld einsparen, wenn die Gesetzesanwendung durch Herren! Wir leben in einer Zeit angespannter Sicherheit
bessere Verständlichkeit günstiger wird. und wir sind Teil eines weltweiten Gefahrenraums. Wir
haben durch die jüngsten Vorfälle – die beiden Koffer-
Wichtig ist aber auch, dass wir uns als Parlamentarier
bomben, die glücklicherweise nicht zur Explosion ge-
um dieses Projekt kümmern. Das ist nicht nur Aufgabe
kommen sind, aber auch die Planungen von Anschlägen
des Bundesministeriums der Justiz, sondern auch Auf-
gegen die zivile Luftfahrt in Großbritannien sowie die
gabe von uns Parlamentariern. Viele Gesetze werden
Besorgnisse der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang
auch durch unsere Ideen und durch unsere Anregungen
mit einem großen Popkonzert in Gelsenkirchen Ende des
komplizierter. Wir können viele zu kompliziert formu-
vergangenen Monats – Grund, den Kampf gegen die Ge-
lierte Gesetzesvorschläge auch im parlamentarischen
fahren, die aus dem internationalen Terrorismus dro-
Verfahren heilen. Daran sollten wir uns erinnern.
hen, mit aller Entschiedenheit ernst zu nehmen.
Noch nicht explizit ausgewiesen im Haushaltsentwurf
Ich bin jemand, der immer sagt: Es gibt keine hun-
ist das neu zu schaffende Bundesamt für Justiz. Ich be-
(B) dertprozentige Sicherheit. Das muss man auch in sol- (D)
fürworte die angestrebte Trennung von den eigentlich
chen Zeiten sagen. Die gibt es nicht und die kann es
ministeriellen Aufgaben im engeren Sinne und den Auf-
nicht geben. Kein Staat kann diese Sicherheit garantie-
gaben der nichtministeriellen Bereiche. Ich meine, dass
ren, auch nicht der freiheitliche Rechtsstaat. Aber das
wir dadurch Gelder einsparen können und dass das ein
heißt natürlich nicht, dass wir nicht die Verpflichtung ha-
hervorragendes Vorbild dafür ist, wie wir die Rollenver-
ben, das Menschenmögliche zu tun, um so viel Sicher-
teilung zwischen Berlin und Bonn vernünftig und effi-
heit wie irgend möglich zu gewährleisten und auch zu
zient gestalten können. Das ist ein Modell, das vor dem
versuchen, aus Erfahrungen, die wir sammeln, die richti-
Hintergrund der aktuellen Diskussionen sicherlich auch
gen Konsequenzen zu ziehen.
für andere Ministerien als Vorbild dienen kann.
Deswegen bin ich froh, dass sich gestern die
Das BMJ ist natürlich auch für die Rechtsdurchset-
16 Innenminister und -senatoren der Bundesländer vor
zung zuständig. Im Bereich des Sozialleistungsmiss-
dem Hintergrund der Vorlage der Bundesregierung, die
brauchs, der auch haushaltspolitisch von großer Bedeu-
wir gemeinsam innerhalb der Regierung erarbeitet ha-
tung ist – 33 Milliarden Euro des gesamten Haushaltes
ben, auf ein Konzept für eine gemeinsame Antiterror-
2007 geben wir für Sozialleistungen aus –, sehe ich gro-
datei geeinigt haben. Das ist eine gute Bewährungs-
ßen Handlungsbedarf. Sozialleistungsmissbrauch scha-
probe für den Föderalismus. Ich bin ein überzeugter
det allen in unserer Gesellschaft – sowohl den Leistungs-
Anhänger des Föderalismus: Wir brauchen gerade auf
trägern, die zu hohe Abgaben auf ihre Einkünfte zahlen
dem Feld der inneren Sicherheit das Zusammenwirken
müssen, als auch denjenigen, die wirklich hilfebedürftig
von Bund und Ländern. Aber wir müssen uns auch im
sind. Das Problem ist: In unserer Gesellschaft wird der
Hinblick darauf bewähren, handlungs- und einigungsfä-
Sozialleistungsmissbrauch nicht ausreichend geächtet
hig zu sein. Es hat lange genug gedauert. Jetzt haben wir
und verfolgt. Unsere formellen Normen, die Gesetze,
es auf den Weg gebracht.
werden nicht ausreichend umgesetzt. Auch die informel-
len Regeln, die Sozialnormen, funktionieren nicht rich- Wir werden einen entsprechenden Gesetzentwurf zü-
tig. Im Gegenteil, häufig erleben wir, dass Sozialleis- gig erarbeiten, die Formulierungen abstimmen und
tungsmissbrauch nicht nur toleriert wird, sondern auch schnell in Gesetzesberatungen eintreten. Dann müssen
von Dritten explizit Anerkennung findet. Nur wenn wir wir natürlich über die Einzelheiten reden. Ich glaube
den Sozialleistungsmissbrauch mit aller Härte verfolgen aber, wir haben insgesamt eine richtige Linie zwischen
und bestrafen, dürfen wir auf eine gesellschaftliche Äch- den Begrenzungen unserer Verfassung und dem Grund-
tung dieses asozialen Verhaltens hoffen. Ich meine, das recht auf informationelle Selbstbestimmung im Rahmen
ist ein wichtiges rechtspolitisches Projekt. des Datenschutzes einerseits und den Notwendigkeiten
4454 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) einer funktionsfähigen Informationsvernetzung anderer- len anlegen, wie wir es beim Flugverkehr haben; das (C)
seits gefunden. weiß jeder. Trotzdem muss es etwa in großen Bahnhöfen
eine stärkere Bestreifung mit Spürhunden, die Spreng-
Um es klar zu sagen: Es handelt sich nicht um eine stoff detektieren können, und eine stärkere Überwa-
Fahndungsdatei, sondern um ein System, das alle für die chung der Schienengleise auf mögliche Anschläge an
Terrorismusbekämpfung zuständigen Institutionen der Schienengleisen geben. Dazu brauchen wir bestimmte
Länder und des Bundes miteinander vernetzt. Das sind technische Einrichtungen an den Hubschraubern der
zweimal 16 Institutionen, also die jeweiligen Landespo- Bundespolizei. Dies ist eine notwendige Maßnahme.
lizeien und die Landesämter für Verfassungsschutz, plus
die drei Nachrichtendienste, der Zoll, das Bundeskrimi- Vor allen Dingen bin ich der Überzeugung – ich nutze
nalamt und die Bundespolizei, also 38 Institutionen, die die Gelegenheit der Einbringung des Haushalts, dafür
miteinander vernetzt sind. Wie gesagt, es handelt sich um Unterstützung zu werben –: Wir müssen die Mög-
nicht um eine Fahndungsdatei. Es ist völlig klar: Er- lichkeiten insbesondere der Verfassungsschutzbehör-
kenntnisse müssen dann umgesetzt werden. Es ist ein den verstärken, im Vorfeld Informationen zu sammeln,
System gefunden worden, das zum einen sicherstellt, die uns in die Lage versetzen, Anschläge wenn irgend
dass den verfassungsrechtlichen Bedingungen und Be- möglich zu verhindern. Dem dient die Antiterrordatei.
grenzungen Rechnung getragen wird, und das zum ande-
ren funktionieren kann und wird. Aber dem muss auch eine verbesserte Kontrolle des
Internets dienen; dazu brauchen wir entsprechende sach-
Ich werbe dafür, dass wir die Gesetzesberatung zügig liche und personelle Mittel. Dazu müssen wir auch wei-
voranbringen, damit wir das System der Informations- tere Möglichkeiten im Bereich des Bundesamtes für Ver-
vernetzung schnell beim Bundeskriminalamt einrichten fassungsschutz und – in einem begrenzten Maße – auch
und zum Funktionieren bringen können. des Bundeskriminalamts nutzen können. Ich bitte um
Unterstützung, wenn wir in den kommenden Wochen an
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den Haushaltsausschuss und das Parlament mit entspre-
neten der SPD) chenden Bitten herantreten werden. Ich bin darüber auch
Wir müssen in der Auswertung dessen, was uns alle mit dem Bundesfinanzminister im Gespräch. Den Haus-
– auch die Öffentlichkeit – in den letzten Wochen be- haltsentwurf haben wir ja schon Anfang Juli im Kabinett
schäftigt hat, ein paar Konsequenzen ziehen. Wir haben beraten.
unmittelbar am 10. August – die Verhaftungsaktion der Ich füge gleich hinzu: Das Bundesministerium des In-
britischen Behörden war, um daran zu erinnern, in der nern fühlt sich, wie alle anderen Ressorts auch, der
Nacht vom 9. zum 10. August – die Kontrollmaßnah- Haushaltspolitik dieser Regierung und der Koalition ver-
(B) men an den Flughäfen, was das Handgepäck anbetrifft, pflichtet. Deswegen müssen wir mit geringen Haushalts- (D)
verschärft und alle Mitarbeiter der Bundespolizei auf zuwächsen auskommen oder uns auf Einsparungen ein-
neue Bedrohungen sensibilisiert, die wir so vor den briti- stellen. Das haben wir in den vergangenen Jahren bereits
schen Erkenntnissen bei den normalen Flugkontrollen getan; das werden wir auch in engem Einvernehmen und
vermutlich nicht detektiert hätten; das muss man klar sa- in vertrauensvollem Zusammenwirken in den kommen-
gen. Deswegen werden wir uns beim zivilen Flugver- den Jahren tun. Das halte ich für notwendig und richtig.
kehr dauerhaft auf ein höheres Kontrollniveau einrichten
müssen. Aber es ist natürlich wahr: Wenn wir Erkenntnisse
hätten, die besagen, dass wir in einem bestimmten Be-
Ich habe unmittelbar angestrebt, diesen Bereich auf reich mehr für die innere Sicherheit tun könnten, dann
europäischer Ebene zu harmonisieren; denn es hat kei- würden wir fahrlässig handeln, wenn wir nicht versu-
nen Sinn, in den einzelnen europäischen Ländern ein un- chen würden, durch Umschichtungen, aber möglicher-
terschiedliches Kontrollniveau zu haben. Ich strebe auch weise auch an der einen oder anderen Stelle durch Mit-
an, dass wir die Schutz- und Kontrollmaßnahmen nicht telaufstockung zusätzliche Möglichkeiten zu erhalten.
je nach Konjunktur und öffentlicher Erregung herauf- Dafür bitte ich um Unterstützung. Innere Sicherheit ist
und herunterfahren, sondern hier Stetigkeit haben. Über- nicht nur eine Frage von Gesetzen, sondern auch eine
haupt bin ich der Überzeugung: Je besser es uns gelingt, Frage der zur Verfügung stehenden Sach- und Personal-
entschiedenes Handeln mit der notwendigen Gelassen- mittel. Das hängt miteinander zusammen.
heit zu verbinden, umso eher haben wir die Chance, un-
sere Mitbürgerinnen und Mitbürger davon zu überzeu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
gen, dass wir das Menschenmögliche tun. Aber eine
hundertprozentige Sicherheit kann es nicht geben. Ich will in diesem Zusammenhang wenigstens ein
Wort zum Technischen Hilfswerk sagen, weil ich finde,
Wir müssen – das haben wir in den Haushaltsentwurf, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Techni-
der zur Beratung vorliegt, noch nicht einstellen können; schen Hilfswerks den Dank und die Anerkennung des
da bitte ich um Ihre Mitwirkung – aus dem, was wir in ganzen Hauses verdient haben. Sie sind fast als Erste
unserem Land erkannt haben, ein Stück weit Konse- beispielsweise jetzt im Libanon vor Ort – sie machen
quenzen ziehen. Wir brauchen insbesondere im Bereich nicht nur Pläne oder stimmen sich darüber ab, was man
der Bundespolizei stärkere Möglichkeiten, den Bahn- machen könnte – und sorgen dafür, dass die Wasserver-
verkehr zu kontrollieren. Wir können bei mehr als sorgung wieder klappt. Sie verrichten einen gefährlichen
4 Millionen Bahnreisenden und mehr als 30 000 Zügen Dienst und bei fast jeder Katastrophe auf der Welt sind
jeden Tag beim Bahnverkehr nicht das Maß an Kontrol- sie dabei. Das, was das Technische Hilfswerk internatio-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4455
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
(A) nal heute leistet, ist zu einem Gütezeichen unseres Lan- genen Jahr und auch in diesem Jahr diskutiert. Es gibt (C)
des geworden. zwei Punkte, die in diesem Zusammenhang kritisch zu
hinterfragen sind. Der eine Punkt betrifft die Zahl der
(Beifall im ganzen Hause) Teilnehmer an den Kursen und der andere die Dauer und
Deswegen haben wir im Haushaltsentwurf – ich werbe ja Ausstattung der Kurse.
dafür, dass der Entwurf Ihre Zustimmung findet – die
Mittel für das Technische Hilfswerk gegenüber dem Ich möchte erklären, warum wir, was die Dauer und
Soll 2006 um 4,8 Millionen Euro auf 135,1 Millionen Ausstattung der Kurse betrifft – damit hängt natürlich
Euro aufgestockt, was einer Steigerung um 3,7 Prozent auch die Frage zusammen, wie viel Mittel pro Kurs aus-
entspricht. Ich glaube, dass das angesichts der Bedeu- gegeben werden –, nichts verändert haben. Die Evalua-
tung sowohl für den Schutz der Bevölkerung in unserem tion dieser Kurse, die im Auftrag des Bundesamtes
eigenen Land als auch für die internationalen Einsätze durch eine Beratungsfirma durchgeführt wird, dauert
des Technischen Hilfswerks notwendig, vertretbar und noch an. Wir haben zwar einen Zwischenbericht, aber
richtig ist. noch keinen Abschlussbericht. In der vergangenen Wo-
che hat mir der Präsident des Bundesamtes, Schmid, ge-
Ich will in aller Kürze einen Punkt ansprechen, der sagt, es sei noch zu früh, irgendwelche Erkenntnisse zu
uns schon bei den Haushaltsberatungen im letzten Jahr ziehen; das Ergebnis der Evaluation müsse abgewartet
beschäftigt hat und der uns in diesem Jahr wieder be- werden. Alles andere wäre ja auch kein verantwortbarer
schäftigt. Ich meine die Mittel für die Integrations- Umgang mit Steuergeldern.
kurse. Neben der Gewährleistung der inneren Sicherheit
ist die Arbeit für ein weiter verbessertes Zusammenleben Zu der Frage der Teilnehmer ist zu sagen, dass in die-
aller Menschen in diesem Lande eine der wichtigsten sem Jahr – entgegen manchen Befürchtungen während
Aufgaben der Innenpolitik. der Haushaltsberatungen 2006 – die veranschlagten Mit-
tel in Höhe von 140,8 Millionen Euro nach allem, was
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie wir Anfang September prognostizieren können, ausrei-
bei Abgeordneten der LINKEN) chen. Es gibt einen Haushaltsvermerk, der auch in den
Ich habe übrigens meine Bemerkungen über das Entwurf für den Haushalt 2007 eingestellt wird. Wenn
Technische Hilfswerk bewusst dazwischen geschoben, die Mittel aufgrund der Zahl der Teilnehmer nicht aus-
um das Missverständnis zu vermeiden, dass das eine mit reichen sollten, werden sie entsprechend erhöht. Da wir
dem anderen unmittelbar etwas zu tun hätte. Natürlich aber bisher keinen Anhaltspunkt für höhere Teilnehmer-
gibt es da Beziehungen. Diese Aufgabe, die Integration zahlen haben, sind wir in diesem Entwurf von den Zah-
zu verbessern – die Integrationsbeauftragte der Bundes- len des Vorjahres ausgegangen. Ich bitte, dies nicht als
(B) regierung, Frau Kollegin Böhmer, die im Kanzleramt an- eine Geringschätzung der Bedeutung dieser Integrations- (D)
gesiedelt ist, hat diese Arbeit mit dem Integrationsgipfel kurse oder als eine Vorwegnahme der Konsequenzen aus
auf einen guten Weg gebracht –, ist eine der zentralen dem Evaluationsprozess zu interpretieren. Wir sollten
Aufgaben. über Konsequenzen erst dann reden, wenn die entspre-
chenden Ergebnisse der Evaluation vorliegen.
Wir im Innenministerium konzentrieren uns auf die
Aufgabe, die ganz spezifisch unsere Sache ist, nämlich Lassen Sie mich in aller Kürze eine letzte Bemerkung
auf die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften. machen. In der Öffentlichkeit hat es gelegentlich Speku-
So wie wir zu der katholischen und der evangelischen lationen gegeben, die Mittel für die Sportförderung
Kirche Beziehungen haben, müssen wir in Deutschland beim Bundesminister des Innern würden im Haushalts-
versuchen – es ist schwierig, das zu leisten –, ein Ver- entwurf 2007 zurückgefahren. Ich nutze die Gelegenheit
hältnis zwischen Staat und muslimischen Gläubigen zu gerne, darauf hinzuweisen, dass dies nicht der Fall ist.
entwickeln. Das ist allein schon aufgrund der inneren Vielmehr ist das Gegenteil richtig.
Organisation der Muslime sehr schwierig. Manche sagen
mir gelegentlich: Mach es wie in Österreich! Aber in Ös- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
terreich ist der Islam seit 1912 als Staatsreligion aner- Im Haushaltsentwurf 2007 haben wir für die Förde-
kannt und es sind alle Muslime in einer öffentlich-recht- rung des Spitzensports eine Summe von 108 Millionen
lichen Körperschaft zusammengefasst. Davon sind wir Euro vorgesehen. Das sind zwar nominell 16,6 Millio-
