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Deutscher Bundestag

72. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Inhalt

Glückwünsche zu den Geburtstagen Dasch (CDU/CSU) 3975 B, 3976 C


der Abg. Schwabe, Lenze (Attendorn) und
von Bockelberg (CDU/CSU) 3975 C
Richarts 3973 A
Dr. Dollinger (CDU/CSU) 3975 C
Erweiterung der Tagesordnung 3973 B Fellermaier (SPD) 3975 D
Niegel (CDU/CSU) 3976 C
Amtliche Mitteilungen 3973 B
Pieroth (CDU/CSU) 3976 D
Aufnahme der Abg. Dr. Mende und Dr.
Starke (Franken) in die Fraktion der Fragen der Abg. Breidbach, Werner und
CDU/CSU 3973 C Roser:
Kommuniqué über die Sitzung des SPD-
Aufnahme des Abg. Zoglmann als Gast in Parteivorstands vom 12. Oktober 1970
die Fraktion der CDU/CSU 3973 C Dr. Ehmke, Bundesminister 3977 A, C, D,
3978 A, C, D, 3979 A, B, C, D,
Fragestunde (Drucksachen VI/1253, VI/1274) 3980 A, B, D, 3981 B, C, D,
3982 A, B, C, D, 3983 A, B, C, D,
Fragen der Abg. Dr. Pohle und Dr. Mül- 3984 A, C, D, 3985 A, B, C, D,
ler-Hermann:
3986 A, B, C
Schuldscheindarlehen der Bundesbahn Breidbach (CDU/CSU) 3977 C, D, 3982 A
und Bundespost
Benda (CDU/CSU) 3977 D, 3981 D
Börner, Parlamentarischer
Staatssekretär 3973 D, 3974 A, B, C, D, Dr. Apel (SPD) 3978 C, 3985 A
3975 A, B, C, D, 3976 A, B, C, D Dr. Wörner (CDU/CSU) 3978 D, 3984 A
Dr. Pohle (CDU/CSU) 3974 A, B Reddemann (CDU/CSU) 3979 A
Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) 3974 C, Borm (FDP) 3979 B
3976 B
Dr. Schulze-Vorberg (CDU/CSU) 3979 C,
Dr. Arndt (Berlin) (SPD) 3974 C 3984 D
Dr. Apel (SPD) 3974 D Dr. Miltner (CDU/CSU) 3979 D
Höcherl (CDU/CSU) 3975 A Zoglmann ( CDU/CSU-Gast) 3980 A
Dr. von Bismarck (CDU/CSU) 3975 A Fellermaier (SPD) 3980 B, 3985 B
Ott (CDU/CSU) 3975 B Dr. Schäfer ( Tübingen) (SPD) 3980 C
II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Wohlrabe (CDU/CSU) 3980 D Sammelübersicht 10 des Petitionsausschus--


Dr. Arndt (Berlin) (SPD) 3981 A ses über Anträge von Ausschüssen des
Bundestages zu Petitionen (Drucksache
Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) 3981 B VI/1220) 4001 A
Jung (FDP) 3981 C
Wienand (SPD) 3981 C Entwurf eines ... Gesetzes zur Ä nderung
des Grundgesetzes (Art. 74 GG — Tier-
Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) 3982 B schutz) (Drucksache VI/1010) — Erste Be-
Dr. Ritz (CDU/CSU) 3982 C ratung —
Niegel (CDU/CSU) 3982 D Rollmann (CDU/CSU) 4001 B
Dr. Jobst (CDU/CSU) 3983 A Liedtke (SPD) 4001 C
Zander (SPD) 3983 A Kleinert (FDP) 4002 A
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) 3983 B
Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) 3983 B, C Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Ände-
rung des Krankenpflegegesetzes (Bundes-
Dasch (CDU/CSU) 3983 D rat) (Drucksache VI/1165) — Erste Bera-
Schmidt (Kempten) (FDP) 3983 D tung — 4002 C
Rösing (CDU/CSU) 3984 B
Entwurf eines Gesetzes zur Ä nderung der
Dr. Geßner (SPD) 3984 C
Zivilprozeßordnung (Bundesrat) (Druck-
Pawelczyk (SPD) 3984 C sache VI/1167) — Erste Beratung — 4002 C
Horn (SPD) 3985 C
Weigl (CDU/CSU) 3985 C Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 8. Oktober 1969 zwischen der Regie-
Dorn (FDP) 3985 D rung der Bundesrepublik Deutschland und
Link (CDU/CSU) 3985 D der Regierung des Spanischen Staates
über die Erstattung der Aufwendungen
Roser (CDU/CSU) 3986 B, C für Sachleistungen der spanischen Trä-
Zoglmann (CDU/CSU-Gast) (persön ger, welche an die Familienangehörigen
liche Bemerkung nach § 35 GO) 3986 D der Versicherten deutscher Krankenkas-
(FDP) (persön sen und die Bezieher deutscher Renten,
Schmidt (Kempten)
liche Bemerkung nach § 35 .GO) 3987 A, B, C die im Hoheitsgebiet des Spanischen
Staates wohnen, gewährt werden (Druck-
sache VI/ 1168) — Erste Beratung — 4002 C
Aktuelle Stunde
Benda (CDU/CSU) 3988 A, 4000 C Entwurf eines Gesetzes über die Erhebung
3989 C einer besonderen Ausgleichsabgabe auf
Dr. Ehmke, Bundesminister
eingeführten Branntwein (Drucksache
Dr. Barzel (CDU/CSU) 3989 D VI/ 1222) — Erste Beratung — 4002 D
Dr. Apel (SPD) 3990 B
Entwurf eines Gesetzes zu dem Protokoll
Breidbach (CDU/CSU) 3990 D
vom 27. August 1963 zur Änderung des
Borm (FDP) 3991 C Abkommens vom 7. August 1958 zwi-
Brandt, Bundeskanzler 3992 B schen der Bundesrepublik Deutschland
und der Islamischen Republik Pakistan
Dr. Wörner (CDU/CSU) 3993 B zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) 3994 A und zur Verhinderung der Steuerverkür-
zung bei den Steuern vom Einkommen
Katzer (CDU/CSU) 3994 D
sowie zu dem Ergänzungsabkommen vom
Jung (FDP) 3995 A 24. Januar 1970 zwischen der Bundes-
Stücklen (CDU/CSU) 3995 D republik Deutschland und der Islamischen
Republik Pakistan zur Vermeidung der
Zander (SPD) 3997 A Doppelbesteuerung und zur Verhinde-
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 3997 D rung der Steuerverkürzung bei den
Steuern vom Einkommen (Drucksache
Wehner (SPD) 3999 A
VI/ 1238) — Erste Beratung — 4002 D
Mischnick (FDP) 4000 A
Entwurf eines Gesetzes zu dem Revisions-
Sammelübersicht 9 des Petitionsausschusses protokoll vom 23. März 1970 zu dem am
über Anträge von Ausschüssen des Bun 26. November 1964 in Bonn unterzeich-
destages zu Petitionen (Drucksache neten Abkommen zwischen der Bundes-
VI/1219) in Verbindung mit republik Deutschland und dem Vereinig-
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ten Königreich Großbritannien und Nord- Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des -
irland zur Vermeidung der Doppelbe- Gesetzes über die Zusammenarbeit des
steuerung und zur Verhinderung der Bundes und der Länder in Angelegenhei-
Steuerverkürzung (Drucksache VI/ 1239) ten des Verfassungsschutzes (Drucksache
— Erste Beratung — 4002 D VI/ 1179) — Erste Beratung —

Dorn, Parlamentarischer
Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom Staatssekretär 4005 C
27. November 1969 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und dem Spani- Benda (CDU/CSU) 4006 B
schen Staat über die gegenseitige Unter- Sieglerschmidt (SPD) 4006 D
stützung ihrer Zollverwaltungen (Druck- Kleinert (FDP) 4007 D
sache VI/ 1240) — Erste Beratung— 4003 A
Entwurf eines Gesetzes zur Ä nderung des
Entwurf eines Gesetzes zu dem Vierten Durchführungsgesetzes — EWG-Richt-
Protokoll vom 14. November 1967, zu dem linie Frisches Fleisch (Drucksache VI/984) ;
Fünften Protokoll vom 19. November 1968 Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
und zu dem Sechsten Protokoll vom 16. Jugend, Familie und Gesundheit (Druck-
Dezember 1969 zur Verlängerung der sache VI/1209) — Zweite und dritte Bera-
Geltungsdauer der Erklärung vom tung — 4008 A
12. November 1959 über den vorläufigen
Beitritt Tunesiens zum Allgemeinen Zoll- Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
und Handelsabkommen (Drucksache vom 3. November 1969 zwischen der
VI/ 1241) — Erste Beratung — 4003 A Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Regierung der Französi-
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen schen Republik über die steuerliche Be-
vom 3. September 1969 zwischen der handlung von Straßenfahrzeugen im
Regierung der Bundesrepublik Deutsch- internationalen Verkehr (Drucksache
land und der Regierung des Königreichs VI/927) ; Schriftlicher Bericht des Finanz-
der Niederlande über den Verzicht auf ausschusses (Drucksache VI/ 1234) — Zwei-
die in Artikel 14 Abs. 2 EWG-Verord- te Beratung und Schlußabstimmung — 4008 B
nung Nr. 36/63 vorgesehene Erstattung
von Aufwendungen für Sachleistungen, Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen
welche bei Krankheit an Rentenberech- vom 18. November 1969 zwischen der
tigte, die ehemalige Grenzgänger oder Bundesrepublik Deutschland und der Re-
Hinterbliebene eines Grenzgängers sind, publik Osterreich über die steuerliche Be-
sowie deren Familienangehörige gewährt handlung von Kraftfahrzeugen im grenz-
wurden (Drucksache VI/1242) — Erste Be- überschreitenden Verkehr (Drucksache
ratung — 4003 B VI/928); Schriftlicher Bericht des Finanz-
ausschusses (Drucksache VI/1235) —

Entwurf eines Gesetzes zu dem Überein Zweite Beratung und Schlußabstim-


kommen Nr. 122 der Internationalen mung — 4008 B
Arbeitsorganisation vom 9. Juli 1964 über
die Beschäftigungspolitik (Drucksache Entwurf eines Gesetzes zur Ä nderung des
VI/ 1243) — Erste Beratung — 4003 B Zerlegungsgesetzes (Drucksache VI/802) ;
Schriftlicher Bericht des Finanzausschus-
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des ses (Drucksache VI/1236) — Zweite und
Gesetzes über den Beitritt der Bundes- dritte Beratung — . 4008 C
republik Deutschland zu dem Abkom-
men über den Internationalen Währungs- Übersicht 6 des Rechtsausschusses über die
fonds und über die Internationale Bank dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen
für Wiederaufbau und Entwicklung vom vor dem Bundesverfassungsgericht
28. Juli 1952 und des Gesetzes über das (Drucksache VI/1190) 4008 D
Europäische Währungsabkommen vom
26. März 1959 (Drucksache VI/1245)
4003 B Schriftlicher Bericht des Haushaltsausschus-
— Erste Beratung —
ses über den Bericht des Bundesministers
der Finanzen betr. Ergebnisse der Ent-
Entwurf eines Verwaltungsverfahrensge- behrlichkeitsprüfung und der Veräu-
setzes (Drucksache VI/ 1173) — Erste Be- ßerung von Bundesgelände zu Zwecken
ratung — des Wohnungsbaues und der Eigentums-
Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) 4003 C bildung (Drucksachen VI/399, VI/1178) 4009 A

Bühling (SPD) 4004 C Schriftlicher Bericht des Ausschusses für


Kleinert (FDP) 4005 A Arbeit und Sozialordnung über den An-
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trag der Abg. Liehr, Schmidt (Kempten) Fritsch, Dr. Rutschke u. Gen.) (Druck- -
und der Fraktionen der SPD, FDP betr. sache VI/974) — Erste Beratung —
berufliche Bildung (Drucksachen V1/741, Fritsch (SPD) 4010B
VI/1198) 4009 B

Bericht der Bundesregierung zur Bildungs-


Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
politik (Drucksache VI/925) in Verbin-
Verkehr und für das Post- und Fern-
meldewesen über die Vorschläge der dung mit
Kommission der Europäischen Gemein-
schaften für drei Richtlinien des Rates zur Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
Verwirklichung der Niederlassungsfrei- Bildung und Wissenschaft über den An-
heit für die selbständigen Tätigkeiten des trag der Fraktion der CDU/CSU betr. mit-
Güterkraftverkehrs, der Personenbeför- telfristige Finanzplanung (Ausbau und
derung im Straßenverkehr und der Güter- Neubau von Hochschulen) (Drucksachen
und Personenbeförderung auf Binnen- VI/425, VI/957), mit
wasserstraßen (Drucksachen VI/672,
VI/ 1205) 4009 B
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
Bildung und Wissenschaft über den An-
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für trag der Abg. Dr. Martin, Dr. Reinhard,
Verkehr und für das Post- und Fern- Dr. Preiß und Fraktion der CDU/CSU
meldewesen über den Vorschlag der betr. Lage der landwirtschaftlichen Fa
Kommission, der Europäischen Gemein- (Drucksachen VI/156, VI/958), mit-kultäen
schaften für eine Richtlinie des Rates über
das Mindestniveau der Ausbildung für
Fahrer im Straßenverkehr (Drucksachen Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr.
VI/1110, VI/1237) 4009 C Finanzperspektiven über die Bildungs-
planung für die Jahre 1971 bis 1980
(Drucksache VI/1269), mit
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für
Wirtschaft über die Vorschläge der Kom-
mission der Europäischen Gemeinschaften Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr.
für eine Bildungsbedarf (Drucksache VI/1270), mit

Verordnung des Rates über die Mittei-


Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr.
lung von Investitionsvorhaben von ge
Lehrermangel (Drucksache VI/1271) und
meinschaftlichem Interesse in den Berei-
mit
chen der Erdöl-, Erdgas- und Elektrizitäts-
wirtschaft,
Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr.
Verordnung des Rates über die Mittei- vorschulische Erziehung (Drucksache
lung der beabsichtigten Einfuhren von W1272)
Kohlenwasserstoffen an die Kommission Dr.-Ing. Leussink, Bundesminister 4012 B,
der Europäischen Gemeinschaften (Druck- 4049 A, 4052 D
sachen M/297, VI/1225) 4009 C
Dr. Martin (CDU/CSU) 4018 B
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Dr. Lohmar (SPD) 4026 A
Jugend, Familie und Gesundheit über den Moersch (FDP) 4031 A
Vorschlag der Kommission der Europäi-
schen Gemeinschaften für eine Richtlinie Brandt, Bundeskanzler 4038 C
des Rates zur Angleichung der Rechts- D. Dr. Hahn, Minister des Landes
vorschriften der Mitgliedstaaten über Baden-Württemberg 4040 D, 4051 B
alkoholfreie Erfrischungsgetränke (Druck-
sachen M/681, VI/1229) Dr. von Oertzen, Minister des Lan

Dr. Hammans (CDU/CSU) 4009 D des Niedersachsen 4045 D


Dr. Probst (CDU/CSU) 4053 A
Entwurf eines ... Gesetzes zur Änderung Arendt, Bundesminister 4057 B
des Grundgesetzes (A rt . 45 c) (Abg. Frau
Dr. Hermesdorf (Sehleiden)
Jacobi (Marl), Fritsch, Dr. Rutschke u.
(CDU/CSU) 4059 B
Gen.) (Drucksache M/973) in Verbindung
mit Liehr (SPD) 4061 C
Jung (FDP) 4063 C
Entwurf eines Gesetzes über die Befugnisse
des Petitionsausschusses des Deutschen Müller (Berlin) (CDU/CSU) 4065 C
Bundestages (Abg. Frau Jacobi (Marl), Frau von Bothmer (SPD) 4067 B
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 V

Absetzung der Punkte 28 b und c von der


Tagesordnung 4070 D

Nächste Sitzung 4071 C

Anlage

Liste der beurlaubten Abgeordneten 4073


Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3973

72. Sitzung

Bonn, den 14. Oktober 1970

Stenographischer Bericht Die Fraktion der CDU/CSU hat mit Schreiben vom
13. Oktober 1970 mitgeteilt, daß die Abgeordneten
Dr. Mende und Dr. Starke (Franken) seit dem 9. Ok-
Beginn: 9.00 Uhr. tober 1970 Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU
sind.
Präsident von Hassel: Die Sitzung ist er- (Hört! Hört! bei der SPD.)
öffnet. Zum gleichen Datum habe sich der Abgeordnete
Meine Damen und Herren, ich spreche zunächst Zoglmann der Fraktion der CDU/CSU als Gast an-
im Namen des Hauses dreien unserer Kollegen geschlossen.
Glückwünsche zu ihrem Geburtstag aus. Der Abge- (Zurufe von der SPD. — Abg. Rasner:
ordnete Schwabe feierte am 12. Oktober seinen Ärgern Sie sich nicht! — Abg. Dr. Apel: Ge
60. Geburtstag. Sehr herzlichen Glückwunsch.! schenkt!)
(Beifall.) Meine Damen und Herren, wir treten ein in
Der Abgeordnete Lenze (Attendorn) feierte ge- Punkt 1 der Tagesordnung:
stern seinen 60. Geburtstag. Ich spreche ihm eben-
falls die herzlichsten Glückwünsche aus. Fragestunde
(Beifall.) - Drucksachen VI/ 1253, VI/1274 —
Heute hat der Abgeordnete Richarts seinen 60. Ge- Ich rufe die Dringlichen Mündlichen Anfragen auf,
burtstag. Auch Ihnen die herzlichsten Glückwünsche und zwar zunächst die aus dem Geschäftsbereich des
des Hauses. Bundesministers für Verkehr und für das Post- und
(Beifall.) Fernmeldewesen. Frage 1 des Abgeordneten Dr.
Pohle:
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll Ist sich die Bundesregierung über die Folgewirkungen für das
die Tagesordnung um die Ihnen in der vorliegen- langfristige Zinsniveau in der Bundesrepublik im klaren, wenn
sie zuläßt, daß Bundesbahn und Bundespost sich kapitalmäßig
den Liste bezeichneten Vorlagen ergänzt werden. über Schuldscheine versorgen, die eine Rendite von über 9 %
Das Haus ist damit einverstanden? — Die Erweite- abwerfen?

rung der Tagesordnung ist damit beschlossen. Der Abgeordnete ist im Saal. Zur Beantwortung,
bitte, Herr Parlamentarischer Staatssekretär Börner!
Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden
ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht
aufgenommen: Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesministers für
Wirtschaft hat am 8. Oktober 1970 die Kleine Anfrage der Fernmeldewesen: Herr Kollege, es trifft zu, daß
Abgeordneten Springorum, Dr. Burgbacher, Russe, Höcherl und
der Fraktion der CDU/CSU betr. Energiepolitik — Drucksache
Bundespost und Bundesbahn in jüngster Zeit Schuld-
VI/1147 — beantwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1252 scheindarlehen mit einer Rendite von über 9 % auf-
verteilt.
genommen haben. Diese Darlehen werden benötigt
Der Bundesminister für Städtebau und Wohnungswesen hat
am 9. Oktober 1970 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. zur Finanzierung unabwendbarer und unaufschieb-
Schulze-Vorberg, Dr. Riedl (München), Niegel, Kiechle, Dr. barer Zahlungsverpflichtungen. Für die Darlehns
Jobst, Dr. Probst, Biehle und Genossen betr. sozialer Woh-
nungsbau — Drucksache VI/1194 — beantwortet. Sein Schreiben aufnahme wurde ein Zeitpunkt zwischen der Emis-
ist als Drucksache VI/1256 verteilt.
sion zweier größerer Anleihen, nämlich des Landes
Der Bundesminister des Innern hat am 9. Oktober 1970 die Niedersachsen und der Kreditanstalt für Wiederauf-
Kleine Anfrage des Abgeordneten Vogel und der Fraktion der
CDU/CSU betr. Wahrnehmung von Aufsichtsratsmandaten durch bau, gewählt. Wie sich bei den Kontaktgesprächen
Parlamentarische Staatssekretäre — Drucksache VI/1136 — be-
antwortet. Sein Schreiben ist als Drucksache VI/1262 verteilt. mit führenden Kreditinstituten ergab, waren Schuld
Der Bundesminister der Finanzen hat am 13. Oktober 1970 scheindarlehen zu Effektivzinssätzen von weniger
die Kleine Anfrage des Abgeordneten Strauß und Genossen als 9 % nicht mehr unterzubringen. Es war deshalb
betr. Steuerflucht — Drucksache VI/1197 — beantwortet. Sein
Schreiben wird als Drucksache VI/1267 verteilt. unvermeidbar, entsprechend höhere Zinssätze zuzu-
Der Vorsitzende des Innenausschusses hat mit Schreiben vom gestehen.
8. Oktober 1970 mitgeteilt, daß der Innenausschuß die Verord-
nung des Rates zur Ä nderung der Bezüge und der sozialen
Sicherheit der Atomanlagenbediensteten der Gemeinsamen Kern- Im übrigen sind die in der Presse genannten An-
forschungsstelle, die in Belgien dienstlich verwendet werden gaben über den Umfang der Darlehnsaktionen von
— Drucksache VI/932 — zur Kenntnis genommen und beschlossen
hat, von einem Bericht an den Bundestag abzusehen. Bundespost und Bundesbahn stark übertrieben, denn
3974 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Parlamentarischer Staatssekretär Börner


es wurde bei weitem nicht der Betrag von 500 Mil- Sie sie angedeutet haben, natürlich zu erwarten
lionen DM erreicht. Tatsache ist vielmehr, daß die sind, wenn längerfristig eine Situation mit so hohen.
Bundespost 130 Millionen DM und die Bundesbahn Zinsen eintreten sollte.
40 Millionen DM, zusammen also 170 Millionen DM,
am Schuldscheinmarkt aufgenommen haben. Dieses Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
Volumen ist weit geringer als der Betrag von zu- Herr Abgeordneter Dr. Müller-Hermann.
sammen 440 Millionen DM, den beide Sonderver-
mögen im Oktober dem Kapitalmarkt im Wege der Dr. Müller Hermann (CDU/CSU) : Herr Staats-
-

Schuldentilgung wieder zufließen lassen. sekretär, muß ich Ihren Worten, die Schuldscheine
Der Zinssatz für langfristiges Kapital bildet sich seien zur Erledigung dringender Zahlungsverpflich-
am Markt, wie Sie wissen, aus Angebot und Nach- tungen ausgegeben worden, entnehmen, daß die
frage. Die Bundesregierung wird auf diesen Zinssatz aufgebrachten Mittel nicht etwa für investive
dadurch einwirken, daß sie soweit als möglich ihre Zwecke, sondern zur Behebung von Liquiditäts-
Nachfrage den Marktgegebenheiten anpaßt. Sie schwierigkeiten gedacht sind?
wird alles in ihrer Macht Stehende tun, um eine
Überforderung des Marktes zu vermeiden und damit Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
die Voraussetzung dafür zu schaffen, daß der Zins- Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
satz für Schuldscheindarlehen wieder sinkt. Fernmeldewesen: Nein, Herr Kollege, das müssen
Sie meinen Worten nicht entnehmen. Ich habe ja
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der angedeutet, daß es sich um Zahlungsverpflichtungen
Abgeordnete Dr. Pohle. aus Investitionsaufträgen handelt, die einen bestimm-
ten Zahlungsplan haben. Dahinter steckt natürlich
Dr. Pohle (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, hat außer bestimmten Schuldtilgungen auch die Konse-
nach Ihrer Ansicht demnach die Beanspruchung des quenz, daß wir z. B. die von der Öffentlichkeit gefor-
Geldmarktes durch Bundesbahn und Bundespost derten Telefonhauptanschlüsse nun so schnell wie
zinssenkende, zinssteigernde oder zinsneutrale Wir- möglich herstellen wollen. Dazu brauchen wir Geld,
kungen? u. a. aus der Summe, die ich hier soeben genannt
habe.
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
Fernmeldewesen: Herr Kollege, ich habe in der Herr Abgeordneter Dr. Arndt (Berlin).
ersten Antwort angedeutet, daß es sich hier um eine
zwangsläufige Maßnahme handelt, die wir treffen Dr. Arndt (Berlin) (SPD) : Ist die Bundesregie-
mußten, weil bestimmte Zahlungsverpflichtungen rung eigentlich der Ansicht, daß produktivitätsstei-
dieser beiden Sondervermögen es erforderten. Die gernde Investitionen bei Post und Bahn völlig an-
Frage, wie sich das auf den Gesamtmarkt auswirkt, ders zu beurteilen sind als produktivitätssteigernde
kann nur im Zusammenhang mit der Größe der in Investitionen in großen Konzernen und damit auch
Rede stehenden Beträge gesehen werden. Es ist ihre Verschuldung im In- oder Ausland?
zweifellos zuzugeben, daß aus der besonderen
Situation, weil Zahlungsverpflichtungen liefen, die Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Investitionsvorhaben von hoher Dringlichkeit be- Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
treffen, keine zinssenkende Wirkung entstehen Fernmeldewesen: Herr Kollege, die Bundesregierung
konnte. ist der Meinung, daß, um ein langfristig günstiges
wirtschaftliches Wachstum zu garantieren, Infra-
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage strukturinvestitionen, wie sie von Bahn und Post
Herr Abgeordneter Dr. Pohle. vorgenommen werden, sehr dringend notwendig
sind. Es ist ein offenes Geheimnis, daß sie auch
Dr. Pohle (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist außerordentlich lukrativ für die beteiligten Sonder-
die Bundesregierung der Ansicht, daß Zinserhö- vermögen des Bundes sind.
hungs- oder -stabilisierungstendenzen in der Bun-
desrepublik angesichts eines sinkenden internatio- Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
nalen Zinsniveaus zusätzliche oder auch spekulative Herr Abgeordneter Dr. Apel.
Geld- und Kapitalzuflüsse auslösen, zumindest aus-
lösen können und damit die Stabilisierungsbemü- Dr. Apel (SPD) : Herr Staatssekretär, können Sie
hungen der Bundesregierung durchkreuzen? mir zustimmen, wenn ich sage, daß diese Maß-
nahmen auch im Zusammenhang mit der Verschul-
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim denspolitik vergangener Bundesregierungen zu se-
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und hen sind, die die Eigenkapitaldecke dieser beiden
Fernmeldewesen: Herr Kollege, ich habe ja gesagt, Unternehmen nicht ausreichend berücksichtigt ha-
daß wir u. a. den Schlüssel für eine Zinssenkungs- ben?
tendenz darin sehen, daß die öffentliche Hand nur (Lachen bei der CDU/CSU.)
sehr zurückhaltend an den Kapitalmarkt herangeht.
Ich habe angedeutet, daß die Bundesregierung in Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
diesem Zusammenhang ihren Bedarf überprüfen Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
wird. Wir sind uns einig, daß Nebenwirkungen, wie Fernmeldewesen: Ich stimme Ihnen zu, Herr Kollege.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3975

Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim -


Herr Abgeordneter Höcherl. Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen: Nein, Herr Kollege. Die Investi-
Höcherl (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist bei tionskosten haben sich natürlich auch im Fernmelde-
diesem Verfahren ein Einvernehmen mit der Bun- bereich erhöht, aber das ist nicht der entscheidende
desbank herbeigeführt worden? Grund, um den es hier geht. Es geht hier darum,
daß bestimmte Investitionen getätigt worden sind
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim und daß die Post einen Wirtschaftsplan hat, nach
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und dem gewisse Zahlungsziele eingehalten werden
Fernmeldewesen: Herr Kollege, diese Frage berührt müssen. Das ist der wirkliche Hintergrund dieser
die Dringlichkeitsfrage des Abgeordneten Müller Bewegung, die hier in Rede steht.
Hermann. Ich bin gern bereit, Ihre Zusatzfrage im
Zusammenhang mit dieser Frage zu beantworten. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Abgeordneten von Bockelberg.
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage
Herr Abgeordneter Dr. von Bismarck. von Bockelberg (CDU/CSU) : Herr Kollege Bör-
ner, sind Sie mit mir der Ansicht, daß die Auf-
Dr. von Bismarck (CDU/CSU) : Wird durch nahme dieses Darlehens konjunkturell die gleiche
dieses Verfahren die Auffassung von Herrn Han Wirkung hat wie die Ausweitung des Haushalts um
kel bestätigt, daß sich die Bundesregierung, wenn den gleichen Betrag?
nötig, als die robustere Nachfragerin auf dem
Kapitalmarkt das beschaffen will, was sie sonst Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
nicht zur Verfügung hat? Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen: Nein, ich bin nicht Ihrer Meinung.
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Fernmeldewesen: Nein, Herr Kollege. Ich möchte Abgeordneten Dr. Dollinger.
mich in diesem Zusammenhang nicht zu dem Zitat
äußern, das Sie hier soeben gebracht haben. Nur bin
ich tatsächlich der Meinung, daß ,öffentliche Investi-
Dr. Dollinger (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,
Sie sprachen vom Eigenkapital. Geben Sie zu, daß
tionen, wie sie hier von Bahn und Post vorgenom-
sich das Eigenkapital der Deutschen Bundespost in
men werden, vor bestimmten privaten Kreditwün-
schen Vorrang haben. den letzten Jahren laufend erhöht hat, und zwar auf
einen Anteil von nahezu 30 0/o, und können Sie hier
bestätigen, daß die jetzige Politik der Deutschen
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage Bundespost weiterhin zu einer Stärkung des Eigen-
Herr Abgeordneter Ott. kapitals führt?

Ott (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Sie sagten Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
vorhin, daß Sie diese Schuldscheindarlehen auf- Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
nehmen, um andere Schulden zurückzuzahlen. Liege Fernmeldewesen: Herr Kollege Dollinger, das ist
ich richtig, wenn ich annehme, daß Sie entweder richtig, aber ich glaube, daß diese Frage nicht im
Liquiditätsschwierigkeiten hatten oder nicht richtig Zusammenhang mit dem hier erörterten Problem zu
disponiert hatten, um diese Schulden zurückzahlen sehen ist.
zu können, und jetzt neue Schulden aufnehmen (Widerspruch bei der CDU/CSU.)
müssen?
Man muß auch sehen, daß die Verpflichtungen der
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Post — denken Sie z. B. an die Zuwachsrate bei den
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fernsprechanschlüssen - ebenfalls gewachsen sind.
Fernmeldewesen: Herr Kollege, damit liegen Sie
nicht richtig. Wie Sie wissen, handelt es sich bei den Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Bundessondervermögen um langfristige Bewegun- Abgeordneten Fellermaier.
gen, denen bestimmte Zahlungspläne zugrunde lie-
gen, die erfüllt werden müssen, wenn die Termine
anstehen. Dabei gibt es lang-, mittel- und auch kurz- Fellermaier (SPD) : Herr Staatssekretär, muß
fristige Verpflichtungen; aber die letzteren werden man bei der Gesamtbeurteilung des Komplexes nicht
hiervon nicht berührt. auch berücksichtigen, daß es gerade die Bundesbahn
war, die in ihrem Tilgungsdienst ein Vielfaches
Präsident von Hassel: Zu einer Zusatzfrage dessen zurückgezahlt hat, was früher im Zusammen-
Herr Abgeordneter Dasch. hang mit der Verbesserung der Wirtschaftlichkeit
zurückgezahlt wurde? Muß man das nicht auch in
Verbindung mit dieser Schuldscheinaufnahme sehen?
Dasch (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist die
Notwendigkeit dieser Schuldaufnahme nicht dadurch
entstanden, daß sich die Investitionskosten gegen- Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
über früheren Planungen bedeutend erhöht haben? Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
3976 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Parlamentarischer Staatssekretär Börner


Fernmeldewesen: Ich stimme Ihnen zu, Herr Kol- daß hinsichtlich der wirtschaftspolitischen und
lege. finanzpolitischen Bedeutung dieser Maßnahme eine
Abstimmung mit den beteiligten Häusern erfolgt ist.
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 2 des Ich kann mich Ihrer Schlußfolgerung deshalb in
Abgeordneten Dr. Müller-Hermann auf: keiner Weise anschließen.
Ist die vom Bundesminister für Verkehr und für das Post-
und Fernmeldewesen betriebene Aktion angesichts ihrer Bedeu- Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
tung für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung mit dem Bun-
deskanzler, dem Bundesminister für Wirtschaft, dem Konjunktur- Abgeordneten Niegel.
planungsrat und dem zentralen Kapitalmarktausschuß abge-
stimmt?
Niegel (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Sie sag-
Zur Beantwortung, Herr Parlamentarischer Staats- ten vorhin, daß die Bundesbank konsultiert worden
sekretär. sei. Haben die Bundesbank bzw. der Zentralbankrat
der Auflage dieser Anleihe zugestimmt?
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Fernmeldewesen: Herr Kollege, die Kreditaufnah- Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
men der Bundespost erfolgen nach § 22 Abs. 1 des Fernmeldewesen: Ich habe schon in meiner ersten
Postverwaltungsgesetzes im Einvernehmen mit dem Antwort gesagt, daß der Zentralbankrat damit nicht
Herrn Bundesminister der Finanzen, die der Bundes- befaßt war. Außerdem handelt es sich nicht um eine
bahn nach § 31 Bundesbahngesetz mit Genehmigung Anleihe, sondern um ein Schuldscheindarlehen.
des Herrn Bundesministers für Verkehr gleichfalls
im Einvernehmen mit dem Herrn Bundesminister (Abg. Dr. Apel: Aufpassen, zuhören,
der Finanzen. Dieses vom Gesetz verlangte Einver- Niegel! — Abg. Wehner: Die richtigen
nehmen wurde hergestellt. Stichworte geben lassen!)

Der Konjunkturrat für die öffentliche Hand sowie Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
der Zentrale Kapitalmarktausschuß haben sich bis- Abgeordneten Dasch.
lang auf die Abstimmung von Anleihen konzen-
triert. Eine Behandlung einzelner Schuldscheindar-
lehen ist in diesen Gremien nicht erfolgt. Dasch (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wollen
Sie damit sagen, daß die Bundesbank zwar konsul-
tiert wurde, daß ihr Rat dann aber nicht befolgt
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des wurde?
Abgeordneten Dr. Müller-Hermann.
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) : Herr Staats- Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
sekretär, kann ich aus der Tatsache, daß die we- Fernmeldewesen: Nein, das wollte ich nicht sagen.
sentlich das Ressort des Wirtschaftsministers be- Die Bundesbank stimmt mit uns darin überein, daß
treffenden Fragen nicht von ihm, sondern von Ihnen Investitionen im Bereich des Fernmeldewesens und
beantwortet werden, schließen, daß die von Herrn der Infrastruktur der Deutschen Bundesbahn für die
Schiller und dem Bundeskanzler selbst immer wie-
Volkswirtschaft höchst dringliche Maßnahmen sind.
der beschworene Abstimmung der Konjunktur-
politik innerhalb der Bundesregierung offenbar nicht
erfolgt ist? Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Abgeordneten Pieroth.
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Pieroth (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, wie
Fernmeldewesen: Herr Kollege, ich habe ausdrück- paßt diese Neuverschuldung in das Konzept der Bun-
lich festgestellt, daß das Einvernehmen mit den be- desregierung, die konjunkturelle Entspannung im
teiligten Häusern hergestellt wurde. Ich möchte Gleitflug zu erreichen?
hinzufügen, daß auch die Bundesbank konsultiert
wurde.
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatzfrage Fernmeldewesen: Herr Kollege, ich habe Ihnen vor-
des Abgeordneten Dr. Müller-Hermann. her ja die Größenordnungen sehr deutlich genannt.
Sie werden zugeben müssen, daß diese Beträge im
Dr. Müller-Hermann (CDU/CSU) : Herr Staats- Rahmen des Wirtschaftsplanes solcher Unternehmen
sekretär, sehen Sie wenigstens ein, daß man aus wie der Bundesbahn und der Bundespostals gering-
dem, was Sie soeben gesagt haben, nur schlußfol- fügig zu veranschlagen sind. Es handelt sich also
gern kann, daß diese Bundesregierung offenbar kein hier vom Volumen her nicht um entscheidende
aufeinander abgestimmtes konjunkturpolitisches Punkte, sondern um die Bedienung von notwendigen
Konzept hat? Investitonen im Zeitablauf. Diese Maßnahmen stehen
in keiner Weise im Gegensatz zur Haltung der Bun-
Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim desregierung, alles zu tun, um die Konjunktur zu
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und beruhigen. Ich habe gerade — darauf möchte ich hier
Fernmeldewesen: Ich habe hier mehrfach dargetan, noch einmal Bezug nehmen — in der Antwort auf
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3977
Parlamentarischer Staatssekretär Börner
die Frage des Herrn Kollegen Pohle deutlich dar- Breidbach (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, da
gestellt, was unsere weitere Absicht in dieser Frage ich auf Grund Ihrer Antwort nicht klar feststellen
ist. konnte, ob Sie — d. h. die Bundesregierung — sich
mit Ihrer Eingangserklärung von den Äußerungen
Präsident von Hassel: Keine weitere Zusatz- des Parteivorsitzenden der SPD distanziert haben,
frage. Ich bedanke mich für die Beantwortung der frage ich Sie noch einmal konkret: Wer sind diese
Dringlichkeitsanfragen aus Ihrem Geschäftsbereich, rechten Kräfte — Sie müssen auch den Punkt 5 des
Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Kommuniqués lesen —, die den Anschlag auf die
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers Bundesregierung planen? Ich nehme an, es handelt
und des Bundeskanzleramtes auf, zuerst die Dring- sich nicht um irgendeine Geisterarmee, sondern der
liche Frage 3 des Abgeordneten Breidbach: Bundeskanzler wird sicher konkrete Vorstellungen
haben. Die bitte ich mir auf meine Frage darzulegen.
Wer sind die „rechten Kräfte", die einen Anschlag auf die
Bundesregierung planen? (Zurufe von der CDU/CSU: Bielefeld!)
Zur Beantwortung Herr Bundesminister Professor
Ehmke. Präsident von Hassel: Herr Kollege Breidbach,
ich bitte, die Zusatzfragen kürzer zu fassen.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Zur Beantwortung, bitte, Herr Bundesminister!
gaben: Herr Kollege, ich bin über Ihre Frage er-
staunt; denn ich nehme an, daß Sie sich auf das
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Kommuniqué über die Sitzung des SPD-Parteivor-
gaben: Ich habe die erste Frage, glaube ich, schon
stands vom 12. Oktober 1970 beziehen. Das Kommu-
beantwortet.
niqué stellt eine Zusammenfassung der Ergebnisse
der Beratungen des Parteivorstands der SPD durch (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)
deren Vorsitzenden dar. Korrekterweise sollten Sie — Die erste Frage habe ich damit beantwortet, daß
Ihre Frage daher nicht an die Bundesregierung, son- es eine reine Freundlichkeit von mir ist, hier für die
dern an den Parteivorstand der SPD richten. Bundesregierung zu Äußerungen des SPD-Partei-
(Lachen bei der CDU/CSU. - Beifall bei vorstands Stellung zu nehmen.
den Regierungsparteien.) (Unruhe bei der CDU/CSU.)
Für den Fall, daß Sie es wünschen, bin ich für meine Was die zweite Frage betrifft, Herr Kollege Breid-
Person dennoch bereit, Ihre Fragen zu beantworten. bach, schlage ich vor, daß ich sie in Zusammenhang
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie gnädig!) mit der Frage des Kollegen Werner beantworte;
denn die Frage 4 der Dringlichkeitsanfragen ist
Das Kommuniqué über die Sitzung des SPD-Partei-
identisch mit Ihrer Zusatzfrage.
vorstands lautet in Nr. 3 wie folgt:
„Der Vorsitzende der FDP hat recht, wenn er
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatz-
darauf hinweist, daß der Angriff auf seine Partei
frage, Herr Abgeordneter Breidbach.
von einflußreichen Kräften außerhalb des Bun-
destages unterstützt wird. Es handelt sich in der
Tat um einen groß angelegten Versuch einer Breidbach (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, ich
rechten außerparlamentarischen Opposition, kann also Ihrer Antwort entnehmen, daß die Äuße-
rungen des Parteivorsitzenden der SPD nicht in je-
(Zurufe von der CDU/CSU: Wer?) dem Fall identisch zu sein brauchen mit Äußerun-
das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, die gen, die der Bundeskanzler im konkreten Fall
Entspannungspolitik zu stören und in die Kon- machen würde?
junkturpolitik so einzugreifen, daß die Be- (Beifall bei der CDU/CSU.)
mühungen um mehr Stabilität zunichte gemacht
werden."
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Der Herr Bundeskanzler und Vorsitzende der SPD gaben: Sie haben schlecht zugehört, Herr Kollege.
hat also in einer Zusammenfassung auf eine Äuße- Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: es handelt sich
rung des Vorsitzenden der FDP Bezug genommen. um eine Äußerung des SPD-Parteivorstands, die von
(Abg. Dr. Barzel: Der Arme!) dessen Vorsitzenden zusammengefaßt worden ist.
Die beiden Führer der sozial-liberalen Koalition (Zurufe von der CDU/CSU.)
verstehen unter „rechter außerparlamentarischer
Opposition" diejenigen Kräfte in unserem Land, die Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
innen- und außenpolitisch dem Vorgestern verhaf- Abgeordneter Benda.
tet sind und sich darin von der sozial-liberalen Koa-
lition in Frage gestellt fühlen, womit sie übrigens Benda (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, darf ich
völlig recht haben. Ihre Antwort auf die Frage des Kollegen Breidbach
(Beifall bei den Regierungsparteien. — so verstehen, daß in Zukunft jedermann, der nach
Abg. Rasner: Das nennt man Chuzpe!) Ihrer Definition dem Vorgestern verhaftet ist, einer
rechten außerparlamentarischen Opposition in die-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr sem Land angehört, die das Rad der Entwicklung
Abgeordneter Breidbach. zurückdrehen wolle und — um einen von Ihnen
3978 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Benda
nicht zitierten Teil des Kommuniqués hier zu wie- Ich darf die Herren Christdemokraten bitten,
- bei
derholen — einen Anschlag auf die Bundesregierung dem zweiten Punkt besonders gut zuzuhören. Es
versuche, der natürlich mit allen Kräften — und das steht nämlich darin, das zweite Ziel müsse sein: un-
nicht von der SPD, sondern amtlicherseits — abge- ausweichlicher Zwang für die Christdemokraten —
wehrt werden müsse? nicht für die Christsozialen, offenbar haben das
nur die Christdemokraten nötig —, „den volkspoli-
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- tischen Offenbarungseid zu leisten".
gaben: Herr Kollege Benda, wenn der Herr Präsi- (Abg. Wehner: Hört! Hört!)
dent es gestattet, darf ich zugleich mit Ihrer Zusatz-
Ich nehme das als ein Beispiel. Sie wissen so gut
frage auch die Frage 4 beantworten.
wie ich — besonders Sie als früherer Innenmini-
ster —, daß man diese Äußerungen beliebig ver-
Präsident von Hassel: Ich rufe die Frage 4 des mehren kann.
Abgeordneten Werner auf:
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Mit welchen konkreten Angaben kann die Bundesregierung
ihre Behauptung von einem Anschlag rechtsgerichteter Kräfte auf
die Bundesregierung beweisen? Präsident von Hassel: Zur Geschäftslage: Zu
der Frage 4 kommt eine Reihe von Zusatzfragen.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Zunächst aber zu einer Zusatzfrage zu der Frage 3
gaben: Ich darf sagen, daß es sich unseres Erachtens der Abgeordnete Dr. Apel.
erübrigt, Namen zu nennen, weil man diesen Namen
nicht zuviel Ehre antun sollte. Dr. Apel (SPD) : Herr Bundesminister, ist Ihnen
bekannt, daß der Vorsitzende der Landesgruppe der
(Beifall bei den Regierungsparteien. — CSU, Herr Stücklen, gestern festgestellt hat, der
Lachen bei der CDU/CSU.) Bundeskanzler bediene sich in seinem Vokabular
Im übrigen nehme ich an, daß Sie die Äußerungen immer mehr eines Rotwelschs, und ist Ihnen bewußt,
reaktionärer und nationalistischer Kreise in diesem daß „Rotwelsch" eine Vokabel war, die wir in der
Lande mindestens so gut kennen wie die Bundes- NS-Zeit insbesondere im „Stürmer" und im „Schwar-
regierung. Mit einigem Erstaunen stelle ich aller- zen Korps" gefunden haben?
dings fest, daß Sie selbst sich offenbar von diesen (Beifall bei den Regierungsparteien. - La
Äußerungen betroffen fühlen, obwohl die Vorsit- chen bei der CDU/CSU.)
zenden der SPD und der FDP ausdrücklich von einer
rechten außerparlamentarischen Opposition gespro- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
chen haben. Offenbar haben doch diejenigen in gaben: Herr Kollege, wenn ich recht orientiert bin,
Ihren Reihen recht, die, wie der SPD-Vorsitzende hat Kollege Stücklen nicht gesagt, der Bundeskanz-
ausgeführt hat, befürchten, daß das politisch-morali- ler bediene sich, sondern, die Sprache, die er
sche Gewicht Ihrer Partei durch manchen der Über- spreche, erinnere ihn an „Rotwelsch aus Moskau".
wechsler aus der FDP nicht verstärkt werden wird. Ich weiß nicht, auf welche Quellen dies zurückgeht.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Aber ich muß einem Kollegen, den ich so schätze
wie den Kollegen Richard Stücklen, sagen: es wäre
Ich bin auch gern bereit, Ihnen ein Beispiel zu mir lieb gewesen, er hätte diese Worte nicht ge-
geben, Herr Kollege Benda. Ich habe hier das Mit- bracht. Sie stammen sicher nicht aus dem demokrati-
teilungsblatt des Witiko-Bundes, über dessen Rolle schen Wortschatz.
in der Verbindung zwischen rechten Kreisen der
CSU, NLA und NPD Sie heute einen bemerkens- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
werten Artikel des Kollegen Borm in der „Frank-
furter Rundschau" finden. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Abgeordneten Dr. Wörner.
(Zuruf von der CDU/CSU: Glatte Märchen
stunde!) Dr. Wörner (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
Da wird z. B. — Schrift des Witiko-Bundes, Einlei- nachdem bis jetzt doch noch keine völlige Klarheit
in einer Frage besteht, möchte ich Sie fragen: teilt
tung von Herrn Lange (NLA) — gesagt, die Situa-
die Bundesregierung und teilt der Bundeskanzler die
tion in unserem Lande würde sich schlagartig än-
Auffassung des SPD-Vorsitzenden, wie sie hier in
dern, wenn die Landesverbände Bayern und Hes-
der Erklärung unter den Nummern 1 bis 5 wieder-
sen der NPD und der National-liberalen Aktion sich
gegeben ist?
zu einem Wahlverband zusammenschlössen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Abg. Wehner: Hört! Hört! Wie bei der
Bundespräsidentenwahl!) Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Ich habe im Namen der Bundesregierung
Dann hätte man zwei Ziele zu erreichen — ich gebe
keine Ä ußerungen für die Vorstände der einen oder
das nur als ein Beispiel, das Material ist umfang-
anderen Partei abzugeben.
reich —: erstens Verhinderung einer sozialdemo-
kratischen Mehrheit in den beiden Ländern. Dadurch (Lachen in der Mitte. — Zuruf des Abg.
würde die Bonner Koalition erschüttert werden. — Rasner.)
Das nenne ich einen Angriff auf diese Regierung. — Ich hoffe doch, daß Sie diese Kleiderordnung un
(Zurufe von der CDU/CSU: Einen Anschlag!) serer Verfassung respektieren, Herr Kollege Rasner.
— Auch einen Anschlag. (Abg. Rasner: Ich gratuliere!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3979

Präsident von Hassel: Ich darf Sie bitten, -


Bevölkerung, die ihr Geld nicht mit Porno-Serien,
einstweilen keine weitere Zusatzfrage zu stellen. sondern mit ihrer Hände Arbeit verdienen, offenbar
Ich habe zehn auf meiner Liste. Herr Abgeordneter die Stimmung auszudehnen beginnt, dieses Blatt in
Dr. Reddemann, die nächste Zusatzfrage. den Betrieben nicht mehr sehen zu wollen.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
Reddemann (CDU/CSU) : Herr Minister, wollen
rufe von der CDU/CSU.)
Sie immer noch versuchen, den Bundeskanzler ein-
mal in den Mann Willy Brandt, einmal in den Partei-
vorsitzenden Brandt und einmal in den Bundes- Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
kanzler zu teilen, oder meinen Sie nicht, daß Äuße- Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
rungen, die der Parteivorsitzende der SPD in der
Öffentlichkeit tut, auch Äußerungen des Bundes- Dr. Schulze Vorberg (CDU/CSU): Herr Profes-
-

kanzlers sind, die dann von der Regierung entspre- sor Ehmke, darf ich fragen, ob Sie tatsächlich als
chend verantwortet werden müssen, wenn Fragen einziges konkretes Beispiel für die in dem SPD-
danach gestellt werden? Kommuniqué angesprochene außerparlamentarische
Opposition, in dem der SPD-Vorsitzende ausdrück-
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- lich auch als Bundeskanzler apostrophiert ist — in
gaben: Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Kollege Redde- dem Kommuniqué steht ausdrücklich das Wort „Bun-
mann, wenn Sie jetzt zum drittenmal zur Kenntnis deskanzler" —, das Beispiel des Herrn Abgeordne-
nähmen, daß es sich um eine Meinung des gesamten ten Lange bringen wollen. Ist Herr Lange, der auf
SPD-Parteivorstands handelt, die der Bundeskanzler der Liste der FDP gewählt worden ist und bis vor
in einem Kommuniqué zusammengefaßt hat. kurzem deren Fraktionsvorsitzender im Landtag
(Abg. Dr. Barzel: Nein!) war, die außerparlamentarische Opposition, die der
Bundeskanzler gemeint hat? Das kann doch wohl
- Ich sage Ihnen, daß es so war; lesen Sie den nicht wahr sein!
letzten Satz! Nach der Diskussion ist eine Erklärung
abgegeben worden. Ich habe mich danach erkundigt: Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Es war so, daß der Kanzler die Diskussion des gaben: Herr Kollege Schulze-Vorberg, es ist ein Bei-
Parteivorstands zusammengefaßt hat. spiel. Ich sage noch einmal, ich halte es nicht für die
Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Kollege Barzel, Aufgabe der Bundesregierung, hier Material über
wenn ich mich für das, was in der SPD geschieht, die rechtsradikalen und nationalistischen Kreise in
auf die Angaben des SPD-Parteivorstands und nicht der Bundesrepublik zu verbreiten, zumal da Sie die-
auf die des CDU-Parteivorstands berufen könnte. ses Material genauso gut kennen wie die Bundes-
regierung selbst.
(Abg. Dr. Barzel: Dann ist das Papier falsch!
(Abg. Dr. Barzel: Es ist die Aufgabe der
— Zuruf des Abg. Dr. Müller-Hermann.)
Regierung, hier den Wahrheitsbeweis für
— Ich glaube, wenn Sie Ihre Kommuniqués ansehen, solche Behauptungen anzutreten! — Abg.
werden Sie feststellen, daß sie ganz ähnlich sind, Dr. Apel: Wir brauchen hier nur auszu-
Herr Müller-Hermann. breiten, was Sie alles im Land erzählen!)

Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des


Präsident von Hassel Eine weitere Zusatzfrage
Abgeordneten Borm.
des Abgeordneten Dr. Miltner.
Borm (FDP) : Herr Bundesminister, würden Sie in
diesem Fall präzis die Tageszeitung „Bild" dem Dr. Miltner (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, da
Kreis, der in der Frage aufgeführt ist, zurechnen? Sie sagen, daß dieses Material schon so bekannt sei,
darf ich Sie fragen, ob Sie mir jetzt wirklich sagen
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- können, in welchen Handlungen der „großangelegte
gaben: Herr Kollege Borm, mein Freund Herbert Versuch" der außerparlamentarischen Opposition
Wehner pflegt von der „Bild"-Zeitung zu sagen, man besteht.
müsse sie jeden Morgen lesen, um zu wissen, was
die Leute denken sollen. Ich pflichte dem bei. Ganz Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
sicher ist, daß es sich dabei um ein Blatt handelt, gaben: Ich glaube, das ist wirklich nicht so schwer
das stärker von dem Wunsch beseelt ist, diese Re- zu sagen. Ich bleibe bei diesem einen Beispiel,
gierung zu stürzen, als von dem Bemühen, seine
Leser objektiv zu unterrichten. (Zuruf des Abg. Rasner)

(Beifall bei den Regierungsparteien.) um es nicht ins Uferlose gehen zu lassen. Herr Ras-
ner, Sie kennen es so gut wie wir. Es ist doch wohl
Aber gerade weil sich das Blatt in letzter Zeit als klar, was unter diesem Angriff verstanden wird.
Anti-Regierungsblatt versucht, sollte die Regierung, Wir brauchen nur noch einmal nachzulesen, was hier
so glaube ich, nicht den Versuch unternehmen, seine und an vielen anderen Stellen der Witiko-Bund und
politische Richtung irgendwie zu qualifizieren oder ähnliche Organe schreiben.
abzuqualifizieren.
(Abg. Rasner: Wie vorhin geschehen!) Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Ich darf allerdings sagen: wir haben mit Interesse Abgeordneten Zoglmann.
vermerkt, daß sich in den breiten Schichten unserer (Lachen bei den Regierungsparteien.)
3980 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Zoglmann (CDU/CSU-Gast) : Herr Bundesmini- -


vere Ausdeutung zu geben. Ich bin der Meinung,
ster, sind Sie wirklich der Meinung, daß das von nachdem die CDU sich in Berlin für die Bundesprä-
Ihnen hier Vorgetragene noch vertretbar ist im Hin- sidentenwahl leider auf die Stimmen der NPD hat
blick darauf, daß erstens der Abgeordnete Lange in verlassen wollen
der deutschen Presse ausdrücklich erklärt hat, daß (Zurufe von der CDU/CSU: Woher wissen
dieses Zitat nicht aus dem Brief des Witiko-Bundes, Sie das?)
sondern aus einer Beilage, nämlich dem Deutschen
Seminar, stammt, daß es sich zweitens um einen und nachdem in Niedersachsen Vorgänge zwischen
Leserbrief handelt, daß sich drittens der Abgeord- CDU und NPD gespielt haben, die ebenfalls die Kri
nete Lange mit aller Entschiedenheit von diesen tik der SPD in diese Richtung herausgefordert haben,
Überlegungen abgesetzt hat? (Beifall bei der SPD — Zurufe von der
Würden Sie mir viertens die Frage beantworten, CDU/CSU)
wie Sie selbst es rechtfertigen, eine Organisation verstehe ich das Interesse an dieser Äußerung des
als rechtsradikal zu bezeichnen, die seit Jahren aus Bundeskanzlers im positiven Sinne. Nämlich dahin,
Mitteln der Bundesregierung, auch aus Mitteln Ihrer daß die CDU klarmachen will, daß sie jedenfalls mit
Bundesregierung, gefördert wird? diesen Kräften nichts zu tun hat und mit ihnen auch
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von nicht in einen Topf geworfen werden will.
der SPD.)
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Abgeordnete Professor Dr. Schäfer.
gaben: Herr Kollege Zoglmann, ich habe rein aku-
stisch den zweiten Teil Ihrer Frage nicht verstan-
den? Können Sie ihn wiederholen? Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) : Herr Bundesmini-
ster, sind Sie mit mir der Meinung, daß die Sorge,
die im Kommuniqué des SPD-Parteivorstandes zum
Zoglmann (CDU/CSU-Gast): Beim zweiten Teil Ausdruck kommt, eine Sorge aller politischen Kräfte
der Frage geht es darum, wie Sie es rechtfertigen,
dieses Hauses sein müßte, und sind Sie mit mir der
Herr Bundesminister, eine Organisation als rechts-
Auffassung, daß die Fragesteller aus den Reihen
radikal zu bezeichnen, nämlich den Witiko-Bund,
der Opposition diese Tatsache damit schon in Zwei-
die seit Jahren von der Bundesregierung, auch der
fel ziehen?
von Ihnen jetzt dargestellten Bundesregierung, ge-
fördert wird. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der
CDU/CSU.)
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Kollege Zoglmann, ich darf zunächst Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
einmal sagen, daß mir diese Äußerungen von Herrn gaben: Herr Kollege Schäfer, ich bin der Mei-
Lange, die Sie zitiert haben, nicht bekannt sind. Das, nung, daß es in der Tat ein gemeinsames Inter-
woraus ich zitiere, hat einen Aufmacher „Liebe esse des ganzen Hauses sein sollte. Allerdings bin
Kameraden" mit der Unterschrift von Herrn Lange, ich auch der Meinung oder neige zu der Deutung,
und da ist die Beilage. Das Zweite, was ich dazu daß diese Fragen gerade auch wegen dieser Besorg-
sagen darf, ist, daß ich hier nicht den Witiko-Bund nisse gestellt werden. Ich hoffe jedenfalls, daß diese
qualifiziert habe, sondern Äußerungen wie diese Fragestunde mit zu einer Betonung der Gemeinsam-
mit der Stoßrichtung, die ich in den beiden Punkten keit gegenüber dem Rechtsradikalismus beitragen
zitiert habe. wird.
(Lachen bei der CDU/CSU.)
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
Abgeordnete Fellermaier. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
Abgeordnete Wohlrabe.
Fellermaier (SPD) : Herr Bundesminister, wür-
den Sie die Nervosität in den Reihen der CDU/CSU Wohlrabe (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, da
(Lachen bei der CDU/CSU) es Ihnen offensichtlich nicht gelungen ist, die vom
Bundeskanzler aufgestellten Behauptungen zu be-
über eine Äußerung des Parteivorsitzenden der SPD weisen, möchte ich Sie fragen, ob Ihr Einfluß da-
vielleicht auch im Zusammenhang des schlechten hin gehend geltend gemacht werden kann, daß der
Gewissens sehen, wie sich diese Partei bei der Bun- Herr Bundeskanzler wie nach Bielefeld und wie
despräsidentenwahl gegenüber einer anderen Par- nach dem Wort „Volksverhetzung" sich jetzt erneut
tei, die in diesem Haus Gott sei Dank nicht ver- entschuldigt.
treten ist, verhalten hat, um etwas zu erreichen?
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Weh
(Beifall bei den Regierungsparteien. — ner: Übelkrähe! — Heiterheit bei der SPD.
Oho-Rufe bei der CDU/CSU.) — Weitere Zurufe von der SPD.)

Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Kollege Fellermaier, ich bin geneigt, gaben: Herr Wohlrabe, ich muß zunächst einmal
dieser Nervosität und diesem Interesse eine positi sagen, ich halte es eigentlich nicht für die Art von
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3981
Bundesminister Dr. Ehmke
Gentlemen, erst einen Vergleich, zu schließen und Jung (FDP) : Herr Minister, ist Ihnen bekannt,
-
dann damit hinten herum — — daß in der Pfalz ein Mann beauftragt wurde, im
Sinne des von Ihnen Zitierten zu wirken, nämlich
(Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
die rechten und rechtsradikalen Kräfte zusammen-
teien. — Abg. Wehner: Wieso haben Sie
zufassen, der noch bei der Bundestagswahl in aller
gedacht, daß der einer wäre? — Weitere
Öffentlichkeit für die NPD geworben hat?
Zurufe und Gegenrufe.)
Da waren die Herren von der CDU, mit denen ich Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
verhandelt habe, glaube ich, etwas auf dem rich- gaben: Das ist mir nicht bekannt, aber ich werde
tigeren Boden, als Sie es jetzt sind. mich bei meinem Kollegen Genscher darüber sach-
(Zurufe von der CDU/CSU.) verständig machen lassen.
Im übrigen würde ich an Ihrer Stelle einmal vor (Lachen bei der CDU/CSU.)
der eigenen Türe zu kehren beginnen. Was gestern
der Kollege Stücklen gesagt hat, ist auch nicht Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
etwas, das man so stehenlassen sollte, wenn wir Abgeordneten Wienand.
dabei die harten Maßstäbe anlegen, die Sie immer Wienand (SPD) : Herr Minister, sind Sie mit mir
angelegt haben wollen, wenn es um uns geht, die der Meinung, daß die beiden Zeitschriften „Bayern-
Sie aber sehr großzügig dehnen, wenn es um Äuße- kurier" und „Deutschland-Magazin" es zum erklär-
rungen aus Ihren eigenen Reihen geht. ten Ziel haben, die Regierung zu stürzen, und das
(Beifall bei den Regierungsparteien. — außerparlamentarisch versuchen,
Zurufe von der CDU/CSU.) (Lachen bei der CDU/CSU)
und sind Sie wie ich nicht der Meinung, daß Kolle-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
ginnen und Kollegen, die hier in diesem Hause
Abgeordnete Dr. Arndt (Berlin).
sitzen und sich gelegentlich in diesen Zeitschriften
artikulieren, nicht zur außerparlamentarischen
Dr. Arndt (Berlin) (SPD) : Herr Bundesminister, Opposition zählen?
bestreiten Sie der Opposition das verfassungsmä-
ßige Recht, die Entspannungspolitik zu stören und
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
die Stabilitätsbemühungen zunichte zu machen, auch
gaben: Herr Kollege Wienand, ich neige gefühls-
wenn es zum Schaden aller ist?
mäßig dazu, Ihnen zuzustimmen. Ganz zustimmen
(Lachen bei der CDU/CSU.) kann ich nicht, weil ich beide Zeitschriften nicht lese.
(Heiterkeit bei der SPD. — Zurufe von der
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- CDU/CSU.)
gaben: Nein, natürlich nicht. Aber die Bundesregie-
rung kann natürlich politisch zu solchen Versuchen Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
Stellung nehmen. ren, zur Geschäftslage folgendes. Diejenigen Kolle-
(Abg. Wehner: Das muß Sie sogar!) gen, die sich jetzt zum zweiten Male melden, kon-
sumieren damit ihre Zusatzfragen zur Frage 4. Eine
Zusatzfrage zur Frage 4 hat jetzt der Abgeordnete
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des Benda.
Abgeordneten Dr. Schneider (Nürnberg).
Benda (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, nach-
Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr Bun- dem Sie den einzigen konkreten Punkt, mit dem Sie
desminister, wollen Sie mir zugeben, daß sich der bisher die Ausführungen des Herrn Bundeskanzlers
Bundeskanzler als Parteivorsitzender das Kom- begründet haben, zum Bestandteil der höheren All-
muniqué des Parteivorstandes zu eigen gemacht gemeinbildung gemacht haben, darf ich Sie fragen:
hat und daß in der Öffentlichkeit jede Äußerung Welches Ergebnis hat denn die Bemühung des stell-
des Parteivorsitzenden der SPD als eine Äußerung vertretenden Sprechers der Bundesregierung, des
des Bundeskanzlers verstanden wird? Herrn von Wechmar, gehabt, der am Montag dieser
Woche, also unmittelbar nach den Äußerungen des
(Zurufe von der SPD.)
Herrn Bundeskanzlers, in einer Pressekonferenz er-
klärt hat, er kenne die rechte außerparlamentarische
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Opposition, auf die sich der Herr Bundeskanzler
gaben: Nein, da kann ich Ihnen nicht zustimmen. bezogen habe, nicht, wolle sich aber gern danach
Ich könnte Ihnen viele Zitate von Parteivorsitzen- erkundigen, worin diese bestehe?
den der CDU nennen, bei denen sich die Herren
sehr dagegen gewehrt hätten, sich eine solche Äuße- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
rung als Äußerung der Regierung des Bundeskanz-
lers in seiner amtlichen Eigenschaft zurechnen zu Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
lassen. . gaben: Herr Kollege Benda, ich schlage vor, daß Sie
(Zurufe von der CDU/CSU.) Herrn Kollegen von Wechmar direkt fragen.
(Abg. Rasner: Oh! Gepaßt! - Abg. Dr. Bar
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter zel: Das ist Treue zu den Mitarbeitern! —
Jung zu einer Zusatzfrage. Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
3982 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter - die


von vornherein Angriffen dieser Art gemeinsam
Breidbach zu einer Zusatzfrage zur Frage 4. Stirn bieten sollte.
(Abg. Breidbach: Welche Angriffe sind das
Breidbach (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, denn?)
nachdem ich mir einmal im Sprachbrockhaus die Wir haben schließlich eine Geschichte hinter uns.
Bedeutung des Wortes „Anschlag" angesehen habe,
die dort mit „Vernichtung" gleichgestellt wird, frage
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
ich Sie, ob Sie glauben, daß der von Ihnen konkret Abgeordneter Zoglmann?
genannte Witiko-Bund einen Anschlag im Sinne der
Vernichtung auf die Bundesregierung ausüben (Ah-Rufe bei der SPD.—Zuruf von der SPD:
könnte, oder aber ob es nicht notwendig wäre, der Jungfernrede! — Abg. Wehner: Tanten
Opposition, die, wie Sie selber betont haben, zum rede; Hospitantenrede!)
gemeinsamen Kampf gegen rechtsradikale Kräfte Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Ritz.
aufgefordert werden sollte, nun endlich einmal
konkret zu sagen, was außerhalb des Witiko-Bundes
Dr. Ritz (CDU/CSU): Herr Bundesminister, nach-
innerhalb der außerparlamentarischen Opposition
dem Sie hier lediglich den Witiko-Bund als Teil der
von rechts noch existiert.
rechten APO bezeichnet haben, darf ich Sie fragen,
ob Sie bestätigen können, daß der Bundesminister
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Herr
gaben: Herr Kollege Breidbach, ich nehme an, daß Ertl, in diesem Bund bereits als 'Redner tätig ge-
Sie wissen, was außer dem Witiko-Bund rechts noch wesen ist.
existiert. Das unterstelle ich zunächst einmal. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
Zweitens möchte ich sagen, daß es nicht ein Zei-
chen von Gemeinsamkeit ist, wenn Sie jetzt das Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Wort „Anschlag", das durchaus einen politischen gaben: Ich darf zunächst einmal richtigstellen, daß
Sinn haben kann, ins Lächerliche zu ziehen ver- wir nicht von der „APO" gesprochen haben. Ich darf
suchen, indem Sie so tun, als ob es sich hier um nochmals feststellen, daß ich von einer bestimmten
Bombenanschläge oder etwas Ähliches handle. Das Äußerung in einem Organ und nicht von dem Bund
Wort ist sehr gut zu verstehen. als Ganzem gesprochen habe.
(Abg. Franke [Osnabrück] : Euer sprach (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.)
gewaltiger Kanzler hat doch das Wort ge — Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie zu-
braucht! — Weitere Zurufe von der CDU/ hörten. Das würde es sehr viel leichter machen.
CSU.)
(Abg. Wehner: Es ist ein großer Irrtum an
zunehmen, daß das der Zweck dieser Stunde
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter Dr. ist! Die wollen keine Antworten! — Zurufe
Müller-Hermann zu einer Zusatzfrage zur Frage 4. von der CDU/CSU.)
Zum dritten darf ich sagen, daß ich sicher nicht
Dr. Müller Hermann (CDU/CSU) : Herr Bundes-
- vollständig darüber unterrichtet bin, in welchen
minister, sind verschiedene Auslassungen des Herrn Kreisen aus welchen Gründen der Kollege Ertl
Bundeskanzlers, speziell diejenige, die heute hier spricht. Auch hier würde ich vorschlagen, ihn selber
zur Diskussion steht, Ausdruck des Demokratiever- zu fragen.
ständnisses dieser Bundesregierung, nämlich daß
alles, was fortschrittlich ist, von ihr gepachtet ist, Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
und alles, was Opposition ist, auf Reaktion und Abgeordnete Niegel.
Restauration abgestellt ist?
Niegel (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, Sie
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- sprachen vorhin von der „vorgestrigen Politik", die
gaben: Nein, diese Regierung wiederholt nicht den diese außerparlamentarischen Kräfte betrieben.
Fehler, der früher oft gemacht worden ist, Könnten Sie mir einmal definieren, was vorgestrige,
gestrige, heutige oder morgige Politik eigentlich ist?
(Abg. Wehner: Systematisch gemacht
(Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Das ist Ihre
worden ist!)
Politik! — Weitere Zurufe von der SPD.)
als Ihre Partei an der Regierung war. Damals haben
Sie Ihre Partei immer mit dem Staat gleichgesetzt. Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Das tun wir nicht, Herr Kollege Müller-Hermann. gaben: Das könnte ich sicher, und es wäre vielleicht
(Beifall bei den Regierungsparteien.) auch sehr nützlich. Ich nehme aber an, es kostet uns
hier zuviel Zeit, Herr Kollege.
Wir sind allerdings der Meinung, daß man im Inter-
esse der Demokratie Präsident von Hassel: Diese Auffassung teilt
(Abg. Rasner: Diese Regierung ablösen auch der Präsident.
muß!) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3983
Präsident von Hassel
Das ist eine interessante Frage. Aber ich glaube, daß -
NPD sei in einer Zeitschrift des Witiko-Bundes ver-
wir jetzt nicht die Zeit haben, sie zu beantworten. treten worden? Würden Sie mir zugeben, daß der
„Politische Zeitspiegel", von dem Sie gesprochen
Jetzt hat eine weitere Zusatzfrage der Herr Ab-
geordnete Dr. Jobst. haben, weder vom Witiko-Bund herausgegeben wird
noch der Name des Landtagsabgeordneten Lange in
dieser Zeitschrift genannt ist?
Dr. Jobst (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
steht hinter den Verdächtigungen, die mit unge- (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Sie wissen
wöhnlicher Wortwahl vorn Bundeskanzler ausge- es aber genau!)
sprochen wurden, nicht das Eingeständnis, daß das
Stimmungsbarometer für die Bundesregierung nicht Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
mehr günstig steht? gaben: Er ist aber genannt in dem Witiko-Brief, in
(Oh-Rufe bei der SPD.) dem diese Beilage verteilt worden ist, Herr Kollege
Becher.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Nein, Sie irren sich. Wir fühlen uns sehr
Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) : Würden Sie
mir zugeben,
sicher und sehr gut, Herr Kollege.
(Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Wieso hat
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
er zwei Fragen?)
Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Rasner:
Den Eindruck machen Sie heute morgen! daß der Hinweis darauf aus Quellen östlicher Nach-
— Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) richtendienste gekommen ist, denen Sie offenbar
zum Opfer gefallen sind?
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der (Zurufe von der SPD.)
Abgeordnete Zander.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Zander (SPD) : Herr Minister, ist es richtig, daß gaben: Herr Kollege Becher, wenn Sie jetzt meinen,
in der Zeit zwischen der Bundestagswahl und der das auf östliche Nachrichtendienste zurückspielen
Regierungsbildung im vergangenen Jahr von rechts zu müssen, dann sind wir bei genau derjenigen Art
stehenden Kräften massiver Druck auf Mitglieder der Auseinandersetzung, gegen die sich der Bundes-
dieses Hauses ausgeübt worden ist, um diese Re- kanzler gewehrt hat.
gierung gar nicht erst zustande kommen zu lassen? (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
gaben: Das kann ich Ihnen en detail nicht beant- Abgeordneter Dasch.
worten.
(Lachen bei der CDU/CSU.) Dasch (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, sind Sie
sich bewußt, daß Sie mit der generellen Bezeich-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der nung des Witiko-Bundes als rechtsradikal vielen an-
Abgeordnete Dr. Riedl (München). gesehenen Bürgern unseres Landes, die seit ihrer
Heimatvertreibung beim Aufbau unseres demokra-
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Bundes- tischen Staates und seiner Wirtschaft ihren Anteil
minister, wie wollen Sie es eigentlich begründen, geleistet haben, bitter Unrecht tun?
daß Sie ein Mitglied des Landtags von Nordrhein- (Zuruf von der SPD: Das hat er ja gar nicht!)
Westfalen, das auf ordentlichem Wege in dieses
Länderparlament gewählt worden ist, als „außer-
parlamentarische Opposition" in diesem Land be-
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Abgeordneter, ich habe jetzt schon
zeichnen?
mehrfach darauf hingewiesen, daß ich mich auf die-
ses Zitat bezogen und nicht ein Urteil über den
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Bund im Ganzen abgegeben habe. Im übrigen darf
gaben: Ich nehme an, daß die Tätigkeit von Herrn ich bezüglich der Tätigkeit des Bundes nochmals auf
Kollegen Lange im Witiko-Bund nicht zu seiner den interessanten Artikel des Kollegen Borm ver-
parlamentarischen Tätigkeit gehört. weisen, in dem Sie auch weiteres Material zu die-
(Sehr gut! bei der SPD. — Lachen und Oh-Rufe ser These finden.
bei der CDU/CSU.)
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Abgeordneten Schmidt (Kempten).
Abgeordnete Dr. Becher (Pullach).
Schmidt (Kempten) (FDP) : Herr Bundesminister,
Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) : Herr Bundes- ist Ihnen etwas darüber bekannt, daß es in diesem
minister, würden Sie mir zugeben, daß Sie den Zusammenhang Gespräche zwischen dem Bundes-
Bundestag falsch unterrichtet haben, als Sie vorhin vorsitzenden der NPD und einem Hospitanten der
behaupteten, die These von der angeblichen Zusam- Oppositionsfraktion dieses Hauses gegeben haben
menarbeit der Nationalliberalen Aktion und der soll?
3984 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere- Auf-
gaben: Da schlage ich doch vor, den Hospitanten gaben: Nein, Herr Kollege Rösing, ich bin im Ge-
selbst zu fragen. genteil der Meinung, daß nichts dem deutschen In-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) teresse im Ausland mehr schadet als das Techtel-
mechtel oder das Augenzwinkern mit Rechtsradi-
kalen und daß nichts dem deutschen Interesse im
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der Ausland mehr nützt als die klare Abgrenzung ge-
Abgeordnete Ott. — Ich sehe, er hat verzichtet. genüber diesen Kräften.
Dann zu einer Zusatzfrage der Abgeordnete Dr.
Wörner. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
Wehner: Das Wahlbündnis!)
Dr. Wörner (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
sind Sie nicht der Auffassung, daß der Gebrauch der Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
Worte „Anschlag auf die Bundesregierung" Abgeordneter Dr. Geßner.

