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53. Sitzung
Inhalt:
Anlage 5
Frage des Abg. Dr. Riedl (München) :
Schriftliche Antwort auf die Mündlichen
. Bau der S Bahn in der Region München
-
Fragen des Abg. Höcherl betr. Abgabe
von Butter seitens der Interventionsstelle
Börner, Parlamentarischer mit einem Abschlag . . . . . . . . 2738 D
Staatssekretär 2733 C
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) . 2733 C Anlage 6
Schriftliche Antwort auf die Mündliche
Fragen des Abg. Stein (Honrath) : Frage des Abg. Schmidt (Kempten) betr.
Abwicklung des Reichsnährstandes . . . 2739 C
Ortsbezeichnungen von neugeglieder-
ten Gemeinden seitens der Deutschen
Bundespost Anlage 7
Börner, Parlamentarischer Schriftliche Antwort auf die Mündliche
Staatssekretär . . . . . . . . 2733 D Frage des Abg. Mertes betr. Preis für
Molkereibutter 2739 D
Anlage 11
Anlagen
- Schriftliche Antwort auf die Mündlichen
Anlage 1 Fragen des Abg. Schwabe betr. Gedenk-
marken für Beethoven, Hegel und Höl-
Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 2737 A derlin 2740 D
Anlage 2 Anlage 12
Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Schriftliche Antwort auf die Mündlichen
Fragen des Abg. Röhner betr. Haushalts- Fragen des Abg. Dichgans betr. Zahl der
belastung durch Anhebung der Kohlen Notunterkünfte in der Bundesrepublik
preise 2737 D Deutschland 2741 A
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 III
Anlage 13 Anlage 24
Schriftliche Antwort auf die Mündliche Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage des Abg. Mertes betr. Auswirkung Frage des Abg. Würtz betr. Lärmbelästi-
der Senkung von Hypothekenzinsen auf gung durch Nachtschießen auf dem
die Mieten 2741 C Übungsplatz Bergen-Hohne 2745 A
Anlage 14 Anlage 25
Schriftliche Antwort auf die Mündliche Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen
Frage des Abg. Dr. Jungmann betr. Stu- Fragen des Abg. Niegel betr. Finanzie-
dium des Fachgebiets „Sicherheitstechnik" 2741 D rung des Neubaus eines Kreiskranken-
hauses in Lichtenfels 2745 B
Anlage 15
Anlage 26
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage der Abg. Frau Dr. Walz betr. In- Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen
stitutionalisierung der Konferenz der Fragen des Abg. Dr. Riedl (München)
Euopäischen Erziehungsminister . . . . 2742 A betr. Zeitpunkt der Fertigstellung des
Fernstraßenrings um München . . . . 2745 C
Anlage 16
Anlage 27
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage der Abg. Frau Herklotz betr. Unter- Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen
richt in modernen Fremdsprachen in der Fragen des Abg. Leicht betr. Anteil des
Türkei 2742 B Landes Rheinland-Pfalz an dem Straßen-
volumen 1970 2746 A
Anlage 17
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Anlage 28
Frage des Abg. Weigl betr. Aufhebung Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
der Ortsklassenunterschiede 2742 D Frage des Abg. Brück betr. Anschluß des
Saarlandes an das deutsche Wasserstra-
Anlage 18 ßennetz 2746 B
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage des Abg. Dr. Gölter betr. Zeigen Anlage 29
der Europa-Fahne an Grenzübergängen . 2743 B Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage des Abg. Dr. Schulze-Vorberg betr.
Anlage 19 Autobahn-Westumgehung Würzburg . . 2746 D
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage des Abg. von Thadden betr. Anlage 30
Arbeitsentgelt für Strafgefangene und
Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen
Wiedergutmachung von Vermögensschä-
Fragen des Abg. Dr. Hammans betr.
den 2743 C
postalische Ortsbezeichnungen in dem
Anlage 20 Kreis Kempen-Krefeld 2747 A
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage des Abg. Meister betr. Zuständig- Anlage 31
keit der Oberfinanzdirektionen für perso- Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen
nelle Entscheidungen 2743 D Fragen des Abg. Dr. Beermann betr. Ein-
kommensgrenzen im Wohngeldgesetz . . 2747 C
Anlage 21
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche Anlage 32
Frage des Abg. Weigl betr. Zeitpunkt der
Auszahlung der Investitionszulage für Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Investitionen im Jahre 1969 2744 B Frage der Abg. Frau Dr. Walz betr. Aus-
bildungs - Kapazitäts - Berechnungsverfah-
Anlage 22 ren für die wissenschaftlichen Hochschu-
len 2748 A
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Frage des Abg. Dr. .Klepsch betr. Kilo-
meterpauschale 2744 C Anlage 33
Schriftliche Antwort auf die Schriftliche
Anlage 23 Frage des Abg. Dichgans betr. die rela-
Schriftliche Antwort auf die Schriftlichen tive Häufigkeit der verschiedenen Prädi-
Fragen des Abg. Ott betr. Preisauszeich- kate in den Abiturzeugnissen der einzel-
nungspflicht für hochwertige Waren . . 2744 D nen Gymnasien 2748 C
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2665
53. Sitzung
Dr. Barzel
in Kassel die Aufrechterhaltung der Viermächtever- Zweitens. Anläßlich des Treffens in Erfurt, Herr
antwortung betont und in Ihrer Vormittagsrede er- Bundeskanzler, haben Sie, wiederum zunächst in der
klärt: „Wir wollen .die Spaltung Deutschlands völ- Konsequenz Ihrer Erklärung vor dem Bundestag,
kerrechtlich nicht anerkennen." gesagt — ich zitiere —:
In Ihrer Nachmittagsrede haben Sie dann — und Wir dürfen es nicht unmöglich machen, daß das
das ist meine Frage: was ist da über Mittag pas- deutsche Volk in freier Selbstbestimmung dar-
siert? — Ihre Politik in dieser lebenswichtigen Frage über entscheidet, wie es einmal zusammenleben
verändert. Sie haben an die Adresse Stophs erklärt will.
— ich zitiere wörtlich nach dem Bulletin Ihrer Re- Sie haben dann in Erfurt von der „auf das Selbst-
gierung — bestimmungsrecht bezogenen Perspektive" gespro-
Wenn wir solche Antworten erhielten, dann chen, an der sich nichts ändern werde. In Kassel
wäre ich davon überzeugt, daß sich im Laufe hörte man es anders. In Ihren 20 Punkten von Kas-
der Zeit auch ,die Frage, die Sie als völkerrecht- sel ist vom Selbstbestimmungsrecht des deutschen
liche Anerkennung bezeichnen, lösen ließe. Volkes nicht die Rede.
Was also, Herr Bundeskanzler, hat Sie veranlaßt, (Hört! Hört! bei der CDU/CSU — Abg. Dr.
Herrn Stoph gegenüber anders zu sprechen, als Sie Marx [Kaiserslautern]: Leider wahr!)
sich hier im Bundestag festgelegt hatten? Sie wissen wie dieses ganze Haus, daß wir immer
(Beifall bei der CDU/CSU.) erklärt haben: das Selbstbestimmungsrecht des deut-
chen Volkes ist für uns als Demokraten kein Ver-
Wir alle wissen doch, Herr Bundeskanzler: was man handlungsgegenstand, und wir werden alle Schritte
Kommunisten — ohne die Gegenleistung in der der innerdeutschen und der gesamteuropäischen Ent-
Hand — auch nur in Aussicht stellt, das ist doch spannung in diesem Bereich daran messen, ob sie
weg, das ist verbraucht, das ist geschehen. zum Selbstbestimmungsrecht hin- oder von ihm
wegführen.
Ich frage deshalb den Kollegen Mischnick, ob (Beifall bei der CDU/CSU.)
dieser Schritt über die Aussagen und Verabredun-
gen der Koalition hinaus vorher von Ihrer Fraktion Diese Haltung der CDU/CSU ist für uns prinzipiell.
gekannt und gebilligt war. Ich frage Herrn Gen- Für uns geht es hier nicht nur um Rechtsnormen,
scher und Herrn Ertl und Herrn Scheel, ob sie bereit sondern um das Selbstverständnis unseres Staates,
sind, diesen Schritt über die Koalitionsverabredung unserer Demokratie und der menschlichen Existenz,,
hinaus jetzt zu decken. Ich frage Herrn Dahrendorf, und — für meine Generation — um die Summe ihrer
wie er gestern — ich zitiere nach den heutigen Le benserfahrungen.
Mitteilungen der Bundesregierung — noch sagen (Oh-Rufe bei der SPD.)
kann,, es dürfe nichts geschehen, was die deutsche
Frage schließe; sie müsse offenbleiben. Dann müs- — Ja, um die Summe meiner Lebenserfahrungen!
sen Sie heute im Kabinett mit Nein stimmen. Ich Soll ich sie Ihnen schildern? Im Unrechtsstaat auf-
frage, wie sich das mit der Haltung Ihres Kanzlers wachsen zu müssen, und dann im Krieg und nach
vereinbart, den Sie stützen und der die völkerrecht- dem Krieg in Not und Trümmern zum erstenmal
liche Anerkennung nun in Aussicht stellt. selbst bestimmen dürfen, was man tun darf: das ist
existentiell und nicht aufgebbar, meine Damen und
Ich muß auch in die andere Richtung sehen. Herr Herren.
Kollege Mattick, Sie haben zum Wochenende — Sie (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Matt-
sind immerhin der Vorsitzende des Arbeitskreises höfer: Das berechtigt Sie nicht, für eine
Ihrer Fraktion für solche Fragen — zum Problem ganze Generation sprechen zu wollen! Sie
der völkerrechtlichen Anerkennung eine Erklärung repräsentieren nur einen kleinen Teil!)
abgegeben, in der es heißt:
-- Für meine Generation! Es gibt andere; die be-
In diesem Völkerrecht steckt in der deutschen fanden sich in einer anderen Lage; die konnten ihr
Situation auch Berlin und stecken die Alliierten, ganzes Leben lang über sich selbst bestimmen. Wir
die in Berlin ihre Schutzfunktion ausüben ... konnten das nicht, sondern wir waren Opfer von
und wir dürfen nichts dazu tun, daß sie sie auf- Gewalt und Fremdbestimmung. Deshalb sitzt uns das
geben. Und da hinein paßt nicht eine völker- unter der Haut, Herr Matthöfer.
rechtliche Anerkennung der deutschen Spaltung.
Dann kommt Berlin ins Schwimmen und die (Beifall bei der CDU/CSU.)
Alliierten in Berlin auch. Das Grundgesetz, Herr Bundeskanzler, ist nicht
(Beifall bei der CDU/CSU.) nur, wie Sie in Kassel sagten, auf die Einheit der
Nation, sondern zugleich auf deren Freiheit ange-
So weit dieses Zitat, meine Damen und Herren. Dem legt. Der Verfassungsauftrag lautet — ich zitiere —:
ist nichts hinzuzufügen als die Frage, ob der Herr Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert,
Bundeskanzler dieses Argument über Mittag ver- in freier Selbstbestimmung die Einheit und
gessen hat, oder was passiert ist, daß er nachmit- Freiheit Deutschlands zu vollenden.
tags eine andere Position bezog.
In Ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzender, Herr
(Abg. Rasner: Mattick ist heute noch Bundeskanzler, haben Sie dann am Samstag oder
Berliner!) Sonntag versucht, in einer veröffentlichten Erklä-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2667
Dr. Barzel
rung hier wieder etwas durch eine Interpretation in deutlich machen, daß Gewaltverzicht in Deutschland,
Ordnung zu bringen, indem Sie sagten, in Ihrem so wie die Realitäten nun einmal sind, zunächst
Text sei an einer Stelle von den Menschenrechten heißt: Verzicht auf Gewalt und Schießerei an Mauer
die Rede, und das beinhalte natürlich auch das und Stacheldraht.