weit entfernt. Aber mit der Islamkonferenz will ich den nen Euro weniger als im Jahr 2006. Aber im Haushalt
Weg gehen, mit den Muslimen und allen anderen darü- 2006 haben wir für das Kunst- und Kulturprogramm der
ber zu reden, wie wir für das Ziel eines besseren Zusam- Fußballweltmeisterschaft in diesem Titel 10 Millionen
menlebens, Zusammenwirkens und einer gemeinsamen Euro und für die Sicherheit noch einmal 8,4 Millionen
Verantwortung für die Grundwerte unserer Verfassung, Euro bereitgestellt. Trotz der Verringerung um 16,6 Mil-
für Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit und Tole- lionen Euro kann man also von einer Steigerung der Mit-
ranz, das Menschenmögliche tun können. tel sprechen, da die gerade genannten Ausgaben in Höhe
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) von 18,4 Millionen Euro nur in diesem Jahr anfielen.
Denn die Fußballweltmeisterschaft – sie war ein schönes
Über die Mittel für die Integrationskurse, die das Ereignis – ist, so traurig das auch ist, vorüber.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das sich auf
allen Seiten des Hauses eines hohen Ansehens und einer (Heiterkeit – Zuruf von der FDP: Sie kann
großen Autorität erfreut, anbietet, haben wir im vergan- wiederkommen!)
4456 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) – Sie kann wiederkommen. Aber im Haushalt für das Gisela Piltz (FDP): (C)
Jahr 2007 haben wir für eine Wiederholung keine Vor- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
sorge getroffen, Herr Kollege. Deswegen kann man da- Kurz vor dem fünften Jahrestag des Anschlags auf das
von sprechen, dass die Mittel für die Förderung des Spit- World Trade Center am 11. September – es ist ein trauri-
zensportes steigen. ges Jubiläum – bewegt uns wieder einmal die Frage
Diese maßvolle Steigerung ist auch notwendig. – heute mehr denn je –, wie wir so viel Sicherheit wie
möglich garantieren können, ohne unsere Freiheit und
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Bürgerrechte aufzugeben. Liberale werden all das
neten der SPD) mittragen, was tatsächlich Sicherheit bietet. Drei Schritte
Ich werbe auch sehr um Unterstützung in diesem Be- sind hierbei unseres Erachtens sehr wesentlich: zum ei-
reich. Denn der Wettbewerb für unsere Athleten wird nen die Gelassenheit im Umgang mit der Problematik,
härter. zum anderen die Wachsamkeit bei der Überprüfung wei-
terer Maßnahmen und zum Dritten die Entschlossenheit,
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Olympia nach das, was man einmal als richtig erkannt hat, umzusetzen.
Berlin!)
(Beifall bei der FDP)
– Herr Kollege Benneter, die nächsten Olympischen
Sommerspiele finden in Peking statt. Was heißt für mich Gelassenheit? Nach den – Gott
(Fritz Rudolf Körper [SPD]: So kurzfristig ha- sei Dank! – vereitelten Anschlägen fühlte sich jeder be-
ben wir nicht gedacht!) rufen, einen Vorschlag zu machen. Sie reichten von der
Zugangskontrolle an allen Bahnhöfen über Rail-Mar-
Ich sage voraus, dass für alle Athleten der Wettbe- shalls bis hin zu Hartz-IV-Empfängern, die für Sicher-
werb von einer ungeheuer großen Intensität sein wird. heit in den Bahnen sorgen sollten. Diese Liste könnten
Daher ist es wichtig, dass unsere Athleten faire Wettbe- wir beliebig verlängern. Das ist Aufgeregtheit und hat
werbschancen haben. Dafür müssen wir im Rahmen des mit Sicherheit überhaupt nichts zu tun.
Möglichen die notwendige Hilfe leisten. Das sind wir
der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit unserer (Beifall bei der FDP)
freiheitlichen Gesellschaftsordnung schuldig.
Wachsamkeit heißt für uns, dass wir die Maßnah-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- men, die wir verabschiedet haben, immer wieder über-
neten der SPD und der FDP) prüfen und nicht einfach draufsatteln, frei nach dem
Wir haben gezeigt, dass wir gute Gastgeber bei inter- Motto „Das bringt schon was!“. Wachsamkeit beinhaltet
nationalen Sportveranstaltungen sind. Wir hatten gerade für mich auch, dass sich dieses Parlament ausführlich
(B) wunderbare Weltreiterspiele in Aachen. Morgen begin- mit der Evaluierung der „Otto“-Kataloge beschäftigt. (D)
nen die Weltmeisterschaften im Hockey in Mön- Doch das tun wir nicht ausführlich genug.
chengladbach. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ GRÜNEN]: Das sind jetzt „Wolfgang“-Kata-
CSU]) loge!)
Unsere Sportler leisten das ganze Jahr über – ich denke Die Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen, lau-
dabei auch an die Olympischen Winterspiele in Turin – tet: Hilft uns diese Maßnahme wirklich weiter? Auch bei
Großartiges. Sie machen uns Freude und sind gute Vor- dem, worüber wir jetzt diskutieren, müssen wir die fol-
bilder. Auch deswegen verdienen sie unsere Unterstüt- gende Frage stellen: Hätten wir damit einen einzigen
zung. Schläfer entdeckt? – Nein, hätten wir nicht, weil ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Schläfer keinen Mucks von sich gibt, es sei denn er
schnarcht.
Meine Damen und Herren, der Haushalt des Bundes-
ministers des Innern ist in einem hohen Maße durch Per- Mich bewegen im Moment insbesondere die folgen-
sonalkosten geprägt. Zwei Drittel des Haushaltes sind den Fragen: Was geht in diesen Attentätern vor? Wann
für die innere Sicherheit, für Bundespolizei, für Bundes- legen sie den Hebel um und sagen „Jetzt reicht es mir!“?
kriminalamt und für das Bundesamt für Verfassungs- Sind Karikaturen der Grund oder was sonst? Ich glaube,
schutz vorgesehen. Wir haben ein enges Finanzkorsett. dass wir uns mit diesem Phänomen viel intensiver be-
Trotz aller notwendigen kritischen Betrachtungen bitte schäftigen müssen, als wir das bisher getan haben. Von
ich, diesen Aspekt nie aus den Augen zu verlieren. daher begrüße ich ausdrücklich Ihre Ankündigung, auf
diesem Gebiet mehr Geld zu investieren. Allerdings
Ich freue mich auf eine intensive Beratung während
frage ich mich, warum das erst jetzt geschieht; denn dass
der Haushaltsverhandlungen.
das ein Problem ist, wussten wir schon immer.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Ich begrüße auch den Beschluss der Innenminister-
konferenz, in diesem Zusammenhang auf das Ausländer-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
recht zu schauen. Das halte ich für eine sinnvolle Maß-
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
nahme. Bitte tun Sie uns von der FDP einen Gefallen:
(Beifall bei der FDP) Kommen Sie nicht wieder mit der Einladerdatei; das ist
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4457
Gisela Piltz
(A) nämlich ein alter Hut. Das ist nicht das Problem. Es gibt Ein weiterer wesentlicher Punkt bei der Sicherheitsar- (C)
andere Dinge, die wir angehen müssen. chitektur ist, dass wir über alles nachdenken. Ehrlich ge-
sagt habe ich mir im Zusammenhang mit den aufgereg-
Dritter Punkt: Entschlossenheit. Die Antiterrordatei ten Vorschlägen, die ich vorhin zitiert habe, so manches
ist ein gutes Beispiel. Fünf Jahre lang haben wir daran Mal überlegt: Wer kümmert sich eigentlich um den
gearbeitet. Das kann man eigentlich keinem vernünfti- ÖPNV? Millionen von deutschen Bundesbürgern sind
gen Menschen erklären. jeden Tag damit unterwegs. Dazu habe ich keinen Vor-
schlag gehört. Wo sind denn die Anschläge in London
(Zuruf des Abg. Clemens Binninger [CDU/CSU])
und Madrid passiert? Ich habe hier alles über Züge und
– Herr Binninger, wir haben nicht daran gearbeitet, wir Personenzüge gehört. Hat eigentlich einer von uns über-
waren aber auch nicht dagegen. Das ist der Unterschied haupt schon mal darüber nachgedacht, was es bedeutet,
zu einigen Kollegen aus Ihren Reihen, die nämlich ver- wenn jeden Tag Millionen von Paketen mit dem Zug
hinderten, dass wir schon längst eine funktionierende In- durch Deutschland transportiert werden? Auch diese
dexdatei haben. Wir hätten sie nämlich schon lange ha- können zum richtigen Zeitpunkt gezündet werden. Dazu
ben können, wenn nicht Kollegen wie der Kollege habe ich von Ihnen keinen einzigen Vorschlag gehört.
Beckstein gesagt hätten: Ich möchte eine Volltextdatei. (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Machen Sie
Das war Politik nach dem Motto „Ich möchte meine In- doch einmal einen Vorschlag!)
teressen durchsetzen!“. Das hat nichts mit Sicherheit zu
tun. Diesbezüglich müssen Sie mit Ihren Kollegen ins Auch das gehört für mich zu einer Sicherheitsarchitek-
Gericht gehen. tur. Das wäre wirkliche Sicherheit und nicht nur ein
Presseerfolg.
(Beifall bei der FDP)
Noch zum Haushalt: Den Aufwuchs, den man bisher
Wir begrüßen diese Einigung, auch wenn sie für eine feststellen kann, findet man nur bei zwei Positionen:
große Koalition typisch ist. Ein FDP-Innenminister war zum einen handelt es sich um hauptstadtbedingte Sicher-
dabei. Wir machen jetzt von beidem etwas; das ist aber heitsmaßnahmen – das ist so ein schreckliches Wort,
besser als nichts. Endlich haben wir eine Einigung. dass ich es ablesen muss –, mit rund 38 Millionen Euro
Trotzdem müssen wir aufpassen, dass diese Indexdatei und zum anderen um den Digitalfunk mit rund
nicht zum Selbstbedienungsladen wird. Wir werden da- 60 Millionen Euro. Wir sind sehr gespannt, wie sich die
rauf achten, dass kontrolliert wird, wer über diese Daten weiteren Veränderungen auswirken werden. Interessant
verfügt. Die Kontrolle muss ordentlich durchgeführt wird auch sein, welche Mittel für die Antiterrordatei ein-
werden. Das gilt insbesondere für die Kontrolle des so gestellt werden. Denn das, was wir da wollen, ist mit Si-
(B) genannten Freitextfeldes, das unseres Erachtens die cherheit nicht für lau zu haben. (D)
Möglichkeit bietet, die Volltextdatei durch die Hintertür
einzuführen. Das halten wir für bedenklich. Wir werden Noch kurz zum Digitalfunk: Der Zuschlag ist jetzt
das sorgsam beobachten. erfolgt. Hoffentlich wird bei EADS nur der Airbus teurer
und nicht auch noch dieses Verfahren. Wir hoffen, dass
Auch in diesem Zusammenhang begrüßen wir die es einmal ein Großprojekt gibt, das stressfrei im Rahmen
Protokollnotiz des Innenministers aus Nordrhein-West- der öffentlich-privaten Partnerschaften abgewickelt wer-
falen, dass nach zwei Jahren eine Evaluierung dieser den kann; anders als zum Beispiel bei den biometrischen
Maßnahme stattfinden muss. Das ist richtig. Diese For- Ausweispapieren über die Bundesdruckerei. Dieser
derung teilen wir. Pauschalvertrag ist immer noch sehr im Dunkeln. Ich er-
innere mich noch gut an den Drang des letzten Bun-
(Beifall bei der FDP) desinnenministers, Otto Schily, der die Umsetzung des
E-Passes forciert hat. Kein Wunder, dass die Firma das
Wir teilen die Forderung des GdP-Vorsitzenden, ganz toll fand und er jetzt dort im Aufsichtsrat sitzt. Das
Konrad Freiberg, der heute gesagt hat: Ohne mehr Poli- scheint eine neue, nicht gute Tradition unter SPD-Kolle-
zisten bringt diese Datei so gut wie gar nichts. Meine gen zu werden.
einzige Anmerkung zur Videoüberwachung ist heute,
dass das Gleiche für die Videoüberwachung gilt: Ohne (Sebastian Edathy [SPD]: Na! Na! Na!)
mehr Polizisten bringt sie nur Scheinsicherheit.
Herr Minister, ich weiß, dass Sie nicht in der SPD sind.
Uns fehlt bei dem ganzen Thema eine einheitliche Si- (Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister:
cherheitsarchitektur. Viele Bauherren und viele Archi- Sicher nicht!)
tekten wuseln auf dem Bauplatz Sicherheitspolitik he-
rum, aber ein Gesamtkonzept können wir noch nicht Ihnen traue ich zu, dass Sie die Instinktlosigkeit dieser
erkennen. Wie soll denn in Zukunft die Zusammenarbeit Kollegen nicht haben, und hoffe darauf, dass Sie nicht
dieser 38 Behörden stattfinden? Die Indexdatei be- im EADS-Aufsichtsrat landen werden, wenn das Ganze
schreibt doch nur das Ergebnis. Wichtig ist jedoch, wie vorbei ist.
wir vorher zusammenarbeiten. Das ist eine Herausforde- (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist der pure
rung – das haben Sie richtig gesagt, Herr Minister –, die Neid!)
sich dem Föderalismus stellt. Hier ist er gefragt, er muss
zeigen, ob er funktioniert oder nicht. Von daher ist das Zum Thema Integration muss ich zugeben, dass Sie
für uns ein wesentlicher Punkt. mir quasi den Wind aus den Segeln genommen haben.
4458 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Gisela Piltz
(A) Auch mir ist natürlich aufgefallen, dass die Mittel sich seit dem Jahr 1998 darstellt, so denke ich, ist das ein Be- (C)
nicht verändert haben. Alle Fraktionen haben das beim weis dafür, wie man Personalpolitik aufgaben- und sach-
letzten Haushalt kritisiert. Ich denke: Es wird ohne eine gerecht gestaltet. Daran wird nämlich sehr deutlich, dass
Mittelerhöhung nicht gehen können. Denn eines ist uns der Stellenbestand – den Sicherheitsbereich ausgenom-
klar – wir haben hier schon über viele Details gespro- men – wesentlich reduziert wurde, insgesamt um
chen –: Egal, was wir tun, es wird teurer werden, weil 12,5 Prozent. Herr Minister, auf Ihr Ministerium bezo-
mehr Qualität Geld kostet. gen fiel diese Reduzierung mit 4,9 Prozent etwas gerin-
ger aus. Demgegenüber hat der Sicherheitsbereich seit
(Beifall bei der FDP) dem Jahr 1998 bis zum Jahr 2007 einen Aufwuchs in
Mein letzter Punkt betrifft den Bundesdatenschutz- Höhe von 6,3 Prozent erfahren. Wir sind der Auffas-
beauftragten. Auch da kann man sehen, dass sich der sung: Das ist fach- und sachgerecht.
Ansatz nicht verändert hat. Wenn wir immer mehr Ein- Das liegt daran, dass sich die Sicherheitslage dement-
griffe in die Bürgerrechte vornehmen – das tun wir und sprechend entwickelt hat. Die Ereignisse der letzten
insbesondere Sie in konsequenter Fortsetzung der rot- Jahre haben in der heutigen Diskussion bereits eine
grünen Koalition –, dann muss man den Bundesdaten- Rolle gespielt. Es ist auch darauf hingewiesen worden,
schutzbeauftragten als unabhängige Aufsicht stärken. dass wir in Deutschland Glück hatten, dass es hierzu-
Das tun wir nicht. Von daher appelliere ich an alle, noch lande zu keinen schlimmeren Vorfällen gekommen ist.
einmal zu überlegen, ob das nicht möglich wäre. Denn Wir dürfen nicht in Angst und Panik verfallen. Aber wir
Antiterrordatei, Vorratsdatenspeicherung und vieles an- müssen unsere Aufmerksamkeit schärfen und unser
dere bedeuten ein Mehr an Aufgaben für den Bundesda- Möglichstes tun, wohl wissend, dass es keine hundert-
tenschutzbeauftragten. prozentige Sicherheit gibt. Es kommt nicht in erster Li-
nie auf den Ruf nach neuen Gesetzen an, sondern vor al-
(Beifall bei der FDP)
len Dingen auf einen guten Gesetzesvollzug im
Zum Schluss noch zwei Bemerkungen: Sicherheitsbereich. Dieser muss gewährleistet werden.
Erstens. Weil heute die erste Sitzungswoche nach der Weil innere Sicherheit ein gemeinsames Produkt von
Sommerpause ist, kann man auch einmal nett sein: Herr Bund und Ländern ist, war und ist es richtig, dass im
Edathy, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Ich Jahre 2004 ein „Gemeinsames Terrorismusabwehr-
wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. zentrum“ in Berlin eingerichtet wurde. Lieber Herr
Ströbele, es ist zwar so, dass der Erfolg viele Väter hat.
(Beifall) Aber wir wissen, was für Ressentiments gegenüber die-
Zweitens. Wenn es um wirkliche Sicherheit und nicht ser Einrichtung vonseiten mancher Bundesländer geäu-
(B) nur um Scheinsicherheit geht, sind wir, was den Haus- ßert worden sind. Heute können wir nur froh sein, dass (D)
halt des Bundesministers des Innern angeht, gerne an Ih- sich alle 16 Bundesländer daran beteiligen; denn das ist
rer Seite. notwendig.