(Zurufe von der SPD)


Dr. Geßner (SPD) : Herr Bundesminister, sind
ein Vokabular einführt, das man normalerweise bei Ihnen Zeitungsmeldungen bekannt, wonach ein Mit-
Angriffen auf totalitäre Regierungen findet, und arbeiter des „Bayernkurier" noch im vergangenen
daß dieser Ausdruck doch in einem hohen Maße zu Jahr Mitglied einer rechtsradikalen Studentenorga-
erkennen gibt, wie stark sich inzwischen Ihre Partei nisation in Würzburg gewesen ist?
mit diesem Staat identifiziert?
(Abg. Dr. Stoltenberg: Was hat das mit der
(Lachen bei der SPD.) Frage zu tun?)
Und könnten Sie mir erklären, worin nach Ihrer
Auffassung der Unterschied zwischen „Angriff" und Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
„Anschlag" besteht? gaben: Die Zeitungsmeldungen sind mir bekannt.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Abgeordneten Pawelczyk.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Kollege Wörner, ich darf zunächst ein-
Pawelczyk (SPD) : Herr Bundesminister, sind Sie
mal sagen, daß sich das Wort „Anschlag" auf die
mit mir der Meinung, daß die Fragen der Opposi-
Qualität des Angriffs und nicht auf die Schutz-
tion in der letzten halben Stunde zum wiederholten
würdigkeit des Objekts bezieht. Ich glaube, da lie-
Male beweisen, daß es ausschließlich darum geht,
gen Sie falsch.
die Parlamentsarbeit lahmzulegen, um Erfolge der
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Regierung zu verhindern?
Aber im übrigen darf ich sagen: Solange Sie vom (Beifall bei den Regierungsparteien. - Abg.
„Rotwelsch aus Moskau" sprechen, ist dieser Ter- Dr. Stoltenberg: Diese Frage kann der Prä
minus völlig einwandfrei. sident nicht zulassen!)
(Beifall bei der SPD.)
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
Er ist vielleicht technisch ungenau, aber nicht in dem
gaben: Ich glaube nicht, daß es Aufgabe der Regie-
Sinne wie manches, was aus Ihren Reihen kommt,
rung ist, Zensuren über , die Parlamentsarbeit der
zu beanstanden.
Fraktion zu erteilen, Herr Kollege,
Im übrigen, Kollege Wörner, bekomme ich jetzt
(Beifall bei der CDU/CSU.)
langsam den Eindruck, daß ich mich geirrt habe,
als ich annahm, die Opposition wolle diese Frage-
stunde im gemeinsamen Sinne führen. Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des
Abgeordneten Dr. Schulze-Vorberg.
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
Abg. Wehner: Das ist wahr! Die machen
nur Obstruktion!) Dr. Schulze Vorberg (CDU/CSU) : Herr Bundes-
-

minister, da der Herr Bundeskanzler — in diesem


Kommuniqué der SPD ausdrücklich als Bundeskanz-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage des ler genannt — das Wort „ Anschlag" benutzt hat,
Abgeordneten Rösing. frage ich Sie: würden Sie diesen Begriff „Anschlag"
rückblickend auch noch auf den Begriff „Pendler
Rösing (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, teilen Partei" anwenden wollen, der in der Wahlnacht von
Sie nicht meine Auffassung, daß diese Erklärung Herrn Wehner gebraucht worden ist und der die
der SPD, verkündet durch den Herrn Bundeskanzler, Schwierigkeiten dieser Regierung eigentlich deut-
diejenigen Kräfte im Auslandunterstützt, die seit licher charakterisiert als alles, was Sie hier bis jetzt
Jahr und Tag nach der gleichen Melodie gegen die vorgebracht haben?
Bundesrepublik schießen?
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Weh Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
ner: Jetzt kommen sie wieder mit dem Rot gaben: Herr Kollege Schulze-Vorberg, ich glaube,
welsch!) ich habe zu der Frage „Vorsitzender, Vorstand und
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3985

Bundesminister Dr. Ehmke


Kanzler" und zu der Frage „Anschlag" genügend -
Horn (SPD): Herr Minister, sind Sie nicht auch
Antworten gegeben. der Auffassung, daß Verhaltensweisen, wie sie Herr
Strauß auf einer Kundgebung hier in Bonn an den
(Abg. Wehner: Jawohl!)
Tag legte, auf der er sein politisches Glaubensbe-
Ich sehe kein neues Element in Ihrer Frage. kenntnis unter Schildern ablegte, die da lauteten:
(Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Sehr richtig!) „Brandt und Wehner — Hochverräter", „SPD und
FDP ist Hochverrat", eine rechtsradikale Tradition
widerspiegeln, die Deutschland in zwei Katastro-
Präsident von Hassel: Eine weitere Zusatz-
phen führte?
frage, Herr Abgeordneter Dr. Apel.
(Beifall bei der SPD.)

Dr. Apel (SPD) : Herr Staatssekretär,


Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
(Zurufe von der CDU/CSU: Er ist Minister! gaben: Ich glaube, daß das, was Sie gesagt haben, in
— Heiterkeit.) bezug auf dieses Motto richtig ist. Ich nehme aber
sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß die von der an, daß der Kollege Franz Josef Strauß sich mit die-
Opposition in den letzten Monaten benutzten Aus- sen Strömungen nicht identifizieren wird.
drücke — „Ausverkauf", „Landesverrat" und ge-
stern „Rotwelsch" — eindeutig klarmachen, daß Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
es nicht um einen Angriff, sondern um einen An- Abgeordnete Weigl.
schlag gegen die Bundesregierung geht, um einen
rechten außenparlamentarischen Anschlag? Weigl (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, wie be-
(Beifall bei der SPD.) werten Sie die Tatsache, daß die Vorwürfe des
Herrn Bundeskanzlers gegen die rechten Kräfte, die
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- einen Anschlag auf die Bundesregierung planen, zu-
gaben: Ich fürchte, daß uns die Beantwortung dieser erst in kommunistischen Zeitschriften und in kom-
Frage in philologische Erörterungen bringt, die dem munistischen Sendern erhoben worden sind?
Herrn Präsidenten nur das Geschäft erschweren wür-
den, und schlage vor, diese philologischen Erörte- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
rungen an anderem Ort fortzusetzen. gaben: Diese Frage habe ich schon dem Herrn Kol-
legen Becher beantwortet. Wir sollten damit auf-
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr hören, alles das, was uns nicht paßt, auf die an-
Abgeordneter Fellermaier. dere Seite herüberzuspielen mit dem Hinweis, es
hätte drüben gestanden und wäre schon darum
Fellermaier (SPD) : Herr Bundesminister, wür- falsch oder käme aus östlichen Nachrichtendiensten.
den Sie mir zustimmen in der Feststellung, daß sich Diese Art der Auseinandersetzung halte ich für zu
diese Fraktion (zur CDU/CSU) niemals so erregt hat billig.
und niemals so nervös war, wenn ein früherer (Zustimmung bei der SPD. — Unruhe bei
Bundesvorsitzender und Bundeskanzler aus ihren der CDU/CSU.)
Reihen in einer ganz anderen Art und Weise mit
einer anderen großen Partei umgegangen ist? Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
Abgeordnete Dorn.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Ja, ich glaube, daß diese Empfindlichkeit be- Dorn (FDP) : Herr Bundesminister, sind Sie mit
merkenswert ist. Ich mache kein Hehl daraus: ich mir der Meinung, daß wir die letzte halbe Stunde
halte sie für die Empfindlichkeit einer Partei, die, uns hätten ersparen können,
solange sie in der Regierung war, dazu neigte, sich
mit dem Staat gleichzusetzen, und die, seitdem sie (Beifall bei der FDP — Zurufe von der
in der Opposition ist, offenbar Schwierigkeiten hat, CDU/CSU — Rufe: Zur Sache!)
ihre Parteiinteressen dem Staatswohl unterzuord- wenn der neue Hospitant der CDU-Fraktion
nen.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Oho (anhaltende Zurufe von der Mitte)
Rufe bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Barzel: — vielleicht darf man mal aussprechen — diese
Das ist unglaublich! — Weitere Zurufe von Fraktion über alle Gespräche informiert hätte, die
der CDU/CSU.) er in den letzten Monaten geführt hat?
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
ren, ich lasse noch vier Zusatzfragen zu. Ich bitte
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
aber, sich wirklich an die Fragestellung zu halten
gaben: Das ist schon möglich, Herr Kollege.
und nicht in Themen abzugleiten, die mit der unmit-
telbaren Fragestellung nichts zu tun haben.
Präsident von Hassel: Eine letzte Zusatzfrage,
(Abg. Wehner: Es waren Dringlichkeits der Abgeordnete Link.
fragen, Herr Präsident!)
Ich rufe die Zusatzfrage des Abgeordneten Horn Link (CDU/CSU) : Nachdem der Herr Bundes-
auf. kanzler und der SPD-Parteivorstand den Rechtsex-
3986 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Link
tremismus in der Bundesrepublik so hoch und so Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere- Auf-
stark einschätzen, darf ich fragen, warum die Bun- gaben: Herr Kollege, ich darf noch einmal vorschla-
desregierung bisher noch keinen Verbotsantrag ge- gen, sich doch etwas eingehender mit der rechts-
gen die NPD gestellt hat, obwohl die SPD den radikalen und nationalistischen Literatur und ent-
NPD-Verbotsantrag auf ihren Wahlplakaten propa- sprechenden Äußerungen in diesem Lande zu Betas-
giert hatte? sen.
(Zurufe von der CDU/CSU.)
(Abg. Wehner: Fragen Sie mal Herrn Kie
singer!)
Präsident von Hassel: Eine zweite Zusatz-
frage des Abgeordneten Roser.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Kollege, weil es glücklicherweise den
gemeinsamen Wahlanstrengungen der demokrati- Roser (CDU/CSU) : Der Herr Bundeskanzler hat
vom Rad der Entwicklung gesprochen. Meint er da-
schen Parteien gelungen ist, diese Partei politisch
mit vielleicht die Preisentwicklung?
aus dem parlamentarischen Leben auszuschalten.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu (Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Lachen
und Zurufe von der SPD.)
rufe von der CDU/CSU. — Gegenrufe des
Abg. Wehner: Sie machen das wie 1966! —
Das ist Ihre Taktik und nichts anderes! — Dr. Ehmke, Bundesminister tür besondere Auf-
Sie sind nicht sauber, das ist alles! — Fort gaben: Nein, Herr Kollege Roser, wir nehmen die
gesetzte Auseinandersetzungen zwischen Geschichte der Demokratie in diesem Lande so
Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD. ernst, daß wir eine solche Fragestellung für unange-
— Unruhe.) messen gegenüber den Problemen halten.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
Präsident von Hassel: Wir sind am Ende der rufe von der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
Fragestellung der Frage Nummer 4. Ich rufe die Ein „christliches" Kabarett ist das hier! —
Frage Nr. 5 des Herrn Abgeordneter Roser auf: Abg. Benda meldet sich zu einer Zusatz
frage.)
Welche Beweise hat die Bundesregierung für die von Bundes-
kanzler Brandt in der Öffentlichkeit aufgestellte Behauptung,
daß über „Aktionen" gegen die FDP ein großangelegter Ver-
such „einer rechten außerparlamentarischen Opposition" unter-
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
nommen werde, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, die ren, darf ich anregen, weitere Zusatzfragen nicht
Entspannungspolitik zu stören und in die Konjunkturpolitik so
einzugreifen, daß die Bemühungen um mehr Stabilität zunichte mehr zu stellen. In der Zwischenzeit ist von der
gemacht werden? Fraktion der CDU/CSU eine Aktuelle Stunde be-
antragt worden; der ganze Komplex wird also
Ich habe den Eindruck, daß sich — —
anschließend noch einmal aufgenommen. Sind Sie
(Anhaltende Unruhe. — Glocke des Präsi damit einverstanden, Herr Kollege Benda?
denten.)
(Zustimmung des Abg. Benda.)
— Ich habe den Eindruck — —
— Einverstanden.
(Fortgesetzte Unruhe. — Glocke des Präsi
Ich gebe nun, nachdem diese drei Fragen beant-
denten.)
wortet worden sind, dem Abgeordneten Zoglmann
— Ich darf Sie bitten, meine Damen und Herren! — das Wort zu einer persönlichen Erklärung, um die
Zur Frage Nr. 5! Glauben Sie, daß die Frage durch er in diesem Zusammenhang gebeten hat.
die Beantwortung der vielen Zusatzfragen beant-
(Zurufe von der SPD.)
wortet ist?
(Abg. Roser: Ich habe nicht den Eindruck!) Zoglmann (CDU/CSU-Gast) : Herr Präsident!
— Sie haben nicht den Eindruck, bitte schön. Aber Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der stell-
ich glaube, wir beschränken uns darauf, daß wir vertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion, Herr
dem Fragesteller zwei Zusatzfragen geben. Wir Kollege Schmidt (Kempten), hat den Herrn Minister
sind bald am Ende der Fragestunde angelangt. Ehmke gefragt, ob ihm bekannt sei, daß ich mit dem
Vorsitzenden der Nationaldemokratischen Partei,
Zur Beantwortung der Frage Nummer 5 der Herr Herrn von Thadden, Verhandlungen geführt habe.
Bundesminister. Ich erkläre hiermit, daß ich mit Herrn von Thadden,
den ich nicht kenne und mit dem ich persönlich noch
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- niemals ein Wort gesprochen habe, keinerlei Ver-
gaben: Herr Präsident, ich habe den Eindruck, daß handlungen, weder direkt, noch indirekt, gepflogen
die Frage ausreichend beantwortet worden ist. habe und daß ich diese Frage hier als eine üble
Verleumdung zurückweise.
Präsident von Hassel: Noch eine Zusatzfrage, (Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Kollege Roser.
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter
Schmidt (Kempten) — —
Roser (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, hier ist
konkret nach Beweisen gefragt. Wo sind diese Be- (Abg. Dr. Stoltenberg: Herr Dorn, setzen
weise? Sie sich mal auf die richtige Bank!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3987

Präsident von Hassel


— Einen Augenblick, jetzt hat höchstens noch der -
Frage, ob das stimmt, nicht daß es stimmt, sondern
Abgeordnete Schmidt (Kempten) das Wort zu einer ob das stimmt.
persönlichen Erklärung. Er verzichtet darauf.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Schöner Stil, Herr
(Pfui-Rufe bei der CDU/CSU.) Schmidt!)
— Meine Damen und Herren, ich darf Sie bitten, — Herr Kollege Stoltenberg, wenn ich jetzt den
sich zu mäßigen. Stil der letzten halben Stunde und diese verzweifel-
Zu einer persönlichen Erklärung hat doch der ten Versuche sehe — —
Herr Abgeordnete Schmidt (Kempten) das Wort.
(Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Per
sönliche Erklärung!)
Schmidt (Kempten) (FDP) : Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren!
(Abg. Rasner: Eine wackelnde Koalition!) Präsident von Hassel: Darf ich bitten, daß Sie
den Abgeordneten Schmidt (Kempten) ausreden
— Herr Kollege Rasner, ich darf doch bitten, ab- lassen!
zuwarten, was ich hier sagen möchte. — Ich habe
die Frage gestellt — und möchte das hier wieder- (Abg. Rasner: Das ist doch keine per
holen —, ob der Herr Bundesminister in der Lage sönliche Erklärung!)
ist, zu erklären, ob ein solches Gespräch stattgefun-
den haben soll. Ich bitte, darauf im Protokoll zu
Schmidt (Kempten) (FDP) : — die verzweifelten
achten: „soll".
Versuche, die zweifellos zwischen Ihnen bestehen-
(Zurufe von der CDU/CSU.) den Spannungen, ob es so etwas an Verbindungen
— Moment, meine Damen und Herren, ich habe gibt oder nicht, abzuwehren, stimme ich völlig dem
gefragt „soll". Mir waren solche Gerüchte — — zu, was der Herr Bundesminister gesagt hat — ich
(Abg. Dr. Stoltenberg: Woher wohl!) war auch der Auffassung, daß mit diesen Fragen

— Entschuldigen Sie, meine Damen und Herren,


lassen Sie mich doch einmal ausreden.
Präsident von Hassel: Verzeihung, Herr Kol-
(Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU.)
lege Schmidt (Kempten), das ist keine persönliche
Erklärung mehr.
Präsident von Hassel: Das Wort zu einer per-
sönlichen Erklärung hat Herr Abgeordneter Schmidt (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Schmidt
(Kempten), und ich darf Sie bitten, ihn ausreden zu [Kempten] : Ich hatte mich auch nicht zu
lassen. einer persönlichen. Erklärung gemeldet!)
— Nur zur persönlichen Erklärung kann ich das
Schmidt (Kempten) (FDP) : Ich habe meine Frage Wort geben. Sonst hätte ich Ihnen das Wort nicht
mit „soll" geschlossen. Der Herr Staatsminister — erteilt. Ich hatte gemeint, Sie nähmen nach der
Bundesminister hat seine Antwort — Erklärung von Herrn Abgeordneten Zoglmann zu
(Zurufe von der CDU/CSU.) einer persönlichen Erklärung das Wort. Wenn ich
mich geirrt haben sollte, darf ich bitten, daß Sie
— Entschuldigen Sie, es gibt ja auch Staatsminister vielleicht nachher in der Aktuellen Stunde nach
in den Ländern. — Der Herr Bundesminister hat einmal das Wort nehmen.
seine Antwort darauf beschränkt, mir den Rat zu
geben — dafür bin ich ihm sehr dankbar —, Herrn Meine Damen und Herren, wir hätten noch eine
Kollegen Zoglmann selbst zu fragen. Ich hatte die Minute Zeit. Ich glaube, Sie stimmen mir darin zu,
Absicht, Herrn Kollegen Zoglmann nach dieser daß wir diesmal die Fragestunde mit 59 Minuten
Fragestunde entweder mündlich oder schriftlich da- abschließen.
nach zu fragen.
Die Fraktion. der CDU/CSU hat eine
(Zurufe von der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Zogl- Aktuelle Stunde
mann hat hier von dieser Stelle erklärt, daß das,
was gerüchtweise vorhanden war, nicht stimmt. Ich begehrt. Der Antrag wird von der Fraktion unter-
nehme diese Erklärung des Kollegen Zolgmann als stützt. Ich darf die Kollegen auf die Bestimmungen
Antwort auf meine Frage zur Kenntnis. Sie haben zur Aktuellen Stunde aufmerksam machen; Sie fin-
dazu eine Aktuelle Stunde beantragt. Ich weiß nicht, den sie in der Geschäftsordnung in der Anlage 3.
ob in dieser Aktuellen Stunde zu diesen Dingen Danach werden die Redezeiten der Regierungsver-
noch etwas gesagt werden wird. Ich nehme zur treter nicht auf die 60 Minuten angerechnet. Sollte
Kenntnis, daß der Herr Kollege Zoglmann — ich die Regierung in ihren Antworten mehr als 30 Mi-
bin ihm dankbar dafür — nuten brauchen, werden 30 Minuten zugelegt. Jeder
hat eine Redezeit von maximal fünf Minuten.
(Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU —
Abg. Rasner: Perfide!) Gemäß den Richtlinien hat zunächst die antrag
diese Frage hier öffentlich beantwortet hat. Ich stellende Fraktion das Wort, und zwar der Abge-
nehme das zur Kenntnis als Antwort auf meine ordnete Benda.
3988 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Benda (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Da- bestreiten - — aber er ist mittlerweile auch -nicht
men und Herren! Wie mir eben gesagt wurde, wird mehr da.
der Herr Bundeskanzler jeden Augenblick hier sein. (Abg. Wehner: Lassen Sie doch die Faxen
Ich verzichte also darauf, den Umstand zu kommen- sein, Sie früherer Innenminister! Das ist
tieren, daß der Herr Bundeskanzler zur Minute noch doch viel zu billig! — Abg. Dr. Stoltenberg:
nicht hier ist, Das sind doch keine Faxen! - Abg. Weh
(Abg. Wienand: Er ist unterwegs!) ner: Natürlich sind das Faxen! — Gegen
rufe von der CDU/CSU.)
sondern beschränke mich auf die Feststellung, daß
seine Anwesenheit wohl dringend notwendig ist.
Präsident von Hassel: Herr Bundesminister
(Abg. Wehner: Er ist unterwegs!) Ehmke ist anwesend, Herr Abgeordneter Benda.
— Ich habe es ja gesagt, Herr Kollege Wehner! —
In der Tat läßt ja die Distanzierung von Kommuni- Benda (CDU/CSU) : Ich möchte Ihnen, Herr Bun-
qués der SPD, die Herr Kollege Ehmke amtlicher- desminister Ehmke, das Recht bestreiten, von der
seits hier vorgenommen hat, den Eindruck aufkom- Regierungsbank aus die CDU/CSU für unfähig zu
men, daß wieder einmal die Informationen, die den erklären — ich zitiere Sie —, das Parteiinteresse
Herrn Bundeskanzler zu seinen Äußerungen veran- dem Staatswohl unterzuordnen. Ich finde, daß Ihnen
laßt haben, von dem Herrn Kollegen Wischnewski eine solche Bemerkung ebensowenig zusteht
stammen.
(Zurufe von der SPD)
(Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
wie die von der Regierungsbank und damit amt-
Es ist ja auch immerhin möglich, und man sollte es licherseits ausgesprochene Hoffnung, daß Arbeit-
auch bis zum letzten Augenblick hoffen, daß, nach- nehmer in Zukunft die „Bild"-Zeitung und andere
dem Herr Minister Ehmke unsere Fragen nicht hat Presseerzeugnisse boykottieren wollen.
beantworten können, der Herr Bundeskanzler selbst (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
nun zu den Fragen Stellung nimmt und sie beant- Das haben jetzt Sie gesagt! Das haben Sie
wortet. Die Fragestunde hat ja den Eindruck er- gesagt!)
weckt, daß wir vor einem ganz groß angelegten
Angriff finsterer Mächte stehen, deren Wirken Der Professor der Rechte Herr Kollege Ehmke wird
so geheim ist, daß auch die Bundesregierung selbst wohl in der Lage sein, zur Kenntnis zu nehmen, was
sie noch nicht so ganz kennt. der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungs-
gericht über derartige Aufrufe zum Boykott be-
(Beifall bei der CDU/CSU.) stimmter Presseerzeugnisse vor einiger Zeit ge-
Meine Damen und Herren, das macht ja den Vor- äußert haben.
gang um so gefährlicher. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der
SPD: Das haben S i e gesagt!)
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, es ist nicht Aufgabe
Der Anschlag ist ganz zweifellos groß angelegt. Das der Opposition, zu beurteilen, ob die Regierungs-
kann man daraus erkennen, daß die Vorläufer be- parteien selbst eigentlich noch fähig sind, die
reits in der Wahlnacht vor einem Jahr erkennbar Gründe zu erkennen, die sie in die Krise gestürzt
waren, als das düstere Wort von der FDP als einer haben, geschweige denn, ihnen wirksam entgegen-
„alten Pendlerpartei" geprägt wurde. zutreten.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Stoltenberg: Sehr wahr!)

Wie groß angelegt dieser Anschlag ist, kann man Wer so redet wie der Bundeskanzler, beweist ein
auch daraus erkennen, daß die Tarnung, deren sich großes Maß an Nervosität, das verständlich ist, und
damals die rechten außerparlamentarischen Kräfte auch an Unfähigkeit, die bestehenden Probleme zu
bedienten, wohl nahezu perfekt war. meistern.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Zuruf von der SPD: Wollen Sie das Parla
ment zum Kindergarten machen?) Wer die Situation im eigenen Lager so falsch ein-
schätzt, wie es hier geschieht, wird kaum in der
Es ist doch gut, daß der Bundeskanzler zur rechten Lage sein, die Lage des ihm anvertrauten Landes
Zeit und hoffentlich noch nicht zu spät das rechte zu meistern.
Wort gefunden hat. Die Informationspolitik des
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU. —
Hauses Ahlers ist — um ein mittlerweile beliebtes
Wort von Herrn Ahlers aufzugreifen — die Ver- Pfui-Rufe von der SPD.)
schönerung der Wahrheit. Aber der Herr Bundes- Wer das neue Deutschland schaffen will, muß ja des-
kanzler verschönert nicht; er sagt, wie es ist. Er wegen noch nicht in die Tonart des „Neuen Deutsch-
sagt: „Feinde ringsum" nach der guten alten deut- land" verfallen.
schen Art.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU. —
(Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
Fortgesetzte lebhafte Pfui-Rufe bei der
Ich möchte nun die Gelegenheit benutzen, um SPD. — Zurufe von der SPD: Aufhören!
Ihnen, Herr Bundesminister Ehmke, das Recht zu Weitere Zurufe von der SPD.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3989

Präsident von Hassel: Ihre fünf Minuten Wer hier den Dolch sieht und „Mord!" ruft, der -be-
laufen ab! Bitte, kommen Sie zum Schluß! weist auch, wie sehr er getroffen ist.
(Weitere Pfui-Rufe von der SPD.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Anhaltende
Pfui-Rufe von der SPD.)
Benda (CDU/CSU) : Noch zehn Sekunden! Aber
die Zeit -- — Präsident von Hassel: Das Wort hat Herr Bun-
desminister Professor Ehmke.
(Fortgesetzte Pfui-Rufe links.)

Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-


Präsident von Hassel: Nein, kommen Sie bitte gaben: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen
zum Schluß! Die fünf Minuten sind abgelaufen.
und Herren! Ich will auf die zahlreichen Verdrehun-
(Anhaltende Pfui-Rufe und weitere Zurufe gen, die in der Darstellung des Kollegen Benda ent-
von der SPD.) halten waren, nicht im einzelnen eingehen. Ich stelle
nur zweierlei fest.
Benda (CDU/CSU) : Ich wäre längst am Ende, Erstens. Die Opposition befindet sich in einem Zu-
wenn sich die Herren Kollegen der SPD schneller stand, in dem selbst so ruhige Kollegen wie Herr
beruhigen würden. Ich habe nur noch einen Satz. Benda zu solchen Verdrehungen Zuflucht nehmen
(Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]: Was macht müssen.
jetzt der Präsident? — Weitere Zurufe von (Beifall bei der SPD.)
der SPD.) Zweitens. Herr Kollege Barzel, ich habe folgenden
Eindruck gewonnen — und diesen Eindruck möchte
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- ich auch hier vor der Öffentlichkeit wiedergeben —:
schenfrage des Abgeordneten Wehner? Das, was hier heute morgen von Ihnen geboten
wurde, stärkt meinen Eindruck, daß Sie offenbar der
Benda (CDU/CSU) : Nein, ich gestatte keine Zwi- Meinung sind, wenn Sie in diesem Lande nicht re-
schenfrage. gieren, können der Staat und seine Institutionen
ruhig kaputtgehen.
(Abg. Wehner: Haben Sie dieses Wort
„neues Deutschland" hier eingeführt, um (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
eine Verleumdung aktenkundig zu machen? teien. — Abg. Dr. Stoltenberg: Das machen
— Fortgesetzte Pfui-Rufe von der SPD.) Sie! — Vereinzelte Pfui-Rufe von der
CDU/CSU.)
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter
Benda, Ihre Zeit ist abgelaufen. Ich darf Sie bitten! Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab-
(Abg. Wehner: Was haben Sie gemacht, Sie geordnete Dr. Barzel.
Rechtskundiger? -- Erneute Pfui-Rufe von (Abg. Dr. Schäfer [Tübingen]:: Ja, wieso
der SPD. — Abg. Wehner: Sie sind ein Ver denn? Mit welchem Recht? — Abg. Dr. Apel:
leumder! — Weitere Zurufe von der SPD: Was ist denn los? Ich bin doch vorher dran!)
Verleumder!)
Ich mache darauf aufmerksam — Herr Abgeord- Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
neter Wehner, das hatte ich im Augenblick über- Damen und Herren! Dieser Versuch — —
sehen —, daß Zwischenfragen in der Aktuellen (Weitere Zurufe von der SPD.)
Stunde nicht zugelassen sind.
(Abg. Wehner: Der Abgeordnete Benda ist Präsident von Hassel: Herr Professor Schäfer,
ein Verleumder! — Weitere Zurufe links.) ich mache darauf aufmerksam, daß der Präsident die
Reihenfolge der Redner bestimmt
Herr Abgeordneter Benda, bitte noch einen
Schlußsatz! Ich darf Sie bitten, Ihre Ausführungen (Abg. Wehner: Der bestimmt demnächst so
zu beenden. wieso alles! — Weitere Zurufe von der
(Anhaltende Zurufe von der SPD.) SPD)
und daß nach dem Prinzip von Rede und Gegen-
Benda (CDU/CSU) : Ich komme zu meinem letz- rede, von Meinung und Gegenmeinung nach einer
ten Satz, sobald ich akustisch dazu in der Lage bin, Äußerung der Regierung der anderen Seite das
ihn auszusprechen. Wort gegeben werden muß. Bitte lesen Sie das nach.
Ich bedaure, daß Sie hier die Geschäftsführung des
(Pfui-Rufe und anhaltende weitere Zurufe
Präsidenten kritisieren.
von der SPD.)
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Stol
Meine Damen und Herren, in der deutschen Ge-
tenberg: Zügellose Intoleranz!)
schichte sind Dolchstoßlegenden nichts Neues.
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Barzel.
(Fortgesetzte Zurufe links.)
— Sie werden dadurch weder sympathisch noch Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
glaubwürdiger. Damen und meine Herren! Der letzte Satz des Herrn
(Zuruf von der SPD: Aufhören!) Bundesministers beim Bundeskanzler unterstellt, daß
3990 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Barzel
es der stärksten Franktion dieses Hauses nicht um Unverschämtheit, die deutlich macht, wes Geistes
-
das Wohl dieses Staates gehe. Kind Sie sind.
(Abg. Wehner: Sehr wahr!) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Dies, Herr Kollege Ehmke, ist selbst unter dem Das deutsche Volk verlangt von Ihnen politische
Niveau dessen, was Sie hier heute morgen geboten Alternativen, keine Verbalinjurien. Wir weisen
haben. diese zurück!
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien. - Zu
Meine Damen und Herren, diese Fragen und diese ruf des Abg. Dr. Müller-Hermann.)
Aktuelle Stunde ergaben sich aus dem unglaublichen Aber augenscheinlich sind Sie ja weder in der Ost-
Wort des Kanzlers, der hier heute morgen hat knei- politik noch im Bereich der Wirtschaftspolitik, wie
fen lassen. die Debatte in der letzten Woche gezeigt hat, zu
(Widerspruch bei der SPD.) solchen Alternativen in der Lage, sondern Sie su-
Das Wort „Anschlag", Herr Bundeskanzler, ist ein chen hier systematisch den Krawall.
Wort aus einer bösen Ecke, (Abg. Wehner: Sehr wahr! — Beifall bei
(Zurufe von der SPD) den Regierungsparteien. — Zurufe von der
CDU/CSU.)
ein Wort aus der Ecke — —
(Abg. Wehner: Es gibt doch keine bösere Sie wollen dieses Parlament funktionsunfähig
machen. Sie begreifen allerdings nicht, daß Sie da-
Ecke als Ihre, aus der heraus Sie sprechen!)
mit auch der Demokratie die Basis entziehen.
— Herr Kollege Wehner, wir haben in dieser De-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Da ist der
batte und bisher darauf verzichtet, so zu handeln wie
Sie. Herr Ehmke, Ihr Kanzler und auch Sie versuchen Meister des Krawalls, Herr Wehner!)
in Ihren Erklärungen nämlich seit geraumer Zeit, Wir stellen fest, daß diese Aktuelle Stunde die Bi-
uns in eine Ecke zu drängen, in die wir nicht ge- lanz ist, die die Opposition nach einem Jahr ihrer
hören. Tätigkeit zieht:
(Zurufe von der SPD.) (Abg. Wehner: Sehr wahr!)
Nur, nehmen Sie zur Kenntnis: Wir werden hier Krawall, Beschuldigungen, Angriffe, aber keine sach-
dann über das diskutieren, Herr Kollege Wehner, liche Arbeit.
was Sie über den Abbau von „Vorurteilen" von
Ihnen im Hinblick auf die Kommunisten gesagt ha- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar
) ben. Wir haben Urteile und keine „Vorurteile" über teien.)
die Kommunisten.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr
Abgeordnete Breidbach.
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab-
geordnete Dr. Apel. Breidbach (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! So wie man in
Dr. Apel (SPD) : H err Präsident! Meine Damen den Wald hineinruft, schallt es zurück, sagt ein altes
und Herren! Ich frage mich, woher Sie, Herr Bar- Sprichwort,
zel, den Mut nehmen, hier erneut als Schulmeister (Zurufe von der SPD)
der Nation aufzutreten. das wir uns hier gegenseitig schon sehr oft vorge-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) halten haben und das sich offensichtlich immer wie-
der bewahrheitet.
An Arroganz hat es Ihnen aber niemals gefehlt.
Das muß man ja nun feststellen. (Unruhe bei der SPD.)
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Erinnern wir uns an den Ausgangspunkt dieser
Zurufe von der CDU/CSU.) Auseinandersetzung! Der Ausgangspunkt dieser
Auseinandersetzung ist die Mitteilung für die Presse
Ich möchte nur zwei Punkte in diese Debatte ein-
im SPD-Pressedienst, in ,der es heißt: „Der Vorsit-
führen. Erstens nenne ich die Aussage von Herrn
zende der SPD, Bundeskanzler Willy Brandt, er-
Stücklen, daß der Bundeskanzler sich zunehmend
klärte heute auf einer Parteivorstandssitzung zur
eines Stiles bediene, der an Rotwelsch erinnere; das
aktuellen Situation" , und dann kommen die Erklä-
ist ein Vokabular, , das im „,Stürmer" und in den
rungen, die Gegenstand der Auseinandersetzung in
Organen der NS-Zeit gestanden hat. Wenn das
dieser Debatte sind, über einen Anschlag irgend-
schon ein so vernünftiger Mann wie Herr Stücklen
welcher ominöser rechtsgerichteter Kreise. Man hat
sagt, in welchem Zustand muß sich dann diese Op-
nach den Äußerungen von Herrn Ehmke hier fast
position befinden!
die Auffassung gewonnen, daß es sich um eine
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Geisterarmee handele, die irgendwo in der Öffent-
lichkeit existiere.
Wenn sich Herr Benda hier dazu hat hinreißen
lassen, zwischen dem „Neuen Deutschland" und Gestatten Sie mir eine zweite Bemerkung. Lesen
dem neuen Deutschland, das wir schaffen wollen, Sie die Tagespresse von heute! Es sind doch nicht
eine Verbindung zu ziehen, so ist das eine grobe Journalisten, die uns näherstehen als Ihnen, meine
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3991
Breidbach
sehr verehrten Damen und Herren, die Ihnen emp- Staates permanent an. Nur schlagen Sie die Hand-
fehlen, Ihren Bundeskanzler zu bitten, in seiner aus, weil Sie mit solchen Äußerungen, wie wir sie
Wortwahl vorsichtiger zu sein. Darauf kommt es laufend entgegennehmen müssen, den Versuch be-
doch an. treiben, hier eine Konfrontation um jeden Preis
(Beifall bei der CDU/CSU.) zum Schaden derjenigen, die wir alle zu vertreten
Ich habe schon vorhin in der Fragestunde klar- haben, zu provozieren.
zumachen versucht, daß man sich über die Ein- (Beifall bei der CDU/CSU.)
schätzung einer politischen Situation jederzeit un-
terhalten und darüber diskutieren kann. Wenn der
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab-
Bundeskanzler die Situation so ernst einschätzt, daß
geordnete Borm.
er annehmen muß, daß ein Anschlag auf ihn, d. h.
auf eine frei gewählte Regierung, geplant ist, dann
ist es Aufgabe des gesamten Parlaments, solche An- Borm (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen und
schläge abzuwehren, und Pflicht der Bundesregie- Herren! Es scheint das Schicksal dieses Parlaments
rung, das gesamte Parlament eingehend über die zu sein, daß, wenn man sich über wirkliche Lebens-
Gruppen, die die Anschläge planen, zu informieren, fragen der Nation unterhält, die Wogen der Er-
damit wir gemeinsam handeln können. regung hochgehen. Und wenn man hier von „fal-
schen Ecken" spricht, so fürchte ich, daß, wenn wir
(Beifall bei der CDU/CSU.)
diesen Stil fortsetzen, unser ganzes Parlament in
Und nun, Herr Kollege Apel, zu einigen Bemer- der falschen Ecke steht und nicht bloß eine Partei.
kungen, die Sie hier gemacht haben; wissen Sie:
(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!)
„Schulmeister der Nation" ; „an Arroganz hat es Ihnen
nie gefehlt" ; Herr Wehner heute morgen: „christ- Das vorausgeschickt, meine Damen und Herren.
liches Kabarett";
Die Hintergründe, die den Herrn Bundeskanzler
(Zurufe von der SPD)
wahrscheinlich veranlaßt haben, seine warnende
im letzten steigert er sich auch noch dazu, zu be- Mahnung an diese Nation zu richten, sind in der
haupten, wir würden uns nicht waschen, weil wir Tat sehr ernst. Ich rechte nicht mit irgendwelchen
nicht sauber seien; Worten; ich bin nämlich kein Schulmeister. Aber
eines weiß ich: daß zwei deutsche Staaten in der
(Abg. Dr. Apel: Wir sind doch hier nicht Tat durch Anschläge der Rechten zugrunde ge-
im Karneval!) gangen sind.
man könnte das fortsetzen, meine sehr verehrten (Beifall bei den Regierungsparteien. —
Damen und Herren: „Madigmacher-Union", „das Abg. Haase [Kassel] : Und der Linken!)
Spiel mit der Angst",
Es geht genau darum, dies in gemeinsamer An-
(Zuruf von der SPD: Genau!) strengung das dritte Mal zu vereiteln. Ich hoffe,
daß es möglich sein wird, hier zu einer sehr sach-
„Inflationsangst" und „Verbrecher", Herr Kollege lichen Auseinandersetzung zu kommen.
Wehner,
(Beifall bei der SPD) Ich habe — der Herr Bundesminister hat zwei-
mal darauf hingewiesen, und ich empfehle Ihnen, es
und „die, die diese beiden Weltkriege und die nachzulesen — in der „Frankfurter Rundschau" sehr
darauf folgenden Inflationen zu verantworten ha- konkret einiges über in der Zukunft geplante Maß-
ben". Ich rufe das, was hier in der Vergangenheit nahmen dargelegt und bin bereit, für jedes Wort,
eine Rolle gespielt hat, noch einmal in unser aller das darin steht, den Wahrheitsbeweis anzutreten.
Erinnerung, Herr Kollege Wehner, damit nicht der Die Äußerungen, die dort stehen, sind in der Tat
Eindruck entsteht, als seien Sie die braven Leute eine Basis der Auseinandersetzung.
dieses Staates, die ein neues Deutschland schaffen
wollen — die Vorzeichen haben wir bisher nur auf Allerdings tut es mir sehr leid, wenn dem Herrn
der Grundlage der Situation erkennen können, die Bundeskanzler heute Nervosität und Unfähigkeit
diese Regierung bietet --, und die anderen seien die vorgeworfen werden, diesen Staat zu führen.
Destruktiven. Wir haben zwanzig Jahre lang in die- (Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt! — Bei
sem Staat ohne Formulierungen, wie sie in der letz- fall bei der CDU/CSU.)
ten Zeit von dieser Ecke gekommen sind, so viel
geleistet; Dieser Vorwurf, meine Damen und Herren, ist
(Zurufe von der SPD) wahrhaft unter der Gürtellinie. Ich empfehle Ihnen,
einmal ins Ausland zu gehen; dort ist seine Beurtei-
das müssen Sie mal erst nachmachen, meine sehr lung anders.
verehrten Damen und Herren,
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
(Beifall bei der CDU/CSU — anhaltende Zu Zurufe von der CDU/CSU.)
rufe von der SPD) Der Herr Bundeskanzler steht für diesen Staat wie
und dann können Sie sich hier oben hinstellen und wir alle, und jeder, der ihn oder einen von uns
der CDU vorwerfen, sie mache Krawall. Wir wol- beschimpft, beschimpft uns alle und sich selbst.
len keinen Krawall, sondern wir bieten unsere Mit- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Leb
arbeit an konkreten Punkten zur Gestaltung dieses hafte Zurufe von der CDU/CSU.)
3992 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Borm
Lassen Sie mich zum Schluß etwas über außer- Ich darf Ihnen deshalb noch einmal sagen, -um was
parlamentarische Opposition sagen! Empfinden Sie es tatsächlich geht. Es geht erstens um die Feststel-
das, was vor einigen Monaten auf dem Marktplatz lung, gegen die keiner etwas wird vorbringen kön-
in Bonn von den Vertriebenenverbänden verlaut- nen, daß aus unserer Sicht das Regierungsbündnis
bart worden ist, etwa nicht als außerparlamenta- SPD/FDP für die Dauer dieser Legislaturperiode gilt
rische Opposition? und die beiden Koalitionspartner unverändert ent-
schlossen sind, die im Regierungsprogramm fest-
(Zuruf von der CDU/CSU.)
gelegten innen- und außenpolitischen Aufgaben zu
Empfinden Sie das, was im „Ostpreußen-Blatt" steht, erfüllen.
wo zum Widerstand gegen die Regierung mit allen Zweitens handelt es sich um den ebenso nüchter-
Mitteln aufgerufen wird, nicht als außerparlamen- nen Hinweis darauf, daß sich das Kräfteverhältnis
tarische Opposition? im Bundestag durch den Übertritt von drei FDP-
(Zurufe von der CDU/CSU.) Abgeordneten zur CDU/CSU in keiner Weise ver-
ändert hat; denn, so heißt es
Da werden Exilregierungen von Provinzen gegrün-
det, die uns jetzt nicht zur Verfügung stehen, um (Abg. Franke [Osnabrück] : Es sind nur zwei!)
der Regierung Schwierigkeiten zu machen. — gut, die Feinheiten sind, das gebe ich zu, nicht
genügend berücksichtigt,
(Zustimmung bei der SPD.)
(Abg. Franke [Osnabrück] : Man muß aber
Lesen Sie die „Nationalzeitung", lesen Sie den genau sein, Herr Bundeskanzler!)
„Bayern-Kurier", dann wissen Sie, was außerparla-
aber der politische Sinn kommt klar genug zum
mentarische Opposition ist.
Ausdruck —, diese Abgeordneten unterstützten
Meine Bitte ist, sich von den Emotionen freizu- schon bisher — wiederum aus unserer Sicht — die
machen, meine Damen und Herren. Regierung nicht, so daß die Koalition heute parla-
(Sehr richtig! und lebhafter Beifall bei der mentarisch weder stärker noch schwächer sei als bei
CDU/CSU.) der Wahl des Bundeskanzlers im Oktober des ver-
gangenen Jahres.
Niemand wird Sie in die gleiche Ecke und auf die
gleiche Bank mit der NPD setzen wollen. Aber dann Drittens heißt es in dieser Verlautbarung meines
sollte jeder von uns auch den Anschein vermeiden. Parteivorstands, daß der Vorsitzende der FDP recht
Dann kommen wir weiter. habe, wenn er darauf hinweise, daß der Angriff auf
seine Partei von einflußreichen Kräften außerhalb
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs des Bundestages unterstützt werde.
parteien.) (Abg. Benda: Wer ist das konkret?)

Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Ich bin nicht der einzige hier im Saal, der Herrn
Kollegen Scheel am Fernsehschirm gesehen und
Bundeskanzler.
gehört hat. Ich weiß nicht, ob es am Sonnabend-
oder Sonntagabend gewesen ist; es war jedenfalls
Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine nach der Sitzung seines Parteivorstands. Herr Kol-
Damen und Herren! Obwohl ich zu Beginn dieser lege Scheel hat über diese Vorstandssitzung be-
Aktuellen Stunde nicht dasein konnte, muß ich richtet — ich habe jetzt das Zitat nicht bei mir,
Ihnen nach dem, was ich davon mitbekommen habe, aber, wie gesagt, ich bin nicht der einzige, der es
sagen: Mir ist es unerklärlich, wieso die Opposition gehört hat; Millionen haben es gehört — und aus
sich durch das, was ich von dem Vorstand meiner seiner Sicht und Verantwortung gesagt, daß wirt-
Partei gesagt habe, so hat getroffen fühlen können, schaftliche und publizistische Einflüsse hierbei eine
wie sie sich offensichtlich getroffen fühlt. Rolle spielten.
(Zurufe von der CDU/CSU.)
Herr Kollege Scheel ist ein vornehmer Mann, aber
— Ich werde das gleich noch einmal darlegen. es war deutlich genug, was er hiermit sagen wollte.
Zweitens. Als Bundeskanzler kann ich nur mit (Abg. Benda: Wenn Sie sagen, er habe
großer Besorgnis die Art zur Kenntnis nehmen, in recht, müssen Sie auch etwas darüber wis
der die Opposition glaubt, diese Auseinanderset- sen! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
zung führen zu müssen. Dies ist also der Hinweis aus der Sicht des Vor-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu stands meiner Partei, daß Herr Kollege Scheel
rufe von der CDU/CSU.) unserer Meinung nach mit diesem vor der ganzen
Öffentlichkeit gegebenen Hinweis recht hat.
Drittens, damit es hier gar keine Mißverständnisse
gibt: Ich stehe zu jedem Wort, Dann wird hinzugefügt — das ist ein Satz, der
zu sehr viel aufgeregter Diskussion Anlaß gegeben
(Zurufe von der CDU/CSU: Wie immer! — hat —,
Lachen bei der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Dr. Stoltenberg)
das ich in Zusammenfassung einer Diskussion mei- daß es sich in der Tat um den großangelegten Ver-
nes Parteivorstandes gesagt habe und das heraus- such einer rechten außerparlamentarischen Oppo-
gegeben worden ist, was aber viele ja gar nicht sition handele und so weiter.
in seinem wirklichen Wortlaut gewürdigt haben. (Zuruf von der CDU/CSU: Was heißt „und
(Abg. Benda: Oh, wir haben es doch hier!) so weiter" ?)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3993
Bundeskanzler Brandt
-
ist es dann nicht die Pflicht der Opposition, wenn Sie
Meine Damen und Herren, keiner wird doch be-
streiten wollen, daß es eine Opposition außerhalb so ernste Vorgänge wittern, Herr Bundeskanzler, zu
des Parlaments, eine außerparlamentarische Oppo- fragen: Wer steckt denn dahinter? und Sie aufzufor-
sition, auch rechts von der Mitte gibt. Es will doch dern, die Karten auf den Tisch zu legen?
wohl keiner bestreiten, daß sie sehr vielschichtig (Beifall bei der CDU/CSU.)
ist und daß sie übrigens keineswegs mit antiparla-
Was Sie, Herr Bundeskanzler, soeben dazu beige-
mentarischer Opposition gleichgesetzt werden kann.
tragen haben, uns aufzuklären, läßt diesen großan-
Auch solche Gruppen gibt es auf der Rechten.
gelegten Versuch allerdings auf ein ganz geringes
(Zurufe.) Maß zusammenschrumpfen. Fast bin ich versucht, zu
fragen: Wo ist denn da auch nur ein Anschein für
Es gibt auch links — wenn man diese Termino-
das, was Sie hier propagiert haben? Hätten Sie er-
logie benutzen will — außerparlamentarische
lebt, was Ihr Bundesminister auf unsere Fragen als
Kräfte, die nicht antiparlamentarisch sind, und es
einzigen Beweis für diesen großangelegten Versuch
gibt solche, die antiparlamentarisch sind. Das ist
einflußreicher Kräfte hier zitiert hat, nämlich eine
sehr vielschichtig; aber das gibt es doch.
Außerung eines Parlamentariers der Bundesrepublik
(Abg. Dr. Stoltenberg: Und was Sie gesagt Deutschland, dann weiß ich nicht, ob Sie den Mut ge-
haben, ist sehr vieldeutig!) habt hätten, in dieser Form hier auf die Bühne zu
gehen.
Dann kommt der Punkt, daß man — wiederum
aus der Sicht meines Vorstands — jene Gruppen Und darf ich Ihnen etwas sagen, da Sie die Art
in der CDU verstehen könne, die befürchteten, daß der Auseinandersetzung beklagen? Herr Bundes-
das politische-moralische Gewicht ihrer Partei durch kanzler, wenn Sie selbst in der Wahl Ihrer Worte
die Überwechsler nicht verstärkt werde. Das ist ein gelegentlich nicht sehr wählerisch sind, dann dürfen
anderer Komplex. Sie sich nicht wundern, daß der Stil auch dieses
Hauses davon eben beeinflußt wird.
Dann kommt der Schlußhinweis: (Beifall bei der CDU/CSU.)
Wenn einige Unionspolitiker jetzt Neuwahlen Meine Damen und Herren, daß die Opposition
zum Bundestag fordern, so ist demgegenüber recht hatte und daß es ihre Pflicht war, diese Ak-
festzustellen: Jetzt geht es darum, den Anschlag tuelle Stunde zu beantragen und die Fragen einzu-
auf die Bundesregierung abzuwehren und die bringen, das zeigt der Verlauf. Denn worum handelt
Arbeit der Koalition unbeirrt fortzuführen. es sich bei dieser Presseerklärung, bei der ganzen
(Abg. Dr. Barzel: Neuwahlen gleich An Situation, in der wir uns befinden? Es ist offenkun-
schlag!) dig, daß die Regierung vom eigenen Versagen da-
durch ablenkt,
— Nein, sondern Anschlag gleich Angriff mit an- (Lachen bei der SPD)
deren Mitteln als denen, die in der Verfassung vor-
daß sie versucht, irgendwelche mysteriöse Gruppen
gesehen sind,
von rechts aufzuzeigen, die diesen Staat in Gefahr
(Abg. Dr. Barzel und Benda: Wer macht bringen können.
denn das?) (Beifall bei der CDU/CSU. — Lachen und
und ich verstehe immer noch nicht, wieso Sie, Herr Zurufe von der SPD.)
Kollege Barzel, sich damit identifizieren wollen. Herr Bundeskanzler, dieser Versuch einer Dolch
(Beifall bei den Regierungsparteien.) stoßlegende, daß man einer erfolgreichen Regierung
auf dem Wege des Fortschritts leider Gottes in den
Rücken gefallen sei, wird sicher mißlingen. Herr
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab- Apel hat gemeint, man müsse von dieser Opposition
geordnete Dr. Wörner. nicht verbale Opposition, sondern klare Alternativen
verlangen.
Dr. Wörner (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine (Sehr richtig! bei der SPD.)
Damen und Herren! Der Herr Bundeskanzler wun- Dem ist zu entgegnen: das deutsche Volk will nicht
dert sich, warum die Opposition, wie er sich aus- Ablenkungsmanöver, sondern eine Regierung, die
drückt, sich so aufrege über die Presseverlautbarung handelt und die die Dinge in Deutschland vorwärts
des Vorstandes der SPD. Meine Damen und Her- bringt.
ren, wenn — ich nehme an, daß es ernst gemeint (Abg. Fellermaier: Und eine Opposition, die
war — der Bundeskanzler dieser Staates, und zwar Alternativen bietet!)
gleich, in welcher Eigenschaft er sich nun ausdrückt,
davon spricht — darauf allein richteten sich unsere Was wir bis jetzt von Ihnen erlebt haben, ist jeden-
Fragen, darauf allein auch bezieht sich diese Ak- falls nicht, daß Sie das Rad der Entwicklung in
tuelle Stunde, nicht auf die übrigen Punkte —, daß Deutschland spürbar weitergebracht hätten.
es sich um einen großangelegten Versuch einer rech- (Zurufe von der SPD.)
ten außerparlamentarischen Opposition handle, das Vor allem von den Bemühungen um mehr Stabilität
Rad der Entwicklung zurückzudrehen und die Ent- haben wir in diesem Hause noch nichts verspürt,
spannungspolitik zu stören, wenn er sich dann ver- Herr Bundeskanzler.
steigt zu dem Vokabular des Anschlags,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Widerspruch
(Abg. Stücklen: Genau das!) bei der SPD.)
3994 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Wörner
Es ist ein Versuch am untauglichen Objekt, jetzt die -
weil es sonst zum Schaden des ganzen Staates
eigene Unfähigkeit dadurch zu kaschieren, daß man wäre.
unbeweisbare Gerüchte in die Welt streut. Es gibt (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
diesen Versuch, und zwar den großangelegten Ver- rufe von der CDU/CSU.)
such, rechter außerparlamentarischer Opposition
Meine Damen und Herren, verfolgen Sie die
nicht. Das haben Sie, das hat Ihr Bundesminister, das
Fragen, die Herr Kollege Borm aufgeworfen hat,
hat diese Fragestunde bewiesen. Was es gibt, ist
und Sie werden feststellen, daß er hier sachliche
eine Regierung, die nicht in der Lage ist, die Ge-
Dinge ausgebreitet hat.
schicke dieses Landes so zu führen, daß die Bürger
draußen das Gefühl haben können: hier wird or- (Abg. Dr. von Bismarck: Und auch sehr
dentlich regiert. unsachliche!)
(Beifall bei der CDU/CSU.) — Er gehört aber nicht zu Ihnen.
(Abg. Dr. von Bismarck: Sehr unsachliche!)
Präsident von Hassel: Das Wort hat Herr — Vielleicht haben Sie seinen Artikel nicht ein-
Abgeordneter Professor Schäfer. mal gelesen. — Offensichtlich!
(Abg. Dr. von Bismarck: Ich habe gehört,
Dr. Schäfer (Tübingen) (SPD) : Herr Präsident! was er gesagt hat!)
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin
immer noch zutiefst bedrückt von der Rede, die Herr Für uns Sozialdemokraten gilt dieser Staat als
Benda hier gehalten hat. Hort der Freiheit, den wir verteidigen. Für uns
Sozialdemokraten ist oberstes Ziel, daß wir diese
(Sehr wahr! bei der SPD.) freiheitliche Demokratie gegen jeden Ansatz ver-
Ich bin bedrückt, wenn ein früherer Innenminister teidigen, auch wenn Sie in völliger Verkennung der
glaubt, solche schwierigen verfassungsrechtlichen Situation bereit sind, jene Kräfte zu unterstützen
Sorgen in dieser Art wie Faxen behandeln zu und hier zu verteidigen.
können. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Ich bin bedrückt über das makabre Wortspiel, das Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab-
er sich hier erlaubt hat und das ich für meine geordnete Katzer.
Fraktion noch einmal energisch zurückweise.
Katzer (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
verehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler,
Herr Wörner hat Ihre Situation selbst geschildert, Sie haben gesagt, Sie verstünden nicht, warum sich
und dafür können wir ihm dankbar sein. Aus Hilfs- die Opposition so getroffen fühle. Vielleicht darf
losigkeit in der Finanzdebatte meinten Sie in der ich eine Bemerkung machen, die für Sie ein größeres
letzten Woche, einen Mißbilligungsantrag stellen zu Verständnis des gesamten Vorganges bringen
können; aus Hilfslosigkeit in anderen politischen könnte. An dem gleichen Tage, an dem Sie Ihre
Dingen meinen Sie, hier nun Dinge hochspielen zu Bielefelder Behauptung zurückgenommen haben, hat
können. Dabei ist es tatsächlich so, wie Herr Wör- es ein Interview des Vorsitzenden der sozialdemo-
ner eingangs sagte: In welcher Funktion auch immer kratischen Fraktion im Hessischen Rundfunk ge-
der Herr Bundeskanzler seine Sorge ausdrückt, geben, nämlich am 10. Oktober 1970, 18.05 Uhr. Dort
dieses Haus muß das ernst nehmen. Meine Damen wird der Vorsitzende der sozialdemokratischen
und Herren von der Opposition, es hätte Ihnen, Bundestagsfraktion von dem Reporter gefragt:
genau Ihnen, gut angestanden, wenn Sie diese „Nun, in diesem Punkt" — eben der Vertretung
Sorgen ernst genommen hätten und ernst nehmen der Arbeitnehmerinteressen —, „Herr Wehner, ist
würden. ja sicher doch der Koalitionspartner so etwas wie
(Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU.) eine Bremse. Der Entwurf z. B. für ein neues Be-
triebsverfassungsgesetz, der jetzt in den Fraktionen
Denn nicht umsonst hat der Herr Alterspräsident erörtert wird, räumt zwar den Lohnabhängigen
Borm heute diesen Artikel geschrieben, zu dem er mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz ein, ver-
in jedem Wort steht, wie er ausdrücklich gesagt hat. meidet aber doch so gut wie jeden Schritt hin zur
Nicht umsonst hat er als Alterspräsident hier das qualifizierten Mitbestimmung im Betrieb." Antwort:
ganze Haus gemahnt, diese Kräfte ernst zu nehmen „Das haben wir ja auch nie gesagt. Entschuldigen
und sich bewußt zu sein, daß wir einen gemein- Sie mal! Wir sind doch keine Betrüger. Wir heißen
samen Kampf zu führen haben. doch nicht Katzer.
(Zurufe von der CDU/CSU.) (Lebhafte Pfui-Rufe bei der CDU/CSU. —
Zurufe von der CDU/CSU: Wieder so eine
Wir haben einen gemeinsamen Kampf zu führen. Unverschämtheit! — Unerhört! — Große
Aber wenn man die Fragestunde heute morgen Unruhe.)
und wenn man die Ausführungen Ihrer Redner bis
jetzt gehört hat, hat man die ernste Sorge, daß Sie Wir spielen und gaunern doch nicht Sachen, die in
entweder die Gefahr nicht erkennen oder daß Sie Wirklichkeit zur Zeit nicht zu machen sind."
nahe der Gefahr sind, sich mit Kräften zu identifi- (Lebhafte Pfui-Rufe und weitere Zurufe von
zieren, mit denen Sie sich nicht identifizieren dürfen, der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3995
Katzer
Ich bitte um Entschuldigung, Herr Bundeskanzler. protokoll vorliegt. Dabei wurde Herr Hauser,- der
Jeder hier im Hohen Hause kennt mich. Aber be- ebenfalls einen solchen NLA-Auftrag hatte, ge-
greifen Sie vielleicht die Erregtheit dieser Fraktion, fragt: „Haben Sie Kontakte mit der NPD?" — Ant-
nachdem seit Wochen kein Tag vergangen ist, an wort von Herrn Hauser wörtlich: „Ja, aber nur mit
dem nicht solche Beleidigungen gegen uns ausge- einigen Teilen." — Frage: „Mit welchen?" — Hau-
streut werden? ser: „Nicht mit Herrn von Thadden; die stecken ja
mitten im Wahlkampf. Im nächsten Jahr wird das
(Lebhafter anhaltender Beifall und weitere
wahrscheinlich anders aussehen." — Frage: „Halten
Zurufe von der CDU/CSU.)
Sie Kontakte — — "
(Abg. Leicht: Wer ist Herr Hauser? — Wei
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr tere Zurufe von der CDU/CSU: Wer ist
Abgeordnete Jung.
Hauser?)
(Abg. Rasner: So sind Sie! — Weiterer — Entschuldigen Sie, Herr Leicht! Sie kennen doch
Zuruf von der CDU/CSU: Herr Bundes Herrn Hauser, den NLA-Beauftragten, den Mann
kanzler, äußern Sie sich mal dazu! — Fort vom Deutschland-Archiv. Oder muß ich diese Bil-
gesetzte Zurufe von der CDU/CSU.) dungslücke bei Ihnen unterstellen?
— Ich darf Sie bitten, weiterhin Ruhe zu bewahren. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Den
(Abg. Dr. Stoltenberg: Das sind die Vo kennen wir nicht!)
kabeln von Herrn Wehner!) — Herr Leicht kennt ihn, weil Herr Hauser vor eini-
ger Zeit in unserem Gebiet aufgetreten ist.
Jung (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Lachen und fortgesetzte Zurufe von der
Damen und Herren! Ich möchte auf die kurze Frage CDU/CSU.)
zurückkommen, die Herr Kollege Wörner gestellt
hat, was und wer denn nun dahinterstecke. Meine — Ich muß mich an meine Zeit halten. Herr Hauser
Damen und Herren, Sie dürfen sich doch nicht dar- hat erklärt, daß er mit Herrn Thielen,
über wundern, daß Sie in die Nähe von irgend je- (Abg. Leicht: Wer ist Hauser?)
mandem oder irgend etwas gerückt werden, wenn
dem früheren NPD-Vorsitzenden, Kontakte gehabt.
feststeht, daß die Kräfte, die z. B. Herr Kollege
habe. Daß dies dem NLA-Vorsitzenden Herrn Zogl-
Ehmke heute erwähnte,
mann bekannt sei, steht ebenfalls hier. Ich werde es
(Zurufe von der CDU/CSU: Welche denn? Ihnen, wenn Sie es wünschen, wörtlich vorlesen. Ich
- Abg. Wohlrabe: Er hat doch gar keine glaube aber, die Zeit reicht nicht dazu.
genannt!)
(Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Wer
Kräfte, die in dem genannten Schreiben angespro- ist Herr Hauser?)
chen wurden, nämlich die NPD, Vertriebenenfunk-
Meine Damen und Herren, Sie dürfen sich nicht
tionäre
wundern, wenn Sie diese Leute dann an die Brust
(Abg. Dr. von Bismarck: Das ist doch
nehmen,
unerhört!)
(Lachen bei der CDU/CSU)
und NLA-Leute, zu einem rechten Wahlbündnis zu-
sammengeführt werden sollten. Eine solche Auffor- daß andere dann meinen, daß Sie mit denen etwas
derung wird draußen von Leuten vertreten, die im hätten.
letzten Bundestagswahlkampf eindeutig für die NPD Herr Kollege Stücklen, ich schätze Sie sehr. Aber
und gegen die Bundesregierung, die Sie gestellt mir wurde bekannt, daß Sie in Merkendorf in Mit-
haben, polemisiert haben. telfranken vor einiger Zeit gesagt hätten, die NPD
(Beifall bei den Regierungsparteien.) sei Ihnen am verlängerten Rückgrat lieber als die
FDP.
Sie dürfen sich doch nicht wundern, wenn sich also (Hört! Hört! bei der SPD. — Zurufe von der
hier rechtsradikale, außerparlamentarische Agitato- CDU/CSU.)
ren finden, die dieser Aufforderung schriftlich und
mündlich nachkommen. Dann muß man sich eben auch in Ihren Reihen
hüten, solche Ausdrücke zu gebrauchen, damit man
(Abg. Dr. Stoltenberg: Meinen Sie Herrn nicht in die Nähe derer gerückt wird, von denen
Hupka mit den „Vertriebenenfunktionären, wir uns alle hier in diesem Hause distanzieren.
die der NPD nahestehen"? Könnten Sie das
mit den Vertriebenenfunktionären einmal (Beifall bei den Regierungsparteien.)
präzisieren!)
— Herr Kollege Stoltenberg, Zwischenfragen sind Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab-
jetzt nicht zugelassen. Ich würde mich aber gern geordnete Stücklen.
einmal mit Ihnen darüber unterhalten. Dort wird (Abg. Wienand: Wieso das denn? — Gegen
ausdrücklich dazu aufgefordert, diese Leute zu ruf des Abg. Rasner: Wieso eigentlich
einem solchen Wahlbündnis zusammenzuführen. nicht? Haben Sie etwas dagegen?)
Meine Damen und Herren, ich darf das noch ein
wenig präzisieren. Am 4. September hat in Frank- Stücklen (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da-
furt eine Sitzung stattgefunden, über die ein Wort men und Herren! Ich möchte gleich Herrn Jung
3996 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Stücklen
richtigstellen. Ich habe in Merkendorf gesprochen, -
sozialismus — und noch zu anderen, in die Kaiser-
und in Bayern pflegt man sich etwas bildlich-klar zeit zurückreichenden Dingen — geredet.
auszudrücken.
(Widerspruch bei der SPD. — Abg. Dr.
(Lachen und Aha-Rufe bei den Regierungs Apel: Das hat er doch gar nicht gesagt! —
parteien.) Zuruf von der SPD: Verleumdung! — Wei-
Ich habe — und hier kam ein Versprecher, den ich tere Zurufe von den Regierungsparteien.)
unmittelbar danach, unmittelbar, also eine Sekunde Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
danach, korrigiert habe — gesagt: Die FDP ist mir sind die Ursachen dafür, daß wir hier so hart reagie-
im verlängerten Rückgrat — verstehen Sie? ren müssen: wir wollen nicht, daß diese Demokratie
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) durch unser eigenes Verschulden wieder in die Si-
tuation von Weimar zurückfällt.
noch lieber als die NPD im Kopf — nicht umge-
kehrt, Herr Jung! Und wenn Sie das hier so auf- (Beifall bei der CDU/CSU.)
greifen, ist das eine der üblen Verleumdungen,
Die rechtsreaktionären Kräfte interessieren uns
(Unruhe und Widerspruch bei den Regie nicht, meine Damen und Herren.
rungsparteien)
(Unruhe und Lachen bei der SPD. — Abg.
— eine der üblen Verleumdungen, die in diesem Dr. Schäfer [Tübingen] : Das ist aber
Parlament nicht vorkommen dürften. schlimm! Dann kümmern Sie sich mal
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) drum!)
— Herr Schäfer, — —
Nun, Herr Bundeskanzler, die Reaktion — meine
Presseverlautbarung von gestern — enthält die auf- (Abg. Fellermaier: Denken Sie mal daran,
gestaute Enttäuschung über das Fehlen der Bemü- welche Freunde der Herr Ziesel hat! Den
hungen innerhalb der Parteien, von Person zu Per- ken Sie an Herrn Ziesel und die Freunde
son jede diffamierende Äußerung zu vermeiden. aus Ihrer Partei!)
(Abg. Dr. Apel: Dann vermeiden Sie doch
mal welche!) Präsident von Hassel: Das Wort hat Herr
Stücklen!
Sie haben, Herr Bundeskanzler — und zwar Sie per-
sönlich —,
Stücklen (CDU/CSU): Ich darf nur feststellen
(Abg. Dr. Apel: Wer redet denn hier?) - und Sie haben sicher auch meine Parteitagsrede
und eine ganze Reihe Ihrer politischen Freunde von 1969 gelesen — —
haben seit Monaten versucht, die CSU in die na- (Zurufe von der SPD: Nein!)
tionalistische Ecke hineinzudrängen, sie zu diffa-
mieren, - Ich bedaure das. Dann holen Sie es nach. Das
(lebhafter Widerspruch bei der SPD) ist ja sehr interessant. Sie lesen ja sonst auch
alles, was Ihnen paßt.
— sie zu diffamieren! In bewußter Weise haben Sie
das wiederholt versucht! (Lachen bei der SPD. — Abg. Wehner: Sie
haben gesagt: „was Ihnen paßt", Herr
(Zuruf von der SPD: Mit Recht!) Stücklen!)
Und dagegen wehren wir uns! - Ja, was Ihnen paßt! Nur das, was ihm paßt,
(Beifall bei der CDU/CSU.) liest er!
Wenn Sie diesen Kampf haben wollen, Herr Bun- (Abg. Wehner: Das haben Sie doch gesagt!)
deskanzler, brauchen wir uns nicht zu wundern, Nun, meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn wir in kürzester Zeit in Deutschland wieder wir haben uns eindeutig von den rechtsradikalen
die Verhältnisse von Weimar, die Verhältnisse vom Kräften distanziert. Wir werden das auch in Zukunft
Ende der 20er Jahre haben. tun,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Widerspruch (Zurufe von der SPD)
bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Ihr pro — auch in Zukunft tun!
voziert es doch! — Weitere Zurufe.)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.
Sie werden mir bestätigen müssen, daß ich immer- Abg. Dr. Apel: Nehmen Sie das „Rot
hin den ernsthaften Versuch unternommen habe, welsch" zurück oder nicht?)
diese persönlichen Diffamierungen der Vergangen-
heit angehören zu lassen. Aber dann kommt Ihr Wir werden uns aber nicht das Recht nehmen
Sündenregister, Herr Bundeskanzler, und das von lassen, alle legalen Mittel auf demokratische Weise
Ihnen, Herr Kollege Wehner. Da kommt dann die anzuwenden, um diese Regierung,
Bielefelder Rede von wilden Streiks, dann wird ver- (Abg. Wehner: Sie wissen, woher das Wort
leumdet, dann wird von Verbrechern gesprochen, „legale Mittel" stammt!)
dann von Volksverhetzung, und dann wird noch
die wir für Deutschland nicht für gut halten, zu
— und das habe ich ebenfalls bedauert — von dem
stürzen. Das ist die Aufgabe der Opposition!
von mir geschätzten Finanzminister von der geisti-
gen Verwandtschaft der CDU/CSU zum National (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3997

Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr -


struktion verwechselt, erhält natürlich den Beifall
Abgeordnete Zander. der rechten APO.
(Beifall bei der SPD.)
Zander (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und Sie müssen sich fragen lassen, ob dieser Stil, den
Herren! Von den Sprechern der Opposition ist wie- Sie hier praktizieren, nicht einerseits zum An-
derholt behauptet worden, es würde versucht, die wachsen oder aber auch mindestens nur zur schär-
CDU/CSU in eine Ecke zu stellen, in eine nationali- feren Artikulierung der rechten APO beiträgt.
stische Ecke. Da stelle ich mir allerdings die Frage,
wer denn in diesem Hause das Kunststück fertig- (Zurufe von der CDU/CSU.)
zubringen vermag, die größte Opposition, die stärk- Sie müssen sich fragen lassen, wo die Grenze zwi-
ste Fraktion, die es je gab, in eine Ecke zu drängen, schen Ihrer Rolle nicht so sehr als Partei, mindestens
in die sie nicht selbst hinein will. aber als Opposition in diesem Hause, und rechten
(Zustimmung bei der SPD. - Zurufe von Kräften verläuft. Sie müssen sich anrechnen lassen
der CDU/CSU.) den „Bayernkurier", Sie müssen sich anrechnen
lassen Ihr Verhalten in der Bundesversammlung
Das müßte allerdings nach Ihrem Selbstverständnis vom 5. März des vergangenen Jahres,
ein Künstler sein.
(Beifall bei den Regierungsparteien — Zu
Der Herr Kollege Breidbach hat hier davon ge- rufe von der CDU/CSU)
sprochen, es würde Krawall gesucht. In der Tat,
dieser Eindruck drängt sich auf. Es ist ganz sicher wo Sie offen in Stimmgemeinschaft standen. Sie
offensichtlich für jeden Zuhörer, wer diesen Kra- müssen sich sagen lassen, daß man ganz offenbar
wall sucht. in Zukunft hier in diesem Hause eines Tages von
(Zustimmung bei der SPD.) der Fraktion der CDU, CSU und NLA reden kann.
Sie müssen sich anrechnen lassen, was sich alles
Sie (zur CDU/CSU) benutzen jede Gelegenheit, tummelt in den Freundeskreisen der CSU, hier z. B.
mimosenhaft jeden Vorwand, um von der Sache der — —
abzulenken.
(Zurufe von der CDU/CSU.) (Beifall bei der SPD — Lebhafter Wider
spruch bei der CDU/CSU.)
Ganz offensichtlich dient das, was Sie jetzt hier
veranstalten, auch wieder dem Zweck, von der Sie müssen sich anrechnen lassen, was sich in die-
wichtigen Bildungsdebatte, die dieses Haus eigent- sen Kreisen tummelt.
lich sachlich beschäftigen sollte, abzulenken. (Zurufe von der CDU/CSU: Kümmern Sie
(Beifall bei der SPD.) sich lieber um Ihre eigenen Genossen! —
Was ist mit Hessen-Süd?)
Der Herr Kollege Wörner hat ganz offensichtlich
ein Eigentor geschossen, als er davon sprach, man Davon müssen Sie sich entweder abgrenzen, oder
streue Gerüchte. Es ist doch wohl ganz offensicht- Sie müssen es sich anrechnen lassen. Grenzen Sie
lich in. den letzten Wochen, daß eine derartige Viel- sich doch ob von Professor Rubin, der den Bonner
zahl von Gerüchten aus Ihrer Fraktion an die Staat als eine weichgepolsterte Gummizelle be-
Öffentlichkeit dringt, seien es Gerüchte über bevor- zeichnete, der ein Viertes Reich propagierte, der
stehende Übertritte, seien. es Gerüchte über eine sich wörtlich schrieb:
wieder abzeichnende Große Koalition und vieles an- Ohne die lähmende Furcht vor den Methoden
dere mehr. Die Gerüchteküche dieses Hauses ist die des Kommunismus wäre diese sogenannte
CDU/CSU-Fraktion. Revolution kaum so ruhig verlaufen wie der
(Beifall bei der SPD. -- Abg. Dr. Marx [Kai Wechsel eines Vereinsvorstandes.
serslautern] : Unglaublich! — Weitere Zu
Und das über die Machtübernahme der National-
rufe von der CDU/CSU.)
sozialisten! Entweder grenzen Sie sich deutlich ab,
— In der Tat! oder Sie müssen sich das alles hier anrechnen
Meine Damen und Herren, um was geht es in lassen.
dieser Sache, über die wir heute reden und (Beifall bei der SPD. — Widerspruch und
die Sie hier zur Diskussion gestellt haben? In Zurufe von der CDU/CSU.)
den letzten Jahren haben sich die politischen Par-
teien dieses Hauses zunehmend zu Volksparteien
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab-
entwickelt. Es ist infolgedessen ganz selbstverständ-
geordnete Dr. Marx.
lich, daß im Laufe eines solchen Prozesses sowohl
rechts als auch links vom parlamentarischen Lager
außerparlamentarische Opposition anwächst. Aus Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr Prä-
diesem Tatbestand stellt sich für die politischen sident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Parteien das Problem der Abgrenzung sowohl nach Zander, diese Rede, die Sie eben hier gehalten
der rechten als auch nach der linken Seite. haben — ich weiß nicht, ob es eine Jungfernrede
war —, hat eine Fülle — —
(Zustimmung bei der SPD.)
(Zurufe von der SPD: Nein!)
Für Bundesregierung und Oppositionsfraktion dieses
Parlaments aber stellt sich nach meiner Überzeu — dann nur wäre es zu verzeihen, wenn es eine
gung die Frage anders. Wer Opposition mit Ob Jungfernrede gewesen wäre —; sie hat aber eine
3998 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Marx (Kaiserslautern)


Fülle — ich muß es sagen, Herr Präsident — von -
— Herr Mattick, ich glaube, Sie haben es nicht richtig
so üblen Unterstellungen gegen die Fraktion der gehört. Er hat gesagt: Wer das neue Deutschland
CDU/CSU gebracht — — schaffen will, muß nicht in die Tonart des „Neuen
Deutschland" verfallen.
(Lachen und Zurufe von der SPD. - Abg.
Dr. Apel: Ausgerechnet dieser Marx!) (Beifall bei der CDU/CSU. — Lebhafte Pfui
Rufe von der SPD.)
— Herr Wehner, wenn Sie glauben, Sie können
weiterhin als Mustermann der Demokratie den Ka- Meine Damen und Herren, seit vielen Monaten
schemmenton, den Sie oft anwenden, wieder hier merken wir, wie sich die kommunistische Propa-
hereinbringen, dann muß man Ihnen allerdings ant- ganda aus Ostberlin und aus der Sowjetunion mehr
worten, daß die Art, wie Sie draußen in der Öffent- und mehr von ihrer bisherigen Zielrichtung Bundes-
lichkeit und hier mit uns diskutieren zu können republik entfernt und gegen die CDU/CSU, gegen
glauben, jene Art ist, die tatsächlich an vergangene die Vertriebenenverbände, gegen die Bundeswehr
Zeiten erinnert. und gegen das, was man die „Springer-Presse"
nennt, konzentriert. Ich habe hier einen Artikel von
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
Herrn Hermann vor mir liegen. Herr Hermann ist,
der SPD.)
wie Sie wissen, beim Institut für Gesellschaftswis-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was senschaften der SED drüben in Ostberlin als Mit-
war der Ausgangspunkt der Fragen zu diesem Pro- arbeiter.
blem und der Aktuellen Stunde? Die Äußerungen
(Abg. Horn: Sie kriegen doch Briefe aus
des Herrn Bundeskanzlers in seiner Eigenschaft als
dem Osten! Weitere Zurufe von der
Vorsitzender der SPD. Der Herr Bundeskanzler hat
SPD.)
hier einige Erläuterungen gegeben, die ihn in der
Rolle des sehr behutsam formulierenden Staats- -- Ich zitiere, was Sie besser lesen sollten, um zu
mannes zeigten. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie, in wissen, wo für Sie offenbar manche Quelle ver-
der gleichen Person, haben angeheizt und haben als borgen ist. In der „Einheit", dem Zentralorgan der
Parteivorsitzender Argumente und Formulierungen SED, wird im August dieses Jahres dargestellt, was
gebraucht, die mit Recht die CDU/CSU-Fraktion auf- dieses „Rechtskartell" sei, auf das man nun alle
rufen, zu fragen: Was ist denn da? Welche Kennt- Mittel der politischen Auseinandersetzung konzen-
• nisse hat denn die Regierung? Wo ist denn dieses trieren müsse.
Rechtskartell? Wo ist denn diese rechte APO, die (Zurufe von der SPD.)
— wie jetzt gesagt worden ist — gerade zum ent- Da wird gefordert — ich zitiere das mit Erlaubnis
schlossenen Sprung und zum Sturm auf die Grund- des Herrn Präsidenten —:
) festen der parlamentarischen Demokratie ansetzt?
SED, SPD, die kommunistische Partei in West-
(Abg. Raffert: Gucken Sie einmal in den deutschland und alle friedliebenden und demo-
Spiegel, Herr Marx!) kratischen Kräfte sollten sich gegen die Gefahr
— In meinen eigenen, oder meinen Sie den „Spiegel" des Rechtsblocks von Strauß über Barzel bis
für 1,50 DM? Thadden und gegen die ganze militaristische
(Abg. Raffert: In Ihren!) und Revanchepolitik zusammenschließen.