Selbstbestimmungsrecht. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Nun, Herr Bundeskanzler, diese Erläuterung hin-
terher ist natürlich schon etwas wert. Aber das ge- Es wäre gut gewesen, wenn Sie, wie dies Ihr Herr
nügt nicht. Denn idas Selbstbestimmungsrecht ist ein Amtsvorgänger in seinem Schreiben an Herrn Stoph
fundamentales Prinzip. Es ist allem übergeordnet getan hat, diesen Punkt nicht dem weiten Feld
und kann nicht im Wege von Interpretationen durch von Hinterher-Interpretationen, sondern der kla-
die Hintertür auch noch untergebracht werden. ren Form vorher formulierter Prinzipien zugeordnet
hätten.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ich komme, Herr Bundeskanzler — und dies ist
Wäre es anders, so hätten Sie nicht in Erfurt selbst wohl nötig, wenn wir uns die Presse der letzten
noch jene eben zitierten Sätze gesagt, die nun in Tage ansehen, und auch nötig, nachdem Sie selbst,
Kassel fehlten. anders als noch im März, öffentlich einräumen, daß
Es kommt hinzu, daß Ziffer 5 Ihrer 20 Punkte Erfurt, Kassel, Warschau und Moskau ein Zusam-
lautet ich zitiere —: menhang sind —, zu dem Komplex, der in Moskau
behandelt wird und über den, wenn Pressemeldun-
Beide Seiten respektieren die Unabhängigkei t gen stimmen, heute nachmittag Ihre Regierung Be-
undieSlbstägkj.derzwiStan schluß fassen wird. Herr Breschnew, Parteichef der
in Angelegenheiten, die ihre innere Hoheits- Sowjetunion, hat am 6. Mai 1970 in Prag in aller
gewalt betreffen. Form erklärt, was er einmal als „Voraussetzung"
Das heißt doch auch die Respektierung der Nicht für bessere Beziehungen der Bundesrepublik
Menschenrechte im anderen Teil Deutschlands. Oder Deutschland mit den sozialistischen Ländern bezeich-
was soll dies heißen, meine Damen und Herren? net und was zum anderen die „Verhandlungslinie"
der Sowjetunion in den gegenwärtigen Gesprächen
(Sehr richtig! bei ,der CDU/CSU.)
sei. Sie erinnern sich, daß in unserer letzten Debatte
Warum erklärten Sie, Herr Bundeskanzler, in hierzu die Mitteilung über das, was Herr Abras-
Kassel, und zwar auch erst in Ihrer Nachmittags- simow gesagt hatte, einen gewissen Rang hatte.
rede, nachdem Herr Stoph Sie auf den Art. 7 des Nun denke ich, daß das, was der KP-Chef der So-
Deutschlandvertrags angesprochen hatte, im wjetunion sagt, von besonderem Rang ist. Da die
Deutschlandvertrag sei das Entscheidende der Satz 1, Regierung hier nicht berichtet, möchte ich diese
in dem ein friedliches Deutschland gefordert wird? Dinge in die Debatte einführen.
Warum verschwiegen Sie dort in Ihrer Replik den
ganzen Artikel, in dem doch auch wieder von der „Voraussetzung" der Verbesserung von Bezie-
Selbstbestimmung die Rede ist, die ein wesentlicher hungen sei folgendes — ich zitiere —:
Gehalt dieser Norm ist? Diese Norm selbst wieder Die Interessen der Gesundung der Lage in
ist doch nur zu interpretieren aus den Grundvor- Europa erfordern eine Unterbindung der ge-
stellungen des Grundgesetzes und aus dem eben fährlichen Tätigkeit der revanchistischen und
zitierten Verfassungsauftrag. neonazistischen Kräfte in der Bundesrepublik
Ein Drittes dazu. Wir haben gelesen, daß Walter Deutschland. Beide Seiten
Ulbricht — wir konnten es am Sonntag lesen — — das ist aus dem Kommuniqué —
unmittelbar nach Kassel sofort eine weitere An-
erkennungsforderung erhob, nachdem er sich offen- bringen die Hoffnung zum Ausdruck, daß die
sichtlich der allgemeinen und ersten schon sicher zu Bundesregierung in ihrer Politik von den euro-
sein glaubt. Er fordert, wir sollen anerkennen, daß päischen Realitäten ausgehen wird, die im Er-
Westberlin nicht nur eine selbständige politische
gebnis des zweiten Weltkrieges und der Nach-
Einheit sei, sondern daß Westberlin auf dem Terri- kriegsentwicklung entstanden sind, d. h. von
torium der DDR liege; eine Forderung, die in den der Anerkennung und Achtung der bestehenden
letzten Jahren so nicht mehr gestellt worden ist. Staatsgrenzen in Europa, der Souveränität und
Herr Bundeskanzler, Ulbrichts Konsequenz ist für Unabhängigkeit der DDR, von der Einstellung
der illegalen Tätigkeit in Westberlin, das eine
uns so beunruhigend wie Ihr Entgegenkommen ohne
Gegenleistung und das Tempo Ihrer Meinungsände- selbständige politische Einheit darstellt, von der
Anerkennung, daß das Münchener Abkommen
rung. -
(Beifall bei 'der CDU/CSU.) von Anfang an ungültig ist.
Zu Ihren 20 Punkten wird aus anderem Anlaß Das seien „Voraussetzungen" für die Verbesse-
noch viel zu sagen sein. Ich will als letztes dies rung der Beziehungen. Was ist nun die „Haupt-
hinzufügen. Sie empfehlen in Ziffer 4 einen inner- linie" der Sowjetunion nach Breschnew? Ich zitiere:
deutschen Gewaltverzicht, und dieser soll nach
Ihren Worten die Achtung ,der territorialen Inte- Die sozialistischen Staaten
grität und der Grenzen beider deutscher Staaten und wer sich da der Hoffnung hingibt, sie wür-
umschließen. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, daß Sie den sich unterscheiden, der muß sich das neue Mo-
damit meinen und wenigstens das in dieser Debatte dell des Vertrages zwischen der Tschechoslowakei
2668 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzel
und der Sowjetunion ansehen, wo nun verbrieft ist, nachlesen i n einer einstimmigen Resolution zu allen
daß man einmarschieren darf — diesen Fragen, die die Bundestagsfraktion der CDU/
(Beifall bei der CDU/CSU) CSU gestern gefaßt hat. Aber offensichtlich geht es
jetzt zwischen Moskau und Bonn um ganz andere
und alle Völker Europas 'bestehen mit gutem Fragen. Wir entnehmen wichtigen Pressestimmen
Grund auf festen Garantien dafür, daß weder die Mitteilung, daß es gar nicht um einen Gewalt-
heute noch morgen, niemals, von deutschem verzichtsvertrag geht, sondern „um eine Art Gene-
Boden die Gefahr einer neuen Agression aus- ralvertrag", „um eine Art vorweggenommenen
geht. Dies ist der Sinn und der Geist des histo- Friedensvertrag" .
rischen Potsdamer Abkommens, dies ist unsere
Hauptlinie, darunter auch bei den zur Zeit statt- Was ist denn nun eigentlich los, Herr Bundes-
findenden Verhandlungen mit der Bundesrepu- kanzler? Wir haben einen Generalvertrag mit den
blik Deutschland. Wir sind überzeugt, daß die Westmächten. Darin steht: „Wiedervereinigung".
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Das ist das Ziel. Kommen wir nun zu einem Gene-
den Ländern des Sozialismus bestehenden Pro- ralvertrag mit der Sowjetunion mit dem Inhalt:
bleme wirklich nur auf dieser Grundlage gelöst „Keine Wiedervereinigung"?
werden können. (Abg. Rasner: Genau das ist die Frage!)
Damit ist deutlich: der Sowjetunion geht es um Ver- Sollen dann vielleicht die beiden Verträge neben-
änderungen in der Bundesrepublik Deutschland, einander rechtsgültig sein, meine Damen und Her-
und zwar nach dem, was sie unter dem Potsdamer ren? Soll das beides nebeneinander gelten und als
Abkommen versteht, und um Veränderungen unse- Beweis der Glaubwürdigkeit und der Vertrauens-
rer Außenpolitik. Damit wird wohl auch deutlich, würdigkeit der deutschen Politik gelten?
meine Damen und Herren, was der Inhalt eines (Beifall bei der CDU/CSU.)
deutschsowjetrussischen Vertrages sein könnte.
Käme er so zustande, würde von deutschem Boden, Oder soll dies nur der Versuch sein, uns zwischen
nämlich von Bonn aus, Unrecht ausgehen, nämlich alle Stühle zu setzen? Art. 7 ist ein verbindliches
das Unrecht, (die rechtswidrige Spaltung Deutsch- Ziel. Das ist kein Haken, an dem man verbale Vor-
lands und Europas rechtlich zu besiegeln. behalte aufhängen kann. Wer dieses verbindliche
Ziel außer acht läßt, indem er i n Wahrheit Idas Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU.) genteil tut, der verletzt diesen Vertrag.
Wer immer den Satz sagt: „Von deutschem Boden (Beifall bei der CDU/CSU.)
keine Aggression mehr", der muß wohl noch daran
erinnern, daß von dem Boden der DDR die Agres- Also, Herr Bundeskanzler, was wird nun wirklich
sion in die Tschechoslowakei vorbereitet und ange- in Moskau verhandelt? Wird in diesem Vertrag —
regt war. und zwar in seinem Text selbst, Herr Bundesaußen-
(Beifall bei der CDU/CSU.) minister, und nicht in irgendeiner zwielichtigen und
völlig unverbindlichen Weise verbaler Vorbehalte
Trotz all dieser Tatsachen ist die Bundesregie- — das unveränderte, friedliche Ziel der Einheit
rung, wie jeder Blick in jede deutsche Zeitung zeigt, Deutschlands auf der Basis der Selbstbestimmung
bemüht, nachdem Kassel zu nichts anderem geführt formuliert sein, so wie es in der Präambel des
hat als zu ,der Veränderung der Position der Bun- Grundgesetzes verpflichtend steht, oder wird in dem
desregierung, nun .sehr optimistische Erwartungen Vertrag, in welcher Form auch immer, die An-
hinsichtlich eines möglichen Vertrages zwischen erkennung der Spaltung enthalten sein? Der Ver-
Bonn und Moskau zu erwecken. zicht auf die Forderung nach dem Selbstbestim-
So wie es gut war, meine Damen und Herren, wie mungsrecht in Ihren 20 Kasseler Punkten, Herr
die Erfahrungen nun zeigen, vor Kassel gut war, die Bundeskanzler, und der Versuch, sie dann hinterher
Stimmen aus der DDR sehr ernst zu nehmen, so noch irgendwie hineinzuinterpretieren, läßt befürch-
sollte man nun vor Moskau und vor der Kabinetts- ten, daß die Verhandlungslage in Moskau auf die-
entscheidung darüber die Erklärungen Breschnews sem Gebiet nicht viel anders ist.