Vielen Dank. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE


GRÜNEN]: Aber was ist mit den Alternati-
(Beifall bei der FDP) ven?
Was die Personalentwicklung im Sicherheitsbereich
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: anbelangt, könnten wir froh sein, wenn in allen Bundes-
Das Wort hat der Kollege Fritz Rudolf Körper, SPD- ländern die gleiche Entwicklung wie auf Bundesebene
Fraktion. zu verzeichnen wäre. Auch das muss, wenn man sich
zum Föderalismus bekennt, wie wir es tun, einmal deut-
Fritz Rudolf Körper (SPD): lich gesagt werden.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Piltz, insbesondere im Zusammenhang mit der
Frau Piltz, angesichts dessen, was Sie zum Thema Auf- Gründung des Terrorismusabwehrzentrums ist der Ge-
sichtsratsmandate gesagt haben, ist mir in Bezug auf Sie danke entstanden, eine so genannte Antiterrordatei ein-
und die FDP nur eine Bemerkung eingefallen: Wer im zurichten. Diese Diskussion wird nicht etwa seit fünf
Glashaus sitzt, sollte möglichst nicht mit Steinen werfen. Jahren geführt. Vielmehr ist das Terrorismusabwehrzen-
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der trum im Dezember des Jahres 2004 initiiert worden. Zu
SPD – Gisela Piltz [FDP]: Ich habe meine diesem Zeitpunkt hat es auch seine Arbeit aufgenom-
Brillis noch an der Hand!) men.

– Ich will Ihnen nur sagen: Darüber sollten Sie einmal Es ist richtig, über ein solch schwieriges Thema eine
nachdenken. sorgfältige Debatte zu führen. Ich finde, dass die Ergeb-
nisse, die wir im Hinblick auf die Antiterrordatei erzielt
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE haben, gut, richtig, effektiv und effizient sind. Dabei
GRÜNEN]: Dazu kann man schon ein paar wurden die verfassungs- und datenschutzrechtlichen
Worte mehr sagen!) Prinzipien, insbesondere das Gebot der Verhältnismäßig-
keit, berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, wenn man den Haushalt
des Bundesinnenministeriums betrachtet und sich an- Deswegen bin ich froh, dass es zu einem guten Dis-
schaut, wie sich insbesondere die Personalentwicklung kussionsprozess auch mit der Bundesjustizministerin ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4459
Fritz Rudolf Körper
(A) kommen ist, die bei der Konzeption dieser Antiterror- vielmehr bin ich der Auffassung: Wir brauchen ein Anti- (C)
datei sehr hilfreich gewesen ist. Das Ergebnis hat die dopinggesetz.
Zustimmung der Länderinnenminister gefunden, wenn
auch der Innenminister von Nordrhein-Westfalen sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
der Stimme enthalten hat; auf die Gründe dafür ist Frau Wir sollten uns zusammensetzen und ein solches konzi-
Piltz eingegangen, damit will ich mich nicht näher be- pieren. Wenn wir dopingfreien Sport wollen, haben wir
schäftigen. keine Alternative.
Was ist darüber hinaus zu tun? Ich finde, wir müssen (Beifall bei der SPD)
einlösen, was im Zusammenhang mit der Föderalismus-
debatte beschlossen worden ist: Das Bundeskriminal- Im Kampf gegen Doping spielt die Nationale Anti-
amt soll für den Kampf gegen den internationalen Terro- Doping-Agentur eine ganz wichtige Rolle. Ein besseres
rismus mit Präventionsbefugnissen ausgestattet werden. finanzielles Fundament täte dieser Agentur gut. Viel-
Wir müssen jetzt ein Gesetz so ausgestalten, dass das leicht gibt es im Haushalt eine Möglichkeit, die Natio-
Bundeskriminalamt die dafür notwendigen Kompeten- nale Anti-Doping-Agentur finanziell zu stärken.
zen bekommt; das ist wichtig. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir haben erkannt, dass dies für die Zukunft des Sports
CDU/CSU) notwendig ist.
Im Übrigen müssen sich die Koalitionsfraktionen, Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Leis-
was das Terrorismusbekämpfungsgesetz angeht, über- tungen des Sports für die so genannte Integration hin-
haupt keinen Vorwurf gefallen lassen. Frau Piltz, wer weisen.
sich mit den Ergebnissen beschäftigt, wird feststellen,
dass sie beachtlich sind. Meine Damen und Herren, ich finde es gut, dass es zu
einem Integrationsgipfel gekommen ist, der noch ein-
(Otto Fricke [FDP]: Wie immer!) mal sehr deutlich gemacht hat, wie wichtig diese Auf-
gabe für die Zukunft unserer Gesellschaft ist. Ich bin
Es war richtig, große Teile des Terrorismusbekämp- auch sehr froh darüber, dass diese Fragen jetzt glückli-
fungsgesetzes zu befristen: um den Zwang zu erzeugen, cherweise weitgehend aus dem parteipolitischen Streit
nach einer gewissen Zeit zu prüfen, ob sich in der Praxis herausgehalten worden sind. Ich finde, wir sollten die
bewährt hat, was wir da zu Papier gebracht haben. Das Ergebnisse des Integrationsgipfels gemeinsam nutzen,
ist auch hier so entschieden und gesehen worden. Jetzt um die Integrationspolitik voranzutreiben.
wird das Terrorismusbekämpfungsgesetz sachbezogen,
(B)
sachgerecht und maßvoll ein Stück weiterentwickelt. Zwei Dinge will ich kurz bemerken. Die Antwort auf (D)
Damit zeigt die Koalition deutlich ihre Handlungsfähig- die Frage, wer bei der Integrationspolitik für was zustän-
keit. dig ist, ist sehr vielfältig; denn wir wissen, dass das eine
gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemein-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den ist. Der Bund hat nur in wenigen Bereichen die allei-
der CDU/CSU) nige Zuständigkeit. Im Bereich der Sprach- und Integra-
Ich will nun ein ganz anderes Thema ansprechen, das tionskurse haben wir sie aber. Wir alle wissen, dass sie
auch zu diesem Haushaltstitel gehört: den Bereich des ein ganz wichtiges Instrument für eine gelingende Inte-
Sports. Rückblickend auf die Fußballweltmeisterschaft gration sind. Ich will es kurz machen – das wird auch die
kann man nur sagen: Das war ein großartiges und fröhli- Erkenntnis bei der Evaluierung sein –: Wir brauchen
ches Ereignis, auf das unser Land in der Tat stolz sein schlichtweg mehr Differenzierung, um mehr auf den ein-
kann. Aber, meine Damen und Herren, die Fußballwelt- zelnen Kursteilnehmer und seine mitgebrachten Sprach-
meisterschaft war kaum vorbei, da hat sich im Bereich fähigkeiten einzugehen. Ich glaube, das ist ein ganz
des Radsports etwas abgespielt, was uns sehr nachdenk- wichtiger Aspekt, und wir brauchen diese wichtige Er-
lich stimmen muss: die Dopingskandale bei der Tour de fahrung in diesem Bereich.
France, die der gesamten Sportszene immensen Schaden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
gebracht haben. Wir müssen alles tun, dass der Sport
wieder sauber wird und insbesondere seine Vorbildfunk- Noch eine Bemerkung zum Thema Integration.
tion für junge Leute erfüllen kann. Schaffen wir es, eine Bleiberechtsregelung für lang-
jährig hier Geduldete zu erreichen? Insbesondere für
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kinder, Jugendliche und Familien gibt es heute zum Teil
der CDU/CSU) unerträgliche humanitäre Situationen. Deswegen appel-
liere ich an uns alle, dafür zu sorgen, im Zuge der nächs-
Das ist eine Aufgabe, der wir uns stellen. ten Innenministerkonferenz eine entsprechende Bleibe-
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE rechtsregelung für langjährig hier Geduldete zu finden,
GRÜNEN]: Dopinggesetz!) und zwar insbesondere unter Berücksichtigung des
Schicksals von Kindern, Jugendlichen und Familien.
Ich teile nicht die Meinung einiger Sportfunktionäre,
(Beifall bei der SPD und der FDP – Hans-
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN]: Meinen Sie Herrn Scharping?) NEN]: Allein mir fehlt der Glaube!)
4460 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Fritz Rudolf Körper