— In meinem eigenen. Lieber Herr Raffert, dazu Hier ist in einem Satz umfaßt, was in der Propa-
könnte man jetzt sehr viel sagen, aber dazu reicht ganda, überbordend über die Grenze der Bundes-
die Zeit nicht. Ich werde es aber gern nachholen. republik, hereingetragen wird und bedauerlicher-
weise jetzt bis in die demokratischen Parteien hin-
Ich habe vielmehr zu Herrn Ehmke noch eine Be- einwirkt.
merkung. Herr Ehmke, ich habe heute morgen hier
(Beifall bei der CDU/CSU. Abg. Dr.
angehört, wie Sie die Fragen abzumachen versuch-
ten. Apel: Dies ist eine unverschämte Unter
(Abg. Dr. Stoltenberg: Das kann man wohl stellung! Wie eine Dreckschleuder! —
sagen!) Weitere lebhafte Zurufe von der SPD.)

Ich muß Ihnen sagen — wenn man es liest, wird — Herr Apel, wenn Sie so erregt sind, dann schlage
man es nicht so auffassen —, man sollte dies in eine ich Ihnen vor, sich doch z. B. die sowjetische
Ton-Kassette tun und daraufschreiben: Beispiele für Wochenzeitschrift „Sa Rubeshom" vorzunehmen,
Schnoddrigkeit im Deutschen Bundestag. und zwar vom September, wo die gleichen Dinge
stehen. Sie kommen nicht darum herum — ich
(Beifall bei der CDU /CSU.) kenne den Witikobund nicht —, daß in dem glei-
Denn nur so, verehrter Herr Bundesminister, kann chen Aufsatz, den ich eben zitierte, der ausdrück-
man die Art bezeichnen, wie Sie die Fragen hier liche Hinweis darauf gegeben wird —

abgetan haben.
Präsident von Hassel: Herr Kollege Marx,
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung wegen dem Ihre Zeit ist abgelaufen. Bitte noch einen Satz,
machen, was hier gegen unseren Kollegen Benda dann müssen Sie Schluß machen.
gesagt worden ist. Ich zitiere noch einmal, was Herr
Benda vorgetragen und was Sie so erregt hat. Ich Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU): Herr Prä-
zitiere es jetzt einmal ganz nüchtern. sident, nur diesen Satz noch! Sie kommen nicht
(Abg. Mattick: Lieber nicht!) darum herum, daß in diesem Aufsatz der ausdrück-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 3999

Dr. Marx (Kaiserslautern)


liche Hinweis darauf gegeben wird, daß es sich -
nach, dann werden wir uns sachlich darüber ganz
hierbei um eine für das Rechtskartell arbeitende gut aussprechen können. Darauf aber sollte die
Kaderorganisation handelt. Herr Bundesminister Platte gebracht werden. Sie haben gesagt, Sie hät-
Ehmke, ich habe den Verdacht, daß Sie heute ten Urteile über die Kommunisten — so wollen Sie
morgen das hier stanzen —; nun, die Herren Höcherl und
(Zurufe von der SPD) andere, die sich in Polen und anderswo die Klinke
einander aus der Hand nehmen, die verstehen dort
Ihr Zitat vorgelesen haben, weil Sie ähnlicher Auf-
gut zu antichambrieren, auch bei Kommunisten. Das
fassung sind.
werfen wir ihnen nur nicht vor.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Ab- rufe von der CDU/CSU.)
geordnete Wehner. Dann komme ich noch auf Herrn Katze r. Ich
bedaure, wenn er sich gekränkt fühlt.
Wehner (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
(Abg. Dr. Stoltenberg: Heuchelei! — Pfui
und Herren! Hier sind verschiedene Erklärungen für
Rufe und weitere Zurufe von der CDU/
diese Aktuelle Stunde gegeben worden. Ich gehe
CSU.)
wohl nicht fehl, wenn ich annehme, Sie haben sich
davon etwas versprochen. Ich hoffe, daß er den ganzen Text liest. — Sie
Ich will zu dieser Aktuellen Stunde zwei eigene haben doch das alle nicht gelesen. Regen Sie sich
Fehleinschätzungen über dieses erste Jahr beitra- doch nicht vorher auf, meine Damen und Herren!
gen, das Sie hier zu demonstrieren versucht haben. Da steht nämlich einiges drin, woraus zu ersehen
Die erste ist die, daß die CDU/CSU durch die 1966 ist, daß ich ihn bedaure, weil er eine solche Rolle
im Zwange der Not, hervorgerufen durch eine — spielt, als ob er Arbeitnehmerflügel sei, es in Wirk-
Sie erinnern sich der Worte — „lange schwelende lichkeit aber nicht ist und erst in der Opposition
Krise", geschaffene Koalition mit der SPD zu einer lernt, daß er es sein möchte.
Versachlichung des Verhältnisses zu den anderen (Beifall bei den Regierungsparteien. — Pfui
demokratischen Parteien bewegt oder befähigt Rufe von der CDU/CSU.)
würde. Das war die erste meiner Fehleinschätzun-
gen. Wir wollen nur, daß er das nicht auf unsere Kosten
(Abg. Dr. Stoltenberg: Dafür sind Sie be tut. Er soll lernen, aber nicht auf unsere Kosten.
sonders kompetent!) (Abg. Dr. Stoltenberg: Entschuldigen Sie
Die zweite ist die, daß die CDU/CSU, durch die sich mal für den „Betrüger"!)
Wahlen vom 28. September 1969 in die Opposition
Wir haben das Stipendium nicht zu bezahlen. Das ist
geschickt,
alles. Im übrigen: hier kann man über die Vorlagen
(Lachen bei der CDU/CSU)
abstimmen — das habe ich bei Herrn Katzer noch
— sicher, durch die Wahlen! — nie erlebt —, über Vorlagen, die so Arbeitnehmer-
(Abg. Dr. Stoltenberg: Als stärkste Fraktion!) vorlagen sind, wie es die unseren sind.
mit sich selbst ins reine oder doch wenigstens klar Am Schluß, meine Damen und Herren, rechnen Sie
kommen würde und sich künftig als politische Partei diese für Sie mißglückte Stunde noch in das erste
und nicht als Union zur allmählichen Okkupation Jahr Ihrer Opposition, Sie sind nämlich obstruktiv
des Staates von innen verstehen und bewegen und destruktiv, weil Sie alles, was Sie nicht selbst
würde. dirigieren und nicht selbst einheimsen, verderben
(Oh-Rufe bei der CDU/CSU.) und schlecht machen. Sie haben zwei weitere Oppo-
sitionsjahre vor sich. Über das dritte, was Sie noch
Das ist das zweite, was ich als Fehleinschätzung
vor sich haben, sage ich Ihnen gleich noch etwas. Das
über die Lehren, die die Opposition wie jede Partei
nächste Jahr und das übernächste Jahr werden
im Laufe von Jahren ziehen würde, zu sagen habe.
Ihnen Gelegenheit geben, sich einzustellen, wenn
Dann ein Wort zum Abgeordneten Benda. Er hat Sie wollen auch — wir haben keine Angst — einzu-
sich heute hier benommen, als wäre er ein Verleum- schießen,
der. Denn daß er uns an Stelle des „Wir schaffen (Abg. Dr. Wörner: Sie sollten sich aufs Diri
das m o d e r n e Deutschland" die Worte „n e u e
gieren und nicht aufs Prophezeien
Deutschland" unterstellt hat, hat er bewußt getan, verlegen!)
um uns mit dem „Neuen Deutschland" der SED
identifizieren zu können. Das ist Ihre Art der vor- damit Sie dann in dem dritten noch verbleibenden
fabrizierten Schablonen. Jahr, in dem Wahljahr, uns und den Wählern eine
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Alternative zu bieten haben. — Schönen Dank für
diese Stunde!
Meine Damen und Herren, das ist alles voraus- (Lebhafter Beifall bei den Regierungs
gestempelt, das ist das, worauf sich Ihr Fraktions- parteien.)
vorsitzender weiter aufschwingt, indem er die längst
vorher gegen mich erhobene Behauptung und den
Vorwurf wiederholt, wir seien dabei, Vorurteile ge- Präsident von Hassel: Das Wort hat Herr
gen Kommunisten abzubauen. Lesen Sie das bitte Abgeordnete Mischnick.
4000 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Mischnick (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr Präsident von Hassel: Wir haben lediglich -
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scheel noch zwei Minuten. Die letzte Wortmeldung
ist mehrfach zitiert worden. Ich will wörtlich vortra- kommt von Herrn Benda. Bitte, beschränken Sie sich
gen, was er gesagt hat. Er sagte wörtlich erstens: auf zwei Minuten.
... eine Kampagne, die nicht nur von den inter-
essierten Parteien geführt wird, sondern auch Benda (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da-
von außerhalb, von starken Kräften unserer men und Herren! Herr Kollege Wehner hat von
Gesellschaft. Aber ich bin davon überzeugt, daß zwei Fehleinschätzungen gesprochen. Ich will zum
diese Kampagne fehlschlagen wird. Ich habe Abschluß von zwei anderen Fehleinschätzungen des
schon einmal erlebt, 1956, daß mit ähnlichen Kollegen Wehner sprechen.
Mitteln, die nicht immer zimperlich sind, ver-
sucht wird, den Liberalismus in Deutschland im Sie haben, Herr Kollege Wehner, die Wahlen vor
politischen Raum zu zerstören. einem Jahr nicht gewonnen. Sie sind der Fehlein-
schätzung erlegen, Sie könnten zusammen mit die-
Zweitens: ser Pendlerpartei — das Wort kommt Ihnen ja wohl
Diese Partei ist schon einmal damit fertig ge- irgendwie bekannt vor — in diesem Hause eine
worden, 1956, als man schon einmal den politi- Regierung bilden. Sie merken nunmehr, nach einem
schen Liberalismus aus dem Parteiengefüge in Jahr, daß das, was Sie sich vorgenommen haben,
der Bundesrepublik ausschalten wollte. Und nicht geht.
auch dieses Mal ist es ja nicht etwa von selbst (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
gekommen, sondern es ist — um jetzt mal einen Das war aber dünn! — Weitere Zurufe
Begriff von Schiller zu wählen — eine konzer- von der SPD.)
tierte Aktion.
Wir wissen sehr genau aus der Zeit von 1956 und Zu der zweiten Fehleinschätzung bekenne ich
aus den letzten Wochen, wie man sich bemüht, über mich. Ich habe, Herr Bundeskanzler, gehofft, daß
außerparlamentarische Kräfte Einfluß zu nehmen, wir durch Ihr persönliches Auftreten vorhin eine
und Sie wissen ganz genau, wie das im einzelnen Erläuterung der hier heute morgen eine Stunde lang
geschehen ist. Wenn Sie sich aber jetzt hier, wie das diskutierten Behauptungen bekommen würden. Ich
geschehen ist, so aufspielen, als gäbe es bei der habe das Kommuniqué, das Ausgangspunkt dieser
Opposition niemand, der da versucht, andere in die Fragen ist, noch einmal von Ihnen vorgelesen be-
falsche Ecke zu drängen, dann darf ich nur zwei kommen. Ich habe nur eine Interpretation des Wor-
Tatbestände nennen. tes „Anschlag" bekommen. Ich zitiere Sie, Herr
Bundeskanzler. Sie sagten, mit Anschlag seien An-
Erster Tatbestand. Das Agrarreferat der CSU-Lan- griffe mit anderen als in der Verfassung vorgesehe-
desleitung in München schreibt unter dem 12. Okto- nen Mitteln gemeint. Wer das tut und wie das
ber 1970 — ich zitiere —: gemacht wird, habe ich weder von Ihnen noch von
In der Tat ist es beklagenswert, daß sich ein einem der anderen Herrn hier gehört.
ehemals liberaler Bayer dazu hergibt, als Hand- Herr Bundeskanzler, lesen Sie bitte einmal nach,
langer einer eigentums- und bauernfeindlichen was Herr Minister Ehmke hier auf diese Fragen
Inflationsregierung mit dem Anstrich der Treu- gesagt hat. Er hat zunächst nach einiger Mühe als
herzigkeit ein Programm zu verkünden. einziges den Witiko-Bund produziert. Dann wurde
So die CSU zu Ertl. ihm von dem Kollegen Ritz gesagt: Aber Herr Ertl
(Hört! Hört! bei den Regierungsparteien.) geht doch immer dahin; so verfassungsfeindlich
kann der nicht sein. Darauf hat Herr Ehmke gesagt:
Finden Sie das vielleicht anständig?! Ich meine natürlich die andere Hälfte des Witiko
(Beifall bei der FDP. — Zuruf von der SPD: Bundes, zu der Herr Ertl vielleicht nicht hingeht.
Herr Stücklen.) (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
Das ist ein typisches Beispiel der Diffamierung. Das ist alles — und das ist weniger als gar nichts,
Lassen Sie mich zum zweiten in aller Ruhe folgen- Herr Bundeskanzler. Wer den Mund so vollnimmt
des sagen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und wie der Bundeskanzler und Parteivorsitzende in
Kollegen, wenn hier vom Ansehen des Hauses ge- seiner Erklärung im Kommuniqué der SPD vom
sprochen wird, dann bedauere ich, jetzt doch einmal 12. Oktober, muß wenigstens eine Behauptung
feststellen zu müssen, daß es vor einiger Zeit not- vor diesem Hause auch verifizieren können.
wendig war, einen Brief zu schreiben, um auf die (Abg. Wehner: Abtreten!)
Dauer zu unterbinden, daß im „Bayernkurier" der
Tatbestand, daß ich persönlich zur Beerdigung mei- Darauf warte ich zur Stunde immer noch. Wir haben
nes Vaters nach Dresden gefahren bin, ausgeschlach- bisher nichts Derartiges gehört.
tet wurde, um mich mit kommunistischen Ideen in (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Verbindung zu bringen. Das war ein Tiefstand!
(Lebhafte Pfui-Rufe von der SPD. — Beifall Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
bei der FDP. — Abg. Breidbach: Das machen
ren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
die Jungdemokraten sowieso! - Weitere
Zurufe von der SPD: Das sind die Zogl (Abg. Wehner: Das war ein Extravergnü
männer!) gen! — Beifall bei Abgeordneten der SPD.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4001
Präsident von Hassel
Bevor wir zu Punkt 2 der Tagesordnung kommen, -
rung des Grundgesetzes immerhin uni eine einwand-
möchte ich zur Geschäftslage folgendes sagen. Wir freie Zuständigkeit des Bundes auf diesem Sektor
behandeln zunächst sämtliche Tagesordnungspunkte bemüht ist. Gegen diesen Entwurf sind, obwohl er
bis einschließlich Punkt 27 a). Ein großer Teil der eine Kompetenzerweiterung des Bundes zum Inhalt
Punkte kann ohne jede Debatte abgehandelt wer- hat, erfreulicherweise keine Einwendungen von
den; es werden nur kurze Erklärungen dazu ab- seiten des Bundesrates erhoben worden.
gegeben. Anschließend kommen wir dann zur De- Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erwartet
batte über die Bildungspolitik. Es ist im Augenblick eine baldige Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs
schwer zu übersehen, wann sie beginnt. Ich wollte durch den Deutschen Bundestag, wenn auch über
nur darauf aufmerksam machen? daß wir gemäß Einzelheiten der Formulierung in den zuständigen
Beschluß des Ältestenrates zunächst die anderen Ausschüssen des Bundestages noch gesprochen wer-
Punkte erledigen. den muß. So grundlegend dieser Entwurf auch ist,
er ist nur der erste Schritt auf dem Wege zu dem
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
neuen Tierschutzgesetz, auf das Millionen von Tier-
Beratung der Sammelübersicht 9 des Peti- freunden draußen im Lande warten. Sie dürfen wir
tionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge in dieser Legislaturperiode nicht wieder enttäuschen.
von Ausschüssen des Deutschen Bundestages
zu Petitionen Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU erwartet,
daß auf diesen Gesetzentwurf zur Änderung des
— Drucksache VI/1219 — Grundgesetzes sehr bald der Regierungsentwurf für
Beratung der Sammelübersicht 10 des Peti- ein neues Tierschutzgesetz folgt und die Regierung
tionsausschusses (2. Ausschuß) über Anträge somit dem Auftrage des Bundestages nachkommt.
von Ausschüssen des Deutschen Bundestages Das neue Tierschutzgesetz muß in dieser Legislatur-
zu Petitionen periode endlich verabschiedet werden. Das ist der
— Drucksache VI/1220 — Wille meiner Fraktion.
Ich danke der Berichterstatterin für die Vorlage (Beifall bei der CDU/CSU.)
des Berichts. Das Wort wird nicht begehrt. — Ich
stelle fest, daß wir zustimmend Kenntnis genommen Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
haben. Abgeordnete Liedtke.
Dann rufe ich Punkt 3 der Tagesordnung auf:
Liedtke (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
Erste Beratung des von der Bundesregierung und Herren! Die SPD-Fraktion begrüßt es, daß die
eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes CDU/CSU ihre Skepsis gegenüber der Regierung
zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel im letzten Jahr im Bereich der Tierschutzgesetzge-
74 GG — Tierschutz) bung heute durch Herrn Rollmann zurückgenom-
— Drucksache VI/1010 — men hat. Ich darf für meine Fraktion folgende kurze
Es geht hier um den Tierschutz. Zu einer Erklä- Erklärung abgeben.
rung hat der Abgeordnete Rollmann das Wort. Das Jahr 1970 ist vom Europarat zum Europä-
ischen Naturschutzjahr proklamiert worden. Es ist
Rollmann (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine ein guter Beitrag der Bundesrepublik, wenn sie
sehr verehrten Damen und Herren! Seit Jahren drin- durch Einfügung des Tierschutzes in den Art. 74 des
gen die deutsche Öffentlichkeit und viele Kollegen Grundgesetzes ,die Basis für ein bundeseinheitliches
aus diesem Hause auf die Verabschiedung eines mo- Tierschutzrecht schafft.
dernen Tierschutzgesetzes, das an die Stelle des Der Anstoß kommt vom Bundestag selbst. Da der
alten Tierschutzgesetzes aus dem Jahre 1933 treten Bundesrat seine Zustimmung erteilt hat, dürfte der
soll. Zwei Entwürfe für ein neues Tierschutzgesetz, Verwirklichung nun eigentlich nichts mehr im Wege
die in der 4. und 5. Legislaturperiode aus der Mitte stehen. Wie wir alle wissen, sind die Bemühungen
des Hauses eingebracht worden sind, scheiterten an des 4. und des 5. Deutschen Bundestages an der
verfassungsrechtlichen Bedenken, an der fehlenden Frage der Gesetzgebungskompetenz gescheitert.
Zuständigkeit des Bundes für die Schaffung eines
Die vielen Proteste aus der Öffentlichkeit, die
neuen. Tierschutzgesetzes.
Herr Rollmann anklingen ließ, entspringen vielfach
dem Gefühl — das ist positiv, Herr Rollmann —,
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Schmid.)
das man mit dem Begriff Tierliebe umschreiben
Am Ende der letzten Legislaturperiode hat der könnte.
Bundestag die Bundesregierung ersucht, sobald wie Sosehr wir auch diese Tierschutzregelung aner-
möglich den Entwurf eines Tierschutzgesetzes, und kennen, nämlich den Schutz des einzelnen Tieres
zwar unter Zugrundelegung einer umfassenden Bun- gegen brutale Quälereien und sinnlose Tötung, so
deszuständigkeit für das Tierschutzwesen, vorzu- sehr muß aber auch die nicht ins Auge fallende,
legen. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU be- längst keine Empörung mehr hervorrufende Behand-
dauert, daß die Bundesregierung diesen Entwurf lung von Tieren im Wirtschaftsleben im Gesetz ge-
eines neuen Tierschutzgesetzes heute noch nicht vor- regelt werden. Ich meine die lautlose, fast perfek-
legt. Wir erkennen aber an, daß die Bundesregie- tionistische Art von Quälerei bei manchen Formen
rung mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Ände der Intensivhaltung von Haustieren. Desgleichen
4002 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Liedtke
werden wir dem Transport bei der Gesetzgebung Ich rufe die Punkte 4 bis 6 und 9 bis 16 der Tages-
-
ein wachsames Auge widmen. ordnung auf:
Nun sind bei der Behandlung der Tiere die 4. Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
Bayern gewißt nicht besser als die Westfalen oder brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
die Niedersachsen. Was aber verboten ist und folg- Änderung des Krankenpflegegesetzes
lich bestraft wird, das stellt sich in München anders — Drucksache VI/ 1165 -
dar als in Düsseldorf oder in Hannover. Das dieser
Grundgesetzänderung folgende Tierschutzgesetz Der Entwurf soll an den Ausschuß für Jugend, Fa-
wird, davon bin ich überzeugt, gegen Mißhandlun- milie und Gesundheit überwiesen werden.
gen aus Gleichgültigkeit, skrupelloser Geschäfts- 5. Erste Beratung des vom Bundesrat einge-
tüchtigkeit oder primitiver Rohheit gleichermaßen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
energisch und bundeseinheitlich vorgehen. rung der Zivilprozeßordnung
Wir versuchen, die Umwelt, deren Denaturierung — Drucksache VI/1167 —
wir selbst verschuldet haben, wieder menschen- Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den
gerechter zu machen. Auch den Tieren haben wir Rechtsausschuß vor.
diese technisierte Umwelt zudiktiert.
Die SPD-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf der 6. Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
Regierung zur Änderung des Grundgesetzes ihre Zu-
dem Abkommen vom 8. Oktober 1969 zwi-
stimmung geben. Sie dankt den Tierschutzvereinen
schen der Regierung der Bundesrepublik
in der Bundesrepublik, die uns durch ihren Entwurf
Deutschland und der Regierung des Spani-
für ein einheitliches Bundestierschutzgesetz wert-
schen Staates über die Erstattung der Auf-
volle Hilfe angedient haben.
wendungen für Sachleistungen der spani-
(Beifall.) schen Träger, welche an die Familienangehö-
rigen der Versicherten deutscher Kranken-
kassen und die Bezieher deutscher Renten,
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
die im Hoheitsgebiet des Spanischen Staates
Abgeordnete Kleinert.
wohnen, gewährt werden
— Drucksache VI/1168 —
Kleinert (FDP) : Auch die Freien Demokraten
begrüßen es, daß dieser Gesetzentwurf zur Lösung Der Entwurf soll an den Ausschuß für Arbeit- und
des früher acht Jahre lang unlösbar erscheinenden Sozialordnung — federführend — und an den Aus-
Problems, wie die Tiere in Bayern und in Schleswig schuß für Jugend, Familie und Gesundheit überwie-
Holstein gleichmäßig geschützt werden können, so sen werden.
überraschend — offensichtlich auch mit der Zustim- 9. Erste Beratung des von der Bundesregierung
mung des Bundesrates — eingebracht werden eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
konnte. Am 2. Juli letzten Jahres haben Sie, Herr die Erhebung einer besonderen Ausgleichs-
Rollmann, hier noch von einer unüberwindlichen abgabe auf eingeführten Branntwein
Mauer gegen eine Erweiterung der Bundeskompe-
- Drucksache VI/1222 —
tenz gesprochen, die Ihrer Ansicht nach bestand.
Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß
Ich freue mich jetzt in diesem Zusammenhang für Wirtschaft — federführend —, den Finanzaus-
über zwei Dinge — das darf man vielleicht zur schuß und den Ausschuß für Ernährung, Landwirt-
Überleitung anmerken —: daß sich nämlich ,das schaft und Forsten.
Klima des Hauses so abrupt gewendet hat und daß
es unter der jetzigen Bundesregierung auch so ab- 10. Erste Beratung des von der Bundesregierung
rupt möglich geworden ist, eine unüberwindliche eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
Mauer in einer für uns alle gleichermaßen wich- dem Protokoll vom 27. August 1963 zur Ände-
tigen Frage niederzulegen und damit etwas ausge- rung des Abkommens vom 7. August 1958
sprochen Konstruktives zu tun; wie ich betonen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
möchte: zu meiner Freude unter Mitwirkung des der Islamischen Republik Pakistan zur Ver-
ganzen Hauses etwas Konstruktives. Welch ein Ge- meidung der Doppelbesteuerung und zur Ver-
gensatz nach nur einer Viertelstunde! hinderung der Steuerverkürzung bei den
Steuern vom Einkommen sowie zu dem Er-
(Beifall bei der FDP. — Abg. Ollesch: Hier
gänzungsabkommen vom 24. Januar 1970 zwi-
geht es ja um Tiere!)
schen der Bundesrepublik Deutschland und
der Islamischen Republik Pakistan zur Ver-
Vizepräsident Dr. Schmid: Weitere Wortmel- meidung der Doppelbesteuerung und zur Ver-
dungen liegen nicht vor. hinderung der Steuerverkürzung bei den
Steuern vom Einkommen
Es handelt sich um eine erste Beratung. Wir haben
— Drucksache V1/1238
die Vorlage an ,die zuständigen Ausschüsse zu über-
weisen. Der Ältestenrat schlägt vor: Rechtsausschuß 11. Erste Beratung des von der Bundesregierung
federführend, Innenausschuß und Ausschuß für Er- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
nährung, Landwirtschaft und Forsten mitberatend. dem Revisionsprotokoll vom 23. März 1970
— Das Haus ist einverstanden. zu dem am 26. November 1964 in Bonn un-
.Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4003
Vizepräsident Schmid
terzeichneten Abkommen zwischen der Bun und des Gesetzes über das Europäisch -
desrepublik Deutschland und dem Vereinig e Wäh vom 26. März 1959 -rungsabkomen
ten Königreich Großbritannien und Nordir — Drucksache VI/1245 —
land zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
und zur Verhinderung der Steuerverkürzung Vorgeschlagen ist Überweisung an den Ausschuß
für Wirtschaft - federführend —, den Haushalts-
— Drucksache VI/1239 — ausschuß sowie den Ausschuß für wirtschaftliche
12. Erste Beratung des von der Bundesregierung Zusammenarbeit.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Wird zu einem der Punkte das Wort gewünscht?
dem Vertrag vom 27. November 1969 zwi- — Das ist nicht der Fall.
schen der Bundesrepublik Deutschland und
dem Spanischen Staat über die gegenseitige Ist das Haus mit den Überweisungsvorschlägen
Unterstützung ihrer Zollverwaltungen einverstanden? — Das ist der Fall; es ist so be-
— Drucksache VI/ 1240 — schlossen.
Die drei Vorlagen sollen an den Finanzausschuß Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf:
überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung
12. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Verwaltungs-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu verfahrensgesetzes
dem Vierten Protokoll vom 14. November Drucksache VI/1173 —
1967, zu dem Fünften Protokoll vom 19. No-
vember 1968 und zu dem Sechsten Protokoll Das Wort hat Herr Abgeordneter Schneider.
vom 16. Dezember 1969 zur Verlängerung der
Geltungsdauer der Erklärung vom 12. No- Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr Prä-
vember 1959 über den vorläufigen Beitritt sident! Meine Damen und Herren! Dem Entwurf
Tunesiens zum Allgemeinen Zoll- und Han- liegt das Ergebnis vieljähriger Vorarbeiten zu-
delsabkommen grunde, die von Bundesinnenminister Schröder ein
— Drucksache VI/1241 — geleitet wurden und mit dem Bericht der Sachver-
ständigenkommission im Bundesministerium des In-
Vorgeschlagen ist Überweisung an den Aus-
nern im April 1960 einen ersten, regierungsinternen
schuß für Wirtschaft.
Abschluß gefunden haben. Die heutige Regierungs-
13. Erste Beratung des von der Bundesregierung vorlage ist das Ende einer langen Reihe ministe-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu rieller Bemühungen; sie ist das Ergebnis wissen-
dem Abkommen vom 3. September 1969 zwi- schaftlicher Expertisen und intensiver Beratungen
schen der Regierung der Bundesrepublik des Bundes mit den Ländern. Sie setzt eine Zäsur in
Deutschland und der Regierung des König- der deutschen Rechtsgeschichte.
reichs der Niederlande über den Verzicht auf
Zum ersten Mal wird es in Deutschland ein allge-
die in Artikel 14 Abs. 2 EWG-Verordnung
meines Verwaltungsverfahrensrecht geben. Für eine
Nr. 36/63 vorgesehene Erstattung von Auf-
einheitliche, kodifizierte Ordnung der Verwaltungs-
wendungen für Sachleistungen, welche bei
tätigkeit sprechen neben Gründen der Nützlichkeit
Krankheit an Rentenberechtigte, die ehema-
und Zweckmäßigkeit gleichermaßen rechtspolitische
lige Grenzgänger oder Hinterbliebene eines
und rechtsstaatliche Überlegungen und Forderun-
Grenzgängers sind, sowie deren Familienan-
gen.
gehörige gewährt wurden
— Drucksache VI/1242 — In erster Linie muß die Kodifikation eines allge-
meinen deutschen Verwaltungsverfahrensrechts den
Der Ältestenrat schlägt Überweisung an den Aus- Zielen der Rechtseinheit und der Rechtssicherheit
schuß für Arbeit- und Sozialordnung vor. dienen. Mehr denn je besteht die Notwendigkeit, ein
14. Erste Beratung des von der Bundesregierung allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz zu schaf-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu fen, das den Erfordernissen der Verwaltungspraxis
dem Ubereinkommen Nr. 122 der Internatio- gerecht wird. Niemand kann bestreiten, daß die Ver-
nalen Arbeitsorganisation vom 9. Juli 1964 waltungstätigkeit nicht nur in den öffentlichen Be-
über die Beschäftigungspolitik hörden, sondern auch im privatwirtschaftlichen Be-
— Drucksache VI/1243 — reich stetig zunimmt, und zwar in quantitativer wie
in qualitativer Hinsicht.
Der Entwurf soll an den Ausschuß für Arbeit- und
Sozialordnung — federführend — sowie den Aus- Die öffentliche Verwaltung des sozialen Rechts-
schuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit überwie- staates unterscheidet sich nach Auftrag, Struktur
sen werden. und Organisation wesentlich von den Prinzipien
und Dienstpflichten des historisch und politisch
15. Erste Beratung des von der Bundesregierung überholten Obrigkeitsstaates. In dem Maße, in dem
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur die Leistungsverwaltung wächst und nach Umfang
Änderung des Gesetzes über den Beitritt der und Intensität die Ordnungsverwaltung überflügelt,
Bundesrepublik Deutschland zu den Abkom- nimmt ihre allgemeine, soziale, wirtschaftliche und
men über den Internationalen Währungsfonds rechtliche Bedeutung für den einzelnen Bürger zu.
und über die Internationale Bank für Wieder- So ist es eine Absicht des Gesetzgebers, die er mit
aufbau und Entwicklung vom 28. Juli 1952 dem zur Beratung anstehenden Entwurf verfolgt, die
4004 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Dr. Schneider (Nürnberg)
Tätigkeit der Behörden für den Bürger übersicht- Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
licher und verständlicher zu machen. Der Staats- Abgeordnete Bühling.
bürger soll in die Lage versetzt werden, im Verkehr
mit den Behörden sein Recht sicherer zu suchen und
schneller zu finden. Der Buchbinder Wanninger, eine Bühling (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
in Bayern sehr bekannte Persönlichkeit, soll der und Herren! Sicherlich ist das Verwaltungsverfah-
Vergangenheit angehören. ren auf den ersten Blick eine der trockensten und
kompliziertesten Materien, die die Gesetzgebung
Die Rechtsstellung des Staatsbürgers wird durch überhaupt kennt, aber sie ist trotzdem wichtiger, als
die Vereinheitlichung und Kodifizierung des Ver- man auf den ersten Blick annehmen könnte. Ich kann
waltungsverfahrensrechts gestärkt; sein Unbeha- mich diesbezüglich weitgehend auf meinen Vorred-
gen an der Verwaltung soll damit abgebaut, sein ner beziehen.
Vertrauen in die Verwaltung soll gestärkt werden. Ein einheitliches und klares Verwaltungsverfah-
Immer wieder auftretende Schwierigkeiten des Pu- ren soll drei Zwecken dienen. Erstens dient es dem
blikums im Verkehr mit den Behörden sollen ver- Bürger, zweitens dient es der Rationalisierung der
mieden werden. Dieses Anliegen ist um so dring- Verwaltung und drittens dient es der Übersichtlich-
licher und verständlicher, als viele Differenzen mit keit der Rechtsprechung. Nur diese bedeutsamen
Behörden nicht sachlicher, sondern nur verfahrens- Ziele rechtfertigen überhaupt die umfangreiche Ar-
rechtlicher Natur sind. beit einer so umfassenden Kodifizierung, wie sie der
Der vorliegende Entwurf ist auch geeignet, das Entwurf vorschlägt. Der Werdegang dieses Entwurfs
Unbehagen in der Verwaltung abzubauen. Das Ver- ist schon im einzelnen dargelegt worden.
waltungsverfahren bestimmt wesentlich Arbeits- Was hat der Bürger von diesem Verwaltungsver-
technik und rationelle Arbeitsweise der Behörden. fahrensgesetz? Er kann beispielsweise in einem
Ärgerlicher Leerlauf, sachwidrige Verzögerungen, Gesetz nachlesen, was bisher in über 80 Gesetzen
unnötige Entscheidungsverschleppungen und un- verstreut ist; er kann beispielsweise auf den ersten
ökonomische Mehrgleisigkeiten und Gegenläufig- Blick sehen, wann er gehört werden muß, in wel-
keiten können ausgeschaltet werden. Nicht zuletzt chen Fristen er welche Rechte geltend machen muß,
begünstigt ein einheitliches Verfahrensrecht eine wann und wo er Rechtsbehelfe einlegen kann, welche
zweckmäßige Organisation und funktionale Glie- Akten und Unterlagen er einsehen kann, und er
derung der Verwaltung. weiß schließlich, wann ein ihm gegenüber ergange-
ner Verwaltungsakt zurückgenommen oder wider-
Der größte Vorteil ist wohl in der Tatsache zu er- rufen werden darf. Bei der Unzahl der Berühungs-
blicken, daß in Zukunft für sämtliche Verwaltungs- punkte des Bürgers mit der Verwaltung sind das
ebenen ein gleiches Verfahren sichergestellt wird. fast alltägliche Fragen, die für jedermann irgendwie
Die Typisierung und Standardisierung des Verfah- bedeutsam werden können.
rensrechts ist die wesentliche Voraussetzung einer
automatisationsgerechten Gesetzgebung. Es ist so- Gewiß haben sich viele Landesgesetzgeber, Behör-
wohl im Interesse 'des Bundes als auch im Interesse den und Gerichte schon um die eben erwähnten und
der Länder gelegen, durch das Instrument eines ein- ähnlichen Punkte bemüht, aber für den Betroffenen
heitlichen Verfahrensrechts ein Höchstmaß an blieb immer die Zersplitterung der Materie in 80
Rechtseinheit und Rechtssicherheit zu gewährlei- Einzelgesetzen und auch in der Rechtsprechung zu
sten. diesen 80 Einzelgesetzen. Ich glaube, daß für den
Bürger und auch für die Verwaltung und die Ge-
Meine Damen und Herren, niemand braucht zu richte eine Vereinheitlichung heilsam ist. Es wird
befürchten, daß grundsätzlich neue Verfahrens- in Zukunft nicht mehr möglich und nötig sein, we-
grundsätze in die deutsche Verwaltungspraxis ein- gen ganz offenbarer gesetzlicher Lücken die höch-
geführt werden sollen. Nach wie vor gilt der Grund- sten Gerichte anrufen zu müssen. Selbst die z. B.
satz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Die Wech- millionenfach vorkommende Frage, ob und in wel-
selbeziehungen zwischen den öffentlichen Gebiets- cher Beziehung ein Verwaltungsakt zu begründen
körperschaften und dem Individuum sollen so ange- sei, war bisher im Gesetz nicht geregelt und hat die
legt und rechtlich gesichert sein, daß ein Höchstmaß Instanzen hinauf- und heruntergehen müssen.
an persönlicher Freiheit ungeachtet der Gemein- Schließlich bringt das Verwaltungsverfahrensgesetz
schaftsbezogenheit des einzelnen erhalten bleibt. auch — entweder direkt oder indirekt — eine weit-
Der einzelne Bürger soll nicht mehr auf ungeschrie- reichende Vereinheitlichung des Verfahrens von
bene Rechtsgrundsätze verwiesen sein. Nicht mehr Bundes- und Landesbehörden. Auch das dient vor
Rechtsprechung und Rechtslehre, sondern das Ge- allem den Betroffenen.
setz soll Auskunft darüber geben, welche Rechte der
einzelne besitzt. Das Nachschlagen in dickleibigen Das Interesse des Bürgers im Umgang mit der
Gesetzessammlungen nach speziellen Verfahrens- Verwaltung geht vornehmlich dahin, daß die Rechte,
regelungen soll damit in Zukunft unnötig sein. die ihm das Grundgesetz gewährt, gerade im All-
tag schnell und umfassend gewährt werden. Diesem
Der Bürger soll durch eindeutige und verwal- Bestreben soll der vorliegende Entwurf eines Ver-
tungsgerichtlich nachprüfbare Gesetzesnormen um waltungsverfahrensgesetzes Rechnung tragen.
sein Recht wissen und der öffentlichen Behörde un-
befangen gegenübertreten. Wenn sich bei der Behandlung dieses Gesetzes
ergeben sollte — das würde mich nicht überra-
(Beifall bei der CDU/CSU.) schen —, daß der Teufel wieder im Detail sitzt
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4005

Bühling
Änderung des Gesetzes über die Zusammen-
-
oder viele Teufel in vielen Details unserer so weit
verzweigten Verwaltung sitzen - in diesem Dik- arbeit des Bundes und der Länder in Angele-
kicht können sich wirklich größere Scharen von Teu- genheiten des Verfassungsschutzes (Verf-
feln verstecken —, so glaube ich doch, daß es ein SchutzÄndG)
wahrhaft staatsbürgerliches Interesse ist, einmal — Drucksache .VI/1179 —
ernsthaft und umfassend mit diesen Teufeln des De-
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
tails zu ringen.
Dorn zur Begründung.
Die SPD-Fraktion begrüßt den vorliegenden Ge-
setzentwurf.
Dorn, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bun-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) desminister des Innern: Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Anschläge aus-
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der ländischer Terroristen auf Einrichtungen der zivilen
Abgeordnete Kleinert. Luftfahrt, auf Missionen und Handelsniederlassun-
gen fremder Staaten sowie auf das Leben politischer
Kleinert (FDP) : Die wesentlichen rechtlichen Gegner im Bundesgebiet haben die Öffentlichkeit in
Punkte, die bei diesem Gesetz zu begrüßen sind, sind zunehmendem Maße auf die besonderen Sicherheits-
bereits von meinen Herren Vorrednern erwähnt probleme hingewiesen, die mit dem Aufenthalt von
worden. Wegen der notwendigen Zusammenarbeit mehr als zwei Millionen ausländischen Arbeitskräften
mit allen Ländern handelt es sich sicherlich um ein in der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind.
Minimalprogramm, auf diesem Gebiet einen festen
Rahmen für das Verwaltungshandeln zu schaffen. Ich möchte hier nicht mißverstanden werden. Die
Aber das muß keineswegs ein Nachteil sein. Denn überwiegende Zahl der bei uns befindlichen Auslän-
man könnte andererseits bei dem Versuch, erstmals der verhält sich untadelig. Sie achten unsere Gesetze
das Verwaltungshandeln in dieser Weise zu kodifi- und sind ein wertvoller Bestandteil unserer Gesell-
zieren und es nicht mehr wie in der Vergangenheit schaft. Unter den Ausländern gibt es jedoch einige
Rechtsprechung und Lehre zu überlassen, auch be- — auch das ist unverkennbar —, einzelne Gruppen
fürchten, daß eine wünschenswerte Flexibilität auf oder Einzelpersonen, die ihre Gastpflichten verlet-
diesem Gebiet verlorengeht und ein starrer, ein wo- zen. Es gibt politisch radikale Ausländergruppen
möglich auch noch zu eng gegriffener Rahmen die oder Einzeltäter, die ihre Ziele im Bundesgebiet mit
Verwaltung hindert, sich zeitgemäß weiterzuentwik- Terror und Gewalt durchsetzen wollen. Dies kann
keln, sowie es die jeweilige Situation erfordert. In nicht geduldet werden. Es ist notwendig, unter der
sofern scheint mir auch vom Inhalt her dieser Ver- großen. Menge der hier befindlichen Ausländer recht-
such sehr ausgewogen zu sein. zeitig diejenigen herauszufinden, die unsere Gesetze
nicht achten, kriminell tätig sind oder politisch mili-
Auf einen Punkt möchte ich an dieser Stelle Ihre tante Bestrebungen verfolgen.
Aufmerksamkeit lenken. Wirksam und sinnvoll
kann das jetzt im Entwurf vorliegende Gesetz nur Diesem Ziel dient der Ihnen nunmehr vorgelegte
werden, wenn es tatsächlich im Bund und in allen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Verfas-
Ländern, so wie es ausgearbeitet worden ist, auch sungsschutzgesetzes, den die Bundesregierung dem
in Kraft tritt und zur Anwendung kommt. Die Basis Parlament zuleitet. Nach § 3 des Gesetzes über die
dafür ist lediglich unser Vertrauen, daß die Länder Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in An-
auf Grund ihrer eigenen Kompetenz so verfahren gelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27. Sep-
werden. Damit sehe ich hier in einer keineswegs tember 1950 sind die Verfassungsschutzbehörden des
unwesentlichen Frage einen Prüfstein dafür, ob Män- Bundes und der Länder nur zuständig für die Samm-
gel in der Kompetenzverteilung, die man hier ver- lung und Auswertung von Nachrichten über verfas-
muten könnte, durch das vernünftige Handeln von sungsfeindliche Bestrebungen. Diese Zuständigkeits-
Bund und Ländern zu beseitigen sind und ob der- regelung läßt es zweifelhaft erscheinen, ob auch Be-
artige Vereinbarungen so gut und soweit tragen, strebungen politisch militanter Ausländer im Bun-
daß nicht an immer weiteren Punkten die Notwen- desgebiet beobachtet werden können, die sich nicht
digkeit auftaucht, zu prüfen, ob weitere Kompetenz- gegen die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes
verlagerungen auf den Bund notwendig werden. Ich und der Länder richten, die aber die innere Sicher-
glaube, das im weiteren Verlauf zu verfolgen, ist heit oder auswärtige Belange der Bundesrepublik
bei dieser Gelegenheit nicht unwichtig. gefährden.
Das Gesetz will diese Zweifel ausräumen. Nach
Vizepräsident Dr. Schmid: Keine weiteren der vorgesehenen Erweiterung soll es künftig zu
Wortmeldungen zu Punkt 7. den Aufgaben der Ämter für Verfassungsschutz auch
Der Ältestenrat schlägt dem Hause vor, die Vor- gehören, Bestrebungen von Ausländern zu beobach-
lage dem Innenausschuß als federführendem Aus- ten, die geeignet sind, die innere oder äußere Sicher-
schuß und dem Rechtsausschuß als mitberatendem heit oder auswärtigen Belange der Bundesrepublik
Ausschuß zu überweisen. Ist das Haus einverstan- Deutschlan d zu beeinträchtigen. Die intensive Beob-
den? -- Dann ist so beschlossen. achtung der politisch-kriminellen Tätigkeit von Aus-
ländern und Ausländergruppen ist deshalb vordring-
Ich rufe Punkt 8 auf: lich. Insgesamt bestehen in der Bundesrepublik
Erste Beratung des von der Bundesregierung Deutschland zur Zeit rund 1000 politische Ausländer-
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur vereinigungen, von denen 100 ihre politischen Ziele
4006 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Parlamentarischer Staatssekretär Dorn


mit radikalen und teils gewaltsamen Mitteln verfol- länderrechts, das man in dem Zusammenhang -erwäh-
gen. Die Zahl der Mitglieder und Anhänger dieser nen muß. Um so notwendiger scheint es uns zu sein,
radikalen Gruppen mit zum Teil offen anarchisti- dann den Sicherheitsbehörden des Bundes und der
schen, maoistischen und terroristischen Tendenzen Länder eine ausreichende Rechtsgrundlage zu geben,
wird auf etwa 50 000 Personen geschätzt. um sich den Ausländern zuzuwenden, die das Gast-
recht mißbrauchen.
Da diese Gruppen fast ausschließlich im geheimen
arbeiten, sind nur die Behörden für Verfassungs- Ich komme jetzt zu einem Punkt, der in einem
schutz mit nachrichtendienstlichen Mitteln in der engen Zusammenhang mit unserem Thema steht und
Lage, terroristische und gewaltsame Bestrebungen den auch der Bundesrat in einem Teilaspekt ange-
von Ausländern so frühzeitig zu erkennen, daß sie sprochen hat. Das Verfassungsschutzgesetz des Bun-
noch rechtzeitig verhindert werden können. des, über dessen Änderung wir heute reden, stammt
Das Änderungsgesetz stellt weiter klar, daß die aus dem Jahre 1950, ist also 20 Jahre alt. Seither
Behörden für Verfassungsschutz befugt sind, die ist es in seinem Wortlaut nicht verändert worden,
Aufgaben der Spionageabwehr wahrzunehmen. Es obwohl nicht bezweifelt werden kann, daß sich die
handelt sich hierbei um eine Klarstellung, da gele- Praxis der Behörden in den vergangenen zwei Jahr-
gentlich Zweifel aufgetaucht sind, ob auch die Aus- zehnten entwickelt und in einigen Bereichen auch
spähung der Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik ausgeweitet hat. Wir sind der Auffassung, daß diese
durch Nachrichtendienste fremder Mächte als ver- Gelegenheit nunmehr benutzt werden müßte, um
fassungsfeindliche. Bestrebungen und damit als Be- bei der Beratung des vorliegenden Regierungsent-
obachtungsobjekte des Verfassungsschutzes anzuse- wurfs, der nur ein Minimalkonzept darstellt, das
hen sind. Diese Frage war schon wegen der politi- uns nicht ausreichend erscheint, auch die anderen
schen Zielsetzung der gegen die Bundesrepublik tä- Tätigkeitsbereiche des Verfassungsschutzes mit
tigen Nachrichtendienste zu bejahen. Eine entspre- einer eindeutigen rechtlichen Grundlage auszustat-
chende Gesetzesänderung soll nunmehr auch in die- ten, und zwar dort, wo dies notwendig ist. Es gibt
ser Frage Klarheit schaffen. einige Punkte, die ich jetzt im einzelnen nicht er-
wähnen will, wo dies notwendig ist.
Die Bundesregierung wäre dem Parlament dank-
bar, wenn möglichst bald eine Entscheidung darüber Auch der Bundesrat hat bei der Beratung des Ent-
hier im Rahmen der parlamentarischen Beratungen wurfs einen solchen Bereich angesprochen und eine
zustande kommen könnte. klarstellende Vorschrift über die Zuständigkeit der
Verfassungsschutzbehörden für den personellen Ge-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
heimschutz angeregt. Diese Anregung halte ich für
richtig. Sie ist aber nur eine von mehreren Anre-
Vizepräsident Dr. Schmid: Wir kommen zur gungen, die in diesem Gesamtzusammenhang zu
Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Benda. geben sind. Wir werden das in den Ausschüssen im
einzelnen vortragen.
Benda (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da- Ich möchte aber noch folgendes sagen und bitte,
men und Herren! Das Problem, um das es geht, ist das so ernst zu nehmen, wie es gemeint ist. Meine
von Herrn Staatssekretär Dorn soeben dargestellt Fraktion betrachtet diesen Gesetzentwurf und den
worden. Ich brauche dem nichts hinzuzufügen. noch ausstehenden, aber demnächst zur Behandlung
Die CDU/CSU-Fraktion hat die Probleme der hier anstehenden Entwurf zur Änderung der Arti-
Überwachung und Bekämpfung der Kriminalität und kel 73 und 87 des Grundgesetzes als eine Einheit
sonstiger radikaler Aktivitäten von Ausländern von der Sache her. Das bedeutet praktisch, daß wir
schon in ihrer Großen Anfrage zur inneren Sicher- unsere Zustimmung zu der Grundgesetzänderung,
heit vom 15. April dieses Jahres, also vor geraumer um die es demnächst gehen wird, von einer befrie-
Zeit, angesprochen. Diese Große Anfrage ist von der digenden Ausgestaltung des Gesetzentwurfs, über
Bundesregierung beantwortet worden. Ich hoffe, daß den wir heute reden, abhängig machen werden. In-
sich bald eine Gelegenheit ergeben wird, darüber in sofern ist eine sachliche und politische Einheit bei-
diesem Hohen Hause zu debattieren. der Dinge unverkennbar.
In dieser Anfrage haben wir, Herr Staatssekretär, (Beifall bei der CDU/CSU.)
wie Sie wissen, auch die Frage aufgeworfen, ob die
Ausdehnung der Zuständigkeit der Ämter des Ver-
fassungsschutzes nicht eine Änderung des Grundge- Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
setzes voraussetze. Im Bundesrat ist diese Frage bei Abgeordnete Sieglerschmidt.
der Beratung des uns heute vorliegenden Gesetzent-
wurfs bekanntlich bejaht worden. Eine entsprechen- Sieglerschmidt (SPD) : Herr Präsident! Meine
de Regierungsvorlage liegt ja vor, zwar nicht diesem Damen und Herren! Ich bin in der glücklichen Lage,
Hause, aber dem Bundesrat. Beide Dinge sind natür- weiten Teilen der Ausführungen meiner beiden
lich im Zusammenhang zu sehen. Vorredner zustimmen und die Sachdarstellung als
Die Unruhe, die sich in der Bevölkerung über Ak- meine eigene übernehmen zu können. Es ist, meine
tivitäten — ich stimme Ihnen völlig zu — nur eines ich, eine gute Tradition, daß dieses Haus über Fra-
Teiles der bei uns zu Gast befindlichen Ausländer gen, wie sie hier zur Debatte stehen, keine kontro-
ergeben hat, ist auch natürlich eine Folge unseres verse, sondern eine zusammenführende Sachdiskus-
sehr liberalen — ich sage nicht: zu liberalen — Aus sion führt.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4007
Sieglerschmidt
-
Das Gesetz hat sich in der Tat — Herr Benda hat rig auch aus den Gründen, die ich schon berührt
es schon erwähnt — im ganzen gut bewährt, da es habe: weil für die Abgrenzung dessen, was zu be-
zu der Minderzahl von Gesetzen in der Bundesrepu- obachten ist, was einzubeziehen ist und was nicht,
blik gehört, die seit 20 Jahren nicht geändert wor- was legale Tätigkeit und was nicht legale Tätigkeit
den sind. Daß einiges an Klarstellungen zu wün- ist, ein hohes Maß an politischem Fingerspitzenge-
schen übrig blieb, wie sich jetzt gelegentlich der fühl erforderlich sein wird.
Änderung des Gesetzes im Hinblick auf die Not- Es wurde schon erwähnt, daß diesem Gesetzent-
wendigkeit der Ausländerüberwachung zeigt, steht wurf eine Vorlage über eine Verfassungsänderung
schon lange fest. Alle, die sich damit befassen, wis- folgen wird. Es haben sich Zweifel ergeben, ob die-
sen das. Ich meine, daß eine solche Klarstellung ses hier vorliegende Gesetz ohne Verfassungsän-
auch sowohl hinsichtlich der Spionageabwehr als derung möglich ist, Zweifel allerdings, die, wie aus
auch, wie es der Bundesrat vorschlägt, hinsichtlich der Entstehungsgeschichte ersichtlich, nach beiden
der Sicherheitsüberprüfung des personellen Ge- Seiten geltend gemacht werden können: sowohl da-
heimschutzes wünschenswert ist. hin, ob es denn unabdingbar und zwingend ist, daß
Was die Frage angeht, was darüber hinaus noch eine Verfassungsänderung notwendig ist, als auch
an Änderungen notwendig ist, warten wir gespannt umgekehrt dahin, ob dieses Gesetz nur mit einer
auf die Vorschläge der Opposition. Ich möchte hier Verfassungsänderung verfassungskonform ist. Wir
aber deutlich zum Ausdruck bringen, daß eine grund- werden diese Fragen in den Ausschüssen sehr sorg-
legende Erweiterung etwa der Zuständigkeiten die- fältig prüfen und besprechen müssen, da es offen-
ser Behörden — darüber besteht wohl in diesem sichtlich ist, daß man über sie verschiedener recht-
Hause Einverständnis — nicht gemeint ist und nicht licher Meinung sein kann.
in Frage kommen kann. Lassen Sie mich zum Schluß gerade anläßlich der
(Abg. Benda: Sie wissen, wovon ich gere Übertragung neuer Aufgaben an die Verfassungs-
det habe, Herr Sieglerschmidt!) schutzbehörden noch einmal sehr deutlich zum Aus-
druck bringen, daß insbesondere das, was ich hier
Meine Damen und Herren, was die Ausländer-
über das Fingerspitzengefühl gesagt habe, nicht ein
überwachung, von der die Rede war, betrifft, darf
irgendwie geartetes Mißtrauen ausdrücken sollte.
ich namens meiner Fraktion noch einmal unterstrei-
Ich möchte vielmehr die Gelegenheit wahrnehmen,
chen, daß hier nur eine Minderheit von Ausländern
den Angehörigen dieser Ämter für ihre undankbare
betroffen ist. Ich meine auch, Herr Staatssekretär,
und von der Öffentlichkeit selten richtig gewürdigte
daß es sich wahrscheinlich bei den in Frage kom-
Pflichterfüllung im Dienste der Sicherheit unseres
menden Gruppen, um mich vorsichtig auszudrücken, Staates zu danken.
weniger um die ausländischen Arbeiter als um an-
dere in der Bundesrepublik agierende Ausländer- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
gruppen handelt, die das Interesse der Behörden
verdienen. Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
Es ist, glaube ich, selbstverständlich — und meine Herr Abgeordnete Kleinert.
Fraktion legt Wert darauf, das noch einmal zu un-
terstreichen —, daß durch diese Gesetzesänderung Kleinert (FDP) : Es ist einerseits mißlich, wenn
die legale politische Betätigung von Ausländern im man immer als der Dritte nach so hervorragenden
Bundesgebiet, soweit sie sich an die bestehenden Vorrednern spricht, es hat aber natürlich dies auch
Gesetze hält, weder eingeschränkt werden soll noch den Vorteil, daß man sich besonders kurz fassen
werden darf. Hier soll keine qualitative Änderung kann und die Geduld des Hauses nicht so sehr stra-
der Lage eintreten. Das möchte ich gegenüber man- pazieren muß.
cherlei Mißverständnissen, die möglich sind, doch Ich möchte deshalb nur eine Anmerkung zu dem
deutlich unterstreichen. machen, was Sie, Herr Kollege Benda, gesagt haben.
Dieses Ausländerrecht wird ja, wenn ich mir diese Selbstverständlich sollten wir die Gelegenheit nut-
Randbemerkung gestatten darf, von zwei Seiten zen, dieses Gesetz anläßlich der jetzt vorzunehmen-
attackiert. Es gibt sehr viele Leute, die sagen, es den Änderungen und nicht etwa erst bei der näch-
sei viel zu drakonisch und streng, und es gibt an- sten späteren Gelegenheit daraufhin zu überprüfen,
dere Leute, die sagen: es ist zu liberal. Eigentlich was noch getan werden müßte, damit man nicht zu
zeigt sich für mich damit immer, daß wir — notwen- oft zu Änderungen kommt. Es muß aber auch der
dige Änderungen natürlich stets vorbehalten — Hinweis erlaubt sein, daß Ihre Fraktion in den letz-
einen richtigen Weg gegangen sind. ten zwanzig Jahren den Bundesinnenminister ge-
stellt hat und diese zusätzlichen Änderungswünsche,
Was nun die Folgen der Änderungen anlangt, so von denen uns vorher nichts bekannt war, erstmals
ist klar, daß wir mit dem Gesetz den Verfassungs- auftauchen, nachdem erst seit einem Jahr der Bun-
schutzbehörden, die natürlich für derartige Aufga- desinnenminister von einer anderen Fraktion ge-
ben am geeignetsten sind, weil die notwendige Be- stellt wird.
obachtung nur mit nachrichtendienstlichen Mitteln
vorgenommen werden kann, eine schwierige Auf- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
gabe übertragen, schwierig nicht nur wegen der
mehr technischen Gründe, daß die Aufgaben Sprach- Vizepräsident Dr. Schmid: Weitere Wortmel-
kenntnisse und ein Einfühlen in uns ferner liegende dungen liegen nicht vor. Ich schließe die erste Bera-
politische Verhältnisse erfordern, sondern schwie tung. Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Gesetz-
4008 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Vizepräsident Schmid
entwurf dem Innenausschuß zu überweisen. Ist das republik Deutschland und der Republik- Oster-
Haus einverstanden? — Dann ist so beschlossen. reich über die steuerliche Behandlung von
Kraftfahrzeugen im grenzüberschreitenden
Ich rufe Punkt 17 auf: Verkehr
Zweite und dritte Beratung des von der Bun- — Drucksache VI/928 —
desregierung eingebrachten Entwurfs eines Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
Gesetzes zur Änderung des Durchführungs- (6. Ausschuß)
gesetzes EWG-Richtlinie Frisches Fleisch
— Drucksache VI/ 1235 —
— Drucksache VI/984 —
(Erste Beratung 58. Sitzung)
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Ju
gend, Familie und Gesundheit (12. Ausschuß) Auch hier ist Herr Abgeordneter Porzner Bericht-
— Drucksache VI/1209 — erstatter, der auf die mündliche Ergänzung des Be-
richts verzichtet hat.
(Erste Beratung 64. Sitzung)
Der Berichterstatter, Herr Abgeordneter Dr. Fuchs, Ich rufe zur zweiten Beratung die Artikel 1, — 2,
ist anwesend. — Er verzichtet auf die mündliche Er- — 3, — Einleitung und Überschrift auf. Wer zustim-
gänzung des Ausschußberichts. men will, gebe das Handzeichen. — Ich stelle ein-
stimmige Annahme fest. Schluß der zweiten Bera-
Ich rufe zur zweiten Beratung auf — da keine tung.
Wortmeldungen vorliegen — Artikel 1 bis 4, Einlei-
tung und Überschrift. Wer einverstanden ist, der Ich rufe zur Schlußabstimmung auf. Wer dem Ge-
möge das Handzeichen geben. — Gegenprobe! — setz als Ganzem zustimmen will, möge sich erheben.
Enthaltungen? — Einstimmige Annahme. — Ich stelle einstimmige Annahme fest.

Ich rufe zur Nunmehr rufe ich den fünften der Zusatzpunkte
dritten Beratung zur Tagesordnung auf, deren Übernahme in die Ta-
auf. — Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer gesordnung zu Beginn der Sitzung beschlossen wor-
zustimmen will, möge sich erheben. — Ich stelle ein- den ist. Es handelt sich um die
stimmig Annahme fest. zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ich rufe Punkt 18 auf: Gesetzes zur Änderung des Zerlegungsgeset-
Zweite Beratung und Schlußabstimmung über zes
den von der Bundesregierung eingebrachten — Drucksache VI/802 —
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
vom 3. November 1969 zwischen der Regie- (6. Ausschuß)
rung der Bundesrepublik Deutschland und der
— Drucksache VI/ 1236 —
Regierung der Französischen Republik über
die steuerliche Behandlung von Straßenfahr- (Erste Beratung 52. Sitzung)
zeugen im internationalen Verkehr
Der Berichterstatter des Finanzausschusses, der
— Drucksache VI/927 — Abgeordnete Offergeld, ist nicht im Saal; also wird
Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses der Abgeordnete keinen Wert darauf legen, den Be-
(6. Ausschuß) richt des Ausschusses mündlich zu ergänzen.
— Drucksache VI/1234 —
Wir kommen zur zweiten Beratung. Ich rufe Art. 1
(Erste Beratung 58. Sitzung) §§ 1 bis 9, Art. 2 bis 6, Einleitung und Überschrift,
Berichterstatter ist der Abgeordnete Porzner. Er auf. Wer zustimmen will, den bitte ich um das Hand-
hat mich wissen lassen, daß er auf mündliche Er- zeichen. — Einstimmige Annahme. Ich schließe die
gänzung des Ausschußberichtes verzichtet. Es han- zweite Beratung.
delt sich praktisch um die Transformation eines völ-
kerrechtlichen Vertrages in Landesrecht. Wir kommen zur
Ich rufe die Artikel 1, — 2, — 3, -- Einleitung und dritten Beratung.
Überschrift auf. — Keine Wortmeldung. Ich stelle
fest, daß das Haus einverstanden ist. Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift,
auf. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
Ich rufe zur Schlußabstimmung auf. Wer zustim- Gesetz im ganzen zustimmen will, möge sich erhe-
mn will, der möge sich erheben. — Danke, ich stelle ben. — Einstimmige Annahme.
einstimmige Annahme fest.
Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:
Punkt 19 der Tagesordnung: Beratung der Ubersicht 6 des Rechtsausschus-
Zweite Beratung und Schlußabstimmung über ses (5. Ausschuß) über die dem Deutschen
den von der Bundesregierung eingebrachten Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem
Entwurf eines Gesetzes zu dem Abkommen Bundesverfassungsgericht
vom 18. November 1969 zwischen der Bundes — Drucksache VI/ 1190 —
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4009
Vizepräsident Schmid
-
Wortmeldungen liegen nicht vor. — Der Ausschuß 24. Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus-
schlägt dem Plenum vor, von einer Äußerung oder schusses für Verkehr und für das Post- und
einem Verfahrensbeitritt zu den nachstehend auf- Fernmeldewesen (13. Ausschuß) über den von
geführten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- der Bundesregierung zur Unterrichtung vor-
gericht abzusehen. Wer zustimmen will, gebe das gelegten Vorschlag der Kommission der Euro-
Handzeichen. — Gegenprobe! — Enthaltungen? — päischen Gemeinschaften für eine Richtlinie
Einstimmige Annahme. des Rates über das Mindestniveau der Aus-
bildung für Fahrer im Straßenverkehr
Ich rufe Punkt 21 der Tagesordnung auf: — Drucksachen V1/1110, W1237 —
Beratung des Schriftlichen Berichts des Haus Berichterstatter: Abgeordneter Schmitt (Lock-
haltsausschusses (7. Ausschuß) über den Be- weiler)
richt des Bundesministers der Finanzen betr. 25. Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus-
Ergebnisse der Entbehrlichkeitsprüfung und schusses für Wirtschaft (8. Ausschuß) über die
der Veräußerung von Bundesgelände zu von der Bundesregierung zur Unterrichtung
Zwecken des Wohnungsbaues und der Eigen- vorgelegten Vorschläge der Kommission für
tumsbildung eine
— Drucksachen Vl/399, VI/1178 — Verordnung des Rates über die Mitteilung
Berichterstatter: Abgeordneter Bremer von Investitionsvorhaben von gemeinschaftli-
chem Interesse in den Bereichen der Erdöl-,
Der Herr Berichterstatter ist nicht im Saal. Es wird Erdgas- und Elektrizitätswirtschaft
keine Begründung des Ausschußantrags gewünscht.
Verordnung des Rates über die Mitteilung der
Der Ausschuß beantragt, den Bericht Drucksache beabsichtigten Einfuhren von Kohlenwasser
VI/399 zustimmend zur Kenntnis zu nehmen. Wer ein- stoffen an die Kommission der Europäischen
verstanden ist, gebe das Handzeichen. — Gegenpro- Gemeinschaften
be! Enthaltungen? Einstimmige Annahme des — Drucksachen VI/297, VI/ 1225 —
Ausschußantrags. Berichterstatter: Abgeordneter Springorum
Ich rufe Punkt 22 der Tagesordnung auf: 26. Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus-
Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus- schusses für Jugend, Familie und Gesundheit
schusses für Arbeit und Sozialordnung (12. Ausschuß) über den von der Bundesregie-
(10. Ausschuß) über den Antrag des Abgeord- rung zur Unterrichtung vorgelegten Vorschlag
neten Liehr, Schmidt (Kempten) und der Frak- der Kommission der Europäischen Gemein-
tionen der SPD, FDP betr. berufliche Bildung schaften für eine Richtlinie des Rates zur An-
gleichung der Rechtsvorschriften der Mitglied-
— Drucksachen VI/741, VI/1198 —
staaten über alkoholfreie Erfrischungsge-
Berichterstatter: Abgeordneter Dr.Böhme tränke
Der Berichterstatter verzichtet auf Begründung. — Drucksachen V1/681, V1/1229 —
Das Wort wird nicht gewünscht. Berichterstatter: Abgeordneter Dasch
Der Ausschuß schlägt dem Plenum vor, das Haus Wünscht einer der Berichterstatter das Wort zu
möge beschließen, den Antrag — Drucksache VI/741 Punkt 26? — Nein, das ist nicht der Fall.
— mit der Maßgabe anzunehmen, daß in Nummer 2 Das Wort .zur Aussprache? — Dr. Hammans zu
Satz 1 der Termin „31. März 1971" in „Ende 1971" Punkt 26.
geändert wird. Wer zustimmen will, gebe das Hand-
zeichen. — Gegenprobe! - Enthaltungen? — Ein- Dr. Hammans (CDU/CSU) : Hrer Präsident!
stimmige Annahme. Meine Damen und Herren! Von der Kommission ist
Ich rufe die Punkte 23 bis 26 der Tagesordnung uns ein Vorschlag unterbreitet worden, daß in Zu-
auf: kunft nichtalkoholische Getränke gefärbt werden
dürfen. Ich möchte diese Gelegenheit nehmen, um an
23. Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus- ein paar- Dinge zu erinnern, die uns, von der EWG
schusses für Verkehr und für das Post- und kommend, große Schwierigkeiten bereiten. Wir
Fernmeldewesen (13. Ausschuß) über die von haben in der letzten Legislaturperiode mit viel
der Bundesregierung zur Unterrichtung vor- Mühe und nach großer Anstrengung ein Weingesetz
gelegten Vorschläge der Kommission der geschaffen, mit dem schließlich alle beteiligten
Europäischen Gemeinschaften für drei Richtli- Gruppen einverstanden waren. Inzwischen ist dieses
nien des Rates zur Verwirklichung der Nie- wirklich gute Gesetz durch die EWG-Weinmarkt-
derlassungsfreiheit für die selbständigen Tä- ordnung völlig in Frage gestellt. Im Augenblick be-
tigkeiten des Güterkraftverkehrs, der Perso- finden sich sowohl Winzer wie Weinhändler in
nenbeförderung im Straßenverkehr und der einer sehr schlechten Lage, weil sie nicht wissen,
Güter- und Personenbeförderung auf Binnen- ob schon die Weinmarktordnung gilt oder noch das
wasserstraßen alte deutsche Weingesetz oder das neue.
- Drucksache VI/672, VI/ 1205 —
Wir haben ferner Bestrebungen in der EWG, daß
Berichterstatter: Abgeordneter Fellermaier das Reinheitsgesetz bei Bier, das aus dem Jahre
4010 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Hammans
1556 stammt und nach dem in Deutschland Bier nur trauens in dieses Recht, sie gibt aber auch Aufschluß
-
aus Wasser, Hopfen, Malz und Hefe hergestellt über die vielfältigsten Sorgen, die unsere Mitbürger
werden darf, innerhalb der Europäischen Gemein- bedrücken.
schaft fallen soll. Die leider zu früh verstorbene langjährige Vor-
Meine Damen und Herren, hier liegt uns nun eine sitzende des Petitionsausschusses, Frau Helene Wes-
Verordnung vor, nach . der nichtalkoholische Ge- sel, deren Todestag sich gestern gejährt hat, hat
tränke in Zukunft gefärbt werden dürfen. Meine einmal dazu gesagt — und diese Aussage hat noch
Damen und Herren, ich glaube, wir sollten die unverände rt Gültigkeit —:
Bundesregierung unterstützen, daß sie dieser Ver- Für den Ausschuß
ordnung nicht zustimmt. Sie sollte dem Richtlinien-
vorschlag, wenn es so weit kommt, nicht zustimmen. — also den Petitionsausschuß —
Ich meine, wir sollten alles tun, um zu erreichen, und für den Bundestag als Gesetzgeber ist es
daß unsere Nahrungs- und Genußmittel soweit wie von großem Nutzen, durch die Petitionen zu er-
möglich von Fremdstoffen frei bleiben. Eine Färbung fahren, wie seine Arbeit im Volke aufgenom-
ist nicht notwendig, sie stört sogar das ästhetische men wird, wo sich Lücken und Härten in den
Empfinden. von ihm beschlossenen Gesetzen befinden, sich
(Beifall bei der CDU/CSU.) über die Tätigkeit der Verwaltung und andere
Vorgänge zu informieren, Mißständen nachzu-
Vizepräsident Dr. Schmid: Weitere Wortmel- gehen und Mängeln durch gesetzliche Regelun-
dungen? — Keine Wortmeldung mehr. gen oder Verwaltungsmaßnahmen abhelfen zu
können. Aus den Petitionen lernen Ausschuß
Dann bitte ich das Haus um die Erlaubnis, daß und Volksvertretung die wirklichen Nöte und
wir der Einfachheit halber gemeinsam über die Vor- Bedürfnisse der Bürger kennen. Der Petitions-
lagen abstimmen. — Das Haus ist einverstanden. ausschuß ist die höchste Stelle im Staate, wo
Wir stimmen ab über die Ausschußanträge auf der Bürger einmal sein Herz ausschütten kann.
den Drucksachen VI/1205, VI/ 1237, VI/ 1225 und Jeder hat das Recht, zu schreiben, wie es ihm
VI/1229. Wer zustimmen will, gebe das Handzeichen. ums Herz ist. Der Ausschuß hört die Stimme
— Gegenprobe! — Enthaltungen? — Ich stelle ein- des Volkes und vernimmt die Sorgen und Nöte
stimmige Annahme fest. des kleinen Mannes. Er ist damit wie kaum ein
anderer Ausschuß des Bundestages ein Binde-
Ich rufe Punkt 27 der Tagesordnung auf: glied, eine Kontaktstelle zwischen Bürger und
Staat, eine Nahtstelle zwischen Gesetz und
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Mensch. Er hat die Hand am Pulsschlag des Vol-
Frau Jacobi (Marl), Fritsch, Dr. Rutschke
kes.
und Genossen eingebrachten Entwurfs
eines . . . Gesetzes zur Änderung des Diese Kontaktstelle, meine sehr verehrten Damen
Grundgesetzes (Artikel 45 c) und Herren, zwischen Bürger und Staat bedarf je-
— Drucksache VI/973 — doch der entsprechenden rechtlichen Grundlagen, um
ihrem verfassungsrechtlichen Auftrag schnell und
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten wirksam nachzukommen. Die Erfahrung, insbeson-
Frau Jacobi (Marl), Fritsch, Dr. Rutschke dere der letzten Jahre, hat gezeigt, daß die bisher
und Genossen eingebrachten Entwurfs gegebenen Rechte und Möglichkeiten, die sich ledig-
eines Gesetzes über die Befugnisse des lich aus dem erwähnten Art. 17 GG und aus den §§
Petitionsausschusses des Deutschen Bun- 112 und 113 der Geschäftsordnung des Deutschen
destages Bundestages herleiten ließen, nicht ausreichten, um
— Drucksache VI/974 — im Sinne eines echten Kontrollrechts und eines ver-
stärkten Schutzes des Bürgers tätig zu werden.
Das Wort hat der Abgeordnete Fritsch.
Es ist daher unserer Meinung nach erforderlich,
durch eine Ergänzung des Grundgesetzes eine selb-
Fritsch (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr ge-
ständige Kontrollbefugnis des Petitionsausschusses
ehrten Damen und Herren! Zu den Gesetzentwürfen
zu verankern. In Abs. 1 des neu einzufügenden Art.
auf Drucksache VI/973 und auf Drucksache VI/974 be-
45 c soll deshalb die Bestellung eines Petitionsaus-
treffend die Änderung des Grundgesetzes sowie die
schusses, dem die Behandlung der Bitten und Be-
Erweiterung der Befugnisse des Petitionsausschusses
schwerden der Bürger obliegt, zwingend vorge-
des Deutschen Bundestages gebe ich in Ergänzung
schrieben werden. Bezüglich der zu prüfenden Be-
der vorliegenden schriftlichen Begründung folgende
schwerden, also der Eingaben, die sich gegen ein
mündliche Begründung. Der Petitionsausschuß die-
Handeln oder Unterlassen der Verwaltung richten,
ses Hauses leitet seine Tätigkeit aus Artikel 17 des soll der Ausschuß als parlamentarisches Kontroll-
Grundgesetzes her, der jedermann das Recht gibt, organ tätig werden.
sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen
schriftlich mit Bitten und Beschwerden an die zu- Der Begriff und die Funktion eines parlamentari-
ständigen Stellen und an die Volksvertretung zu schen Kontrollorgans sind sicher nicht ohne Proble-
wenden. Von dieser Möglichkeit, sich an die Volks- matik. Es ist bewußt davon abgesehen worden, dem
vertretung zu wenden, haben seit 1949 über 150 000 Petitionsausschuß etwa die Qualität eines Unter-
Bürger unseres Landes Gebrauch gemacht. Diese er- suchungsausschusses zu verleihen. Andererseits aber
hebliche Zahl von Petenten ist Ausdruck des Ver erschien es notwendig, in Abs. 2 der vorliegenden
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4011
Fritsch
Grundgesetzergänzung durch eine verfassungsrecht- daß sie mit diesen Initiativen auf dem Gebiet der
liche Ermächtigung zu einem einfachen Gesetz die Entwicklung des Petitionsrechtes einen Schritt nach
Ausgestaltung der parlamentarischen Kontrollbe- vorn getan haben. Manche Vorstellungen gehen
fugnis vorzunehmen. noch über das, was die Vorlagen beinhalten, hin-
Dabei gehen die Antragsteller davon aus, daß aus, und zwar auf Grund der berechtigten Über-
dem Petitionsausschuß durch zusätzliche und erwei- legung, daß gerade in unserem sozialen Rechts-
terte Rechte eine eigene, d. h. von der Regierung staat, wie ihn Art. 20 des Grundgesetzes postuliert,
und der Verwaltung unabhängige, und unmittelbare, der Bürger als Mensch mit eigenem Schicksal Ver-
schnelle, weil den Dienstweg ausschließende Sach- trauen zu diesem Staat braucht. Im Zuge der Bera-
aufklärung, Tatsachenfeststellung und Wahrheits- tungen in den vom Ältestenrat dafür vorgesehenen
findung ermöglicht wird. Das drückt sich in der vor- Ausschüssen wird es sicher möglich sein, den Be-
gesehenen Auskunftspflicht und der Aktenvorlage weggründen, die zu diesen Gesetzentwürfen führ-
der Bundesregierung, der obersten Bundesbehörden ten, noch besonderen Ausdruck zu verleihen. Wir
und der ihrer Weisung und Aufsicht unterstehenden wären für eine zügige Beratung in den Ausschüssen
Behörden und Bediensteten aus, die ihre Grenze le- dankbar.
diglich in zwingenden Geheimhaltungsgründen fin- (Beifall)
det.
Vizepräsident Dr. Schmid: Wird das Wort
Hinzu kommt ein sogenanntes Inspektionsrecht, noch gewünscht? — Das ist nicht der Fall. Der Äl-
also die Möglichkeit des Petitionsausschusses oder testenrat schlägt Ihnen vor, den unter Punkt 27 a
— im Falle des Abs. 3 des § 1 des Gesetzesantrags aufgeführten Gesetzentwurf dem Rechtsausschuß
auf Drucksache 111/974 — einzelner Abgeordneter, — federführend —, dem Petitionsausschuß, dem
die Ausschußbefugnisse an Ort und Stelle auszu- Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Ge-
üben. Gerade zu dieser Bestimmung vermag ich aus schäftsordnung und dem Innenausschuß zur Mitbe-
der Praxis meiner langjährigen Tätigkeit im Peti- ratung zu überweisen.
tionsausschuß zu sagen, daß sie wesentlich dazu bei-
tragen wird, wirksame Hilfen zu schaffen und das Es ist vorgeschlagen, den unter Punkt 27 b aufge-
Vertrauen des Bürgers in dieses Parlament zu ver- führten Gesetzentwurf dem Ausschuß für Wahlprü-
stärken. Die Anhörung des Petenten und anderer fung, Immunität und Geschäftsordnung — feder-
Beteiligter stellt weiterhin ein Mittel dar, die Unmit- führend —, dem Petitionsausschuß, dem Rechtsaus-
telbarkeit der Ausschußtätigkeit in bezug auf den schuß und dem Innenausschuß zur Mitberatung zu
Beschwerdegegenstand herzustellen. Schließlich überweisen.
haben die Gerichte und die Verwaltungen, auch die Ist das Haus damit einverstanden? — Dann ist es
Verwaltungen der Länder und der Gemeinden, dem so beschlossen.
Ausschuß bei der Erfüllung seiner Aufgabe Hilfestel-
Wir kommen dann zu Punkt 28 der Tagesordnung.
lung zu leisten.
Eine Vorbemerkung: Damit wird eine ganze Serie
Die vorliegenden Gesetzentwürfe stützen sich auf von Aussprachen eingeleitet, die heute noch ab-
eingehende Überlegungen sowohl in den Fraktionen laufen soll. Heute morgen haben wir zur Bildungs-
dieses Hauses und ihren Arbeitskreisen als auch im politik noch vier Zusatzpunkte in die Tagesordnung
Petitionsausschuß und in den Gremien, die sich mit aufgenommen. Ich bin nun in einiger Verlegenheit,
den Fragen der Parlamentsreform befassen. Auch in wie zu verfahren ist. In Punkt 28 a geht es zunächst
den Bundesländern sind das Problem der Verstär- um den Bericht zur Bildungspolitik. Diesen Bericht
kung der Petitionsrechte des Bürgers und das Thema haben wir zu beraten und zur Kenntnis zu nehmen.
der sich daraus ergebenden gesetzgeberischen Kon- Wir haben dann unter den Punkten 28 b und 28 c
sequenzen aktualisiert worden. So hat z. B. das Ab- Schriftliche Berichte des Ausschusses für Bildung
geordnetenhaus von Berlin ein Gesetz über die Be- und Wissenschaft zu beraten, in denen im Hinblick
handlung von Petitionen an das Abgeordnetenhaus auf die Beschlußfassung über Anträge der CDU/CSU
von Berlin beschlossen, welches als besonders fort- Vorschläge gemacht werden. In den vier Zusatz-
schrittlich gelten kann. punkten geht es dann auch wieder um Anträge der
CDU/CSU. Ich schlage Ihnen vor, wie folgt zu ver-
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der fahren. Zunächst rufe ich Punkt 28 a auf.
Einführung eines Bürgerbeauftragten oder Parla-
(Abg. Raffert: Alles zusammen!)
mentsbeauftragten für den zivilen Bereich , diskutiert
worden. Ohne die Vorzüge und Nachteile einer sol- — Alle zusammen? Es soll also der ganze Punkt 28
chen Institution, die in Schweden unter der Bezeich- zusammen mit den vier Zusatzpunkten aufgerufen
nung Ombudsman eine beachtliche Tradition auf- werden?
weist, im einzelnen zu erörtern, möchte ich ledig- (Allseitige Zustimmung.)
lich die Überzeugung äußern, daß die Verabschie- Es wird sehr schwer werden, Ordnung in die Debatte
dung der vorgelegten Gesetzentwürfe und die da- hineinzubringen.
durch geschaffene neue Lage eindeutig für die Bei-
(Abg. Raffert: Das ist zu machen!)
behaltung des Petitionsausschusses des Parlamentes
sprechen werden. Die in den Gesetzentwürfen ent- Sind alle Fraktionen damit einverstanden, daß ich
haltenen Verbesserungen erfordern, wenn man zu jetzt Punkt 28 a, b und c sowie die Zusatzpunkte
einer vollen Wirksamkeit kommen will, sicher noch 1, 2, 3 und 4, die heute morgen in die Tagesordnung
ergänzende Maßnahmen, insbesondere im personel- aufgenommen worden sind, aufrufe?
len Bereich. Die Antragsteller sind der Meinung, (Zustimmung.)
4012 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Vizepräsident Dr. Schmid