sehr ernst nehmen. Denn es ist doch kaum anzu- Die Präambel des Gewaltverzichtvertragsentwurfs
nehmen, daß er seinem Außenminister erlaubt, der letzten Bundesregierung ging von dem Ziel aus,
anderes abzuschließen, als er vorher öffentlich er- die Einheit Deutschlands auf friedlicher und demo-
klärt hat. kratischer Grundlage zu verwirklichen, und sie hatte
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ahlers hat die Verpflichtung zum Inhalt, für dieses Ziel der
gesagt: „Da hören wir gar nicht hin"!) deutschen Politik, also die Wiedervereinigung in
Nun weiß jedermann, daß der Vorschlag, hier in Freiheit, auf Gewalt als ein Mittel der Politik zu
Gewaltverzichtsabkommen zwischen der Europa verzichten. Es scheint nun, daß diese Bundesregie-
Bundesrepublik Deutschland und allen europäischen rung dabei ist, der Sowjetunion gegenüber sehr viel
Ländern als einen Schritt zur Entspannung einzu- weitergehende Verpflichtungen einzugehen.
führen, seit vielen Jahren von früheren Bundes- Ist es richtig, Herr Bundeskanzler, was hier und
regierungen gemacht worden ist. Wir sind nach wie da zu hören und zu lesen ist, nämlich daß bei den
vor bereit, nicht nur Verhandlungen über dieses Gesprächen in Moskau auch Themen wie diese eine
Thema zu unterstützen, sondern auch deren Ergeb- Rolle spielen und daß es dazu gewisse Absichts-
nisse zu billigen, wenn dadurch wirklich der Ver- erklärungen, Vorhaben, In-Aussicht-Stellungen oder
zicht auf Gewalt erreicht wird. So können Sie es Zusagen Ihrer Regierung gibt oder geben soll oder
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2669
Dr. Barzel
geben wird: Baldige Schritte zur Aufnahme beider sie ist, wie Sie seit gestern sehen können, einstim-
deutscher Staaten in die UNO; bevorstehende Ver- mig.
ständigung mit der Tschechoslowakei über die Un- (Lachen und Zurufe von der SPD.)
gültigkeit des Münchener Abkommens; Veranke- — Das werden Sie noch spüren, was das bedeutet.
rung aller Gewaltverzichtsverträge, welche die Bun-
desrepublik Deutschland mit den verschiedenen Ost- (Erneutes Lachen bei der SPD.)
blockländern trifft, in dem Vertrag mit der Sowjet- — Gucken Sie sich mal um in diesem Hause, meine
union — wenn man so verführe, würde man noch Damen und Herren! Aber ich freue mich, daß Sie
die Hegemonie der Sowjetunion stärken und nicht doch bisher mit großer Aufmerksamkeit die Infor-
bilateral auflockern, was Sie hier einmal als ihr Ziel mationen, die wenigstens die Opposition Ihnen ge-
verzeichnet haben —; Grenzerklärungen, die, falls geben hat, angehört haben.
überhaupt, nur im Verhältnis zu Polen und zur DDR
bilateral verabredet werden können, auch gegen- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
über der Sowjetunion oder etwa gar Zusagen, Gren- Bezüglich Polen ist unsere Position klar: ja zu Aus-
zen nicht nur zu achten, sondern sie auch künftig gleich und Lösung, nein zu der in sich widerspruchs-
nicht verschieben oder verändern zu wollen, auch vollen Formel dieser Regierung, weil das nicht zur
nicht im Wege friedlicher Veränderung und fried- Aussöhnung, sondern zu neuem Streit führt.
lichen Ausgleichs? Die Aussöhnung mit Frankreich war hier wirklich
Haben Sie, Herr Bundeskanzler, gesichert, wer ein Vorbild, wie auch Sie immer sagen, Herr Bun-
Berlin in der UNO vertreten soll, deskanzler; nur denken Sie dann auch daran, wie
dies geschah. Damals legte man alle Streitfragen
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU) — die Saar eingeschlossen — offen auf den Tisch,
falls es zu der doch von Ihnen grundsätzlich be- handelte nicht hinter dem Rücken der Betroffenen,
schlossenen Politik der Aufnahme beider deutscher nicht hinter dem Rücken des Parlaments und fand
Staaten in die Vereinten Nationen kommen sollte? eine für beide Völker annehmbare Lösung. Wo-
Ist völlig geklärt, daß die vertraglich verabredete durch? Durch Selbstbestimmung!
-und vorgesehene Achtung der Integrität von Staaten (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
und Grenzen uns nichts von unserem Recht nimmt,
die Wiedervereinigung auf der Basis der Selbst- Ich kann für meine Fraktion erklären, daß wir
bestimmung zu fordern? Oder darf nur noch Ulb ri cht voll mit dem übereinstimmen, was am 30. April 1970
die Wiedervereinigung in seinem Sinne fordern? hierzu Herr von Kühlmann-Stumm feststellte — ich
zitiere —:
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Sowohl das Potsdamer Abkommen als auch der
Gibt es Verabredungen, In-Aussicht-Stellungen oder 1954 abgeschlossene Deutschlandvertrag zwi-
was auch immer zur Frage der Zugehörigkeit der schen der Bundesrepublik Deutschland und den
beiden deutschen Staaten zu ihrem Bündnissystem? Westmächten bestimmen ganz eindeutig, daß
Gibt es eine Unverletzlichkeitserklärung für die Ge- die endgültige Festlegung der Grenzen Deutsch-
sellschaftsordnungen in beiden Teilen Deutschlands, lands bis zu einer friedensvertraglichen Rege-
so wie sie heute sind, von beiden Seiten? lung zurückgestellt wird. Hieran sind Bundes-
Was ist schließlich mit dem angemaßten Gewalt- regierung und Bundestag gebunden, ob sie es
vorbehalt der Sowjetunion gegenüber der Bundes- wollen oder nicht. Meiner Ansicht nach ist es
republik Deutschland? Ist es richtig, daß die Sowjet- auch nicht sinnvoll, zu weitgehende politische
union ihren zu Unrecht erhobenen einseitigen Ge- Absichtserklärungen abzugeben. Wir respek-
waltvorbehalt auch dann aufrechtzuerhalten ge- tieren den Wunsch der Polen, in gesicherten
denkt, wenn Sie einen solchen Vertrag schlössen, Grenzen zu leben. Wir haben daher auch im-
und selbst dann, wenn beide deutsche Staaten in mer erklärt und sind bereit, in einem besonde-
der UNO wären? Wo ist, wenn dies stimmt, das ren Abkommen zu bekräftigen, daß wir nicht
deutsche Interesse an dieser Politik, und wo ist die beabsichtigen, die tatsächlichen Verhältnisse
Gegenleistung der Sowjetunion? mit Gewalt zu ändern. Abgesehen davon dient
aber eine Grenzregelung nur dann auf Dauer
(Beifall bei der CDU/CSU.) dem Frieden in Europa, wenn sie den berech-
Oder sind Sie, Herr Bundeskanzler, etwa bereit, den tigten Interessen beider Nachbarn Rechnung
Verbalismus so weit zu treiben, daß Sie unter der trägt.
Überschrift „Gewaltverzicht" einen Vertrag unter- (Beifall bei der CDU/CSU.)
schreiben, der den Gewaltvorbehalt der Sowjet- Der beste Weg dazu ist, im Rahmen einer euro-
union nicht beseitigt, also indirekt bestätigt, aber päischen Friedensordnung die Grenzen durch-
wesentliche Positionen der deutschen Politik auf- lässig zu machen, daß sie ihre einengende Be-
gibt? Zu Zeiten der Politik der Großen Koalition deutung verlieren. Nur so kann Europa in der
schlossen Sie das noch aus. Ich weise Sie auf die Zukunft noch die ihm zustehende Rolle spielen.
Note hin, die im Jahr 1968 als Antwort auf den Ver-
Dies ist exakt auch unsere Position.
tragsentwurf der Sowjetunion von 1967 übergeben
wurde. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Der nächste Punkt betrifft Polen. Wir haben hier Ein Wort zu Berlin. In dieser Lage sollte die Bun-
oft darüber gesprochen, und unsere Position ist klar; desregierung ernsthaft prüfen, ob unser Vorschlag,
2670 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzel
den Gesprächen der Vier Mächte über Berlin Vor- Das wäre dann weniger Europa und nicht mehr
rang einzuräumen, nicht doch erwägenswert ist. Die- Europa.
ser Vorschlag hat den Vorteil, das Risiko der deut- (Zustimmung bei der CDU/CSU.)
schen Politik kalkulierbarer zu machen und zu min- Zum anderen hat der Bundeskanzler den Vertrag
dern. Er entspricht der Erkenntnis, daß ohne die unterschrieben, meine Damen und Herren, obwohl
Festigung des freien Berlin weder die anstehenden die Auffassung der Sowjetunion nicht ausgeräumt
Fragen mit der DDR noch die mit der Sowjetunion war, ,daß eine politische Gemeinschaft des freien
gut geregelt werden können. Europa, der z. B. Kernwaffenstaaten wie Großbritan-
Sollte ,die Bundesregierung beabsichtigen, Herr nien und Frankreich und Nichtkernwaffenstaaten
Bundeskanzler, den Vertrag mit der Sowjetunion wie Italien und Deutschland angehören, Vertrags-
abzuschließen, bevor die Gespräche der Alliier- bruch bedeuten würde, weil dies „indirekte Ver-
ten in Berlin zu greifbaren positiven Ergebnissen ge- fügungsgewalt" sei.
führt haben, so würde dies nicht nur gegen frühere Zweitens. Der Herr Bundeskanzler erklärte, er
Erklärungen der Bundesregierung verstoßen, son- wolle für den Bereich der Wirtschaft die Integration
dern die Zukunft Berlins gefährden. Ich erinnere und für die Politik nur die Zusammenarbeit. Ver-
nochmals an ,das, was Herr Mattick hier gesagt hat. geblich haben wir ihn am 15. April im Bundestag
gebeten, sich für die politische Vereinigung als Ziel
(Beifall bei der CDU/CSU.)
dieser Generation auszusprechen, und angeboten,
In diesen Zusammenhang gehört ein Wort zur daß dann der Streit aufhört. Er hat dies nicht getan.