(A) – Lieber Herr Ströbele, Ihnen fehlt der Glaube. Ich bin der Angst gespielt. Das ist zur Bekämpfung des Terroris- (C)
der Auffassung, dass wir als Gesetzgeber uns überlegen mus denkbar ungeeignet.
müssen, was wir in dieser Frage tun können, wenn das
Das aktuellste Beispiel ist die Antiterrordatei, in der
auf der Innenministerkonferenz nicht funktionieren
ganz offen die Trennung zwischen Polizei und
sollte. Viele stimmen uns zu, dass hier Handlungsbedarf
Geheimdiensten aufgehoben werden soll. Dazu möchte
besteht. Wir können auch die Unterstützung vieler ge-
ich eines anmerken – offensichtlich ist dieses Haus zu-
brauchen. Ich meine, dass wir hier etwas Gutes für die
nehmend geschichtslos geworden –: Die Trennung von
Betroffenen tun können.
Geheimdiensten und Polizei ist eine Lehre aus der Nazi-
In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerk- vergangenheit. Die Väter des Grundgesetzes haben sich
samkeit. das sehr wohl überlegt. Wir sollten uns beizeiten vor Au-
gen führen, warum es diese Trennung gibt. Die Datei ist
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gefährlich, weil die Grenzen, die das Gesetz der Polizei
gebietet, verwischt werden. Mir graut es vor einer Poli-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zei, die nicht mehr Straftaten, sondern Gesinnungen ahn-
Das Wort hat der Kollege Jan Korte, Fraktion Die det. Das dürfen wir nicht zulassen.
Linke. (Beifall bei der LINKEN)
(Beifall bei der LINKEN) Der größte Klopfer ist, dass die Geheimdienste als
zweite Nutzer der Datei wieder kräftig mitmischen sol-
Jan Korte (DIE LINKE): len, und das in einer Zeit, in der die Geheimdienste – wir
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! haben es in den letzten Monaten festgestellt – völlig aus
Beim Vorschlag zur Bleiberechtsregelung machen wir den Fugen, völlig außer Rand und Band geraten sind.
natürlich mit. Wir haben dazu bereits einen Vorschlag Der BND bespitzelt Journalisten, gewinnt Erkenntnisse
eingebracht. Dem können Sie sich gerne anschließen. in syrischen Folterknästen. Man muss sich das einmal
vorstellen! All das ist erst ein paar Monate her.
Ich möchte nun zu einigen Dingen etwas sagen:
Der Verfassungsschutz hat offensichtlich nichts ande-
Der Terrorismus ist in dieser Debatte das beherr- res zu tun, als wirklich integere Bundestagsabgeordnete
schende Thema. Auch wir sind natürlich der Meinung der Linksfraktion und im Übrigen antifaschistische Ju-
– hier herrscht Einigkeit –, dass er keine Chance haben gendliche, die tagtäglich gegen Rassismus und Antise-
darf: weder durch Anschläge noch durch die Einschrän- mitismus kämpfen, zu bespitzeln. Das kann nicht wahr
kung von Grund- und Freiheitsrechten, sein.
(B) (D)
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Überra- (Beifall bei der LINKEN)
schend!)
Die Spitze des Eisbergs ist – jetzt wird es wirklich ab-
zu denen es aus einem Gefühl der Angst heraus kommt. surd –, dass der Militärische Abschirmdienst nichts an-
Diese Angst wurde in den letzten Wochen zum Teil kräf- deres zu tun hat, als auf Parteitagen der Linkspartei zu
tig geschürt. sitzen – es ist natürlich erhellend, daran teilzunehmen –
(Beifall bei der LINKEN) und Buch über Bundestagsabgeordnete im Hause zu füh-
ren.
Allein in den letzten zwölf Jahren sind mehr als
Mit den Namen Kurnaz, el-Masri und Zamar sind drei
160 Gesetze geändert worden, mit denen entweder – je
Schicksale verbunden, die für das Versagen der Bundes-
nach Großwetterlage – die organisierte Kriminalität,
republik und der Dienste, deren Kompetenz jetzt erwei-
oder, wie aktuell, der Terrorismus bekämpft werden soll-
tert werden soll, stehen. Deswegen lehnt die Linke eine
ten. Eine Evaluation ist bis heute ausgeblieben. Die Ein-
Erweiterung der Kompetenzen ab. Nach all diesen Vor-
griffe in die Grundrechte sind aber geblieben. Ich
gängen ist nämlich davon auszugehen, dass die Geheim-
nenne ein paar Beispiele: die Rasterfahndung, also die
dienste kein Garant für Bürgerrechte, sondern eine reale
Aufhebung der Unschuldsvermutung – man muss sich
Gefahr für einen liberalen, demokratischen und freiheit-
einmal vorstellen, was dahinter eigentlich steht –, die
lichen Staat sind. Sie wollen deren Befugnisse schon
Schleierfahndung – x-beliebige Menschen geraten da-
wieder erweitern. Das darf nicht wahr sein!
durch in die Fänge der Polizei, dass sie beispielsweise
verdächtig aussehen –, der Lauschangriff – Deutschland Zwei konkrete Beispiele: Stellen Sie sich vor, Sie fah-
ist mittlerweile Abhörweltmeister – und die jetzt aktuelle ren mit den falschen Leuten, also mit Terrorverdächti-
Vorratsdatenspeicherung – der wissenschaftliche Dienst gen, in einem Zugabteil, oder Sie leihen im Studenten-
hat alles dazu gesagt; dieses Vorhaben ist klar rechtswid- wohnheim dem Nachbarn Ihr Telefon; schon sind Sie
rig. mindestens als Kontaktperson in dieser Datei erfasst.
Bekanntermaßen kommt man aus solch einer Datei in
Hinzu kommt dann wie eine Phobie die ständige De-
der Regel nicht wieder heraus. Das sind Folgen, die für
batte über die Bundeswehr im Innern. Das ist wirklich
Sie offensichtlich gar keine Rolle spielen.
schon völlig irre, weil nicht einmal konkret gesagt wird,
wie das durchgeführt werden soll. Wollen Sie irgendwel- Ein klassischer Vorschlag, der immer wieder gemacht
che Spürpanzer neben die Gepäckabfertigung stellen wird: Die Videoüberwachung soll ausgeweitet werden.
oder wie soll das Ganze aussehen? – Nein, hier wird mit Ich dachte, dass zumindest die Bundeskanzlerin hier an
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4461
Jan Korte
(A) meiner Seite streitet. Sie hat sich nämlich kräftig darüber Zum Ende der Sommerpause auch von mir noch ein (C)
aufgeregt, dass vom Pergamonmuseum aus in ihre Kü- gütiges Wort: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag,
che hinein gefilmt worden ist. Genosse Edathy!
(Beifall bei der LINKEN – Silke Stokar von Danke.
Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (Beifall bei der LINKEN)
war nicht die Küche, das war das Wohnzim-
mer!)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Leider ist aber offensichtlich nicht zu Ihnen durchge- Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/
stellt worden, dass das nichts bringt und in die Privat- Die Grünen.
und Intimsphäre von anderen Menschen eingreift.
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
Sie spielen mit der Angst, um weiterhin autoritäre GRÜNEN):
Maßnahmen zu erlassen. Wahre Populisten sind die Si- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich
cherheitspopulisten, nicht wir: Im Gegensatz zu Ihnen möchte nicht damit schließen, sondern damit beginnen:
machen wir vielleicht populäre, nicht aber populistische Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sebastian!
Vorschläge.
Der Herr Bundesinnenminister Schäuble hat festge-
(Beifall bei der LINKEN) stellt – ich glaube, es war in den „Tagesthemen“ oder in
der „Tagesschau“ –, dass wir Glück gehabt haben. Wir
Sie geben vor, mehr Sicherheit schaffen zu wollen. haben Glück gehabt, dass es in Koblenz und in Dort-
Das ist erst einmal in Ordnung. Es stellt sich nur die mund bei Anschlagsversuchen geblieben ist. Es war aber
Frage, wie das vonstatten gehen soll. In den letzten Jah- eben nicht die Arbeit der Sicherheitsbehörden, die ge-
ren sind Tausende Stellen bei den Polizeibehörden in den planten Anschläge im Vorfeld zu verhindern. Nach der
Ländern abgebaut worden. In Ihrem Privatisierungs- aufgeregten Debatte während der Sommerpause habe ich
wahn, der sich nicht nur in Fragen der sozialen Gerech- eine sachliche Analyse vermisst. Ich habe vermisst, dass
tigkeit, sondern auch in Fragen der Sicherheit zeigt, die Frage gestellt wurde, warum die Sicherheitsbehörden
übertragen Sie Sicherheitsaufgaben an private Unterneh- die Tatverdächtigen nicht rechtzeitig erkennen konnten.
men, die für ein paar Euro am Flughafen Gepäckkontrol-
len durchzuführen haben. Das sorgt nicht für mehr, son- Stattdessen beglückte uns die große Koalition – Frau
dern für weniger Sicherheit. Damit gefährden Sie auch Piltz hat bereits Beispiele genannt; ich muss sie nicht
in diesem Bereich durch willkürliche Privatisierung die wiederholen – Tag für Tag mit Aktionismus. Von Gelas-
(B) Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland. senheit war nichts zu spüren. Es war auch nicht viel (D)
Orientierung von Ihrer Seite zu bemerken, Herr
Suchen Sie also nach Alternativen. Wir sollten der Schäuble. Sie haben es laufen lassen. Sie haben zugelas-
Gefahr des Terrors bürgerschaftliches, zivilgesellschaft- sen, dass in den Reihen der Hinterbänkler nach einer sol-
liches Engagement entgegensetzen und deutlich machen, chen Beunruhigung der Bevölkerung jeden Tag abstru-
dass wir für bestimmte Werte der Demokratie und der sere Vorschläge produziert worden sind. Das hat mit
Weltoffenheit stehen. Es muss eine friedliche Außenpo- Sicherheit nicht dazu geführt, dass das Sicherheitsgefühl
litik betrieben werden. Es muss eine Integration ermög- in Deutschland und das Vertrauen in die Sicherheitsbe-
licht werden, die gleiche Rechte und gleiche Teilhabe in hörden gestärkt worden sind.
diesem Land gewährleistet. Es muss auch darum gehen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
im In- und Ausland die fortschrittlichen, progressiven
Menschen, beispielsweise die Studenten im Iran, zu un- Keiner der gemachten Vorschläge – weder die Video-
terstützen und ihnen Anerkennung zukommen zu lassen, überwachung noch der Einsatz der Bundeswehr im In-
um letztendlich Dogmatismus und Ideologie zu überwin- nern, der bei jeder Gelegenheit von Ihnen gefordert wird
den. Das ist eine andere Herangehensweise, die zwar – hätte dazu geführt, dass die Bombenleger rechtzeitig
Zeit braucht, aber auf Dauer erfolgversprechend ist. erkannt worden wären. Auch das muss einmal gesagt
werden.
Ich möchte noch einen letzten Punkt ansprechen.
Wenn man möchte, dass die Menschen in diesem Land Auch in der Antiterrordatei hätten Sie diese jungen
an demokratischen Entscheidungen teilhaben, für sie Tatverdächtigen kaum gefunden. Dieses Phänomen gab
streiten und einstehen, dann hat das auch etwas mit es bereits in England. Überhaupt haben erst bei zwei Tat-
verdächtigen der jüngsten Anschlagserien in Europa vor-
sozialer Gerechtigkeit zu tun. Denn nur diejenigen, die
her Erkenntnisse vorgelegen. Ich will nicht sagen, dass
materiell gut versorgt sind und nicht jeden Tag über das
dies gegen die Antiterrordatei spricht. Im Gegenteil:
Essen und die Finanzierung der nächsten Woche nach-
Wir brauchen sie. Ich denke – das ist auch nachzu-
denken müssen, sind in der Lage, am gesellschaftlichen
lesen –, dass ich mich in all meinen Reden in den ver-
Leben und an demokratischen Prozessen teilzuhaben.
gangenen Jahren als Mitglied der grünen Bundestags-
Ich glaube, dass im Haushaltsplanentwurf in diesem
fraktion ausdrücklich für die Einrichtung einer Anti-
Sinne nichts Progressives enthalten ist. Stattdessen wird
terrordatei ausgesprochen habe.
Sie, wie Jutta Limbach zu Recht sagt, das Verfassungs-
gericht wie in den letzten Jahren auch regelmäßig in Ihre Lieber Herr Kollege Körper, ich möchte in diesem
Schranken verweisen. Zusammenhang an den Verlauf unserer Diskussion
4462 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Silke Stokar von Neuforn


(A) erinnern. Wir haben damals unter Rot-Grün das Anti- giöse Werte missbrauchenden Vereinigung – das kommt (C)
terrorzentrum mit der inhaltlichen Maßgabe eingerichtet, zum Glück nicht massenhaft vor, sondern nur in Einzel-
die ich heute noch für richtig halte, dass wir mehr fällen und keineswegs nur im Islam; das kann auch in
Kooperation und Kommunikation zwischen den Sicher- den christlichen Religionen und anderen Weltreligionen
heitsbehörden brauchen. Ein Mausklick reicht nicht, da- passieren – signifikant und vielleicht sogar entscheidend
mit die Erkenntnisse bundesweit vernetzt werden kön- ist und dass dieses Kriterium daher selbstverständlich in
nen. Aufgrund dieser Debatte sind wir gemeinsam zu der geplanten Antiterrordatei gespeichert werden muss?
dem Ergebnis gekommen, dass eine Indexdatei nicht nur Wir richten doch keine Kirchensteuerdatei ein, sondern
ausreichend ist; sie ist auch der sinnvollere Weg für die eine Antiterrordatei. Dort müssen diejenigen Daten ge-
Sicherheitsbehörden. Denn wir wollen, dass sie mit- speichert werden, die für den Individualfall signifikant
einander in Kontakt treten und ihre Erkenntnisse, die sind. Ich bitte Sie, hierzu einmal Ihre Meinung zum Aus-
schließlich Verdachtsmomente aus allen Bereichen dar- druck zu bringen.
stellen, qualifiziert gemeinsam bewerten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU)
Der Gesetzentwurf liegt zwar noch nicht vor. Aber ich
kann schon jetzt sagen, dass die geplante Antiterrordatei Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE
für uns Grüne nicht tragbar ist; denn die Speicherung GRÜNEN):
der Religionszugehörigkeit – das sage ich in aller Deut- Kollege Wiefelspütz, signifikant für einen Terrorver-
lichkeit – lehnen wir ab. Die Zugehörigkeit zu einer be- dacht ist nicht, ob eine Person Moslem ist, sondern die
stimmten Religionsgemeinschaft darf kein Verdachts- Mitgliedschaft in einer radikal-islamistischen Organisa-
moment in einer Antiterrordatei sein. tion bzw. die Nähe zu einer solchen Organisation. Ich
glaube, darüber waren wir uns früher einmal einig. Laut
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BKA gibt es ungefähr 500 gewaltbereite Personen – das
Das ist in unseren Augen verfassungswidrig. Es ist zu- ist etwa 1 Prozent – in Deutschland. Ich hoffe, dass Sie
dem kontraproduktiv. Welche Botschaft wollen Sie denn nicht planen, alle muslimischen Gemeinden in der Anti-
mit dem Islamgipfel, der ein Angebot sein soll, aussen- terrordatei zu erfassen. Wir waren es doch, die es ermög-
den? Sie haben gesagt – das ist eine richtige Erkennt- licht haben, dass bestimmte religiöse Vereine in
nis –, dass wir auch die Unterstützung und die Mitarbeit Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet und
der muslimischen Gemeinden als Hinweisgeber brau- verboten werden. Daten über die Mitgliedschaft in sol-
chen. Dies geht aber nur auf der Grundlage gegenseiti- chen Vereinen bzw. die Nähe dazu zu speichern ist in
(B) gen Respekts und Vertrauens. Die Botschaft, die Sie nun Ordnung. Aber Sie wollen auch die Daten von Kontakt- (D)
senden, ist nichts anderes als eine Stigmatisierung, ein und Begleitpersonen speichern. Wir sind uns sicherlich
Generalverdacht gegen Muslime. Wir alle wissen aber, einig, dass die Antiterrordatei einen aktuellen Bezug
dass 99,9 Prozent der Muslime in Deutschland integriert zum islamistischen Terrorismus in Deutschland haben
sind und eine liberale Einstellung haben. Gespeichert sollte. Wollen Sie etwa, dass hinter jedem gespeicherten
werden muss jedoch – – Namen „Moslem“ steht? Das ist doch völlig sinnentleert,
nicht zielführend und stigmatisierend. Das ist das falsche
Signal. Das hat mit Integration nichts zu tun.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Frau Kollegin, da Sie nicht Luft holen, muss ich Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
unterbrechen für die Frage, ob Sie eine Zwischenfrage
Kollege Wiefelspütz, Sie dürfen sich setzen. Ich weiß,
des Kollegen Wiefelspütz zulassen.
dass Sie meiner Meinung sind, weil Sie Jurist sind; aber
Sie stehen hier unter dem Druck der Einigung in einer
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE großen Koalition. Unter ähnlichen Zwängen stand auch
GRÜNEN): ich einmal.
Ich lasse sie zu, sobald ich Luft geholt und den begon-
nenen Satz beendet habe. – Gespeichert werden muss (Heiterkeit)
stattdessen der konkrete Bezug zu einer radikalen Orga- Trotzdem ist es richtig, das Richtige zu sagen.
nisation oder zu einem radikalen Verein.
(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Späte
Lieber Kollege Wiefelspütz, jetzt dürfen Sie mir Einsicht!)
selbstverständlich eine Frage stellen.
Wir werden uns im Innenausschuss über diesen Gesetz-
entwurf unterhalten können.
Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD):
Geschätzte Frau Kollegin Stokar, ich teile ausdrück- Ich will noch ein Wort zur Videoüberwachung sa-
lich Ihre Einschätzung der Muslime in Deutschland als gen, weil das das zweite Sommerthema war. Herr Innen-
in überwältigender Mehrheit gesetzestreue und friedli- minister Schäuble, ich habe Erkundigungen an den
che Menschen. Wer mit Verstand wollte das bestreiten? Bahnhöfen eingezogen. Es gab mir zu denken, dass die
Können Sie mir aber folgen, wenn ich sage, dass im Fall DB, die für die Anschaffung der Kameras zuständig ist,
eines Terrorismusverdächtigen die Religionszugehörig- mittlerweile mehr Kameras hat, die unangeschlossen in
keit bzw. die Zugehörigkeit zu einer bestimmten, reli- Bahnhöfen herumhängen,
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4463
Silke Stokar von Neuforn
(A) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE lingsprojekte von Otto Schily weiter Steuergelder zu (C)
GRÜNEN]: Hier am Reichstag auch!) verschwenden. Das ist eine sinnlose Investition.
als Kameras, die angeschlossen sind, weil das Bundes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
innenministerium seinen Anteil – Sie sind für die Lei- sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
tungskosten und die Software verantwortlich – nicht Mir bleibt nur noch eine Minute, um etwas zur Inte-
trägt, weil es an Investitionsprogrammen und Geldern gration zu sagen. Die Bleiberechtsregelung scheitert
mangelt. Das, was Sie hier gemacht haben, war das Wer- derzeit an der schwarz-gelben Koalition in Niedersach-
fen von Nebelkerzen. sen. Die FDP ist maßgeblich daran schuld, dass es dazu
keine Regelung gibt. Wir Grüne haben schon lange er-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wartet, dass es hier zu einer bundesgesetzlichen Rege-
Ich möchte zu den Sonderprogrammen für das Bun- lung kommt und sich die große Koalition nicht perma-
desamt für Verfassungsschutz kommen. Ich wünsche nent von Schünemann und Beckstein auf der Nase
mir eine ehrliche Debatte mit den Verantwortlichen in herumtanzen lässt. Aufgrund der Zahlen über nicht be-
Schleswig-Holstein. Es wäre die Aufgabe des Landes- standene Kurse wissen wir, dass wir eine Qualitätsver-
amtes für Verfassungsschutz von Schleswig-Holstein ge- besserung, eine Erhöhung der Stundenzahl und eine
wesen, die radikalen Tendenzen in der Kieler Moschee Erhöhung der Stundenvergütung brauchen. Insofern
zu erkennen. Ich sehe überhaupt nicht ein, dass wir das können Sie nicht mit der gleichen Argumentation wie im
Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sonderprogram- letzten Jahr hier zu geringe Mittel einsetzen. Wir erwar-
men ausstatten, während die Länder gleichzeitig ihre ten hier eine Aufstockung. Wir müssen keine Evaluie-
Personalausstattung und ihre Kapazitäten zurückfahren. rung abwarten.
Wir haben in der Föderalismuskommission noch nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einmal ansatzweise gesagt, dass die Länder überhaupt
nicht in der Lage sind, diese Aufgaben wahrzunehmen, Meine letzte Bemerkung. Auch nicht hinnehmbar ist,
und dass das Bundesamt eine Zentralstellenfunktion ein- dass die große Koalition die Mittel für den Kampf ge-
nehmen muss. Ich vermisse Strukturreformen. Hier wer- gen den Rechtsextremismus auslaufen lässt. In einer
den zusätzlich Gelder ausgegeben, ohne dass man die Zeit, in der wir in Deutschland zunehmend rechts-
Aufgabenkritik und den Aufgabenabbau zum Beispiel extreme Gewalt haben – es gab einen Zuwachs dieser
im Bereich der Spionageabwehr in Angriff nimmt. Auf Gewalttaten von 23,5 Prozent –, sorgt die große Koali-
dieser Ebene wird es mit uns keine Zusatzprogramme tion dafür, dass es flächendeckend zu einem Kahlschlag
geben. Wir wollen die Gelder für andere Zwecke ausge- bei den von Rot-Grün initiierten Projekten kommt.
(B) ben. (D)
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Sie haben das THW angesprochen. Es ist jetzt ein Frau Kollegin!
Jahr her, dass sich die Unwetter in New Orleans ereignet
haben. Die Bundesregierung macht offensichtlich die
Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
gleichen Fehler wie die Regierung der USA. In New
NEN):
Orleans kam es zu über 1 000 Todesopfern, weil alle Si-
Das ist nicht hinnehmbar. Das ist eine sträfliche Ver-
cherheitsbehörden auf die Bekämpfung des Terrorismus
nachlässigung eines wichtigen Themas der inneren Si-
ausgerichtet sind und der Bevölkerungsschutz vernach-
cherheit. Wir erwarten, dass diese Projekte weitergeführt
lässigt wurde. Extreme Wetterlagen und großflächige
und ausgebaut werden.
Stromausfälle sind Risiken, die auch unsere Zivilbevöl-
kerung bedrohen. Ich halte es für eine ganz gefährliche Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Ich
Fehlentwicklung, dass Sie erneut die Mittel für das Bun- möchte etwas zur Fußball-WM und zu den dafür einge-
desamt für Bevölkerungsschutz reduzieren. Es mangelt setzten Beamten sagen. Herr Bundesinnenminister, die
an Einsatzfahrzeugen und an Aus- und Fortbildung. Wir Einlösung eines Versprechens steht noch aus, nämlich
sind in der Fläche noch nicht einmal hinreichend mit der Sonderzahlung im Bereich des öffentlichen Dienstes.
Feuerwehrautos ausgestattet. Auch das ist ein konkretes Es reicht nicht aus, den Beamten zu sagen: Danke für die
Sicherheitsrisiko. Fußball-WM, danke für die Überstunden.
Lassen Sie mich ein Wort zur Biometrie sagen. Im
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner:
Haushaltsplan sind 5 Millionen Euro für Sachverständi-
genkosten ausgewiesen. Ich frage mich, für wen bzw. für Frau Kollegin!
was. Das müssen Sie schon näher erläutern. Überhaupt
nicht verstehe ich, dass das Projekt zur Iriserkennung am Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Frankfurter Flughafen weitergeführt wird. Die EU hat NEN):
sich bekanntlich darauf verständigt, Fingerabdrücke und Sie erwarten auch, dass die für 2005 und 2006 zuge-
Gesichtserkennung als Merkmale aufzunehmen. Es steht sagten Sonderzahlungen jetzt endlich ausgezahlt wer-
für mich der Verdacht im Raum, dass ein Lieblingspro- den.
jekt des ehemaligen Bundesinnenministers Schily von
Danke schön.
einer Firma weitergeführt wird, in deren Aufsichtsrat
Otto Schily jetzt sitzt. Ich habe keine Lust, für die Lieb- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
4464 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dennoch gilt: Panikmache ist in dieser Situation nicht (C)
Das Wort hat der Kollege Helmut Brandt, CDU/CSU- angebracht. Aber eine nüchterne Analyse der Situation
Fraktion. ist ebenso notwendig wie die Umsetzung sich hieraus er-
gebender Schlussfolgerungen. Die innere Sicherheit ist
(Beifall bei der CDU/CSU) ein hohes und notwendiges Gut. Zu Recht erwarten die
Bürgerinnen und Bürger unseres Staates, dass er ihnen
Helmut Brandt (CDU/CSU): Sicherheit gewährleistet.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Der Einzelplan 06 des Haushaltsentwurfs hat in sei-
nen und Kollegen! Nach der Rückkehr aus den Ferien nen Eckpunkten die sicherheitspolitischen Weichen rich-
hat sich durch die zwischenzeitlichen Ereignisse die Si- tig gestellt und stellt sicher, dass die Bundesrepublik
cherheitslage unseres Landes augenscheinlich verändert. Deutschland auch in Zukunft als sicheres Land gelten
Jedenfalls wird jetzt von der breiten Öffentlichkeit die wird. Auch in Zukunft soll es den Bürgern in Deutsch-
Gefährdung unseres Landes völlig anders eingeschätzt. land und unseren Gästen möglich sein, sich frei und
Unseren Bürgern ist bewusster geworden, dass die Ein- sorglos zu bewegen. Freiheit, Freizügigkeit und grenzen-
schätzung unserer Sicherheitspolitiker bezüglich des Ge- loses Reisen innerhalb der EU sowie darüber hinaus
fährdungsgrades in punkto innerer Sicherheit leider zu- wollen wir nicht aufgeben.
treffend war und ist. Der positive Schwung der grandios
verlaufenden Fußballweltmeisterschaft hatte viele in Die vorgesehenen Aufwendungen für die innere
dem Glauben bestärkt, in Deutschland sicher zu sein und Sicherheit werden deshalb gegenüber dem Haushalts-
Anschläge nicht befürchten zu müssen. jahr 2006 um 1,8 Prozent steigen. Insgesamt sind
4,439 Milliarden Euro für den Haushaltsbereich Inneres
Erlauben Sie auch mir an dieser Stelle, kurz den Dank vorgesehen; denn es gilt, die Freiheit und die Freizügig-
an all jene zum Ausdruck zu bringen, die – ob ehrenamt- keit für einen jeden zu gewährleisten. Die persönliche
lich oder hauptamtlich – ihren Beitrag zur vorzüglichen Freiheit des Einzelnen und die Sicherheit im Ganzen be-
Organisation und Durchführung dieser Weltmeister- dingen sich dabei gegenseitig und stellen keinen Wider-
schaft geleistet haben. spruch dar, wie es oft fälschlich darzustellen versucht
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der wird.
SPD und der FDP) Freiheit und Freizügigkeit nutzen allerdings auch die
Feinde unseres demokratischen Rechtsstaats. Hier muss
Dies gilt im Übrigen in gleicher Weise für die am Sonn-
die Sicherheitspolitik ansetzen und mit geeigneten Maß-
tag zu Ende gegangene Weltmeisterschaft der Reiter in
nahmen reagieren. Hierzu gehören nach meiner festen
Aachen. Ich komme aus der Nähe.
(B) Überzeugung auch bessere Videoüberwachungen auf (D)
(Fritz Rudolf Körper [SPD]: Man hört es!) Bahnhöfen, Flug- und Seehäfen sowie gefährdeten öf-
fentlichen Plätzen. Der rechtschaffene Bürger hat gegen
Daher ist mir dies ein Anliegen. Sie alle, aber auch un- diese – im Übrigen auch weltweit erfolgreich praktizier-
sere Bürger insgesamt, haben der Welt vermittelt: ten – Überwachungsmaßnahmen nichts einzuwenden;
Deutschland ist ein weltoffenes und gastfreundliches, im Gegenteil: Er fordert sie sogar, und zwar zu Recht.
aber auch ein sicheres Land.
(Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE
Dieser nicht bezahlbare Imagegewinn für unser Land LINKE]: Woher wissen Sie das?)
wird auch wirtschaftlich gesehen positive Folgen haben,
insbesondere im Bereich der Tourismuswirtschaft. All Die derzeitige Situation – Herr Kollege, darin werden
dies werden wir sicherlich spätestens im nächsten Jahr Sie mir folgen – macht diese Maßnahmen meiner Mei-
positiv registrieren können. nung nach unbedingt notwendig.