— Einverstanden. — Sie machen es dem amtieren- nicht nur einleiten, sondern zugleich versuchen, ihre
den Präsidenten schwer, die Rednerfolge einiger- Schwerpunkte zu markieren, nämlich einmal den
maßen vernünftig zu ordnen, aber — — Inhalt des Berichts, dann die Funktion des Berichts
(Abg. Raffert: Die Fraktionen werden sich und endlich das Konzept für eine gesamtstaatlich
bemühen, Ihnen zu helfen!) verantwortete Bildungsplanung für die siebziger
Jahre.
— Auch mein Nachfolger wird für Ihre Hilfe sehr
dankbar sein. Bildungspolitik ist zweifelsohne das Kernstück
jeder Gesellschaftspolitik. Veränderungen im Bil-
Dann rufe ich also alle Punkte der Tagesordnung dungsbereich bewirken Veränderungen in der Ge-
auf, die mit Bildung zu tun haben: sellschaft und natürlich umgekehrt. Bildungspoliti-
sche Entscheidungen sind Entscheidungen über Stag-
a) Beratung des von der Bundesregierung ein- nation oder Innovation unserer Gesellschaft, deren
gebrachten Berichts zur Bildungspolitik Selbstverständnis weder den Bedingungen einer
— Drucksache VI/925 — freiheitlichen Gesellschaft noch den Gegebenheiten
b) Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus- der sogenannten zweiten industriellen Revolution
schusses für Bildung und Wissenschaft (16. ausreichend entspricht.
Ausschuß) über den Antrag der Fraktion der Ich möchte es mir und Ihnen, meine Damen und
CDU/CSU betr. mittelfristige Finanzplanung Herren, ersparen, die vielen drastischen Verände-
(Ausbau und Neubau von Hochschulen) rungen aufzuzählen, die als Folge der zunehmenden
— Drucksachen VI/425, VI/957 — Verwissenschaftlichung unsere industrielle Gesell-
schaft prägen und beeinflussen und unter Umstän-
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Gölter
den auch unsere persönliche und politische Freiheit
Abgeordneter Moersch
gefährden können. Ich möchte hierfür nur zwei
c) Beratung des Schriftlichen Berichts des Aus- Schlaglichter setzen, einmal das Durchdringen prak-
schusses für Bildung und Wissenschaft (16. tisch aller Wissenschafts- und damit auch Lebensbe-
Ausschuß) über den Antrag der Abgeordneten reiche durch die Datenverarbeitung und die dadurch
Dr. Martin, Dr. Reinhard, Dr. Preiß und Ge- verursachte totale Veränderung aller Kommunika-
nossen und der Fraktion der CDU/CSU betr. tions- und Informationsprozesse und zweitens die
Lage der landwirtschaftlichen Fakultäten DynamiserugdwchaftlienEkug,
— Drucksachen VI/156, VI/958 — die eine entsprechende Dynamisierung des mensch-
lichen Lebens unweigerlich mit sich bringt. Mit an-
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Sperling
deren Worten, ein Arbeitsleben, der Zeitraum also
Ferner: von etwa 25 bis 35 Lebensjahren, ist für den Men-
schen physisch zwar noch eine Art von Naturkon-
1. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ stante, nicht aber mehr für seine geistigen und in-
CSU betr. Finanzperspektiven über die Bil- tellektuellen Kräfte. Hier werden ihm ständige An-
dungsplanung für die Jahre 1971 bis 1980 passung, Erneuerung, ja Steigerung abverlangt.
— Drucksache VI/1269 —
Es ist die Einsicht in die hier naturgemäß nur
2. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ skizzenhaft angedeutete Problematik, die die Regie-
CSU betr. Bildungsbedarf rung der sozial-liberalen Koalition veranlaßt hat,
— Drucksache VI/1270 — der Gesellschaftspolitik im allgemeinen und der Bil-
dungspolitik im besonderen hohe Priorität einzuräu-
2. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/
men. Diese 'Einsicht ist auch die Grundlage der bil-
.CSU betr. Lehrermangel
dungspolitischen Konzeption der Bundesregierung,
— Drucksache VI/ 12i 1 — die Ihnen, den Mitgliedern des Deutschen Bundes-
4. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ tages, im Juni dieses Jahres im Bildungsbericht zu-
CSU betr. vorschulische Erziehung sammengefaßt vorgelegt worden ist.
- Drucksache VI/ 1272 — Mit Erlaubnis des Präsidenten darf ich einige Sätze
aus dem Bericht zitieren:
Das Wort hat Herr Bundesminister Leussink.
Oberstes Ziel ist ein demokratisches, leistungs-
und wandlungsfähiges Bildungssystem, das je-
Leussink, Bundesminister für Bildung und Wis- dem Bürger von der Vorschulerziehung bis zur
senschaft: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da- Weiterbildung zu seiner persönlichen, beruf-
men und Herren! Mit dem Bericht zur Bildungspoli- lichen und politischen Bildung offensteht.
tik hat eine Bundesregierung zum erstenmal in der
Geschichte der Bundesrepublik nicht nur ein Kon- Der Verfassungsgrundsatz der Chancengleich-
zept für den Aufbau und den quantitativen und qua- heit muß durch eine intensive und individuelle
litativen Ausbau unseres Bildungswesens von der Förderung aller Lernenden in allen Stufen des
Vorschulerziehung bis zur Weiterbildung vorgelegt, Bildungssystems verwirklicht werden.
sondern es wurde damit auch ein erster und ent- Die Schule der Zukunft muß im Zuge der Ver-
scheidender Schritt zu der in A rt . 91 b des Grund- wissenschaftlichung und der zunehmend raschen
gesetzes vorgesehenen Gemeinschaftsaufgabe der Veränderung aller Bereiche des beruflichen und
Bildungsplanung getan. Mit dieser Feststellung persönlichen Lebens allen Lernenden eine bes-
möchte ich die heutige bildungspolitische Debatte sere und gründlichere Bildung vermitteln. Be-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4013
Bundesminister Dr.-Ing. Leussink
rufliche Bildung muß den individuellen Inter- sie zu einem, wie ich meine, klar gegliederten, über-
essen und Fähigkeiten entsprechen und als in- schaubaren und einheitlichen Bildungssystem zu-
tegrierter Teil des Bildungssystems entwickelt sammen, in dem es viele Durchgangsstraßen, aber
werden. keine Sackgassen und nach Möglichkeit nicht einmal
Und endlich ist dort gesagt: mehr Einbahnstraßen geben soll und darf. Um
Chancengleichheit zu verwirklichen, muß Bega-
Bildung soll den Menschen befähigen, sein Le- bungsförderung mit der Elementarerziehung ein-
ben selbst zu gestalten. Sie soll durch Lernen setzen und darf nicht mit einem Ausbildungsab-
und Erleben demokratischer Werte eine dauer- schluß in einer Einbahnstraße irgendwann in den
hafte Grundlage für freiheitliches Zusammen- Zwanzigern enden. Es gilt vielmehr, ein konseku-
leben. schaffen und Freude an selbständig-schöp- tives Bildungssystem zu schaffen, das es dem ein-
ferischer Arbeit wecken. zelnen ermöglicht, jederzeit von neuem, sei es mit
Soweit, meine Damen und. Herren, das Zitat. fünfzehn oder mit fünfzig Jahren, wieder in den
Bildungsprozeß einzusteigen. Über Bildungswege
Ich glaube, niemand in diesem Hause wird be-
und Bildungschancen darf es keine endgültigen und
streiten, daß wir von der Verwirklichung solcher
irreversiblen Entscheidungen geben, schon gar nicht
Grundsätze noch sehr weit entfernt sind. In ihrer
solche, die im zehnten Lebensjahr Berufs- und
Verwirklichung aber liegt meiner Überzeugung nach
Lebenschancen zuteilen, um etwa mit Herrn
die bildungspolitische Herausforderung für die sieb-
Schelsky zu sprechen.
ziger Jahre, in der Verwirklichung der Chancen-
gleichheit, in der äußeren und inneren Demokra- Es kann nicht mehr ernsthaft bestritten werden,
tisierung aller Bildungseinrichtungen und in der daß unser traditionelles Bildungssystem mit seinen
Überwindung ihres beträchtlichen Modernitätsrück- vertikalen Gliederungen, seiner zu frühen Auslese
standes. Das sind die drei Gesichtspunkte, die den und seinen unzulänglichen Übergängen die erforder-
ganzen Bildungsbericht und seine Zielvorstellungen lich strukturelle Offenheit nicht besitzt und außer-
wie ein. roter Faden durchziehen. dem von seinen Bildungsinhalten und Bildungszielen
her gar nicht chancengerecht sein kann. Deshalb
Der Bericht selbst ist so aufgebaut, daß er in sei-
brauchen wir beides: äußere und innere Reformen.
nen einzelnen Abschnitten jeweils von einer Be-
standsaufnahme ausgeht. Er beschreibt dann offen- Was wir in unseren Schulen und Hochschulen ein-
schließlich der Weiterbildung erreichen müssen, ist
kundige Mängel und bereits vorhandene Ansätze
zur Reform. Es folgt, soweit das möglich war, eine außer den strukturellen Reformen eine umfassende
Curriculumreform. Nicht die Festlegung auf einen
Beschreibung der Tendenzen der internationalen
Entwicklung und. schließlich in enger Anlehnung an festgeschriebenen Wissensstoff, sondern die Fähig-
die Empfehlungen von Bildungsrat und Wissen- keit, sich neues Wissen anzueignen und neue
schaftsrat die konkreten Zielsetzungen der Bundes- Situationen zu erfassen und zu bewältigen, das
regierung für die Zukunft. Lernen und selbständige Denken zu lernen, sind die
Voraussetzungen für den gebildeten Menschen von
Ich freue mich, meine Damen und Herren, daß morgen. Schule und Bildung müssen zum lebens-
unsere beträchtlichen Bemühungen um eine klare langen Lernen motivieren, damit die in der tech-
Gliederung, einen übersichtlichen Aufbau und — was nisch geprägten Welt geforderte Mobilität nicht nur
-bei solchen Berichten immer das schwierigste ist zur Anpassung, sondern auch zur Bewältigung ver-
um eine verständliche Sprache nicht ganz vergeb- hilft. Fortschritt ohne Vernunft ist sinnlos, ja ge-
lich waren und manches öffentliche Lob erfahren fährlich; Wissen ohne Verantwortung ist, wie wir
durften. Wichtiger aber natürlich als alles Lob ist wissen, verhängnisvoll.
die Tatsache, daß der Bildungsbericht dadurch viele
Leser gefunden hat, nicht nur Fachleute und Politi- Die Bundesregierung hat im Bildungsbericht die
ker, sondern auch interessierte Bürger. Darauf vor notwendigen Schritte einer so begründeten äußeren
allem kommt es meines Erachtens an: auf die öffent- und inneren Schulreform konkret beschrieben. Sie
liche Einsicht in die Notwendigkeit der Bildungs- weiß, daß Reformen dieses Ausmaßes nicht von
reform und auf die Zustimmung und Unterstützung heute auf morgen verwirklicht werden können. Sie
bei ihrer Verwirklichung. besteht aber als Bundesregierung darauf, daß sie
nicht länger verzögert werden.
Vorsorglich möchte ich an dieser Stelle schon
darauf hinweisen, daß die Bezeichnung der Univer- Lassen Sie mich nun noch einmal in aller Kürze
sität Trier-Kaiserslautern als „Universität Kaisers- die Schwerpunkte umreißen. Die Bundesregierung
lautern-Trier" ein schlichter Fehler ist und nicht hält den systematischen Ausbau der Elementar-
etwa Ausdruck finsterer bildungspolitischer Intrigen. erziehung für vordringlich. Sie beruft sich dabei
Ich gebe zu, daß sich vielleicht noch der eine oder auf die Ergebnisse der Begabungsforschung, wonach
andere Fehler dieses gleichen Gewichts etwa in Begabung eben nicht oder sicher nicht nur Schicksal,
dem Bericht finden mag. Ich hoffe, daß uns solche sondern Chance ist. Anders gesagt, Begabung ist
Schnitzer nachgesehen werden können. nur zu einem geringen Teil ein Geschenk der Göt-
ter; Begabung ist vielmehr zum größeren Teil Lern-
(Abg. Dr. Schober: Wenn es sich nur darum fähigkeit und als solche das Produkt möglichst früh-
handelt, jederzeit!) zeitig einsetzender und gezielter individueller För-
--- Wunderbar! derung und Anregung. Vorschulerziehung soll
Der Bildungsbericht umfaßt alle Bildungsbereiche, keinesfalls eine Vorverlegung der Schulzeit be-
von der Vorschule bis zur Weiterbildung. Er schließt deuten.
4014 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Bundesminister Dr. Ing. Leussink


-

Die Reform der Grundschule baut auf der Elemen- -


dungseinrichtungen. Im Hinblick auf die beschränkte
tarerziehung auf. Deshalb sind hier ebenfalls neue Zeit vermag ich darauf natürlich nicht im einzelnen
Lehr- und Lernziele, Inhalte und Verfahren zu ent- einzugehen. Darüber wird sicher in der Debatte
wickeln. Die Grundschule bereitet auf die nächste noch einiges gesagt werden.
Stufe vor, ohne an ihrem Ende schon den weiteren Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bil-
Bildungs- und Berufsweg zu bestimmen, so wie das dungsbericht widersteht der Versuchung, Betrachtun-
heute eben ist. Die Bundesregierung hat sich in der gen über die Ursachen und die Gründe dafür anzu-
ersten Sekundarstufe grundsätzlich für das Kon- stellen, weswegen es zum heutigen Zustand des
zept der Gesamtschule entschieden, die als inte- Bildungswesens gekommen ist. Einer der Gründe,
grierte und differenzierte Schulstufe und in Form daß es so gekommen ist, liegt zweifellos darin, daß
der Ganztagsschule organisatorisch am konsequen- wir nach der totalen Niederlage zunächst den mate-
testen und pädagogisch am wirksamsten das Prin- riellen Aufbau zu leisten hatten. Wir alle wissen,
zip der Chancengleichheit zu verwirklichen ver- wie erfolgreich und wie schnell das dank des Fleißes
spricht. und der Leistungen aller arbeitenden Menschen in
Außerdem muß nach ihren Vorstellungen die unserem Lande gelungen ist. Kein Zweifel auch, daß
Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung über diesen materiellen Aufbau die Probleme inne-
überwunden werden. Für das fünfte und sechste rer Reformen beim Aufbau eines neuen Staates und
Schuljahr wird, entsprechend den Empfehlungen des einer neuen Gesellschaft zu kurz gekommen sind.
Bildungsrates, eine Orientierungsstufe vorgeschla- Ich meine, wir sollten heute nicht über die mög-
gen.
- Danach soll das Angebot an Differenzierungs lichen Ursachen und Gründe dieser Versäumnisse
und Wahlmöglichkeiten allmählich zunehmen. Jahr- streiten. Auch hat es ja nicht an rechtzeitigen War-
gangsklassen sollen schrittweise von einem diffe- nungen und ersten Ansätzen gefehlt. Ab heute,
renzierten Kurssystem abgelöst werden. Erster qua- meine Damen und Herren, muß gehandelt werden,
lifizierender Abschluß ist nach der Klasse zehn das und es sollte nicht neuerlich gegeneinander aufge-
Abitur I. In der Oberstufe der Gesamtschule soll rechnet werden.
nach weiteren zwei Jahren, also nach insgesamt (Beifall bei den Regierungsparteien.)
zwölf statt bisher dreizehn Jahren, der zweite Ab-
schluß möglich sein: das Abitur II. Daß auch für Es ist sozusagen High noon in der Bildungspolitik
diese zweite Sekundarstufe neue Bildungsangebote dieses Landes.
und Curricula entwickelt und eingeführt werden (Abg. Dr. Martin: Was war das?)
müssen, sei nur der Vollständigkeit halber noch
einmal erwähnt. — High noon.

Auf dem Sekundarbereich folgt der tertiäre Be- (Abg. Dr. Martin: Ich dachte, es sei nur
reich. Auch hier sollen bisher getrennte Hochschul- high! Heiterkeit.)
arten künftig in der integrierten Gesamthochschule — Das war der Ausdruck eines Homo simplex, Herr
mit einheitlichem Lehrkörper und einheitlicher Stu- Martin.
dentenschaft zusammengefaßt werden. Kernstück (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.)
der Hochschulreform ist die Lehrkörper- und Stu-
dienreform, die ohne Reform des Prüfungswesens Die umfassende Reform muß zwei prinzipielle
nicht vollständig wäre. Quantitatives Ziel im Laufe Ziele verfolgen: zum einen mehr Demokratie ermög-
der 80er Jahre ist die Erweiterung des Gesamthoch- lichen und zum anderen die Modernitätsrückstände
schulbereichs auf mehr als das Doppelte der gegen- überwinden und damit mehr Effektivität für den ein-
wärtigen Kapazität. zelnen und für die Gesellschaft erreichen. Ich möchte
betonen, daß ich unter einem leistungsfähigen Bil-
Als vierte Stufe im Bildungswesen endlich soll die
dungssystem nicht nur ökonomische, sondern auch
Weiterbildung ausgebaut werden. Hier muß zu-
und vor allem humane und soziale Leistungen ver-
nächst die Vielfalt der Aktivitäten der privaten und
stehe. Leistung und Demokratie müssen sich keines-
öffentlichen Träger koordiniert werden. Die An-
wegs widersprechen. Sie sind durchaus miteinander
gebote der Weiterbildung sollen auf möglichst vie-
zu vereinbaren, selbst wenn die demokratische
len Sachgebieten so ausgebaut werden, daß ein-
Gretchenfrage „How can we be equal and excellent
zelne Kursbausteine sinnvoll miteinander kombi-
too?" immer von neuem gestellt und sicher auch
niert werden und zu verwendbaren Zertifikaten
immer von neuem beantwortet werden muß. An die
führen können. Weiterbildungseinrichtungen sollen
Stelle von Privilegien im Bildungswesen muß die
auch die Möglichkeiten eröffnen, Abschlüsse frü-
Förderung aller treten, und aus der Förderung aller
herer Bildungsstufen nachzuholen, und damit die
ergibt sich die Auslese der Besten. Erfreulicherweise
bisherigen Einrichtungen des zweiten Bildungs-
ergibt ein Vergleich des im Juni dieses Jahres er
weges allmählich ablösen. Die Bundesregierung
schienenen Bildungsberichtes der Bundesregierung
wird sowohl die berufliche als auch die nichtberuf-
mit der am 21. Juni dieses Jahres von der Programm-
liche Weiterbildung verstärkt fördern und zu die-
kommission der CDU verabschiedeten zweiten Fas-
sem Ziele alsbald Vorschläge für die gesetzliche Ein-
sung des Entwurfs für das sogenannte Berliner Pro-
führung des Bildungsurlaubs vorlegen.
gramm eine, wie ich glaube, grundsätzliche Über-
Weitere Teile des Bildungsberichtes enthalten einstimmung in dieser Frage, die ich soeben ange-
konkrete Vorstellungen und Zielsetzungen zur Bil- geben habe, und in sehr vielen Einzelfragen, z. B.
dungsberatung, zur Lehrplanreform, zur Bildungs- die grundsätzliche Feststellung, daß Bildungspolitik
forschung, zum Bau und zur Ausstattung von Bil zum Kernstück einer zukunftsorientierten Politik
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4015
Bundesminister Dr.-Ing. Leussink
wird, die Chancengleichheit, vorschulische Erzie -
Ich will hier jedoch gar nicht vorhandene gegen-
hung 10. Schuljahr, Durchlässigkeit, Differenzierung sätzliche Auffassungen verbal verkleistern. Ich
und Individualisierung der Bildungsgänge, Entwick- meine, diese grundsätzlichen Unterschiede müssen
lung der beiden Abschlüsse Abitur I und II nach den ausdiskutiert werden, und das sollten wir uns für
Vorschlägen des Bildungsrates, Aufnahme der höhe- die nächsten Wochen und Monate vornehmen. Den-
ren Fachschulen in einen Gesamthochschulbereich, noch besteht, wie ich glaube, ein Consensus zwi-
wissenschaftliches Studium für alle Lehrer. Meine schen der Koalition und der Opposition, nämlich
Damen und Herren, die Liste ließe sich noch be- dahingehend, daß die Lage des Bildungswesens in
trächtlich verlängern. der Bundesrepublik eine Reform an Haupt und
Wenn ich es richtig sehe, scheinen sich grund- Gliedern erfordert.
sätzliche Divergenzen zwischen Regierung und Gesamthochschulen können und sollen nicht über
Koalition einerseits und Opposition andererseits im Nacht aus dem Boden gestampft werden. Sie sollen
wesentlichen auf den Mittel- und Oberstufenbereich in umfassenden Modellversuchen entwickelt und
des allgemeinbildenden Schulwesens zu beschrän- erprobt werden. Die Umstellung muß schrittweise,
ken. Hier werfen Sie, meine Damen und Herren von darf nicht überstürzt erfolgen. Noch auf Jahre wer-
der Opposition, uns ideologische Fixierung vor, eine den mehrere Schulsysteme nebeneinander bestehen
Ideologie des Dynamischen, des Futuristischen oder müssen.
auch manchmal der sogenannten sozialistischen Ein- Aber es besteht für uns jedenfalls kein Zweifel,
heitsschule. daß sich das Prinzip der Chancengleichheit nur in
(Abg. Dr. Schober: Nicht ganz ohne Recht! — der integrierten und differenzierten Gesamtschule
Abg. Raffert: Hört! Hört!) voll verwirklichen läßt.
Aber ich möchte Sie fragen, ob unser jetziges Schul- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
system nicht auch ideologisch geprägt ist — daß Wir bedürfen hierzu unter vielem anderen einer
einem das nicht bewußt wird, ist ja kein Beweis da- Lehrerausbildungsreform. Wir bedürfen des Stufen-
für, daß das nicht so ist —, lehrers,, wie er im Bildungsbericht — auch woanders
(Beifall bei den Regierungsparteien) selbstverständlich — beschrieben und erfreulicher-
weise von der Kultusministerkonferenz im Prinzip
z. B. von einer Begabungsideologie, von der Ideo- in weitgehender Übereinstimmung mit uns in den
logie des klassischen Bildungsideals, dessen Errei- letzten Tagen, wenn ich richtig unterrichtet worden
chung nur wenigen vorbehalten sein kann, oder von bin, beschlossen worden ist.
der Ideologie der volkstümlichen Bildung, wie sie
leider gelegentlich immer noch in Form barfüßiger Mit der Vorlage des Bildungsberichts und den
Hirtenknaben, frommer Bauern und bedürfnisloser Empfehlungen von Wissenschaftsrat und Bildungs-
Mütterchen durch unsere Lesebücher geistert. rat hat der verbale Ausbruch aus der Vergangenheit
(Zurufe.) und der konzeptionelle Aufbruch in die Zukunft be-
gonnen. Wir müssen in dieser Debatte aber auch
Auch der besonders gern erhobene Vorwurf, wir darüber sprechen, wie sich dieser Aufbruch vollzie-
wollten die sozialistische Einheitsschule kopieren, hen und wie er konkretisiert werden kann. Bildungs-
geht nicht nur völlg fehl, sondern läßt sich — von plan ist nach Art. 91 b des Grundgesetzes eine ge-
dem Adjektiv „sozialistisch" natürlich einmal ab- meinsame Aufgabe von Bund und Ländern. Diese
gesehen — eher auf das herkömmliche, doch im Bundesregierung versteht sich entgegen manchen
Grunde wenig differenzierte Schulsystem anwenden, Unkenrufen und manchen Unterstellungen nicht als
das eben alle Schüler, die in dem System drin sind, kompetenzverschlingender zentralistischer Moloch.
über ein und denselben Kamm schert. Übrigens (Abg. Dr. Lohmar: Sehr gut!)
— auch diese Anmerkung sei erlaubt — bringen
sozialistische Bildungssysteme nach übereinstim- Sie respektiert das Grundgesetz und damit die Zu-
mender Ansicht aller Fachleute — wer einmal in ständigkeitsbereiche der Länder. Aber sie sucht und
einem sozialistischen Land herumgereist ist, kann muß, glaube ich, suchen nach effektiven Formen der
das bestätigen — hervorragende Ergebnisse und kooperativen und der koordinierten Zusammenar
Spitzenbegabungen hervor, allerdings unter einem beit im Bereich der Bildungsplanung und der Bil-
unerbittlichen Leistungsdruck. dungsreform. Sie wird und muß aus gesamtstaatli-
cher Verantwortung alles daransetzen — es ist hier
(Abg. Dr. Martin: Drill!) früher an dieser Stelle schon von anderen Bundes-
Aber wenn Sie mir, meine sehr verehrten Damen ministern, u. a. seinerzeit von Innenminister Höcherl,
und Herren von der Opposition, erklären können ausgeführt worden, daß dies notwendig ist —, um
wie wir auch ohne Gesamtschule die auch von Ihnen die Erneuerung, den Ausbau und die möglichst ein-
geforderte Durchlässigkeit, die stärkere Differen- heitliche Entwicklung des Bildungswesens voranzu-
zierung in der Unterrichtsgestaltung für alle bis zur treiben. Hierzu wurde die Bund-Länder-Kommission
Auflösung des Klassenverbandes in Leistungs- und für Bildungsplanung geschaffen. Ihre Bewährungs-
Neigungsgruppen erreichen können, dann sind Sie probe steht ihr mit der Vorlage eines Bildungsge-
meiner Aufmerksamkeit sicher. Denn es geht uns samtplans bis etwa Mai nächsten Jahres und eines
nicht um Namen, nicht um das Etikett, sondern um Bildungsbudgets bevor.
die innere Struktur und um die Inhalte. Meine Damen und Herren, geben wir uns keinen
(Abg. Dr. Martin: Sehr gut!) Illusionen hin. Die Erwartungen und die Ungeduld
4016 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundesminister Dr.-Ing. Leussink
der Öffentlichkeit sind beträchtlich. Gerade die Dis- zuversichtlich — und diese Hoffnung ist nach der
kussion, die ich mit dem Bundeselternrat vor andert- bisherigen Art der Zusammenarbeit durchaus be-
halb Wochen in Hamburg führte, hat mir wiederum gründet -, daß diese ersten Grundsatzentscheidun-
deutlich gezeigt, daß ein gewisses Maß an Einheit- gen mit überzeugenden Mehrheiten getroffen wer-
lichkeit auch von der Elternschaft mit größtem Nach- den können.
druck gefordert wird. Dem auch dort, aber nicht nur Der Bildungsgesamtplan, der bis etwa Mai 1971
dort, wieder zu hörenden Ruf nach dem - Bundeskul- vorliege soll, wird den gemeinsamen Rahmen für
tusminister konnte ich jedenfalls einstweilen mit der die bildungspolitische Reform in der Bundesrepublik
Alternative begegnen, durch einen koordinierten und damit die Grundlage für die Entscheidungen der
Föderalismus ein Höchstmaß an Einheitlichkeit her- Parlamente und Regierungen abgeben. Er wird allen
zustellen und dann durch eine möglichst weit ge- Beteiligten sozusagen als Wegweiser dienen. Detail-
fächerte Differenzierung des Angebots der Gesamt- pläne müssen folgen, und die permanente Überprü-
schule den die- Schule verlassenden Schüler in die fung aller Pläne ist, wie auf anderen Gebieten, auch
Lage zu versetzen, in der neuen Schule wieder das hier selbstverständlich unerläßlich. Manche Bereiche
gleiche Angebot vorzufinden, mit dem er sich in sei- der Planung wird man im Detail erst dann endgültig
ner bisherigen Schule befaßt hat. Auf jeden Fall festlegen können, wenn man systematisch experi-
müssen wir, so glaube ich, etwas Wirksames tun, mentiert und Erfahrungen gesammelt hat. Manche
damit der makabre Slogan „Der Vater wird versetzt, — nicht alle — Erfahrungen anderer Länder wird
die Kinder bleiben sitzen", so bald und so weit wie man aber auch übernehmen können. Davor brauchen
möglich nicht mehr berechtigt ist. wir uns nicht zu scheuen. Ebensowenig wollen wir
Wir denken bei unseren Vorschlägen für eine unsere Erfahrungen und Ergebnisse etwa nur für
wirksamere Kooperation und Koordinierung in der uns behalten.
Bildungspolitik auch an die wachsenden Ansätze zur Aber so wahr das alles sein mag und so bereit-
europäischen Integration und an die bisher nicht willig viele solchen auf Kompromisse hindeutenden
ausreichend wahrgenommene internationale Zusam- Überlegungen sicher sehr gerne zustimmen werden,
menarbeit im Bereich der Bildungsplanung und Bil- nichts kann meines Erachtens darüber hinwegtäu-
dungsforschung. Die Bundesregierung spricht sich schen, daß wir an einer entscheidenden Wende
sehr nachdrücklich für einen koperativen Föderalis- — wenn Sie so wollen: vor einer historischen Stun-
mus aus. Sie ist sich bewußt, daß eine wirksame Bil- de — stehen. Wenn ich die bildungspolitische Ent-
dungsreform ohne die Bereitschaft und ohne die Mit- wicklung der letzten Jahrzehnte in der Bundesrepu-
wirkung der Länder nicht zustande kommen kann. blik, die Erfahrungen des Auslands und die grund-
Alle Verantwortlichen müssen einsehen, daß die Be- sätzliche Übereinstimmung der Parteien — jeden-
rufung auf den Kulturföderalismus am Ende kein falls der Fachleute der Parteien — richtig deute,
Entschuldigungsgrund für schul- und hochschulpoli- dann bedeutet der Weg nach vorn den Weg in Rich-
tisches Versagen sein wird. tung Gesamtschule und Gesamthochschule.
Was die Formel von der Bewährungsprobe des (Sehr wahr! bei der SPD.)
Föderalismus betrifft, so hat der hier unter uns wei- Meine Damen und Herren, gehen wir also diesen
lende Präsident der Kultusministerkonferenz, Herr Weg mutig und, soweit möglich, gemeinsam.
Minister Vogel, anläßlich der Konstituierung der
Kommission für die Bildungsplanung am 29. Juli (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
hierzu folgendes festgestellt — ich darf zitieren —: Raffert: Ohne Beifall der Opposition! —
Abg. Dr. Martin: Augen zu, Gas geben!)
Ich halte ebenfalls den 29. Juli für einen wichti-
gen, ja entscheidenden Tag in der Frage der Einige Worte noch zur Bildungsfinanzierung. Es
Koordinierung von Bildungs- und Wissen- freut mich, hier mitteilen zu können, daß die Re-
schaftspolitik zwischen Bund und Ländern. Der gierungschefs von Bund und Ländern bei ihrem letz-
Föderalismus in Deutschland wird zugrunde ge- ten Gespräch am 2. Oktober dieses Jahres Überein-
hen, wenn es uns nicht auch im Bereich der Bil- stimmung über die weitere methodische Behand-
dungspolitik gelingt, seine Lebensfähigkeit der lung der Finanzseite erzielt haben. Entgegen man-
Offentlichkeit unter Beweis zu stellen. chen Äußerungen, die verlangten oder auch noch
(Hört! Hört! bei der SPD.) verlangen, daß zunächst die Fragen der Finanzpla-
nung generell geklärt werden müssen und daß dies
Ich habe dieser richtigen Einsicht von mir aus nichts auf Grund der vorliegenden Empfehlungen von Bil-
hinzuzufügen. dungsrat und Wissenschaftsrat geschehen könne, hat
(Bravo! bei der CDU/CSU.) man sich erfreulicherweise darauf geeinigt, daß die
Die erste Bewährungsprobe für die Kooperation Fragen des Bildungsgesamtplanes und des Bildungs-
zwischen Bund und Ländern ist, wie gesagt, die A rt budgets gleichzeitig behandelt werden sollen, wie es
undWeis,raB-LändeAbkomür für die Arbeitsweise der Bildungsplanungskommis-
die Errichtung der Bund-Länder-Kommission für Bil- sion ohnehin von vornherein vorgesehen war.
dungsplanung in die Tat umgesetzt werden wird. Hinsichtlich des Inhalts des Bildungsbudgets kön-
Die Vorarbeiten in den Ausschüssen und Arbeits- nen wir es uns leider nicht so einfach machen und
gruppen der Kommission sind inzwischen mit eini- ohne weitere Diskussion von den vorgelegten Emp-
gem Schwung angelaufen. Die nächste Sitzung findet fehlungen der beiden Gremien — Bildungsrat und
am 20. Oktober statt; die ersten Grundsatzentschei- Wissenschaftsrat — ausgehen. Wir werden es uns
dungen stehen bis Ende dieses Jahres an. Ich hoffe nicht ersparen können, uns zu konkreteren finan-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4017
Bundesminister Dr.-Ing. Leussink
-
ziellen Aussagen zusammenzuraufen, wenn auch zu- Die Parteien der Regierungskoalition haben auf
nächst selbstverständlich nur in relativ globalen Li- ihren diesjährigen Parteitagen übereinstimmend be-
nien. Die inhaltlichen und finanziellen Überlegungen schlossen, den Anteil der öffentlichen Ausgaben für
müssen — ich glaube, das ist inzwischen auch allge- Bildung und Wissenschaft am Bruttosozialprodukt
mein anerkannt — miteinander Hand in Hand gehen. innerhalb der nächsten zehn Jahre auf etwa 8 % zu
So wenig das Bildungsbudget etwa die schlichte fi- steigern. Der bereits zitierte Programmentwurf der
nanzielle Quatifizierung des möglichst idealen Bil- CDU sieht bis 1975 die Verdoppelung der derzeiti-
dungsplanes sein kann, so wenig kann auch der gen Bildungsausgaben vor. Auch in dieser wichtigen
Finanzrahmen von vornherein festgelegt werden, Frage scheinen also zwischen Regierung und Oppo-
um dann erst den Bildungsgesamtplan wie in eine sition keine unüberwindlichen Gegensätze zu klaf-
Zwangsjacke in ihn hieinzupressen. Ich meine, daß fen. Kein Zweifel, daß das Tempo und die Prioritä-
wir bei den Planungen an mehr als einer Stelle auch tenfolge der Reformen — etwa anzufangen mit der
Alternativen anbieten müssen, sonst werden wir den Vorschulerziehung oder lieber das zehnte Schuljahr
Letztentscheidenden, nämlich den Parlamenten, kei- vorzuziehen; ich wäre für das erste — von der Lö-
ne brauchbare Entscheidungshilfe anbieten können. sung der Finanzfragen beeinflußt werden kann und
mit Sicherheit beeinflußt werden wird. Keinesfalls
(Zustimmung bei der SPD und bei Abgeord
jedoch dürfen sie meines Erachtens den Ansatz und
neten der CDU/CSU.)
die Richtung der Reformen beeinflussen. Bund und
Die letzten Entscheidungen aller beteiligten Parla- Länder werden Wege finden müssen, aus dem ge-
mente — des Bundestages und der Landtage — wer- samten Steueraufkommen die nötigen Mittel für
den selbstverständlich auch die folgenschwersten die Finanzierung der Bildungsreformen aufzubrin-
sein. Es geht darum, daß sich das Bruttosozialpro- gen und die Lasten untereinander sachgerecht zu
dukt in den nächsten zehn Jahren nach den gängi- verteilen. Ich kann und will insoweit aber der
gen Vorausschätzungen nominal knapp verdoppeln Kommission für Bildungsplanung, in der Bund und
wird, während die öffentlichen Ausgaben für Bil- Länder sitzen, nicht vorgreifen.
dung und Wissenschaft auf das Drei- bis Vierfache Meine Damen und Herren, ich habe die Notwen-
ansteigen müssen, wenn wir den Ausbau und die digkeit der langfristigen Planung besonders be-
notwendigen Reformen verwirklichen wollen. An- tont, weil sie uns im Sektor des Bildungswesens
ders ausgedrückt: der Anteil der öffentlichen Ausga- besonders und allzu lange gefehlt hat. Was bislang
ben am Bruttosozialprodukt, der zur Zeit knapp 5 % an Reformen da und dort vollzogen wurde, war be-
beträgt, muß auf etwa 8 % steigen, was einer Stei- stenfalls eine Teilreform, oft nicht mehr als ein
gerung der Bildungsausgaben von jetzt etwa 25 Mil- punktuelles Flickwerk und deswegen nicht beson-
liarden DM pro Jahr auf eine Größenordnung von ders wirksam. Dennoch darf uns der Entwurf einer
etwa 100 Milliarden DM pro Jahr Anfang der acht- in die Zukunft gerichteten Planung nicht davon ab-
ziger Jahre entspricht. Dies wird selbstverständlich halten, dort neue Stützen einzuziehen, wo das alte
nur unter den größten Anstrengungen und sicher Gebäùde nicht mehr tragfähig ist. Die Bundesregie-
auch nur mit einem gewissen Konsumverzicht zu be- rung hat deshalb im laufenden Jahr eine ganze
wältigen sein. Reihe von Initiativen ergriffen, die einerseits helfen
(Abg. Dr. Schober: Ein großes Wort!) sollen, akute Notstände im Bildungswesen zu besei-
tigen, andererseits aber deutlich machen, daß sie in
Ich bin aber überzeugt, daß die Mehrheit unseres das große Konzept, dessen Umrisse sich bereits ab
Volkes dazu bereit ist, wenn ihm ein überzeugender zeichnen, hineinpassen.
Plan vorgelegt wird.
Ich nenne nur ganz wenige Beispiele: das Schnell-
Bitte, verstehen Sie die Angaben über die ange- bauprogramm für die Hochschulen zur Milderung
strebten Prozentsätze am Bruttosozialprodukt nicht der Zulassungsbeschränkungen — dieses Programm
als Rekordsucht, im internationalen Vergleich etwa hat inzwischen ein Gesamtvolumen von über einer
an der Spitze liegen zu wollen. Das werden wir auch halben Milliarde DM erreicht —, dann die Entwick-
nach der Erfüllung der angedeuteten Vorstellungen lung und Vorbereitung eines Programms zur För-
noch nicht erreicht haben. Der Bezug auf das Brutto- derung von Graduierten, das für die personelle Ex-
sozialprodukt ist lediglich ein Indikator. Ein Land pansion des Gesamthochschulbereichs unumgäng-
von der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik kann lich ist, und die Bereitstellung von Mitteln für For-
es sich aber nicht leisten, in der Skala der Bildungs- schung und Entwicklung im Bildungswesen und für
aufgaben etwa unter den OECD-Ländern in der die wissenschaftliche Begleitung von Schulversu-
Schlußgruppe zu liegen, chen. Gleichzeitig sind Bund und Länder auf gutem
Wege, das Instrumentarium für die Reformplanung
(Beifall bei den Regierungsparteien und bei zu vervollkommnen, z. B. ein geeignetes Informa-
Abgeordneten der CDU/CSU) tionssystem einschließlich einer aussagefähigen Sta-
tistik einzurichten.
während Länder wie die Niederlande und Norwe-
gen mit etwa 8 % weit vor uns stehen. Wir können Meine Damen und Herren, ich hoffe, zu Beginn
es uns im wahrsten Sinne des Wortes nicht leisten; dieser wichtigen bildungspolitischen Debatte deut-
denn Bildungsrückstand führt, auf gar nicht so lange lich gemacht zu haben, daß die Bundesregierung mit
Sicht nach vorwärts geschaut, zweifellos und unab- allen Kräften bemüht ist, die überfällige Reform des
änderlich auch zu einer Minderung der Wirtschafts- Bildungswesens unverzüglich in Angriff zu nehmen.
kraft. Es wäre ein großer Schritt nach vorn und bedeutete
4018 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970
Bundesminister Dr. Leussink
angesichts der großen Nostände eine höchst wün- schaft oder von der Notwendigkeit zur Kooperation
-
schenswerte Beruhigung der Öffentlichkeit, wenn gesprochen wurde. Ich möchte am Anfang sagen,
die folgende Aussprache über den Bildungsbericht daß so etwas natürlich nur möglich ist, wenn man
der Bundesregierung ergäbe, daß alle Parteien des sich in der Sache einigt und wenn man nicht schlicht
Deutschen Bundestags ebenso wie die Regierungen und ergreifend sagt: Macht mit uns die Gesamt-
der Länder und des Bundes bereit sind, die Priorität schule, und dann ist die Einigkeit da! So einfach
der Bildungsreform und die dargelegten Grundsätze geht das natürlich weder im Leben noch in der
anzuerkennen und aus dieser Anerkennung die not- Politik.
wendigen harten, konkreten Folgerungen zu ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Was sich bei der Konstitutierung der Bund-Länder- Ich möchte dabei sagen, ich könnte mir denken, daß
Kommission bereits manifestiert hat, möge sich die Zusammenarbeit mit dem Minister vielleicht
heute erneut bestätigen, nämlich daß unser födera- stufenweise erfolgen könnte, indem er erst einmal
listisch verfaßtes Gemeinwesen in der Lage ist, sein unterkühltes Verhältnis zum Ausschuß bessert
diese große Aufgabe gemeinsam zu lösen. Beides und dort Kommunikation herstellt. Es war ja ein
wird gelingen, wenn die Verantwortlichen jenen Stück seiner Rede, zu sagen, daß eine der totalen
drei Instanzen folgen, von denen der damalige Bun- Veränderungen die neuen Kommunikations- und
despräsident Theodor Heuss schon 1953 bei der Ein- Informationsmöglichkeiten sind. Ich hoffe sehr, daß
setzung des Deutschen Ausschusses für das Erzie- wir davon etwas haben werden.
hungswesen sprach, nämlich von Einsicht, Gewis-
sen und Phantasie. Meine Damen und Herren, der Minister hat ge-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — sagt, mit der Vorlage des Berichtes und mit den
Abg. Dr. Schober: Das war zu allgemein!) Empfehlungen des Wissenschaftsrates und des Bil-
dungsrates habe der verbale Ausbruch aus der
Vergangenheit und der konzeptionelle Aufbruch in
Vizepräsident Dr. Schmid: Meine Damen und die Zukunft begonnen.
Herren, wenn ich recht unterrichtet bin, haben die
drei Fraktionen die Absicht, zunächst einmal einige (Abg. Raffert: So ist es!)
Redner vorzuschicken, die das Gesamtproblem be- Ein großes Wort! Ich hätte mir das für eine Rede
sprechen. Nach den ersten drei Fraktionsrednern auf dem Hohen Meißner aufgespart.
will Herr Minister Dr. Hahn, Baden-Württemberg,
das Wort ergreifen. Dann steht alles offen und das (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr.
ist sehr viel. Trotzdem schlage ich vor, daß wir jetzt Schober: Das ist aber schon lange her!)
eine Pause bis 15 Uhr eintreten lassen. Meine Damen und Herren, so ist es zunächst ein-
Ich vertage die Sitzung bis 15 Uhr. fach gar nicht. Die Empfehlungen des Bildungsrates
und des Wissenschaftsrates und der Bericht der
(Unterbrechung von 12.58 Uhr bis 15.00 Uhr.) Bundesregierung sind zwar ein Einschnitt in der
Debatte, aber nicht mehr. Sie sind ein Einschnitt
Vizepräsident Frau Funcke: Wir setzen die auf dem Wege zu einem Bildungssystem, das den
unterbrochene Sitzung fort, und zwar in der Bera- menschlichen, ökonomischen und politischen Erfor-
tung des Tagesordnungspunktes 28. dernissen des Industriezeitalters Genüge tun soll.
Aber ich glaube, wir müssen uns von der Vorstel-
Das Wort hat Herr Dr. Martin von der CDU/CSU-
lung lösen, als ob die Reform von heute ab beginne,
Fraktion. Für ihn sind 45 Minuten Redezeit bean-
als ob sie mit dem Namen dieser Regierung und
tragt.
mit dem Namen dieses Ministers und dieser Rede
verbunden sei.
Dr. Martin (CDU/CSU) : Frau Präsident! Meine (Beifall bei der CDU/CSU.)
Damen und Herren! Wenn ich mir das Plenum an-
sehe, was an sich ja „die Fülle" heißt, komme ich Bei der Bildungsreform haben wir es genau wie in
auf die Idee, daß der Prediger in der Wüste in der gesellschaftlichen Entwicklung mit einem dyna-
einer unvergleichlich besseren Situation war als ein mischen Prozeß zu tun, bei dem man weder Anfang
kulturpolitischer Sprecher in diesem Bundestag, noch Ende zeitlich fixieren kann. Es ist ja niemand
(Abg. Dr. Schober: Das ist immer so ge entgangen, daß sich in den letzten 20 Jahren unser
wesen!) Bildungssystem einschneidend verändert und fort-
entwickelt hat. Ich will nur einige Dinge aufzählen:
denn die Schrift berichtet, daß aus Jerusalem Scha- die gesteigerten Zahlen an Schülern und Studenten,
ren herabkamen an den Jordan, um ihn zu hören, die steigende Zahl an Übergängen in die höheren
während unsere Scharen ins Restaurant gehen und Schulen, die Einführung neuer didaktischer Metho-
sich zweifellos nicht von Heuschrecken und wildem den, die Vergrößerung und Veränderung der Durch-
Honig ernähren. lässigkeit horizontal und vertikal, der Einstrom der
Meine Damen und Herren, Herr Leussink hat in Ergebnisse der Tiefenpsychologie und der Lernpsy-
seiner Eingangsrede den Bericht der Bundesregie- chologie mit dem Ergebnis, daß wir heute neue Vor-
rung erneut dargestellt, ohne für mein Gefühl neue stellungen über die Bildsamkeit im Kindesalter ha-
Dinge zu sagen, was auch nicht immer nötig ist. Die ben und auf dem Wege sind, die Elementarbildung
Wiederholung ist ja auch ein Wert in sich, und man neu zu ordnen. Das Bildungswesen von 1970 ist an-
kann das durchaus üben. Ein neuer Ton war inso- ders als das von 1960 und das von 1950. Das trifft
fern drin, als an mehreren Stellen von der Bereit auch für die Universitäten zu, die in einem Reform-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4019

Dr. Martin
prozeß stehen, vom Blauen Gutachten bis zu den -
auf allen Stufen des Bildungswesens unbedingt sein
letzten Verlautbarungen des Wissenschaftsrats und müssen. Ich würde dazu zählen: die Fähigkeit zu
der Rektorenkonferenz. logischem, analytischem, kritischem und strukturie-
Meine Damen und Herren, man muß in einer sol- rendem Denken
chen Debatte aber sehen, daß sich die Entwicklung (Abg. Moersch: Vor allen Dingen bei
des Bildungswesens mit der der Gesellschaft nicht Politikern!)
unbedingt deckt. Wir sehen es etwa an der Krise der
Autorität, die die eigentlichen Probleme in Universi- — vor allen Dingen bei solchen, die Verantwortung
täten und hohen Schulen und auch — wenn man tragen und klein an Zahl sind —,
den Ausdruck noch gebrauchen darf — niederen (Beifall bei der CDU/CSU — Heiterkeit)
Schulen ausmachen: Mitbestimmung, mehr Trans-
parenz, Demokratisierung, Emanzipation. Das sind die Fähigkeit zu dispositivem Denken
die Dinge, die man im Ohr haben muß, wenn man (Abg. Moersch: Quantität war sonst nicht
über Bildung berichten will. Es ist ganz offensicht- Ihre These!)
lich eine neu zu gewinnende Erkenntnis, daß ohne
Autorität Erziehung und Bildung nicht möglich sind, — Herr Moersch, hören Sie sich den Katalog an, es
wenn man nicht auf der einen Seite in das Autori- sind zehn Punkte, und nehmen Sie jetzt einmal den
täre oder auf der anderen Seite in das Anarchische Bleistift —, die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen, sich
umkippen will. zu entscheiden; die Fähigkeit zur Zusammenarbeit;
(Beifall bei der CDU/CSU.) die Fähigkeit zur Ausdauer; die Fähigkeit zur Kon-
zentration und Genauigkeit; die Leistungsfreude aus
Ehe ich zu den Einzelheiten komme, möchte ich dem Bewußtsein, Aufgaben lösen zu können; die
zweitens sagen: Neben der Krise der Autorität — Bereitschaft, die Verschiedenheit und Freiheit ande-
da befinde ich mich in Übereinstimmung mit dem rer zu respektieren; die Fähigkeit, Konflikte rational
Herrn Minister — sind wir, glaube ich, zum ersten- auszutragen; notfalls auch im Bundestag
mal in unserer Geschichte in der Situation, daß wir
sagen müssen, daß der naturwissenschaftlichen und (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Raffert:
technischen Innovation keine entsprechende Vertie- Selbsterkenntnis, Herr Martin!)
fung der Bildung gegenübersteht. Die geistige und
— auf allen Seiten, wie ich hoffe, Herr Raffert —,
seelische Isolation vieler Menschen hat hier ihren
die Bereitschaft zu persönlichem Einsatz aus dem Be-
Ursprung. Sie werden sich daran erinnern, daß Al-
wußtsein gesellschaftlich-politischer Verantwortung
bert Schweitzer der erste gewesen ist, der — schon
und — das ist, glaube ich, das Wichtigste — die Fä-
1917 — gesagt hat: Die technische Entwicklung geht
higkeit, sich vor den Gefahren der Entfremdung und
zwangsläufig voran, die menschliche hinkt nach und
Manipulation innerlich zu bewahren; die Fähigkeit
wird zu Verzerrungen in der Gesellschaft und zu
zu fruchtbarer Muße und die Fähigkeit, mit seinem
revolutionären Zuständen führen. Die Älteren unter
Körper und seiner Seele so umzugehen, daß Störun-
uns wissen, daß ein Mann wie Alfred Weber schon
1932 gesagt hat, wir liefen unter Umständen in eine
gen die Ausnahmen sind.
Periode der Rebarbarisierung hinein. Meine Damen und Herren, wer bei dem, was hier
Deshalb ist am Anfang eines solchen Berichts zu in Analogie zu Edding formuliert ist, genau zuhört,
sagen, daß Bildung und Ausbildung heute etwas an- wird feststellen, daß es in der Bildung und Erzie-
deres bedeuten und mehr bedeuten müssen. Bildung hung unaufgebbare Positionen und Zielsetzungen
bedeutet, daß man in den Stand gesetzt wird, eine gibt. Es ist nicht ganz leicht zu erkennen, daß das,
Funktion in der Gesellschaft zu übernehmen. Dies was heute morgen als „klassische Bildung" abqua-
muß aber auch bedeuten, so viel Bildung zu vermit- lifiziert worden ist, hier wiederkehrt, etwa in der
teln, daß die Gesamtperson in all ihren Bezügen, in Goetheschen Formulierung, Bildung sei, ganz er
ihren immanenten und ihren transzendenten, geför- selbst zu sein. Die ganze Philosophie der Persönlich-
dert wird. keit aus dem 19. Jahrhundert ist keineswegs so
überholt, wie das hier mit leichter Hand dargestellt
Von hier aus gesehen muß man feststellen, daß wurde.
der Bildungsbericht der Bundesregierung die Aus- (Beifall bei der CDU/CSU.)
bildung einseitig in den Vordergrund stellt. Ich
würde sagen, der Ausdruck „Ausbildungsbericht" Solche Bildungsziele müssen in einem Bericht for-
würde diese Sache besser treffen als der Name „Bil- muliert werden. Wir sprechen heute auf Bundes-
dungsbericht". ebene zum erstenmal über diese Frage, und wir
(Beifall bei der CDU/CSU.) müssen uns davor hüten, die allgemeinen Bildungs-
ziele zugunsten der fachlichen Kenntnisse zu ver-
Es ist auffällig, daß die Leute in der Bildungspolitik nachlässigen. Ein Ergebnis moderner pädagogischer
und der Bildungstheorie, die mit quantitativen Über- Forschung ist auch, daß für den Lebenserfolg die
legungen angefangen haben wie beispielsweise Ed persönlichen Qualitäten ausschlaggebend sind und
ding, heute das ganze Gewicht ihrer Meinungsbil- bleiben. Man kann in einem Bildungsbericht nicht
dung und ihrer Forschung auf die Bildungsinhalte so tun, als ob es nur um Abgänge, Berechtigungen
zu verlegen beginnen. und Attestate geht. Es geht bei der Reform von Schu-
Ich möchte gern für meine Fraktion das unterstrei- len und Hochschulen um weit mehr. In einem Bil-
chen und einmal — was schwierig ist — zu formu- dungsbericht des Jahres 1970 hätten die Bildungs-
lieren versuchen, was heute Bildungsinhalt und -ziel ziele detailliert formuliert werden müssen.
4020 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Martin
Der Minister hat als Bildungsziel genannt, Bildung berichts die Schaffung eines demokratischen, - lei-
solle es dem Menschen ermöglichen, sein Leben stungsfähigen Bildungssystems sowie die Beseiti-
selbst zu gestalten. Man hätte dann gern auch etwas gung der sozial bedingten Chancenungleichheit.
darüber gehört, wie das der Mann am Fließband Niemand wird solchen Sätzen widersprechen kön-
macht, wie das der Mann macht, der in einer Riesen- nen, weil sie die Selbstverständlichkeiten eines
bürokratie eingespannt ist, und wie das ein junger demokratischen Rechtsstaates sind. Aber man muß
Mensch macht, der von den Zwängen der modernen gleichzeitig feststellen, daß über diese allgemeinen
Industriegesellschaft erschreckt und ängstlich wird. Zielsetzungen hinaus bestimmt werden muß, was
Man hätte gern gehört, wie sich das, was hier ge- das denn eigentlich ist. Was wird unter „Demokra-
sagt wird und was aus dem Vorrat der idealistischen tisierung" denn verstanden? Ist es nicht die Pflicht
Bildung formuliert ist, in der modernen Industriege- der Bundesregierung, in einem Augenblick, wo un-
sellschaft praktisch darstellt. Wir werden das heute ter der Marke „Demokratisierung" an den Univer-
freilich nicht ausdiskutieren können. sitäten und Schulen diskutiert wird und wo unter
(Abg. Dr. Lohmar: Aber erzählen Sie es diesem Begriff ganz andere Ziele verfolgt werden
doch einmal! — Abg. Raffert: Dr. Martins als die Stabilisierung der freiheitlich-rechtlichen
Hausapotheke! — Abg. Moersch: Herr Mar- Ordnung dieses Bundesstaates, dazu etwas Konkre-
tin, gehen Sie mal in die Frankfurter teres zu sagen?
Schule! — Abg. Dr. Schober: Das ist das In vielen Fällen werden die „zu demokratisieren-
entscheidende Problem, Herr Lohmar!) den Strukturen", wie man sagt, nicht mehr primär
— Meine Damen und Herren, ich muß mich doch unter dem Gesichtspunkt ihrer gesellschaftlichen
wundern, daß eine Partei, die sich „sozialdemokra- Aufgaben, sondern unter dem Aspekt ihrer Herr-
tisch" nennt, kein Verständnis für die inneren Nöte schafts- oder Machtverhältnisse betrachtet. Man
des modernen Menschen in der Industriegesell spricht von der Machtstruktur eines Gymnasiums
-schaftundier chtzö. oder einer Universität und übersieht dabei, daß
diese Macht meist eine klar begrenzte, auf eine
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der
bestimmte Aufgabe bezogene Amtszuständigkeit
SPD: Das hat aber gesessen, mein Lieber!
und Amtsverantwortung ist. Die Leute, die demo-
— Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Wehner:
Hellseher! — Abg. Dr. Lohmar: Herr Mar kratisieren wollen, streben im Grunde genommen
tin, im Protokoll steht: Heiterkeit bei der eine ständestaatliche Zuteilung der Einflußchancen
SPD.) nach paritätischen oder proporzmäßigen Kriterien
an.
— Ich würde nicht sagen: Heiterkeit, sondern: Läp- (Beifall bei der CDU/CSU. — Heiterkeit
pischkeit. bei der SPD. — Zurufe von der SPD:
(Beifall bei der CDU/CSU.) Sagen Sie das doch noch einmal! — Wo
Zweitens ist zu dem Bericht im ganzen zu sagen, haben Sie das gelesen?)
daß er durchgängig operiert, ohne daß er im einzel- Ein bekanntes Beispiel dafür ist, die Diskussion
nen wissenschaftlich begründet wird. Man kann aus über die Drittelparität, wobei die radikalste For-
dem Bericht entnehmen, daß Einsichten in die Män- derung, die nach Aufhebung nicht nur von Herr-
gel des gegenwärtigen Bildungssystems und Einsich- schaft, sondern auch von sachlicher Autorität ist.
ten in das, was zu tun ist, .nur auf Grund exakter
Bildungsforschung und darauf folgender Analysen zu (Zuruf von der SPD: Wo haben Sie das
gewinnen sind. Man liest gleichzeitig, daß es das her?)
alles noch gar nicht gibt, daß das erst noch entwik- — Von mir habe ich das, mit Verlaub zu sagen.
kelt werden muß, daß die Bildungsforschung — man
Wohin diese Formen der Demokratisierung füh-
dürfe sich darüber nicht täuschen lassen — erst am
ren, zeigen deutlich die Zustände an den Berliner
Anfang steht. Die Bundesregierung hat trotzdem,
Universitäten und zum Teil auch an den hessischen
trotz dieses Tatbestandes, den Mut, grundlegende
Hochschulen. Eine unzumutbare Einschränkung der
Entscheidungen ohne wissenschaftliche Absicherung
Freiheit von Forschung und Lehre hat zu einer Ab-
zu vollziehen.
wanderung von Hochschullehrern und zur Resig-
Was wir brauchen, meine Damen und Herren, sind nation bei qualifiziertem wissenschaftlichen Nach-
laufende Reformen auf der Grundlage gesicherter wuchs geführt. Ich glaube, es ist Zeit, daß wir uns
wissenschaftlicher Erkenntnisse. dieses gefährlichen Irrtums bewußt werden. Die
(Beifall bei der CDU/CSU.) Demokratie wird im allgemeinen für das bequemste
Ordnungssystem gehalten.
Die Offenheit des Bildungssystems in die Zukunft
(Widerspruch bei den Regierungsparteien.)
hinein ist unsere Chance. Unsere Chance liegt nicht
im Dogmatismus, sondern in der Modernität, die
man nur dann gewinnen kann, wenn man den wis- Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
senschaftlichen Erkenntnissen sauber folgt und sie statten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord-
appliziert. neten Dr. Wichert?
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Dr. Martin (CDU/CSU): Bitte!
Zu den allgemeinen Grundsätzen und Zielvor-
stellungen für die Reform des Bildungswesens ge- Dr. Wichert (SPD) : Herr Kollege Martin, ist
hören nach Ansicht der Verfasser des Bildungs- Ihnen bekannt, daß der Rektor der Frankfurter Uni-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4021
Dr. Wichert
versität in einer Rundfunk-Diskussion in der ver- -
schule hat nicht mehr geleistet als das herkömmliche
gangenen Woche erklärt hat, daß Gerüchte, die von System der Bildung, eher weniger; es gibt nur ein
nennenswerten Abwanderungen hessischer Wissen- einziges Fach, nämlich Englisch, in dem diese Schule
schaftler wissen wollen, nicht zu belegen sind? mehr geleistet hat. Es ist ebenso deutlich, meine
Damen und Herren, daß die Gefahr der Niveau-
Dr. Martin (CDU/CSU) : Wir werden Ihnen im senkung durch diese Schule keineswegs ausge-
Laufe der Diskussion die Zahlen aus Berlin und schlossen werden kann.
Hessen genau nennen. Herr Minister Leussink hat heute davon gespro-
chen, daß die sozialistischen Systeme so effizient
Ich fahre fort. Die Freiheit, die dieses System
bietet, wird heute oft mit Recht mit einem beliebi- seien und daß sie Spitzenleistungen hervorbräch-
ten. Man muß aber natürlich gleichzeitig sehen, daß
gen, oft völlig undisziplinierten Verhalten gleich-
die Sowjetunion auf Profilschulen, d. h. auf wirk-
gesetzt, wobei man vergißt, daß der individuellen
liche, auslesende Leistungsschulen im Interesse des
Freiheit auch von den Individuen selbst durch Be-
Ganzen zugeht. Es ist wohl auch niemandem ver-
quemlichkeit und durch Freiheitsmißbräuche Gefahr
borgen geblieben, daß die CSSR auf dem Rückweg
droht. Es wird vielfach nicht begriffen, daß gerade
zum gegliederten Schulsystem ist, weil die Ergeb-
in einer Demokratie individuelle Freiheit aus-
nisse der Gesamtschule — das ist hier nicht der Ver-
reichende Einsichten in das gesellschaftlich Not-
gleich — negativ gewesen sind.
wendige erfordert und daß das Bemühen um solche
Einsichten mehr Anstrengungen von allen verlangt (Zuruf von der SPD: Gewesen ist, Herr Dr.
als Bequemlichkeit gestattet. Martin; sie sind wieder auf dem Weg zur
Gesamtschule!)
Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen:
Man soll und muß in Schulen und Hochschulen die — Ja, das hängt aber weniger mit pädagogischen
Formen des menschlichen Miteinander ändern, sie Einsichten als mit der Restalinisierung zusammen.
in ihren Strukturen freier gestalten, weniger (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Matt
hierarchisch bestimmen. Für Anhörung, Mitwirkung, höfer: Sie sind für die sowjetische Rich
Mitbestimmung sollte so weit wie möglich Raum tung?)
gegeben werden. Nur muß man wissen, was Demo-
kratie und was Demokratismus ist, was demokra- — Von allen, die mich hier hören, sind Sie der ein-
tische Ordnung ist, wo die Freiheit von Forschung zige, der mich mißverstanden hat.
und Lehre und die Effizienz des Unterrichts bedroht Wenn man den ganzen Erfahrungsschatz mit inte-
sind. Diese Grenze muß man genau sehen. grierten Gesamtschulen zusammenstellt, so kann
Meine Damen und Herren! Wir haben heute wie- man nicht sagen, daß das wesentliche Ziel, nämlich
der gehört, daß die Bundesregierung das A und O die soziale Integrierung, erreicht worden ist. Es zei-
aller ihrer Bemühungen in der Einführung der in- gen sich im Gegenteil neue Niveauklassifizierungen,
tegrierten Gesamtschule sieht. Das ist der Punkt, die die sozialen Konturen noch härter zeichnen, weil
von dem aus man denkt, man könne das mannig- sie nicht mehr rückgängig zu machen sind. Nach
fache Ach und Weh unserer Kulturpolitik kurieren. aller Erfahrung kann die Gesamtschule — ich zitiere
Dabei muß man aber wissen, daß sich hier der Bil- wieder Klafki — auch das Faktum der sozialschich-
dungsbericht der Bundesregierung im deutlichen tenbedingten Ungleichheit der Bildungschancen nicht
Widerspruch zu den Empfehlungen des Bildungs- direkt aufheben.
rates befindet. Der Bildungsrat hat aufgrund seiner (Abg. Dr. Meinecke [Hamburg]: Nicht allein!)
Einsichten in die wissenschaftlichen Voraussetzun-
— Nicht allein, genau, Herr Meinecke, ich diskutiere
gen von Schulorganisation und Bildungsziel diese
jetzt die Problematik der Gesamtschule auf dem
Frage bewußt offen gehalten. Er hat davon ge-
Hintergrund eines Berichtes, der ohne Rücksicht auf
sprochen, daß man Schulversuche machen müsse, hat
Erfahrung und Wissenschaft hier eine dogmatische
aber nicht die Einführung der integrierten Gesamt-
Entscheidung gefällt hat.
schule empfohlen. Mit Recht, meine Damen und
Herren, denn ,die Diskussion darüber ist noch nicht (Beifall bei der CDU/CSU.)
zu Ende. Ich möchte noch hinzufügen, daß wir hier auch die
Ich darf daran erinnern, daß auch qualifizierte Gefahr der Verschärfung der regionalen Chancen-
Pädagogen, die der SPD nahestehen oder ihr an- ungleichheit sehen müssen. Zu einer voll funktio-
gehören — wie etwa Professor Klafki in Marburg — nierenden integrierten Gesamthochschule gehört ein
bis heute die Meinung vertreten, daß die bisherigen sehr großer Einzugsbereich. Wir werden bei der
Ergebnisse äußerste Vorsicht gegenüber utopischen Einführung in den Großstädten erleben, daß sich
Hoffnungen als geraten erscheinen lassen. das Gefälle zum Land zum Nachteil des Landes ver-
schärfen wird.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Die Erfahrungen an der Ernst-Reuter-Schule in
Frankfurt sind nicht eben ermutigend. Das gleiche Ich sage ein letztes Argument. Aus derselben Ecke
gilt von dem Göteborg-Bericht, in dem wirklich von Pädagogen kommt folgendes Argument. Die
Material vorliegt und ,der von Leuten geschrieben Erprobung von Gesamtschulen braucht zehn bis fünf-
worden ist, die Anhänger und Befürworter der Ge- zehn Jahre. Meine Damen und Herren, wir können
samtschule sind. Sie ziehen das Fazit von einem aber nicht zehn bis fünfzehn Jahre warten, bis das
Dutzend Jahren und sagen: Die integrierte Gesamt Ergebnis vorliegt, sondern wir müssen jetzt unser
4022 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Martin
Schulsystem befähigen, seinen jetzigen Aufgaben in — Ja sicher, das ist so. Ich will Ihnen dazu - eine
der Gesellschaft gerecht zu werden. Seitenbemerkung machen. Das ist ein Schritt Ver-
gangenheitsbewältigung. Im „Dritten Reich" hat man
(Beifall bei der CDU/CSU.)
nur von Genetik gesprochen. Jetzt spricht man
Für den Fall, daß Kooperationsangebote im Raum überhaupt nicht mehr davon, sondern spricht von
stehen sollten, möchte ich folgendes sagen: Wir der grenzenlosen Bildbarkeit des Menschen. Aber
sind bereit, die Fortentwicklung des Bildungswesens diese grenzenlose Bildbarkeit gibt es so nicht. Was
ohne Vorurteile auf dem Boden von Wissenschaft man tun kann und tun muß, ist, das, was an Intelli-
und Erfahrung mit Ihnen zu diskutieren. Dies wird genz vorhanden ist, maximal zu fördern.
um so eher möglich sein, je mehr wir in der Lage (Beifall bei der CDU/CSU.)
sind, uns von unseren Vorurteilen zu trennen.
Hier ergibt sich der erste Schwerpunkt jeder Bil-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Raffert: dungsreform, und zum Glück stimmen wir hier über-
Bravo!) ein. Wir wissen, daß das Optimum an Bildbarkeit
Der Bericht geht dann zu den Abschlüssen über in den ersten Jahren liegt. Deshalb ist es unsere
und spricht davon, daß 50 °/o das Abitur II ablegen dauernde Forderung, die vorschulische Bildung ein-
und von diesen wiederum die Hälfte etwa 1 Mil- zuführen und den ganzen Bereich der Kindergärten
lion — ein Studium beginnen sollen. Herr Minister neu zu ordnen.
Leussink hat heute in seiner Rede — ganz mit Recht,
wie ich glaube — einen Einschub gemacht; denn Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie
diese Sache funktioniert nur unter der Vorausset- eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
zung, daß die Begabung ungeheuer plastisch und
eigentlich genetisch nicht begrenzt ist.
Dr. Martin (CDU/CSU) : Bitte schön!
Der Bericht geht eigentlich von einer fast voll-
ständigen Bildbarkeit und Bildsamkeit des Men-
schen aus; denn sonst ist ja so etwas gar nicht mög- Dr. Sperling (SPD) : Die Frage geht noch einmal
lich. Hier muß einfach einmal gesagt werden, daß auf die genetisch umgrenzte Intelligenz zurück. Gibt
uns die Erfahrungen der amerikanischen Colleges es nach Ihrer Kenntnis ein Verfahren, diese Intel-
zeigen, daß bei solcher Zielsetzung ein Drop-out, ligenz wissenschaftlich sauber festzustellen, bevor
also eine Zahl von Abbrechern, von 24 % entsteht. die Bildungsbemühungen an der entsprechenden
Ich glaube, es ist eine Frage von hoher sozialer Person abgeschlossen sind, d. h. wie wollen Sie je-
Dringlichkeit, sich Gedanken darüber zu machen, mals erfahren, ob Grenzen erreicht sind, wenn Sie
was aus den Menschen wird, die das nicht erreichen. nicht Bildungsprozesse weiterlaufen lassen?
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Dr. Martin (CDU/CSU) : Ich glaube, Sie sehen
Man kann sich nicht einfach darüber ausschweigen; das nicht richtig, Herr Sperling. Ich will gleich dar-
denn die Anstrengung der Erziehung und des Ler- auf antworten.
nens bedarf einer sozialen Antwort. (Zuruf des Abg. Schoettle.)
Herr Minister Leussink, Sie hätten auch schon — Herr Schoettle, von Ihnen hätte ich diesen Zwi-
dem Bericht des Bildungsrates entnehmen können, schenruf nicht erwartet. Wenn Sie keinen Wert auf
daß die wissenschaftliche Situation auf diesem Ge- die Beantwortung der Frage legen, dann können
biet eine andere ist. Dort heißt es: Wir das ja auch lassen.
Die wissenschaftlichen Grundlagen, die eine Herr Sperling, man kann im übrigen fast in jedem
Neueinschätzung der Lernfähigkeit der Kinder Lebensjahr die Intelligenz genau bestimmen.
nahelegen, sind nicht so umwälzend, daß
(Abg. Dr. Sperling: Welche Intelligenz?)
in kurzer Zeit neue intellektuelle oder soziale
Leistungen von Kindern erwartet werden dürf- Und was das Entscheidende ist: man kann vor allem
ten. bestimmen, ob die Intelligenz in ihrer Entfaltung
durch Milieu-Einflüsse gehemmt ist, und man kann
Diese Tatsache wird völlig ignoriert. Es ist ein ganz Mittel und Wege finden, die Intelligenz zu ihrer
klares Ziel jeder Bildungspolitik, jeder Begabung eigenen Entwicklung frei zu machen. Das ist das
zu ihrer optimalen Entfaltung zu helfen. Wir sind Entscheidende. Die Verfahren dazu können heute
der Meinung, daß jedermann so lange ausgebildet als sicher gelten. Das weiß man ganz genau. Der
werden muß, bis seine Möglichkeiten erschöpft sind. Bildungsprozeß, der in Gang zu setzen ist, muß auf
Aber diese Ausbildung gelingt um so mehr, wenn dieser Diagnose aufbauen, um dem Kinde den Weg
man sie ohne Illusionen betreibt und nicht Kinder in zu zeigen, den es mit Erfolg und ohne Frustration
Frustrationen hineintreibt, indem man sie überfor- gehen kann.
dert und sie auf Ziele zutreibt, die sie vielleicht
nicht erreichen können. Soweit mein Auge reicht,
ist es leider gerade die Intelligenz, die genetisch am Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
schärfsten umgrenzt ist. statten Sie eine zweite Zwischenfrage des Herrn
Abgeordneten Sperling?
(Abg. Matthöfer: Eine „genetisch um
grenzte" Intelligenz! — Abg. Dr. Schober:
Das ist doch ganz klar!) Dr. Martin (CDU/CSU) : Ja, bitte!
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4023

Dr. Sperling (SPD) : Herr Kollege Martin, es ist schulischen Erziehung ihre Wurzel. Das ist auch -
Ihr Gebiet, glaube ich, in dem ein Mann namens bildungspolitisch bedeutsam, weil das eine Sache
Guilford geforscht hat, der ein Intelligenzmodell ist, in der wir wissenschaftlich und zum Glück auch
mit etwa 40 Faktoren entwickelt hat, von denen politisch einig sind.
— wenn ich richtig unterrichtet bin — inzwischen Wir sollten diese Runde der Debatte damit be-
ca. 30 nachgewiesen sind, wobei das einen sehr schließen, daß wir alles daransetzen, die vorschu-
komplexen Zusammenhang abgibt. Wenn das so lische Bildung durchzusetzen; denn solange wir sie
ist und außerdem, wie man weiß, Intelligenzquoti- nicht haben, werden Hunderttausende von Kindern
entmessungen nur das messen, was sie messen kön- an ihrer intellektuellen Entwicklung gehindert
nen, aber nicht die gesamte Intelligenz, woher weiß werden.
dann ein Wissenschaftler, in welchem Ausmaß ge- (Beifall bei der CDU/CSU.)
messene Intelligenz tatsächlich die ganze Intelli-
genz ist? Wie kommt es also zu dieser Festschrei-
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
bung von Intelligenz mit „genetisch umgrenzt"? Das
statten Sie eine Zwischenfrage .
kann man nie vorher wissen, das kann man immer
nur nachher wissen. Stimmt das?
Dr. Martin (CDU/CSU) : Ich würde doch jetzt
gern — —
Dr. Martin (CDU/CSU): Herr Sperling, jetzt müs-
sen wir in die Sache einsteigen. Was Sie sagen, (Zuruf von der CDU/CSU: Kein Regierungs
sind die älteren Verfahren von Intelligenzmessun- vertreter! — Gegenrufe von der SPD.)
gen. Zur Intelligenzmessung gehört heute gleich-
zeitig eine genaue Durchmusterung der ganzen Vizepräsident Frau Funcke: ... des Herrn
Persönlichkeit, der Antriebssphäre, der Affektivität, Abgeordneten Moersch?
der Energie, des Durchhaltevermögens.
(Abg. Matthöfer: Das wissen Sie alles Dr. Martin (CDU/CSU) : Herr Abgeordneter
voneweg?) Moersch!
— Ja, das sind ja die Leute, auf die sich Herr Sper-
ling beruft; die machen das so. Ich wollte die Frage Moersch (FDP) : Ja, für Schizophrenie bin ich
beantworten. Warum denn jetzt polemisch? Wir nicht zuständig.
wollen ja ein Sachproblem klären. Ich wollte Herrn (Beifall bei der CDU/CSU.)
Sperling sagen, daß das — selbstverständlich mit
Unsicherheitskoeffizienten — sehr weitgehend mög- Herr Kollege Martin, darf ich die Frage stellen,
lich ist, und ich sehe die Chance eben darin, daß wie Sie zu Ihrer Feststellung kommen, daß über
man in der Anwendung solcher Verfahren in proble- Vorschulerziehung Einigkeit herrsche. Ist es nicht
matischen Fällen den richtigen Weg findet. Das ist vielmehr so — ich habe das den Diskussionen auch
ja das, was heute in Erziehungsberatungsstellen lau- mit Ihren Freunden und mit Wissenschaftlern ent-
fend gemacht wird. — Noch einmal die Frage der nommen — daß über das Grundsätzliche der Vor-
,

Intelligenz? Bitte schön! schulerziehung Einigkeit herrscht, über den Inhalt


aber bisher überhaupt keine Einigkeit herzustellen
Dr. Sperling (SPD) : Nur eine kurze Frage, wenn ist?
Sie so freundlich sind. (Zurufe von der CDU/CSU.)