Europapolitik; es ist ja gerade aktuell, Herr Bundes-
Drittens. Wir haben Anlaß, davon auszugehen,
außenminister. In keinem der Punkte, .die ich hier
daß diese Regierung unter politischer Zusammen-
vortrage, bin ich unglücklich, wenn die Bundes- arbeit zwar alles mögliche, aber .da, wo es darauf
regierung aufsteht und hier verbindlich und ver-
ankommt, nur freiwillige Konsultationen versteht.
pflichtend — das gilt für alles — erklärt, es sei in
Ist dies Ihre Auffassung, Herr Kollege Scheel, daß
Wirklichkeit ganz anders. Nur müssen Sie den Ver-
die Zeit für verbindliche Konsultationen noch nicht
balismus natürlich beenden; wir wollen nach dem,
gekommen sei? Darauf hätte ich gern eine Antwort.
was wir in Kassel erlebt haben, einmal Papiere
Und vielleicht geben Sie diesem Hause den Inhalt
sehen, meine Damen und Herren.
der Zirkularnote vom Januar bekannt, die Sie in
(Beifall bei der CDU/CSU.) Ihrer schriftlichen Antwort auf unsere Große An-
frage zwar erwähnen, deren Text diesem Hause aber
Wer Ostpolitik zur Entspannung treiben will, muß vorenthalten wird.
sehen, daß ,die Truppen der USA hier bleiben und
daß die politische Vereinigung des freien Europa (Hört! Hört! bei der CDU/CSU. — Abg. Dr.
nicht, wie dies der Herr Bundeskanzler tut, zur Sache Apel: Aber Sie haben ihn ja!)
der nächsten, sondern zur Priorität dieser Genera- Viertens. Genauere Beobachter der Brüsseler
tion wird. Szene berichten übereinstimmend, daß die Zurück-
(Beifall bei der CDU/CSU.) haltung der Bundesregierung in allen Fragen der
Politischen Union auffalle. Die Beiträge aus Bonn
Die innere Lage und die weltweite Belastung der
zu diesen Fragen seien so bescheiden und so voller
USA, die Situation im Mittelmeer, unsere eigenen
ostpolitischer Rücksichtnahmen, daß an das Ent-
innenpolitischen Reformprobleme, alles das ruft
stehen einer politischen Autorität in Europa schon
nach Europa, und zwar jetzt und nicht erst in den
wegen dieser Haltung der gegenwärtigen Bundes-
nächsten Generationen, meine Damen und Herren.
regierung nicht zu denken sei.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)
Wir leugnen nicht, daß die Bundesregierung dabei Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenmini-
ist, sich mit aller Entschiedenheit um die Erweite- ster, nun kommen Sie nicht und sagen, es gebe zu
rung der Gemeinschaft zu bemühen. Wir sehen zu- dieser Frage auch in anderen europäischen Kabi-
gleich, daß sie dabei ist, den Motor für den Fort- netten zurückhaltende Einstellungen! Die Deutschen
schritt, nämlich die politische Vereinigung, auszu- waren immer — aus eigenem Interesse — der Motor,
bauen. der Vorreiter für das Ziel der politischen Vereini-
(Beifall bei der CDU/CSU.) gung Europas. Unsere Politik bleibt nur glaubhaft,
wenn dies so bleibt, wenn unsere Vorschläge immer
Wir halten hierzu kritisch folgendes fest: um ganze Ellen vor denen anderer sind, meine Da-
- men und Herren.
Erstens. Der Bundeskanzler unterschrieb den
Sperrvertrag, obwohl zwei wesentliche Vorausset- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
zungen aus dem Bereich ,der Europapolitik nicht ge- der SPD.)
klärt waren. Zunächst war nämlich — und inzwi- Wir haben immer mehr den Eindruck — das kann
schen wird man ja merken, daß es stimmt, was wir man alles hier beantworten, Herr Matthöfer — —
hier schon im November gesagt haben — das Ver-
handlungsmandat der Europäischen Gemeinschaft (Abg. Matthöfer: Sich selbst als Musterknaben
gegenüber der Wiener Behörde für die sogenannte darstellen!)
Verifikation vorher nicht geklärt. Auch dadurch ist — Herr Matthöfer, Sie sind doch mit mir der Auf
Euratom gefährdet und könnte zusammenbrechen. fassung — nicht nur aus der Kenntnis der Probleme
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2671
Dr. Barzel
der Ingenieurschüler, sondern auch der Probleme Meine Damen und Herren, wir sehen nicht, daß in
etwa der Metallindustrie —, daß der Übergang von den anderen ostpolitischen Bemühungen der Bun-
der Zollunion zur Wirtschafts- und Währungsunion, desregierung — in denen um Berlin, mit Polen, mit
den wir alle wollen, überhaupt nur möglich ist, der Sowjetunion — die Gesprächspartner gleich-
wenn es ein Mindestmaß an politischer Gemein- falls, so wie die DDR, zu anderem bereit sind als
samkeit gibt, und das muß mehr sein als unver- dazu, von uns die hundertprozentige Erfüllung ihrer
bindliche Konsultationen, sonst hat man den Motor Forderungen ohne Gegenleistung entgegenzuneh-
weggenommen. men.
(Lebhafter Beifall bei CDU/CSU. — Zuruf Entspricht die Bundesregierung dem nicht, weil
des Abg. Matthöfer.) sie sich an das hält, was sie im Bundestag gesagt
hat, so wird das alles scheitern. Dann werden die
Also nicht „Musterknabe", sondern Vertreter der
Ost-West-Verhältnisse in den siebziger Jahren
Interessen einer guten Zukunft Deutschlands. Und
härter und angespannter sein, als es in den sechziger
Sie wollen doch ein „modernes Deutschland" schaf-
Jahren je der Fall war. Erfüllt dagegen die Bundes-
fen. Das werden Sie ohne politische Vereinigung
regierung diese Forderungen, ohne Gegenleistungen
Europas nicht hinkriegen.
zu erhalten, so ist dadurch nicht der Frieden siche-
(Lebhafter Beifall und Zurufe bei der rer, sondern allein die Vorherrschaft der Sowjet-
CDU/CSU. — Zurufe von der SPD.) union und deren Ausgangsbasis zum Kampf um
Wir haben immer mehr den Eindruck, daß der Deutschland.
Herr Bundeskanzler nicht im Interesse der Beitritte (Beifall bei der CDU/CSU.)
neuer Mitglieder zur EWG handelt; denn die briti- Dann dürften viele Europäer denken: arrangie-
schen Verantwortlichen — sowohl der Premiermini- ren sich die Deutschen derart, indem sie ihre Posi-
ster wie der Außenminister, wie der Oppositions- tionen wegwerfen, so ist es wohl Zeit, auf Moskau
führer und dessen Schatten-Außenminister — haben noch mehr Rücksicht zu nehmen. Das wäre funda-
doch nicht nur uns, sondern in unserer gemein- mental gegen das politische Gleichgewicht in Europa.
samen Gegenwart ganz klar erklärt, sie wollten ge- Es ist keine Frage, daß diese ganze Entwicklung den
rade das politische Ziel der Vereinigung. Also kann Abzug der Truppen der USA aus Europa nicht
das doch nicht die Rücksicht sein. Wo liegt sie dann hemmt, sondern fördert und auch dadurch den Frie-
wohl, Herr Bundeskanzler? den nicht sicherer, sondern fragwürdiger macht;
(Abg. Rasner: Genau!) denn das amerikanische Engagement würde dann
sinken, während der sowjetrussische Einfluß zu-
Welche Visionen von gesamteuropäischer Zukunft
haben Sie, daß Sie die Möglichkeiten der Vereini-
gleich stiege.
gung des freien Europa dafür zurückstellen? Das Dies ist ein Teil unserer Sorge. Und dies ist un-
muß dieses Haus einmal wissen! sere Sicht. Die Regierung ist aufgefordert zu ant-
(Lebhafter Beifall und Zurufe bei der
worten. Unsere Sorgen sind dadurch noch ange-
CDU/CSU.) wachsen, daß sich der Kanzler wie der Außenmini-
ster geweigert haben, unserer Aufforderung zu ent-
Kassel hat gezeigt, daß die DDR kein geregeltes sprechen, heute ein ungeschminktes Bild der Lage
Nebeneinander, sonder allein die Festigung ihrer und des Standes der ostpolitischen Aktivitäten zu
Position zum Kampf um die Veränderung der Ord- geben.
nung in der Bundesrepublik Deutschland will. Wie
Herr Bundeskanzler, zum Status quo in Deutsch-
auch sollte Herr Stoph eine andere Politik machen
land und in Europa gehört, daß die deutsche Frage
können, wollen und dürfen, als Breschnew sie ver-
mit Zustimmung der Westmächte in der Substanz
kündet?
offen ist und offen bleibt. Was aber zur Debatte
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Dürfen, steht und was vor der Entscheidung Ihres Kabinetts
ja!) steht — und wenn Sie heute beschließen, was zu er-
Meine Damen und Herren, übersehen wir doch nie: warten ist, dann ist der Zug abgefahren, meine
was hier als Ostpolitik ausgegeben wird. Das ist Damen und Herren —, überwindet nicht Spannung
doch aus Moskauer Sicht Gegenstand einer konse- und Spaltung Deutschlands und Europas, sondern
quenten aggressiven und offensiven Westpolitik macht sie rechtsgültig mit allen politischen Kon-
der Sowjetunion. Dies darf man doch niemals außer sequenzen, die ich vortrug.
acht lassen. Trotzdem muß man sie machen. Aber Kein Verbalismus, Herr Bundeskanzler, sollte uns
man muß die reale Lage sehen, und dazu gehört über die Geltung des Rechts und über die Fakten
auch, dem zu folgen, was Herr Mattick so bezeich- täuschen. Zu den Fakten gehört, daß wir die Worte
-
net, sich nämlich in der ideologischen Auseinander- der Führer der Sowjetunion — ich zitiere einige —
setzung mit den Kommunisten wieder etwas mun- ganz ernst nehmen.
terer zu bewegen.
Und, Herr Bundeskanzler, trotz Ihrer Begabung
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. —
zum Sowohl-als-auch wird auch Ihnen die Geschichte
Zurufe von der SPD.)
nicht die Gartenlaubenidylle gestatten, dem Ent-
— Das sind doch Matticks Worte. weder-Oder auszuweichen. Verbal läßt sich zwar
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Die Politik sagen, die Konvergenztheorie sei zugleich falsch und
beruht auf einer falschen Analyse! Zu richtig. Für die praktische Politik gibt es dazu nur
rufe von der SPD.) eins, nämlich ja oder nein. Ob Sie, Herr Bundes-
2672 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Barzel
kanzler, durch Interpretationen und Sowohl-Als- so daß in dieser Frage auch Sie hätten eigentlich
auch in ein besonderes Licht geraten, das ist Ihre nicht überrascht sein können.
Sache. Daß deutsche Politik das rechtlich verbind- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das waren
lich gegebene Wort hält und nicht durch verbalisti- wir auch gar nicht! Das ist doch das Ende
sche Interpretationsakrobatik, etwa unter dem ver- Ihr er Illusionen! — Weiterer Zuruf von
balen Vorbehalt des Art. 7 des Deutschlandvertrages der CDU/CSU: S d e waren überrascht!)
und der Präambel des Grundgesetzes, real, also in
der Wirklichkeit, das Gegenteil tut, das, Herr Bun- — Entschuldigen Sie, Herr Kollege Marx, ich schätze
deskanzler, ist unser aller Sache. Sie ja als einen großen Rhetoriker und Zeitungs-
leser; das haben Sie oft an dieser Stelle bewiesen.
(Beifall bei der CDU/CSU.) Sie haben dann mit Sicherheit auch die Interviews
und Artikel gelesen, die von Regierungsmitgliedern
Ich komme zum Schluß. Wenn die Bundesregie- und Delegationsmitgliedern vor Kassel geschrieben
rung heute nachmittag beschließt, auf der Basis der worden sind. Daraus hätten Sie all das selbst ent-
Moskauer Sondierungen — ob das noch Sondierun- hehmen können, was Sie hier heute plötzlich in
gen sind oder etwas sehr viel Weitergehendes, ist Frage stellen oder kritisierend vermerken wollen.
ja eine offene Frage — den Herrn Außenminister zu
abschließenden Verhandlungen nach Moskau reisen (Zurufe von der CDU/CSU.)
zu lassen, dann beschließt sie — das soll jedermann Die zweite Vorbemerkung. Die Frage der völker-
wissen — die Wendung der deutschen Politik, und rechtlichen Anerkennung vorab ohne andere Rege-
dann tut sie dies, ohne zuvor das Parlament unter- lungen ist von der Bundesregierung eindeutig be-
richtet, das freie Berlin gefestigt, den einseitigen Ge- antwortet worden.
waltvorbehalt der Sowjetunion wirklich beseitigt, (Abg. Dr. Stoltenberg: Wa s heißt hier „vor
die Zustimmung der Deutschen zur Grenze an Oder ab", Herr Dorn?)
und Neiße, zur Zweiteilung Deutschlands und zur
Isolierung Berlins eingeholt zu haben. — Herr Kollege Stoltenberg, das wissen Sie ge-
nauso gut wie ich.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Marx (Abg. Dr. Stoltenberg: Nein!)