(Vorsitz: Präsident Dr. Norbert Lammert) (Jan Korte [DIE LINKE]: Nein!)

Andererseits wissen wir heute: Es hätte auch anders – Wenn Sie mir nicht folgen, haben Sie etwas zu verber-
kommen können. Inzwischen wurde bekannt, dass die gen.
beiden festgenommenen Attentäter ihre Anschläge auf (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so-
die Regionalzüge bereits während der Weltmeisterschaft wie bei Abgeordneten der SPD – Jan Korte
umsetzen wollten. Den Entschluss dazu hatten sie jeden- [DIE LINKE]: Wenn Sie wüssten!)
falls bereits gefasst. Man wagt es nicht, sich vorzustel-
len, wie diese Fußballweltmeisterschaft dann verlaufen Das Ergebnis der gestrigen Innenministerkonferenz
wäre und welcher Eindruck dann in der Welt entstanden ist insoweit ein für unsere Fraktion ermutigendes Signal.
wäre. Sofort wird man an die Ereignisse bei der Olym- Die Antiterrordatei stellt ein wesentliches Element dar,
piade in München erinnert. wenn es darum geht, die Zusammenarbeit von Polizei,
Verfassungsschutz und Nachrichtendiensten zu verbes-
Allzu schnell ist man aber auch bereit, diese Gedan- sern. Man muss sich vor Augen führen, dass aufgrund
ken nach den gescheiterten Versuchen und der Fest- unserer föderalen Strukturen die Landeskriminalämter,
nahme der Attentäter zu verdrängen. Es wäre nicht nur die Landesämter für Verfassungsschutz und die Bundes-
töricht und es stellte nicht nur politisch ein völlig fal- behörden, also mindestens 38 verschiedene Behörden,
sches Signal dar, sondern es wäre auch sicherheitspoli- künftig Zugriff auf diese Datei haben werden. Dann wer-
tisch grob fahrlässig, wenn man dies täte. den bestehende Lücken in der Ermittlungsarbeit ge-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4465
Helmut Brandt
(A) schlossen und wird verhindert, dass solche Lücken von Bei aller Ausgabendisziplin und vorbehaltlich sich (C)
Extremisten und Terroristen zum Nachteil unserer Be- noch als notwendig erweisender Korrekturen – auch da-
völkerung genutzt werden können. rauf hat der Minister schon hingewiesen – während der
Debatten in den nächsten Wochen kann man zusammen-
Erinnern möchte ich in diesem Zusammenhang auch fassend sagen, dass der Haushaltsentwurf im Bereich des
an die schon einmal geführte Diskussion über die Ver- Inneren solide aufgestellt ist und der Herausforderung
wendung von Daten aus der Mauterfassung bei LKW. zur Wahrung der inneren Sicherheit in vollem Umfang
Wir sind der Auffassung, dass diese Daten für polizeili- gerecht wird.
che Ermittlungen herangezogen werden müssen, wenn
sich dies aufgrund der Verdachtslage und der besonderen Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Umstände im Einzelfall aufdrängt und für die Ermitt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord-
lungstätigkeit der Polizei unabdingbar ist. Ich erinnere neten der SPD)
nur an den kürzlich aufgeklärten Fall des so genannten
Autobahnmörders.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Man wird auch prüfen müssen, in welchem Umfang Das Wort hat nun der Kollege Dr. Max Stadler für die
das Ausländerrecht stärker zur Gefahrenabwehr ge- FDP-Fraktion.
nutzt bzw. dahin gehend verbessert werden kann. Dabei
sind die Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus dem Dr. Max Stadler (FDP):
Visa-Untersuchungsausschuss der letzten Wahlperiode
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
besonders zu berücksichtigen.
ren! Der geschätzte Kollege Hartmann hat am Ende der
Aber nicht nur restriktive und Gefahren abwehrende letzten Haushaltsdebatte die Gemeinsamkeit aller Frak-
Maßnahmen sind erforderlich und insoweit im Haus- tionen bei der inneren Sicherheit beschworen. Wir von
haltsplan vorgesehen. Wichtig sind auch die weiteren der FDP können dem zustimmen, aber nur teilweise.
Maßnahmen zur Vermeidung oder Verringerung von Ge- Wie Kollegin Gisela Piltz vorhin richtig ausgeführt hat,
fährdungspotenzial. Im Bereich des Inneren zielen diese tragen wir Maßnahmen, die die innere Sicherheit wirk-
insbesondere auf die Integration. Ich danke hier der lich erhöhen, mit, wenn sie verfassungsgemäß sind.
Kanzlerin ausdrücklich dafür, dass sie den Dialog mit (Beifall bei der FDP)
dem Islam und den Religionsgemeinschaften insgesamt
initiiert hat. Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Wer
entscheidet das? Das Bundesverfassungsgericht. Es
Ein in Deutschland voll integrierter, unser Staatswe- musste leider des Öfteren die Entscheidung treffen, dass
sen bejahender Ausländer wird nicht mehr für Hasstira- Gesetze, die hier mit Mehrheit verabschiedet worden (D)
(B)
den und Aufrufe zum Terror oder zur Unterstützung des sind, nicht dem Grundgesetz entsprechen.
Terrors empfänglich sein. Jeder ausgegrenzte oder in ei-
ner Nebengesellschaft Lebende wird demgegenüber Wir meinen, die richtige Reaktion darauf ist nicht, die
hierfür anfällig sein und bleiben. Karlsruher Richter in die Ecke der Weltfremden zu stel-
len. Die richtige Reaktion ist vielmehr, sich künftig an
die Vorgaben der Verfassung zu halten.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege, Sie denken bitte an die Zeit. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Hans-
Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Helmut Brandt (CDU/CSU): NEN])
Herr Präsident, ich danke für den Hinweis. Der Bun- Verehrter Herr Kollege Brandt, wer sich gegen über-
desinnenminister, den ich sehr schätze, hat mir etwas zogene Überwachung ausspricht, hat doch nicht selber
meiner Zeit gestohlen. etwas zu verbergen.
(Zurufe von der SPD und der FDP: Oh! – Dr. Dieter (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Na ja!)
Wiefelspütz [SPD]: Gestohlen?)
Das ist ein typischer Kurzschluss, der hier zwar ein we-
Aber das macht nichts; denn er hat in vortrefflicher nig Heiterkeit hervorgerufen hat. In Wahrheit ist das ein
Weise all das vorgetragen, was ich jetzt noch vortragen Argument, dem man in der Sicherheitsdebatte oft begeg-
wollte. Insofern nehme ich es ihm natürlich nicht übel. net. Es ist ein Argument, mit dem das Bemühen um die
Einhaltung der Verhältnismäßigkeit der Mittel diskredi-
Präsident Dr. Norbert Lammert: tiert wird. Deswegen kann dieses Argument hier nicht
Herr Kollege, ich empfehle eine leichte Glättung für gelten.
das Protokoll: Minister stehlen prinzipiell nicht und In- (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN
nenminister schon gar nicht. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN –
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Die Leute ha-
SPD) ben Angst vor Anschlägen und nicht vor Über-
wachung!)
Helmut Brandt (CDU/CSU): Sicherheitspolitik ist nicht etwa nur Polizeirecht. Des-
Ich gehe davon aus, dass dies weder rechtswidrig wegen unterstützen wir Sie, Herr Minister Schäuble,
noch schuldhaft war. wenn Sie mit dem Islamgipfel einen Dialog beginnen
4466 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Max Stadler