Dr. Martin (CDU/CSU) : Gern! Dr. Martin (CDU/CSU) : Die politische Einigung
ist da, Herr Moersch. Der Kongreß in Hannover
Dr. Sperling (SPD) : Nur die kurze Frage: Was über Vorschulerziehung hat nun allerdings gezeigt,
halten Sie von der Behauptung, daß die bisherigen daß die Pädagogen über den ganzen Elementar-
Verfahren der Intelligenzmessung selbst schichten bereich — dahin gehört es auch — nicht einig sind
spezifisch orientiert sind und damit eigentlich nur und daß da noch eine ganze Menge zu tun ist. Das
schichtenspezifische Intelligenz messen? ist die Wahrheit. Ich sage: wir sind dem Grunde
nach politisch einig, nämlich hier die CDU, dort die
SPD und, soweit ich weiß, auch die FDP. Wir haben
Dr. Martin (CDU/CSU) : Ich halte das für einen
das ja heute aus dem Munde des Ministers gehört.
Beutebegriff und eine polemische Behauptung, Herr
Wenn ich recht unterrichtet bin, ist Frau Hamm-Brü-
Sperling; das muß ich Ihnen leider sagen. Die Leute,
cher der Meinung, daß das, wenn man schon noch
die an der Sache arbeiten und von denen ich meine
einmal Prioritäten setzen soll, die erste wäre. Ich
Weisheiten beziehe, stehen in aller Regel Ihnen
freue mich, daß wir da die erste Übereinstimmung
näher als mir. Das sind die bekannten amerikani-
gefunden haben.
schen Forschungen über benachteiligte Kinder in
den Slums von Chikago usw. Das sind ja die For- Lassen Sie mich noch ein Zweites sagen. Ich will
schungen, die zu dem Begriff der Bildungsbarriere, jetzt nicht die 1 Million Studenten kritisieren, möchte
der affektiven Hemmungen, der Retardierung der aber auf folgendes Problem aufmerksam machen.
Intelligenz geführt haben. Mir kommt es darauf an, Man muß in der Bildungspolitik vom Bildungs-
Herr Sperling, diese Möglichkeiten zu nutzen, um wunsch des einzelnen und vom Bildungsbedarf der
individuell für das jeweilige Kind wirklich etwas Gesellschaft ausgehen, weil ja diese 1 Million
tun zu können. Hier hat unsere Betonung der vor Studenten einen Beruf haben wollen. Ich bin keines-
4024 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Martin
wegs sicher, daß die Gesellschaft von 1980 in dem wird von uns nachhaltig unterstützt. Wogegen wir
Zustand sein wird, daß sie 1 Million Akademiker uns wenden, meine Damen und Herren, ist die Ver-
unterbringen kann. Es ist dringend erforderlich, daß einfachung, die Verharmlosung der Probleme und
wir Methoden der Bedarfsforschung finden, damit die Fixierung auf dogmatische Modelle ohne eine
wir laufend die Studenten darüber orientieren kön- groß angelegte Bildungs- und Curriculumforschung.
nen, was Aussicht hat, sozial beantwortet zu werden. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr.
Ich weiß, wie schwer das ist. Aber wir müssen Pro- Schober: Sehr wahr!)
gnosen nicht nur für den Universitätsbereich, son-
dern für den Gesamtbereich erarbeiten. Die finanzielle Kapazität zur Durchführung dieses
Programms ist naturgemäß begrenzt. Es kommt dar-
Eine weitere Sorge, meine Damen und Herren,
auf an, klare Prioritäten zu setzen und unumgäng-
muß ausgesprochen werden. Im Bildungsbericht fehlt lich notwendige Stufenpläne zu entwickeln. Keine
jede Aussage darüber, wie das Personal für die drin- Reform ist möglich ohne Geld. Wir kennen heute die
gend notwendige Ausweitung unseres Bildungssy- Größenordnungen. Wie immer man auch über Ein-
stems beschafft werden soll. Eine Million Kinder- zelheiten der Reform denkt, so viel ist sicher: daß
gärten zusätzlich! Jedermann weiß, daß es heute die Größenordnungen von Bildungsrat und Wissen-
schon ein Kunststück ist, für die bestehenden Insti- schaftsrat dem Grunde nach richtig gegriffen sind.
tutionen Kindergrätnerinnen zu bekommen. Die Keine Reform wird weniger kosten; alle werden
Gymnasien unterrichten heute etwa 10% eines Jahr- eher mehr kosten. Die Fachleute glauben, daß wir
gangs. Viele Stunden werden nicht gehalten. Die damit an der untersten Grenze sind. Hier liegt das
Relation Eltern-Lehrer-Schüler stimmt nicht. Woher eigentlich politische Problem.
sollen die vielen Lehrer kommen? Woher sollen die
Professoren kommen, wenn heute schon, wie man Meine Damen und Herren, wir hatten an und für
weiß, in bestimmten Fächern auf 500 Studenten ein sich vom Bildungsbericht erwartet, daß die Bundes-
Professor kommt? Dafür liegt kein Konzept vor. Es regierung nicht ein drittes Gutachten erstatten, son-
liegt kein Konzept für die mögliche Beseitigung des dern dem Bundestag ein Programm mit politischen
Lehrermangels und für den Zuwachs an Professoren Entscheidungen vorlegen würde.
vor. Eine Untersuchung in einem Land unserer Re- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr.
publik hat ergeben, daß die Zahl derjenigen, die sich Schober: Prioritäten!)
um ein Lehramt bewerben, zurückgeht.
— Gut, ich nehme das auf: Diese Bundesregierung
Ein Wort zum Abschnitt über die Hochschulen. hat mit Recht gesagt, das sei die oberste Priorität.
Ich will mich kurz fassen. Die Verfasser des Berichts Der Herr Bundeskanzler hat es oftmals wiederholt,
irren sich, wenn sie glauben, mit einer Zuteilung von der Herr Bundesminister für Bildung und Wissen-
mehr Autonomie an die Universitäten seien die heu- schaft hat es immer wieder gesagt. Aber wir wissen
tigen Probleme zu meistern. heute, daß die für die Länder entstehende Lücke den
(Beifall bei der CDU/CSU.) Umfang von 40 Milliarden DM haben wird, wobei
Faktisch ist es so, daß die Hochschulen kaum in der wir uns jetzt nicht über 5 oder 8 Milliarden streiten
Lage sind, die Hochschulmisere aus eigener Kraft wollen. Dabei muß man wissen, meine Damen und
zu beenden. Herren, daß von dem Gesamten die Länder 67 %,
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) die Gemeinden 27 % und der Bund nur 6 % zu tra-
gen haben. Man kann also keinen bildungspoliti-
Der Ruf nach mehr Demokratisierung birgt die Ge- schen Fortschritt markieren, wenn man von Bundes-
fahr, daß Forschung und Lehre von Mitgliedern der seite 20, 30 oder 40 % zulegt, denn die machen im
eigenen Universität behindert werden. Es kommt Gesamtbudget der Bildung ganz, ganz wenig aus —
vielmehr auf ein ausgewogenes Verhältnis von ganz abgesehen davon, daß das, was hier ausgege-
Hochschulautonomie und staatlicher Aufsicht an. ben wird, zum großen Teil nicht der Reform der
Eine weitere Frage, die heute beantwortet werden Schule und Hochschule zugute kommt, sondern den
müßte, lautet: Wie stellt sich die Bundesregierung normal laufenden Programmen.
ein Fünfjahresprogramm zur Beseitigung des Nu-
Es hätte heute auch etwas darüber gesagt werden
merus clausus vor, wenn in den nächsten zehn Jah-
müssen, daß dieser Bericht ja — es hört sich schon
ren eine Million Studenten heranwachsen werden?
fast historisch an — davon ausgeht, daß die Bau-
Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser kosten um 3 %,
Stelle einmal kurz zusammenfassen. Wir glauben,
(Sehr gut! bei der CDU/CSU)
daß die Reform des Bildungswesens eine laufende,
dringliche, zwingend notwendige Aufgabe ist, die das allgemeine Preisniveau um 2 % und die Löhne
unter den Staatsaufgaben den ersten Rang haben und Gehälter um 6 % steigen werden. Das hört sich
muß. Wir bejahen viele Zielvorstellungen des Bil- an wie ein Bericht aus der Zeit Adenauers.
dungsrates und des Bildungsberichts. Dazu gehören
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU. —
Elementarerziehung, Kindergartenplätze, Vorverle-
Zuruf des Abg. Matthöfer.)
gung der Einschulung auf das fünfte Lebensjahr, Um-
strukturierung des Schulwesens, verstärkter Ausbau — Das kann ich auch erwähnen, und da würde ich
und Neubau der Hochschulen, Integrierung der be- immer noch glänzend abschneiden. — Jedermann
ruflichen Bildung, Entwicklung entsprechender Cur- weiß, meine Damen und Herren, daß in diesem
ricula sowie Ausbau der Erwachsenenbildung und Jahre zum erstenmal seit Bestehen der Bundesrepu-
der individuellen Ausbildungsförderung. All das blik die Kaufkraft bei Planungen für Bildung und
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4025
Dr. Martin
-
Wissenschaft auf Grund der inflationären Entwick- ren. Niemand von uns weiß, wie die Gesellschaft
lung im Rückgang begriffen ist. von 1980 aussieht.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Und wir wissen ganz genau, daß die Länder schon Jedermann muß offen bleiben für neue Entwicklun-
bei Ausführung ihrer normalen Programme notlei- gen. Wer sich dogmatisch und voreilig entscheidet,
dend sind. Es gibt eine Berechnung aus Baden schaltet sich selbst aus dem Innovationsprozeß von
Württemberg, die das Defizit auf 53 Milliarden DM Wissenschaft und Pädagogik ohne Not aus.
beziffert.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
Wenn die 70er Jahre ein Jahrzehnt der Bildungs- der SPD.)
reform sein sollen, müssen den Worten auch Taten
Ich fasse zusammen: Wir halten die Bildungsre-
folgen, und zwar in Gestalt konkreter Finanzie-
form, in der Bildung und Ausbildung gleichwertig
rungsvorschläge. Allein mit der guten Absicht, den
und gleichgewichtig berücksichtigt werden, für drin-
Bildungsausgaben Priorität einzuräumen, ist es nicht
gend erforderlich. Die Reform kann nur dann er-
getan.
folgreich durchgeführt werden, wenn sie den gesell-
(Abg. Moersch: Wem sagen Sie das?)
schaftspolitischen Hintergrund, aber auch wissen-
Ich glaube, die Pflicht der Bundesregierung ist ein- schaftliche Erkenntnisse genügend in die Planung
deutig. Sie hat das Wort „Priorität" gesagt. Sie hat einbezieht. Angesichts der Tatsache, daß heute schon
die 90 bis 100 Milliarden übernommen. Sie hat in ein erhebliches Defizit an Lehrern besteht und die
der Regierungserklärung gesagt, sie wolle die Län- baulichen Voraussetzungen fehlen, müssen nach An-
der instand setzen, ihre schwierigen Aufgaben sicht der CDU/CSU zunächst die Voraussetzungen
durchzuführen. Die Bundesregierung ist die Inhabe- dafür geschaffen werden, daß die Mängel im jet-
rin der Steuerhoheit. Sie ist verantwortlich für die zigen Bildungssystem behoben werden können.
Fortentwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft
und damit auch für die Finanzierung dieser hier vor Die CDU setzt am Beginn einer sinnvollen Bil-
uns liegenden Aufgaben. dungsreform folgende Prioritäten: Beseitigung des
Lehrermangels, Ausbau der vorschulischen Erzie-
Meine Damen und Herren, diese Debatte würde hung zur Verwirklichung der Chancengleichheit, Be-
ein Ergebnis haben, wenn eine Antwort käme. Die seitigung des Numerus clausus, Ausbau der Berufs-
Antwort, die Herr Leussink gegeben hat, ist, so bildung und volle Integration von Berufsbildung
muß ich sagen, nicht befriedigend. Er hat auf die und Weiterbildung. Das Bildungsgefälle zwischen
Prozedur und darauf hingewiesen, daß die Bund - Stadt und Land muß durch den vermehrten Bau von
Länder-Kommission darüber beraten und berichten Schulzentren und durch ein auf die Regionalstruktur I
soll. Aber wer den Umfang der Anforderungen für bezogenes Schulprogramm abgebaut werden. Nach
den Gesamtstaat kennt, weiß, daß diese Anforderun- Auffassung der CDU/CSU darf kein Schulsystem
gen die Möglichkeiten und Kompetenzen dieser endgültig etabliert werden, das zu einem erhebli-
Kommission überschreiten. Das sind Probleme, die chen Teil Abbruchschüler produziert. Die Vielglied-
an höchster Stelle — von der Bundesregierung rigkeit muß durch einen übersichtlichen und durch-
selbst — entschieden werden müssen, weil es um lässigen Schulverbund und dessen Leistungsfähig-
folgende Fragen geht. Erstens: Welche Mittel kön- keit verbessert werden. Schließlich brauchen wir die
nen in den 70er Jahren unter Anspannung aller Erforschung moderner Unterrichtstechnologien und
Kräfte im Gesamthaushalt für die Bildungsreform eine genaue Untersuchung über die Möglichkeiten
aufgebracht werden? Zweitens: Welche bildungs- eines Unterrichts im Medienverbund.
politischen Ziele können und sollen mit diesen Mit-
teln verwirklicht werden? Drittens: Wer soll für die Wir diskutieren heute zum erstenmal auf Grund
Verteilung der Mittel im einzelnen zuständig sein? neuer Zuständigkeiten, auf Grund einer neuen Lage.
Wir wissen heute mehr über unser Bildungswesen,
Die Steigerung des Etats um 43 % hier beim Bund
seine Mängel und seine Chancen, als wir vorher
ist keine Antwort, weil diese Steigerung nur 6 %
wußten. Wir sind an der Stelle angelangt, wo poli-
betrifft.
tisch gehandelt werden muß, wo es sich zeigen muß,
(Abg. Dr. von Dohnanyi: 16 % sind es!) ob die Priorität für das Bildungswesen ein ernstli-
Es ist auch keine Antwort, wenn man sagt, daß ches Vorhaben dieser Bundesregierung ist.
bestimmte Entlastungen vorgenommen werden sol- (Zuruf von der SPD: Mensch, hör auf! —
len. Die 50 Millionen, Herr von Dohnanyi, die mal Heiterkeit links.)
von hier für ein Graduiertenprogramm angeboten
worden sind, reichen gerade aus, um 2000 Lehrer in Wir werden jedem Vorschlag, der dazu dient, unser
einem Bundesland zu unterhalten. Mehr ist das Bildungswesen zu verbessern, folgen, wenn er ra-
nicht. Das sind angesichts der Aufgaben, die hier zu tional begründet und realistisch in die Finanz- und
lösen sind, nichts als milde Gaben. Wirtschaftspolitik unseres Landes eingebaut ist.
Hier liegt der springende Punkt. Wir werden (Beifall bei der CDU/CSU.)
weiter diskutieren müssen über den Inhalt der Bil-
dungsreform, über die Bildungsziele, über die Orga-
nisation unserer Bildungseinrichtungen. Dabei plä- Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
dieren wir dafür, sich nicht im Jahre 1970 festzufah Herr Abgeordnete Professor Lohmar.
4026 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Lohmar (SPD) : Frau Präsidentin! Meine Da- - Bun-


anderen bildungspolitischen Dokument einer
men und Herren! Herr Kollege Dr. Martin hat uns desregierung gegeben.
einen Einblick in die Vorstellungen der parlamenta- (Beifall bei den Regierungsparteien. Abg .
rischen Opposition zum Bildungsbericht der Bundes- Dr. Huys: Das hätten die SPD-Länder ja
regierung verschafft. Er hat den interessanten Ver- auch gar nicht zugelassen!)
such gemacht, zugleich im konservativen Hinter-
land seiner Partei wärmende Hütten zu bauen und Nun hat Herr Kollege Martin beklagt, daß dieser
die Sozialdemokratische Partei links zu überholen. Bericht eigentlich ein Ausbildungsbericht sei und
Beides zugleich, Herr Martin, ist schwer zu machen. kein Bildungsbericht. Meine Meinung ist genau ge-
genteilig, Herr Kollege Martin. Ich meine, daß die
(Abg. Dr. Schober: Das geht ja an der Sache Bundesregierung einen Versuch gemacht hätte, ein
vorbei, Herr Lohmahr!) hölzernes Eisen zu schmieden, wen sie dem Parla-
Meine, die sozialdemokratische Fraktion bleibt ment einen Katalog von Bildungsinhalten und -nor-
auch angesichts der Einlassungen der Opposition men angeboten hätte. Im übrigen meine ich, daß es
bei dem Eindruck, den wir nach der Vorlage des nicht Sache einer Regierung ist, das zu tun.
Bildungsberichts der Bundesregierung öffentlich be- (Zuruf von der CDU/CSU: Schwerpunkte!)
kanntgegeben haben. Nach unserer Auffassung ist
Wir haben etwa im Deutschen Ausschuß für das
dies das erste bildungspolitische Dokument in unse-
Erziehungs- und Bildungswesen — Sie wissen das
rem Lande, das die Vorstellungen einer Bundesre-
alle — über eine Reihe von Jahren, beinahe ein
gierung in sich geschlossen, zusammengefaßt der
Jahrzehnt lang, versucht, die schwierige Verständi-
Öffentlichkeit vorgetragen hat und ein präzises bil-
gung über Inhalte der Bildung zwischen den ver-
dungspolitisches Angebot an den Bundestag und an
schiedenen Bildungsträgern in unserem Lande aus-
die Bundesländer enthält.
zudiskutieren und zu Kompromissen auszuformu-
(Beifall bei der SPD.) lieren. Die Resultate liegen vor. Ich kann mir nicht
denken, daß zwischen katholischer Kirche, evange-
Wir werden über viele Einzelheiten — Herr Kol-
lischer Kirche und sehr vielen anderen Trägern von
lege Martin, da haben Sie sicher recht — im zu-
Bildungseinrichtungen und -vorstellungen in unse-
ständigen Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
rem Lande bessere Kompromisse im prinzipiellen
noch mit der Regierung diskutieren müssen,
Bereich herauskommen könnten, als sie seinerzeit
(Abg. Dr. Huys: Das glaube ich auch!) vom Deutschen Ausschuß erarbeitet worden sind.
wobei ich als Vorsitzender dieses Ausschusses Ihrer
Kritik an der Beziehung des Bundesministers zum Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
Wissenschaftsausschuß aus meiner Erfahrung eigent- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
lich nicht begründet finde. Mein Eindruck ist eher Dr. Martin?
der, daß die Opposition vielleicht manche Gelegen-
heit außer acht gelassen hat, den Minister im Aus- Dr. Martin (CDU/CSU) : Herr Lohmar, es würde
schuß mit ihren Auffassungen zu konfrontieren. Aber mich interessieren, wo nach Ihrer Meinung solche
das ist Ihre Sache. Entscheidungen, da sie ja unumgänglich sind, ge-
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Huys: Herr fällt werden sollen. Zum Schluß muß ein Kultus-
Lohmar, Sie wissen doch ganz genau, wel minister ja sagen, was er eigentlich will.
che Schwierigkeiten wir hatten, ihn heran
zukriegen!) Dr. Lohmar (SPD) : Herr Martin, erstens besteht
nach unserer Verfassungslage ein Unterschied zwi-
Da wir von Herrn Dr. Martin auf die formelle schen dem Bundesminister für Bildung und Wissen-
Seite der Zusammenarbeit in diesem Hause ange- schaft und den elf Kultusministern der einzelnen
sprochen worden sind, möchte ich gerne sagen, daß Länder, was die formelle Seite Ihrer Frage angeht.
meine Fraktion die Anwesenheit einer Reihe von Zum Inhalt selbst möchte ich auch für einen Kultus-
Kultusministern der Länder bei dieser Debatte aus- minister sagen: Ich halte es für ein Mißverständnis
drücklich begrüßt. Ich bitte um Verständnis und eines staatlichen Amtes, zu meinen, daß man der
Genehmigung der Frau Präsidentin, wenn ich in Bevölkerung den Inhalt von Bildung per staatlichem
diese Bemerkung auch den langjährigen Kultus- Erlaß dekretieren kann.
minister von Hessen, Ernst Schütte, einbeziehe, der
dieser Plenarsitzung als Gast beiwohnt. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Beifall.) Das ist die Folge — —

Meine Damen und Herren, meine zweite Bemer-


kung zum Bildungsbericht bezieht sich auf den In- Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie
eine zweite Frage des Herrn Abgeordneten Martin?
halt dieses Berichtes. Es ist hier, was nebenbei be-
merkt eine nicht unbeachtliche organisatorische Lei-
stung der Bundesregierung gewesen ist, zum ersten- Dr. Lohmar (SPD) : Ja.
mal gelungen, die zunächst verschiedenen Vorstel-
lungen einzelner Ressorts in einem Konzept zusam- Dr. Martin (CDU/CSU) : Abstrahieren Sie nicht
menzufassen. Der Bildungsbericht umfaßt den Sektor von der Tatsache, daß de facto solche Erlasse und
der Berufsausbildung, den Schulsektor und den Weisungen an die Schulen ergehen, und wer ver-
Hochschulsektor. Auch dies hat es vorher in keinem antwortet die nach Ihrer Meinung?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4027

Dr. Lohmar (SPD) : Das ist nicht unser Thema, -


sequenz davon war? Können Sie mir dafür ein Bei-
Herr Dr. Martin. Läßliche Sünden kann man über- spiel sagen?
all in der Politik beobachten. Im Moment geht es
zwischen uns beiden um die Frage, wonach wir uns Dr. Lohmar (SPD) : In unserem Land, Herr Mar-
richten wollen, ob wir sozusagen eine normative tin, gibt es sehr unterschiedliche konservative, pro-
Bildungsbegründung staatlich verbindlich anbieten gressive, liberale, soziale, sozialdemokratische,
und dann politisch durchsetzen wollen oder ob christlich-demokratische Auffassungen in vielen
wir die Festlegung dessen, was Bildung inhaltlich Spielarten, die miteinander konkurrieren. Ich finde
bedeutet, dem freien Spiel der Kräfte und Menschen das auch gut, wenngleich die Mehrzahl von Bil-
in unserer Gesellschaft überlassen wollen. Ich bin dungsideen im politischen Lager der CDU/CSU uns
der zweiten Auffassung. Die Frage, die Sie in Ihrer in den letzten 20 Jahren bestimmt zehn Jahre an
Rede formuliert haben, gewinnt nur einen Sinn, bildungspolitischer Reform gekostet hat.
wenn Sie der ersten Auffassung sind — sonst soll-
ten Sie sie zurücknehmen. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Menie Damen und Herren, Herr Martin hat uns Lassen Sie mich zu den Strukturmerkmalen des
sozusagen die neuen zehn Gebote des bildungs- Bildungsberichts der Regierung zurückkommen.
politischen Selbstverständnisses der CDU/CSU er- Meine Fraktion hat vier solcher Strukturprinzipien
läutert. Sie werden, Herr Martin, beim Durchlesen des Bildungsberichts mit besonderer Zustimmung
Ihrer zehn Punkte bemerken, daß sie im wesent- zur Kenntnis genommen: Erstens den Grundsatz der
lichen Funktionserwartungen an Menschen ent- Chancengleichheit, zweitens den Grundsatz der De-
halten und daß sie auf Eigenschaften von Menschen mokratisierung, drittens den des pädagogischen
abstellen, die Sie durch das, was Sie Bildung ge- Fortschritts und viertens den der Leistung. Lassen
nannt haben, begünstigen oder fördern wollen. Ich Sie mich zu diesen Strukturprinzipien des Bildungs-
finde jedoch, unser Staat und insbesondere die berichts ein paar kommentierende Anmerkungen
Bundesregierung haben einstweilen genug damit zu aus der Sicht meiner Fraktion machen.
tun, einen Rahmen für die Entwicklung dessen zu Für die Realisierung der Chancengleichheit haben
setzen und zu schaffen, was an Bildung in unserem wir eine Reihe konkreter Vorschläge gemacht. Sie
Lande sich dann darin entwickeln mag. reichen von der Vorschulerziehung über ein sehr
(Beifall bei den Regierungsparteien.) differenziertes Programm bis zur Aus- und Weiter-
bildung von Erwachsenen in ihren Berufen. Sie füh-
Unser Staat sollte sich darauf konzentrieren, Aus- ren auch zu einem neuen Verständnis des Lehrers
bildungsvoraussetzungen für jeden zu schaffen und und des Lehrerberufs. Wir wollen den Lehrer nicht
diese Ausbildungsvoraussetzungen nach erkenn- länger als einen gesellschaftlichen Exponenten einer
baren und öffentlich diskutierbaren Grundsätzen zu vergehenden ständischen Ordnung sehen, sondern
schaffen. Diese Grundsätze finden Sie im Bildungs- als Moderator eines pädagogischen, sich inhaltlich
bericht der Bundesregierung eindeutig vor. demokratisierenden Bildungssystems.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — (Beifall bei der SPD.)
Abg. Dr. Schober: Aber dann kommen Sie
doch sofort in die Diskussion der Bildungs Aus dieser neuen Sicht des Lehrers haben wir die
inhalte hinein!) Folgerung gezogen, ihn so auch im Bildungsbericht
zu beschreiben.
— Ich habe gar kein Bedürfnis danach, mit Ihnen
hier über Bildungsinhalte zu diskutieren, Herr Dr. Ein besonderes Thema der Chancengleichheit
Schober. Das können wir gerne in einem Privat- haben Sie, Herr Martin, angesprochen. Es ist ein
gespräch oder in einem Universitätsseminar machen. Thema, von dem wir alle wissen, daß es Opposition
und Regierung gemeinsam bedrückt, zumal es zu
Ein Parlament ist aber nicht der Ort, Bildungsinhalte
von einer Partei oder einer Regierung aus zu pro- den bösen Erbschaften der letzten zehn Jahre der
Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Bund und
klamieren.
Ländern gehört, nämlich das Vorhandensein des
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Numerus clausus. Nur finde ich die Formulierung,
die Sie zu diesem Thema gefunden haben, irritie-
Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie rend. Sie haben von der Regierung ein Programm
eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Mar- des Numerus clausus gefordert. Das verstehe ich
tin? nicht. Meine Fraktion fordert ein Programm zur
Überwindung des Numerus clausus
Dr. Lohmar (SPD): Nein, Herr Martin, jetzt (Beifall bei der SPD)
nicht, nachher. — Na gut, wenn Sie eine so schöne
Frage haben, dann meinetwegen. und nicht zur möglichst gedeihlichen Handhabung
dieses Übelstands.
(Heiterkeit.)
(Abg. Dr. Schober: Herr Lohmar, das ist
doch läppisch! — Weitere Zurufe von der
Dr. Martin (CDU/CSU) : Vielleicht führt uns das
CDU/CSU.)
weiter, Herr Lohmar. Ich wollte nur fragen: Ist
Ihnen in der Geschichte irgendeines Landes eine
Bildungsreform bekannt, die nicht Ausdruck einer Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie
Bildungsidee und deren Organisation nicht die Kon eine Zwischenfrage des Abgeordneten Pfeifer?
4028 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Pfeifer (CDU/CSU) : Herr Lohmar, würden Sie -


letzten zehn Jahre im Bereich der Bildungspolitik zu
mir bestätigen, daß wir hier vor wenigen Wochen setzen.
gemeinsam ein Programm zum Abbau des Numerus (Abg. Dr. Schober: Das ist eine Unter
clausus verabschiedet haben und daß insoweit Ihre stellung!)
Auslegung dessen, was Herr Dr. Martin gesagt hat, Wir wollen vielmehr das Experiment in vielen Be-
für uns irritierend sein muß? reichen wagen und es mit einer die Resultate dieser
(Abg. Dr. Martin: Bösartig!) Experimente ständig kontrollierenden Erfahrung
verbinden.
(Beifall bei der SPD.)
Dr. Lohmar (SPD) : Es ist gut, wenn Sie das
irritiert. Damit ist klargestellt, daß das nicht ge- Wir wollen das Modell der rollenden Reform ver-
meint ist. wirklichen. Und dazu gehört eben auch der Mut
zum Experiment.
(Abg. Dr. Schober: Das konnten Sie auch
nicht verstehen! — Abg. Dr. Martin: Herr Martin, was Sie uns über die „Gefahren"
Bösartig!) der integrierten Gesamtschule gesagt haben, haben
wir in den von Ihnen zitierten Dokumenten natür-
— Dann sollte man aber gleich in der Wortwahl lich selber nachgelesen und uns seit geraumer Zeit
genauer sein, meine Damen und Herren. durch den Kopf gehen lassen. Die CDU/CSU befin-
Lassen Sie mich zur zweiten Markierung kommen, det sich in einem Irrtum, wenn sie glaubt, daß die
zur Demokratisierung. Wir haben sie im Bildungs- Regierungsparteien — jedenfalls gilt das für die
bericht der Bundesregierung auf drei Ebenen an- SPD — mit der integrierten Gesamtschule etwa
visiert — im Gegensatz zu Ihrer Vermutung, Herr utopische Hoffnungen verbänden. Das tun wir nicht.
Kollege Martin, es sei nichts Konkretes darüber zu Wir wissen aber, daß die integrierte Gesamtschule
lesen. Wir wollen die Demokratisierung durch eine nach allen Erfahrungen und allen pädagogischen
individuelle Förderung auf allen Ausbildungsstufen Überlegungen, auf die wir uns stützen können, ge-
für Lehrer und Schüler vorantreiben, für die einen in messen an anderen möglichen Modellen, die besse-
ihrem beruflichen Sektor, für die anderen in ihren ren Aussichten bietet, die ständischen Relikte der
Ausbildungsmöglichkeiten. Wir wollen die Demo- bestehenden und teilweise schon vergangenen Schul-
kratisierung durch eine intensive und extensive Ein- systeme zu überwinden. Deswegen sind wir für die
beziehung der politischen Bildung in unser Schulwe- integrierte Gesamtschule.
sen fördern, was in dieser Deutlichkeit auch zum (Beifall bei der SPD.)
erstenmal in einem bildungspolitischen Dokument
einer Bundesregierung steht.
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
(Beifall bei der SPD.) statten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Drittens wollen wir sie durch eine kooperative Part- Frau Walz.
nerschaft von Eltern, Schülern und Lehrern in den
verschiedenen Schulen fördern. Wir können in der Frau Dr. Walz (CDU/CSU) : Herr Kollege Loh-
Schule nicht so tun, als ob die Demokratisierung mar, wenn Sie so sicher sind, daß die integrierte
eine wunderschöne Sache nur für alle Bereiche Gesamtschule die beste Form ist, warum steht dann
außerhalb der Schule sei, sondern wir müssen die in Ihrem Bildungsbericht — ich zitiere —:
Demokratisierung in einer praktikablen Weise in
der Schule selber handhaben, wenn die Sache einen Die zahlreichen erst in den vergangenen Jahren
Sinn haben soll. begonnenen Schulversuche lassen allerdings
(Beifall bei der SPD.) bisher nur beschränkte Rückschlüsse auf die
allgemeine Durchführbarkeit der dort erprobten
Es ist immer leichter, anderen Leuten Demokratie Strukturen und Inhalte zu.
zu empfehlen, wenn man selber bei autoritären Ver-
haltensweisen bleibt. Nur gewinnt ein solches Ver- Wenn das schon in Ihrem eigenen Bildungsbericht
halten gerade bei jungen Leuten nicht an Über- steht, woher nehmen Sie dann den Mut, uns diesen
zeugungskraft. Das ist der Grund, weshalb die Bun- Schultyp als die einzige Form zu empfehlen?
desregierung konkrete Kooperationsmodelle für (Beifall bei der CDU/CSU.)
Eltern, Schüler und Lehrer im Rahmen ,des Bildungs-
berichts entwickelt hat.
Dr. Lohmar (SPD) : Verehrte gnädige Frau, es
Drittens: zum pädagogischen Fortschritt. Herr könnte natürlich im Laufe der Entwicklung gesche-
Bundesminister Leussink hat in der Begründung hen, daß sich aus der Erfahrung noch mehr positive
zum Bildungsbericht heute vormittag klar gesagt, Hinweise auf den Sinn der Gesamtschule ergeben.
daß er — um es jetzt in anderen Worten auszu- Zum andern würde ich mich an Ihrer Stelle nicht
drücken — keine Experimente um der Experimente über eine gewisse Rücksichtnahme der Bundesregie-
willen möchte, sondern 'das Experiment, das Wagnis rung gegenüber verhaltenen Bedenken aus dem
auch im pädagogischen Sektor als ein Element .der Kreise der jetzigen parlamentarischen Opposition
Reform bejaht und politisch durchsetzen will. Das beklagen. Ich rede für meine Partei und nicht für
heißt: Uns geht es nicht darum, ein nicht durch- die Bundesregierung. Die Meinung der SPD ist,
dachtes Experiment an die Stelle der konservativen daß die integrierte Gesamtschule in allen Ländern
Beharrung als dem politischen Grundmerkmal der der Bundesrepublik sobald wie möglich eingeführt
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4029
Dr. Lohmar
werden sollte. Wir werden politisch alles daran -
des Wortes „kooperativ" zu setzen, zeigt das Tempo
setzen, um dies so schnell wie möglich zu erreichen. der Entwicklung an, das wir in der Bildungspolitik
in der Bundesrepublik mittlerweile erleben.
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Martin:
So lange leben Sie gar nicht!) Es gibt hier ein Problem, das ich heute nur nen-
nen will. Wir können darüber jetzt nicht abschlie-
Ich komme nun zum vierten Grundsatz, der in
dem Bildungsbericht ausgesprochen ist: dem Be- ßend reden, aber wir müssen das z. B. im Ausschuß
kenntnis der Bundesregierung zur Leistung. Ich tun. Die SPD hält es für sehr gut, daß wir einen
finde es sehr gut, daß Herr Bundesminister Leussink Planungsausschuß für den Hochschulbereich haben
sich von der in der Öffentlichkeit leider von vielen und daß wir eine Bildungsplanungskommission ha-
vertretenen Vorstellung distanziert hat, daß Demo- ben, die auch den Forschungssektor — teilweise
kratisierung einerseits und Leistung andererseits jedenfalls — mit abdecken soll. Nur sind dies Pla-
zwei unüberbrückbare Gegensätze seien. Dies sind nungsgremien der Exekutiven von Bund und Län-
keine Gegensätze. Meine politischen Freunde und dern. Wir werden rechtzeitig darüber nachdenken
ich werden uns auf diese nur vermeintlich richtige müssen, wie die Landesparlamente und wie der
Alternative nicht einlassen. Bundestag in diesen langfristigen Planungsprozeß
einbezogen werden können,
Die Anhänger des traditionellen Leistungsbegriffs
in unserer Gesellschaft gehen allerdings immer noch (Beifall)
davon aus, daß Leistung sozusagen gebunden sein damit wir uns nicht sozusagen in eine Vorabfolge
müsse an die Erwartung intellektueller Anpassung von politischen Entscheidungen, die man Planung
desjenigen, der eine Leistung erbringen soll, und nennt, unversehens eingespannt sehen, ohne daß die
an die Einfügung desjenigen, der etwas leisten soll, Parlamente ihrerseits rechtzeitig ein sachliches
in bestehende Hierarchien, d. h. an seine Unter- Votum dazu sagen können.
ordnung oder Einordnung in bestehende Hierar-
(Beifall bei allen Fraktionen.)
chien. Beides scheinen uns überflüssige Vorausset-
zungen für den Leistungsbegriff zu sein. Das ist ein Thema, über das wir in aller Ruhe mit-
einander reden müssen. Es wäre nur gut, wenn die
(Abg. Dr. Schober: Davon spricht keiner!)
Bundesregierung in der gleichen Richtung dächte
Wenn man diese Voraussetzungen beiseite läßt, und uns dabei helfe, dieses Problem zu lösen.
wird Leistung mit Demokratisierung nicht nur ver-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
einbar, sondern dann ist es so, daß der eine Faktor
den anderen bedingt. Eine letzte Anmerkung: zur Finanzierung der Auf-
gaben, die im Bildungsbericht genannt worden sind.
Auf der anderen Seite kommt in der Äußerung
Herr Martin, Sie haben natürlich recht: Man kann
der Regierung auch klar zum Ausdruck, was ich
nicht alles gleichzeitig tun. Das wissen wir auch.
ebenso notwendig finde, daß die Meinung mancher
Deswegen haben wir zunächst einmal die Prioritä-
revolutionärer Anhänger der „neuen Linken" in der
tenfrage zu lösen versucht, indem wir aus der nebel-
Bundesrepublik, Leistung sei schlechthin repressiv
haften Diskussion der vergangenen Jahre einen Aus-
und nur ein verhüllender Ausdruck der Machtstruk-
weg mit der festen Zahl von 8 % gesucht haben. Das
turen in dieser Gesellschaft, einer genauen logischen
wollen wir politisch durchsetzen. Darauf hat sich die
und empirischen Betrachtung nicht standhält. Wer
Sozialdemokratische Partei festgelegt, und das wer-
für sich selber in einer bevorzugten sozialen Lage
den wir in Bund und Ländern schaffen.
das Recht beansprucht, eine Leistungserwartung der
Gesellschaft ihm gegenüber dadurch zu ersetzen, Damit bleibt die zweite Prioritätenfrage: Was
daß er nur noch seinen Neigungen nachgeht, bean- machen wir innerhalb dieses Sektors von Bildung
sprucht für sich eine elitäre Außenseiterposition, und Wissenschaft zuerst, an zweiter Stelle, usw.?
für die in unserer Gesellschaft kein Platz ist. Doch ich glaube nicht, daß man sich die Sache so ein-
fach machen kann wie Sie, indem man ein paar
(Beifall bei der SPD.)
Dinge nacheinander nennt und sagt: Damit fangen
Das muß man jedermann sagen, der aus der be- wir an, dann kommt das und dann kommt das. Die
rechtigten Kritik mancher Gegebenheiten in unserer Erfolgschance einer bildungspolitischen Reform
Gesellschaft fälschlich den Schluß zieht, sozusagen in bleibt vielmehr in hohem Grade an die Gleichzeitig-
einem sozialen Naturschutzpark in dieser Gesell- keit von Maßnahmen auf den verschiedenen Sek-
schaft für sich selber überwintern zu können und die toren gebunden. Wir können nicht das eine zuerst
anderen dafür bezahlen lassen zu können. tun und alles andere vernachlässigen. Wir müssen
Eine vorletzte Bemerkung. Herr Leussink hat in versuchen, parallel die wesentlichen bildungspoliti-
seinem Kommentar heute mittag gesagt, die Bundes- schen Reformschritte einzuleiten, auch wenn dadurch
regierung sei der Meinung, daß wir zu einem das Tempo des einzelnen Schrittes gegenüber der
koordinierten Föderalismus übergehen müssen. Er anderen Möglichkeit etwas verlangsamt wird.
geht mit diesem Begriff des koordinierten Födera- Im übrigen, Herr Kollege Martin, hätte mich wirk-
lismus einen Schritt weiter — vermutlich nicht ohne lich inte re ssiert, was die Opposition zu der ja nicht
Absicht — als in dem schriftlich vorliegenden Bil- überhörbaren Anmerkung von Herrn Leussink zu
dungsbericht der Bundesregierung, wo noch von sagen hat, daß ohne eine gewisse Bereitschaft zum
kooperativem Föderalismus die Rede ist. Die Tat- Verzicht auch unserer Mitbürger diese Sache mit der
sache, daß man sich in wenigen Monaten veranlaßt Bildung und der Wissenschaft — Sie können auch
sehen kann, das Wort „koordiniert" an die Stelle die Umwelt noch dazunehmen als eine vielen all-
4030 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Lohmar
mählich endlich erkennbar werdende Problematik — Dr. Lohmar (SPD): Ich weiß jetzt nicht, - auf
und ohne eine Änderung des politischen Grund- welche Rede Sie sich beziehen, Herr Martin.
denkens in unserem Staat nicht zu machen ist. Ich halte es nicht für eine Aufgabe der Bundes-
(Abg. Dr. Martin: Selbstverständlich!) regierung, nur für sich selber diese 8 % politisch zu
Herr Leussink ist der erste Bundesminister für die- markieren,
sen Verantwortungsbereich, der diese Einsicht nicht (Abg. Dr. Martin: Natürlich nicht! Sie reden
nur hat, sondern in einem Parlament auch klar und doch für die SPD!)
offen ausgesprochen hat. sondern bei allen Bundesländern, nicht nur bei den
(Beifall bei den Regierungsparteien.) sozialdemokratisch geführten
Ich finde, das ist eine für die Aufrichtigkeit der Dis- (Abg. Pfeifer meldet sich zu einer Zwischen
kussion, die wir in den nächsten Monaten mitein- frage)
ander führen müssen, nützliche Bemerkung gewe- — jetzt nicht, Herr Kollege Pfeifer —, auch bei den
sen.
von der CDU noch regierten Bundesländern dafür zu
(Abg. Dr. Schober: Das hat Dr. Martin doch sorgen, daß dies geschieht.
ganz klar gesagt!)
— Ich habe es nicht gehört, Herr Dr. Schober. Eine letzte Bemerkung, meine Damen und Her-
ren, nun wirklich ausschließlich an die Adresse der
Sie werden sich im übrigen bei dieser Frage in parlamentarischen Opposition gerichtet, sozusagen
der CDU/CSU sehr viel schwerer tun als z. B. wir als eine Art Retourkutsche für die Freundlichkeiten,
Sozialdemokraten; denn die Diskussion über das die Herr Kollege Martin der Bundesregierung gesagt
Verhältnis von privatem Wohlstand und öffentlicher hat. Ich habe mir eine Reihe von Stichworten aus
Armut ist bei uns seit langem kritisiert worden, im Ihrer Rede aufgeschrieben, Herr Martin. Sie fordern
Gegensatz zur CDU. in verschiedenen inhaltlichen Zusammenhängen von
(Abg. Dr. Martin: Das sind doch Floskeln!) der Regierung gleichzeitig, daß sie sich vorsichtig
anpassen und daß sie entschieden reformieren solle.
Sie haben die Bevölkerung in den letzten 25 Jahren
Sie fordern, daß die Regierung abwarten und for-
systematisch daran gewöhnt, ihre gesamten Lebens-
schen soll, andererseits jedoch, daß sie rasch, schnell
erwartungen auf den privaten Konsum zu orien-
und zügig handeln solle. Sie reden im ersten Teil
tieren
Ihrer Rede davon, daß im Bildungsbericht nur von
(Beifall bei den Regierungsparteien)
Ausbildung, nicht von Bildung die Rede sei, und ge-
und so zu tun, als ob Schulen, Krankenhäuser, Al- gen Schluß beklagen. Sie die zu geringfügige Einbe-
tersheime, Kindergärten usw. sozusagen vom Him- ziehung der Berufsausbildung in den Bildungsbe-
mel fallen und als ob — — richt. In vielen Passagen Ihrer Rede machen Sie den
(Widerspruch bei der CDU/CSU.) Versuch, den Strukturbedingungen unserer Indu-
striegesellschaft auf die Spur zu kommen und auf
diese Strukturbedingungen eine demokratische Ant-
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge- wort zu finden; in anderen Bemerkungen — etwa
statten Sie eine Zwischenfrage? in denen zur Gesamtschule — bleiben Sie hingegen
in einer mir unverständlichen konservativen Aus-
Dr. Lohmar (SPD) : Ich wollte gerade noch mei- blendung Ihrer eigenen Argumentation
nen Satz zu Ende bringen, Frau Präsidentin, dann (Zuruf von der CDU/CSU: Wieso?)
gerne.
der ständischen Tradition Ihrer Partei verhaftet.
Sie haben die Bevölkerung daran gewöhnt, die (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Steuern als eine lästige Begleiterscheinung der Tat-
sache zu werten, daß man Staatsbürger ist. Wir fin- Das alles, meine Damen und Herren, läßt sich nicht
den, daß wir hier zu einem völlig anderen Denken auf einen Nenner bringen.
kommen müssen und daß wir auch aus der Dominanz (Abg. Dr. Martin: Sie sind 50 Jahre hinter
von privatem Konsum gegenüber öffentlicher Armut Ihrer Zeit zurück!)
heraus müssen,
(Beifall bei der SPD) Wenn. man. diese miteinander nicht zu vereinbaren-
den Positionen
wenn wir die Finanzierung der Infrastrukturauf-
gaben in dem nötigen Umfang bewältigen wollen. (Abg. Dr. Martin: Sie schreiben ,,konserva
— So, Herr Martin, jetzt können Sie gerne fragen. tiv" noch mit C!)

(Zurufe von der CDU/CSU: Wer wollte auf einen Nenner zu bringen versucht, stellt man
denn die Steuern senken, wir oder Sie?) leider fest: es geht nicht.

Dr. Martin (CDU/CSU) : Herr Lohmar, Sie haben Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege, ge-
statten sie eine Zwischenfrage?
die hilfreiche Zahl von 8 °/o genannt. Ich stimme dem
zu. Wann rechnen Sie mit entsprechenden Entschei-
dungen der Bundesregierung und Ihrer Landesregie- Dr. Lohmar (SPD): Nein, jetzt nicht. — Man
rungen, — wobei ich den Abschnitt aus Ihrer Ver- findet sich vielmehr unversehens in einer Art von
sammlungsrede vergessen möchte? Lach- und Gruselkabinett wieder, in dem sich die
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4031
Dr. Lohmar
politische Gestalt der Christlich Demokratischen ben — des Oppositionssprechers hinsichtlich -der
Union so bizarr und komisch bricht, wie es eben in Haltung der CDU/CSU zum Ausdruck gekommen
einem solchen Kabinett nicht anders möglich ist. ist — ich muß doch wohl annehmen, daß Sie, Herr
Dr. Martin, hier für Ihre ganze Fraktion und Partei
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
gesprochen haben; daß muß man doch mindestens
Dr. Martin: Sie sind für einen Kanalarbei zunächst einmal vermuten —
ter zu schade!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie immer!)
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der — wie immer? darauf werden ich gleich kommen —,
Abgeordnete Moersch. daß hier doch eine wichtige Einwirkung dieser Re-
gierungskoalition auf die bessere Einsicht bisher
oppositioneller Kräfte im Bildungswesen stattgefun-
Moersch (FDP) : Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich muß offen bekennen, daß ich eigent- den hat.
lich erwartet hatte, der Sprecher der Opposition wer- Ich möchte gleich hinzufügen, daß die Tatsache,
de ein Gegenkonzept zum Bildungsbericht der Bun- daß die Diskussion auf der Basis eines solchen, sehr
desregierung vorlegen. Ankündigungen dieser Art konkreten Berichts, der Gott sei Dank — das muß
haben wir ja vernommen. Aber mir muß der Inhalt, ich Herrn Dr. Martin entgegenhalten — auf allge-
offen gestanden entgangen sein. Ich glaube, nichts meinen bildungsidealistischen Schwulst verzichtet,
verdeutlicht besser, wie gut dieser Bericht ist, als (Zuruf von der CDU/CSU: Wirklich?)
die Tatsache, daß Herr Dr. Martin — ohne Zweifel uns die Möglichkeit bietet, in Bund und Ländern das
eloquent und zum Teil im Vokabular einer Soziolo- nachzuvollziehen, was unsere Verfassung uns mit
genschule, die er sonst nicht besonders schätzt — der Forderung in den Grundrechten nach Gleichheit
(Heiterkeit bei den Regierungsparteien) der Chancen, d. h. Gleichheit der Bildungschancen,
bereits vor zwanzig Jahren aufgetragen hat.
diese Vorschläge und Vorstellungen der Opposition
vorgetragen hat. Insofern ist es dank einer Koalitionsbildung, die die
(Abg. Dr. Martin: Welche Soziologenschule entsprechende Mehrheit gerade für diese Politik
war es denn?) sicherstellt, nun endlich möglich geworden, in un-
serem Lande etwas zu tun, was für die Entwicklung
— Die Frankfurter Schule. der Demokratie, für die Existenz der Demokratie
(Abg. Dr. Schober: Die war es nicht! — Abg. von entscheidender Bedeutung sein wird.
Dr. Martin: Das ist doch vorbei! Sie müssen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
eine Innovation durchmachen, Herr Moersch!
Denn in einem Land — darüber sind wir uns doch
— Abg. Dr. Schober: Das ist ja schon histo
hoffentlich im klaren, meine Damen und Herren —,
risch geworden!)
das auf dem Wege demokratische Verfassungen
— Herr Dr. Martin, vielleicht können Sie mich auf- erhält, wie es Deutschland in seiner Geschichte
klären. Sie sind ja heute ein großer Aufklärer ge- immer widerfahren ist, d. h. als Folge von verlore-
wesen, was die Intelligenz betrifft. nen Kriegen und nicht als Folge revolutionärer de-
(Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) mokratischer Bewegungen, wie es sonst in europä-
ischen demokratischen Ländern geschehen war —
Jedenfalls muß ich sagen, daß dieser Bildungsbe- ich erinnere an Großbritannien, Frankreich und an-
richt der Bundesregierung eine hervorragende Lei- dere — mußte das Auseinanderklaffen von demo-
,

stung darstellt und ein in sich schlüssiges, konse- kratischer Verfassungsordnung, die niedergeschrie-
quentes, logisches Konzept einer Rahmenregelung ben ist, und tatsächlichem gesellschaftlichen Zustand,
für die Entwicklung des Bildungswesens in der Bun- der sich am meisten in der Struktur des Bildungs-
desrepublik Deutschland anbietet. Ich bin der Auf- wesens ausdrückt, mußte eine solche Diskrepanz
fassung, daß dieses Hohe Haus allen Grund hat, und zwischen der Idealforderung nach Demokratie in der
zwar unabhängig von der Zugehörigkeit zu den Verfassung und der Praxis hierarchischer, vielfältig
Fraktionen —, Herrn Minister Leussink und seinen ständisch gegliederter Bildungsstrukturen zu genau
Mitarbeitern, nicht zuletzt auch Frau Staatssekretä- den Spannungen führen und hat dazu geführt, die
rin Dr. Hamm-Brücher, für diese hervorragende Ar- wir in den vergangenen Jahren, ganz besonders
beit zu danken. während der Zeit der Großen Koalition, in dieser
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Bundesrepublik Deutschland von der Jugend her zu
registrieren und sehr oft auch zu beklagen hatten.
Denn es ist nach langen Jahren vielfältiger und oft
recht privater Äußerungen — „privat" im richtig (Beifall bei den Regierungsparteien.)
verstandenen Sinne — zu dem, was man Bildungs-
reform nennt, hier doch eine Art Zeichen gesetzt Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abge-
worden, und wir müssen uns in der künftigen Dis-
kussion dessen, was wir tun wollen, an diesen Be- ordneten Dr. Probst?
richt halten.
Dr. Probst (CDU/CSU) : Herr Abgeordneter
Ich sehe allein aus dem stetigen, unübersehbaren Moersch, was verstehen Sie eigentlich unter stän-
Wandel, der sich in einigen Ländern in diesem Be- dischen Gliederungen in unserem Staat? Dieses
reich vollzieht, und auch aus dem Wandel, der in Wort wird ständig gebraucht. Können Sie den Be-
einigen Passagen — das muß man doch hervorhe- griff einmal ein bißchen konkret erhellen?
4032 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Moersch (FDP): Herr Kollege Dr. Probst, das - ganz


wird und ihnen gesagt wird, es sei eigentlich
will ich gern tun. Da müssen wir uns einmal eine gut, daß nicht soviel für die Bildung und Weiter-
ruhige Stunde aussuchen. bildung geschehe, weil sonst ihre eigenen Kinder
(Abg. Dr. Probst: Nein, jetzt! Ein Beispiel!) ihnen ja künftig fremd würden, da sie selbst auch
nur die Volksschule besucht hätten. Das ist eines
— Ich will Ihnen das ein bißchen erklären. In der der Argumente, die Sie draußen hören können.
bayerischen CSU gibt es Mitglieder, die uns im
sogenannten Dokumentationszentrum in Madrid vor (Beifall bei den Regierungsparteien. —
zwölf Jahren die Vorstellung einer Demokratie Zurufe von der CDU/CSU.)
verkündet haben, die exakt auf den ständischen und — Das wollen Sie doch hoffentlich nicht bestreiten?
ständestaatlichen Vorstellungen, wie sie sich in Por-
(Abg. Dr. Schober: Ja, das bestreiten
tugal darboten, aufgebaut waren. Es gibt in Ihren
wir! — Weiterer Zuruf von der CDU/CSU:
Kreisen eine Reihe von Leuten, die etwa einer
Es lohnt nicht!)
Stiftung angehören, die sich irrtümlicherweise
Deutschlandstiftung nennt, und die das Ideal eines So weltfremd sind wir ja nicht. Wir kennen unsere
ständischen Aufbaus unseres Staates vertreten, das Pappenheimer, und wir wissen, wie sie sich je-
weit entfernt ist von dem, was in den Grundrechten weils auf ihr Publikum einzustellen pflegen.
unserer Verfassung steht. (Abg. Dr. Schober: Das ist doch eine Unter
(Beifall bei den Regierungsparteien.) stellung!)
Und es gibt unter den bildungspolitischen Leitsätzen, — Herr Dr. Schober, Sie sind im Zweifel in einem
die Sie früher vor allem in der CSU, aber auch in solchen Fall überhaupt nicht gemeint. Ich kann mir
diesem Hause schon vorgetragen haben, eine ganze gar nicht vorstellen, daß ein Verleger so einfach
Reihe von Komponenten — im Laufe dessen, was argumentieren würde; das gibt es gar nicht. Aber
ich zu sagen habe, komme ich noch mit Einzelbei- daß es andere gibt, die das tun wollen, werden Sie
spielen darauf, daß hier noch Relikte vorhanden hoffentlich nicht bestreiten.
sind —,
(Abg. Dr. Schober: Ja, das bestreite ich!)
(Abg. Dr. Probst: Relikte!)
— Na gut, dann bestreiten Sie es; dann sind wir
bei denen man einfach übersehen wollte, daß die
verschiedener Meinung. Das ist ja auch schon ein-
Forderungen nach Chancengleichheit eben nicht mit
mal eine Feststellung.
einer quantitativen Ausweitung des bisherigen
Systems zu verwirklichen ist, sondern daß die quan- (Abg. Dr. Schober: Dann müssen Sie es
titative Ausweitung dieses Systems soziokulturelle auch beweisen!)
Milieusperren überhaupt nicht verhindern kann, — Ich habe das soeben zitiert. Soll ich Ihnen Namen
sondern im Gegenteil noch verfestigen wird. nennen oder nicht? Sie lesen doch hoffentlich auch
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Lokalzeitungen und nicht nur Weltblätter, wie ich
annehme.
Es ist doch eine Tatsache, daß die Parole — Herr
Professor Leussink hat es mit den Lesebüchern et- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
was anders umschrieben —: „Arm, aber reinlich" parteien. — Zuruf von der SPD: „Bild" und
und „nicht zu viele Akademiker", damit die anderen „Welt"!)
die richtigen Arbeitskräfte bleiben, leider nicht nur — Ja, eben. — Dann werden Sie wohl finden, daß
von vorgestern ist, sondern gestern noch vertreten solche Äußerungen täglich getan werden, weil sie
wurde und zum Teil heute noch vertreten wird. Es der Volksmeinung und leider auch dem Volks-
gibt z. B. Kollegen der CDU — im Landtag Baden empfinden entsprechen.
Württemberg gibt es zwei, die das gelegentlich
tun —, die jetzt den besonderen Wert — sozusagen Ich bin zu diesem Exkurs gezwungen worden, weil
als Gegenprogramm zur Erweiterung des Hoch- Herr Dr. Probst diese Frage gestellt hat. Herr Dr.
schulwesens; als ob das eine Alternative wäre! — Probst, ich frage mich immer, wieso Sie solche Ant-
der Berufsschulen -- alter Art selbstverständlich —, worten nicht selber wissen können. Sie sind doch in
der allgemeinen Berufsausbildung und überhaupt Bayern zu Hause;
des beruflich-ehrlichen Daseins gegenüber den (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
bösen Studenten uns öffentlich verkünden. Das parteien.)
nenne ich einen Geist, der dem Demokratieverständ-
nis widerspricht, das Liberale und diese Koalition Sie wissen doch, was dort auf diesem Gebiet ver-
hier im Hause zu vertreten haben. zapft wird.