[Kaiserslautern] und Abg. Rasner: So ist es!)
— Dann hätten Sie es zumindest aus dem Zusam-
Diese Politik, deren Inhalt verschwiegen, ver- menhang meines Satzes erkennen können, weil ich
schleiert und vernebelt wird und deren Konsequen- gesagt habe: vorab ohne gleichzeitige Regelung
zen dem deutschen Volk vorenthalten werden, wird anderer Probleme.
zur Veränderung des politischen Gleichgewichts in (Beifall bei den Regierungsparteien.)
B) Europa und in Deutschland führen, und zwar zu-
gunsten der Sowjetunion. Weil das weder mehr Ich meine, es wäre auch gut, nachdem wir so viele
Freiheit noch mehr Frieden bedeutet, werden wir uns Informationen der Christlich-Demokratischen Union
dem widersetzen, und ich denke, wir werden dabei entgegennehmen konnten, daß Sie bereit wären,
nicht alleine sein als CDU/CSU. auch differenzierter zuzuhören.
Nun die letzte Vorbemerkung, Herr Kollege Bar-
(Langanhaltender lebhafter Beifall bei der zel. Sie haben 50 Minuten lang die politischen Kri-
CDU/CSU.) tiken, die die Opposition an der Regierung zu ver-
merken hatte, angebracht. Gestatten Sie mir nur
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der eine Schlußbemerkung zu Ihren Ausführungen. In
Abgeordnete Dorn. diesen 50 Minuten haben Sie nicht eine einzige kon-
struktive Idee vorgetragen, wie Sie die Probleme
(Abg. Rasner: Der Kanzler schweigt vor geregelt 'hätten.
sich hin!) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
rufe von der CDU/CSU.)
Die Fraktion des Herrn Abgeordneten hat ge-
beten, ihm eine Redezeit von 45 Minuten zu ge- Nachdem wir schon vor geraumer Zeit hier in die-
währen. Dies ist geschehen. sem Hause mehrfach die Ankündigung der Opposi-
tionsfraktion vernommen hatten, eine Große An-
frage zur Deutschland-, Ost- und Europapolitik solle
Dorn (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr verehr- die Regierung zwingen, ihre politischen Vorstellun-
ten Damen und Herren! Zu den Ausführungen des gen vorzutragen, 'begrüßen wir Freien Demokraten
- Vor-
Kollegen Dr. Barzel möchte ich vier kurze es, daß die Antwort bereits vor den Gesprächen in
bemerkungen machen. Kassel vorgelegt wurde. So ist der oft geäußerte,
aber völlig unbegründete Verdacht ausgeräumt,
Erstens. Herr Kollege Barzel, jeder, der die poli- diese Bundesregierung wäre nach Kassel gegangen,
tische Entwicklung in dieser Zeit kennt und sie zu ohne zuvor ihre Absichten noch einmal klar und
beurteilen vermag, wußte von vornherein, daß die eindeutig dem Parlament und den Menschen in bei-
Ausgangsposition und die Verhandlungsatmosphäre den Teilen Deutschlands dargelegt zu haben.
in Kassel härter sein würde, als sie in Erfurt war,
Ich möchte für die Fraktion der Freien Demokra-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Woher tischen Partei 'in dieser Debatte zwei Dinge vorweg-
mag das wohl kommen?!) nehmen, die klargestellt werden sollten.
Deutscher Bundestag -- 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2673
Dorn
Erstens. Ihre Fragen — sicherlich auch die Ant- sächliche politische Lage ist und welchen Weg sie
worten der Regierung - sind im Kern nicht neu. gehen will.
Meine Damen und Herren der CDU/CSU, wir ken- (Beifall bei den Regierungsparteien. —
nen Ihre Argumente zu dem hier angesprochenen Abg. Dr. Barzel: Fangen Sie doch mal damit
politischen Themenkreis nicht erst seit dem Partei- an, Herr Dorn!)
tag der Christlich-Sozialen Union, und auch Sie soll-
ten erkennen, daß die Bundesregierung hier mit Gegen den in der Anfrage erhobenen Vorwurf
unserer Unterstützung eine konsequente Politik möchte ich mich für meine Fraktion eindeutig ver-
betreibt, die weder den Marsch ins Abenteuer noch wahren. — Soweit, Herr Kollege Barzel, meine Vor-
in den Abgrund, wie Herr Strauß in München bemerkungen.
meinte, darstellt. (Abg. Dr. Barzel: Sagen Sie doch mal etwas
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu zur Sache, Herr Dorn!)
rufe von der CDU/CSU.)
— Herr Kollege Barzel, ich habe absichtlich erklärt
Wir geben keine deutschen Ziele auf, sondern wir — das ist eben .das Problem, daß Sie leider nicht in
bemühen uns darum, neue Wege zu gehen, nachdem der Lage sind, richtig zuzuhören —, daß ich, bevor
wir und Sie den Beweis haben, daß die ausgefahre- ich zur Sache kommen wolle, zwei Vorbemerkungen
nen Gleise der Hallstein-Doktrin und starrer Forma- mache; und ich habe erklärt, daß hier meine Vor-
lismus uns in den zurückliegenden Jahren nicht ent- bemerkungen zu Ende sind.
scheidend weitergebracht haben. (Abg. Dr. Barzel: Herr Dorn, haben Sie die
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Papiere zu lesen bekommen für die Ent
scheidung, die man Ihnen heute nachmittag
Zweitens. In der Anfrage der CDU/CSU-Fraktion abverlangt?)
taucht ein interessantes Wort .auf, nämlich „Geheim-
diplomatie". Wenn es um Existenzfragen des deut- Weil wir das Recht auf Information auch der
schen Volkes gehe, seien der Geheimdiplomatie Opposition sehr ernst nehmen, begrüßen wir es, daß
Grenzen gesetzt, die jetzt erreicht seien. Nun, Herr wir wenige Tage nach dem Treffen in Kassel hier
Kollege Barzel, ich könnte es mir sehr einflach ma- die Gelegenheit haben, unseren Standpunkt in den
chen. Vielleicht erinnern Sie sich an Ihren eigenen wichtigen Fragen der Nation offen zu diskutieren,
Ausspruch, Iden Sie in der Aktuellen Stunde des und wir erwarten auch von der CDU/CSU, daß sie
Deutschen Bundestages am 10. Mai 1967 hier getan sich in diesem Hause der sachlichen Diskussion
haben, als wir Freien Demokraten nach der Ver stellt,
handlungsbereitschaft der damaligen Bundesregie- (Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU)
rung fragteñ. Ich darf Sie mit Genehmigung des
Herrn Präsidenten zitieren: damit wir endlich einmal auch die Mißverständnisse
— Sie werden schon im Laufe meiner Ausführungen
Wer für die Menschen im ganzen Deutschland merken, Herr Kollege Rösing, warum ich diesen
etwas Wirksames erreichen will, muß auch Satz sage — und Unterstellungen ausräumen kön-
schweigen können. nen, die durch eine Vielzahl von offiziellen oder
(Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Dr. halboffiziellen Erklärungen Ihrerseits hervorgerufen
Marx [Kaiserslautern] : Alles zur rich worden sind. Ich darf vielleicht an Sentenzen aus der
tigen Zeit!) „Wahrheit von München" — wie Kollege Stücklen
dieses Organ in einem Zwischenruf hier nannte —
Sie, Herr Kollege Barzel, wissen selber viel zu erinnern wie
genau, daß es bei den Verhandlungen Zeiträume
Die Deutschland- und Ostpolitik der Regierung
gibt, in denen nicht jede Phase auf offenem Markt
Brandt erschöpft sich bisher in Vorleistungen.
feilgeboten werden kann. Sie wissen aber auch, daß
keine Opposition von der Bundesregierung so gut (Abg. Dr. Czaja: Stimmt!)
und so oft unterrichtet worden ist wie die jetzige. — Herr Kollege Czaja, Sie haben ganz besonderen
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Grund, jetzt einmal zuzuhören —
Widerspruch bei der CDU/CSU. — Abg. (Beifall bei den Regierungsparteien)
Dr. Barzel: Das ist ein Märchen!)
oder, wie Marcel Hepp in der gleichen Zeitung
Wir Freien Demokraten, Herr Barzel, haben als schrieb:
Oppositionspartei in ,den Jahren der Großen Koa-
Die Koalition von FDP und SPD wird das histo-
lition in deutschland- und ostpolitischen Fragen oft
rische Verdienst haben, die Bundesrepublik an
-
genug an dieser Stelle durch unseren Fraktionsvor-
den Eingang zum Sowjetsystem gerückt zu ha-
sitzenden um Unterrichtung gebeten. Der damalige
ben,
Kanzler hat 'das gar nicht erst zur Kenntnis genom-
men„ geschweige denn unseren Wunsch erfüllt. (Zurufe von der CDU/CSU: Stimmt auch!)
(Abg. Strauß: Und Brandt und Wehner?) über dem eigentlich .die Inschrift von Dantes
„Hölle" stehen müßte: „Die, die ihr hier ein-
Diese von SPD und FDP getragene Regierung will tretet, laßt alle Hoffnung fahren!"
ohne Zweifel etwas für Deutschland erreichen. Sie
fühlt sich daher verpflichtet, die Menschen in
• Herr Kollege Ott, jetzt hören Sie bitte zu, was ich
Deutschland umfassend zu unterrichten, wie die tat dazu zu bemerken habe! Genau dies sind die gefähr-
2674 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dorn
lichen Methoden der Bildung einer neuen Dolchstoß Mein Fraktionskollege Hans-Dietrich Genscher sah
legende. dieses Problem im Jahre 1966 so, als er hier im
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs Hause erklärte:
parteien.) (Abg. Rasner: Der hat heute mehr Sorgen
als Sie!)
Wir alle in diesem Hause wissen, was aus einer
Verteufelung der Absichten einer demokratischen Eine westliche Deutschlandpolitik, die davon
Regierung schon einmal in Deutschlands Vergangen- ausgeht, der Schlüssel für die deutsche Frage
heit entstanden ist. liege allein in Moskau, ist zutiefst rückschritt-
lich. Sie klammert sich an die Schablone eines
(Beifall bei ,den Regierungsparteien. — Zu von Moskau dirigierten kommunistischen
rufe von der ,CDU/CSU.) Blocks.
(Abg. .Stücklen: Siehe Tschechoslowakei!
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine -- Weitere Zurufe von 'der CDU/CSU.)
Zwischenfrage?