(A) und wenn Sie das Versprechen einhalten, das Sie in ei- Gregor Gysi betonte, dass der Staatssozialismus zu (C)
nem Interview gegeben haben, nämlich bei der Einla- Recht gescheitert sei.
dung die Gesprächspartner ohne Tabu auszuwählen.
Meine Damen und Herren, das habe ich auch auf
Aber Sicherheitspolitik ist im Wesentlichen natürlich Phoenix gesehen. Bitte setzen Sie das Personal sinnvoll
polizeiliches Handeln. Wir haben bei Ihren Ausführun- ein, dann wird die FDP auch einer Aufstockung der
gen heute in der Debatte wieder gehört, dass man ange- Haushaltsmittel hierfür zustimmen.
sichts der Bedrohung immer mehr in den präventiven
Bereich hineingehen müsse; es komme darauf an, Straf- Vielen Dank, Herr Präsident.
taten schon im Vorfeld zu erkennen und zu verhindern. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten
Wer möchte dem widersprechen? Aber wir müssen uns des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
ebenso bewusst sein, dass darin auch eine Gefahr liegt. LINKEN)
Erinnern wir uns an die klaren Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichts, etwa wann polizeiliches Abhören von
Telefonaten oder eine Rasterfahndung vorbeugend zu- Präsident Dr. Norbert Lammert:
lässig sein darf. Man merkt, dass bei der von Ihnen vor- Herr Stadler, es wäre in der Tat ein Jammer gewesen,
hin favorisierten Tätigkeit der Geheimdienste die Krite- wenn ich dieses Zitat nicht gehört hätte.
rien für die Eingriffe nicht so klar sind. Geheimdienste (Heiterkeit)
dürfen definitionsgemäß viel mehr. Dadurch geraten viel
mehr Unverdächtige in ihr Visier. Das ist der eigentliche Nun hat das Wort der Kollege Sebastian Edathy für
Kern des Streits darüber, warum es nicht richtig sein die SPD-Fraktion. Den zahlreichen bereits vorgetrage-
konnte, Dateien der Geheimdienste allen Sicherheits- nen Glückwünschen zu seinem heutigen Geburtstag
behörden eins zu eins zur Verfügung zu stellen. schließt sich das Präsidium vollinhaltlich an.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall)
DIE GRÜNEN)
Auch dafür muss es genaue Kriterien geben. Sebastian Edathy (SPD):
Vielen Dank. – Guten Abend, Herr Präsident! Liebe
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas erwähnen, Kolleginnen und Kollegen! Es ist ganz schön, einmal
worin ich Sie unterstütze, Herr Minister Schäuble. Sie eine Rede mit Beifall aus allen Fraktionen beginnen zu
sagten, wenn wir – die Koalition will das ja demnächst können. Wenn wir das so beibehalten könnten, würde ich
in die Gesetzgebung einbringen – den Geheimdiensten das durchaus begrüßen.
mehr Befugnisse gäben, wäre auch mehr Kontrolle er-
(B) forderlich. Das ist genau das richtige Gegengewicht. Wir (Gisela Piltz [FDP]: Das kommt darauf an, wie (D)
von der FDP verstehen nicht, warum Sie als Koalition oft Sie Geburtstag haben!)
dann nicht unserem Entwurf eines Gesetzes zur besseren Wir haben in dieser Debatte heute Nachmittag und
parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste nä- heute Abend sehr intensiv über innere Sicherheit gespro-
her treten. chen. Ich freue mich, dass es doch einen sehr breiten
Ich möchte mit der Bitte an Sie schließen, doch auch Konsens gegeben hat, nämlich sowohl in der Hinsicht,
die personellen Ressourcen bei den Diensten sinnvoll dass es nicht redlich wäre, den Bürgerinnen und Bürgern
einzusetzen. Ich habe heute zufällig den bayerischen den Eindruck zu vermitteln, man könne hundertprozen-
Verfassungsschutzbericht in die Hände bekommen; tige Sicherheit garantieren, als auch in der Hinsicht, dass
beim Bund ist es nicht besser. Ich lese Ihnen vor, was im es nicht redlich wäre, so zu tun, als beschäftigten wir uns
bayerischen Verfassungsschutzbericht auf Seite – – mit dem Thema „Umgang mit den Herausforderungen
durch den internationalen Terrorismus“ erst seit vorges-
Präsident Dr. Norbert Lammert: tern oder seit drei Wochen. Da ist auch in der Verantwor-
Herr Stadler, das wird nur schwer gehen. tung der Vorgängerregierung unter Bundesinnenminis-
ter a. D. Otto Schily viel auf den Weg gebracht worden,
wobei es immer noch Verbesserungsmöglichkeiten, Op-
Dr. Max Stadler (FDP):
timierungsmöglichkeiten gibt.
Herr Präsident, dieses Zitat wird auch Sie erfreuen
(Beifall bei der SPD)
(Heiterkeit)
Dazu gehört das, was jetzt im Herbst in Form der
und Ihre Kenntnisse über die Arbeit der Geheimdienste
Evaluierung der Antiterrorismusgesetze ansteht. Dazu
erweitern.
gehört aber sicherlich auch, das umzusetzen, was nach
meinem Dafürhalten inhaltlich auch Konsens ist: näm-
Präsident Dr. Norbert Lammert: lich die Antiterrordatei. So sehr ich es begrüße, dass
Ich lasse mich einmal auf dieses Geschäft ein, Herr sich die Innenminister der Bundesländer damit sehr in-
Stadler. tensiv beschäftigt haben und auch viele Gemeinsamkei-
ten entdeckt haben, denke ich, dass wir hier im Parla-
Dr. Max Stadler (FDP): ment deutlich sagen sollten: Wir freuen uns über gute
Gestatten Sie, dass ich Ihnen aber doch noch mitteile, Anregungen, die von den Länderinnenministern kom-
was dort auf Seite 169 zu lesen ist. Über einen PDS-Par- men, aber Gesetzgeber sind wir als Parlamentarier schon
teitag heißt es: selber; dafür haben wir die Legitimation.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4467
Sebastian Edathy
(A) (Beifall bei der SPD) Generalverdacht zu überziehen. Ich bin zugleich froh (C)
darüber, dass die Notwendigkeit, im Bereich der Inte-
Wir haben auch den Anspruch, diesen Entwurf genau an- grationspolitik substanziell etwas zu verbessern, eben-
zuschauen, bevor wir ihn hier mit Mehrheit verabschie- falls unstrittig ist. Aber auch im Bereich der Integration
den, auch wenn mir das, was da entwickelt worden ist, gilt: Wir fangen nicht bei null an; wir müssen das Rad
durchaus plausibel und vernünftig zu sein scheint. Es ist nicht neu erfinden.
mir aber schon im Mai etwas sauer aufgestoßen, dass die
Innenministerkonferenz den Eindruck erweckt hat, sie Ich will in diesem Zusammenhang ein Beispiel nen-
sei es, die zuständig ist für das Staatsangehörigkeitsrecht nen, auf das ich heute aufmerksam wurde und das ich
oder für das Ausländerrecht insgesamt. Da haben wir sehr gut finde. Die Nachrichtenagenturen veröffentlich-
doch klare grundgesetzliche Regelungen, an die wir uns ten heute Mittag folgende Meldung: „40 Berliner Mo-
in einer Demokratie auch halten sollten. scheen erinnern an Terror-Opfer des 11. September“. Ich
darf daraus auszugsweise zitieren:
Die Sicherheitsarchitektur in Deutschland – das sollte
man bei der ganzen Debatte berücksichtigen – hat sich Rund 10.000 Berliner Muslime werden am Freitag
im Großen und Ganzen bewährt, einschließlich der zu Gebeten für die Opfer der Terroranschläge vom
grundsätzlichen Trennung zwischen polizeilichen und 11. September 2001 erwartet. Rund 40 Moscheen
militärischen Aufgaben. Auch wenn man den Eindruck wollen das Gedenken zum Thema ihrer Freitagspre-
hat, dass die Forderung nach einem bewaffneten Einsatz digten machen, wie der Senatsbeauftragte für Inte-
der Bundeswehr im Innern eine Art ceterum censeo gration … am Dienstag in Berlin ankündigte.
von Teilen der deutschen Innenpolitik des frühen Der Beauftragte
21. Jahrhunderts zu sein scheint, will ich hier doch deut-
lich sagen: Die Forderung nach bewaffneten Bundes- betonte, die Initiative zum „Gebet für Frieden und
wehreinsätzen im Innern wird nicht dadurch besser, dass gemeinsame Verantwortung“ komme von den mus-
man sie wiederholt; sie bleibt falsch. limischen Gemeinden. Er
(Beifall bei der SPD) – also der Integrationsbeauftragte des Landes Berlin –

Wir sind der Auffassung, dass die für Bundeswehrein- wertete sie als Meilenstein, der das gewachsene ge-
sätze in Deutschland geltenden grundgesetzlichen Vor- sellschaftspolitische Engagement der islamischen
gaben im Kern absolut ausreichend sind. In dem Zusam- Gemeinden zeige.
menhang möchte ich auf zwei Dinge hinweisen. Zum Ich sehe das genauso wie der Integrationsbeauftragte.
einen hat nicht zuletzt – bei aller Skepsis, die es im Vor-
(B) feld teilweise gegeben hat – die Fußballweltmeister- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (D)
schaft in Deutschland sehr eindrücklich unter Beweis Ich hoffe, der Kollege Pflüger, der heute nicht anwesend
gestellt, dass unsere Polizei sehr wohl und in hervorra- ist und der meint, das Thema Moscheebau zum Wahl-
gender Weise dazu in der Lage ist, auch mit schwierigen kampfthema machen zu müssen, wird das ähnlich sehen.
Situationen umzugehen. Zum anderen gehört es auch zur
Redlichkeit in der Debatte, sehr deutlich zu sagen, dass Wir können sehr stolz darauf sein, dass wir in diesem
es beim Thema „Umgang mit den Herausforderungen Land Religionsfreiheit, basierend auf einem gemeinsa-
durch den internationalen Terrorismus“ nicht so sehr auf men Wertefundament, haben. Ob ein Bürger dieses Lan-
die Muskeln in den Armen als auf die Muskeln zwischen des am Freitag in die Moschee, am Samstag in die Syna-
den Ohren ankommt. Die entscheidende Waffe ist mög- goge oder am Sonntag in die Kirche geht oder nichts von
lichst gute Informationserhebung und möglichst gute In- alledem macht, weil er Atheist ist, kann uns als Demo-
formationsvernetzung. Das heißt, neben der Polizei muss kraten relativ gleichgültig sein. Das unterliegt der per-
es nachrichtendienstliche Arbeit geben, die natürlich de- sönlichen Freiheit. Wenn ein gemeinsamer Wertekanon
mokratischer Kontrolle und Legitimation unterliegt. Es vorhanden ist – das gilt für die ganz überwiegende
kommt aber nicht so sehr auf das an – das ist der ent- Mehrheit der Muslime in Deutschland wie für die Chris-
scheidende Punkt –, was dann in Form von Manpower ten in Deutschland –, dann gibt es keine Probleme. Ich
zum Beispiel im direkten Sicherheitsbereich zu leisten glaube, dass die Entwicklung, die mit dem Integrations-
wäre. gipfel angeregt worden ist, auf etwas aufbauen kann,
was deutlich besser ist, als es gelegentlich in den öffent-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Zuge der Haus- lichen Diskussionen im Lande dargestellt wird.
haltsberatungen in den nächsten Wochen wird sehr ge-
nau darauf zu achten sein, dass von den Vorschlägen zur Der größte Ausgabenposten für den Bereich der Inte-
personellen und zur sächlichen Verbesserung der Aus- grationsmaßnahmen im Entwurf des Haushaltes des
stattung unserer Sicherheitsbehörden diejenigen, die nö- Bundesinnenministeriums sind die Sprach- und Inte-
tig sind, umgesetzt werden, und dass wir vor allen Din- grationskurse. Für das Jahr 2007 ist ebenso wie für das
gen den Bereich der Prävention, den Bereich der Jahr 2006 eine Summe von 141 Millionen Euro vorgese-
Vorbeugung stärken. hen. Der Minister hat darauf hingewiesen, dass es richtig
gewesen sei, die gleiche Summe anzusetzen, weil wir im
Lassen Sie mich mit Blick auf die Sicherheitsdebatte Parlament oder in den sonstigen zuständigen Gremien
sagen, dass ich sehr froh darüber bin, dass ganz bewusst noch nicht darüber entschieden hätten, wie die Integra-
und zu Recht parteiübergreifend davon Abstand genom- tionskurse, was ihre Qualität und Ausgestaltung betrifft,
men wurde, Bürger muslimischen Glaubens mit einem weiterentwickelt würden. Das stimmt. Aber wir haben
4468 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Sebastian Edathy
(A) unter anderem im Innenausschuss sehr lange, sehr inten- Präsident Dr. Norbert Lammert: (C)
siv und von einem breiten Konsens getragen über dieses Auch diesem Wunsch schließt sich das Präsidium
Thema geredet. Ich habe jetzt gehört, es solle aus dem an. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Frak-
Integrationsgipfel heraus eine Arbeitsgruppe geben, die tion Die Linke.
sich auch mit diesem Thema beschäftigt. (Beifall bei der LINKEN – Klaus Uwe Benneter
Eines muss doch klar sein: Auf die lange Bank wird [SPD]: Jetzt kommt die Sonne raus!)
man die notwendigen Veränderungen im Bereich der In-
tegrationskurse nicht schieben können. Wenn der Haus- Petra Pau (DIE LINKE):
haltsentwurf so bleibt, wie er jetzt eingebracht worden Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
ist, und im Haushaltsverfahren nicht nachgebessert wird, Wenn wir hier über Leitlinien der Innenpolitik reden,
hieße das logischerweise, es würde sich erst 2008 etwas dann dürfen wir einen wichtigen Pfad nicht aussparen:
ändern. Das wäre meiner Fraktion und mir deutlich zu den Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und
spät. Wir gehen davon aus, dass die notwendigen Verän- Antisemitismus.
derungen, zum Beispiel längere Kurse für bestimmte (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord-
Zielgruppen, eine bessere Ausdifferenzierung, eine Aus- neten der SPD)
weitung der Betreuung von Kindern muslimischer
Frauen, die an Kursen teilnehmen, eine Intensivierung Wir erleben gerade aktuell in den Wahlkämpfen in
der Arbeit mit Analphabeten und die Klärung der Vergü- Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern, wie rechts-
tung der Lehrenden, so zeitig geklärt werden, dass sie extremistische Kameraden zunehmend aggressiv und ge-
walttätig agieren. Aber es geht hier nicht nur um Wahl-
bereits für 2007 haushaltsrelevant werden. Ich bitte da-
kampf; es geht um den Alltag in Ost und West. Sie wis-
rum, im Haushaltsausschuss darüber zu reden, ob man
sen: Wir fragen seit Jahren Monat für Monat nach den
nicht vorsorglich für 2007 ein bisschen mehr Geld für Straf- und Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hin-
diesen Bereich einstellen sollte als gegenwärtig veran- tergrund. Allein der offizielle Befund ist alarmierend: Im
schlagt. Bundesdurchschnitt werden inzwischen stündlich drei
(Beifall bei der SPD) rechtsextrem motivierte Straftaten registriert und täglich
drei Gewalttaten.
Teurer wird es auf jeden Fall. Deshalb muss das ein Thema bleiben. Ich wünsche
Ich will noch etwas zum Ausdruck bringen, was ich mir, dass wir dazu, auch im Plenum des Bundestages,
eine konstruktive und ressortübergreifende Debatte zu
sehr löblich finde, weil es deutlich macht: Auch Bundes-
(B) regierungen sind lernende Systeme. Wir hatten im Zuge Strategien und nachhaltigem Widerstand gegen diese (D)
Entwicklung führen.
der Beratungen über den Bundeshaushalt 2006 sehr
lange darüber diskutiert, ob der Mittelansatz für die Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Silke
beit der Bundeszentrale für politische Bildung, der da- Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mals vorgesehen war, ausreichend ist. Ich bin froh da- NEN])
rüber, dass, nachdem wir im Zuge der Beratungen des Nun wurde in diesen Tagen wieder vorgeschlagen, die
Haushalts 2006 diesen Ansatz angehoben haben, genau NPD verbieten zu lassen. Ich halte das im Moment für
dieser erhöhte Ansatz auch zur Grundlage für das Jahr eine untaugliche Ersatzdebatte. Denn erstens wurde ge-
2007 gemacht worden ist. rade ein Verbotsverfahren blamabel in den Sand gesetzt
und zweitens reduzieren sich Rechtsextremismus und
Demokratie lebt davon, vermittelt zu werden. Das
Rassismus keineswegs nur auf Mitglieder dieser Partei
muss sich neben allen anderen Aspekten der inneren Si- oder den rechten Rand.
cherheit – ich glaube, dass die entscheidende Vorausset-
zung für innere Sicherheit in Deutschland eine stabile Ich will das an einem aktuellen Beispiel aus dem Ber-
Demokratie ist – auch im Haushalt des Innenministeri- liner Alltag illustrieren. In Pankow-Heinersdorf tobt der-
ums widerspiegeln. zeit ein Streit, ob eine seit 1924 hier in Berlin ansässige
muslimische Gemeinde dort eine Moschee bauen darf.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Der große Vor- Viele Bürgerinnen und Bürger sind verängstigt. Sie er-
teil – wahrscheinlich der einzige – daran, dass die SPD halten – gewollt oder ungewollt – Flankenschutz von der
nicht mehr den Innenminister stellt, ist, dass man als NPD und von rechtsextremen Kameradschaften. Und sie
SPD-Redner nicht Angst haben muss, dass für einen am erfahren großzügiges Verständnis von Teilen der Berli-
Ende keine Redezeit mehr übrig ist. Aber ich habe meine ner CDU. Ich finde das verantwortungslos. Natürlich
Redezeit ohnehin ausnahmsweise diesmal einhalten kön- muss man die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern
nen. ernst nehmen. Aber man darf sie nicht noch schüren und
schon gar nicht darf man Bestrebungen unterstützen,
(Heiterkeit) nach denen Pankow-Heinersdorf eine Enklave sei, wo
das Grundgesetz, das Toleranzgebot und die Religions-
Ich wünsche uns eine gute Beratung. freiheit nicht gelten.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Das ist keine alleinige Angelegenheit von Teilen der
bei Abgeordneten der FDP) Berliner CDU oder der Berliner Politik, sondern der
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4469
Petra Pau
(A) Bundespolitik. Schauen Sie nur einmal, welches Bild Ratspräsidentschaft und die G-8-Präsidentschaft an. (C)
von Muslimen und anderen Bevölkerungsgruppen all- Auch diese kosten Geld, nämlich 12,4 Millionen Euro.
täglich gezeichnet wird. Sie erscheinen viel zu oft syno-
nym für Gewalt und Terror. Damit werden Millionen Trotz der geringfügigen Steigerung kann man festhal-
Mitbürgerinnen und Mitbürger in eine gefährliche Sip- ten, dass der Haushalt des Einzelplans 06 von dem Drei-
penhaft genommen, für die es keinerlei Grund gibt. klang gekennzeichnet ist, der das Handeln der großen
Koalition prägt, nämlich: Sanieren, Investieren und Re-
Auch die gestern auf der Innenministerkonferenz be- formieren. Es bleibt in diesem Zusammenhang festzu-
schlossene Antiterrordatei droht ein weiterer Baustein halten, dass der Haushalt nach wie vor ein Sanierungs-
dafür zu werden. fall ist. Das ist die Realität.
(Klaus Uwe Benneter [SPD]: Das beschließen Wir kommen daher nicht um das Thema Haushalts-
wir hier!) konsolidierung herum. Diesem Thema werden wir uns
auch in den Beratungen zum Einzelplan 06 stellen müs-
Ich will jetzt nicht über die Datei an sich reden; dazu
sen. Denn eines bleibt richtig: Wir müssen es schaffen,
werden wir noch viel Zeit haben. Aber durch die Auf-
irgendwann einmal ohne Neuverschuldung auszukom-
nahme solcher Daten wie Religionszugehörigkeit wird
men. Ansonsten kann der Staat nicht handlungsfähig
eine große Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht
sein.
genommen. Ich finde, das schafft ein Klima, das für eine
weltoffene und tolerante Gesellschaft Gift ist. Deshalb Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich
ist die Linke prinzipiell dagegen. festhalten, dass in dem Haushalt des Einzelplans 06 ein
Nun noch ein abschließender Gedanke zum Geld; paar wichtige Aufgaben enthalten sind, die wir mit dem
denn wir führen ja hier eine Haushaltsdebatte. Ich kann nötigen Ernst zu betrachten haben. Über das Thema in-
namens der Linken im Bund und in den Ländern nur in- nere Sicherheit ist heute schon sehr intensiv beraten
ständig appellieren: Kürzen Sie nicht die Mittel, die für worden. Nach den gescheiterten Anschlagsversuchen
die Initiativen vor Ort nötig sind, die sich für Demokra- auf Regionalzüge der Deutschen Bahn in Koblenz und
tie und Toleranz engagieren! Schaffen wir gemeinsam Dortmund ist vielen bewusst geworden, dass auch wir
eine Lösung zur Förderung der Strukturprojekte gegen im Fadenkreuz des Terrorismus und der islamischen
Rechtsextremismus. Fundamentalisten stehen.