(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Probst: Sie sind die Antwort
schuldig, Herr Moersch!)
Es ist eben doch ein großer Unterschied, ob Sie
hier — und die Sp re cher, die dem Wissenschafts-
ausschuß angehören und deren Mitarbeit dort wir Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege
hoch schätzen in der Form rationaler Argumen- Moersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
tation bildungspolitische Inhalte und bildungs- Herrn Abgeordneten Dr. Schober? — Bitte!
politische Strukturvorstellungen vortragen oder ob
im Stile des Feld-Wald-Wiesen-Agitators auf dem Dr. Schober (CDU/CSU) : Herr Kollege Moersch,
Lande den Leuten jeweils nach dem Munde geredet ist Ihnen entgangen, daß der Begriff des Stände-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4033
Dr. Schober
staates dem Vokabular der 20er Jahre angehört, daß pen gemeint habe, wenn ich ständestaatliche Vor-
-
er eine nichtparlamentarische Form des Staates be- stellungen meinte. Sie wissen doch ganz genau,
deutet und daß es keine demokratische Partei in un- was hier gemeint war: Reichswirtschaftsratsmodelle
serem Staate gibt, die nach dem Kriege versucht und anderes mehr. Die Weimarer Republik hat doch
hat, einen Ständestaat wiederaufzubauen? solche Relikte gehabt,
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Probst: Wir sind doch nicht in
Weimar! — Abg. Dr. Schober: Othmar
Moersch (FDP) : Also, Herr Dr. Schober, da muß Spann ist tot!)
ich Ihnen sagen: dann sind wir offensichtlich über und sie ist doch nicht gut dabei gefahren, daß man
die Tragweite des Begriffes verschiedener Meinung. diese Dinge tradiert hat. — Herr Dr. Probst, Sie
(Abg. Dr. Probst: Wahrscheinlich!) haben das große Vergnügen, daß Sie damals noch
nicht im Bundestag waren. Es hat in diesem Haus
Ich habe in diesem Hause als Berichterstatter bei eine ganze Menge von Leuten gegeben, die mit
der Presse allerdings — eine Menge Kukolores ge- diesen Vorstellungen gelebt haben, weil sie Demo-
rade aus den Reihen der CDU/CSU auf diesem Ge- kratie-Verständnis aus dem Obrigkeitsstaat be-
biet gehört, zogen und geglaubt haben, daß es da einen Kompro-
(Beifall bei den Regierungsparteien) miß gebe.
z. B. über die Einrichtung von Wirtschaftsräten, von (Beifall bei den Regierungsparteien.)
besonderen Einrichtungen, die das Parlament dena- Nun sind wir genau an dem Punkt, der mir bei
turieren sollten, weil die gesellschaftlichen Gruppen dieser Bildungsdebatte so wichtig ist.
autonom werden sollten, und ähnliches mehr. Das
alles ist von Ihnen und von Ihren Freunden in die- (Abg. Dr. Schober: Othmar Spann ist schon
sem Hause früher schon vorgetragen worden. Das lange tot!)
wollen Sie doch hoffentlich nicht bestreiten. Jetzt stellt sich nämlich heraus — allein durch Ihre
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Intervention hier —, daß wir tatsächlich 20 Jahre
zu spät dran sind, wenn Sie so wollen, mit der
Da stecken sicher Ideen dahinter, deren Verfechter
Frage der Grundlagen unseres Erziehungs- und Bil-
eben diese ständische Ordnung noch vertreten und
dungswesens im Verhältnis zur Demokratie in
so getan haben, als ob es heute noch möglich wäre,
Deutschland. Es ist kein Vorwurf, wenn ich sage,
diese Gruppen überhaupt abzugrenzen, was ja längst
daß das 1949 nicht geschehen ist. Wir hatten andere
nicht mehr der Fall war.
Sorgen. — Ich komme am Schluß noch auf eine Be-
merkung des Kollegen Martin, die mich stutzig
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege gemacht hat. — Aber es ist doch ein Wahnwitz
Moersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage? gewesen, daß sehr viele Kräfte in diesem Lande
geglaubt haben, man könne diese eminent entschei-
Moersch (FDP) : Ja, Frau Präsidentin, wenn das dende Frage aus der Verantwortung des Gesamt-
auf die Redezeit entsprechend angerechnet wird. staates und des Gesamtparlaments und der Bundes-
regierung herauslassen und könne sie elf Ländern,
ihrer alleinigen Zuständigkeit und Hoheit über-
Vizepräsident Frau Funcke: Wird verlängert.
tragen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Dr. Kotowski (CDU/CSU) : Herr Abgeordneter
Moersch, nach der von Ihnen soeben gegebenen Das ist kein Vorwurf gegen die Länder. Aber dieses
Definition des Ständestaates ist also die Tarifauto- Verständnis in einer so wesentlichen Frage beruhte
nomie ständestaatlich, reaktionär, faschistisch oder doch einfach darauf, daß man im Grunde von einer
was auch immer? — Würden Sie das bitte interpre sehr alten deutschen Tradition ausgegangen ist, die
tieren; denn hier ist ja von einer gesellschaftlichen darin bestand, daß es im Jahre 919 zunächst ein-
Gruppenautonomie die Rede. mal die Länder, ich muß mich berichtigen: die
Herzogtümer, und dann erst den übergeordneten
Verband gab und daß 1000 Jahre später, nach 1945
Moersch (FDP): Herr Professor Kotowski, jetzt die eigentliche Basis der Staatlichkeit wiederum die
muß ich Ihnen einmal eine Antwort geben, die Sie Länder gewesen sind.
vielleicht überraschen wird. Ich habe von einem
Professor der Geschichte — einem Kollegen von (Abg. Dr. Probst: Na und?)
Ihnen — mal gehört, daß es eigentlich richtig wäre, In einem Land, das zu einem größeren Europa
die Möglichkeiten der Reife in einem Examen eines kommen "will, in dem wir einen gesamtstaatlichen
Kandidaten nicht nach seinen Antworten zu beur- Willen auch im Bildungs- und Erziehungswesen
teilen, sondern nach der Intelligenz der gestellten brauchen, kann das eben nicht gutgehen. Es führt
Frage. zu Spannungen und Ungerechtigkeiten, jedenfalls
(Heiterkeit und Beifall bei den zu einer Verhinderung der Chancengleichheit, die
Regierungsparteien.) unsere Verfassung nun einmal aus gutem Grund
Es kann Ihnen doch offensichtlich überhaupt nicht vorschreibt. Wären wir in den Vereinigten Staaten,
entgangen sein, daß ich genau die Aushöhlung der wäre die Bundesrepublik ein Kontinent, könnten
parlamentarischen Demokratie durch Übertragung wir es uns vielleicht leisten, zwischen einem Staat
von staatlichen Rechten auf gesellschaftliche Grup wie Kalifornien und einem Staat wie New York
4034 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Moersch -
ein solches Gefälle in den Lebenschancen zu haben. Ich weiß auch, was „Priorität" heißt. Aber sagen Sie
Da wir aber in der sehr kleinen Bundesrepublik mir doch einmal, was eine „oberste" und was eine
Deutschland leben, können wir es uns nicht leisten, „hohe" Priorität ist, wenn Sie hier schon etwas defi-
die bildungspolitische, die pädagogische Provinz in nieren! So etwas haben Sie nämlich in Ihrem Antrag
einer Weise mißzuverstehen, wie es in den ver- geschrieben. Nur soviel hierzu.
gangenen 20 Jahren sehr oft geschehen ist. Ich möchte dazu eine zweite Bemerkung machen,
(Abg. Dr. Probst: Wo ist die?) nämlich zu der — Herr Kollege Lohmar hat es dan-
Es ist das Verdienst dieser Bundesregierung und, kenswerterweise schon angeschnitten — immer wie-
wie ich meine, auch das Verdienst der Freien Demo- der gehörten Unterstellung, daß zwischen einem
kraten, daß sie unablässig auf diese Thematik hin- nach demokratischen Gesichtspunkten geordneten
gewiesen haben und wenigstens zu Verfassungs- Bildungswesen und dem Leistungsgedanken eine
änderungen beitragen konnten, die uns ein Stück Kluft, ein unauflösbarer Gegensatz bestehe.
weitergebracht haben, Verfassungsänderungen, die (Abg. Dr. Martin: Eine Dialektik
Sie alle mit in die Verantwortung nehmen. Wenn wenigstens!)
ich sage: Sie alle, dann muß ich beklagen, daß nicht Wir wollen — das ist in den Vorschlägen, die von
nur bei der Opposition, sondern auch bei meiner den Freien Demokraten zum Aufbau des Bildungs-
eigenen Fraktion und bei der SPD diejenigen, die wesens gemacht worden sind und die dankenswerter-
jetzt einmal zuhören müßten, wenn z. B. von Priori- weise in wesentlichen Teilen Eingang auch in den
täten bei der Finanzierung gesprochen wird, abwe- Bildungsbericht gefunden haben, sehr deutlich ge
send sind. worden — gerade auf der Basis der Gleichheit der
(Abg. Wehner: Sehr wahr!) Startchancen, der Chancen überhaupt, durchaus die
Möglicherweise ist ihnen das unangenehm, weil Leistungsdifferenzierung fördern. Wir glauben, daß
nämlich Priorität auf diesem Gebiet heißt, daß man wir sogar zu einer Förderung des Leistungswillens
woanders etwas kürzertreten muß. kommen werden, wenn dies auf der Basis einer
(Zustimmung bei den Regierungsparteien.) fairen Wettbewerbssituation geschieht. Zunächst
war und ist es aber notwendig, die Wettbewerbsbe-
Die CDU löst das Problem neuerdings verbal auf dingungen überhaupt erst einmal anzugleichen, um
sehr elegante Weise. zu einer gerechten Leistungsdifferenzierung kommen
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo?) zu können.
Ich habe vorhin Ihre Anträge gelesen. Neuerdings (Zustimmung bei den Regierungsparteien.)
wird, offensichtlich unter. Betonung dessen, daß nicht Wer weiß, nach welchen Gesichtspunkten heute
alle Leute wissen, was „Priorität" auf deutsch heißt, Examina abgenommen oder benotet werden und
(Heiterkeit) wie es mit dem steht, was man „Leistung" nennt
und was dabei prüfbar ist, dem wird auch klar,
von „obersten" Prioritäten, nämlich für die Lehrer- was es bedeutet, daß wir etwa die Überbetonung
ausbildung, und von „hohen" Prioritäten für die bestimmter mehr theoretischer Fähigkeiten und Ver-
Vorschule gesprochen. Das erinnert mich ein bißchen anlagungen gegenüber den praktischen Fähigkeiten
an die Definition der dreifachen Art von Wahrheit, und Veranlagungen durch den Aufbau eines neuen
die wir in diesem Hause auch schon einmal gehört Bildungswesens und eine neue Wertung ausgleichen
haben. wollen. Ich meine, das ist wichtig für sehr viele El-
(Heiterkeit bei den Regierungsparteien. — tern, die vor der Entscheidung stehen, welchen
Abg. Wehner: Sehr wahr!) Schulzweig etwa ihre Kinder besuchen sollten oder
Das ist die feine Abstufung, die Sie offensichtlich welche Art von Berufsausbildung sie haben müßten.
deswegen wagen, weil Sie die wirkliche Priorität (Abg. Dr. Schober: Aber das wäre schon ein
hier nicht deklarieren wollen. Etwas kann also nur Bildungsinhalt, Herr Moersch!)
an erster Stelle sein, und so kann es jedenfalls nicht - Zum Bildungsinhalt komme ich gleich, Herr Dr.
sein. Diese rein sprachlichen Feinheiten zeigen Schober. Das ist eben ein Irrtum. Es ist noch lange
schon, wie schwer Sie sich tun, wirklich Prioritäten kein Festlegen eines Bildungsinhalts, wenn ich sage,
zusetzen. daß diejenigen, die bisher in unserem Bildungs-
(Abg. Dr. Kotowski: Herr Kollege, „prior" wesen durch bestimmte Prüfungsordnungen sozu-
ist ein Komparativ und heißt nicht „der sagen benachteiligt gewesen sind, entweder weil sie
erste" ! — Gegenruf der SPD: Sondern „der vom Elternhaus her nicht die nötigen sprachlichen
andere" ! — Heiterkeit.) Fähigkeiten mitbekommen haben oder weil ihre Be-
— Herr Professor Kotowski, dieser Zuruf ist mir gabung mehr technisch-praktischer Art gewesen ist
zu meinem großen Bedauern entgangen. Ich habe und sie damit allein etwa in der Benotung der ver-
ihn akustisch nicht ganz verstanden. Ich werde das schiedenen Fächer unterbewertet worden sind, da-
nachprüfen. durch aufgewertet werden müssen, daß wir den
Wert der berufspraktischen Bildung gleichsetzen mit
(Abg. Dr. Kotowski: Herr Kollege, Sie ver
dem, was man theoretische und sprachliche Bega-
wechseln „prior" und „primus" !)
bung und Bildung nennt. Das ist doch ein ganz we-
— Ich weiß, was ein Prior ist. Das ist mir in diesem sentliches Element.
Zusammenhang durchaus bekannt. (Abg. Dr. Schober: Das ist gut, aber das ist
(Heiterkeit und Zurufe von der CDU/CSU.) Bildungsinhalt!)
Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4035
Moersch
— Entschuldigung, so weit können wir wohl vom -
geben wollen, als diese Koalitionsregierung. Es geht
Staat her gehen. Ich will das gleich abgrenzen. Es darum, daß wir uns nicht befugt fühlen, hier über
muß sichergestellt sein, daß jemand, der Sicherheit einen gewissen Mindestrahmen hinauszugehen, und
in seiner beruflichen Tätigkeit erlangt und beruf- daß wir den Kräften in Wissenschaft und Gesell-
liche Erfahrungen gewonnen hat, der über eine in- schaft — den Eltern beispielsweise, den Lehrern und
nere Sicherheit verfügt, bestimmte Probleme bewäl- anderen — selbst zutrauen wollen, daß sie die In-
tigen und lösen zu können, der — etwa im Zuge halte im einzelnen bestimmen. Ja, ich gehe so weit,
einer Berufsausbildung — systematisch vorgehen zu sagen, daß wir uns eines Tages — und zwar
gelernt hat, auf Grund dieser Eigenschaften in ähn- eines nahen Tages — entscheiden müssen, ob wir,
licher Weise reif ist für eine Weiterführung im Bil- wie ich das hier ein bißchen herausgehört habe, ein
dungswesen wie ein anderer, der das sozusagen von zentralistisches System haben möchten, das bis ins
der Theorie her gelernt hat. Das scheint mir einer einzelne Bildungsinhalte einschließlich der Lehrplan-
der wesentlichen Inhalte zu sein, die in diesem Bil- inhalte definie rt , oder ob wir nicht endlich dazu
dungsbericht ja leicht zu erkennen sind. kommen wollen, lediglich die Zieldefinition dessen
Ich möchte nun zu dem kommen, was Herr Dr. vorzunehmen, was wir etwa unter „Reife" ver-
Martin hier aufgeworfen hat — Herr Dr. Lohmar ist stehen, wobei wir ,den Lehrern im Zusammenwirken
darauf schon eingegangen —, als er meinte, daß die mit den Eltern, der Wissenschaft, der Pädagogik —
Bildungsinhalte vernachlässigt worden seien, daß oder, wenn Sie wollen, Lehrerkonferenzen in grö-
im Bericht zu wenig über sie stehe. Ich bin da ganz ßerem Stil, etwa einer Bundeslehrerkonferenz; in
anderer Meinung. Ich meine, es steht genau so viel Weimar gab es ja einmal einen ähnlichen Versuch,
der allerdings nicht sehr gelungen war — dann
darin, wie in einer pluralistischen Gesellschaft, in
einer Demokratie von einer Regierung überhaupt überlassen müssen — etwa parallel zu dem, was
gesagt werden kann. der Juristentag tut —, in einer freien Diskussion
über Erfahrungen und wissenschaftliche Kenntnisse
(Abg. Dr. Martin: Stimmt genau! Das steht im einzelnen zu bestimmen, was innerhalb der ge-
bei uns auch!) gebenen Zielsetzungen, die im wesentlichen von
— Herr Dr. Martin, wenn bei Ihnen genau das der Verfassung selbst bestimmt werden, in den
gleiche steht oder sogar genausoviel, dann frage ich Einzelschulen überhaupt möglich ist, damit wir dann
mich, weshalb Sie sich da von uns abgesetzt haben. von der reinen Wissensvermittlung nach Vorschrift
wegkommen und die Kinder wirklich in dem Sinne
Dr. Martin (CDU/CSU) : Herr Moersch, das ist erziehen, daß sie selbständig und selbstverantwort-
eine kleine Vereinfachung. Ich habe gesagt, das lich handeln können, indem man ihnen Alternativ-
Bildungsziel muß gerade in der Lage, in der sich angebote in großer Zahl macht, und zwar nicht nur,
die Menschen heute befinden, detailliert gestaltet um etwa dem Lehrer die Arbeit zu erleichtern —
werden. Und ich wollte eben durch den Zwischen- darum ginge es gar nicht —, sondern auch, um die-
ruf klarmachen, daß das durch eine pluralistische jenigen, die heranreifen, als Bürger — auch als
Gesellschaft abgedeckt ist. Staatsbürger — an die Problemstellungen heranzu-
führen und sie in Verantwortungen auch beispiels-
weise über den Lehrinhalt selbst hineinzustellen,
Vizepräsident Frau Funcke: Würden Sie bitte
um sie damit auch entscheidungsfreudig zu machen.
eine Frage stellen und keine Erklärung abgeben!
Das scheint mir ein Kriterium zu sein, das für die
Demokratie außerordentlich wichtig ist.
Dr. Martin (CDU/CSU) : Entschuldigen Sie, Frau
Präsidentin! (Beifall bei' den Regierungsparteien.)
So sehen wir ein Bildungswesen, das politische
Moersch (FDP) : Ich hatte doch den Eindruck ge- Bildung nicht als Fach allein zum Inhalt hat, sondern
wonnen, daß Sie im Grunde — — als durchgehendes Prinzip. Daß man es gerade schon
(Abg. Dr. Martin: Das ist ein liberales Vor an der Bestimmung bestimmter Bildungsinhalte in
urteil!) der Schule selbst erprobt, das mag dem einen oder
anderen etwas zu weit gehen, aber sie sind — —
— Nein, das ist kein liberales Vorurteil. Liberale
haben viel weniger Vorurteile, als Sie gelegentlich (Abg. Dr. Schober: Zu theoretisch sein!)
annehmen. — Das ist gar nicht theoretisch. Wenn Sie auf diesen
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist das erste Weg gehen — und Sie sind ja offensichtlich alle
Vorurteil! — Abg. Dr. Martin: Das weiß bereit, ihn zu gehen —, der hier mit der differenzier-
man nie so genau von sich selbst!) ten Gesamtschule oder der offenen Schule, wie wir
gesagt haben, was die liberale Form der Gesamt-
— Herr Dr. Martin, das war eine deutliche Erklä-
schule ist, mit der Gesamthochschule, mit einer Inte-
rung. Sie sind in dieser Sache vom Fach, wie ich
gration der Berufsbildung, d. h. mit einer Gleichstel-
zugeben muß. Aber es lebt sich gelegentlich — den lung der Berufsbildung mit der Allgemeinbildung,
Eindruck hatte ich, wenn ich Redner aus Ihren Rei-
wie wir sie früher gekannt haben, nicht in der ein-
hen hörte — doch mit den Vorurteilen offenbar ganz
zelnen Form gleichgestellt, aber im Inhalt jedenfalls,
angenehm.
wenn Sie diesen Weg gehen, dann müssen Sie kon-
Hier geht es darum, daß Sie offentsichtlich weni- sequenterweise zu dieser vollen Dezentralisation
ger Vertrauen in die Mündigkeit derer haben, denen kommen und müssen den Staat herauslassen, ob der
wir dieses Bildungswesen in eigene Verantwortung „Kultusminister" heißt dort „Bundesminister" oder
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wie auch immer, oder Landtag oder Bundestag. Sie praktiziert. Wir können es vor allem deswegen- nicht
müssen den Staat herauslassen, wo immer es mög- erwarten, weil ja niemand diese Generation auf
lich ist, und müssen es wagen, den Kräften, die hier diese Sache vorbereitet hat. Aber die Frage ist doch,
selbst beteiligt sind, die Bestimmung der Inhalte im ob ich deswegen, weil die Betroffenen — nicht nur
Einzelfall voll zu überlassen. Es kann sehr wohl die Studenten und die Schüler, sondern auch die
sein, daß wir dann mehr zu einem gelockerten Lehrer und Dozenten — auf diese Art von Mitver-
System privater Einrichtungen und staatlicher Ein- antwortung und Mitwirkung von Kooperations-
richtungen kommen. Das hielte ich nicht für einen modellen durch keine Erziehung früher und jetzt
Schaden, sondern möglicherweise für ein großes vorbereitet worden sind, die ganze Sache fallen-
Glück. Dann werden wir nämlich den Pluralismus lasse oder ob ich gewissermaßen die Leute zunächst
wirklich praktizieren, der so schwer in diesem Lande mal ins kalte Wasser springen lasse oder werfe und
zu praktizieren ist, obwohl er sich so leicht gelegent- darauf vertraue, daß sie sich hier behaupten kön-
lich hinschreibt und obwohl er in der Verfassung nen, daß sie lernen, sich sachgerecht zu verhalten.
praktiziert ist. Wenn es schon fast unmöglich ist, Ich habe jedenfalls in meinem Leben die Erfahrung
etwa im Strafrecht, einen Consensus über bestimmte gemacht — das ist noch nicht so sehr lange her, aber
Ansichten zu finden, wieviel schwerer wird und es genügt für diesen Fall —, daß man gerade zu
müßte es dann sein, die Bildungsinhalte im einzelnen jungen Leuten und überhaupt in der Gesellschaft
so zu beschreiben, wie es hier von der Opposition ein hohes Maß an Vertrauen in die Verantwortlich-
vorgeschlagen worden ist. keit investieren muß, um zu selbstverantwortlicher
Verhaltensweise zu kommen. Ich bitte Sie, hier auch
gewisse Schwierigkeiten, die da und dort entstehen
Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie mögen, nicht überzubetonen. Wir wissen sehr wohl,
eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Schober? daß wir genau auf die Einhaltung der gebotenen
Grenzen achten müssen. Das kann für einen Libe-
Dr. Schober (CDU/CSU) : Herr Kollege Moersch, ralen nur heißen, daß hier ganz klar der Begriff der
haben Sie die Zuversicht, daß Ihre ja sehr liberale, Freiheit zu definieren ist, nämlich daß Freiheit des
ich möchte nicht sagen: liberalistische Meinung zu einzelnen dort aufhört, wo die Freiheit des anderen
möglichen Bildungsinhalten von Ihrem Koalitions- berührt ist. Das ist ein klarer Fall. Daß das im gan
partner auch in Zukunft geteilt wird? zen nicht mechanistisch vor sich gehen kann, wissen
wir ebenfalls. Aber ich meine, Sie verhalten sich hier
Moersch (FDP) : Herr Kollege Schober, die Sorge etwas retardierend und möchten im Grunde genom-
brauchen Sie sich gar nicht zu machen. men nicht darangehen. Überhaupt stelle ich fest, daß
(Beifall bei der SPD.) heute bei der Stellungnahme der Opposition inso-
fern ein gewisser Wandel gegenüber früheren Stel-
Sie haben soeben von Dr. Lohmar gehört, daß die lungnahmen eingetreten ist, als Sie von der Oppo-
sozialdemokratische Fraktion diesem Bildungsbericht sition sich doch sehr stark unseren Grundvorstellun-
voll zustimmt, und Sie haben von ihm über Demo- gen anpassen, aber im einzelnen eben ein bißchen
kratie und Leistung einiges gehört, was selbstver- bremsen möchten. In anderen Fällen — Herr Dr.
ständlich die Ansicht der Liberalen ist. Ich kann nur Lohmar hat es betont — haben Sie plötzlich sehr in
sagen, daß hier der Consensus zwischen den beiden die Zukunft weisende Vorstellungen entwickelt —
Koalitionspartnern größer ist und fast vollständig ist ohne konkreten Inhalt, aber immerhin!
gerade in dieser Frage, jedenfalls weit größer, als
Ich habe allerdings den Eindruck, daß Sie die
er zwischen uns und Ihnen, solange wir in der
Sache jetzt nach einem Verfahren praktizieren —
Koalition waren, jemals sein konnte. weil Sie ja im ganzen keine Alternative bieten kön-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. nen —, das man aus der Massenpresse kennt. Dort
Dr. Martin: Das müssen Sie sagen!) gibt es die berühmten Meister der zweiten Welle.
Das ist übrigens gar nichts Neues. Das war 1949 in Das sind diejenigen, die mit der Behandlung eines
allen klassischen Bildungsfragen in den Ländern so; Themas warten, bis es von jemandem, der der Katze
das wissen Sie ganz genau. Da bestanden immer erst einmal die Schelle umgehängt hat, in die Öffent-
_deutliche Unterschiede zwischen FDP und CDU. lichkeit gebracht worden ist. Wenn bei dem Thema
sozusagen der Durchbruch von denen geschafft ist,
Nun komme ich zu dem Punkt, wo Herr Dr. Mar- die sich dafür prügeln lassen müssen, kommen die
tin zwar allgemein, aber nicht konkret gewesen ist. anderen und nehmen sich dieser Thematik an, weil
Auch über die Frage der Mitverantwortung, der Mit- sie wissen, daß bereits eine bestimmte Grundpopula-
bestimmung, hat er eine wunderschöne Formel ge- risierung erreicht ist. Dieses Verfahren ist im Schwä-
funden, über Demokratisierung und anderes mehr. bischen als Weisheit der sieben Schwaben sehr ge-
Ich glaube, wir müssen doch endlich einmal davon läufig: Joggele, geh du voran! Das ist eine bewährte
loskommen, das nur unter, wie gesagt, formalisti- Parole aller vorsichtigen Menschen, nur politische
schen Gesichtspunkten zu sehen, sondern wir müs- Führung ist das nicht.
sen auch hier ein bestimmtes Maß an Vertrauen in-
vestieren. Wir können aber nicht erwarten, wenn (Heiterkeit und Beifall bei den
wir neue Formen der Mitverantwortung in Schule Regierungsparteien.)
und Hochschule einführen, eine Mitbeteiligung etwa Da möchte ich Sie daran erinnern, daß Sie in Ihren
funktionaler Art, was ja insgesamt vorgesehen ist, Reihen einen Mann haben, den ich heute als Redner
daß die Generation, die das jetzt zum erstenmal vermisse; das ist Herr Professor Mikat. Ich verstehe
praktizieren soll, das sofort in. der richtigen Weise gar nicht, was Sie gegen die differenzierte Gesamt-
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Moersch
schule haben. Ich habe mir sagen lassen, daß Herr -
ähnlicher Form nach dem Kriege an den Hochschulen
Professor Mikat vor sechs oder sieben Jahren die schon einmal gegeben war.
ersten Modelle dieser Art eingeführt hat. Wir müssen dabei auch bedenken, daß die so
(Zurufe von der CDU/CSU: Modelle! — wichtige Studienreform, die in dem Bericht mit Recht
Abg. Dr. Probst: Wir haben ja nichts da hervorgehoben worden ist, entscheidend von der
gegen!) Veränderung der Inhalte der Staatsexamina und
— Er war der Meinung, daß die Sache vollständig überhaupt der Examensinhalte abhängt. Es wäre
klar sei. Er hat gar nicht die Zweifel geäußert — nützlich, dort, wo überhaupt denkbar, Staatsexamen
soweit ich das sehe —, die Sie haben. Das ist die zugunsten von Universitäts- oder Hochschulexamen
Konsequenz einer Veränderung der Universitäts- abzuschaffen.
bildung, der Hochschulbildung, der Lehrerbildung Weiter ist folgendes zu unterstreichen. Das Fern-
überhaupt. Da gibt es gar kein Zurück. Das hat er studium, das, wie ich hoffe, in einer vernünftigen
getan. Ich frage mich nur: warum schicken Sie nicht Weise — nämlich als Studium im Medienverbund -
jemand ins Treffen, der diese hervorragende Erfah zustande kommen wird, sollten wir vor allem als
rung hat? Ich kann nur vermuten: weil er eben zu Mittel zur Verbesserung der Didaktik überhaupt
konsequent auf diesem Gebiet gewesen ist und ansehen. Es sollte auf die Art der Darbietung im
Ihre Bedenken keineswegs teilt. Es wäre jedenfalls gesamten Bildungsbereich einwirken, und seine Be-
interessant, das einmal hier zu erfahren. deutung sollte weniger in der Entlastung liegen, die
sich manche Leute davon versprechen und die sicher-
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege lich so schnell nicht eintreten wird.
Moersch, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Die Neugliederung des Hochschulwesens und die
Abgeordneten Dr. Schober? regionale Verteilung haben einen eminent wichtigen
Effekt in der Herstellung der Chancengleichheit
Moersch (FDP) : Ja. nach Regionen, d. h. zu weilen ein wichtiges Mittel
der Regionalpolitik sein. Es wäre schön, wenn man
Dr. Schober (CDU/CSU) : Herr Kollege Moersch, die Hochschulorte so lokalisieren könnte, daß künf-
sollten Sie Herrn Kollegen Martin wirklich so miß- tig die Fahrtwege zum Hochschulort für den einzel-
verstanden haben, daß Sie der Auffassung sind, er nen Studierenden nicht mehr als 50 oder 60 km be-
habe dezidiert die Gesamtschule für schlecht gehal- tragen.
ten? Haben Sie nicht gehört, daß er gesagt hat, es Ein letztes noch zu Dr. Ma rt in. Er hat wieder ein
müsse in der Ausbildung dieses Modells vorsichtig Lieblingsthema hochgebracht, nämlich die Bedarfs-
vorgegangen werden, es müßten Erfahrungen ge- forschung und die Bedarfsfeststellung für Akade-
sammelt werden und es könne auch die Möglichkeit miker. Er hat die besorgte Frage gestellt, was wohl
bestehen, daß die Ergebnisse nicht unbedingt ermu- mit den vielen Akademikern im Jahre 1980 werden
tigend seien, sondern daß sich auch negative Fol- wird. Zunächst einmal gibt es keine Kriterien, um
gen zeigen könnten? den Bedarf in bestimmten Berufen im Jahre 1980
festzustellen. Ich glaube, das ist allgemein an-
Moersch (FDP) : Herr Kollege Schober, ich darf erkannt. Ich kann nur warnen, neue Versuche dieser
einmal ganz vereinfachend sagen, was ich für einen Art machen zu wollen, nachdem sie in den letzten
Eindruck hatte. Ich hatte den Eindruck: es war weder 25 Jahren voll gescheitert sind. Ich denke an die
heiß, noch kalt, sondern war ziemlich lauwarm. Empfehlungen 'in den 40er und 50er Jahren, nicht
(Zuruf des Abg. Dr. Martin.) Medizin zu studieren, oder noch 1948, nicht Lehrer
zu werden, weil es ein Überangebot an Lehrern
— Natürlich, so haben Sie sich hier in der Sache geben werde. Alle staatlichen Vorhersagen, wie
selbst herausgeredet. Sie haben einerseits gesagt: immer sie gewonnen worden sind, waren hier nicht
so, und andererseits: so! Das war die Stellungnahme, so ganz zuverlässig. Deswegen, glaube ich, müssen
die ich gehört habe. Ich müßte mich da sehr täu- wir uns doch endlich von der Vorstellung frei-
schen. machen, daß jeder berufsqualifizierende Abschluß —
Lassen Sie mich aber noch ein paar Bemerkungen das ist ja hier in diesem Bildungskonzept als erstes
zur Gesamthochschule machen, die mir doch von Diplom vorgesehen — unter allen Umständen auch
Wichtigkeit zu sein scheinen. Einmal ist im Zusam- genau zu dem Beruf führen solle, für den er ins-
menhang mit dem Numerus clausus die Frage der gesamt gedacht ist. Wir versuchen ja gerade mit
Eingangsqualifikation angesprochen worden. Ich der allgemeinen Weiterbildung — dazu wird nach-
glaube, auch hier müssen wir zu einer Vorstellung her mein Kollege Jung noch etwas sagen — eben
kommen — und zwar für den Eingang zur Hoch- eine zu frühe Differenzierung und zu frühe Spe-
schule überhaupt —, die anders ist als das Bishe- zialisierung zu verhindern. Wir werden dann auch
rige. Das, was mit dem Abitur II gemeint ist, müßte davon ausgehen müssen, daß es bestimmte Berufs-
doch durch die Möglichkeit zu ergänzen sein, die tätigkeiten gibt, die ein Akademiker oder ein Nicht-
bestimmte Fachqualifikation dort zu erwerben, wo akademiker wahrnimmt, wie das heute auch schon
man sie innerhalb dieses Schulabschlusses nicht be- der Fall ist, und daß dies gar nicht schlimm ist und
sitzt, aber nicht in Form eines Eingangstestes, son- keinen Verlust an finanzieller Substanz bedeuten
dern in Form einer Zusatzprüfung, die etwa nach muß, sondern daß eben die verschiedenen Möglich-
einem Jahr bei angebotenen Fachkursen abgelegt keiten, sich Qualifikation zu erwerben, offenge-
werden sollte. Das wäre eine Möglichkeit, die in halten werden müssen und daß es hier zunächst ein
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Recht auf Bildung gibt, ja auch ein Recht, wenn Sie ist man im Grunde genommen in die Irre gegangen.
so wollen, auf Überschuß an Bildung, wenn man das Es ist besser, bestimmte Schwierigkeiten noch eine
überhaupt so sagen kann. Wir sollten jedenfalls Weile anhalten zu lassen, als das alte System ein-
nicht restriktiv in diesen Prozeß eingreifen, sondern fach zu erweitern und dann in zwei oder drei oder
eher durch Information, durch Aufklärung, soweit fünf Jahren potenzierte Schwierigkeiten zu haben.
das denkbar ist, ein Fehlverhalten in größerem Dann muß man den Mut und auch die Nerven
Umfange zu vermeiden versuchen. Das ist einer der haben, etwas Richtiges neu zu beginnen und das
Punkte, die man anschneiden muß. Ich halte es also Richtige sorgfältig vorzubereiten, d. h. das Neue
nicht mit der Quantifizierung. Ich glaube, das würde richtig zu tun. Das muß man behutsam, aber ent-
nicht gut gehen. schlossen in Angriff nehmen.
(Abg. Dr. Schober: Aber Sie kennen doch Ich meine, in diesem Bildungsbericht ist der Weg
den Begriff des akademischen Proletariats!) gewiesen, der hier gegangen werden sollte. Ich
möchte Sie alle bitten, auch die Damen und Herren
— Ach, hören Sie doch auf mit dem akademischen von der Opposition, die Bundesregierung auf die-
Proletariat! Das ist doch eines der Schlagwörter, sem Wege schon deshalb zu unterstützen, weil wir
Herr Dr. Schober, die Sie selbst nicht mehr ernst sonst bei unserer schwierigen Verfassungslage die
nehmen können. Was wollen Sie eigentlich? Wollen Zusammenarbeit mit den Ländern — sie wird ja
Sie die Hochschulkapazitäten ausweiten? Sie sind nicht ganz leicht sein — unter keinen Umständen im
doch derjenige, der auch gesagt hat, der Numerus Sinne derer voranbringen können, die die Betrof-
clausus müsse abgeschafft werden. fenen von Fehlern sind, die hier gemacht werden,
(Abg. Dr. Schober: Ja!) nämlich der Kinder, die heute schon leben, und der
Kinder, die morgen geboren werden.
— Ja, bitte schön, dann seien Sie doch endlich ein-
mal konsequent und finden Sie einmal eine staat- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
liche Zugangsordnung für die Hochschulen. Dann
sind Sie diese Sorge los. Ob Sie in zehn Jahren Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
noch Ärzte haben, wird sich ja dann beispielsweise Herr Bundeskanzler.
heraustellen. Das ist doch alles nicht fundiert. Da
ist doch die Frage, was z. B. morgen irgendeiner
Mehrheit einfällt, an Qualifikationsvoraussetzungen Brandt, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Meine
für den öffentlichen Dienst zu fordern. Da liegen Damen und Herren! In dieser wichtigen Debatte
doch die Fragen. Wenn Sie das Beamtenrecht so mochte ich mich kurz zu drei Fragen äußern.
ändern, wie ich glaube, daß man es ändern muß, Erstens möchte ich sagen, daß wir die notwendigen
wenn man ein neues Bildungssystem aufbaut, dann Reformen gerade auf dem Bildungssektor als einen
werden Sie morgen ganz andere Fragestellungen kontinuierlichen Prozeß zu verstehen haben und die
haben. Sie deduzieren immer aus den Erfahrungen Probleme nicht mit einem einmaligen großen Ein-
von vorgestern und meinen, damit könne man für schnitt zu lösen sind.
übermorgen Politik machen. Das geht nicht.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Zweitens möchte ich die Interdependenz, die ge-
genseitige Abhängigkeit der reformerischen Auf-
Bisher waren jedenfalls alle Prognosen dieser Art gaben in zahlreichen Bereichen unserer Gesellschaft
ziemlich falsch. Sicher gibt es in einigen Berufen betonen und darauf hinweisen, daß wir insbesondere
Überschuß, in anderen gibt es Mängel, aber wir bei dem Zusammenhang zwischen Bildungsreform
wollen ja ein Bildungssystem aufbauen, das eben und Weiterentwicklung der bundesstaatlichen Struk-
künftig den Übergang von einer Berufstätigkeit zur tur nicht warten können, bis alle an sich notwen-
anderen erleichtert, und nicht dieses Kastensystem, digen Reformen vollständig durchdacht und beschlos-
Guckkastensystem, wenn Sie so wollen, das wir in sen sind. Wir müssen das jeweils Mögliche tun.
der Vergangenheit gehabt haben.
Schließlich liegt mir daran, die Bildungsreform als
Nun fällt mir noch auf, was Herr Dr. Martin eine Gemeinschaftsaufgabe par excellence hervor-
zusammenfassend gesagt hat. Er hat uns, da er ins- zuheben, zu deren Erfüllung insbesondere auch die
gesamt offensichtlich diesen Weg, den wir gehen Mitwirkung der Parlamente in Bund und Ländern
wollen, für richtig hält, die dringende Empfehlung von großer Bedeutung ist.
gegeben, zunächst die Mängel im jetzigen System
Nun wissen wir alle, daß die Bundesrepublik
zu beheben. Ich glaube, damit hebt sich die ganze
Deutschland in der Debatte um innere Reformen
Sache wieder auf, denn genau das haben wir ja mit
nicht allein steht. Alle Industriestaaten in West und
großem Mißerfolg in der Vergangenheit gemacht:
Ost erkennen die Notwendigkeit, angesichts der be-
erst einmal quantitativ erweitern, anschließend
schleunigten wissenschaftlich-technologischen Ent-
nachdenken. Wenn wir dann nachgedacht haben,
wicklung Reformen in ihrer Gesellschaft durchzufüh-
haben wir gemerkt, daß wir es gar nicht mehr ver-
ren.
ändern können, weil zuviel investiert ist. Siehe die
Empfehlungen des Wissenschaftsrates 1960: Aus- Die Bundesregierung ist sich darüber im klaren,
weitung der Dozentenstellen, und jetzt Schwierig- daß in unserem Staat heute nicht nur ein breites
keiten: siehe Numerus clausus. Eben weil nicht das Drängen auf Reformen zu spüren ist. Wir wissen,
System selbst verändert worden ist, sondern weil daß auch die Erwartungen groß sind. Teile der Be-
man nur Mängel im jetzigen System beheben wollte, völkerung erwarten Reformen mit chirurgischer Dra-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4039
Bundeskanzler Brandt
matik, gewissermaßen so: Der Patient wird operiert, -
realistischen Programmen für die nächsten zehn
und in kurzer Zeit ist alles in Ordnung. oder fünfzehn Jahre zu kommen.
(Abg. Dr. Martin: Amputiert!) (Sehr gut! Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Ein allgemeines Reformbewußtsein entsteht auf Aus der Gegenüberstellung und Gewichtung der
großer Breite aber leider häufig erst, wenn die Reform Programme müssen wir schließlich zur Entwick-
schon äußerst dringlich geworden ist. Dies gilt nir- lung gesamtstaatlicher Perspektiven mit klaren Pri-
gendwo mehr als auf dem Bildungssektor. oritäten und Stufen der Verwirklichung gelangen.
Die Bildung dieser Regierung vor einem Jahr be- (Abg. Dr. Martin: ,Jawohl, das stimmt!)
ruhte, wie es Kollege Genscher vor einigen Tagen So weit sind wir noch nicht, doch die gemeinsame
gesagt hat — auch Herr Kollege Moersch hat sich Bildungsplanung ist ein guter Anfang.
eben darauf bezogen —, entscheidend darauf, daß
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
die Notwendigkeit einer Anzahl großer Reformen
unserer Politik nach außen und im Innern von Freien Meine Damen und Herren, wenn ich hier jetzt
Demokraten und Sozialdemokraten gleichermaßen so oft das Wort „wir" gebrauche, so deswegen, weil
oder ähnlich gesehen wurde. Dies gilt seit langem ich mit den Regierungschefs der Länder in der Sicht
gerade im Bildungsbereich. unserer Verantwortung im Einklang zu sein glaube.
Herr Kollege Martin, ich muß auch um Verständnis
(Beifall bei den Regierungsparteien.) dafür bitten, daß die Antwort auf verschiedene Fra-
Aber, meine Damen und Herren, diese Regierung gen, die Sie aufgeworfen haben, aus meiner Sicht
kann es der Bevölkerung nicht ersparen, nüchtern und aus der Sicht der Bundesregierung loyalerweise
auf die Zeiträume hinzuweisen, die für die Durch- nicht an den Ländern vorbei gegeben werden kann.
führung der Bildungsreformen notwendig sind, so- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
wie innerhalb der Reformvorhaben auch aus finan- Dr. Martin: Natürlich!)
ziellen Überlegungen heraus Prioritäten zu setzen.
Sonst hat das ganze Vorhaben, mit dem wir jetzt
Ich muß daran erinnern, daß diese Regierung in ihrer
begonnen haben, keinen Sinn.
Regierungserklärung vor einem Jahr der Bildungs-
politik eine herausgehobene Priorität einräumte und (Abg. Dr. Martin: Völlig richtig!)
zugleich auf die Langfristigkeit der Reform hinwies. Ich möchte hier — in Anwesenheit von kompe-
(Abg. Dr. Martin: Zehn Jahre!) tenten Mitgliedern des Bundesrates — betonen, daß
die Bundesregierung und ich persönlich die bisher
Sie hat zu Beginn ihrer Regierungszeit einen Bil- gezeigte partnerschaftliche und offene Haltung der
dungsgesamtplan und ein Bildungsbudget für einen Länder sehr zu würdigen wissen. In einer Zeit, da in
langfristigen Zeitraum zu wichtigen Bausteinen ihrer verschiedenen Fragen, wie wir das ja heute auch
Arbeit erklärt. Vor uns liegt nun in den kommen- schon erlebt haben, Regierung und Opposition hier
den Monaten die große Entscheidung über den In- im Deutschen Bundestag oft hart aufeinanderstoßen,
halt dieses Bildungsplanes, für den Bund und Länder hat sich die Zusammenarbeit mit den Regierungs-
eine gemeinsame Kommission gebildet haben. Diese chefs der Länder, gleich welcher Partei sie ,ange-
Kommission muß wirkliche Entscheidungen treffen. hören, für mich erfreulich sachbezogen und koope
Sie darf zentrale Fragen, die noch streitig sind, nicht rativ gestaltet. In den Bereichen von Bildung, Wis-
ausklammern; sonst würde die Bildungskrise weiter senschaft und Forschung ist es schon gelungen, den
verschleppt werden, und genau das darf nicht ge- im Grundgesetz durch die Finanzreform verankerten
schehen. Auftrag der Gemeinschaftsaufgaben mit Sinn zu er-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) füllen. Die erfolgreiche und loyale Wahrnehmung
dieser Aufgaben ist eine Probe auf die Möglichkei-
Meine Damen und Herren, die Regierungschefs ten, Herr Kollege Lohmar, jetzt sage ich: des koope-
von Bund und Ländern haben sich die letzte Ent- rativen und . koordinierten Föderalismus, damit ich
scheidung über die Empfehlungen der Kommission nicht in meiner Wortwahl hinter dem zurückbleibe,
selbst vorbehalten. Die Konstruktion der Kommis- was Sie aus dem Vertrag des Kollegen Leussink her-
sion nimmt bewußt die Ministerpräsidenten und den ausgelesen haben. Das gilt für Bund und Länder
Bundeskanzler für die Zukunftsaufgabe „Bildung" gleichermaßen. Nur wenn die Klammer des Art. 91 b
voll in Pflicht. Wir verstehen unsere Pflicht vor des Grundgesetzes in der Praxis hält, kann der
allem als Auftrag zur Integration und Abstimmung. Versuch, den wir gemeinsam beginnen, als gelungen
Integriert werden die Zielvorstellungen, Erfahrun- gelten. Insoweit ist die gemeinsame Bildungspla-
gen und Kompetenzen von Bund und Ländern. Sie nung das Kernstück der Bund-Länder-Kooperation
werden auf einer Ebene integriert, die den gefaßten schlechthin.
Beschlüssen ein hohes Maß an politischer Verbind-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
lichkeit gibt und die Chancen für die Durchführung
der Planungen entscheidend vergrößert. Abstim- Die Regierungen von Bund und Ländern bedürfen
mung wollen und müssen wir zwischen der Bildungs- bei ihrer Planungstätigkeit der Unterstützung. Neben
planung einerseits und den konkurrierenden Kern- den Parteien, die als gemeinsames politisches Ele-
bereichen staatlicher Aktivität andererseits zu er- ment in Bund und Ländern eine besondere integrie-
reichen versuchen. Die Instrumente langfristiger rende Rolle spielen — jedenfalls spielen können —,
Planung für diese anderen Bereiche fehlen überwie- sind hier die Parlamente, Bundestag und Landes-
gend noch. Man muß sie schaffen, um auch hier zu parlamente, entscheidende Mitgestalter der Zukunft.
4040 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Bundeskanzler Brandt -
Die heutige Diskussion zeigt, wie ernst es dieses Zum einen: Sie müssen davon überzeugt sein, daß
Hohe Haus mit seiner Beteiligung an den Entschei- es hier um ein Bildungswesen für das ganze Volk
dungen der Bildungsplanung meint. Dabei bin ich geht.
mir der Spannung wohl bewußt, meine Damen und (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Herren, die durch die Perfektionierung der Instru- Deshalb kann nicht deutlich genug gesagt werden,
mente staatlicher Planung gegenüber dem Gestal- daß es hier auch und nicht zuletzt um die Berufsbil-
tungswillen der Parlamente entsteht, und ich will dung geht.
das hier offen ansprechen. Das Budgetrecht der Par- (Abg. Dr. Schober: Sehr richtig!)
lamente wird, je längerfristig Planung sein muß, um
so ergänzungsbedürftiger durch andere Formen der Jeder soll jederzeit und überall seine Chance haben.
Mitentscheidung. Weder Herkunft noch Besitz, weder Alter noch Kon-
fession, weder Wohnort noch Geschlecht soll die
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Chancengleichheit, soll das Bürgerrecht auf Bildung
einschränken.
Die Bundesregierung erwartet von dieser Diskus-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
sion, von der Meinungsbildung dieses Hohen Hau-
ses, die mit dem heutigen Tag nicht abgeschlossen Nur wenn alle dies wissen und sehen, werden auch
sein wird, eine Leitlinie auch für ihre gemeinsame alle dieses Bildungswesen mittragen wollen.
Planungstätigkeit mit den Ländern. Wenn so neben Zum anderen: In den neuen Strukturen muß auch
das Budgetrecht die aktive Einwirkung des Parla- ein neuer Geist wohnen. Gleichgültigkeit und Unlust
ments, nein: der Parlamente, nach unserer Verfas- dürfen die Reform nicht hemmen. Die Menschen in
sungsstruktur in der Bundesrepublik, auf die Struk- dem modernen Bildungssystem, das wir — es wird
turen und Inhalte des Bildungswesens tritt, dann mühsam genug sein — entstehen lassen wollen, die-
kann dies für den Erfolg und die Tragfähigkeit der se Menschen, ob Lehrende oder Lernende, sollen es
Reformplanung nur gut sein. Jedermann weiß, daß aktiv und voll in Anspruch nehmen, d. h. aus dem
die Bildungsreform nur in Zusammenarbeit von Bund Guten das Bessere machen und durch eigene Initia-
und Ländern durchgeführt werden kann. Jedermann tive und Leistung die verbesserten Bildungsmöglich-
weiß, daß sie nur durchgeführt werden kann, wenn keiten nutzen. Diese Gesellschaft, so hoffe ich, will
dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung ste- sich in einer großen, in einer dauernden Anstren-
hen werden, und jedermann weiß auch, daß noch gung ein neues und besseres Bildungswesen schaf-
geraume Zeit darüber beraten und gestritten wer- fen. Derjenige, der darin arbeitet, lehrt oder lernt,
den wird, wie wir zu einer möglichst produktiven muß diese Anstrengung, die letztlich auch seine eige-
Gestaltung oder Weiterentwicklung — wie man ne ist, als Verpflichtung erkennen.
will — unserer bundesstaatlichen Ordnung gelan-
gen. Wir sollten uns, so meine ich, durch nichts da- Bei der Bildungsreform, meine Damen und Her-
von abbringen lassen, Klarheit über den' Inhalt der ren, geht es natürlich um die Zukunftssicherung,
für die Bundesrepublik notwendigen Bildungsreform von der heute schon die Rede war. Natürlich war
sowie über die dafür erforderlichen finanziellen Aus- davon die Rede. Aber es geht dabei doch um den
wirkungen zu schaffen und die notwendigen Ent- Einzelnen und seine Chance. Gelingen kann die Bil-
scheidungen herbeizuführen. Uber Zuständigkeiten dungsreform nur mit dem Einzelnen. Das ist die
und Verantwortung sollten wir dann weiter- reden, Chance dieser Gesellschaft und dieses Staates.
wenn wir uns geeinigt haben, was wir bildungs- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
politisch für notwendig halten und was volkswirt-
schaftlich machbar ist. Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat
Herr Staatsminister Professor Hahn.
Meine Damen und Herren, die Strukturen, die wir
entwerfen, die Kapazitäten, die wir schaffen, die
Lehrer die wir ausbilden, all dies soll doch einem D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Würt-
immer größeren Teil der Gesellschaft zur Verfügung temberg: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Da-
stehen, und, Herr Kollege Martin, dies heißt, von men und Herren! Wenn ich in dieser Stunde als der
allen möglichen Theorien dieser oder jener Gruppe Kultusminister eines Landes und der derzeitige
abgesehen, für mich zunächst einmal Demokratisie- Vorsitzende des Kulturausschusses des Bundesrates
rung: das Wort ergreife, so möchte ich zunächst einmal
aussprechen: Der Versuch der Bundesregierung, ein
(Beifall bei den Regierungsparteien — Zu
Gesamtkonzept für die Bildungspolitik der nächsten
stimmung bei der CDU/CSU) Jahrzehnte vorzulegen, ist zu begrüßen. Ein auf die
daß das, was an Bildung darzustellen ist, einem zu- Zukunft bezogenes Gesamtkonzept ist eine Forde-
nehmend größeren Teil der Gesellschaft zur Verfü- rung, die ich seit sieben Jahren in Baden-Württem-
gung stehen soll. Dies kostet viel Geld. Zahlen sind berg erhoben und auch zu realisieren versucht habe.
heute genannt worden. Sie mögen nach genauer Be- Ich stimme deshalb mit dem Bemühen, ein solches
Gesamtkonzept zu erstellen, durchaus überein.
rechnung anders lauten, die Dimension ist dennoch
erkennbar. Es mindert dabei die Leistung nicht, sondern
empfiehlt sie, daß dieses Konzept nur in geringem
Wir müssen uns darüber klar sein, meine Damen Umfang eigenständig ist, vielmehr im wesentlichen
und Herren, daß unsere Bürger diese Lasten nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse des Struk-
unter zwei Bedingungen akzeptieren werden. turplans des Bildungsrates und der Empfehlungen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4041
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg
des Wissenschaftsrates darstellt, daß aber auch Re- turförderalismus und insbesondere die Kultusmi- -
formvorschläge beispielsweise von Baden-Württem- nisterkonferenz werden für alle Schwierigkeiten im
berg — etwa in der Frage des beruflichen Schulwe- Bildungswesen verantwortlich gemacht. Ich glaube,
sens oder der Erwachsenenbildung — ausgiebig ver- Herr Kollege Moersch wollte seine Ausführungen
arbeitet worden sind. Dieses Auswerten von be- ja auch in dieser Richtung verstanden wissen. Man
reits vorgelegten Arbeiten dürfte den Konsensus spricht leichthin vom Versagen der Kultusminister-
hinsichtlich der Reformmaßnahmen erheblich erleich- konferenz und fordert dann als Allheilmittel die
tern. Zentralisation im Bildungswesen.
Aber, meine Damen und Herren, erstmalig und Meine Damen und Herren! Es war ein ganz neuer
nicht unbedenklich ist, daß die Bundesregierung Gesichtspunkt, daß durch den Föderalismus etwa die
einen Bildungsbericht als ein umfassendes und de- Chancengleichheit verhindert würde. Ich würde
tailliertes Programm allein und nicht gemeinsam gern einmal nachgewiesen haben, inwiefern das der
mit den Ländern vorlegt. Auch nachdem durch Fall sein soll. Im allgemeinen wird hier ja ein ganz
Grundgesetzänderung Art. 91 b neu eingefügt wurde, anderer Vorwurf erhoben.
bleibt die wesentliche Kompetenz der Länder für das
Bildungswesen voll erhalten. Allerdings ist der Ich möchte zu diesen Vorwürfen ganz kurz fol-
Bund berechtigt, mit den Ländern gemeinsam zu gendes sagen. Zunächst einmal: Auch alle Länder
planen. Das ist notwendig, um eine einheitliche und mit zentralistischer Bildungspolitik leiden unter
in die Zukunft weisende Planung zu garantieren. den gleichen Schwierigkeiten. Es handelt sich bei
diesen Schwierigkeiten, wie der Herr Bundeskanz-
Der Bildungsbericht und auch die Ausführungen ler richtig hervorgehoben hat, um ein internatio-
des Herrn Bundesministers beteuern, daß es nur nales Phänomen, das sehr viel tiefere Wurzeln hat
ein Diskussionsbeitrag sei und die Bundesregie- als das Versagen einer dezentralisierten Bildungs-
rung ein ganz enges Zusammenwirken mit den Län- verwaltung. Deshalb würde sich der heute weitver-
dern anstrebe. Herr Bundeskanzler, ich habe mit breitete Unmut über die Notstände im Bildungswe-
großer Zustimmung Ihre Erklärungen gehört, die sen, die natürlich vorhanden sind, bei einer Zen-
Sie soeben abgegeben haben und in denen Sie ein tralisierung sofort auf die Bundesregierung verla-
sehr deutliches Ja zur bundesstaatlichen Struktur gern, während heute elf Kultusminister, jeder an
unseres gesamten Staatswesens gesagt haben. Aber seinem Stück, unter persönlichem Einsatz mit den
eine Reihe von Äußerungen und Anzeichen deutet Problemen ringen.
darauf hin, daß der Bericht mehr als ein Diskussions-
beitrag sein soll und daß die Länder zur Unterwer- Zweitens. Die wichtigste Klage ist, daß das Bil-
fung unter den Willen des Bundes genötigt werden dungswesen nicht überall gleichgeordnet ist. Meine
sollen. Damen und Herren, dabei wird zweierlei verkannt.
Neben der Forderung nach Einheit des Bildungswe-
Der neue Begriff, der hier eingeführt worden ist
sens geht ebenso laut die nach Erfüllung differen-
— Herr Kollege Lohmar hat darauf hingewiesen,
zierter Wünsche. Jede Woche fordert eine Eltern-
daß er in dem Bericht stehe —, „koordinierter Fö-
gruppe oder eine Stadt eine Speziallösung im Schul-
deralismus", wirft einige Fragen auf, die im Augen-
blick noch gar nicht ohne weiteres zu übersehen wesen und beruft sich dafür auf ihr demokratisches
Mitbestimmungsrecht. Deshalb sind nicht die Unter-
sind. Ich hoffe, daß es doch bei dem bleibt, was der
Herr Bundeskanzler jetzt gesagt hat: daß es sich schiede zwischen den Ländern, sondern die Unter-
lediglich um eine Integration und Abstimmung zwi- schiede zwischen den Schulen in den Ländern mit
schen Bund und Ländern als zwei gleichberechtigten differenzierten Programmen die Hauptursache der
Partnern im Bildungswesen handelt. Vielgestaltigkeit.

Wir haben aber auch feststellen müssen — das (Abg. Dr. Schober: Sehr richtig!)
dürfen wir aussprechen —, daß an keiner Stelle des Dazu kommt die Fülle neuer Reformüberlegungen,
Berichts und auch nicht in der Rede des Herrn Bun- die überall experimentell veränderte, aber oft auch
desministers von den großen Leistungen der Län- einmalige Lösungen vorschlagen. Wenn es gar
der beim Aufbau des gegenwärtigen Bildungswesens Wirklichkeit würde, was Herr Kollege Moersch vor-
die Rede gewesen ist, auch nicht von der Tatsache, geschlagen hat, daß die Curricula jeweils von den
daß der Weg zur Bildungsplanung durch die Bun- Beteiligten in jeder einzelnen Schule und Stadt ge-
desländer beschritten worden ist und daß es be- staltet werden sollten und es nicht Lehrpläne geben
stimmte Bundesländer gegeben hat, die als aller- sollte, die vorgeschrieben werden wollen, dann
erste den Weg der Bildungsplanung gefunden und möchte ich einmal sehen, wo die Einheit des Bil-
alle Grundlagen dafür gelegt haben. dungswesens bleibt und wie es möglich sein soll,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. von einer Schule zur anderen überzuwechseln.
Schober: Das muß einmal gesagt werden!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Auch von den unendlich vielen Schwierigkeiten, die Wenn wir es mit dem demokratischen Mitbestim-
in der Nachkriegszeit beim Wiederaufbau des Bil- mungsrecht aller am Bildungswesen Beteiligten
dungswesens von Ländern und Gemeinden bewäl- ernst nehmen, meine Damen und Herren, müssen
tigt worden sind, ist nicht die Rede gewesen. wir auch künftig mit einem Höchstmaß an Vielge-
Zweifellos, meine Damen und Herren, entspricht staltigkeit leben. Die Uneinheitlichkeit bleibt also
eine Stärkung der Bundeskompetenz einer weitver- auch bei dem Bundeskultusministerium voll be-
breiteten Stimmung in der Öffentlichkeit. Der Kul stehen.
4042 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg


Drittens. Zur Frage des Föderalismus möchte ich Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: -
folgendes feststellen — ich spreche hier quasi pro Herr Minister Hahn, gestatten Sie eine Zwischen-
domo —: Die Kultusministerkonferenz hat in der frage des Herrn Abgeordneten Lohmar?
Stille und trotz der oberflächlichen Kritik eine gute
Arbeit geleistet. D. Dr. Hahn, Staatsminister des Landes Baden
(Abg. Wehner: Welche?) Württemberg: Bitte schön!
Sie hat im Rahmen des Möglichen koordiniert und
insbesondere für das innere Schulwesen — ich nenne Dr. Lohmar (SPD) : Herr Minister Hahn, ich
beispielsweise die Neuordnung des mathematischen wollte mich bei Ihnen nur erkundigen, ob Sie Ihre
naturwissenschaftlichen Unterrichts als ein Beispiel letzte, soeben getroffene Feststellung gemacht haben
aus der letzten Zeit — schon ein gutes Stück an Re- als Präsident der Kultusministerkonferenz oder in
formen geleistet. Sie hat die Grundlage geschaffen Ihrer Eigenschaft als Minister Ihres Landes.
für eine langfristige und realistische Reform aller
Bildungsstufen, und das alles auf der Basis der frei- D. Dr. Hahn, Staatsminister des Landes Baden
willigen Koordination, getragen von der Sachkennt- Württemberg: Sie irren sich. Ich spreche überhaupt
nis und den Impulsen der Kultusministerien und der nicht als Präsident der Kultusministerkonferenz. Der
Landesparlamente. Präsident der Kultusministerkonferenz ist derzeit
Herr Kollege Vogel, — damit Sie richtig orientiert
Eine Übertragung der Entscheidungen nach Bonn
sind.
würde überdies eine Anonymisierung und Bürokra- (Abg. Dr. Lohmar: Als Vizepräsident!)
tisierung des Bildungswesens mit sich bringen.
— Ich bin auch nicht Vizepräsident, sondern ich
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) spreche hier lediglich als Landesminister und als
Mitglied des Bundesrates.
Das Maß an Verärgerung, die es heute ja in hohem
Grade gibt, würde sprunghaft ansteigen, aber es Meine Damen und Herren, man vergesse nicht: Es
würde sich nur auf die zentrale Instanz richten. gibt überhaupt noch keine integrierte Gesamthoch-
schule. Wir in Baden-Württemberg haben den Be-
(Abg. Raffert: Was für einen Pappkamera griff „Gesamthochschule" erfunden, und wir experi-
den bauen Sie denn da auf!) mentieren in diesem Augenblick die Zusammenfas-
Meine Damen und Herren, die Erfahrungen, die wir sung an unseren Hochschulen durch. Aber noch weiß
mit der Demokratisierung haben, sind sehr viel rea- niemand, was eine integrierte Gesamthochschule
listischer als die, die hier zum Teil vorgetragen sein wird und ob sie sich bewähren wird.
worden sind von Leuten, die nicht täglich mit diesen (Abg. Dr. Schober: Genauso ist es!)
Problemen in den Schulen zu ringen haben.
Trotzdem ist sie hier im Bericht schon festes und als
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Optimum empfohlenes Programm.
Huys: Vor der Klasse müßten sie stehen!)
(Zurufe von der CDU/CSU: Das spricht für
Ich möchte mich im Augenblick auf diese Probleme sich selbst! — Abg. Martin: Unwissenschaft
nicht einlassen. liche Leute sind das!)
Es sollte also gerade in einer auf dem Bildungs- b) Die quantitativen Vorstellungen über die anzu-
sektor so bewegten Zeit bei der Kompetenzvertei - strebende Entwicklung werden vom Wissenschafts-
lung des Grundgesetzes zwischen Bund und Ländern rat übernommen ohne jede kritische Analyse.
bleiben. Der Föderalismus muß zweifellos noch mehr (Zustimmung bei der CDU/CSU.)
kooperativ und funktionsfähiger werden. Aber eine
Der Bericht baut auf Zahlen auf, die zum Teil noch
grundsätzliche Verschiebung zugunsten des Bundes
unausgereift, lückenhaft und hypothetisch sind.
wäre weder der Bildungsreform dienlich noch mit
dem Grundgesetz zu vereinen. (Abg. Dr. Martin: Sehr gut!)
Meine Damen und Herren, meine zusammenfas- Diese Zahlen sind weder von der Nachfrage her
sende Kritik bezieht sich auf fünf Punkte. noch durch die Anforderungen des Bedarfs unter-
mauert, sondern auf der Basis von gesellschaftspoli-
a) Das bisherige und in der Vergangenheit — ich tischen Wunschvorstellungen gegriffen.
sage das betont — auch bewährte Schulsystem wird
(Abg. Dr. Schober: Sehr richtig!)
in dem Bundesbericht zu schnell als überholt und
angeblich an einer nichtdemokratischen Gesell- Der Bildungsbericht stellt damit ein Expansionspro-
schaftsform orientiert abgewertet und zur Auflösung gramm auf, das nicht den Anspruch erheben kann,
freigegeben. realistisch zu sein.
(Abg. Wehner: Sie wollen wohl zeigen, daß (Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie auch polemisieren können!) Ich stimme mit dem Herrn Bundeskanzler durchaus
Umgekehrt werden — damit stimme ich mit dem überein, wenn er hier die Forderung nach Realismus
überein, was sehr viele hier gesagt haben — noch unterstrichen hat.
völlig unerprobte Bildungsinstitutionen, wie die in- c) Das Programm ist finanziell nicht abgesichert
tegrierte Gesamtschule oder die integrierte Gesamt- und in dieser Weise auch gar nicht durchführbar. Es
hochschule, als Allheilmittel angeboten. nimmt auf die mittelfristige Finanzplanung in Bund
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4043

D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg


und Ländern keine Rücksicht. Es bezieht große und — Ich verstehe Ihre Aufregung nicht. Das sind doch
kostspielige Bereiche des Bildungswesens wie die Fragen, die in diesem Hause, wie ich annehme, wohl
Ausbildungsförderung und den Ausbau der Sonder- noch gestellt werden dürfen,
schulen noch gar nicht in seine Berechnungen ein. Es (Beifall bei der CDU/CSU)
ist also unvollständig. Auch nimmt es auf andere
dringende Staatsaufgaben wie Verkehr, Gesund- zumal die Frau Bundesgesundheitsministerin diese
heitswesen, Umweltschutz keinerlei Rücksicht, son- Fragen auch sehr laut stellt.
dern setzt voraus, daß all dieses zurückgestellt wird, (Beifall bei der CDU/CSU.)
um ein ideales Bildungsprogramm in Kürze zu ver-
wirklichen. Es bekennt damit, daß das Bildungs- Doch nun wende ich mich der Kritik der Zahlen
wesen mit Gesundheit, Verkehr und Umweltschutz zu, und damit komme ich ins Detail, und im Detail
in einer tiefen, sachlichen Interdependenz steht. sitzt bekanntlich der Teufel. Der Bildungsbericht er-
klärt lapider in Anlehnung an Forderungen des
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Wissenschaftsrats: Etwa die Hälfte eines Altersjahr-
gangs solle das Abitur II — also das heutige Abitur
d) Weiter verkennt der Bericht, daß die perso- in ganz veränderter Form — erwerben und davon
nelle Ausweitung durch Vermehrung des Lehrer- die Hälfte — also 25 % — solle in den Gesamt-
personals und seine immer höhere Entlohnung eine hochschulbereich eintreten. Man kann diese For-
natürliche Grenze hat. Die OECD hat auf ihrer gro- derung nur richtig beurteilen, wenn man die An-
ßen Konferenz im Sommer in Paris festgestellt — ich nahmen des Wissenschaftsrates und die bisherige
habe an ihr teilgenommen , daß Bildungsausgaben Entwicklung kennt.
nur bis zu einem gewissen Prozentsatz an den Ge-
samtausgaben eines Staates und des Volksein- Meine Damen und Herren, die erste Frage lautet:
kommens zur Steigerung der Effektivität der Volks- Ist eine solche Steigerung der Zahl der Abiturien-
wirtschaft sich produktiv auswirken. Es gibt ein ten bis zum Jahre 1980/81 zu erreichen und kann
Limit, dessen Überschreitung die Ausbalancierung sie von uns verkraftet werden? Dazu muß man
des Ganzen gefährdet. Herr Kollege Moersch, es folgendes wissen. Wir hatten im Jahre 1952 rund
gibt durchaus auch Fehlinvestitionen — er ist leider 4 % Abiturienten pro Altersjahrgang. Wir hatten
nicht da —: wenn wir z. B. Germanisten ausbilden 1969 rund 10 % Abiturienten pro Altersjahrgang.
und sie später als Tankwarte einsetzen müssen, (Zuruf von der FPD: Das ist doch gut!)
dann ist das eine Fehlinvestition.
Diese schnelle Steigerung um 6 % pro Altersjahr-
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) gang hat teilweise zu unerträglichen Engpässen und
Schwierigkeiten an unseren Gymnasien und Hoch-
e) Schließlich fehlen — allerdings auch beim Bil-
schulen geführt. Sie braucht Jahre, um verkraftet
dungs- und Wissenschaftsrat alle Überlegungen
zu werden.
über die soziopsychologischen Auswirkungen vieler
Maßnahmen. So wird z. B. nicht gefragt, ob sich (Abg. Raffert: Nochmal „verkraftet" !)
das Hineinnehmen von etwa 12- bis 16jährigen Jetzt aber ist eine Steigerung um 40% pro Alters-
Schülern in eine der heutigen Universität sehr glei- jahrgang in 11 Jahren geplant. Dies bedeutet, daß
chende Gesamtschule, in der das Jahrgangsklassen- sich die absolute Zahl der Abiturienten von 1969
prinzip zugunsten von lauter individuellen Kursen bis 1980 versechsfachen würde, während die Zahl
aufgelöst ist, nicht ebenso anonymisierend und so- zwischen 1952 und 1969, also in 17 Jahren, nur auf
zial und psychisch belastend auswirkt wie heute das Dreifache gestiegen ist. Nur jemand, der alle
hei vielen Studenten unser Universitätssystem. Maßstäbe verloren hat, kann glauben, daß eine
(Beifall bei der CDU/CSU.) solche Steigerung in so kurzer Zeit nicht zu kata-
strophalen Verhältnissen führen wird.
Wie wirkt sich ein solcher Massenbetrieb auf die
(Beifall bei der CDU/CSU.)
psychische und soziale Haltung unserer Jugend aus,
zumal wenn sie schon in ganz frühen Jahren in einen Die zweite Frage, die ich stellen muß, lautet: Was
solchen Massenbetrieb hineinkommt? Wird sie da- soll aus diesen 50% eines Altersjahrgangs werden?
durch nicht allzu früh aus helfenden sozialen Bezü- Der Bildungsbericht der Bundesregierung erklärt,
gen gelöst? Wird sie dadurch noch mehr zu Neu- etwa die Hälfte, also 25 %, sollten in den Gesamt-
rosen neigen, als es jetzt schon der Fall ist? Wird hochschulbereich eintreten. Das klingt für den Nicht-
sie um so mehr nach Rauschgiften greifen? kenner vernünftig und unverdächtig. Aber, meine
(Lachen und Zurufe von der SPD.) Damen und Herren, hier liegen die schwersten Pro-
bleme, die mir auch auf bohrende Fragen im Wissen-
Wird sie dazu noch mehr sozial aggressiv werden? schaftsrat selbts nicht beantwortet werden konnten.
(Zurufe von der SPD.) Da ergibt sich zunächst die Frage: Was sollen
Kann man heute in der Zeit des Jugendprotestes Re- 25 % eines Altersjahrgangs machen, die das Abi-
formprogramme aufstellen, ohne sich diese sozio- tur II absolviert haben, also die Hochschulreife be-
psychologischen Fragen zu stellen? sitzen, aber nicht in den Hochschulbereich gehen
sollen? — Die Antwort lautet: Sie sollen in die
(Zurufe von der SPD. — Gegenruf von der Wirtschaft gehen. — Auf die Frage, ob die Wirt-
CDU/CSU: Was habt ihr eigentlich gegen schaft entsprechende Berufe anzubieten hat, die
Fragen!) diese 25 % eines Altersjahrgangs mit Abitur auf-
4044 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden Württemberg


-

nehmen, mußte zugegeben werden, daß es solche fast überall mindestens acht bis zehn Semester, und
Laufbahnen bisher nur in verschwindend geringem wer ist in der Lage, die Fächer zu benennen, in
Maße gibt. denen so kurzfristig ausgebildet werden kann? Und
(Abg. Dr. Schober: So ist es!) wer, so frage ich, meine Damen und Herren, hat die
politische Kraft, eine solche Kurzausbildung gegen
Meine Damen und Herren, es ist auch gar nicht
den massiven Widerstand der Studenten durchzu-
denkbar, daß diese innerhalb der kurzen Spanne
setzen? Wer will hier mit welchen Mitteln lenken?
von 10 Jahren geschaffen werden. Mit anderen
Und das soll bei 60 % der Studienanfänger gesche-
Worten: 25% eines Altersjahrgangs sollen 1980
hen; das wären später rund 375 000 bis 450 000
zwar das Abitur II machen, ohne in die Hochschulen
Studenten.
zu kommen, aber — und das ist gravierend — ohne
daß diesen 25 %ein äquivalentes qualifiziertes Be- Läßt sich aber die Verkürzung auf vier bis sechs
rufsangebot gemacht werden kann. Auf diese Fra- Semester für 60 % der Studienanfänger nicht durch-
gen haben die Verfasser der Pläne keine Antwort. setzen und setzen wir statt dessen im Durchschnitt
So fragen wir heute die Bundesregierung: Was acht bis neun Semester an, so erhöht sich die Ge-
soll 1980 oder, 1981 aus 25 % eines Altersjahrgangs samtzahl der Studenten für das Jahr 1980 bereits
werden, der mit dem Abitur II in die Wirtschaft von 1 auf 1,25 Millionen. Dies ist eine Mindest-
gehen soll? Welche Berufe sollen diese Abiturienten zahl. Es ist aber unmöglich, für eine solche Zahl bis
ergreifen? Wir haben heute einen Numerus clausus 1980/81 die notwendigen Studienkapazitäten zu er-
für 1 % eines Altersjahrgangs, der Medizin oder stellen.
Elektrotechnik studieren will. Das führt schon zu Dies alles steht hinter der Fassade dieses Bil-
Protesten und zu Demonstrationen. Man erklärt, daß dungsberichts der Bundesregierung. Meine Damen
der Abiturient auf Grund von Art. 12 des Grundge- und Herren, ich fürchte, es handelt sich um ein
setzes ein Recht auf Studium habe. Was aber wird, Potemkinsches Dorf.
so frage ich, wenn statt 1 % eines Altersjahrgangs
25 % zwar die Berechtigung zum Studium erwerben, (Abg. Wehner: Ja, ja!)
aber keinen Studienplatz bekommen sollen und be-
Und ich fürchte, daß, wenn einmal diese Massen
kommen können? Denn davon ist nirgends die Rede,
der Studenten vor den Türen der Universitäten
und das ist auch unmöglich, daß für 50 % eines
stehen und nicht eingelassen werden, die Unruhe
Altersjahrgangs Studienplätze geschaffen werden.
eine ganz andere sein wird als die, mit der wir es
Demgegenüber nimmt sich die Forderung, den Nu-
heute zu tun haben.
merus clausus jetzt abzubauen, sehr merkwürdig
aus. Denn es muß zu einer unerhörten Verschärfung (Beifall bei der CDU/CSU.)
des Numerus clausus in den nächsten Jahren füh- Nun kommt noch zum Schluß die Frage der Fi-
ren, wenn die Pläne so durchgeführt werden. nanzierung, die ich aber nur kurz ansprechen möchte,
Nun ergibt sich aber für die anderen 25 % des weil sie ja von verschiedenen Sprechern dieses
Altersjahrgangs 1981, die in den Gesamthochschul- Hauses — sowohl von Herrn Kollegen Martin als
bereich eintreten sollen, eine ebenso schwerwiegen- auch vom Herrn Bundeskanzler — bereits ange-
des Problem, ein Problem, das zeigt, wie undurch- sprochen worden ist .Ich bin mit dem Bildungsbe-
dacht doch hier geplant wird. Der Bericht gibt auf richt der Bundesregierung der Meinung, daß die
Grund von Annahmen des Wirtschaftsrates an, man Aufwendungen der öffentlichen Hand für das Bil-
werde dann mit etwa 1 Million Studenten rechnen dungswesen sehr gesteigert werden müssen. Sie
können. Dies sei wünschenswert. Es ergebe sich müssen sogar eine weit über das heute Vorstellbare
allerdings eine Kapazitätslücke an den Hochschulen, hinausgehende Höhe erreichen. Aber es bleiben ja
die mit etwa 200 000 bis 250 000 Plätzen angesetzt doch zwei Forderungen: Erstens. Auch die Aufwen-
werden müsse. dungen für das Bildungswesen müssen im Rahmen
der Gesamtbedürfnisse der Gesellschaft gesehen
Diese Zahlen halten keiner Nachprüfung stand.
werden. Priorität für das Bildungswesen darf nicht
Die Zahl der Studenten wird vielmehr sehr viel
absolute Priorität sein, vielmehr muß die Gesell-
höher liegen, meine Damen und Herren, und das
schaft, um gesund zu bleiben, ein entsprechendes
Defizit an Studienplätzen wird ein Vielfaches betra-
Wachstum auch auf anderen Gebieten haben. Das
gen.
Bildungswesen darf also nicht isoliert gesehen wer-
Die Rechnung sieht so aus: Wenn wir die 25 % den. Hierzu gehört etwa auch die Beachtung der
eines Altersjahrgangs einmal als 100 % der Stu- Konjunktur und die Erhaltung der Stabilität der
denten des Gesamthochschulbereichs ansetzen, so Währung.
sollen von ihnen 40 % in ein Langstudium von vier
bis sechs Jahren bzw. in ein Lehramtsstudium von Zweitens. Das Steueraufkommen ist so zu gestal-
ten und zu verteilen, daß diejenigen, die die Haupt-
vier Jahren gehen und 60 % in ein Kurzstudium von
last tragen, auch zu den Leistungen instand gesetzt
nur zwei- bis dreijähriger Dauer. Nur diese kurze
werden. Es ist schon davon die Rede gewesen, daß
Studiendauer bzw. Studienbegrenzung führt zur
bisher die Länder 63 % der Kulturausgaben ge-
Zahl von rund 1 Million Studenten.
tragen haben, die Kommunen 26 % und der Bund
Nun kann uns aber niemand die Frage beantwor- etwa 11 %. Die Länder sind aber mit den heutigen
ten, welche Studiengänge in vier bis sechs Semestern Steuermitteln, die ihnen zur Verfügung stehen,
absolviert werden sollen. Kein einziges Fach ist zu nicht in der Lage, die ihnen zugewiesenen Auf-
einer solchen Verkürzung bereit. Faktisch haben wir gaben zu erfüllen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4045
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Württemberg
Ich lege dies noch in wenigen Worten dar; dabei Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

beziehe ich mich auf die dem Bildungsbericht zu- Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
grunde liegenden Vorstellungen des Bildungsrates. Abgeordneten Porzner?
Diese haben so wichtige und aufwendige Bedarfs-
faktoren wie die Ausbildungsförderung — ich er- Porzner (SPD) : Herr Minister, ich nehme das
wähnte das schon —, die Sonderschulen, die Ge- sehr ernst, was Sie eben zur Finanzierung der Bil-
samtschulen und die Ganztagesschulen noch nicht dungsaufgaben gesagt haben. Halten Sie es für mög-
einbezogen. Deshalb liegen die im Bildungsbericht lich, daß Sie mit Mitgliedern Ihrer Partei sprechen
angegebenen Zahlen für die Schulen mit 44 bis 59 mit dem Ziel, daß sie einen Antrag auf Steuer-
Milliarden DM im Jahre 1980 erheblich zu niedrig. senkung, der von Abgeordneten der CDU gestellt
Aber auch für die Hochschulen, für die 26 bis 36 wurde und der den Gemeinden einen Steuerausfall
Milliarden angesetzt sind, wird nur mit 1 Million von einigen hundert Millionen Mark verursuchen
Studenten statt mit mindestens 1,25 Millionen ge- würde, morgen im Finanzausschuß zurücknehmen?
rechnet. Deshalb sind auch hier die angenommenen
Zahlen zu gering. (Beifall bei der SPD.)

Während der Bundesbericht eine Gesamtsumme


D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Würt-
von 100 Milliarden jährlich für das Bildungswesen temberg: Herr Kollege, der Vorgang ist mir leider
vorsieht, wird man also unter Berücksichtigung der nicht bekannt. Da ich Ihrem Hohen Hause nicht an-
vom Wissenschaftsrat und Bildungsrat rechnerisch
gehöre, kann ich im Augenblick nur schwer dazu
nicht hinreichend ausgewiesenen Bedarfsfaktoren Stellung nehmen. Das ist eine Sache, mit der ich im
— ich nannte Ausbildungsförderung, Sonderschulen, Augenblick jetzt konfrontiert werde.
Gesamtschulen, Ganztagesschulen, Versorgungsbe-
züge — und in Anbetracht der zu erwartenden höhe- (Zurufe von der SPD.)
ren Studentenzahlen eine Summe von 110 bis 130 Ich möchte zum Schluß aussprechen: ich hoffe, daß
Milliarden ansetzen müssen. Das bedeutet eine Er- es den gemeinsamen Bemühungen von Bund und
höhung der Bildungsausgaben, die 1970 ca. 22 Mil- Ländern in der Bildungsplanungskommission gelin-
liarden betragen, auf das Fünf- bis Sechsfache bis gen wird, zu einem verantwortbaren realistischen
1980. Aktionsprogramm zu kommen.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, Vorschläge zur (Beifall bei der CDU/CSU.)
Lösung dieser Problematik anzubieten.
(Zuruf des Abg. Wehner.) Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Feststellen muß ich aber, daß bei der derzeitigen Das Wort hat der Kultusminister des Landes Nieder-
Steuerverteilung die Länder dies nicht leisten kön- sachsen, Herr Professor von Oertzen.
nen. Eine entsprechende Verschuldung ist auch nicht
denkbar. Wenn der Bund bildungspolitische Ziele Dr. von Oertzen, Minister des Landes Nieder-
aufstellt, die weit über den Spielraum der öffent- sachsen: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Da-
lichen Gesamthaushalte hinausreichen, muß er sich men und Herren! Ich bin mir natürlich völlig darüber
gleichzeitig zur drastischen Erhöhung der Steuer- im klaren, daß ich im Begriffe bin, das ohnedies in
last bekennen, die allein noch eine Finanzierung Frage gestellte Renommé des Kulturföderalismus
möglich macht. Ich darf bei dieser Gelegenheit er- noch weiter zu mindern, wenn ich es jetzt als Lan-
wähnen, daß die Steigerungsraten bei den Ländern desminister unternehme, die außerordentlich strapa-
zum Teil sehr viel höher sind. Das ist vorhin an- zierte Tagesordnung dieses Hauses noch um einige
gesprochen worden. In meinem Haushalt beträgt er Minuten zu verlängern. Ich möchte deswegen auch
von diesem Jahr zum nächsten 19 % und nicht nur darauf verzichten, hier in der Gestalt eines Diskus-
8 % für das Bildungswesen. sionsbeitrages eine kulturpolitische Regierungs-
erklärung abzugeben, sondern nur einige Bemerkun-
Diese Fragen stellen bedeutet nicht, notwendige
gen zu Argumenten machen, die insbesondere von
Reformen bremsen zu wollen.
seiten der Opposition im Laufe des Nachmittags vor-
(Zuruf des Abg. Wehner.) getragen worden sind, Argumenten, zu denen ein
für das Schulwesen verantwortlicher Landesminister
Es bedeutet im Gegenteil die Forderung nach einem vielleicht einiges sagen kann.
tatsächlich durchführbaren, realistischen Reform-
programm, das dann in Stufen aufgebaut und mit Man könnte freilich meinen, das sei im Grunde
den unabdingbaren Reformen und Maßnahmen in überflüssig. Aber mir scheint, daß mit diesen Argu-
anderen Gebieten der Gesellschaft abgestimmt ist. menten weitverbreitete Vorurteile berührt, ausge-
Wir können keine Idealprogramme gebrauchen, die sprochen, formuliert, wenn auch, wie ich meine,
aleszugichwonderusfina- nicht begründet worden sind. Es könnte ja in Zu-
ziellen noch personellen noch organisatorischen kunft einer auf die Idee kommen, einmal die Proto-
Kräfte entsprechen, sondern wir brauchen ein bis kolle dieser Bildungsdebatte in der Erwartung nach-
ins letzte durchdachtes realistisches Konzept. Ich zulesen, sich da — wenigstens was die Beiträge der
bin im Grunde dankbar dafür, daß das zum Schluß Opposition betrifft -- sachlich über den Stand der
vom Herrn Bundeskanzler dann auch unterstrichen Probleme zu informieren, und vor einem solchen Irr-
worden ist, während es aus dem Bildungsbericht der tum möchte ich den Leser dieser Protokolle wenig-
Bundesregierung in dieser Form nicht hervorgeht. stens partiell zu bewahren versuchen.
4046 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen


Herr Dr. Martin hat sich in der Auseinanderset- -
Differenzierung nach dem alten Gesamtschulmodell,
zung mit dem Problem der Gesamtschule — und dar- das hier in Frage steht, im achten Schuljahr, und die
auf möchte ich mich beschränken — auf den Göte- volle Differenzierung wird im neunten Schuljahr er-
borg-Report bezogen. Der Göteborg-Report erinnert reicht. Auch das stellt die Vergleichbarkeit in Frage.
mich so ein bißchen an den berühmten Segler des
Aber das Interessante ist, daß sogar in dem
Fliegenden Holländers, der immer wie ein Schatten
Referat in dieser der Gesamtschule sehr kritisch
in der Diskussion auftaucht, der aber, wenn man
gegenüberstehenden Publikation über die Absichten
ihn zu greifen versucht, verschwindet. Es wird hun-
der Verfasser — und ich darf jetzt mit Erlaubnis
dertfach zitiert, aber nur sehr selten wirklich gele-
des Präsidenten einige Zeilen wörtlich zitieren —
sen, was man niemandem zum Vorwurf machen
folgendes gesagt wird:
kann, denn nur die wenigsten Leute in unserem
Lande vermögen Schwedisch zu lesen und zu spre- Bei aller Sorgfalt, die verwendet wurde, blei-
chen. ben sich doch die Verfasser der schwerwiegen-
(Abg. Dr. Martin: Aber die Ergebnisse lie den Mängel und der Grenzen solcher Ver-
gen in deutscher Sprache vor!) gleichsversuche bewußt.