Osteuropa ist heute eine kommunistische Staa-
tengruppe, die durch mannigfache Verträge und
Dorn (FDP) : Nein, Herr Präsident, ich möchte Vereinbarungen verbunden ist,
genau wie :der Kollege Barzel meine Rede ohne
Zwischenfragen beenden. (lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)
(Zuruf von der CDU/CSU: Weichen Sie in der die Sowjetunion eine dominierende Rolle
doch nicht in ,die Polemik aus, Herr Dorn! spielt, in der auch Mitteldeutschland einen Platz
— Weitere Zurufe von ,der CDU/CSU.) hat. Wir .stehen in Osteuropa vor dem Scherben-
haufen der engstirnigen Anwendung der Hall-
Wir wissen ,aber auch, daß durch die Politik der stein-Doktrin. Dort, wo noch vor wenigen Jah-
Rechtsradikalen in den 30er Jahren der Grundstein ren die Aufnahme diplomatischer Beziehungen
dafür gelegt wurde, daß der Einfluß der Sowjetunion dringend gesucht wurde, ist sie heute nur unter
so weit über den 'europäischen Bereich ausgedehnt Bedingungen zu haben.
worden ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von :der
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Christlich-Domokratischen Union, erinnern Sie sich
Dr. Barzel: Und durch die der Linksradika auch (an die Worte des Exkanzlers Kiesinger vom
len! Nazis 'und Kommunisten! — Weitere Oktober 1967, als er sagte:
Zurufe von der CDU/CSU: Die Linksradika
Nach menschlichem Ermessen 'werden wir noch
len vergessen Sie wohl? — Er muß Nach
für lange Zeit, wenn nichts Unerwartetes ge-
hilfeunterricht kriegen!)
schieht, eine Lösung der deutschen Frage nicht
Meine Damen und 'Herren, wir Freien Demokraten erhoffen können.
sind nicht gewillt, diese Art (der Diffamierung hinzu- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ja!)
nehmen, weil wir auch durch unseren Anteil an der
Gestaltung dieser parlamentarischen Demokratie in Diese Bundesregierung hat nicht vor, auf etwas
Deutschland unsere freiheitliche 'und nationale Auf- Unerwartetes zu hoffen.
fassung immer wieder in diesem Hause deutlich .ge- (Abg. Rasner: Von ihr ist nichts zu er
macht und diese Auffassung auch durch unsere Mit- hoffen!)
arbeit unter Beweis gestellt haben.
Sie ergreift selbst die Initiative, die jahrelang ver-
(Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich! — mißt wurde.
Märtyrer!)
(Abg. Stücklen: Zur Wiedervereinigung? —
Für die Fraktion der Freien Demokraten darf ich Weitere -Zurufe von der CDU/CSU.)
folgendes feststellen. Wir unterstützen die Politik Wir haben den festen Willen, den Verhandlungs-
der Bundesregierung gegenüber unseren Verbün- spielraum zum Osten nicht unausgefüllt zu lassen,
deten im Westen wie gegenüber den Gesprächspart- sondern mit Aktivitäten auszufüllen.
nern im Osten, weil wir meinen, daß Europa- und
Deutschlandpolitik in einem unlösbaren Zusammen- (Zurufe von der CDU/CSU: 'Mit Hektik! —
hang stehen. Und es ist eigentlich ein gutes Zei- Und :das auch noch mit (der Stoppuhr in der
chen, daß auch die Opposition mit der Regierung Hand!)
darin übereinstimmt, daß die deutsche Frage, über Die Bundesregierung schmückt sich auch nicht mit
-
die wir heute sprechen, nicht isoliert zu sehen ist, Selbstbelobigungen, wie , das am 14. März 1968 hier
sondern im Rahmen 'einer gesamteuropäischen Poli- in diesem Hause geschah:
tik und einer europäischen Entspannung gesehen
(Abg. Rasner: Was sollen die Narreteien?)
werden muß. Wer aber den einen Teil dieses Konti-
nents jahrelang aus seinen politischen Überlegungen Ist es denn nichts, daß wir dem Regime im
ausgeklammert hat, :darf sich heute 'nicht wundern, anderen Teil Deutschlands gegenüber Angebote
wenn neue Ansatzpunkte für Gemeinsamkeiten nur von einer fast revolutionären Kühnheit gemacht
durch .erhebliche Bemühungen zu finden sind. haben?
(Abg. Dr. Wörner: Ist das Ihre Dolchstoß An diesem Wort des Exkanzlers gemessen, müßte
legende?) die Politik der Regierung Brandt/ Scheel selbst einen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2675
Dorn
Carolus Magnus erbleichen lassen, wenn man daran Nun ein Wort zu den Formalismen, über die wir
denkt, was aus der „revolutionären Kühnheit" der mit der Opposition nicht einig sind. Wir Freien
früheren Bundesregierung inzwischen geworden ist. Demokraten meinen, unsere Politik darf nicht an der
Nomenklatur oder an selbstauferlegten ideologi-
(Abg. Strauß: Wen haben Sie da zitiert?)
schen Fesseln scheitern. Denken Sie daran, wie
— Den früheren Bundeskanzler Kiesinger, Herr schwer es Dr. Kiesinger fiel, die Worte „Gebilde"
Kollege Strauß. und „Phänomen" durch die Bezeichnung DDR ohne
Wie anders argumentiert der. CDU-Vorsitzende Gänsefüßchen zu ersetzen.
heute! Am 23. Mai erklärte er: (Abg. Rasner: Ihnen fiel es leicht, das ist klar!)
Ich habe von Kassel nichts anderes erwartet, Wir unterschreiben damit den Satz Bundeskanzler
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Richtig!) Brandts in seinem Brief vom 18. Februar an den
Vorsitzenden des Ministerrats der DDR:
um dann fortzufahren:
Es erscheint mir an der Zeit, den Versuch zu
Brandt ist zu weit gegangen, er mußte eine unternehmen, das Trennende zurückzustellen,
Abfuhr erleben. um das Verbindende zu suchen.
Nun ist das zwar das Gegenteil von Logik, Herr Dr. (Abg. Windelen: Die Konvergenz!)
Kiesinger, aber es klingt halt sehr schön.
Die Bundesrepublik und die DDR trennen nicht nur
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist ganz zwei unterschiedliche Gesellschaftsformen; das ist
logisch!) auch in Kassel erneut wieder sichtbar geworden.
In diesen Tagen hört man oft die Meinung, daß (Abg. Strauß: Das war eine „große
erst, wenn es den Interessen Moskaus entspreche, Erleichterung" !)
die Ostpolitik der Bundesregierung zu Ergebnissen
kommen werde und nicht einen Tag früher. Diese Nach Frage 1 der Großen Anfrage der CDU/CSU
Kritik müßte eigentlich dazu verführen, keine Ge- wird die Bundesregierung quasi aufgefordert, künf-
spräche mit der DDR oder mit den Ländern des Ost- tig nichts mehr zu tun, was die heutige Spaltung
blocks mehr zu führen, da das ja alles sinnlos ist, stabilisiert oder vertieft. Die Bundesregierung hat
weil nur in Moskau der Schlüssel zum Ergebnis liegt. diesen Vorwurf entschieden zurückgewiesen. Ich
Ich frage Sie allerdings: wie wollen Sie das mit meine, es ist ein Schritt zurück in Ihrer geistigen
Ihrem Wunsch, für die Menschen in Deutschland Haltung, meine Damen und Herren, speziell der
etwas zu erreichen, vereinbaren? CSU — —
(Abg. Stücklen: Überlassen Sie uns unsere
Nun, die Hallstein-Doktrin und ihre kompromiß
geistige Haltung!)
lose Auslegung ist jetzt bereits Geschichte, und
nicht zuletzt durch die Haltung der Freien Demokra- — Sie meinen, wir können Ihnen keine geistige
ten. Haltung unterstellen, Herr Kollege Stücklen?
(Zuruf des Abg. Dr. Barzel.) (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/
Aber die politische Entwicklung der letzten Monate CSU: Bleiben Sie doch seriös, Herr Dorn!
beweist eindeutig, wie richtig die Bundesregierung — Weitere Zurufe von der Mitte.)
handelte, als sie mit mehreren Ostblockstaaten Es ist ein Schritt zurück, auch bei Ihnen, wenn im
gleichzeitig Verhandlungen führte. Bericht über das Deutschlandforum des Münchener
Herr Dr. Barzel schrieb im vorigen Jahr in der Parteitags hinterher in der schon zitierten „Wahr-
Vierteljahresschrift des Kuratoriums Unteilbares heit von München" zu lesen ist:
Deutschland, es müsse jetzt endlich Politik gemacht Die Zeche für die riskante Politik Brandts wird
werden, anstatt Debatten in Wolkenkuckucksheimen jeder einzelne Deutsche zahlen müssen.
der Illusionen zu führen.
(Lebhafte Zustimmung bei der CDU/CSU.)
(Zuruf des Abg. Dr. Barzel.)
Die Errungenschaften der Ara Adenauer, Sicher-
D'accord, Herr Kollege Barzel. Diese Bundesregie- heit und Entscheidungsfreiheit . der Bundesrepu-
rung macht Politik. blik Deutschland, stehen auf dem Spiel.
(Abg. Dr. Barzel: Im Wolkenkuckucksheim!) (Zurufe von der CDU/CSU: Leider wahr!)
Unsere 20 Punkte, die wir in Kassel der DDR vor- Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Wollen Sie
getragen haben, sind das Ergebnis der Überlegun- das aufrechterhalten?
gen dieser Regierung und ihrer Koalitionsfraktio-
- (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU: Ja!)
nen.
(Abg. Dr. Barzel: Was sagen Sie denn zum Dies war eine Formulierung von Dr. Barzel unter
Selbstbestimmungsrecht, Herr Dorn?) dem Untertitel: „Hastige Vorleistungen verbauen
die europäische Lösung" im „Rheinischen Merkur"
Unsere Gespräche in Moskau und Warschau sind vom 8. Mai, ebenso wie die folgende:
ebenfall Bestandteil dieser Politik, und zwar einer
Politik, die nicht wieder zu einem eisernen Dreieck Der von der Bundesregierung eingeschlagene
führen soll, weil es unsinnig ist, zu glauben, man Kurs erschwert den künftigen Weg zur freien
könne im Ostblock den einen Staat gegen den Selbstbestimmung,
anderen voll ausspielen. (Abg. Dr. Barzel: Natürlich!)
2676 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dorn
wenn er ihn nicht gar auf unabsehbare Zeit un Ich meine, das wäre auch deswegen gut, damit end-
möglich macht, lich Ehrlichkeit in die innerdeutsche Auseinander-
(Abg. Dr. Barzel: Natürlich!) setzung kommt. -
(Abg. Rasner: Sie sollten mal zu Herrn Bahr
und er führt zur endgültigen Teilung unseres gehen! — Zuruf von der CDU/CSU: Herr
Landes und Europas. Dorn, wann haben Sie die Rede ge
(Abg. Dr. Barzel: Dann lassen Sie es sich schrieben?)
doch von Herrn Scheel erzählen! — Weitere Als einen solchen Beitrag betrachte ich z. B. die
Zurufe von der CDU/CSU.) - folgenden Ausführungen:
Meine Damen und Herren von der Christlich-Demo Die Deutschlandpolitik der Deklamation, der
kratischen Union, hier ist nicht nur die Zielansprache Rechtsverwahrungen und der Taktik hat keine
falsch; auch der Ton besteht nur aus Dissonanzen. Erfolge gebracht. Sie hat im Gegenteil in 20 ,
JahrendiSpltugmferwdnlas-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das kann
sen. Versuchen wir es einmal mit einer ganz
nicht sein! — Zuruf von der CDU/CSU:
menschlichen Politik, die auf die Finessen der
Mehr Demokratie!)
Juristen kühn verzichtet.
Der CDU-Vorsitzende hat hier in der Aussprache (Zuruf von der CDU/CSU: Kühn!)
über den Bericht zur Lage der Nation erklärt:
20 Jahre lang haben wir mit den Machthabern
Die Freiheit unserer Landsleute in der Zone drüben nicht ernsthaft gesprochen. Für die un-
und ihr menschenwürdiges Leben sind wichtiger vermeidlichen Verhandlungen haben wir uns
als die bloße mechanische Zusammenfügung der komplizierte Hilfslösungen ausgedacht: eine
beiden getrennten Teile Deutschlands. Treuhandstelle für den Interzonenhandel,
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Richtig! — Abg. (Abg. Dr. Barzel: Sie hat gut funktioniert!)