(Beifall bei der LINKEN) Die momentanen Sicherheitsanforderungen, die es


nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa gibt,
Denn wir brauchen sie wie das tägliche Brot. Gegen machen deutlich, dass es seit der Zeit des RAF-Terroris-
(B) Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus hilft mus in den 70er-Jahren eine solch große Gefahr nicht (D)
letztendlich nur eines: eine couragierte Zivilgesellschaft, mehr gegeben hat. Wir müssen daher dieser besonderen
die ihre Demokratie, ihre Bürgerrechte und damit ihr Situation Rechnung tragen. Noch ist in Deutschland
Grundgesetz verteidigt. nichts Dramatisches passiert. Aber die Anschläge in
Madrid und London zeigen, dass unsere Sicherheits-
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜND-
organe auf alle Bedrohungen vorbereitet sein müssen.
NIS 90/DIE GRÜNEN)
An dieser Stelle möchte ich Dank sagen. Unsere Si-
Präsident Dr. Norbert Lammert: cherheitsbehörden haben bislang Großartiges geleistet.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Michael Luther für Das Beispiel Fußball-WM ist heute schon erwähnt wor-
die CDU/CSU-Fraktion. den. Es ist nichts passiert; es lief alles glatt. Das geschah
aber nicht im Selbstlauf, sondern ist der guten Arbeit
insbesondere der Bundespolizei, des Bundeskriminalam-
Dr. Michael Luther (CDU/CSU): tes, des Verfassungsschutzes und aller anderen, die damit
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! befasst waren, zu verdanken. Ihnen allen noch einmal
Traditionsgemäß gab es anlässlich der Einbringung des recht herzlichen Dank.
Haushalts eine sehr interessante Debatte der Fachpoliti-
ker über die Ziele der Innenpolitik in Deutschland. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
bin Haushälter und erlaube mir daher an dieser Stelle,
Wir Haushälter haben die Aufgabe, unseren Sicher-
ein paar Punkte aus dieser Sicht beizutragen.
heitsbehörden die Mittel zur Verfügung zu stellen, die
Der Gesamtetat des Einzelplans 06 umfasst sie für ihre Arbeit brauchen. Grundsätzlich gilt aber das
4,4 Milliarden Euro. Das sind 80 Millionen Euro mehr Prinzip Haushaltsdisziplin. Wir werden also mit dem
als im Jahr 2006 und entspricht einer Steigerung von Geld auskommen müssen, das uns zur Verfügung steht.
1,8 Prozent. Davon profitieren zum Beispiel das Statisti- Ich sage aber an dieser Stelle zu, dass wir prüfen werden,
sche Bundesamt, das Bundesamt für Bevölkerungs- inwieweit den Anforderungen, die von den Sicherheits-
schutz und Katastrophenhilfe sowie das THW. Ich finde, behörden an uns herangetragen werden, durch Um-
das ist gut so. schichtungen im Bundeshaushalt entsprochen werden
kann.
Wir müssen aber auch sehen, dass es zum Beispiel ei-
nen Aufwuchs um 14,7 Millionen Euro bei den Versor- Noch eine Bemerkung zur Arbeit der Bundespolizei,
gungsaufwendungen gibt, die jetzt in den Einzelplänen des BKA, des Bundesamtes für Sicherheit in der Infor-
etatisiert sind. Nächstes Jahr stehen außerdem die EU- mationstechnik, des Bundesnachrichtendienstes und
4470 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Dr. Michael Luther


(A) ganz besonders des Verfassungsschutzes. Koblenz und wir uns mit diesem Thema befassen müssen. Das als Be- (C)
Dortmund haben gezeigt, wie sehr wir auf unsere Si- merkung dazu.
cherheitsbehörden angewiesen sind. Ich habe manch-
mal den Eindruck, dass der eine oder andere in diesem (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Hohen Haus die besondere Arbeit der Geheimdienste auf Wir werden – das will ich an dieser Stelle mit aller
diesem Gebiet infrage stellt. Ich sage ganz klar: Gehen Ernsthaftigkeit sagen – das Thema Haushaltskonsolidie-
wir mit diesen Behörden pfleglich um! rung in den Beratungen ernst nehmen. Wir müssen die
(Beifall bei der CDU/CSU) Behördenstrukturen überprüfen. Wir müssen überlegen,
ob Effizienzgewinne erzielt werden können. Wir müssen
Mir liegt ein anderes wichtiges Thema am Herzen, überprüfen, ob alle vorgesehenen Baumaßnahmen, An-
nämlich der BOS-Digitalfunk. Wir sind uns einig, dass schaffungen usw. notwendig sind. Ich will damit signali-
der Aufbau dieses digitalen Sprechfunks, den wir im Ge- sieren, dass wir Haushälter unsere Arbeit in den nächs-
gensatz zu vielen anderen europäischen Staaten noch ten Wochen sehr ernst nehmen werden. In diesem Sinne
nicht haben, notwendig ist. hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit, auch mit dem
Ministerium. Ich hoffe, dass wir zu einem guten Ergeb-
Es ist ein Erfolg – Dank sei der großen Koalition –,
nis kommen. Lassen Sie uns in diesem Sinne froh ans
dass zwischen dem Bund und den Ländern in diesem
Werk gehen!
Jahr ein Vertrag über die Errichtung der Bundesanstalt
für Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit Si- Danke schön.
cherheitsaufgaben abgeschlossen werden konnte. Damit
ist die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
sichert. Mittlerweile wurde zudem mit der EADS ein
Vertrag über die Systemtechnik abgeschlossen. Auch das Präsident Dr. Norbert Lammert:
ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Ingangsetzung Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik
des BOS-Digitalfunks. Reichel für die SPD-Fraktion.
Leider steht der dritte notwendige Teil noch infrage.
Aus sicherheitspolitischen Gründen gibt es die Überle- Maik Reichel (SPD):
gung, die Bahninfrastruktur zu nutzen. Verhandlungs- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
partner wäre demzufolge die DB AG. Ich habe aber den Kollegen! In wohl jedem Beitrag des heutigen Abends
Eindruck, dass sich die DB Telematik in einer Monopol- wurde das Ereignis vom 31. Juli dieses Jahres, die bei-
stellung sieht und daher versucht, Preise durchzusetzen, den Kofferbomben in deutschen Regionalbahnen, ange-
(B) die wir nicht akzeptieren können. sprochen. Wir haben sehr vielfältig über die neu zu be- (D)
(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr wahr!) wertende Sicherheitslage diskutiert. Auch in der
Sommerpause hat man dazu sehr viel hören, lesen und
Momentan liegen unsere Vorstellungen – die kalkulier- sehen können.
ten Zahlen stehen im Haushaltsentwurf – und das Ange-
bot der DB Telematik weit auseinander. Als Haushälter Wenn wir die Chronologie der Ereignisse seitdem be-
will ich an dieser Stelle ganz klar sagen: So geht das trachten, ziehe ich einen anderen Schluss als Sie, liebe
nicht. Was bedeutet das in der Konsequenz? – Wenn es Frau Kollegin Stokar: Es hat nicht zu lange gedauert, bis
zu keiner vernünftigen Lösung kommt, dann müssen wir wir die Verdächtigen hatten. Einen Verdächtigen konn-
nach Alternativen suchen. ten wir nach knapp drei Wochen fassen und den zweiten
wenige Tage später. Ich denke, das ist das Ergebnis einer
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. guten, ja hervorragenden Arbeit des Bundeskriminalam-
Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE tes. Dieser Fahndungserfolg zeigt natürlich auch, dass
GRÜNEN]) wir für die weitere Arbeit gut aufgestellt sind.
Ich bin aber zuversichtlich, dass wir mit der Bahn eine (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
einvernehmliche Lösung finden werden; zumindest GRÜNEN]: Es geht um die Verhinderung,
hoffe ich es. Herr Kollege!)
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Sicherlich sind wir nicht in allen Bereichen so gut aufge-
GRÜNEN]: Das ist ein ganz mieser Deal!) stellt. Trotzdem sage ich: Recht herzlichen Dank für die
Lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Integra- gute Arbeit!
tion sagen. Integration ist ein wichtiges Anliegen der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Das Erlernen der Spra- der CDU/CSU)
che ist eine Voraussetzung für Integration. Für Integra-
tionskurse im Jahr 2007 sind wieder rund 140 Millionen Die längst noch nicht abgeschlossene Auswertung der
Euro vorgesehen. Das Jahr 2006 zeigt, dass diese gewonnenen Erkenntnisse wird hoffentlich Aufschluss
Summe ausreichen kann. Ich weiß, dass der Integrations- über die genauen Hintergründe und Motive bringen. Die
gipfel dieses Thema aufgegriffen hat und bisher zu kei- Spekulationen, die seitdem auftauchen, bleiben solche,
ner abschließenden Bewertung gekommen ist. Wir wis- solange wir nicht Tiefgründigeres darüber wissen. Wir
sen noch nicht, welche Implikationen aus diesem Gipfel wollen die Ereignisse – das haben einige festgestellt –
resultieren werden. In den Haushaltsberatungen werden weder verharmlosen noch dramatisieren. Beides wäre si-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4471
Maik Reichel
(A) cher nicht angebracht. Viele haben von Glück gespro- können, die mit der Bahn transportiert werden, dann sind (C)
chen. Wir hatten Glück. Aber dies allein reicht nicht aus. wir dafür alle sehr dankbar.
Der Haushalt, über den wir heute in erster Lesung (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
sprechen, hat sich der veränderten Sicherheitslage ange- GRÜNEN]: Dann schicken wir das Paket mit
passt. Es liegt nun an uns, ihn weiter mit- und auszuge- dem Schiff!)
stalten. Ich sage dies vor allen Dingen auch im Hinblick
– darüber haben wir heute mehrfach gesprochen – auf Ich glaube, es gibt gewisse Grenzen. Darüber werden
die geplante Antiterrordatei und die Intensivierung der wir sprechen müssen. Wir sind für jeden Vorschlag
im Falle der Kofferbomben doch aufschlussreichen Vi- dankbar.
deoüberwachung. Lassen Sie mich noch einige Worte zur Fußball-WM
Wenn wir uns einmal die Niederschrift der gestrigen sagen. Vor einem Jahr – so lange gehöre ich dem Bun-
Innenministerkonferenz anschauen, dann sehen wir, destag an – haben wir begonnen, sehr intensiv darüber
dass sie sich auf die Einführung einer gemeinsamen Datei zu diskutieren. Wir haben im Plenum, im Innenaus-
des Bundes und der Länder geeinigt hat – ich zitiere –, „in schuss und außerparlamentarisch über die Sicherheits-
der Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden zu relevanten vorkehrungen, auch unter Einbeziehung der Bundes-
Personen und Objekten gespeichert werden.“ Schauen wehr, diskutiert. Wir haben dann vier Wochen lang
wir uns noch einmal genau an, was dort alles drinsteht erlebt – hier in Berlin, an anderen Spielorten und auch
– ein Punkt, die Religionszugehörigkeit, ist bereits ange- ich in meinem Wahlkreis, benachbart unserer Sportstadt
sprochen worden –: Erfasst werden Grunddaten zur Per- Leipzig –, was dort alles passiert oder eben nicht passiert
son, die Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen, ist.
Waffenbesitz, Telekommunikations- und Internetdaten,
Bankverbindungen und Schließfächer, die Schul- und (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE
Berufsausbildung, Arbeitsstellen, sogar der Familien- GRÜNEN]: Geschossen wurde nur aufs Tor!)
stand, der Verlust von Ausweispapieren, Reisebewegun- In den Gesprächen mit der Polizei vor Ort, speziell
gen und bekannte Aufenthalte an Orten mit terroristi- vor den WM-Spielen in Leipzig, konnte ich die gute
schem Hintergrund, zum Beispiel Ausbildungslager. Vorbereitung erfahren, die sich dann auch während der
Darüber werden wir in diesem Hause sprechen, im In- Weltmeisterschaft bewährt hat. Ich denke, viele von Ih-
nenausschuss, im Plenum und auch an anderer Stelle. In nen teilen meine Erfahrung. „Die Welt zu Gast bei
der Debatte zum Ressort Justiz wurde dies bereits ange- Freunden“ war eben nicht nur der auf Plakate gebannte
Slogan der WM, sondern gelebte und erlebte sportliche
(B) deutet. Ich denke, dass wir uns strikt auf grundgesetzli- und kulturelle Freude. Die zuständigen Sicherheitsbe- (D)
cher Basis bewegen werden; keiner von uns hier wird
dies bestreiten wollen. hörden haben hervorragende Arbeit geleistet, allen voran
die Polizei, der mancher im Vorfeld der WM eine solche
Die Auswirkungen der gestrigen Innenministerkonfe- Leistung nicht zugetraut hat. Aber sie hat ihre Fähigkei-
renz werden auch in weiteren Beratungen im Haushalt ten bewiesen.
2007 und darüber hinaus Beachtung finden.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Ich kann nicht feststellen, dass die Nachrichtendienste NEN]: Haben Sie denn die Bundeswehr ver-
komplett aus den Fugen geraten sind. Wenn es so wäre, misst?)
hätten wir in dem einen oder anderen Fall doch nicht sol-
che Erfolge erzielt. Wir wünschen uns mehr. Aber dazu Auch wenn die WM weitgehend ohne große Kompli-
gehört neben finanziell und personell verbesserter Aus- kationen verlief, legen wir die Hände sicherheitspoli-
stattung natürlich auch, dass wir dies hier nicht nur bera- tisch jetzt natürlich nicht in den Schoß. Aber auch einer
ten, sondern auch in den Haushalt einstellen. Der Haus- übertriebenen Hektik sollten wir nicht verfallen.
halt trägt dem bereits Rechnung. Mein Kollege Fritz Herr Kollege Wieland – jetzt kommt es; Sie wollten
Rudolf Körper hat es vorhin genannt. Allein die Stellen es hören –, das sage ich vor allen Dingen im Hinblick
im Sicherheitsbereich zeigen das. Ich mache es nicht in auf eventuell wieder aufkommende Diskussionen über
Prozenten fest, sondern in absoluten Zahlen: Die Zahl mögliche Änderungen des Grundgesetzes, was Einsätze
der Stellen im Bereich des Bundeskriminalamtes und der der Bundeswehr im Innern betrifft. Ich denke, Art. 35
Bundespolizei stieg von 42 889 im Jahr 1998 über und Art. 87 a des Grundgesetzes reichen aus: Die Bun-
44 722 im Jahr 2002 auf nunmehr 45 588 im kommen- deswehr kann im Rahmen von Maßnahmen zur Hilfe-
den Jahr. Die Kosten sind im Haushalt entsprechend ein- leistung und im Katastrophenfall zum Einsatz kommen.
gestellt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Bei allem, was wir tun, wissen wir natürlich – auch DIE GRÜNEN)
das ist angesprochen worden –, dass es keine allumfas-
sende, keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Eine To- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten gemein-
talüberwachung, liebe Kollegin Piltz, stelle ich mir sam konstruktiv über die innere Sicherheit in Deutsch-
schwierig vor. Im Flugzeug bzw. auf dem Flughafen ist land diskutieren. Dazu ist in den Haushaltsberatungen
das etwas anderes als auf dem Bahnhof. Wenn es Vor- und danach noch sehr viel Zeit. Deshalb schenke ich Ih-
schläge Ihrerseits gibt, was wir mit den Paketen machen nen bzw. uns die letzte Minute meiner Redezeit. Wir
4472 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

Maik Reichel
(A) sollten unsere Kraft für die Sicherheit in Deutschland (Heiterkeit – Fritz Rudolf Körper [SPD]: Es (C)
einsetzen. war ja alles gesagt!)