— Ja, ich komme jetzt darauf. So töricht bin ich nun (Abg. Dr. Martin: Sicher!)
nicht, daß Sie mich gleich bei der ersten Gelegenheit Als der gravierendste Mangel des UG-Materials
damit fangen können. — UG ist der Titel der Untersuchung —
(Heiterkeit.)
bezeichnen sie, daß eine allgemeinverbindliche
Ich möchte, um die Auseinandersetzung darüber Zielsetzung zwischen den ungleichen Ver-
zu vereinfachen, mich auf eine, wenn auch zusam- gleichsgruppen nicht gegeben ist.
menfassende, aber, wie ich glaube, sehr zuverlässige
Und an einer anderen Stelle sagen sie noch einmal
deutsche Quelle stützen, nämlich auf das Journal des
sehr skeptisch:
Instituts für Bildung und Wissen, das von katho-
lischen Kreisen herausgegeben wird und wegen sei- Wieweit ein Schulsystem ganz oder zum Teil
ner unnachgiebigen Gesamtschulfeindlichkeit völlig als vergleichbar anzusehen ist, läßt sich mit
jeder Einseitigkeit — von Ihrer Seite her — unver- letzter Sicherheit nie beantworten.
dächtig ist. Ich beziehe mich dabei auf die Oktober Diejenigen, die die Schwierigkeiten empirisch
Nummer des Jahrgangs 1969. sozialwissenschaftlicher Vergleichsuntersuchungen
Herr Kollege Martin hat von einem Fazit von kennen, werden mir zustimmen müssen, daß man,
einem Dutzend Jahre gesprochen, das aus den Er wenn man sich positiv oder negativ auf solche Ver-
gebnissen dieser Untersuchung gezogen worden sei. gleichsuntersuchungen bezieht, äußerst vorsichtig
Das ist einfach unrichtig. In der Stadt Göteborg ist sein muß. Darum muß man auch mit dem Argument,
die Gesamtschule als Pflichtschule im Jahre 1963 irgendein bestimmtes Schulsystem sei wissenschaft-
eingeführt worden. Im Jahre 1963 hat auch die lich in der Vergleichsuntersuchung noch nicht ge-
Untersuchung begonnen. Die beiden Versuchsgrup- nügend erprobt, sehr vorsichtig sein. Ich will fairer-
pen datieren aus den Jahrgängen 1964/65 bzw. weise einräumen, daß natürlich das entgegenge-
1966/67. Der äußerste, bei größtem Wohlwollen in setzte Argument, irgendein Schulsystem sei wissen-
Anspruch zu nehmende zeitliche Raum der Be- schaftlich gegen alle denkbaren Einwendungen ge-
währung für die Gesamtschule kann also höchstens feit, unter demselben Vorbehalt steht. Das gibt
mit fünf Jahren angenommen werden. Man wird aber der schulpolitischen Entscheidung natürlich
sagen können, daß fünf Jahre keine überwältigend einen wesentlich größeren Raum, als gemeinhin in
lange Zeit sind für die Bewährung und Einübung der Diskussion eingeräumt zu werden pflegt.
einer in diesem Ort jedenfalls neuartigen Schul-
form. Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Darüber hinaus befaßt sich dieser Report nun Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Dr. Gölter?
nicht etwa mit dem Vergleich der Leistungsfähig-
keit zweier Schulsysteme ausschließlich unter dem
Gesichtspunkt eines bestimmten Ergebnisses — qlus Dr. von Oertzen, Minister des Landes Nieder-
oder minus —, sondern es ist, wie Sie sicher wissen sachsen: Ja, gern.
werden, eine sehr differenzierte Untersuchung, in
der methodische Fragen —, ob man überhaupt Dr. Gölter (CDU/CSU) : Herr Minister, stimmen
Schulsysteme vergleichen könne und durch An- Sie der Aussage des Bildungsrates im Vorwort zu,
legung welcher Maßstäbe — im Vordergrund wo es im Zusammenhang mit Schulversuchen mit
stehen. Ganztags- und Gesamtschulen wie folgt heißt:
Im übrigen muß natürlich bemerkt werden, daß Schulversuche sind nicht einmalige Unterneh-
die Ergebnisse dieser Untersuchung für deutsche mungen zur Erhärtung oder Widerlegung um-
Verhältnisse relativ wenig aussagen, weil das strittener bildungspolitischer Thesen; sie sind
schwedische Gesamtschulmodell sich vom deutschen vielmehr ein notwendiger und dauernder Be-
Gesamtschulmodell radikal unterscheidet. Das Mo- standteil in einem zur Zukunft hin offenen Bil-
dell der differenzierten und integrierten Gesamt- dungssystem. Die Bildungskommission ist der
schule beginnt ja mit der Differenzierung stufen- Überzugn,daßlStkrempfhung
weise im fünften Schuljahr; in Schweden beginnt die einen vorläufigen Charakter haben müssen. Sie
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4047
Dr. Gölter
sind Formulierungen dessen, was nach dem ge- dreizügigen Realschule, einem zwei- bis dreizügigen
genwärtig möglichen Erkenntnis- und Informa- Gymnasium und einer drei-, wenn nicht vierzügigen
tionsstand ausgesagt werden kann. Hauptschule rechnen müssen. Das heißt also, die
Breite des Schülerjahrgangs beträgt mindestens acht
Stimmen Sie dem zu?
bis zehn Gruppen zu 30 Schülern, so daß im Grunde
der Einzugsbereich für die Errichtung von Schulzen-
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Nieder- tren noch ungünstiger wäre als für eine Gesamt-
sachsen: Ich danke Ihnen außerordentlich für das schule, wo der Einzugsbereich durchaus kleiner sein
Zitat, das mir im Augenblick nicht gegenwärtig kann.
war. Es stützt die These, die ich eben vorgetragen
habe, in vollem Umfang, Im übrigen wird bei solchen Überlegungen verges-
sen, daß zwar — und da liegt das eigentliche Pro-
(Beifall bei der SPD)
blem — bei der Einrichtung eines Gesamtschul-
daß nämlich schulpolitische Entscheidungen nicht in systems die Besucher jenes Teils der Gesamtschule,
letzter Instanz durch Berufung auf wissenschaft- den man etwa der jetzigen Hauptschule gleichstellen
liche Untersuchungen getroffen werden können. könnte, in Zukunft längere Schulwege haben wer-
(Beifall bei der SPD. - Zurufe von der den — das könnte eine gewisse zusätzliche Be-
CDU/CSU.) lastung für die ländliche Bevölkerung bedeuten —,
daß aber diejenigen, die jetzt im ländlichen Raum
Nun möchte ich einen weiteren Punkt erwähnen. die klassischen weiterführenden Schulen, Realschu-
(Abg. Dr. Gölter: Worauf stützen Sie sich len und Gymnasien, besuchen, heute wesentlich län-
denn?) gere Schulwege zu machen haben, als sie bei einem
ja wesentlich dezentralisierteren Gesamtschulsystem
— Ich komme auf dieses Problem noch einmal zu
zurückzulegen haben.
sprechen. Nun bringen Sie mir doch, meine Damen
und Herren von der Opposition, meine schöne Syste- Dies ist nicht nur eine Behauptung. Für den West-
matik nicht durcheinander. teil des Kreises Quakenbrück im Lande Niedersach-
(Heiterkeit. — Zurufe von der CDU/CSU: sen liegt eine wissenschaftliche Standortuntersu-
chung unter dem Gesichtspunkt der Schulwege vor,
Das ist hier so üblich! — Wir sind nicht
in der klipp und klar nachgewiesen wird — ich bin
Ihre Opposition!)
gerne bereit, Ihnen diese Untersuchung zur Verfü-
Herr Dr. Martin hat an einer Stelle vorsichts- gung zu stellen —, daß die Lösung des Transport-
halber recht kurz, aber doch völlig unüberhörbar problems auf der Basis des Gesamtschulmodells,
bemerkt, daß die Problematik der Einzugsbereiche gemessen an allen übrigen Varianten des Schul-
bei Gesamtschulen die Gefahr in sich berge, daß systems, optimal ist. Auf Grund dieser Untersuchung
hier ein ohnedies gegebenes Gefälle zwischen Stadt haben die mehrheitlich Ihrer Partei angehörenden
und Land noch weiter verstärkt wird. Hier muß Kommunalpolitiker in den örtlichen Schulträgern
ich nun mit allem Nachdruck betonen, daß das ein- sich entschlossen, den Ausbau des weiterführenden
fach unter jedem denkbaren Gesichtspunkt voll- Schulsystems in diesem Teil unseres Landes auf der
ständig unrichtig ist. Basis der Gesamtschule durchzuführen.
(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Nun, meine Damen und Herren, ein paar Bemer-
CSU.) kungen zu der Grundthese, daß die Gesamtschule
Im übrigen habe ich mit Interesse festgestellt — und eben unerprobt sei und daß es deswegen unverant-
das wird bei meinen Überlegungen eine Rolle spie- wortlich sei, diese schulpolitischen Zielvorstellungen
len —, daß Herr Dr. Martin, wie übrigens seine überhaupt aufzustellen, bevor die Erprobungsergeb-
Parteifreunde in Niedersachsen ebenfalls, sich posi- nisse vorlägen. Ich glaube, meine Damen und Her-
tiv zum Institut des Schulzentrums geäußert hat. ren, hier liegt ein Mißverständnis über den Unter-
schied zwischen einem Gesamtkonzept, das man
(Abg. Dr. Martin: So ist es!) durchaus aus allgemeinen und begründbaren Erwä-
Ich glaube, ich habe das nicht falsch verstanden, als gungen für richtig halten kann, und der Erprobung
er seine Schlußthesen vorgetragen hat. Nun kann einzelner Formen zur Lösung bestimmter spezieller
man folgende Berechnung anstellen - darüber sind Probleme vor. Ich meine, daß mindestens zwei grund-
sich Kritiker wie Gegner, alle diejenigen, die sich legende Argumente auf jeden Fall jenseits aller
mit der Gesamtschule überhaupt beschäftigen, noch denkbaren Varianten in wissenschaftlichen Er-
einig —, daß die Mindestbreite eines Schülerjahr- probungen bereits jetzt vorgebracht werden können.
gangs zwischen 180 und 210 Schüler betragen muß,
Einmal besteht nicht der geringste Zweifel daran,
um eine sechs- bis siebenzügige Gliederung bei einer
daß der Ubergang aus einer .Schullaufbahn in eine
Grundgruppe von 30 Schülern zu ermöglichen
andere in einem vertikal gegliederten Schulsystem
Auf der anderen Seite besteht kein Zweifel dar- wesentlich schwieriger ist, in dem die verschiedenen
über, daß, wenn man Schulzentren errichtet, die zwar Schultypen getrennt voneinander existieren, viel-
die verschiedenen Schulsysteme räumlich einander leicht gar räumlich getrennt, organisatorisch ge-
zuordnen, aber die Schulen des vertikal gegliederten trennt, in der Schulaufsicht getrennt, in der Struk-
Systems getrennt nebeneinander stellen, zur Funk- turierung des Lehrkörpers getrennt, oder wenn
tionsfähigkeit eines solchen Schulsystems eine noch diese Übergänge im Rahmen eines und desselben
breitere Anlage des Schülerjahrgangs erforderlich und in sich elastisch und durchlässig organisierten
ist. Dann wird man mindestens mit einer zwei- bis Schulsystems stattfinden. Es wird auch nicht der
4048 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen


Charakter des Scheiterns, des Abgehens und des richtig. Die Frage ist natürlich, wie es denn mit dem
Neueintretens mit diesem Wechsel der Schullauf- sozialen Integrationseffekt des bestehenden vertikal
bahn zusammenhängen, sondern es ist eben ein gegliederten Schulsystems bestellt ist.
Wechsel auf Grund interner schulischer Entscheidun- (Beifall bei der SPD.)
gen.
Daß die Zusammenführung von Kindern aus auch
Zweitens besteht in einem Gesamtschulsystem bei heute noch durch Vorurteile, durch Unterschiede des
Differenzierung des Unterrichts in den sogenannten
Kulturstandards, des Bildungsgrads getrennten Be-
Leistungsfächern auf jeden Fall die Möglichkeit, daß
völkerungsschichten in einer einheitlichen Schulge-
diejenigen Schüler, die bei einem vertikal geglieder-
meinsamkeit zu Problemen führt, haben auch die
ten Schulsystem heute etwa die Hauptschule oder die
Vertreter des Gesamtschulgedankens nie geleugnet.
Volksschuloberstufe besuchen, in einzelnen Fächern, Sie haben auch nie den Standpunkt vertreten, daß
in denen sie eine herausragende Leistungsfähigkeit die rein organisatorische Zusammenfassung der drei
beweisen, an Kursen auf einem Niveau teilzuneh-
getrennten Schulsysteme unter einem Dach die Lö-
men, wie es gemeinhin nur an der Realschule und sung des Gesamtschulproblems darstelle. Kein ver-
dem Gymnasium angeboten werden kann. Erste Er-
nünftiger Vertreter des Gesamtschulgedankens wird
gebnisse aus den anlaufenden Gesamtschulversu-
leugnen, was Professor Klafki einmal ausgedrückt
chen, z. B. aus der Martin-Buber-Gesamtschule in
hat: daß Bildungsreform eine wirkliche Reform nur
Berlin, zeigen, daß der Teil der Schüler, der eigent-
sein werde, wenn sie nicht nur organisatorische,
lich, wie man so sagt, „nur" als volksschulfähig be-
sondern auch didaktische Reform sei.
urteilt worden war, bis zu einem Drittel, wenn nicht
mehr, von dieser Möglichkeit mit Erfolg Gebrauch (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
macht. Eine solche Förderung, etwa in Mathematik der CDU/CSU.)
oder in den Fremdsprachen, kann auch das best- Insoweit stimmen wir Ihnen zu.
ausgebaute Hauptschulsystem schlechterdings nicht
bieten, weder personell noch materiell. Allein diese Sie halten uns nun mit Recht vor — damit will
beiden Vorzüge der Durchlässigkeit und der besse- ich abschließen —, daß die Bildungsreform die Ge-
ren Förderung der Durchschnittsbegabung würden es sellschaftsreform nicht ersetzen könne. Ich glaube,
rechtfertigen, dem Gesamtschulsystem den Vorzug Sie können sicher sein, daß das ein Gesichtspunkt
zu geben. ist, der gerade bei Sozialdemokraten auf vollstes
Verständnis stößt. Auch das beste, den einzelnen
Herr Kollege Hahn hat eingewendet, daß hier mit am weitesten fördernde, seine intellektuellen und
Notwendigkeit der Massenbetrieb Platz greifen sozialen Fähigkeiten in idealem Umfang ausbil-
müsse, daß gewisse Bindungen durch Auflösung der dende Bildungssystem wird nicht verhindern kön-
Jahrgangsklassen in Gefahr gerieten. Diesen Äuße- nen, daß der, der beispielsweise einen Arbeitneh-
rungen, meine Damen und Herren, könnte ich mit merberuf ergreifen will und muß, nach der Ent-
Leichtigkeit eine ganze Reihe von Überlegungen lassung aus der Schule in die harten und zum Teil
von Schulreformern aus den Reihen der im großen sehr bitteren Abhängigkeiten des sozialen und des
und ganzen konservativ ausgerichteten Verbände wirtschaftlichen Lebens gerät. Diese Abhängigkei-
und Organisationen entgegenhalten, die ja gerade ten des Menschen zu lockern, zu zerbrechen und
das bestehende Schulsystem, etwa das Gymnasium schließlich in einer Gesellschaft wirklicher Freiheit
oder die Realschule, zu erhalten versuchen, indem und Gleichberechtigung aufzuheben
sie die Grundsätze der Differenzierung, der Auflö-
sung der Jahrgangsklassen und eine Aufweichung (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist das? —
des starren Versetzungsprinzips durchsetzen möch- Abg. Dr. Schober: Das ist sehr theoretisch!)
ten. Dieselben Vorwürfe etwa hinsichtlich der Auf- — ich werde , dazu in Verbindung mit einem konkre-
lösung der Jahrgangsklassen müßte man den kon- ten Beispiel noch einige Worte sagen —, ist nun
servativen Schulreformern vom Philologenverband in der Tat eine Aufgabe, die über die Bildungsre-
machen — ich nenne den Namen von Frau von der form weit hinausgeht.
Lieth —, die versuchen, durch Reformen ihr Schul-
Ich möchte mich nicht in die Angelegenheiten ein-
system zu erhalten. Es gibt aus den Reihen Ihrer
mischen, die ausschließlich im Kompetenzbereich
Partei, meine Damen und Herren von der Opposi-
dieses Hohen 'Hauses liegen. Gestatten Sie mir an
tion dieses Hauses, eine ganze Reihe prominenter
dieser Stelle also nur eine kurze Bemerkung. Ich
Stimmen, die sich zum Problem der Differenzierung
bin z. B. der Überzeugung, daß ein wesentlicher
und auch zur Errichtung größerer Systeme durchaus
Schritt zur Befreiung des Menschen jenseits der
positiv geäußert haben. Im übrigen ist es eine Sache
Sphäre der Bildung und der Ausbildung die Mög-
der inneren Schulorganisation, des architektoni-
lichkeit der konkreten Mitgestaltung an seinem Ar-
schen Aufbaus, auch bei der Zusammenfassung von
beitsplatz, in seiner Arbeitsstätte ist.
1 200, 1 500 oder 1800 Schülern einen Massenbetrieb
im soziologischen Sinne des Wortes zu verhindern. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung über die der FDP.)
nicht nur von Ihnen, Herr Dr. Martin, sondern auch Wie Sie, meine Damen und Herren von der Oppo-
von vielen anderen in diesem Zusammenhang häu- sition, zu dieser entscheidenden Frage der Befrei-
fig vorgetragene Klage, daß sich das Ziel der Ge- ung des Menschen von sozialen Abhängigkeiten
samtschule, eine bessere soziale Integration, nach stehen,
den vorliegenden Versuchsergebnissen offenbar (Abg. Pfeifer: Das hat doch die Regierung
nicht so ganz einfach erreichen lasse. Das ist sicher vom Tisch genommen!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4049
Dr. von Oertzen, Minister des Landes Niedersachsen
werden wir sehen, wenn wir Ihre Stellungnahme Dinge nicht einfach sind. Das System muß aber -
zur Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes geändert werden. Mit Ihrer Beweisführung bewei-
in diesem Hause hören. sen Sie doch immer wieder messerscharf, daß es
große quantitative Veränderungen im bisherigen
(Beifall bei der SPD.)
System nicht gebe. Darin stimme ich Ihnen voll zu.
Sie müssen doch beides gleichzeitig in den Griff be-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- kommen, nämlich die quantitativen Veränderungen
Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und und die qualitativen Veränderungen, die damit ver-
Wissenschaft, Herr Professor Leussink. bunden sind.
(Zustimmung bei der SPD.)
Dr.-Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung Wie ich gebaut bin, halte ich den Begriff „Utopie",
und Wissenschaft: Herr Präsident! Meine sehr ver- den Sie verwenden, für ein Gütezeichen.
ehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zu-
Ich wäre betrübt, wenn Sie das, was wir hier
nächst vorrangig an den Vorsitzenden des Kultur-
vorschlagen, nicht als Utopie bezeichneten. Dann
ausschusses des Bundesrates wenden. Lieber Herr
bekäme ich erhebliche Zweifel, ob ich überhaupt im-
Hahn, was Sie hier vorgeführt haben, war doch
stande bin, irgendwie in die Zukunft hinein zu pro-
nichts weiter als eine Wiederholung der vielen
jizieren.
Debatten, die wir miteinander im Wissenschaftsrat
(Beifall bei der SPD.)
geführt haben. Dort sind Sie halt unterlegen. Kön-
nen Sie denn das nicht zur Kenntnis nehmen? Anstatt diesen unfruchtbaren Streit und diese Be-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) trachtung zu wiederholen, sollten Sie ganz konkret
sagen, wieviel Prozent Sie denn wollen. Darüber
Der Wissenschaftsrat setzt sich aus 22 unabhän- können wir dann miteinander reden.
gigen Wissenschaftlern und Wirtschaftlern, z. B.
dem Chef von Bosch, Herrn Merkle, aus 11 Kultus- Eine Bemerkung zur Studienzeit. Sie haben gesagt,
ministern und 11 Länderstimmen zusammen. Die es sei völlig undenkbar, daß man so kurze Studien-
Empfehlungen des Wissenschaftsrates, die Sie so- zeiten, wie in den verschiedenen Berichten vorge-
eben mit Ihren Zahlen angegriffen haben, sind schlagen, überhaupt durchsetzt. Sie sind doch Mit-
- man höre und staune — vom Wissenschaftsrat glied der Kultusministerkonferenz, und wenn ich
einstimmig verabschiedet worden. Sie mögen selber die Zeitung richtig gelesen habe, hat die Kultus-
damit fertig werden, wie das mit der Stimme Ihres ministerkonferenz vor wenigen Tagen beschlossen,
Landes im einzelnen gewesen ist. daß die Ausbildung eines großen Teils der Lehrer
6 Semester dauern soll. Die angehenden Lehrer
machen wahrscheinlich für die nächsten Jahre 50 %
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
der Studenten aus. Also, wie stimmt das mitein-
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen- ander überein? Ich glaube, so einfach dürfen wir
frage des Kollegen Pfeifer? es uns nicht machen.
Wir dürfen es uns auch mit dem nicht so einfach
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-
machen, was Sie zu dem soziokulturellen Bereich
und Wissenschaft: Aber selbstverständlich! oder meinetwegen auch sozio-psychologischen Be-
reich — ich meine die Sache mit dem Rauschgift —
Pfeifer (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, gehört gesagt haben. Frau Käte Strobel hat doch nicht in
es nicht auch zur Demokratie, daß jemand, der im einem System gewarnt, das aus Gesamtschulen be-
Wissenschaftsrat mit seiner Ansicht unterlegen ist, steht, sondern in einem System, das aus bisherigen
das Recht haben muß, vor diesem Parlament seine Schulen besteht.
andersgeartete Meinung vorzutragen? (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Frau Dr. Walz: Wie ist es in Amerika?)
Herr Hahn, mir wird oft vorgeworfen, daß ich mich
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-
als Tunnelbauer betätige. Ich habe ein bißchen den
und Wissenschaft: Ich möchte Ihre Frage mit einer Verdacht, auch Sie sind in Ihren alten Beruf zurück-
Gegenfrage beantworten. Halten Sie es für unde- gefallen: mit dem. Anmalen der Hölle usw.
mokratisch, wenn man die Tatsachen so, wie sie
wirklich sind, darlegt? (Heiterkeit)
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Das geht bei uns nicht. So schnell lassen wir uns
Dr. Gölter: Was soll denn das jetzt? — nicht bangemachen.
Abg. Dr. Huys: Das ist ja bezweifelt wor
den!)
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Herr Hahn, Sie können doch wirklich nicht im Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen-
Ernst glauben, daß der Chef von Bosch Utopien frage der Frau Abgeordneten Walz?
— oder wie immer Sie es bezeichnen wollen —
nachrennt. Die Wirtschaftler im Wissenschaftsrat
haben nach sehr langen Überlegungen mitgemacht. Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-

Es kann keinen Zweifel darüber geben, daß die und Wissenschaft: Aber gern.
4050 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Frau Dr. Walz (CDU/CSU) : Herr Bundesmini- Gemeinschaftsunternehmen von Bund und Ländern.
ster, ist Ihnen nicht klar, daß die Rauschgiftsucht Beide Empfehlungen sind dort einstimmig verab-
unter der Jugend am stärksten in Amerika ist, wo schiedet. Aus sachlichen Gründen ist dann doch wohl
es nach Ihrer Meinung lauter Gesamtschulen gibt? ein Abstimmen im einzelnen nicht notwendig. Und
(Lachen und Zurufe von der SPD.) von der Technik her gesehen — da haben wir doch
alle unsere Erfahrungen — war es, wenn wir in
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
-
absehbarer Zeit dem Hause hier einen Bericht vor-
und Wissenschaft: Es gibt in den Vereinigten Staa- legen wollten, gar nicht möglich, das nach dem alt-
ten nach meiner Kenntnis nicht nur Gesamtschulen, hergebrachten Verfahren zu tun.
sondern die verschiedensten Schulsysteme. Sie haben gesagt, die Leistungen der Länder seien
nicht anerkannt worden. Nun, ich habe heute früh
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- schon ausgeführt: Wir haben uns bewußt nicht mit
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage von Herrn der Vergangenheit beschäftigt, sondern wollten den
Abgeordneten Moersch? Bericht so knapp wie möglich halten und haben den
Blick nach vorwärts gewandt. Aber auf der Seite 140
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
- dieser Ausgabe können Sie z. B. lesen: „Vor allem
und Wissenschaft: Aber gern. Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hes-
sen haben erste Ansätze einer integrierten Bildungs-
Moersch (FDP) : Herr Minister, können Sie für planung geschaffen." — Solcher Stellen gibt es noch
die Frau Kollegin bestätigen, daß die Rauschgift- eine ganze Menge. Ich glaube also, das, was not-
sucht im Orient und ganz besonders in China schon wendig ist, ist getan worden. Wir haben es uns ab-
vorhanden war, ehe dort Gesamtschulen eingerech- gewöhnt, uns hier mit silbernen Tellern hinterherzu-
tet wurden? laufen.
(Große Heiterkeit und Beifall.) (Beifall bei der SPD.)
Ich glaube, es gibt doch gar keinen Zweifel, und alle
Dr. Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
- meine Ausführungen deuten darauf hin, daß sich in
und Wissenschaft: Die Heiterkeit des Hauses be- unserem Hause und in der gesamten Bundesregie-
weist, daß das offensichtlich kein Kriterium ist, rung und hier in diesem Hause — davon bin ich
mit dem man dieses Thema sachlich behandeln kann. überzeugt — jeder darüber klar ist — der Bundes-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) kanzler hat es soeben noch bestätigt —, daß das nur
ein Gemeinschaftsunternehmen zwischen Bund und
Zur Finanzierung. Sie haben völlig recht, auf dem Ländern sein kann.
Kongreß der OECD, an dem Sie kürzlich teilgenom-
men haben, ist dieses Thema ebenfalls angesprochen Und zum Schluß, Herr Hahn: Ich bin Ihnen dank-
worden, daß nämlich unbeschränktes Wachstum der bar für zwei Bemerkungen. Erstens bin ich dankbar
Bildungsausgaben irgendwie einmal ineffizient wird. dafür, daß Sie hier vor diesem Hause festgestellt ha-
Das kann jeder nachrechnen. Aber bedenken Sie, ben, daß wir bei der Bildungsplanung zwei gleich-
daß es dabei um Länder geht, die in Zukunft mit berechtigte Partner sind. Wie gesagt, ich bin Ihnen
10, 11, 12 % rechnen, und nicht um Länder, die noch dankbar für diese Feststellung. Ich bin Ihnen auch
unter 5 % liegen, wie das bei uns der Fall ist. Sie dankbar für die Feststellung, daß Sie zustimmen, daß
wissen genau, wie wir bei den OECD-Betrachtungen es einen solchen Bericht gibt, und daß Sie offensicht-
immer wegkommen. Ich will gar nicht sagen, daß lich frühere Bedenken hinsichtlich der verfassungs-
die Statistik in allen Fällen richtig ist. Aber ich rechtlichen Grundlagen dazu nun nicht mehr haben.
glaube, auch dieses war kein ernsthaftes Argument, Da ich gerade hier bin, möchte ich nur noch zwei
um finanzielle Betrachtungen aus dem Feld schlagen Bemerkungen an die Adresse von Herrn Martin an-
zu können. schließen. Zunächst zu den Ausführungen über Ge-
Gesamthochschulen: Sie sind in Baden-Württem- netik, Intelligenz, Begabung usw. Die Ausführungen,
berg erfunden, jedenfalls der Name. Wenn ich mich die Sie dazu gemacht haben, könnten mich fast ermu-
recht entsinne, war es Herr Dahrendorf, der die tigen, nun meinerseits als krasser Laie dazu auch
Frage der Gesamthochschulen dort bearbeitet und Ausführungen zu machen. Ich will aber dieser Ver-
auch den Namen erfunden hat. suchung widerstehen. Ich möchte Ihnen folgendes
anbieten: Darüber sollte man sich einmal mit moder-
(Abg. Pfeifer: Da sind Sie falsch informiert!) nen Biologen, z. B. dem Kollegen Eigen aus Göttin-
Als Gesamthochschulen sind sie natürlich nicht er- gen und dem ebenfalls dort lehrenden Begabungs-
funden worden, wie wir überhaupt derzeitig in der forscher — so kann man wohl sagen — Roth unter-
Hochschulpolitik die Abschreibenden sind. Es gibt halten.
selbstverständlich an anderen Stellen längst ge- (Abg. Dr. Martin: Das habe ich getan!)
samtschulartige und gesamthochschulartige Gebilde. — Gut, ich auch. Viele von uns haben das getan. Ich
Dann haben Sie gesagt, wir hätten das alles nicht glaube, wir sollten einmal ein gemeinsames Seminar
gemeinsam mit den Ländern gemacht. Das stimmt. mit den beiden Herren veranstalten, damit wir in
Den Vorwurf, wenn es einer sein soll, nehme ich dieser Angelegenheit auf einen gemeinsamen Nen-
gern hin. Gleichzeitig haben Sie aber gesagt, in dem ner kommen. Dann werden wir sehen, wie viel-
Bericht stehe nichts Neues; es sei eigentlich nur schichtig das ist.
beim Wissenschaftsrat und beim Bildungsrat abge- (Abg. Dr. Martin: Herr Minister, ich bin
schrieben. Wissenschaftsrat und Bildungsrat sind einverstanden!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4051
Bundesminister Dr. Ing. Leussink
-

— Gut, wir brauchen dann nur noch unseren Ter- Sie waren alle mit mir der gleichen Meinung- und
minkalender abzustimmen. haben mir erklärt, diese Zahlen seien nicht reali-
(Heiterkeit.) stisch und könnten sich nicht halten. Man hat nur
das eine gesagt: Wir wollen den Bericht nicht auf-
Nun zu den Zahlen! Mit Zahlen und Prozentsätzen halten, er soll erst einmal herausgehen.
wird furchtbar leicht Unsinn getrieben. Wenn Sie
einerseits die Zahl 100 Milliarden DM für Bildung Ich habe meinerseits angekündigt, daß ich mich
und Wissenschaft — so muß sie immer verstanden damit nicht zufriedengeben würde;
werden -- hier debattieren, dann heißt das, daß der (Sehr gut! bei der CDU/CSU)
Anteil des Bundes an diesem Betrag — das geht
auch an die Adresse von Herrn Kollegen Hahn — denn es handelt sich um eine nationale Frage von
in diesem Jahr 18,4 % Bildung plus Wissenschaft — allergrößter Bedeutung,
ausmacht und daß der Anteil des Bundes im Jahre (Beifall bei der CDU/CSU)
1975 auf etwa 30% steigen soll und wird und im ob wir die Zahlen der Abiturienten in einer unver-
Jahre 1980 sicher noch höher sein wird. Wenn man antwortlichen Weise steigern und nachher 20 %
von der Zahl 100 Milliarden DM Anfang der 80er eines Altersjahrgangs vor den Türen der Universi-
Jahre ausgeht oder von den 25 Milliarden DM täten als enttäuschte Leute stehen haben, die kei-
heute, darf man nicht sagen, daß der Bund daran nen Studienplatz finden. Das ist auch ein Problem
nur einen Anteil von 6 % hat. von außerordentlicher sozialer Bedeutung. Sie müs-
(Abg. Dr. Martin: Jetzt doch!) sen sehen, daß dies nicht parteipolitisch gefärbt ist,
— Nein, an den 25 Milliarden DM, die wir derzeit sondern meine Verantwortung als Kultusminister —
für Bildung und Wissenschaft — d. h. zu deutsch: ich bin der älteste Kultusminister im Amt und habe
für Bildung und Forschung — ausgeben, hat der viele Erfahrungen auf diesem Gebiet — gebietet es,
Bund einen Anteil von 18,4 %. Da beißt die Maus daß ich sage, was auf diesem Gebiet realistisch ist.
keinen Faden ab.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
Sie können sich natürlich auch ein Gebiet heraus- Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
picken, auf dem der Anteil des Bundes 0 % beträgt:
Herrn Abgeordneten Dr. Sperling?
das sind nämlich die Schulen. In der Tat tut der
Bund für die Schulen praktisch gar nichts; dies
kann er auch nicht. Man kann auf diese Weise auf Dr. Sperling (SPD) : Herr Minister, halten Sie es
einen Anteil von 0 °/o kommen, aber das hat doch nicht für ein noch schlimmeres Problem, daß wir, ob-
keinen Sinn! Wir müssen Bildung und Forschung wohl wir vielleicht die Möglichkeit hätten, so viele
doch immer zusammen sehen. Schon wegen der Abiturienten oder Hochschulstudierende zu bekom-
Hochschulen sind sie gar nicht auseinanderzudivi- men, darauf verzichten und damit das Intelligenz-
dieren. potential dieses Volkes sozusagen brachlegen?
Könnte es nicht genutzt werden, um das Wachstum
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Martin:
der Wirtschaft zu steigern? Müssen wir denn immer
Darauf kommen wir noch zurück!)
erst fragen: Wieviel Geld haben wir? Können wir
nicht erst fragen: Wohin wollen wir, und wie mobi-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
lisieren wir dann das Geld dafür?
Das Wort hat der Kultusminister des Landes Baden
Württemberg, Herr Minister Hahn.
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Würt-
temberg: Da geben Sie mir ein ganz ausgezeichnetes
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Würt-
Stichwort. Es geht darum, daß wir das fortschreiben
temberg: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
müssen, was als tatsächlicher Trend vorhanden ist.
Da ich leider nicht die Möglichkeit habe, aus dem
DamitbenworchzugldieFavonHr
Hohen Hause heraus Fragen zu stellen, muß ich
Leussink: Wieviel Prozent halten Sie für richtig?
noch einmal das Wort ergreifen.
Wenn wir den Trend, wie er sich entwickelt, die
Ich muß Ihnen, lieber Herr Leussink, sagen: So
steigenden Zahlen der Abiturienten und auch die
leicht kommen Sie mit einer blumenreichen Sprache
und mit der Beschwörung von Himmel und Hölle bei Wünsche aus der Bevölkerung nehmen — die Pro-
den harten Fragen, die ich zu stellen habe, nicht blematik der Bedarfsfeststellung ist mir völlig be-
davon. Das, was Sie gesagt haben, ist völlig richtig: kannt; wir brauchen sie im Augenblick nicht weiter
Ich bin in gewisser Weise im Wissenschaftsrat mit zu erörtern —, wenn wir alles das berücksichtigen,
dieser Berechnung, die ich zwei Jahre lang immer kommen wir im ganzen auf 22 %. Das kann sich
wieder vorgetragen habe — das ist mir von allen natürlich ein bißchen nach oben oder unten verän-
bescheinigt worden —, nicht gegen die wissenschaft- dern, aber das ist noch realistisch. 50 % sind nicht
liche Kommission durchgekommen. realistisch.

(Abg. Wehner: Das kann man verstehen!) Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

In der Kommission, in der sämtliche Kultusminister Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
und der Bund vertreten waren, waren alle — auch Raffert?
die SPD-Minister — mit mir der Meinung, daß diese
Zahlen vollkommen unrealistisch sind. D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Würt-
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) temberg: Gern.
4052 Deutscher Bundesta g — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Raffert (SPD) : Herr Minister, ist Ihnen bekannt, kleine Einheiten beibehält. Wenn wir das alles- jetzt
daß es in einem Land gelungen ist, innerhalb einer in viele nebeneinanderlaufende Kurse auflösen,
einzigen Dekade die Zahl der Abiturienten — je- unter denen das zehnjährige, das elfjährige, das
weils auf einen Altersjahrgang bezogen — von 30 % zwölfjährige Kind sich jeweils einen aussucht — eine
auf 60 % und die Zahl der Studierenden von 15 auf Stunde ist es drüben in der Klasse mit diesen Kin
30 % zu steigern? Das war in der letzten Dekade dern zusammen, die nächste Stunde ist es in einer
in Schweden. ganz anderen Klasse mit ganz anderen Kindern, und
so weiter, ohne daß das Kind eine richtige Heimat
D. Dr. Hahn, Minister des Landes Baden-Würt- in der Schule hat —,
temberg: Ich muß Ihnen sagen, daß mir diese Zahl (Lachen bei der SPD)
nicht bekannt ist. Auf der anderen Seite ist aber dann frage ich: wie wirkt sich das letztlich sozial
sofort die Frage nach der Niveausenkung zu stellen. aus? Sind das nicht außerordentlich wichtige psycho-
(Zurufe von der SPD.) logische, sozio-psychologische Fragen, die hier ge-
stellt werden müssen?
Die Frage nach der Niveausenkung ist so ernst, daß
jedenfalls an diesen Hochschulen in Schweden ge- (Beifall bei der CDU/CSU.)
fragt wird, wie man mit den Leuten noch fertig Es ist mir bisher kaum begegnet, daß diese sich
werden kann, die weitgehend nicht mehr das Ni- heute doch wahrhaftig nahelegende Frage ernsthaft
veau haben, das sie in früheren Zeiten hatten. Ein diskutiert worden ist, und ich meine, ich hätte allen
Hinweis auf Schweden ist hier in gar keiner Weise Grund sie Ihnen hier einmal nahezubringen.
ein Beweis. Ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf,
daß es nicht gelingen wird, hier in zehn Jahren Herr Leussink, Sie schlagen eine Steigerung der
eine Vermehrung der Abiturientenzahlen von 10 % Bundesbeteiligungen an den Ausgaben für das Bil-
auf 50 % zu erreichen und damit fertig zu werden. dungswesen bis zum Jahre 1980 bis auf etwa 30 %
vor. Sehr schön! Aber zunächst einmal müssen Sie
(Zuruf des Abg. Wehner.) von der grundgesetzlichen Situation ausgehen. Sie
Jetzt noch ein Weiteres, Herr Leussink. Sie ha- müssen bei der Verteilung der Gelder von den Auf-
ben gesagt, Sie hätten sich der Utopie verschrieben, gaben, so wie sie verteilt sind, ausgehen. Tatsäch-
und Sie meinten, die Utopie sei etwas sehr Wichti- lich sind es die Länder, denen fast alle Aufgaben
ges. Sicher, es gibt eine Utopie, die man entwickeln aus dem Bundesbericht zufallen. Deswegen muß es
und der man nachgehen kann; sie kann auch man- dann auch zu einem neuen Schlüssel für die Vertei-
ches in Bewegung bringen. Aber in dieser Situation lung zwischen Bund und Ländern kommen. Das ganz
— und das war schon sehr oft in der deutschen allein ist die Lösung der Frage.
Geschichte so — ist Utopie unser Unglück. Es ist (Beifall bei der CDU/CSU.)
geradezu ein deutscher Nationalfehler, daß wir
immer den Utopien nachlaufen und dadurch die De- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
mokratie untergraben. Das Wort hat der Herr Bundesminister für Bildung
(Beifall bei der CDU/CSU. — Widerspruch und Wissenschaft, Professor Leussink.
bei der SPD.)
Meine Damen und Herren, es kommt auf den rela- Dr.-Ing. Leussink, Bundesminister für Bildung
tiven Fortschritt an. Er ist viel wichtiger als die und Wissenschaft: Sehr verehrter Herr Kollege
Utopie. Die Tatsache, daß man die Leistungen der Hahn, in der Tat wird es nicht so einfach sein mit
vergangenen Jahre, eine ganz gewaltige Anstren- den Zahlen. Ihre Zahl ist 25 %. Wenn Sie sich jetzt
gung auf dem kulturpolitischen Gebiet, immer als einmal anschauen, wieviel heute in dem System,
gar nichts ansieht, liegt daran, daß man sich immer das demnächst wohl in etwa das gesamte Hoch-
an der Utopie orientiert, statt zu fragen: Was ist schulsystem werden könnte, verweilen, dann kom-
uns möglich, wenn wir alle miteinander kooperie- men Sie zu einem Jahrgangsprozentsatz von an-
ren? Nur dann wird sich die Demokratie in unse- nähernd 20 %. Wenn Sie diesen Anteil in zehn
rem Lande halten. Das ganze Unbehagen unserer Jahren nur auf 25 % erhöhen wollen, dann sind Sie
Jugend liegt daran, daß sie sich an Utopien statt weit unter dem Trend der letzten zehn Jahre. Denn
am realen Fortschritt orientiert. allein die lineare Trendverlängerung der letzten
(Beifall bei der CDU/CSU.) zehn Jahre bringt viel mehr. Ich vermute, daß Sie
bei Ihren Berechnungen immer noch das alte Uni-
Die Utopie ist geradezu der Feind des realen Fort- versitätssystem vor Augen haben. Wenn Sie dabei
schritts in dieser Situation. 25 % zugrunde legen, sind wir völlig einig. Dann
(Widerspruch bei den Regierungsparteien.) besteht zwischen uns überhaupt keine Differenz,
was ja sehr schön wäre.
Herr Leussink, Sie haben die Erwähnung des
Rauschgifts, die bei mir nur ganz nebenbei geschah, Ich darf etwas zur Utopie sagen. Das haben Sie
hochgespielt. Ich habe ja eine ganz andere Frage falsch interpretiert. Ich habe gesagt: Für mich ist
gestellt. Ich habe die Frage gestellt nach den ganz das keine Utopie, die Vorstellungen sind sehr rea-
großen Systemen mit der Aufgabe kleiner Einhei- listisch. Ich wäre nur betrübt, wenn Sie es nicht
ten, also nach dem, was wir in der Universität ha- als Utopie bezeichnen würden.
ben, gerade in der deutschen Universität im Unter- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
schied zur angelsächsischen Universität, die ja parteien.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4053

Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:


-
-
sein, zu sagen, daß man die integrierte Gesamt
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Probst. schule zwar nicht erprobt habe, aber sie als das
Alleinseligmachende in der Zukunft im Unterrichts-
Dr. Probst (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine wesen wie auch im Hochschulwesen ansehen möchte.
sehr geehrten Damen und Herren! Nach diesen sehr Wir streiten uns doch hier um die Offenheit, um
detaillierten Wechselreden der Regierenden in die- die Frage, wieweit wir den Entwicklungen der Zu-
sem Lande vielleicht wieder zurück zu der parla- kunft offen gegenüberstehen.
mentarischen Auseinandersetzung. Ich meine, wir
sollten dankbar sein, daß es heute möglich war, sehr Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

unterschiedliche und auch gegenläufige Auffassun- Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischen-
gen hier vor diesem Hohen Hause zu diskutieren, frage des Herrn Abgeordneten Lohmar?
einfach deshalb, weil es in so einer wichtigen
Frage notwendig ist, die Standpunkte abzuklären. Dr. Probst (CDU/CSU) : Ja, ich möchte den Ge-
Wir sollten gerade auch dem Herrn Kultusminister dankengang nur noch schnell zu Ende führen.
Hahn besonders dankbar sein, daß er sich hier der Wenn sich dann ein so kühler Mann wie der Herr
unangenehmen Aufgabe unterzieht, das, was sich Kollege Lohmar noch dazu versteigt, einzig in der
nicht so populär anhört, vor diesem Hause zu ver- integrierten Gesamtschule das Demokratische in
treten. diesem Lande zu sehen, dann weiß ich überhaupt
Lassen Sie mich aber noch ein paar Bemerkungen nicht mehr, wie man diese ideologische Versteige-
zu den Rednern machen, zunächst zu Herrn Kultus- rung beurteilen soll. Dann sind doch wir von der
minister von Oertzen. Man kann, glaube ich, dann Union, wenn wir das nicht wollen, keine Demokra-
mit ihm völlig übereinstimmen, wenn man davon ten. Genau das hat er Ihnen doch vorgeworfen, Herr
ausgeht — das wollte er im Zusammenhang mit Martin.
der integrierten Gesamtschule gesagt haben —, daß (Zurufe von der CDU/CSU: Genau!)
hier eben nicht alles erprobt ist, ja, daß manches
nicht so läuft, wie man es gern hätte. Bloß der Dr. Lohmar (SPD) : Herr Kollege Probst, darf
Schluß, der daraus gezogen wird, daß man nämlich ich die letzte Bemerkung von Ihnen zu der Anmer-
die integrierte Gesamtschule mit allen Konsequen- kung benutzen, daß ich für die pädagogische Vor-
zen deshalb einführen müsse, weil noch nicht der zugswürdigkeit des Gesamtschule plädiert habe und
Beweis da ist, daß es völlig unmöglich ist, sie ein- nicht dafür, daß sie die einzig mögliche demokra-
zuführen —, ja, diese Konsequenz ist es doch ge- tische Form in unserem Lande sei. Aber dies wollte
rade, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. ich nicht fragen. Ich wollte Sie gern fragen, wie Sie
die beiden vorhergehenden letzten Bemerkungen in
Der Bildungsbericht der Bundesregierung ist in- Ihrer Rede miteinander vereinbaren wollen: auf der
sofern eine schöne Sache, als man die mit ihm auf- einen Seite die These, daß die SPD und die Bundes-
geworfenen Fragen einmal vor dem Hohen Haus regierung in einem Jahr kein schnelleres Tempo
diskutieren kann. Daß er inhaltlich nichts Neues ist, vorgelegt hätten, und auf der anderen Seite Ihre
ja sogar ein etwas dürftiges Konglomerat von dem Warnung, etwa in Sachen Gesamtschule nun wirk-
ist, was der Bildungsrat und der Wissenschaftsrat lich voranzumachen? Man kann doch nur das eine
gemacht haben, liegt in der Natur der Sache. Es ist oder das andere wollen.
meiner Meinung nach zunächst überhaupt einmal
wertvoll, daß man hier vor diesem Hohen Hause Dr. Probst (CDU/CSU): Herr Lohmar, ich weiß
darüber diskutieren kann. nicht, ob das jetzt wieder eine der in der SPD üb-
Wir hätten allerdings, Herr Minister, wesentlich lichen falschen Alternativen ist. Es ist doch völlig
mehr erwartet. Wir hätten heute bereits Schritte klar, daß die Frage der inneren Reformen nicht eine
erwartet. Ich darf darauf hinweisen, daß es doch Sache von heute ist.
diese SPD war, die zehn Jahre lang gesagt hat, was (Zuruf von der SPD: Aha!)
sie an inneren Reformen alles leisten werde, wenn Sie müssen doch einfach zur Kenntnis nehmen, daß
sie nur schnell an die Regierung komme. Nach die Reform im Schulwesen längst eingesetzt hat und
einem Jahr hätten wir erwartet, daß jetzt Schritte daß das, was im Bildungsbericht heute vorgelegt
sichtbar werden, daß jetzt sichtbar wird, was Sie wird, eigentlich nichts anderes als ein Sammelsurium
tun wollen. all dessen ist, was man heute in der bildungspoliti-
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) schen Landschaft der Länder findet.
Statt solcher Schritte haben Sie eine Nuance fest- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Scho
gelegt, nämlich die integrierte Gesamtschule als das ber: Genau richtig! — Zuruf von der SPD:
alleinseligmachende Modell. Auch in Bayern?)
(Abg. Dr. Meinecke: Steht ja gar nicht drin!) — Natürlich! Auf Bayern komme ich noch zu spre-
chen, wenn ich mich mit Herrn Moersch auseinander-
— Es ist heute wiederholt diskutiert worden, Herr setze. Er hat dazu verschiedene Ausführungen ge-
Meinecke, und es scheint so die Auffassung zu macht.
sein. Wenn das nicht der Fall wäre, könnten wir
uns sehr, sehr schnell einigen. Uns und mir beson- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

ders, da ich mich in diesem Metier einigermaßen Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischen-
auskenne, scheint es wissenschaftlich nicht seriös zu frage des Abgeordneten Sperling?
4054 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Probst (CDU/CSU) : Ja, bitte! häuser, das sei unsere schlichte Meinung, fielen- so-
wieso vom Himmel. Ich muß Sie aber einmal fra-
Dr. Sperling (SPD) : Herr Probst, würden Sie, gen: Wer hat denn anfangs Steuersenkungen ver-
damit wir uns nachher nicht über Worte streiten, sprochen. Die „Regierung der inneren Reformen
zur Kenntnis nehmen, daß Sozialdemokraten das hat doch offenbar in völliger Fehleinschätzung der
Seligmachen anderen Institutionen als den Schulen realen Verhältnisse echte Steuersenkungen verspro-
überlassen. chen.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
(Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Dr. Huys: Das ist noch nie so klar ausgesprochen wor
Das ist läppisch! Nicht darauf antworten! den wie heute abend! Es war entwaffnend!
Wollen Sie ernst genommen werden, Herr — Heiterkeit bei der SPD.)
Sperling?)
— Das war gar nicht entwaffnend, Herr Kollege
Wehner.
Dr. Probst (CDU/CSU) : Etwas anderes habe ich (Abg. Dr. Schober: Es ist aber wahr!)
von den Sozialdemokraten gar nicht erwartet. Ich
habe nicht gedacht, daß Sie die Leute in den Schulen Es ist klar, daß Sie das nicht gern hören.
gar in Ihren eigenen Schulen - unbedingt selig (Abg. Wehner: Im Gegenteil! Ich bin Ihnen
machen wollen. so dankbar für diese Erleuchtung! Des
(Zurufe von der SPD und Gegenrufe von wegen bin ich so lange hiergeblieben!)
der CDU/CSU.) — Daß Sie natürlich versuchen, das ins Lächerliche
Meine Damen und Herren, es ist heute sehr viel zu ziehen, entspricht Ihrem Stil.
darüber geredet worden, was wir eigentlich wollten. Meine Damen und Herren, ich möchte ein paar
In den grundsätzlichen Fragen und Zielen sind wir Beweise dafür antreten, daß die Bildungsreform
uns einig. Sie sind nämlich auf Grund des Fort- tatsächlich schon begonnen hat. Ich meine, gerade
schritts der Reformen inzwischen so weit gediehen, der Bund hätte allen Grund, den Ländern dafür zu
daß sie heute fast Allgemeingut sind. danken, daß Sie auf dem Gebiet der Bildung un-
(Abg. Dr. Lohmar: Das haben wir soeben geheure Anstrengungen unternommen haben. Das
bei Herrn Hahn gehört!) gilt nicht nur für das Experimentieren, sondern auch
für das Aufwenden von Mitteln. Ich darf das viel-
In den organisatorischen Fragen sind wir uns nur
leicht an Hand einiger Zahlen aus Bayern stellver-
deshalb nicht einig, weil Sie sich hier ideologisch
tretend für die anderen Länder verdeutlichen.
verschließen, weil Sie hier nicht den offenen Weg
gehen und die Dinge sich nicht so entwickeln lassen, (Abg. Dr. von Dohnanyi: Um Gottes
wie sie sich entwickeln werden. willen!)
(Abg. Dr. von Dohnanyi: Damit es so bleibt, Ich bin mir darüber im klaren, daß die anderen
wie es ist, Herr Probst? — Abg. Dr. Scho Länder, gleich welcher Couleur, ähnliche Anstren-
ber: Keiner will das!) gungen gemacht haben.
— Es ist natürlich sehr einfach, den anderen immer In Bayern ist die Landschulreform durchgeführt.
dann als rückständig und als besonders hartnäckig Wir haben heute praktisch keine Zwergschulen
konservativ zu bezeichnen, wenn er nicht bereit ist, mehr, meine Damen und Herren. Ist das eine Lei-
jeden geistigen Höhenflug mitzumachen. stung oder nicht?
Meine Damen und Herren, wenn man ein Schul- (Lachen und ironischer Beifall bei den
system, und sei es die integrierte Gesamtschule, ein- Regierungsparteien. — Zurufe von der
führen will, ohne daß man die nötige wissenschaft- SPD: Jawohl!)
liche und praktische Rückendeckung hat, gleicht das — Ich freue mich außerordentlich, daß Sie dem
einem Hochseilakt, bei dem allerdings nicht diejeni-
Erfolg der bayerischen Entwicklung solchen Beifall
gen abstürzen, die die Urheber für diesen Hochseil-
zollen.
akt sind, sondern die Kinder, die in der Zukunft
in die Schule gehen müssen. So sieht es doch in (Abg. Moersch: Daher der Name Hinter
Wirklichkeit aus. huber!)

(Abg. Wehner: Das war ein gewaltiges Einige weitere Zahlen: In Bayern haben 77 % aller
Bild! — Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Hauptschüler heute Englischunterricht.
Dr. Schober: Es ist kein Netz darunter, und (Zurufe von der SPD: Enorm! — Donner
das ist das Entscheidende!) wetter! — Abg. Moersch: Auch Deutsch?)
Meine Damen und Herren, der Herr Kollege Loh- Die Übertrittsquoten für Realschulen bzw. Gym-
mar hat gesagt, daß das Experiment als politisch nasien sind in den letzten zehn Jahren von 18,9
reformerisches Wagnis notwendig sei. Völlig ein- auf 30,8 bzw. von 18,3 auf 24 % gestiegen. 201
verstanden! Wir wenden uns nicht gegen das Experi- weiterführende Schulen sind entweder neu gebaut
ment, sondern gegen die Generalforderung, nur in oder voll ausgebaut worden; die Kosten dafür be-
Richtung auf dieses Experiment hin zu gehen. Hier- liefen sich auf etwa 2 Milliarden DM. Die Zahl der
in liegt aber ein gewaltiger Widerspruch. Lehrer ist in den letzten zehn Jahren um 16 000
Herr Kollege Lohmar, Sie sagen, die CDU denke angewachsen. Die Haushaltssteigerung sieht so aus:
nur daran, den Konsum anzuheizen. Die Kranken 1960: 856 Millionen, 1970: 2,9 Milliarden DM.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4055

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Niederbayern von den sogenannten unterprivile-


Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischen- gierten Schichten 57 % an den weiterführenden
frage des Herrn Abgeordneten Moersch? Schulen vertreten sind. Zum Vergleich: München hat
nur 25 % der unterprivilegierten Schüler an diesen
Moersch (FDP) : Herr Kollege Dr. Probst, wollen Schulen. Sie mögen daraus ersehen, daß die Chan-
Sie uns vielleicht auch noch mitteilen, daß das cengleichheit, die auch eine Frage der Regionen ist,
Volksbegehren in Bayern von der CSU ausgegan- auch durch die Art der Schulplanung im Lande ge-
gen ist? währleistet wird und schon große Fortschritte ge-
macht hat. Es ist also nicht so, daß man in diesen
(Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) Gebieten erst auf ein Schulmodell warten müßte,
das noch nicht genügend geprüft ist.
Dr. Probst (CDU/CSU) : Herr Moersch, nur die
große Unkenntnis hinsichtlich der bildungspoliti- Meine Damen und Herren, die Länder haben un-
schen Verhältnisse in Bayern Ihrerseits kann es geheure Anstrengungen unternommen und auch un-
ausmachen, daß Sie nicht realisieren, daß es das geheure Leistungen vollbracht. Ich meine, wir vom
Volksbegehren der CSU in Bayern war, das dieses Bund sollten dafür dankbar sein. Wir haben allen
moderne System eröffnet hat. Grund, auf Grund dieser Überlegungen das födera-
tive System als vernünftig und also sogar sehr gut
(Lachen bei den Regierungsparteien. — zu bezeichnen, einfach deshalb, weil in den Ländern
Vereinzelt Beifall bei der CDU/CSU.) das Gebiet der Bildungspolitik den ersten Stellen-
— Meine Damen und Herren, wenn Sie lachen, ist wert in den Haushalten besitzt, was vom Bund nicht
es Unkenntnis. unbedingt gesagt werden könnte, Die Länder haben
(Abg. Wehner: Ja, ja!) eben die Bildungsaufgabe in der Hauptsache zu be-
treuen, und sie haben die Konsequenzen daraus
Wissen Sie denn, gezogen.
(Zurufe von der CDU/CSU: Das wollen
Bloß vor einem sollten wir in Zukunft warnen:
sie nicht wissen! — Das paßt nicht ins
daß wir hier als Bund quasi die Normen festlegen,
Konzept!)
was künftig im Bildungssystem geschehen soll, aber
daß wir, wenn es nach dem Volksbegehren der SPD nicht gleichzeitig auch sagen, wie sich das realisieren
gegangen wäre, in ,Bayern heute noch die Konfes- läßt und woher die Gelder dazu kommen. Das könnte
sionsschule hätten? Wissen Sie denn das? dann dazu führen, daß die Länder sich gegenseitig
(Lachen bei der SPD. — Beifall bei der zerfleischen. Das wäre dem Gesamtsystem nicht un-
CDU/CSU. — Abg. Dorn: Wollen Sie zur bedingt förderlich.
Märchenstunde übergehen?) Die Frage der Finanzierung ist heute schon häufig
angesprochen worden. Gestatten Sie mir, daß ich
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: hierzu noch ein Wort sage. Der Herr Bundeskanzler
Herr Abgeordneter Probst, gestatten Sie eine Zwi- hat in dem Interview, das im „Stern" der vergan-
schenfrage des Abgeordneten Hansen? genen Woche abgedruckt worden ist, gesagt, wenn
er seine Regierungserklärung noch einmal schreiben
Dr. Probst (CDU/CSU) : Ja, Herr Hansen, wenn müsse, würde er hineinschreiben, daß nicht alles auf
es sein muß. einmal gemacht werden könne und daß man auch
Opfer verlangen müsse. Es mutet grotesk an, daß
ein Bundeskanzler, der ja lange auch Regierender
Hansen (SPD) : Herr Kollege Probst, da Sie hier Bürgermeister von Berlin war, nach einem Jahr zu
nun schon so eine fulminante Erfolgsstatistik auf-
dieser Erkenntnis kommt: „Man kann nicht alles auf
stellen, frage ich Sie: Haben Sie auch einmal aus-
einmal machen." Das ist eine völlig neue Erkenntnis,
gerechnet, wie viele Schulen mehr Sie noch hätten
eine bisher überhaupt noch nicht gekannte Neuig-
bauen können, wenn der bayerische Staat nicht
keit.
Herrn von Finck 100 Millionen DM geschenkt hätte?
(Zurufe von der SPD: Für Sie! — Heiterkeit
links.)
Dr. Probst (CDU/CSU) : Wenn er was nicht — Für mich natürlich nicht, für den Herrn Bundes-
hätte? — Herr Kollege Hansen, ich habe Ihre Frage
kanzler offenbar.
leider nicht verstanden.
(Abg. Dr. Schober: Die lohnt auch keine Wir haben heute realistische Zahlen über den
Antwort!) Geldbedarf gehört: daß es sich um Größenordnungen
von 100 bis 130 Milliarden DM handeln werde, was
Ich werde also in meinen Ausführungen fortfahren. 1980 aufgewendet werden soll. Wir lesen Zahlen,
Herr Kollege Moersch, Sie haben davon gespro- daß der Straßenbau bis 1985 125 Milliarden ver-
chen, daß in den CDU-Ländern -- und wie viel schlingen wird, daß der Krankenhausbau enorm viel
schlimmer müßte es dann noch in einem CSU-Land Geld kosten wird, auch in einer Größe von vie-
sein — Werbung gegen die Bildung auf dem Lande len Milliarden. In der Frage des Umweltschutzes
betrieben wird und daß hier das bildungspolitische sind bisher Zahlen wohlweislich überhaupt noch
Gefälle ja erst noch richtig aufgebaut wird. — Nun, nicht genannt worden, weil man wahrscheinlich mit
es gibt eine Umfrage, eine Analyse für Bayern. Da- Größen rechnen muß, die wir uns überhaupt noch
nach steht fest — jetzt hören Sie gut her -, daß in nicht haben träumen lassen. Auch ist nicht davon
4056 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Probst
gesprochen worden, was die Forschung verschlingen Frau Schlei (SPD) : Herr Kollege, Sie haben so
wird, und nicht davon, was künftig in den sozialen beeindruckende Zahlen über die Bestrebungen des
Wohnungsbau mehr investiert werden muß. Wenn bayerischen Bildungswesens genannt. Darf ich Sie
Sie alles das zusammennehmen, kommen Sie auf fragen, wie Sie es dann erklären, daß bayerische
finanzielle Ausgabengrößen, die in viele hundert Mädchen die niedrigste Beteiligung am Abitur ha-
Milliarden DM gehen. Es ist doch ganz logisch, daß ben — nämlich eine Quote von 4,8 % — während ,

die „Regierung der inneren Reformen" nicht sagen die Berliner Mädchen in der Zeit der Regierung von
kann: „Wir werden das in einer Bund-Länder-Kom- Willy Brandt eine Quote der Beteiligung am Abitur
mission diskutieren", sondern daß sie echte finanz- von 9,7 % erreicht haben? Wie erklären Sie sich, daß
politische Schwerpunkte setzen muß, Sie bisher hinsichtlich der Mädchen- und Frauen-
bildung nicht erfolgreicher gewesen sind?
(Beifall bei der CDU/CSU)
das sie sich nämlich entscheiden muß, was sie zu tun
Dr. Probst (CDU/CSU) : Gnädige Frau, das ist
gedenkt. Alles andere ist nur Augenauswischerei
natürlich ein ganz hervorragender statistischer Trick.
und führt nicht weiter.
Aber Ihnen müßte doch geläufig sein, daß Sie einen
Wenn Sie den Bildungsbericht heute vorlegen und Stadtstaat nicht mit einem Flächenstaat vergleichen
nicht gleichzeitig wenigstens in Aussicht stellen, können. Nehmen Sie einmal die Zahlen von Mün-
wie Sie die finanzpolitischen Probleme lösen wollen, chen und Berlin, dann werden Sie feststellen kön-
(Zurufe von der SPD) nen, daß die Unterschiede nicht sehr gravierend
sind.
dann gleicht das jemandem, der ein kaltes Buffett
serviert, die Gäste dazu lädt, aber dann nur die Zum anderen ist es ja nicht so, daß jeder weiter-
Speisekarte aufliegen hat. führende Schulweg unbedingt ins Abitur münden
muß. Das haben Sie bei dieser Schau sicherlich nicht
(Beifall bei der CDU/CSU.) berücksichtigt.
Sie müssen das kalte Buffett, das Sie als große Hoff- Der Herr Bundeskanzler hat ganz zum Schluß noch
nung hingestellt haben, auch ausfüllen. ein sehr schönes Wort gesagt. Er sagte: Natürlich
(Zurufe von der SPD: Nächster Absatz! — dürfen wir auch das berufsbildende Schulwesen
Nächste Seite! — Heiterkeit links.) nicht vergessen. — Wenn man die heutige Debatte
verfolgt hat, wenn man den Bildungsbericht liest
Wir werden natürlich gerade im Zusammenhang
und wenn man gerade das noch einmal mit verfolgt,
mit der Betrachtung der Finanzprobleme Schwer-
was der Herr Sperling in Zwischenfragen immer
punkte setzen müssen. Der Herr Kollege Martin hat
wieder deutlich gemacht hat, dann kann man doch
schon einige genannt. Lassen Sie mich noch einmal
den Eindruck gewinnen, daß Sie Förderung im Un-
auf ein paar eingehen.
terricht ausschließlich als eine Entwicklung hin zum
Ich möchte noch ein Wort zu der Frage der Lehrer- Abitur verstehen. Meine Damen und Herren, sind
bildung sagen. Es ist gar kein Zweifel, daß jede Art Sie sich darüber im klaren, daß Sie dann, wenn Sie
Weiterführung von Reformen auf das engste mit der diesen unheilvollen Weg gehen, eine neue Klasse
Lehrerfortbildung gekoppelt ist. Sicher ist es aber schaffen, nämlich die Klasse derjenigen, die das
auch so, daß wir heute noch gar nicht sagen können, Abitur nicht schaffen und sozusagen keinen Zugang
ob wir bei Ausschöpfung von modernen Lehrmetho- zu höheren Möglichkeiten haben? Das ist außer-
den — z. B. programmiertes Lernen und derglei- ordentlich gefährlich.
chen — für eine gegebene Zahl von Schülern die Wir sollten diesen Gegensatz abbauen. Wir soll-
gleiche Zahl von Lehrern wie heute brauchen. Wir ten durch einen besonders starken Impuls für das
sollten sehen, was auf diesem Gebiet an Rationali- berufsbildende Schulwesen den Gegensatz abbauen,
sierung möglich ist. der heute darin besteht, daß man alles, was theore-
Lassen Sie mich dazu noch einmal ein Beispiel aus tisch abstrakte Ausbildung ist, überbewertet und
Bayern anführen. In Bayern ist für ein anderes Ge- alles, was praktische Ausbildung oder praktische
biet ein völlig neuer, bisher in der Bundesrepublik Begabung darstellt, relativ unterbewertet, obwohl
einmaliger Weg gegangen worden: der Weg des bei der gewaltigen Ausdehnung des Dienstleistungs-
Telekollegs. Das Telekolleg hat 1969 dreimal soviel gewerbes — gerade auch des qualifizierten Dienst-
Abschlüsse gebracht wie alle Abendrealschulen der leistungsgewerbes — der Typ besonders gefragt
Bundesrepublik zusammen. Die Kosten — vor allen sein wird, der intelligent und manuell oder sonst
praktisch begabt ist.
Dingen konnten die Lehrerkosten sehr gesenkt wer-
den — betrugen je Ausgebildeten, also für jeden,
der die mittlere Reife geschafft hat, nur ein Zehntel Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

dessen, was sonst in einem normalen Fall aufge- Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischen-
wendet werden muß. frage des Abgeordneten Horn? —

Horn (SPD) : Herr Kollege Probst, Sie sagten vor-


Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
hin: wenn man den Bildungsbericht liest, könnte
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der man den Eindruck haben. Warum haben Sie eigent-
Frau Kollegin Schlei? lich immer den falschen Eindruck? Wenn Sie den
Bildungsbericht gelesen hätten, wenn Sie die Aus-
Dr. Probst (CDU/CSU) : Ja, bitte! führungen von Herrn Professor Leussink und auch
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4057
Horn -
die Ausführungen des Bundeskanzlers angehört hät- dungssystems entsteht durch gleichwertige Bildungs-
ten, mit denen er expressis verbis auf die berufliche gänge auf den einzelnen Stufen, durch viele leicht
Bildung hingewiesen hat, dann wären Sie doch erreichbare Umsteige-Stationen, sowohl innerhalb
sicher zu anderen Folgerungen gekommen und hät- der Stufen als auch zur nächst höheren, oder durch
ten hier nicht offene Türen eingestoßen. gleichrangige Abschlüsse.
Innerhalb eines solchen Systems, meine Damen
Dr. Probst (CDU/CSU) : Ich- kann Ihnen dazu und Herren, stellt die Berufsausbildung einen Be-
nur noch einmal sagen, was der Herr Bundeskanzler standteil von gleichem Wert und von gleichem
gesagt hat. Der Herr Bundeskanzler hat ganz am Rang dar. Reform der Bildung heißt immer auch
Schluß etwa folgendes gesagt: Es geht auch um Reform der Berufsbildung.
Berufsbildung. In diesem „auch" liegt es, meine
Damen und Herren. (Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Zuruf des Abg. Raffert. — Weitere Zurufe Parlament und Regierung tragen für Studenten und
von der SPD.) Auszubildende die gleiche Verantwortung. Zwischen
der Berufsausbildung im Hochschulseminar und der
— Wenn es anders sein sollte, Herr Raffert, sollte Berufsausbildung an der Werkbank darf kein Unter-
es mich nur freuen. Es wäre wunderbar, sollte es
schied bestehen, der sich in der Qualität der Aus-
anders sein.
bildung niederschlägt.
(Abg. Raffert: Diese Bestellung erfüllen wir (Beifall.)
sofort!)
Aber, meine Damen und Herren, viele von den
Förderung nur in der abstrakt-theoretischen Rich 1,2 Millionen auszubildenden Facharbeitern und
tung, das wäre eine zu einseitig ausgerichtete Sache. Handwerkern erleben es täglich anders. Viele, wenn
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum auch längst nicht alle, werden während ihrer Aus-
Schluß kommen und noch einmal zusammenfassen. bildungszeit mit Hilfsarbeiten beschäftigt, die sie
Der Bildungsbericht, der hier vorliegt, ist auf der billiger erbringen als jeder andere Hilfsarbeiter.
einen Seite zunächst einmal eine Basis für die Dis- (Abg. Dr. Schober: Leider, ja!)
kussion. Er wird uns nicht von der Pflicht entbinden
— schon gar nicht die Bundesregierung —, finanz- Viele werden sogar mit Arbeiten beschäftigt, die mit
politische Wege aufzuzeigen, um hier echt Reform ihrem Beruf und ihrer Ausbildung überhaupt nichts
machen zu können. Wenn Sie sich allerdings über- zu tun haben. Das sind sicherlich nur besonders
legen, daß Sie eine Steuererhöhung in Höhe eines krasse und besonders deutliche Mängelerscheinun-
Viertels der Lohn- und Einkommensteuer, aus der gen in der Berufsausbildung, aber sie sind vorhan-
man 60 Milliarden DM schöpft, vorsähen, könnte den.
man daraus immer noch erst 15 Milliarden DM Wir kennen außerdem das erhebliche Qualifika-
schöpfen. Meine Damen und Herren, sehen Sie zu, tionsgefälle, das sich im Zahlenverhältnisse zwi-
daß Sie einen realistischen Weg finden, und sehen schen Ausbildern und Auszubildenden, haupt- und
Sie zu, daß Sie die wichtigeren Dinge morgen an- nebenberuflichen Ausbildern und der Ausstattung
packen. Die Bundesregierung kann es sich nicht so der Ausbildungsstätten zeigt und die betriebliche
leicht machen, daß sie sagt: Bis 1974 werden wir Berufsausbildung belastet.
die Bildungsausgaben um 4,6 Milliarden DM stei-
gern. Sie sagt wörtlich: „Mit dieser Ausgabensteige- Wir wissen, daß betriebliche und schulische Aus-
rung leistet der Bund seinen finanziellen Beitrag zur bildung nicht gut genug ineinandergreifen. Wir
Bewältigung der Aufgaben in Bildung und Wissen- wissen, meine Damen und Herren, daß fast 15 000
schaft." So einfach kann es sich die Bundesregierung Berufsschullehrer fehlen. Mit anderen Worten:
nicht machen. Sie muß Zeichen setzen. 39 % aller Stellen sind nicht ordnungsgemäß besetzt.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Die Reformbedürftigkeit der Berufsschulen nach Auf-
bau und Lehrstoff versteht sich fast nebenbei.
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen: Das alles ist bekannt. Im Bildungsbericht heißt es:
Das Wort hat der Herr Bundesminister für Arbeit „Die Unruhe in der berufstätigen Jugend und die
und Sozialordnung, Herr Bundesminister Arendt. öffentliche Kritik an der beruflichen Bildung neh-
(Zurufe von der SPD: Hierbleiben, Herr men zu". Da ergibt sich die Frage: Was soll gesche
Probst, jetzt kommt die Berufsbildung!) hen?
Die Bundesregierung wird in der Bund-Länder-
Arendt, Bundesminister für Arbeit und Sozial- Kommission darauf drängen, daß die Lehrpläne der
ordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten allgemeinbildenden Schulen die vorberufliche Bil-
Damen und Herren! Die Bundesregierung geht von dung mehr als bisher berücksichtigen. Die Schüler
der Vorstellung eines einheitlichen Bildungssystems aller Klassen müssen einen besseren Überblick er-
aus. Das heißt insbesondere, daß wir das bestehende halten, wie sich Wissenschaft und Facharbeit in
System von allen Eigenschaften befreien wollen, die einer industrialisierten, arbeitsteiligen Gesellschaft
wie Mausefallen wirken: die Entscheidung für einen gegenseitig bedingen und voneinander abhängen.
bestimmten Bildungsgang ist leicht zu treffen, aber Allen Schülern soll die Wirklichkeit der Wirtschafts-
späterhin nur unter großen Anstrengengen oder aber und Arbeitswelt eröffnet werden. Das kann zugleich
überhaupt nicht mehr zu ändern. Die Einheit des Bil als Vorbereitung auf die Berufswahl dienen.
4058 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Bundesminister Arendt
-
Gewicht hat in unseren Augen die Verbesserung Meine Damen und Herren, damit erhalten die Ju-
der Berufsberatung. genlichen einen zusätzlichen Schutz auf die ge-
setzliche Qualitätsgarantie für ihre Ausbildung.
(Abg. Dr. Schober: Sehr wichtig!)
Auf diesem Felde besteht eine enge Zusammen- Wir halten es auch für richtig, daß die Jugend-
lichen besser über ihre Rechte und Pflichten im Aus-
arbeit zwischen der Bundesregierung und der Bun-
bildungsverhältnis unterrichtet werden. Die Bundes-
desanstalt für Arbeit, um z. B. zentrale Informations-
regierung wird die Jugendlichen selbst befragen,
und Beratungsstellen innerhalb der Arbeitsverwal-
welche Mängel sie während ihrer Berufsausbildung
tung einzurichten.
erfahren haben. Solche Erfahrungen der Auszubil-
Zunächst werden wir die Richtlinien über die Zu- denden werden in eine Informationsschrift eingehen,
sammenarbeit zwischen Schule und Berufsberatung die sie zum Berufsbildungsgesetz herausgeben will.
neu fassen und die Ausbildung der Berufsberater
Meine Damen und Herren, die Einhaltung der
verbessern. Es kommt uns darauf an, Fehlentschei-
Vorschriften aus dem Jugendarbeitsschutzgesetz
dungen der Jugendlichen für ihre Berufswahl mög-
müssen stärker kontrolliert und Verstöße weniger
lichst zu vermeiden. Berufsberatung bedeutet für
nachsichtig behandelt werden.
ihre persönliche Entwicklung eine ganz entschei-
dende Weichenstellung. (Beifall bei der SPD.)

Die Erfahrungen mit der betrieblichen Berufsaus- Um dies zu erreichen — das ist nicht Sache der Bun-
bildung schwanken — ich habe das schon angedeu- desregierung — hat die Bundesregierung Gespräche
tet zwischen negativen und positiven Eindrücken. mit den Ländern aufgenommen.
Großes Gewicht haben deshalb rechtsverbindliche, Einen weiteren Schwerpunkt in der Reform der
bundeseinheitliche und vor allem moderne Ausbil- beruflichen Bildung erkennt die Bundesregierung
dungsordnungen. in der Ordnung der beruflichen Fortbildung. Die
Wir finden aber leider die Tatsache vor, daß bei Berufsausbildung allein reicht für den Arbeitnehmer
den Industrie- und Handelskammern die sogenann- immer weniger aus, den Anforderungen zu entspre-
ten Ordnungsmittel für die 531 Ausbildungsberufe chen, die der technische und wirtschaftliche Wandel
seit 1945 noch nicht einmal zur Hälfte an die ver- stellt. Wir halten deshalb ein breit gefächertes, aber
änderten Verhältnisse angepaßt worden sind. überschaubares System der Fortbildung und seinen
Ausbau für notwendig. Im Interesse der Arbeitneh-
(Beifall bei der SPD.) mer werden wir von der gesetzlichen Möglichkeit,
Die Bundesregierung wird in kurzer Zeit neue Aus- berufliche Fortbildungsgänge durch Rechtsverord-
bildungsordnungen erlassen, z. B. für schlosserische nung zu regeln, im erforderlichen Maß Gebrauch
und elektro-technische Berufe, für die Berufe der machen. Mit diesen Unternehmungen hofft die Bun-
Textil- und Bekleidungsindustrie und für einige desregierung, die Eigeninitiative der Arbeitnehmer
andere Berufszweige. durch gesellschaftliche Hilfen zu unterstützen. Damit
hilft die Gesellschaft sich am Ende selbst.
(Abg. Dr. Schober: Herr Minister, hoffent
lich macht Herr Moersch das mit!) In diesem Zusammenhang mißt die Bundesregie-
rung dem Bildungsurlaub für berufliche und gesell-
Das macht er mit; darauf können Sie sich verlassen. schaftspolitische Fortbildung eine hohe Bedeutung
zu.
Für die Qualität der Ausbildung besitzen Ausbil-
(Beifall bei der SPD.)
der und Ausbildungsstätten eine entscheidende Be-
deutung. Die Bundesregierung wird die Vorschrif- Ich möchte wiederholen, was ich schon angedeutet
ten für die fachliche und pädagogische Eignung der habe: In einer demokratischen Gesellschaft, in einer
Ausbilder erhöhen, und zwar über die Vorschrif- Gesellschaft mündiger Bürger, können Beruf und
ten hinaus, die das Berufsbildungsgesetz schon ent- Arbeit nur im Zusammenhang mit dem gesamten
hält. Sie wird sich dabei des Bundesausschusses für gesellschaftlichen Leben gesehen und gewertet wer-
Berufsbildung bedienen und sich mit ihm abstim- den. In einer Demokratie sind Beruf und Arbeit Er-
men. Die Berufsbildungsausschüsse in den Ländern scheinungen und Vorgänge ersten Ranges.
und bei den Kammern müssen in diesem Zusammen- (Zustimmung bei der SPD.)
hang wichtige Kontrollfunktionen erfüllen.
Deshalb halten wir es für unabdingbar, daß der Bil
Viele Schwierigkeiten für die Berufsausbildung lie- dungsurlaub sowohl zur staatsbürgerlichen als auch
gen aber außerhalb der gesetzlichen Neuerungen, in zur beruflichen Weiterbildung genutzt werden kann.
den Betrieben selbst. Solche Schwierigkeiten müssen
an Ort und Stelle behoben werden. Wir wollen deshalb (Beifall bei der SPD.)
unsere Pläne für die Verbesserung der beruflichen Das wissenschaftliche Fundament für eine ver-
Ausbildung im Ausbau der betrieblichen Mitbestim- besserte und an zukünftige Veränderungen anpas-
mung abstützen. Der Entwurf eines neuen Betriebs- sungsfähige Berufsausbildung wird das Bundesinsti-
verfassungsgesetzes — darüber werden wir in die- tut für Berufsbildungsforschung legen. Der Aufbau
sem Hohen Hause bald zu sprechen haben — erwei- dieses Instituts, das nach dem Auftrag des Berufs-
tert die Rechte der Jugendvertretungen und ver- bildungsgesetzes entstanden ist, wird naturgemäß
stärkt die Mitbestimmung des Betriebsrates in der eine gewisse Zeit beanspruchen. Ich kann Ihnen aber
betrieblichen Berufsbildung. sagen, daß bereits im Juli der Präsident und die
(Beifall bei der SPD.) Abteilungsdirektoren gewählt worden sind und mit
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4059

Bundesminister Arendt
der Arbeit begonnen haben. Wir versprechen uns -
ders wichtig zu sein scheint. Neben der Bildungs-
von der gesetzlich vorgeschriebenen Selbstverwal- finanzierung, die bei der Verbesserung und dem
tung des Instituts vor allem, daß die Vertreter der Ausbau unseres Bildungssystems die entscheidende
gesellschaftlichen Gruppen in der Selbstverwaltung Frage sein wird, stellt der Lehrermangel bei der
die Arbeitsergebnisse aus dem Institut ohne Verzug Fortentwicklung des Bildungswesens sicherlich das
in die Praxis übertragen werden. Das wird jedoch schwierigste Problem dar. Eine genügende Zahl von
nach Lage der Dinge nicht von heute auf morgen Lehrern ist die unabdingbare Voraussetzung für
geschehen können. jegliche Bildungsreform. Was sollen alle Reform-
Zuvor wird die Bundesregierung deshalb ein pläne, was nutzen alle baulichen Investitionen in
Aktionsprogramm zur beruflichen Bildung vorlegen. der Zukunft, wenn bereits jetzt nicht genügend
Dieses Programm faßt die konkreten Schritte zusam- Lehrer zur Verfügung stehen?
men, mit denen die Bundesregierung den Auftrag (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
erfüllen will, den das Berufsbildungsgesetz ihr ge-
Der Lehrermangel besteht bereits 10 Jahre. Schü-
geben hat. Das Berufsbildungsgesetz stellt in seinen
grundsätzlichen Normen hohe Ansprüche an die ler, Lehrer und Eltern leiden unter ihm, die Lei-
Qualität der Berufsausbildung. Aber zwischen den stungsfähigkeit unserer Schulen wird durch ihn ent
Wünschen des Gesetzgebers und der Wirklichkeit scheident geschwächt. Das Defizit an Lehrern ist in
des Berufslebens bestehen erhebliche Spannungen. den letzten Jahren trotz aller Bemühungen der
Wir werden darauf achten, ob die vorhandenen Länder stetig gewachsen und hat inzwischen ein
gesetzlichen Mittel zur Verbesserung der beruflichen bedrohliches Ausmaß erreicht. Wenn es uns nicht
Bildung ausreichen und wo sie möglicherweise nicht gelingt, hier eine Änderung herbeizuführen, bleiben
ausreichen. Wir werden dafür sorgen, daß der Wan- Reformpläne bildungspolitische Utopien. Die Frak-
del in der Berufsausbildung, den das Gesetz nor- tion der CDU/CSU ist der Meinung, daß der Lehrer-
miert, für den Auszubildenden auch in der Praxis mangel ein Schlüsselproblem der Bildungspolitik
spürbar wird. Das Aktionsprogramm zur beruflichen darstellt und daß die Gewinnung und Ausbildung
Bildung lehnt sich an die Arbeiten des Deutschen der benötigten Zahl von qualifizierten Lehrern die
Bildungsrats und an den Bildungsbericht der Bundes- erste und wichtigste bildungspolitische Aufgabe ist.
regierung an. Wir werden es insbesondere mit der (Beifall bei der CDU/CSU.)
jungen Generation in der Öffentlichkeit diskutieren.
In diesem Sinne steht die Beseitigung des Lehrer-
Das soll in der Form eines Gesprächs geschehen mit
mangels für die CDU/CSU-Fraktion an erster Stelle
allen, die dazu bereit sind.
der Prioritätenskala, und dies, weil wir an die
Meine Damen und Herren, ich darf zusammen- Millionen Kinder und Jugendlichen denken, die zur
fassen. Das bestehende System der Berufsausbil- Zeit auf unseren Schulen sind und denen wir zu-
dung war über Jahrzehnte vorbildlich. Jetzt ist es nächst einmal — das ist unsere Meinung — helfen
reformbedürftig. müssen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei der CDU/CSU.)