Dr. Barzel: Sehr wahr!) einen Beauftragten des Berliner Senats, Organe,
die zwar alle ihre Aktionen mit der Bundes-
Lassen Sie es mich deutlich sagen: Auch für uns, für
die Freien Demokraten, für diese Bundesregierung regierung abstimmten, wie in jeder Zeitung zu
— und für die Sozialdemokraten gilt das mit Sicher- lesen war, deren Konstruktion aber gleichwohl,
heit —, wie wir meinten, die Bundesregierung aus den
innerdeutschen Gesprächen heraushielt. Auf
(Abg. Rasner: Für die können Sie sicher diese Konstruktionen waren wir sehr stolz. Di-
sprechen!) rekte Gespräche mit den Machthabern in Mit-
teldeutschland wurden von uns mit Emphase
auch für uns stehen menschliche Erleichterungen abgelehnt, weil diese Machthaber nicht demo-
ganz oben auf der Skala der politischen Erforder- kratisch legitimiert seien.
nisse,
(Abg. Rasner: Dann müssen Sie heute im Die möglichen Versäumnisse der bundesrepu-
Kabinett dagegen stimmen!) blikanischen Deutschlandpolitik liegen also
nicht im Bereich der Rußlandpolitik; sie liegen
und wir verlieren bei dieser Politik der geduldigen vielmehr im Bereich der Deutschlandpolitik
Verhandlung weder das Ziel noch die gesamteuro- selbst. Der Versuch, Deutschlandpolitik in den
päische Lösung aus den Augen. herkömmlichen Kategorien der politischen
Freunde und Gegner zu betreiben, die Probleme
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu mit Abstimmungssiegen von Mehrheiten über
rufe von der CDU/CSU.) Minderheiten zu lösen, ist trotz 20jähriger Be-
mühung völlig gescheitert. Auch in der Frage
Die sogenannten Vorleistungen sprechen Sie stets
des Schießbefehls und dessen Folgen machen
nur global, nie detailliert an, weil es sie gar nicht wir es uns zu einfach, wenn wir unsere Haltung
gibt. Denn wo sind sie erbracht? Wo ist die deut- auf die Formel bringen: Mord bleibt Mord.
sche und europäische Einigung abgeschrieben oder
unmöglich gemacht? (Abg. Stücklen: Na und?! — Weitere
Zurufe von der CDU/CSU.)
(Abg. Dr. Barzel: „Nächste Generation"!)
Unsere These, die innerdeutsche Ausreisesperre
Wir erwarten von Ihnen hier klare Aussagen,
- sei schlechthin nichtig, und deshalb sei auch der
Schießbefehl rechtswidrig, ist unhaltbar.
(Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Rasner:
Fragen Sie einmal Herrn Bahr! — Weitere (Abg. Dr. Schmidt [Wuppertal] : Unhaltbar?!)
Zurufe von der CDU/CSU) — Unhaltbar, Herr Kollege Schmidt. Und wissen
Sie, wer das geschrieben hat? Ihr Fraktionskollege
und es wäre gut, wenn Sie sich nicht weiter in den Dr. Dichgans in dem Buch „Das Unbehagen in der
Bereich der Unterstellung zurückzögen. Bundesrepublik".
(Beifall bei den Regierungsparteien. — (Beifall bei der FDP. — Hört! Hört! bei der
Abg. Rasner: Sie wissen ja nichts, Herr SPD. — Abg. Stücklen: Und Mord bleibt
Dorn! Sie müssen mal zu Herrn Bahr gehen!) Mord!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2677
Dorn
— Auch das 'hat er so geschrieben, wie ich es vorge- Wir erklären aber demgegenüber: Wir bleiben
lesen habe, Herr Kollege Stücklen. dabei, daß die Alliierten zum Deutschlandvertrag
stehen und daß niemand diese Rechte einseitig
(Abg. Stücklen: Mord bleibt Mord!)
interpretieren kann. Wir werden nichts unterneh-
Ich will damit nur sagen, daß es auch in Ihrer men, um eine veränderte Situation in diesem Sinne
Partei und Fraktion eine Reihe von Kollegen gibt, zu schaffen. „Ausverkauf" oder „Verschenken"
die sich etwas mehr an konstruktiven Vorstellungen nationaler oder deutscher Interessen — diese Worte
und Ideen in der deutschlandpolitischen Auseinan- verweisen wir in den Bereich des Demagogischen,
dersetzung machen, als bei Ihrem Fraktionsvorsit-
(Beifall bei den Regierungsparteien)
zenden hier heute sichtbar geworden sind.
weil sie der Gipfel der unwahren Behauptungen
(Beifall bei der FDP. — Zuruf von der
sind und auch durch ständige Wiederholung nicht
CDU/CSU: Und was konstruktiv ist, be
an Wahrheitsgehalt gewinnen.
stimmen Sie?)
(Zurufe von der CDU/CSU.)
Ich weiß, Sie hören nicht gern Ihre früheren Aus-
sagen zum jetzigen Zeitpunkt noch einmal. Aber ich Aber, meine Damen und Herren von der Oppo-
glaube, Sie müssen sich immer wieder daran er- sition, Sie sollten sich auch im Hinblick auf diese
innern, wie Sie früher argumentierten. Es ist nicht Formulierungen an Ihre eigene Politik erinnern,
vertane Zeit, meine Damen und Herren, Protokolle wenn von Vorleistungen in der deutschen Politik
und Reden nachzulesen, sondern vielmehr hoch- gesprochen wird. Ich sage das. in vollem Ernst, wenn
interessant, weil es für die politische Glaubwürdig- ich in diesem Zusammenhang notwendigerweise an
keit auch in diesem Hause und in diesem Lande von zwei Aussprüche Ihres früheren Parteivorsitzenden
großer Bedeutung ist. Dr. Konrad Adenauer erinnere. Laut „Newsweek"
vom 30. August 1954 sagte er zu dem französischen
(Abg. Rasner: Dafür ersetzt es das Denken!)
Politiker Mendès-France:
So erklärte Herr Dr. Barzel im März 1965 auf Sie verlieren nichts, wenn Sie die deutsche Ein-
dem Bundesparteitag der CDU:
heit opfern, aber ich. Doch wir sind bereit, sie
Das freie Deutschland muß durch seine geistige, zu opfern — --
soziale und ökonomische Leistung weiterhin
- Herr Kollege Barzel, hören Sie zu!
schon dadurch wie selbstverständlich allen
Deutschen und aller Welt zeigen, wer für das (Abg. Dr. Barzel: Ja!)
wahre, wer für das bleibende Deutschland — — Doch wir sind bereit, sie zu opfern, wenn
spricht. wir in ein starkes westliches Lager eintreten
(Abg. Dr. Barzel: Sehr gut, ja!) können.
Fiele das je aus, unsere rechtlichen Positionen (Hört! Hört! bei der SPD.)
allein hülfen uns wenig. Und nach einem Bericht der englischen Wochen-
(Abg. Dr. Barzel: Ein hervorragender Satz!) zeitung „Sunday Dispatch" erklärte Adenauer ge-
genüber Francois-Poncet:
Stellen Sie sich einmal vor, Herr Kollege Barzel, wir
Freien Demokraten hätten diesen Satz jetzt wieder- Vergessen Sie bitte nicht — —
holt! Was für Vorwürfe würden dann von Ihnen (Abg. Dr. Barzel: Sagen Sie doch mal die
hier erhoben werden über verschenkte Rechtstitel, Auffassung der FDP! Die wäre ganz inter
über Rechtspositionen und Rechtsansprüche, weil essant!)
wir kein Zutrauen zu unserem Recht hätten! — Entschuldigen Sie, über meine politischen Vor-
(Abg. Dr. Barzel meldet sich zu einer stellungen und die der Freien Demokraten habe ich
Zwischenfrage.) in dieser Rede weiß Gott mehr ausgeführt, als Sie
zur Sache überhaupt sagen konnten.
Vizepräsident Dr. Schmid: Herr Abgeord- (Beifall bei den Regierungsparteien. —
neter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sprechen
Sie wirklich für die FDP?)
Dorn (FDP) : Nein, danke. Ich gestatte keine Zwi- Und trotzdem, glauben Sie nicht, daß Sie dieses
schenfrage. Zitat erspart bekommen, auch nicht durch noch so
pointierte Zwischenrufe. Konrad Adenauer erklärte
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Abg. gegenüber François Poncet: „Vergessen Sie bitte
Rasner: Ein ganz freier Demokrat!) - nicht, daß ich der einzige deutsche Kanzler bin, der
— Herr Kollege Rasner, wissen Sie, wenn ich Ihre die Einheit Europas der Einheit seines Landes vor-
Zwischenrufe hier beantworten wollte, müßte ich zieht."
mich auf ein Niveau begeben, das für mich nicht (Hört! Hört! bei der SPD.)
zur Diskussion steht. Ich glaube nicht, daß man bei den Diskussionen über
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Vorleistungen an diesen Überlegungen und Ent-
Abg. Dr. Barzel: Dann gebe ich es als Zu scheidungen des früheren CDU-Vorsitzenden vor-
ruf zu Protokoll: In dieser Rede wird auch beigehen kann. Ich überlasse es Ihnen selbst, aus
begründet, warum man nicht anerkennen Ihrer Politik der Vergangenheit und Gegenwart
darf, wegen Europa!) Ihre Konsequenzen zu ziehen.
2678 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dorn
Meine Damen und Herren, ich muß aber auf die können durch eine Reihe anderer gesetzlicher Rege-
Angriffe antworten, die von der Opposition an die lungen, die von uns finanziell erfüllt werden muß-
Adresse meiner Partei und meiner Fraktion gerich- ten, ergänzt werden. Das alles macht aber auch
tet sind. So erklärte der Kollege Dr. Schulze-Vor- deutlich, daß sich die Bundesrepublik keineswegs
berg am 19. Mai in der „Abendpost": „In dieser gegenüber der DDR in der Rolle eines Schuldners
Regierung weiß leider die Rechte nicht, was die befindet.
Linke tut." (Beifall bei der FDP.)
(Zuruf des Abg. Dr. Barzel.)
Nun hat der bayerische Ministerpräsident Alfons
Zunächst müßte man einmal wissen, wie der Kol- Goppel auf ,dem 'Parteitag der CSU am 10. April in
lege dieses „rechts" und „links" interpretiert. München Bemerkenswertes über die Freien Demo-
(Zuruf von der CDU/CSU.) kraten erklärt. Da es Ibis zur Stunde nicht demen-
tiert worden ist, müssen wir wohl annehmen, daß
Links, das haben wir doch gestern hier noch einmal
dies auch die Meinung weiter Kreise der CDU ist:
sehr deutlich gespürt, links von Herrn Lücke und
einigen anderen in Ihrer Fraktion ist an der Wand Von der FDP ist weder eine nationale noch eine
ja schon gar kein Platz mehr. liberale Politik zu erwarten.
(Heiterkeit bei der SPD.) (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Rechts ist neben Marcel Hepp unid einigen anderen, Statt Liberalismus beherrscht Opportunismus
die in der „Wahrheit von München" schreiben, auch
die FDP.
nur noch in Nuancen eine Placierung sichtbar.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Stoltenberg: Sehr wahr! — Beifall
bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und 'Herren, eines aber ist sicher: die
Verhandlungsgrundlage, die der Kanzler in Kassel — Darauf kommen wir gleich zu sprechen;
auf den Tisch gelegt hat, wird von den beiden Frak-
(Abg. Rasner: Wenn man Sie anguckt,
tionen der Koalition getragen und verantwortet.
stimmt's!)