Herr Kollege Wieland, vielen Dank. Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) destages auf Mittwoch, den 6. September 2006, 9 Uhr,
ein. Um Missverständnisse auszuschließen: Das ist mor-
gen früh.
Präsident Dr. Norbert Lammert:
Das Präsidium bedankt sich insbesondere für die Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.
großzügig geschenkte letzte Minute. Das ist ein seltener Die Sitzung ist geschlossen.
Vorgang, der Ihnen für künftige Auftritte besondere
Sympathien sichert. (Schluss: 18.31 Uhr)

Berichtigungen
42. Sitzung, Seite 3907 (C) zweiter Absatz, der dritte
Satz ist wie folgt zu lesen: „Das Zuteilungsgesetz für die
Handelsperiode 2005 bis 2007 hatte das Ziel, den Aus-
stoß in der zweiten Periode 2008–2012 um 10 Millionen
Tonnen zu reduzieren.“
Seite 3908 (A) erster Absatz, der erste Satz ist wie
folgt zu lesen: „Wir haben eine Vielzahl von Ausnahme-
regelungen abgeschafft: die Optionsregel, die uns im ers-
ten Allokationsplan große Probleme bereitet hat, ebenso
(B) wie die Early-Action-Regel.“ (D)
Seite 3914 (B) erster Absatz, der dritte Satz ist wie
folgt zu lesen: „Wenn das Europäische Gericht erster In-
stanz zugunsten der Bundesrepublik Deutschland ent-
scheiden sollte, müssten wir eine neue Entscheidung prü-
fen.“
43. Sitzung, Seite 4125, die Fußnoten 2) und 3) sind
zu streichen.
43. Sitzung, Seite 4227 (B), die abgedruckte Rede von
Christian Lange (Backnang) (SPD) ist durch die Rede
von Gabriele Fograscher (SPD) zu ersetzen (Anlage 3).
44. Sitzung, Seite V und 4363, in die Anlage 16 ist der
Name „Ernst Kranz“ einzufügen.
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4473

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2
Liste der entschuldigten Abgeordneten Nachträglich abgedruckte
Liste der entschuldigten Abgeordneten
(44. Sitzung)
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
entschuldigt bis
Abgeordnete(r) einschließlich
Adam, Ulrich CDU/CSU 05.09.2006*
Bär, Dorothee CDU/CSU 30.06.2006
Bär, Dorothee CDU/CSU 05.09.2006
Bodewig, Kurt SPD 30.06.2006
Bätzing, Sabine SPD 05.09.2006
Bollen, Clemens SPD 30.06.2006
Bellmann, Veronika CDU/CSU 05.09.2006
Fischer (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 30.06.2006
Joseph DIE GRÜNEN
Bodewig, Kurt SPD 05.09.2006*
Fricke, Otto FDP 30.06.2006
Brase, Willi SPD 05.09.2006
Hilsberg, Stephan SPD 30.06.2006
Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 05.09.2006 Lopez, Helga SPD 30.06.2006

Hilsberg, Stephan SPD 05.09.2006 Niebel, Dirk FDP 30.06.2006

Dr. Hofreiter, Anton BÜNDNIS 90/ 05.09.2006 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ 30.06.2006
DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN
(B) (D)
Strothmann, Lena CDU/CSU 30.06.2006
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 05.09.2006
DIE GRÜNEN
Anlage 3
Kühn-Mengel, Helga SPD 05.09.2006
Zu Protokoll gegebene Rede
Kunert, Katrin DIE LINKE 05.09.2006
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuregelung des Versicherungsvermittlerrechts
Lafontaine, Oskar DIE LINKE 05.09.2006
(43. Sitzung, Tagesordnungspunkt 28)
Liebing, Ingbert CDU/CSU 05.09.2006*
Gabriele Fograscher (SPD): Die Bundesregierung
hat am 22. Juni 2005 den Entwurf eines Gesetzes zur Re-
Meckel, Markus SPD 05.09.2006 form des Personenstandsrechts – Personenstandsrechts-
reformgesetz – PStRG – beschlossen. Der Gesetzentwurf
Polenz, Ruprecht CDU/CSU 05.09.2006 sieht die Ablösung des geltenden Personenstandsgeset-
zes durch ein neues Personenstandsgesetz und die damit
Thönnes, Franz SPD 05.09.2006* zusammenhängenden Änderungen sonstigen Bundes-
rechts vor. Schwerpunkte der Reform sind, die Einfüh-
rung elektronischer Personenstandsregister anstelle der
Wächter, Gerhard CDU/CSU 05.09.2006 bisherigen papiergebundenen Personenstandsbücher, die
Begrenzung der Fortführung der Personenstandsregister
Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 05.09.2006 durch das Standesamt sowie die Abgabe der Register an
Margareta DIE GRÜNEN die Archive, die Ersetzung des Familienbuchs durch Be-
urkundungen in den Personenstandsregistern, die Redu-
Zapf, Uta SPD 05.09.2006 zierung der Beurkundungsdaten auf das für die Doku-
mentation des Personenstandes erforderliche Maß, die
Neuordnung der Benutzung der Personenstandsbücher
* für die Teilnahme an der 15. Jahrestagung der Ostseeparlamenta- sowie die Schaffung einer rechtlichen Grundlage für
rierkonferenz eine Testamentsdatei.
4474 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006

(A) Der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zu diesem Anlage 4 (C)


Gesetzentwurf überwiegend fachliche und klarstellende
Nachträglich zu Protokoll gegebene Rede
Vorschläge gemacht, die zum großen Teil die Zustim-
mung der Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung fan- zur Beratung
den.
– Antrag: Selbstbestimmtes Leben in Würde
Ein Bereich, der sicherlich in den anstehenden Aus- ermöglichen – Transsexuellenrecht umfas-
schussberatungen eine Rolle spielen wird, ist die Forde- send reformieren
rung Bayerns, Lebenspartnerschaften nicht vor dem – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Standesamt sondern zum Beispiel vor einem Notar Passgesetzes
schließen zu lassen. Diese so genannte Länderöffnungs-
klausel lehnt somit eine Vereinheitlichung der bisher un- (43. Sitzung, Tagesordnungspunkt 25 und Zu-
terschiedlichen landesrechtlichen Zuständigkeiten ab. satztagesordnungspunkt 10)
Deshalb können nur bundeseinheitliche Beurkundungs-
regelungen von eingetragenen Lebenspartnerschaften Gert Winkelmeier (fraktionslos): Wir sprechen heute
das Ziel der Reform sein. Die Bundesregierung stimmt über die Notwendigkeit einer schnellen Reform des
diesem Vorschlag in ihrer Gegenäußerung zu. Transsexuellengesetzes in der Fassung von 1981. Das
Bundesverfassungsgericht stellte am 6. Dezember 2005
Zu Bedenken hierbei bleibt aber, dass der Bundesver- unmissverständlich fest: „Die dem Transsexuellengesetz
band der Rentenversicherungsträger Einwände erhebt. zugrunde liegenden Annahmen über die Transsexualität
Die eingetragene Lebenspartnerschaft wurde in die Hin- haben sich inzwischen in wesentlichen Punkten als wis-
terbliebenenversorgung der gesetzlichen Rentenversi- senschaftlich nicht mehr haltbar erwiesen.“ Damit er-
cherung einbezogen. Voraussetzung für diesen Anspruch kennt das Bundesverfassungsgericht die Realität der hier
ist das Bestehen der Lebenspartnerschaft zum Zeitpunkt lebenden Transsexuellen an, die sich teilweise auch in
des Todes. Da es, so die Rentenversicherungsträger, bis- Transgender-Netzwerken zusammengeschlossen haben.
lang sowohl an einer einheitlichen Zuständigkeit für die
Begründung der eingetragenen Lebenspartnerschaft als Unsere Gesellschaft ist im Alltag von klaren Ge-
auch an einheitlichen Meldepflichten der Familienge- schlechterrollen und Geschlechtermerkmalen geprägt.
richte und Standesämter fehle, sei ein Nachweis des Be- Transsexuelle sind Menschen, deren Besonderheit darin
stehens der Lebenspartnerschaft für den überlebenden liegt, dass sie zwar rein körperlich dem einen Ge-
Lebenspartner oftmals sehr schwierig. Durch die Be- schlecht, vom Empfinden her jedoch dem jeweils ande-
gründung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft vor ren Geschlecht angehören. Anders ausgedrückt: Transse-
(B) dem Standesamt würde sich die Beweisführung erleich- xuelle, das sind Frauen, die sich als Mann, und Männer, (D)
tern. die sich als Frau fühlen. Die Besonderheit von Transse-
xuellen besteht darin, dass sie zwar rein körperlich dem
Über diesen Punkt wird in den anstehenden Beratun- einen Geschlecht, bewußtseinsmäßig jedoch dem jeweils
gen zu reden sein. Ich rege auch Gespräche mit den ent- anderen Geschlecht angehören. Sie sind anders, sie ent-
sprechend betroffenen Verbänden an. Diese Länderöff- sprechen nicht den in den Gesetzen vorgegebenen Ge-
nungsklausel sollte eingehend geprüft werden. schlechterrollen. Ihnen gegenüber gibt es auch heute
noch sehr starke Vorurteile, die aus Unwissenheit und
Ein weiterer Punkt, der uns in den Beratungen zu die- vor allem aus Intoleranz resultieren. Bei den Betroffenen
sem Gesetz beschäftigen wird, ist die Umstellung auf führt das meist zu sehr schweren persönlichen Konflik-
elektronische Register in einem Pilotprojekt. ten und kann auch Auswirkungen auf alle Lebensberei-
che haben, bis hin zu gesundheitlichen Problemen. Da-
Es gibt viele fachliche Gründe für die Erprobung der
bei wollen Transsexuelle keinen Sonderstatus sondern
elektronischen Register in einem Pilotprojekt in einem
respektierter Bestandteil unserer Gesellschaft sein. Und
Bundesland. Das darf aber nicht dazu führen, dass die
sie möchten wie alle anderen selbstbestimmt leben. In
dringend notwendige bundesweite Einführung der elek-
diesem Sinne werde ich auch dem Antrag der Fraktion
tronischen Register auf unbestimmte Zeit verschoben
Bündnis 90/Die Grünen zustimmen.
wird. Deshalb stimme ich der Bundesregierung zu, die in
ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bundesra- Es geht darum, das Transsexuellenrecht zu reformie-
tes erklärt hat, dass man im Rahmen dieses Gesetzes ren und die Erkenntnisse der Sexualwissenschaft der
eine zweijährige Erprobung der Machbarkeit und Wirt- heutigen Zeit dort einfließen zu lassen. Transsexuelle ha-
schaftlichkeit der elektronischen Register einrichten ben das Recht, den Vornamen des anderen Geschlechtes
kann, die bundesweite Einführung aber nicht verschoben anzunehmen. Es ist nicht hinzunehmen, dass sie dafür,
wird. außer ihrem eigenen Willen, auch noch eine gutachterli-
che Prognose und noch eine Karenzzeit von drei Jahren
Alles in allem liegt hier ein Gesetzentwurf vor, der benötigen.
die Führung von Personenstandsdaten erleichtert und so-
wohl für die Behörden als auch für die Bürgerinnen und Geltendes Recht ist derzeit auch noch, dass Transse-
Bürger zum Abbau von Bürokratie führt. xuelle ihren personenstandsrechtlichen Status ändern
können. Voraussetzung dafür ist aber ein geschlechtsver-
Über die von mir angesprochenen Punkte wird noch ändernder operativer Eingriff, der sie dauerhaft fort-
in den Ausschussberatungen zu reden sein. pflanzungsunfähig machen muss. Die Betroffenen dür-
Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 45. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 5. September 2006 4475

(A) fen zudem auch nicht verheiratet sein. Gegebenenfalls troffenen sollte hier sehr schnell ein vernünftiges und der (C)
müssen sie sich scheiden lassen. Das ist der momentane Realität entsprechendes Gesetz vorgelegt werden.
Ist-Zustand. Zum Glück hat das Bundesverfassungsge-
richt festgestellt, dass diese Voraussetzungen in der heu-
tigen Zeit unhaltbar sind. Der operative Eingriff bezüg- Anlage 5
lich des äußeren Erscheinungsbildes und die Herstellung Erklärung
der Fortpflanzungsunfähigkeit dürfen nicht mehr in das
neue Transsexuellenrecht einfließen. der Abgeordneten Garrelt Duin (SPD) zur na-
mentlichen Abstimmung über den Änderungs-
Transsexuelle haben derzeit auch Probleme in ihrer antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
Reisefreiheit. Im Zusammenhang mit der Einführung ei- GRÜNEN zum Einzelplan 06 – Bundesministe-
nes maschinenlesbaren Reisepasses muss im Pass ein rium des Innern (40. Sitzung, Tagesordnungs-
Geschlechtsvermerk stehen. Transsexuelle kommen mit punkt 1)
ihrem äußeren Erscheinungsbild und einem anders sexua-
lisierten Vornamen in Widerspruch zu dem, was in ihrem In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt.
maschinenlesbaren Reisepass steht. Daraus resultieren Mein Votum lautet „Nein“.
enorme Schwierigkeiten, wenn sie sich zum Beispiel bei
der Einreise in ein anderes Land in einer fremden Spra-
che über einen so intimen Sachverhalt wie die Transse- Anlage 6
xualität verständigen müssen. Dazu können auch noch Erklärung
nicht vorhandene Toleranz und Vorurteile seitens der
Grenzbehörden kommen. Bis zum 31. Dezember 2005 des Abgeordneten Ernst Kranz (SPD) zur na-
konnten sich die Betroffenen mit einem nichtmaschinen- mentlichen Abstimmung über den Änderungs-
lesbaren Reisepass behelfen. Diese Möglichkeit ist aber antrag der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
seit einem halben Jahr ausgelaufen, weil diese Reise- GRÜNEN auf Drucksache 16/2065 über den
pässe nicht mehr ausgestellt werden dürfen. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes (Art. 22, 23, 33, 52, 72, 73, 74,
Auch dies ist ein Grund, warum die Bundesregierung 74 a, 75, 84, 85, 87 c, 91 a, 91 b, 93, 98, 104 a,
noch in diesem Jahr einen Gesetzesentwurf zur Refor- 105, 107, 109, 125 a, 125 b, 125 c, 143 c) (44. Sit-
mierung des Transsexuellenrechts vorlegen muss. Das zung, Tagesordnungspunkt 29 a)
Problem ist bekannt. Bisher redet sich die Bundesregie-
(B) rung damit heraus, dass sie dieses Gesetz zeitnah vorle- In der Ergebnisliste ist mein Name nicht aufgeführt. (D)
gen will. Was aber heißt zeitnah? Im Interesse der Be- Mein Votum lautet „Nein“.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44
ISSN 0722-7980

Das könnte Ihnen auch gefallen