Nicht alles aber ist so schlecht, daß es nur durch Der Bildungsbericht widmet dem Problem des
Zerschlagen verbessert werden könnte. Lehrermangels nur einen kleinen Absatz. Daß hier
ein Kardinalproblem unserer Schul- und Bildungs-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) politik liegt, ist nicht genügend herausgearbeitet.
Aber — das muß ich hinzufügen — dieses System Das liegt auf der Generallinie des Bildungsberichts,
hat zweifellos weiche Stellen und verschlissene die Probleme nicht konkret anzusprechen, kein poli-
Partien. tisches Konzept zu skizzieren, sondern über einer
(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!) Projektion auf das Jahr 1980 — die selbstverständ-
lich auch notwendig ist — die Gegenwartsprobleme
Deshalb hat die Bundesregierung die ernste Absicht,
und die Gegenwartsaufgaben nicht hinlänglich zu
die Berufsausbildung in der Bundesrepublik wie-
berücksichtigen.
derum zu einem vorbildlichen System umzuformen.
Das kann die Fachausbildung nicht allein betreffen. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Vorbildlich kann die Berufsausbildung nur sein, Wie ist die Lage? Exakte Zahlen für das gesamte
wenn sie Bestandteil der sozialen Demokratie wird, Bundesgebiet liegen nicht vor; eine Folge der
auf die wir hinarbeiten. Das Stichwort Reform der Misere der deutschen Bildungsstatistik, der schleu-
Berufsausbildung ordnet die Bundesregierung unter nigst durch die Schaffung eines umfassenden In-
das Ziel, die Chancengleichheit in Wirtschaft und formations- und Datenerhebungssystems abgeholfen
Gesellschaft zu schaffen. werden sollte. Der Strukturplan des Bildungsrates
(Beifall.) gibt lediglich die Ist-Zahlen der Lehrer. Danach
waren im Jahre 1968 im Bundesgebiet 325 000 haupt-
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: amtliche und hauptberufliche Lehrer im gesamten
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hermesdorf. Schulbereich tätig. Das Defizit ist leider nicht aus-
gewiesen.
Dr. Hermesdorf (Schleiden) (CDU/CSU) : Herr Nach einer gesicherten Statistik, die auf Schüler-
Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie und Lehrerzahlen der KMK basiert, fehlten im
mir, aus dem Gesamtkomplex der Bildungspolitik Schuljahr 1968/69 bei Grund-, Haupt- und Sonder-
einen Teilbereich herauszugreifen, der mir beson schulen 23,5 % der Lehrer, bei Realschulen 20,5 %
4060 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Dr. Hermesdorf (Schieiden)


und bei Gymnasien 25,4 %. Inzwischen dürfte sich gischer Arbeit entlasten und sie für ihre eigentliche
-
bei Grund- und Hauptschulen sowie bei Realschu- Tätigkeit freimachen. In anderen europäischen Län-
len die Lage etwas entspannt haben. Bei den Gym- dern, so z. B. in Frankreich, haben sich diese Mit-
nasien und im Bereich des berufsbildenden Schul- arbeiter ohne Studium schon seit langem glänzend
wesens aber hat sie sich verschlechtert. Am stärk- bewährt. Auch die technischen Unterrichtsmittel, die
sten ist der mathematische und naturwissenschaft- immer größere Bedeutung in der Schule gewinnen,
liche Unterricht betroffen. Seine Lage in der Bun- können zur Entlastung und zur Einsparung von Leh-
desrepublik ist beklagenswert. rern beitragen. Dasselbe gilt von Lehr- und Lernpro-
grammen. Es wäre wünschenswert, daß das Ministe-
Hier schließt sich ein verhängnisvoller Kreislauf,
rium für Bildung und Wissenschaft die pädagogi-
der sobald als möglich durchbrochen werden muß.
schen Technologien in den Kreis der zu fördernden
Da der Unterricht in diesen Fächern nicht mehr voll
neuen Technologien aufnehmen oder aber ihre Ent-
erteilt wird und schon lange nicht mehr voll er-
wicklung auf anderem Wege intensiver als bisher
teilt wird, reduziert sich die Zahl der in diesen
fördern würde.
Disziplinen gut ausgebildeten Absolventen unserer
Schulen, und dies in einer Zeit, in der mathemati- (Beifall bei der CDU/CSU.)
sche und naturwissenschaftliche Kenntnisse immer
wichtiger werden und Mathematiker und Natur- Nur langfristige Maßnahmen können den Lehrer-
wissenschaftler in steigender Zahl benötigt werden. mangel wirksam verringern und eine bessere Be-
darfsdeckung in Zukunft sichern. Gerechte Besol-
In den kommenden Jahren wird der Lehrerbedarf dung, befriedigende Aufstiegsmöglichkeiten, die
nach übereinstimmender Ansicht aller Experten ra- Chance, sich im Laufe der Berufstätigkeit höher
pide ansteigen. Nach den Berechnungen des Struk- qualifizieren zu können, und die Möglichkeit gere-
turplans des Bildungsrates — ich unterstelle ein- gelter Weiterbildung werden die pädagogischen Be-
mal, daß die Zahlen stimmen — werden im Jahre rufe in Zukunft für Studienbewerber attraktiver
1980 im gesamten Schulbereich 569 000 — das ist gestalten können. Sehr viel wird von der Studien-
die untere Grenze — bis 699 000 — das ist die reform abhängen, die zur Zeit von der KMK beraten
obere Grenze — Lehrkräfte benötigt werden. Das wird, und davon, ob es gelingt, durch Ausbau der
bedeutet gegenüber dem Stand von 1967 eine wissenschaftlichen Hochschulen genügend Studien-
Steigerung um 67 % (Untergrenze) bis 105 % (Ober- plätze anzubieten.
grenze). In dieser Zahl sind die für den Elementar-
bereich benötigten Erzieher, deren Zahl man für das Lehrerbildung und Lehrerbedarf müssen in Zu-
Jahr 1980 auf 71 000 bis 95 000 beziffert, noch nicht kunft besser aufeinander bezogen werden. Voraus-
einmal enthalten. Der Bildungsbericht schweigt sich setzung dafür ist eine Qualifizierung des Lehrer-
darüber aus, wie die Bundesregierung sich konkret bedarfs nach Unterrichtsfächer sowie eine bessere
die Deckung dieses zukünftigen Bedarfs vorstellt. Informierung der Studienbewerber und vorher schon
Der Mangel an Lehrkräften, der nach Ländern, der Schüler der Sekundarstufe II über die — wenn
Schulformen und Fächern sehr verschieden ist, ich einmal dieses Wort gebrauchen darf — Markt-
lage.
wird zur Zeit zum Teil verschleiert, zugleich aber
auch in seinem Auswirkungen gemildert durch Be- Der Antrag meiner Fraktion zum Lehrermangel
schäftigung vieler Aushilfslehrer, durch Überstun- und Lehrerbedarf auf Drucksache VI/ 1271 möchte die
den hauptamtlicher Lehrkräfte, durch Klassenkom- Erstellung genauer statistischer Unterlagen veran-
binationen, durch erhöhte Klassenfrequenzen und lassen. Wir wollen Klarheit und Ubersicht. Unge-
sonstige befristete Überbrückungsmaßnahmen. Ent- sicherte Annahmen oder utopisches Wunschdenken
scheidend aber dafür, daß unsere Schulen trotz des dürfen nicht Basis weitesttragender politischer und
großen Lehrermangels ihre Aufgaben erfüllen kön- finanzpolitischer Entscheidungen werden. Wir be-
nen, ist das vorbildliche Engagement unserer Leh- nötigen fundierte, maßvolle, sachgerechte Ansätze
rer. unter Berücksichtigung der gebotenen Sparsamkeit
(Beifall bei der CDU/CSU.) und auch unter Berücksichtigung des neueren Trends
Sie überwinden die vielen mißlichen Schwierigkei- der Bevölkerungsentwicklung, der ja manche An-
ten und Erschwernisse durch erhöhten Einsatz. sätze nach unten zu korrigieren zwingt. Die statisti-
schen Berechnungen sollen nicht Selbstzweck sein,
Die Öffentlichkeit würdigt die schwierige Arbeit
sondern es uns ermöglichen, in pragmatischem Vor-
der Lehrer in überfüllten Klassen und bei dauern-
gehen eine wirkungsvolle Gesamtstrategie der
der Mehrbelastung viel zu wenig. Sie sollte den
zweckdienlichen Maßnahmen gezielt und planmäßig
Lehrern mehr Rückendeckung geben und sie auch
zu entwerfen und durchzuführen.
psychologisch mehr tragen und stützen. Wir sind
allen Lehrern sehr zum Dank verpflichtet, und das Im zweiten Teil fordert unser Antrag die Regie-
sollte in diesem Hohen Hause einmal deutlich aus- rung auf, diejenigen Maßnahmen zu skizzieren, die
gesprochen werden. sie zur Überwindung des Lehrermangels im Rah-
(Beifall bei allen Fraktionen.) men von Vereinbarungen mit den Ländern zu för-
dern beabsichtigt. Die Bundesregierung hat zwar
Es gibt etliche Maßnahmen, durch die man die
im Bildungsbericht eine entsprechende Absichts-
Lehrer in relativ kurzer Zeit entlasten und die Ar-
erklärung abgegeben, aber keine konkreten Maß-
beitsbedingungen in der Schule verbessern könnte.
nahmen genannt.
So sollten Assistenten für technische Aufgaben und
Verwaltungsaufgaben die Lehrer von nicht pädago (Abg. Dr. Schober: So ist es!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4061
Dr. Hermesdorf (Schleiden)
Meine Damen und Herren, ich bitte das Hohe die schwierigen Probleme der Finanzierung der-Bil-
gründung des Antrags meiner Fraktion auf Druck- dungsaufgaben der Zukunft können nur sinnvoll
sache V1/ 1271 den zuständigen Ausschüssen zu über- diskutiert werden, wenn exakte Kostenberechnun-
weisen. gen für bestimmte Teilgebiete vorliegen. Damit soll
(Beifall bei der CDU/CSU.) nicht der Arbeit der Bildungsplanungskommission
vorgegriffen werden. Wir sehen vielmehr in einer
Gestatten Sie mir noch ein kurzes Wort zur Be-
solchen Ausgabenberechnung eine Vorarbeit für die
gründuno des Antrags meiner Fraktion auf Druck-
Tätigkeit der Kommission und eine notwendige
sache VI/ 1272, der die Bundesregierung auffordert,
Ergänzung der Vorschläge des Bildungsberichtes.
eine Berechnung der Ausgaben für die vorschulische
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte
Erziehung bis zum Jahre 1980 vorzulegen.
Sie, den Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Druck-
(Abg. Schulte [Unna] : Herr Kollege, haben sache VI/ 1272 gemäß den Überweisungsvorschlägen
Sie früher schon einmal einen solchen An des Ältestenrates den zuständigen Ausschüssen zu
trag gestellt, oder ist es das erstemal?) überweisen.
— Ich bin, wenn Sie es wissen wollen, über elf (Beifall bei der CDU/CSU.)
Jahre im Parlament von Nordrhein-Westfalen ge-
wesen. Es liegen schon genug Beispiele dafür vor, Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich darf Herrn Ab-
daß solche Berechnungen möglich sind. Wenn Sie geordneten Hermesdorf zu seiner Jungfernrede in
die einschlägige Literatur durchsehen, werden Sie diesem Hause gratulieren.
feststellen, daß das geht. (Beifall.)
Ich kann mich bei der Begründung des Antrags Das Wort hat der Abgeordnete Liehr.
sehr kurzfassen, da die Problematik der vorschuli-
schen Erziehung heute bereits eingehend diskutiert
worden ist. Meine Fraktion erkennt der Vorschul- Liehr (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Ich denke, man kann
erziehung einen hohen Stellenwert bei der Ver-
schlicht und einfach sagen: der Bericht der Bundes-
besserung und dem Ausbau unseres Bildungswesens
regierung zur Bildungspolitik ist ein Markstein in
zu. Wir haben heute morgen schon davon gespro-
der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik
chen, daß die moderne psychologische und erzie-
Deutschland. Diese Bundesregierung will mit den
hungswissenschaftliche Forschung die vorschulische
längst überfälligen Reformen endlich ernst machen.
Erziehung der Kinder des vierten bis sechsten
Lebensjahres für besonders geeignet hält, Benach- (Zurufe von der CDU/CSU: Wann denn?)
teiligungen durch soziale Herkunft, häusliches — Wer Reformen begrüßt, Herr Dr. Martin, der wird
Sprachmilieu, mangelnde Umweltanregungen und sich nur freuen können über die Absicht, die der
fehlende Lernanreize auszugleichen und dadurch Herr Bundesarbeitsminister soeben z. B. für den Be-
Milieuschranken abzubauen. reich, zu dem ich mich hier speziell äußern möchte,
den Bereich der beruflichen Bildung, erklärt. Der
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter, Herr Bundesarbeitsminister hat mitgeteilt, daß die
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Bundesregierung ein spezielles Aktionsprogramm
Hansen? zur beruflichen Bildung im Auge hat, durchführen
wird und der jungen Generation anbieten wird. Ich
Dr. Hermesdorf (Schleiden) (CDU/CSU) : Herr denke, wir sollten die Bundesregierung dazu be-
Präsident, ich habe noch eine Minute Redezeit. Ich glückwünschen.
möchte deshalb mit meinen Ausführungen fortfah- Mit dem Bundesarbeitsminister zusammen sagen
ren, um zum Schluß zu kommen. Herr Kollege wir, daß Bildungsreform zugleich auch eine Reform
Hansen, ich denke, daß wir im Ausschuß ausgiebig der beruflichen Bildung ist. Dies ist keine umwer-
Gelegenheit dazu haben, diese Punkte zu bespre- fend neue Erkenntnis. Aber neu ist, daß wir uns nicht
chen. länger, wie in den zwei Nachkriegsjahrzehnten, die
Die frühkindliche Förderung im Kindergarten und hinter uns liegen, bis zum Überdruß — wir haben
in den Vorschulklassen ist hervorragend geeignet, das auch heute abend gemerkt — nur an den Er-
die Erziehungs- und Bildungsmöglichkeiten in der kenntnissen berauschen, sondern die Erkenntnisse,
Familie zu untertützen und zu ergänzen und zur die vorliegen — das ist neu an dieser Feststel-
Herstellung der Chancengleichheit in unserer Ge- lung —, endlich auch in die Praxis umsetzen. Der
sellschaft Entscheidendes beizutragen. Die Bundes- ernsthafte Wille dazu ist gegeben.
regierung hat ebenfalls die Vorschulerziehung als (Beifall bei den Regierungsparteien.)
einen wichtigen Schritt zur Schulreform bezeichnet.
Viel zu lange war die berufliche Bildung ein Stief-
Wir freuen uns über diese Übereinstimmung der
kind der allgemeinen Bildungsbemühungen. Nie-
Meinungen. Die Fraktion der CDU/CSU hält es für
mand wird mich mißverstehen, wenn ich hier sage:
erforderlich, daß die Bundesregierung in Zusammen-
so wichtig und im Grunde überfällig das ist, was
arbeit mit den Ländern und unter Berücksichtigung
unter der breitgehaltenen Überschrift „Hochschul-
der Vorarbeiten des Bildungsrates eine Voraus-
reform" steht, die Probleme der jungen Arbeitneh-
berechnung des Finanzbedarfs für die vorschulische
mer dürfen nicht länger in ihrem Schatten stehen.
Erziehung, so wie ihr quantitativer und qualitativer
Ausbau im Bildungsbericht skizziert ist, erstellt. (Zustimmung bei den Regierungsparteien
Bildungsplanung kann nur sinnvoll betrieben und und bei der CDU/CSU.)
4062 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Liehr
Es wäre verantwortungslos, die politischen Priori- Arbeit. Auch da gibt es einen ungeheuren Nachhol-
-
täten, die hier zu setzen sind, etwa an der Laut- bedarf, der zunächst nur durch Forschung gedeckt
stärke oder Aggressivität der in der Öffentlichkeit werden kann.
erhobenen Forderungen zu orientieren und etwa
Die Strukturverschiebungen zwischen traditionel-
zu glauben, daß die arbeitende Jugend wegen ihres
len Berufen, die Wandlung der Tätigkeitsinhalte bei
gemäßigten Verhaltens geringere Beachtung auch
diesen traditionellen Berufen spielen dabei ebenso
dieses Hauses verdiene.
eine gewichtige Rolle wie die sogenannten Zukunfts-
(Erneute Zustimmung bei den Regierungs berufe. Dazu gehört aber auch die zunehmende Kon-
parteien und bei der CDU/CSU.) zentration der Ausbildungsberufe. Der Bundes-
Ganz im Gegenteil! Ich kann hier nur Neugierige arbeitsminister hat darauf schon aufmerksam ge-
warnen und sagen: es ist spät, aber es ist nicht zu macht. Ich möchte noch ein paar, wie ich glaube,
spät, Reformen ohne äußeren Druck auch in diesem sehr eindrucksvolle Zahlen dagegensetzen. Über
Bereich der beruflichen Bildung durchzuführen. Es 50 % der männlichen Lehrlinge werden in nur
wäre jedenfalls verhängnisvoll, sich auch in diesem 12 Ausbildungsberufen ausgebildet. Bei den weib-
Felde Reformen abtrotzen zu lassen. Ich richte diese lichen Lehrlingen sind es sogar über 80 %, die in nur
Mahnung nicht ohne Grund und auch gestützt auf die 12 Ausbildungsberufen ausgebildet werden. Umge-
Erfahrung bei der Verabschiedung des Berufsbil- kehrt sind in 257 anerkannten Ausbildungsberufen
dungsgesetzes vor allem an die Adresse der CDU/ nur etwa 3300 Ausbildungsverhältnisse registriert,
CSU. Ich richte sie aber auch an die Adresse der d. h. 0,24 % des Gesamtbestandes. Das bedeutet
Arbeitgeberorganisationen und -kammern, ferner an schlicht und einfach, daß wir es hier mit einem un-
die Ausbildungsbetriebe und nicht zuletzt an die realistischen Angebot zu vieler Ausbildungsstellen
Landesregierungen, und ich tue dies in der beson- — man müßte dieses Wort an dieser Stelle in
deren Verantwortung für den Bereich des beruf- Gänsefüßchen setzen — zu tun haben. Darin liegt
lichen Schulwesens. gewiß eine der Ursachen dafür, daß wir in ganz
erheblichem Umfang berufliche Fehlleitungen junger
Die Bundesregierung verdient mit den Zielset- Menschen zu verzeichnen haben.
zungen ihres Berichts zur Bildungspolitik unser aller
Unterstützung. Erstmals haben wir die Chance, das Zu diesem Teil will ich nur zusammenfassend
Stadium unverbindlicher Reden und Empfehlungen sagen: wir glauben, daß ein Berufsbildungsplan als
zu verlassen und zu einer wirklichen Gemeinschafts- Teil eines Bildungsgesamtplans mit seinen Orientie-
leistung zwischen Bund und Ländern zu kommen. rungsdaten von erheblicher Bedeutung sein könnte.
Wenn ich diese sehr optimistische Feststellung
Was nun das Bildungsbudget anlangt, so kann
) treffe, möchte ich mich nicht beirren lassen durch
man hier wohl ohne Übertreibung feststellen, daß
das, was der Kultusminister von Baden-Württem-
der Dschungel in bezug auf die berufliche Bildung
berg, Herr Professor Hahn, hier nach meinem Da-
wohl am dichtesten ist. Hier gibt es einen überaus
fürhalten reichlich negativ und verzerrt dargestellt
großen Kostenanfall bei gediegener Ausbildung und
hat.
in nicht wenigen Fällen bei einer unzureichenden
(Abg. Dr. Schober: Die Zahlen sind ja da!
Ausbildung beachtliche Erträge. Ich weiß, daß dies
— Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
nur ein Teilaspekt des Ganzen ist. Aber ich darf in
Wir erwarten, daß der Bildungsgesamtplan und auch Erinnerung bringen, daß gerade heute erst ein An-
das Bildungsbudget nun innerhalb eines Jahres er- trag der Fraktionen der FDP und SPD vom Hause
stellt werden, wenn wir auch alle wissen, daß dies verabschiedet worden ist, wonach bis Ende 1971
leichter gesagt als getan ist, zumal die Datenerhe- Kosten und Finanzierung der beruflichen Bildung
bungs- und Informationssysteme völlig unzulänglich ermittelt werden sollen, damit wir ein klareres Bild
sind. davon bekommen, wie die Situation in den ver-
Herr Dr. Martin, Sie haben in Ihren Darstellungen schiedenen Berufen und Wirtschaftszweigen sein
z. B. beklagt, daß wir mit den elementaren Voraus- wird. Jedenfalls müssen Vorschläge dazu gemacht
setzungen in der Bildungspolitik, was überhaupt die werden, wie eine für die Einzelbetriebe gleich-
wissenschaftliche Fundierung anlangt, noch weit im rangige Bildungsfinanzierung gewährleistet werden
Rückstand sind. Dies ist nicht zuletzt auch ein Ein- kann.
geständnis eigener Versäumnisse in all den zurück- Ich denke, daß es ohne weiteres einleuchtend ist,
liegenden Jahren, daßwchsengtzliVrpfchune,wz.
(Beifall bei der SPD) B. aus dem Berufsbildungsgesetz ergeben, zu einem
wo wir uns bis zum Überdruß immer wieder mit den zusätzlichen Kostendruck für die ausbildungsinten-
Fragen der Bildungspolitik befaßt haben, zumal wir siven Betriebe führen und daß diejenigen Betriebe,
alle wissen, daß das, was heute spürbar werden soll, die ihren Ausbildungsverpflichtungen voll nach-
längere Anlaufzeiten — das dauert Jahre, zum Teil kommen — wir sollten ihnen bei dieser Gelegen-
noch länger — benötigt. heit auch einmal den Dank des Hauses ausspre-
chen —,
Auf dem Felde der beruflichen Bildung, die fest (Beifall bei allen Fraktionen)
im Bildungsgesamtplan integriert ist und integriert
sein muß — ich denke, daß daran nicht der geringste in einen Wettbewerbsnachteil gegenüber denjeni-
Zweifel besteht —, gibt es verheißungsvolle Ansätze gen Betrieben geraten, die nicht qualifiziert genug
durch die emsige Tätigkeit des Instituts für Arbeits- ausbilden oder überhaupt nicht zur Berufsbildung
markt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für junger Menschen beitragen, aber sehr wohl daran
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4063
Liehr
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interessiert sind, später gut ausgebildete Arbeit- mal der gesetzliche Mindestunterricht vermittelt
nehmer an sich zu ziehen. werden kann, vom zweiten Berufsschultag ganz zu
Für eine Lösung gibt es also zur Zeit noch keine schweigen. Hier liegt, nachdem vorhin Bayern so
abgerundeten Modelle, weder im In- noch im Aus- lobend herausgestellt worden ist, Berlin an ein-
land, die einer solchen überbetrieblichen, aus- samer Spitze und wird für alle anderen Länder zur
gleichenden Finanzierungsregelung zugrunde ge- Nachahmung empfohlen.
legt werden könnten. Daß aber gerade auch auf (Beifall bei der SPD.)
diesem Felde Untersuchungen von besonderem In-
Wir haben alle Veranlassung, meine Damen und
teresse sind, braucht wohl nicht weiter vertieft zu
Herren — und damit möchte ich schließen —, die
werden.
Bundesregierung und die Landesregierungen zu er-
Meine Damen und Herren, die Neuorientierung mutigen, die vorgelegte Konzeption, gestützt auf
der Zielvorstellungen gerade auch für den Bereich diese Bestandsaufnahme, zügig durchzusetzen.
der beruflichen Bildung wird durch den bildungs-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
politischen Bericht der Regierung sehr stark ge-
fördert. Besondere Beachtung verdient dabei die
Absicht, das berufliche Bildungswesen zum Be- Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat Herr
standteil der zweiten Stufe des Sekundarbereichs Abgeordneter Jung.
werden zu lassen. Nie zuvor ist der untrennbare
Zusammenhang zwischen Bildung und Ausbildung Jung (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr geehr-
durch eine Bundesregierung eindeutiger konzipiert ten Damen und Herren! Der Bildungsbericht reali-
worden als durch die Zielvorstellungen, die im Be- siert endlich die immer wieder von der FDP vor-
richt der Bundesregierung enthalten sind. getragenen Forderungen.
(Beifall bei der SPD.) (Abg. Leicht: Realisieren tut er nichts!)
Ich darf daran erinnern, daß die FDP als erste der
Nur so wird es im Bildungswesen möglich sein,
im Bundestag vertretenen Parteien auf ihrem Bun-
flexible, aber zugleich auch gleichwertige Über-
desparteitag 1951 die Bundeskompetenz im Bereich
gänge zu weiteren Ausbildungsgängen oder aber
des Bildungswesens gefordert und frühzeitig auf die
in den Beruf zu eröffnen und damit zugleich dem
Bedarf der Arbeitswelt gerecht zu werden, der sich Notwendigkeit der Entwicklung eines Planungs-
ständig wandelt und differenziert. instrumentariums im Bereich der Bildungspolitik
hingewiesen hat.
Meine Damen und Herren, diese langfristige
(Abg. Leicht: Aber realisiert ist damit noch
Zielsetzung läßt nicht außer acht, daß es gegen-
nichts, Herr Jung!)
wärtig darauf ankommt, das duale System der Be-
rufsausbildung, also die Verpflichtung von Betrieb — Aber der Bildungsbericht in dieser Form, Herr
und Schule, spürbar zu verbessern. Es ist schlechter- Kollege Leicht, ist ein großer Schritt dieser sozial-
dings ein Unding und einer Industrienation vom liberalen Koalition auf dem Wege zur inneren Re-
Range der Bundesrepublik Deutschland unwürdig, form unserer Gesellschaft, und zwar im Gegensatz
daß zwar das Praktisch-Fachliche eines Ausbil- zum Bildungsbericht 1968,
dungsberufs bundeseinheitlich geregelt wird, daß (Zuruf von der CDU/CSU: Da hat ja der
aber das Theoretisch-Schulische für ein und densel- Bund keine Kompetenz gehabt!)
ben Beruf elfmal unterschiedlich in den Ländern
zur Anwendung kommt. Ich hätte mir sehr ge- der bezeichnenderweise vom Bundesminister des
wünscht, daß der Kultusminister von Baden-Würt- Inneren herausgegeben wurde.
temberg, der hier gesprochen hat, seinen Beitrag (Abg. Pfeifer: Da gab es ja keine Kom
weniger polemisch angesetzt hätte, indem er die- petenzen!)
sem Hohen Haus zu erkennen gegeben hätte, ob
und inwieweit z. B. auch Baden-Württemberg nun- — Natürlich, das sage ich doch eben gerade. —
mehr bereit und in der Lage ist, dabei mitzuwirken, Er ist vom Bundesminister des Innern herausgege-
daß das, was den berufsschulischen Teil anbelangt, ben worden, und dort war auf 500 Seiten zusammen-
nun auch wirklich eine bundeseinheitliche Regelung getragen, was die Länder wollen. Man ließ also da-
erfährt. Dafür gibt es aus der Praxis heraus ein mals die Länder ihr Süppchen kochen und hat keine
vordringliches Bedürfnis. Ich denke, daß es künftig Information über die Zielvorstellungen der Bundes-
nicht länger dem Zufall überlassen bleiben darf, ob regierung gegeben. Das ist jetzt anders, jetzt end-
ein junger Arbeitnehmer in Bayern, in Hessen, in lich.
Schleswig-Holstein oder in Berlin ausgebildet wird. (Abg. Dr. Schober: Herr Jung, wir waren
auch nicht zuständig!)
Dazu gehört aber auch, daß man sich die Sorgen
der Berufsschullehrer vor Augen führt. Hier kann Jetzt endlich sind klare Zielvorstellungen entwik-
man nur schlicht und einfach feststellen, daß diese kelt worden, die zusammen mit den Ländern disku-
für den Bereich der beruflichen Bildung die eigent- tiert und in die Tat umgesetzt werden sollen.
liche Last zu tragen haben. 39 % aller Stellen sind Ich kann mir natürlich vorstellen, daß diese Ziel-
nicht ordnungsgemäß besetzt. Es fehlen etwa 15 000 vorstellungen nicht immer ganz in Ihrem Sinne sind.
Berufsschullehrer. Seit 1959 ist die Zahl der Be- Herr Kollege Martin, Sie hatten in Ihrer Rede vor-
rufsschullehrer beinahe konstant geblieben. Die hin als Mangel festgestellt, daß der Bildungsbericht
Folge davon ist, daß in einigen Ländern nicht ein der Regierung keine Interpretation des Bildungsbe-
4064 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970

Jung
griffes und der Bildungsinhalte enthalte. Dabei ist wendig haben und daß Möglichkeiten hierfür - er-
mir Art. 131 der bayerischen Verfassung eingefal- öffnet werden müssen. Das gleiche gilt natürlich
len, den ich mit Genehmigung des Präsidenten hier auch für Juristen, für Handwerker und für viele an-
zitieren möchte. Da heißt es: dere auch. Einzelne Berufsgruppen sind ohnehin zur
Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, ständigen Weiterbildung gezwungen. Denken Sie
Achtung vor religiöser Überzeugung und vor z. B. an die Programmierer.
der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Wie ist nun die Situation heute? Zwar sind Wei-
Verantwortungsgefühl und Verantwortungs- terbildungsmöglichkeiten vorhanden, aber ich stelle
freudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlos- fest: systemlos und durcheinander. Es bemühen sich
senheit für alles Wahre, Gute und Schöne. Die die Volkshochschulen, die Kirchen, die Gewerk-
Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der schaften, es bemühen sich Fernlehrinstitute und auch
Liebe zur bayerischen Heimat und zum deut- die Massenmedien Rundfunk, Fernsehen und Presse.
schen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung Aber es ist nicht koordiniert und nicht programmiert.
zu erziehen. Die Mädchen sind außerdem in der Die „Abschlüsse" — hier wirklich in Anführungs-
Säuglingspflege zu unterweisen. zeichen — in Form von Diplomen und Zertifikaten
Herr Kollege Martin, wollten Sie, als Sie vorhin Ihre sind weitgehend unbrauchbar. Es ist ein Chaos ge-
Forderung erhoben, daß die Bundesregierung das schaffen worden durch ein falsch verstandenes Prin-
oder so etwas Ähnliches als Interpretation des Bil- zip des Föderalismus, partikularistisches Denken
dungsbegriffs und der Bildungsinhalte in den Be- bestimmter Gruppen und — das darf man auch nicht
richt hätte hineinschreiben sollen? Wollten Sie das verschweigen — durch privates Gewinnstreben ein-
in der Tat? zelner Fernlehrinstitute auf Kosten eines wün-
schenswerten Bildungswillens vieler.
(Abg. Dr. Martin: Ja, das wollte ich!)
Nun, ich meine, die Diskussion, Damit keine Mißverständnisse entstehen: ich will
die Initiativen gesellschaftlicher Gruppen oder ein-
(Abg. Dr. Martin: Herr Jung, auf die Säug
zelner nicht schwächen. Im Gegenteil. Aber es muß
lingspflege hätte ich verzichtet!) hier eine Effektivierung fehlgeleiteter Kapazitäten
— sehr schön! — durch Koordination und Vermeidung von Geschäf-
(Abg. Fellermaier: Aber nicht auf das temachereien, z. B. im Fernunterricht, an allgemei-
Wahre, Gute und Schöne! — Abg. Dr. nen Interessen hergestellt werden. Daher ist es
Probst: Worauf würden Sie verzichten?) wichtig, daß eine Richtlinienkompetenz für den Bund
geschaffen wird, die Bildungsträger mit einem klar
die heute im Bundestag über diesen Bericht möglich
profilierten Abschlußsystem ermöglicht, das auch
ist, zeigt einen von der FDP gewünschten politischen
brauchbar ist. Es ist das Ziel, neue Kenntnisse für
Stil gegenüber dem Bürger. Anstatt dieses Haus in
den einzelnen zu eröffnen und Umschulungsmög-
eine Gesetzesmaschinerie in Bildungsfragen umzu-
lichkeiten zu schaffen, die durch die Weiterbildung
wandeln, werden die bildungspolitischen Konzep-
eben erst erleichtert werden. Denn die Mobilität in
tionen offen diskutiert, um wirksame Reformen
unserem Gesellschaftssystem ist nun einmal eine
durchzuführen.
Tatsache, und die Weiterbildung ist ein wesentlicher
In diesem Zusammenhang möchte ich zwei The- Faktor zur freien Entfaltung des einzelnen.
menkreise behandeln, nämlich die Vorschulerzie-
Darüber hinaus gilt es natürlich auch, die allge-
hung und die Weiterbildung. meine politische Bildung weiterzuentwickeln. Denn
Es ist nachgerade eine Binsenweisheit, daß Ste- die Demokratie braucht kritische Demokraten. Dies
henbleiben auf einem erreichten Bildungsniveau zu ist nur durch Bildung möglich. Wesentliche Voraus-
sozialer Stagnation und weiter zu sozialem Abstieg setzungen für die Weiterbildung sind das Ausbil-
führt. Das Tempo der gesellschaftlichen Entwicklung dungsförderungsgesetz und der Bildungsurlaub;
erfordert daher die Weiterbildung als integrierten mein Kollege Grüner wird möglicherweise über
Bestandteil der übrigen Bildungsbereiche. Sie ist da- diese Probleme auch noch kurz referieren. Der Bil-
von nicht zu trennen. dungsurlaub ist besonders notwendig, weil er das
Die „education permanente" oder verdeutscht: das Wechselspiel von berufspraktischen und weiterbil-
lebenslange Lernen ist eine elementare Forderung, denden Phasen, die sich gegenseitig befruchten,
nicht nur um sozialen Abstieg zu vermeiden, son- sicherstellt. Notwendig ist dabei, daß Wege der
dern auch um entfaltete Potenzen ständig weiterzu- Weiterbildung untereinander und mit anderen Bil-
entwickeln und Möglichkeiten zu schaffen, das ele- dungsbereichen integriert werden, also ein Bau-
mentare Bürgerrecht auf Bildung über den ersten Le- kastensystem entsteht, das den differenzierten indi-
bensabschnitt hinaus zu gewährleisten. viduellen Bedürfnissen angepaßt ist und das Bil-
dungs- und Ausbildungsgänge für den einzelnen
Die Notwendigkeit der Weiterbildung wird offen- ermöglicht.
sichtlich am Beispiel der Lehrer. Denn wir wissen ja
Dabei ist die Fachbildung mit der allgemeinen
alle, daß die Unterrichtsmethoden zum Teil hoff-
politischen Bildung untrennbar verbunden. Eine
nungslos veraltet sind und daß wir uns nach neuen
zwangsläufige Folge ist, daß „permanente Bildung"
Lehr- und Lernmethoden, nach programmiertem Ler-
heißt: permanente Bewegung an der Spitze des
nen, Sprachlabors usw., umsehen müssen. Aber sie
Problembewußtseins.
wird besonders deutlich im Bereich der Naturwissen-
schaften. Es ist selbstverständlich, daß Ärzte, Inge- Die gesellschaftliche Konsequenz ist unter ande-
nieure, Chemiker, Physiker die Weiterbildung not rem die Ausschaltung von Emotionen bei Konflikten,
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Jung
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Das wird z. B. besonders beim Generationskonflikt Liehr, folgendes: Ich bin fast von meinem Sessel ge-
deutlich. Wenn die ältere Generation bislang diese fallen, als Sie hier anfingen: Endlich können mal
Weiterbildungsmöglichkeit gehabt hätte, könnte sie die Reformen wirklich beginnen!
vermutlich die Probleme der jüngeren Generation Meine Damen und Herren, die Wirklichkeit sieht
besser nachvollziehen. Aber hier ist festzustellen, doch anders aus. Noch in keiner Legislaturperiode
daß weitgehend noch der Ausbildungsstand vorhan- des Deutschen Bundestages ist so viel für die be-
den ist, der vor dem zweiten Weltkrieg gegeben war. rufliche Bildung getan worden wie in der 5. Legisla-
Die Weiterbildungsmöglichkeiten in der Zwischen- turperiode.
zeit waren eben nicht so, wie wir sie uns vorstellen
und wie auch die Bundesregierung in ihrem Bil- (Abg. Liehr: Da hatten wir auch die Große
dungsbericht sie für notwendig hält. Koalition! — Abg. Schulte [Unna] : Da ha
ben wir mit Ihnen auch viel Last gehabt!)
Der Weiterbildung ist aber durch die Schaffung
von formalen Möglichkeiten allein nicht gedient. — Lieber Herr Kollege Liehr, Sie müßten genau
Daher muß der Bildungswille Lernmotivationen an- wissen — Sie waren ja Vorsitzender des Unteraus-
regen. Dazu ist hier insbesondere die vorschulische schusses —, welche Schwierigkeiten hier vorlagen.
Erziehung geeignet. Sie kamen nicht erst durch unsere Fraktion, sondern
schon durch den Streit in der Regierung über die
Wie ist es denn hier heute? Die Kinder sind bei Zuständigkeit und durch andere Dinge.
ihrem Schuleintritt weitgehend durch die soziale
und kulturelle Umwelt konditioniert. Die Chancen- (Abg. Mertes: Woher wissen Sie das?)
gleichheit, die auch im Laufe dieser Debatte immer Beispielsweise mußten wir uns mit der traditionel-
wieder herausgestellt wurde, ist schon beim Schul- len Entwicklung und der bundesstaatlichen Ord-
beginn nicht vorhanden. Die Elementarerziehung nung auseinandersetzen bzw. diese bei der Be-
muß deshalb korrigierend wirken. ratung des Berufsbildungsgesetzes berücksichtigen.
Der Bildungsbericht weist mit Recht auf die Be-
deutung der Vorschulbildung hin. Vorschulische Ein- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeord-
richtungen müssen die in mangelhaftem sozio-kultu- neter Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
rellen Hintergrund begründete Spracharmut besei- Abgeordneten Liehr?
tigen, den Wortschatz bereichern und die Ausdrucks-
möglichkeiten vergrößern. Als Folge stellt sich dann
Mü ller (Berlin) (CDU/CSU) : Bitte schön!
von selbst das steigende Selbstgefühl der Kinder
ein. Es stimuliert die eigene Betätigung und die ge-
sellschaftliche Kommunikation. Liehr (SPD) : Herr Kollege Müller, ist Ihnen in
der Eile entgangen, daß das, worauf wir uns dann
Zusammengefaßt: Die Milieueinflüsse müssen zu-
nach erheblichen Geburtswehen haben verständigen
rückgedrängt werden, die die Bildungsmotivation
können, noch einmal ganz entscheidend zum Nega-
erschweren und einschränken. Die FDP mißt der
tiven hin verändert worden ist durch Änderungs-
Lernmotivation entscheidende Bedeutung für die
anträge, die Ihre Fraktion dem Hause unterbreitet
Wahrnehmung von Bildungschancen im späteren
hat und die mit dazu beigetragen haben, daß dieses
Leben zu.
Berufsbildungsgesetz in der Öffentlichkeit und bei
Die Bedeutung der Elementarbildung ist also nicht den jungen Arbeitnehmern so ungeheuer in Verriß
zu verkennen. Sie stellt nicht nur die Chancengleich- geraten ist?
heit her, sondern fördert auch später die Bereitschaft (Beifall bei der SPD.)
zur éducation permanente. Der Bildungsbericht be-
tont deshalb mit Recht die Priorität dieser Elemen-
tarbildung und der vorschulischen Erziehung. Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Herr Kollege Liehr,
ich kann Ihnen nur sagen, daß an einer einzigen
Ich habe diese zwei Schwerpunkte behandelt, die Stelle, und zwar in der Handwerksordnung, Ände-
auch der Bildungsbericht als wesentlich erkennt und rungen vorgenommen worden sind, die an sich nur
die beinahe traditionelle Anliegen der Freien De- einer dort vorhandenen Tradition mehr Rechnung
mokraten sind. Betonen möchte ich noch, daß diese getragen haben, als das vorher der Fall war. Bei
liberalen Vorstellungen nicht nur Interesse in der allem anderen wissen Sie wie ich, daß es im Hand-
Öffentlichkeit gefunden haben, sondern auch weitge- werk genauso Anwendung findet wie in allen an-
hend — das wurde heute abend schon von verschie- deren Bereichen unserer Wirtschaft. Es ist also eine
denen Seiten deutlich gemacht — von den anderen weitgehende Übertreibung, was Sie hier vortragen.
Parteien anerkannt und akzeptiert worden sind. Sie wissen auch genauso, daß wir uns bei der Be-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) ratung dieser Gesetzentwürfe, über die ich hier
noch einige Worte sagen werde, immer von dem
gleichen gemeinsamen Gedanken haben leiten las-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der sen. Ich bin der Meinung, daß muß hier an diesem
Abgeordnete Müller (Berlin).
Pult einmal gesagt werden, zumal in der Diskussion
von allen Seiten wiederholt wurde, was auch unsere
Müller (Berlin) (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meinung ist. Wir sind uns einig, daß für alle Staats-
Meine Damen und Herren! Wegen der fortgeschrit- bürger die gleichen Bildungschancen bestehen müs-
tenen Zeit möchte ich mich auf ein paar Bemerkun- sen, wir sind uns aber auch einig, wie ich glaube,
gen beschränken. Zunächst aber, lieber Herr Kollege daß die berufliche Bildung den gleichen Rang und
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Müller (Berlin)
das gleiche Gewicht haben muß wie jeder andere betrieblicher Ausbildung überwunden werden. Das
Zweig der Bildung. Dabei sind Hochschulbildungen kann man heute noch nicht sagen.
nicht ausgenommen.
Ich komme noch einmal auf den Inhalt der Berufs-
(Zuruf des Abg. Liehr.) bildung zurück. Das Gesetz ist, wie gesagt, kein
Berufsausbildungs- sondern ein Berufsbildungs-
Dann muß aber auch der gleiche Stellenwert im
gesetz. Ausgehend von der Erkenntnis, daß die be-
Bericht und in der Diskussion ganz deutlich zum
rufliche Fortbildung ein lebenslanger Bildungspro-
Ausdruck kommen. Ich kann nicht sagen, daß das
zeß ist, kann auch ein Bildungsbericht hieran nicht
bisher geschehen ist. Ich nehme auch an, daß wir
vorbeigehen; das ist aber leider geschehen.
darin einig sind, daß die schnelle technische Ent-
wicklung und die damit verbundene ständige Wand- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.
lung der Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft — Widerspruch bei der SPD.)
eine berufliche Flexibilität aller Arbeitnehmer, d. h.
auch derer, die heute schon tätig sind, die beruf- — Ich werde Ihnen mit Erlaubnis des Präsidenten
liche Anpassung an neue Aufgaben, erforderlich die wenigen Sätze, die der Bericht hat, zitieren. Es
machen. Aus diesem Grund darf ich noch einmal heißt: Dieses Prinzip hat die Bundesregierung be-
ausdrücklich unterstreichen, daß es in der 5. Legis- reits im Sozialbericht 1970 zum Ausdruck gebracht.
laturperiode bei der Beratung und Verabschiedung Das ist alles. Im Zuge der Reform soll das berufliche
des Berufsbildungsgesetzes, von dem ich keines- Bildungswesen Bestandteil der zweiten Stufe, der
wegs behaupte, daß es vollkommen oder nicht sogenannten Sekundarstufe, werden. Das haben
reformbedürftig sei, im Gegenteil — ich darf an die- Sie Herr Liehr hier auch vorgetragen, aber ohne zu
ser Stelle sagen, daß ich die Ausführungen des sagen, wie die Reform in Zukunft eigentlich aus-
Herrn Bundesarbeitsministers mit Genugtuung ent- sehen soll.
gegengenommen habe —, genau diese Gedanken Auf Seite 38 heißt es dann lediglich — ich zi-
gewesen sind, die uns damals auch bewegt haben tiere —:
und die durchaus nicht untergegangen sind. Er kann
sich unserer Unterstützung sicher sein, wenn er Aus dem Wandel in den Anforderungen der Be-
diese Reformen, so wie er es hier dargestellt hat, rufswelt ergibt sich eine weitere Forderung an
durchführen wird, das berufliche Bildungswesen, der es heute nicht
ausreichend gerecht wird: Der Berufstätige muß
(Abg. Raffert: Daran werde ich Sie noch in der Lage sein, sich auf neue Arbeitsbedingun-
gelegentlich erinnern!) gen einzustellen.
nämlich nicht das Alte zerschlagen, sondern das Be- Auch wir sind der Meinung, daß es in der Tat so
stehende fortentwickeln und das Beste daraus ma- ist. Die umwälzende technische Entwicklung, die
chen. einen umfassenden wirtschaftlichen und beruflichen
Aus diesem Grunde haben wir dieses Berufsbil- Umbildungsprozeß ausgelöst hat, stellt an den ein-
dungsgesetz in der letzten Wahlperiode geschaffen zelnen so hohe Anforderungen, sowohl an die Be-
und ausdrücklich darauf verzichtet, von einer Be- rufswahl — wer weiß heute normalerweise noch, ob
rufsausbildung zu sprechen, und haben das Gesetz der Beruf, den er ergreift, noch Aussicht hat, auch
nicht Berufsausbildungsgesetz, sondern Berufsbil- in der Zukunft zu bestehen? — als auch an die be-
dungsgesetz genannt, weil es auch für die berufliche rufliche Anpassung, daß er aus eigener Kraft, ohne
Fortbildung und die berufliche Umschulung, die zu öffentliche Förderung die Probleme nicht bewältigen
einer anderen beruflichen Tätigkeit befähigen soll, kann. Jedenfalls ist es die Pflicht des sozialen
gelten soll. Die berufliche Fortbildung, so will es Rechtsstaats, hierfür Vorkehrungen zu treffen, um
der Gesetzgeber, soll es ermöglichen, die beruflichen eine strukturelle Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das
Kenntnisse und Fertigkeiten zu erhalten, zu erwei- aber ist nach unserer Meinung in erster Linie eine
tern, der technischen Entwicklung anzupassen oder Frage der beruflichen Bildung.
beruflich aufzusteigen. Berufliche Fortbildung und berufliche Umschu-
Ich will an dieser Stelle keine Ausführungen lung wenden sich aber vorwiegend an Erwachsene,
mehr über das Berufsbildungsgesetz machen. Wir die bereits Berufs- und Lebenserfahrung besitzen,
hoffen nur, daß es sich bewährt. Aber, Herr Bun- und nicht an Jugendliche. Hier sind die besonderen
desarbeitsminister — er ist jetzt nicht da —, auch Erfordernisse der beruflichen Erwachsenenbildung
uns sind einige Schwierigkeiten, die entstanden zu berücksichtigen. Auch darüber steht in dem Bil-
sind, bekanntgeworden, insbesondere was die Bil- dungsbericht nichts Spezifisches. Von all dem ist
dung der Bildungsausschüsse bei den Kammern an- in dem Bildungsbericht nichts zu lesen.
geht; bis heute sind, obwohl die Frist bald abgelau- Ich wundere mich, daß dort mit keinem Wort das
fen ist, einige noch immer nicht gebildet. Auch die ebenfalls in der 5. Wahlperiode von diesem Hohen
Zusammenarbeit ist nicht gerade so, wie sich der Hause einstimmig verabschiedete Arbeitsförde-
Gesetzgeber das vorgestellt hat. Wir haben gehofft, rungsgesetz erwähnt worden ist.
daß mit der Zusammensetzung der Bildungsaus-
schüsse, sei es auf Bundesebene, sei es auf Landes-
ebene oder Kammerebene, die durch die bundes- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter
staatliche Ordnung auftretenden Schwierigkeiten Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
zwischen berufsausbildungsbegleitender Schule und geordneten Dr. Sperling?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4067

Dr. Sperling (SPD) : Sollte es Ihnen entgangen fehler des deutschen Bildungswesens den verhäng-
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sein, daß der Bildungsbericht auf den Seiten 74 und nisvollen Weg unserer Geschichte mit verschuldet
75 unter der Überschrift „Weiterbildung" eine haben könnten?
ganze Menge zur beruflichen Bildung Erwachsener (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine
sagt? kühne Theorie!)
Dem Versäumnis einer solch frühzzeitigen Besin-
Müller (Berlin) ,(CDU/CSU) : Das ist mir nicht nung ist in den letzten 20 Jahren nicht ausreichend
entgangen. Aber da ist wenig Konkretes, sondern
Rechnung getragen worden. Erst jetzt haben wir
nur die Zielvorstellung enthalten. eine Regierung, die Reformen des Bildungswesens
(Abg. Dr. Lohmar: Herr Müller, das ist für ihre wichtigste Aufgabe hält. Das Grundmotiv
aber konkreter als das, was Sie hier sag dieser Reform ist Chancengleichheit und Demokrati-
ten!) sierung. Jetzt zögere ich allerdings schon wieder,
Ich wundere mich, daß in diesem Bericht mit keinem denn nachdem ich heute gehört habe, wie die Oppo-
Wort — und das ist jetzt ganz konkret — die Rede sition , den Begriff „Demokratie" verwendet, fällt es
von dem Arbeitsförderungsgesetz ist, obwohl ge- mir schwer, ihn hier einfach zu verwenden. Meine
rade dieses Gesetz mit zu der Berufsbildung gehört, Damen und Herren von der Opposition, man hat das
weil es auf dem Berufsbildungsgesetz aufbaut und Gefühl, Sie verstehen etwas grundlegend anderes
dort auch die Normen für die Förderungsmaßnah- unter diesem Begriff, zumindest wenn Herr Martin
men enthalten sind. Wenn der Bericht nicht einmal sagt, Demokratie sei natürlich die leichteste Form
mit einem einzigen Wort darauf eingeht, dann dür des menschlichen Zusammenlebens.
fen Sie sich nicht wundern, wenn wir kritisch werden Ich will es uns zu dieser späten Stunde ersparen,
und wenn bei uns der Verdacht aufkommt, daß die noch Unterricht über den Begriff „Chancengleich-
Bundesregierung, aus welchen Gründen auch im- heit" zu halten. Sie haben ja auch zum Ausdruck
mer, das in der 5. Wahlperiode von Arbeitsmini- gebracht, daß Sie die Chancengleichheit befürwor-
ster Katzer eingebrachte und hier einstimmig an- ten. Niemand wird das im Grundgesetz verankerte
genommene Arbeitsförderungsgesetz nicht richtig Recht auf Bildung einigen Bürgern länger vorent-
beachtet und bewertet und das damit geschaffene halten wollen. Wer möchte sich heutzutage noch für
Instrumentarium zur Förderung der breiten beruf- ständestaatliche Privilegien einsetzen? Herr Dr.
lichen Bildung nicht nützt. Ich hätte gewünscht, daß Probst, in diesem Zusammenhang muß ich aber doch
hierüber etwas ausgesagt worden wäre. Dann wä- noch etwas zum Ständestaat sagen. Sie fragten, was
ren wir uns wahrscheinlich schneller einig gewor- man darunter zu verstehen hat. Ich finde, das ist
den. Gerade dieses Arbeitsförderungsgesetz ist die ganz einfach aus dem in der Schule gelehrten System
Grundlage auch für die Weiterführung der beruf- der Dreiteilung abzulesen.
lichen Bildung. (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist denn da
(Beifall bei der CDU/CSU.) ständisch?)
— Die Hauptschule oder die Volksschule ist für
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat die Soldaten und das einfache Volk da.
Abgeordnete Frau von Bothmer.
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist Gliederung
(Abg. Dr. Martin: Die erste Hase am Pult!) ständisch?)
Frau von Bothmer (SPD) : Herr Präsident! Meine Die Realschule ist für mittlere Beamte, Feldwebel
Damen und Herren! Ich bin etwas erstaunt über den oder Unteroffiziere da.
eben gehörten Beitrag des Herrn Müller aus Berlin. (Abg. Dr. Kotowski: Finsteres Mittelalter!)
Wenn er den Bericht schon nicht richtig gelesen
Das Gymnasium ist für die Elite da. Ich glaube, über
hat, sollte er ihn wenigstens nicht so kritisieren.
diesen Zustand sind wir hinweggekommen.
Ich finde, das bringt uns wenig weiter.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Ich begrüße es, daß wir hier einmal über die
Schule sprechen. Das ist in diesem Hause neu. Alle,
die von der Schule, wie sie jetzt ist, betroffen sind Vizepräsident Dr. Jaeger: Frau Abgeordnete,
— ich sage absichtlich „betroffen" und schließe hier gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
Lehrer, Schüler und Eltern ein —, werden froh sein, Kotowski?
daß wir in diesem Hohen Hause heute über das
Thema „Schule" sprechen. Frau von Bothmer (SPD) : Bitte!
In diesem Bildungsbericht, über den wir nun schon
einige Stunden sprechen, werden nicht nur Miß- Dr. Kotowski (CDU/CSU) : Frau Kollegin, sollte
stände und Versäumnisse im Schulbereich aufge- es Ihnen entgangen sein, daß der Begriff „Stände-
zeigt; es wird auch ein klares Konzept für die Zu- staat" in der wissenschaftlichen Literatur vollkom-
kunft angeboten. Ich meine, man kann mit diesem men klar definiert ist, und zwar als diejenige
Konzept zufrieden sein, denn keine der bisherigen Staats- und Gesellschaftsform, in der politische und
Regierungen hat ein solches Konzept vorgelegt. Man soziale Privilegien verfassungsmäßig von denselben
muß sich fragen: Hätte die Reform nicht schon bald Personen und Gruppen wahrgenommen werden?
nach 1945 einsetzen müssen, und hätte die Kern- Glauben Sie nicht, daß, wenn das so ist, die von
frage dabei nicht lauten müssen, welche Struktur Ihnen genannte Dreiteilung aus der Schule — wenn
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Dr. Kotowski
ich mich schon , auf den Boden Ihrer Argumentation die Schäden des jetzigen Schulsystems, daß so viele,
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stelle — allenfalls auf den Klassenstaat, aber nicht die in die höhere Schule oder in die Realschule
auf den Ständestaat zutrifft? gehen und den Schulabschluß nicht erreichen, ab-
brechen und in die Volksschule zurückgehen müssen.
Frau von Bothmer (SPD) : Danke schön, Herr Das ist doch wohl offensichtlich ein Schaden.
Kotowski. Aber die Leute, die durch das Gymna- Außerdem ist entgegen vielen Befürchtungen die
sium gingen, nahmen diese Privilegien allein wahr. Gesamtschule natürlich nichts Starres und einmalig
Insofern ist vielleicht doch etwas dran. Aber einigen Fixiertes. Es wurde hier von Kultusminister von
wir uns auf Klassenstaat. Oertzen schon gesagt, daß die Gesamtschule selbst-
Jedenfalls liegt noch heute den Lehrplänen der verständlich von wissenschaftlicher Forschung be-
Schulen im allgemeinen zugrunde, daß die Haupt- gleitet und für Neuerungen und Veränderungen of-
schule eine volkstümliche, handwerkliche, praxis- fenbleiben muß und daß sich dort gesellschaftliche
orientierte Bildung, die Realschule eine gehobene, Weiterentwicklung mit vollziehen muß.
berufsorientierte und das Gymnasium eine theore- Da Bildung nicht erst in der Schule beginnt und
tische, . wissenschaftliche Bildung vermittelt. Dabei auch nicht erst in der Vorschule und da Bildung ein
geht man von den drei klassischen Begabungsgrup- kontinuierlicher Prozeß ist, muß auch der Kinder-
pen aus, wobei Begabung und soziale Herkunft in garten zusammen mit der Vorschule, d. h. der .Ele-
merkwürdiger Übereinstimmung sind. mentarbereich, in das Bildungssystem einbezogen
Nun endlich will man das anerkannte Bürgerrecht werden. Wenn es nun darum geht, an Modellversu-
auf Bildung für alle auch politisch durchsetzen, und chen Erfahrungen zu sammeln und geeignete Lern-
die Konsequenz davon ist die Gesamtschule. Die Bil- ziele zu entwickeln, müssen in solche Versuche
dungskommission des Bildungsrates spricht davon Schulkindergarten und Vorschule ebenso wie Schule
und drückt klar aus,. daß Gesamtschule nicht Nivel- einbezogen werden. Ein frühzeitig begonnener ge-
lierung bedeuten kann, daß Chancengleichheit in sellschaftlicher Prozeß der Integration, der in der
der Gesamtschule nicht Nivellierung bedeutet, son- Vorschule über die Grundschule weitergegangen ist,
dern frühzeitiges Ausgleichen von Chancenunter- darf nun nicht mehr durch den Eintritt in weiterfüh-
schieden. In manchen Fällen, so sagt die Bildungs- rende Schulbereiche abgebrochen werden. Hier soll
kommission ausdrücklich, wird Chancengleichheit — ich meine, das kann man als eines der wichtigsten
bedeuten, daß manchen besondere Chancen gewährt Kriterien ansehen — auch sozialer Ausgleich ge-
werden müssen. schaffen werden. Außerdem sollen die heute unver-
meidlichen Verständigungsschwierigkeiten, die zwi-
Denjenigen, die von der Gesamtschule ein Ab schen den verschiedenen Bildungsgruppen lebens-
sinken des allgemeinen Leistungsniveaus befürch- lang bestehen, entschärft werden.
ten — und das ist auch heute schon angeklungen —,
kann man antworten, daß durch die gleichgestellten Wenn Sie nun, meine Damen und Herren von der
Ausbildungsgänge für den einzelnen erhöhte Kon- Opposition, mit uns der Meinung sind, daß Schulre-
kurrenz erwächst, die sich leistungssteigernd aus- form nötig ist, so muß man doch einmal fragen:
wirken dürfte. Dabei muß man Leistung natürlich Warum soll es dann nicht Gesamtschule sein? Was
nicht verstehen als das auf das Zeugnis hin gerich- .spricht denn dafür, daß das dreigeteilte bisherige
tete, sich in Klassenarbeiten niederschlagende Wie- Schulsystem das bessere sei? Dafür haben Sie in der
dergeben von schnell gelerntem Lernstoff, sondern heutigen Diskussion auch nicht ein einziges Argu-
als selbständiges Arbeiten auf Grund des Verständ- ment gebracht.
nisses von Zusammenhängen. (Abg. Dr. Probst: Wir sind weiter, offener!)
Wir haben heute sehr Eindrucksvolles über den Wenn Sie hier sagen, daß Vorschule ja sein
Intelligenzquotienten gehört. Ich frage mich nur: sollte, weil sie die Intelligenz und die Chancen-
Selbst wenn das so ist, wie es Kollege Martin sagte, gleichheit fördert, so muß ich feststellen, daß einer
wer hat das je auf die Schule angewandt? Wann sind Ihrer Kollegen gesagt hat, man müsse aber Angst
denn Kinder je so sorgsam untersucht worden, wie haben vor zu vielen Abiturienten. Was wollen Sie
weit ihre Intelligenz reicht, wo sie aufhört und in dann in Ihrem Konzept mit Vorschule? Sie wollen
welchen Schulzweig die Kinder infolgedessen gehen die Menschen zuerst fördern, aber nachher haben
müssen? Das ist für die Schulpraxis doch einfach Sie Angst davor, daß diese Intelligenz tatsächlich
blasse Theorie. Das bisherige Schulsystem drängt das Abitur schafft.
10jährige in eine Entscheidung, die nachher bei vie- (Abg. Dr. Martin: Es gibt ja nicht nur das
len zum Schiffbruch führt. Das eben schaltet die Ge- Abitur! — Abg. Dr. Schober: Wir sind
samtschule aus. Denn da kann das Kind innerhalb gegen die Dogmatik auf dem Gebiet des
der gleichen Schule verschiedene Kurse besuchen Bildungswesens!)
und sich seinen Fähigkeiten entsprechend ausbilden.
Es wird kein Abbrechen und kein Zurückschulen — Ich möchte einmal wissen: wo ist eigentlich Dog-
mehr geben, und damit werden all diese seelischen matik? Können Sie an irgendeinem Ende nachwei-
sen, daß Gesamtschule etwas mit Ideologie zu tun
Belastungen, die auf den jungen Menschen zukom-
men, wegfallen. hat? Das unterschieben Sie ständig. Ich würde wirk-
lich raten: Lesen Sie den Bildungsbericht! Da ist
(Abg. Dr. Probst: Sind Sie da sicher?) mit keinem Wort von Ideologie die Rede.
— Ja, da bin ich sicher, Herr Probst. Ich wundere (Abg. Dr. Schober: Die Festlegung auf die
mich, daß Sie es gerade umdrehen. Denn wir kennen Gesamtschule ohne Erprobung!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4069
Frau von Bothmer
— Wenn man von Ideologie sprechen kann — das -
— Das ist eine Lehre, die leider viele Schüler dieses
ist heute schon einmal gesagt worden —, dann ist Landes aus ihrer Schulzeit mit nach Hause nehmen.
sie eher vorhanden im bisherigen System der drei-
(Abg. Dr. Schober: Ich habe das noch nicht
geteilten Schule mit ihrem etwas verwässerten Hum-
gehört!)
boldtschen Bildungsideal.
Ich muß sagen: Dann wären wir alle, die wir hier
(Beifall bei der SPD.)
sitzen, nicht gebildet. Das aber möchte ich nicht vor-
Ich kann es mir nicht versagen, nun auch darauf aussetzen. Aber ich weiß nicht, ob wir auf diese Art
hinzuweisen, daß eigentlich alle in den letzten Jah- mündige Bürger erziehen können. Diese Enthaltsam-
ren erreichten neuen Schulkonzeptionen — Mittel- keit der Schule, die bei den Schülern Resignation
punktschule, 9. Schuljahr, Förderstufe — nur im und Langeweile hervorruft, diese Enthaltsamkeit auf
zähen Kampf sozialdemokratischer Bildungspolitiker jedem Gebiet, das in die Öffentlichkeit ausstrahlt,
gegen christdemokratische Bildungspolitiker zu un- also mit der Politik zu tun hat, nenne ich Bildungs-
seren Gunsten endlich durchgekommen sind. notstand, und der ist nicht erst von heute! Er hat
(Zustimmung bei der SPD.) mit dem Schulnotstand — Raummangel, Unterrichts-
ausfall und Lehrermangel — nicht ursächlich zu tun.
Ich sehe, leider kämpfen wir jetzt anscheinend den
gleichen Kampf auch um die Gesamtschule. Aber Ich will mir des Zeitmangels wegen jetzt nicht er-
Sie können getrost sein: auch der wird zu unseren lauben, die Ausführungen des Herrn Stoltenberg
Gunsten ausfallen. zu verlesen, der hier in der Debatte im Februar
(Beifall bei den Regierungsparteien.) etwas über den Bildungsnotstand gesagt hat.
(Abg. Dr. Schober: Sagen Sie es schon!)
Wenn davon gesprochen wird, daß gar keine poli-
tischen Aspekte in der ganzen Sache seien, dann tut Dem Sinn nach drückte er seine ernste Sorge aus —
es mir leid, wenn Sie nicht begriffen haben, daß es was Sie ja alle gern tun —, daß sich die Schule
eine gesellschaftspolitische Entscheidung ist, die hier von der Arbeitswirklichkeit, von der Welt der
getroffen wird. Arbeit, und der Wirklichkeit entferne.
(Zuruf von der CDU/CSU: Keine politische!) (Abg. Dr. Martin: Das ist richtig!)
— Keine politische? Dann möchte ich Sie darauf hin- Ich wundere mich, daß es Herrn Stoltenberg erst
weisen, daß Schule an sich als ein Teil des Gemein- jetzt einfällt, diese Sorge auszudrücken.
wesens auch ein politischer Bereich ist und daß der
(Abg. Pfeifer: Er hatte damals keine Kom
staatspolitische Auftrag in der Schule keineswegs
petenz!)
damit erfüllt ist, daß man das Lernfach Gemein-
schaftskunde unterrichtet. — „Er hatte damals keine Kompetenz" — dahinter
(Zustimmung bei der SPD.) versteckt man sich gerne. Ich bin sicher, daß es
auch ohne Art. 91 b schon möglich gewesen wäre,
Die Schule selbst ist Ort politischen Geschehens; hier über diese Dinge nachzudenken.
hier muß Demokratie und politisches Verhalten ge-
übt und gelebt werden. Denn wie sonst könnten (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Lehrer, Schüler und Eltern überhaupt Verantwor-
tung in der Schule für sich verbindlich anerkennen Vizepräsident Dr. Jaeger: Gestatten Sie eine
und ausüben! Schülermitverantwortung und Eltern- Zwischenfrage?
vertretung müssen sonst einfach Farce bleiben.
Es ist daher merkwürdig, daß es immer noch Schu- Frau von Bothmer (SPD) : Bitte!
len gibt, in denen der politische Bereich als Tabu
gilt, ja, Schulen, die stolz darauf sind, daß sie völlig Pfeifer (CDU/CSU) : Gnädige Frau, darf ich Sie
unpolitisch sind. Es wird dadurch eine Haltung sug- fragen: Warum haben denn die Kultusminister, die
geriert, als könne man überhaupt denken und han- der SPD angehören, das, was Sie hier verlangen,
deln, ohne Werte zu setzen. nicht gemacht?
(Abg. Dr. Martin: Sehr gut!)
— Wie, darin stimmen Sie mit mir überein? Das ist Frau von Bothmer (SPD) : Sie haben es ge-
ja prima! macht!
(Abg. Dr. Martin: Nein, Sie mit mir!) (Lachen bei der CDU/CSU.)

Dadurch wird das alte Vorurteil, mit Moral garniert, Ich weiß nicht, ob Sie jetzt auf die CDU-Kultus-
aufgewertet, das vorgibt, der wahrhaft gebildete minister schauen. Herr Hahn war heute ein ganz
Mensch brauche sich nicht in die Niederungen der vortreffliches Beispiel dafür.
Politik zu begeben. (Beifall bei den Regierungsparteien. —
(Abg. Dr. Schober: Wer sagt das denn?) Abg. Pfeifer: Was soll denn das?)
— Oh, das sagen sehr viele, die leider, so muß ich Man kann sich doch darüber wundern, warum z. B.
sagen, mit der Schule und mit dem Gymnasium zu Herr Mikat heute hier nicht spricht. Statt dessen
tun haben, ohne daß ich allen, die mit dem Gymna- spricht Herr Hahn. So müssen wir annehmen, daß
sium zu tun haben, damit zu nahe treten will. er I h r Bildungspolitiker ist.
(Abg. Dr. Schober: Das ist eine Verallge (Abg. Dr. Schober: Herr Mikat ist nicht im
meinerung!) Ausschuß! — Abg. Dr. Martin: Warum
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Frau von Bothmer


spricht denn Herr Holthoff hier nicht, der Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeord- -
auch derselben Meinung ist wie ich? Herr neter Martin, über das Licht befindet der Präsident,
Holthoff glaubt doch den Mist auch nicht! nicht Sie.
Bei Ihnen gibt es doch zahlreiche Leute, (Abg. Dr. Martin: Spaß muß sein, gnädige
die gar nicht glauben, was Sie da erzählen! Frau!)
Das stimmt doch gar nicht!)
— Nun, Herr Holthoff gehört gar nicht zu diesem Frau von Bothmer (SPD) : Wie man's nimmt.
Parlament, wohl aber Herr Mikat. Das wäre nicht Ich will noch darauf zu sprechen kommen, daß die
so schwierig gewesen. Gesamtschule natürlich nicht mehr ausliest, sondern
fördert. Infolgedessen muß auch der Absolutheits-
Es soll Länder geben, in denen das Zur-Schule- anspruch der Zensuren, die sich in Zahlen ausdrük-
Gehen noch Spaß macht. Wir allerdings tun so, ken, in Frage gestellt werden. Eine moderne Schule
wenn unsere ABC-Schützen zur Schule gehen, als wird differenziertere Bewertungskriterien finden.
sei das, was ihnen bevorsteht, eine ganz große Es ist auch nicht zu verantworten, daß viele Schüler
Freude. An diesem Tag sparen wir nicht mit Zucker- jetzt trotz so entsetzlich vieler Nachhilfestunden
tüten und ähnlichen Dingen. ein imaginäres Klassenziel nicht erreichen. Ja, ich
(Abg. Dr. Martin: Das ist sehr schädlich möchte dabei sogar an den volkswirtschaftlich un-
für die Zähne!) verantwortlich ausgegebenen Wert für diese Nach-
hilfestunden erinnern.
— Sehr schädlich, aber es wird gemacht. Wir wol
ihnen damit an diesem Zur-Schule-Gehen Freude Zuletzt möchte ich noch ein Problem aufzeigen.
machen. Es dauert meistens nicht sehr lange, bis Eine wirkliche Erneuerung der Schule ist schwer
diese Freude vollkommen erloschen ist. Daran kann vorstellbar, meine ich, wenn die Schulaufsicht, so
auch das fleißige und leidenschaftliche Bemühen wie sie bisher im allgemeinen praktiziert wird, nicht
vieler einzelner Lehrer nichts ändern; denn Spaß ebenfalls auf ihre negativen Auswirkungen hin
kann das Zur-Schule-Gehen bei uns erst dann wie- untersucht wird.
der machen, wenn der Bruch zwischen gesellschaft- (Abg. Dr. Lohmar: Sehr gut!)
licher Entwicklung und Schulstruktur durch Bil- Wir müssen verhindern, daß dringend notwendige
dungsreform überwunden sein wird. pädagogische Initiative an Verwaltungsvorschriften
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Schober: scheitert.
Ich weiß nicht, ob das jemals ein Spaß (Beifall bei den Regierungsparteien.)
werden kann! — Zuruf von der CDU/CSU: Wir hier und die Öffentlichkeit werden mit Inter-
Ein großartiger Satz!) esse verfolgen, wie die einzelnen Länder zusammen
mit dem Bund auf dieses Angebot und diese Kon-
— Sie wissen, was ich meine. Wir brauchen uns
zeption der Bundesregierung eingehen werden.
darüber nicht zu unterhalten.
Wir von der SPD-Fraktion jedenfalls gratulieren
(Lachen bei der CDU/CSU.)
der Bundesregierung zu diesem entscheidenden
Diese Bildungsdebatte macht uns doch einigen Spaß. Schritt auch für den Bereich der Schule. Wir werden
So könnte ja auch die Schule Spaß machen. seiner Verwirklichung alle Hilfe gewähren.
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
Nun will ich darauf zu sprechen kommen, daß
Bravo-Rufe von der CDU/CSU.)
eine reine Wissensanhäufung in der Schule natür-
lich nicht das ist, was wir wollen. Ich will mir diese
Vizepräsident Dr. Jaeger: Meine Damen und
Ausführungen verkneifen. Ich muß mir dabei ver-
Herren, so erstaunlich es ist, aber sieben Redner ha-
kneifen, ein Zitat Ihres Vorsitzenden zu verlesen,
ben ihre Wortmeldung zurückgezogen.
was ich gern getan hätte. Er warnt dort so ernsthaft
vor der Wissensschule und spricht von den produk- Ich habe bekanntzugeben, daß interfraktionell
tiven Kräften der Einbildung, durch die allein große die Absetzung der Punkte 28 b und c für heute ver-
Gedanken und große schöpferische Leistungen mög- einbart worden ist.
lich seien. Er sagt 'das im Hinblick auf die Schule. Wir haben nun den Bericht zur Bildungspolitik
Ich kann das hier aber nicht weiter ausführen. unter Punkt 28 a zu überweisen. Ich schlage vor, an
(Abg. Dr. Martin: Ein Positivist begreift den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als
das nicht! Sie werden das nie begreifen!) federführenden Ausschuß sowie an den Ausschuß für
Jugend, Familie und Gesundheit, an den Ausschuß
Ich glaube auch, daß wir die großen Gedanken als für Arbeit und Sozialordnung, an den Haushalts-
allgemeines Ziel dahingestellt sein lassen können. ausschuß und an den Ausschuß für innerdeutsche
Es ist richtig, daß junge Menschen, die kritiklos Beziehungen zur Mitberatung. — Widerspruch er-
Wissen schlucken, nicht gerade geeignet sind, nach- folgt nicht; es ist so beschlossen.
her alle Funktionen dieses Staates zu übernehmen,
und das erwarten wir ja von ihnen. Ich komme zu den Zusatzpunkten. Für den Punkt 1
ist die Überweisung des Antrags an den Ausschuß
(Abg. Dr. Martin: Herr Präsident, machen
für Bildung und Wissenschaft als federführenden
Sie das Licht aus!)
Ausschuß und an 'den Haushaltsausschuß zur Mit-
— Herr Martin, wir haben vorhin mit Ihrer langen beratung vorgesehen. — Widerspruch erfolgt nicht;
Rede auch viel Geduld gehabt. es ist so beschlossen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4071
Vizepräsident Dr. Jaeger
Zu Zusatzpunkt 2 wird vorgeschlagen, den Antrag -
Ich komme zu Zusatzpunkt 4. Es wird empfohlen,
an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft als den Antrag an den Ausschuß für Bildung und Wis-
federführenden Ausschuß sowie an den Haushalts- senschaft als federführenden Ausschuß sowie an den
ausschuß, den Ausschuß für Jugend, Familie und Haushaltsausschuß und den Ausschuß für Jugend,
Gesundheit und an den Ausschuß für Arbeit und Familie und Gesundheit als mitberatende Aus-
Sozialordnung zu überweisen. — Widerspruch er- schüsse zu überweisen. — Widerspruch erfolgt nicht;
folgt nicht; es ist so beschlossen. es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, ich berufe die nächste
Der Antrag unter Zusatzpunkt 3 soll dem Aus- Sitzung auf morgen, Donnerstag, den 15. Oktober
schuß für Bildung und Wissenschaft als federführen- 1970, 9 Uhr, ein.
dem Ausschuß und dem Haushaltsausschuß als mit Die Sitzung ist geschlossen.
beratendem Ausschuß überwiesen werden. — Wi-
derspruch erfolgt nicht; es ist so beschlossen. (Schluß der Sitzung: 20.33 Uhr.)
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 72. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Oktober 1970 4073

Anlage zum Stenographischen Bericht


Anlage 1 Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich
Majonica 16. 10.
Liste der beurlaubten Abgeordneten Müller (Aachen-Land) * 15. 10.
Müller (Remscheid) 14. 10.
Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Peters (Norden) 16. 10.
Beurlaubungen Pöhler ** 14. 10.
Dichgans 14. 10. Frau Renger 15. 10.
Dr. Dittrich * 16. 10. Richarts * 15. 10.
Frau Freyh 16. 10. Schmidt (Würgendorf) ** 16. 10.
Frau Geisendörfer 16. 10. Schneider (Königswinter) 14. 10.
Gewandt 16. 10. Schulte (Schwäbisch Gmünd) 16. 10.
Gerlach (Emsland) * 16. 10. Dr. Schulz (Berlin) *** 14. 10.
Haar (Stuttgart) 16. 10. Sander 14. 10.
Dr. Hallstein Frau Seppi 14. 10.
16. 10.
Helms 16. 10. Dr. Slotta 15. 10.
Heyen 18. 12. Strauß 14. 10.
Dr. Jahn (Braunschweig) * Dr. Tamblé 30. 10.
14. 10.
Dr. Jungmann 16. 10. Strohmayr 14. 10.
Frau Kalinke 14. 10. Wilhelm 30. 10.
Logemann 16. 10. ** Für die Teilnahme an einer Tagung der Beratenden
Versammlung des Europarates
* Für die Teilnahme an einer Sitzung des Europäischen *** Für die Teilnahme an einer Tagung der Versammlung
Parlaments der Westeuropäischen Union

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