Ich möchte an , dieser Stelle aber auch ein Wort
zu der Diskussion über den „finanziellen Ausver- ich würde vorsichtig sein mit dem Beifall, Herr
kauf" sagen. Kollege Stoltenberg.
- Ja, ja. Das ist nämlich die Reaktion. Durch diese Der Weg zu dieser europäischen Friedensord-
Zwischenrufe wird noch einmal eindeutig bestätigt, nung mag, ja wird lang und mühselig sein; viel-
daß das für Sie eben wichtiger ist. leicht wird er uns auch nicht ans ersehnte Ziel
führen. Diese Möglichkeit des Scheiterns können
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Unterstel wir nicht ausschließen; aber es ist der einzige
len Sie doch nicht so etwas! — Weitere Weg, der uns die Chance des Erfolges ver-
Zurufe von der CDU/CSU.) spricht.
Immerhin, meine Damen und Herren von der Christ- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Richtig!)
lich-Demokratischen Union, haben wir mit dieser
Bundesregierung und in dieser Koalition ein Kon- Herr Dr. Kiesinger, was für diesen Bereich gilt, gilt
zept, selbstverständlich auch für den anderen Bereich der
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Was ist politischen Verhandlung.
das, ein Konzept?) (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nur richtig ver
während der CDU/CSU offensichtlich jegliche Vor- handeln!)
stellung einer konstruktiven Politik für Deutschland Ich meine, Sie müßten doch auch erkannt haben, daß
fehlt, wie wir das heute morgen wieder vermerken diese Bundesregierung es sich nicht leichtgemacht
konnten. hat und daß die Koalitionsfraktionen es sich nicht
(Beifall bei den Regierungsparteien.) leichtgemacht haben, daß wir aber bewußt daß
Risiko des politischen Handelns für unser Volk ein-
Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten- Sie eine gegangen sind, um den Weg zu einer friedlichen Zu-
Zwischenfrage? kunft mit allen Nachbarn zu beschreiten, auch mit
denen im Osten, weil sonst der Bestand dieses Vol-
Dorn (FDP) : Nein, Herr Präsident. kes und dieses Staates permanent gefährdet ist.
Der Kollege von Wrangel machte es sich leicht, Um unsere Vorstellungen von einer konstruk-
als er am Abend von Kassel in die Fernsehkamera tiven Deutschlandpolitik noch einmal zu konkretisie-
hinein leichtweg sagte, die Deutschlandpolitik der ren, verweise ich auf die 20 Punkte von Kassel. In
Bundesregierung sei in die Sackgasse geraten. diesen 20 Punkten finden Sie eine Reihe von Vor-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Mit die schlägen, die wir Freien Demokraten bereits seit
sem Urteil war er nicht allein!) Jahren in - diesem Hause gemacht haben. Daher fällt
2680 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dorn
es uns auch nicht schwer, diesen 20 Punkten unsere Dr. Apel (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
Zustimmung zu geben. und Herren! Herr Kollege Barzel hat zu Beginn
Zwei Dinge möchte ich der Opposition abschlie- seiner Rede hier bemängelt, daß die Bundesregie-
ßend noch vortragen. Armin Mohler, der ja wohl rung nicht am Anfang dieser Debatte eine einlei-
nicht in dem Verdacht steht, ein Repräsentant der tende Erklärung abgegeben hat. Ich darf daran er-
sogenannten Linkspresse zu sein, schrieb am 28. Fe- innern, Herr Kollege Barzel — Sie können dort
bruar in der „Nürnberger Zeitung": oben an der Seite ablesen, daß jetzt Punkt 19 an
der Reihe ist, die Große Anfrage der CDU/CSU-
Einig ist sich die Opposition darüber, daß man Fraktion --, daß es eines der Anliegen der Parla-
sich „staatsmännisch" verhalten müsse, weil mentsreformer war, zur schriftlichen Beantwortung
bloße Opposition beim Wähler nicht ankomme. durch die Bundesregierung nicht auch noch eine
Es gibt jedoch nur zwei Möglichkeiten: entweder mündliche Erklärung zu haben.
tut die SPD/ FDP-Regierung das Richtige, dann
hat die CDU eben geschlafen und schläft am (Sehr richtig! bei der SPD.)
besten weiter, oder die neue Bonner Regierung Ich muß es also ganz entschieden zurückweisen,
betreibt eine unheilvolle Politik, dann muß die wenn Sie hier erneut mit Fragen des Demokratie-
Opposition mit aller Kraft Alarm schlagen. verständnisses kommen. In dieser Frage war die
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von Prozedur völlig in Ordnung, daß man Ihnen als er-
der CDU/CSU: Genau das!) stem das Wort gegeben hat.
Ich aber sage Ihnen: die Panikstimmung, die Sie (Beifall bei den Regierungsparteien.)
jetzt erzeugen wollen, wird auch von den Bürgern Ich möchte ein Zweites hinzufügen, Herr Kollege
in unserem Volke als eine künstlich gemachte emp-
Barzel. Diese Woche hier in Bonn wurde von den
funden.
Koalitionsfraktionen zusätzlich beantragt,
(Beifall bei den Regierungsparteien. —Abg.
Dr. Marx [Kaiserslautern] : Bei Philippi (Abg. Rasner: Und von der Regierung!)
sehen wir uns wieder!) nicht wegen Kassel, sondern weil wir Arbeit haben,
Ihre Zielvorstellung ist jedoch noch eine andere; z. B. mit Ihrer Großen Anfrage.
das hat mittlerweile auch der Begriffsstutzigste be- (Beifall bei der SPD.)
griffen. Herr Dr. Barzel hat in München erklärt,
durch die ungebrochene Freundschaft zwischen CDU Sie müssen sich einmal genau überlegen, Herr Kol-
und CSU könne und werde es gelingen, „möglichst lege Barzel, ob Sie auf die Dauer Ihre angemaßte
bald — und konkret: noch in dieser Wahlperiode — Rolle des Maître de plaisir, des Anklägers, des
dem freien Deutschland eine bessere Regierung zu Schulmeisters in diesem Hause noch durchhalten
geben". können.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
Nun muß ich Ihnen allerdings sagen, meine Damen ruf von der CDU/CSU: „Plaisir" ist eine
gute Vokabel! — Weitere Zurufe von der
und Herren von der Christlich-Demokratischen
Union: was Sie bisher als Alternative in erkenn- CDU/CSU.)
baren Ansätzen in einigen Zeitungsartikeln und in Daß Sie als Führer der Opposition eine sehr wich-
der Diskussion über den Bericht zur Lage der Nation tige Funktion haben, ist uns bekannt.
geboten haben,
Aber nun zur Sache selbst.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Nach dieser Rede
wagen Sie das zu sagen!?) (Abg. Dr. Barzel meldet sich zu einer Zwi
schenfrage.)
ist die Fortsetzung einer Politik der geistigen Un-
beweglichkeit und des politischen Rückschritts. — Herr Kollege Barzel, Sie können mir am Ende
meiner Rede Fragen stellen. Ich möchte jetzt in mei-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
nen Ausführungen fortfahren.
Dr. Marx [Kaiserslautern] : Nach dieser
Rede! — Weitere Zurufe von der CDU/ (Beifall bei den Regierungsparteien. —
CSU.) Abg. Dr. Barzel: Da kann man sehen, wie
die Regierung mit den Sorgen der Oppo
Diese Politik, meine Damen und Herren, sind wir sition umgeht! Wir haben unsere Sorgen,
nicht bereit mitzumachen; denn unser Volk hat eine ob Sie es glauben oder nicht!)
bessere Politik verdient, -
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wer-
(Beifall bei der CDU/CSU)
den uns auch in dieser Debatte nicht davon abbrin-
als Sie sie anzubieten haben. gen hassen,
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Barzel: Jetzt die Fragen zu beant
worten!)
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der zur Großen Anfrage der Opposition Stellung zu neh-
Abgeordntpl.uchfüisenRdzt men.
von 45 Minuten beantragt worden; Sie haben 45 Mi- (Abg. Rasner: Diese Hoffnung habe ich
nuten. - nicht!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2681
Dr. Apel
Denn diese Große Anfrage offenbart sehr deutlich, Diese Bundesregierung hat in ihrem von Ihnen
wes Geistes Kind die Opposition ist, indem sie eine zitierten Aide-Mémoire zur politischen Zusammen-
Ansammlung von Gerüchten und Unterstellungen zu arbeit, das Ihnen übrigens vorliegt, Herr Barzel —
einer Großen Anfrage zusammenbraut, dos wissen Sie ganz genau, auch wenn Sie hier vorn
(Beifall bei den Regierungsparteien. — so taten, ,als wüßten Sie vom Inhalt nichts —, folgen-
Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Hätten Sie des gesagt: Erster 'Schritt ist die Abstimmung ,der
Informationen gegeben, brauchten wir Politik untereinander; zweitens Erarbeitung gemein-
keine Fragen zu stellen! — Abg. Dr. Stol samer Auffassungen; drittens solidarisches, gemein-
tenberg: Das ist die neue Definition der sames Handeln; viertens Politische Union. Diese
Regierungspolitik!) Abfolge ist logisch und richtig.
die in ,der Tat weder bei Ihnen noch bei uns poli- (Abg. Dr. Barzel: Jetzt lesen Sie bitte wei
tische Erkenntnis bringen konnte. ter vor! Dann kommt das, was ich sage:
keinoblgatrschKuione!Das
Lassen Sie mich mit der Europapolitik beginnen, ist das, was Sie hier wollen!)
obwohl verabredet worden ist, daß wir darüber am
17. Juni sprechen. Damit wird deutlich, Herr Kollege Barzel, daß für
die Bundesregierung — —
(Abg. Rasner: Das ist nicht wahr!)
(Abg. Dr. Barzel und weitere Abgeordnete
Aber dennoch muß ich dazu drei Bemerkungen ma-
der CDU/CSU: Lesen Sie doch weiter vor!
chen, die verdeutlichen, daß von Ihnen in der Tat
Abg. Rasner: Wie Sie schwindeln! —
mit Unterstellungen gearbeitet wird.
Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
(Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Schulmeister!)
— Wenn Sie sich beruhigt haben, ;spreche ich weiter.
So behauptet die Große Anfrage, Herr Barzel — und Ich warte einen Augenblick. — Damit wird deutlich,
so hörte man es auch in Ihrer Rede —, wir wollten daß weiterhin die westliche Integration das unver-
keine Politische Union. rückbare Ziel unserer Außenpolitik und die Basis für
(Zuruf von der CDU/CSU: Ein junger Schul jede Ostpolitik ist. Daran können Sie auch nichts
meister! — Zuruf des Abg. Dr. Barzel.) herummäkeln. Diese Tatsachen sind durch das Ver-
halten der Bundesregierung in den ersten sieben
— Lassen Sie mich dazu kommen! Nur nicht die Ner-
Monaten dieser Politik der Bundesregierung dank
ven verlieren, Herr Barzel!
des Herrn Außenministers, dank des Bundeskanz-
(Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Bar lers unterstrichen und bestätigt.
zel: Er zittert, und ich soll die Nerven
verlieren!) (Beifall bei 'den Regierungsparteien.)
Sie sagen ferner in der Begründung zu einer dieser Lassen Sie mich jetzt einiges zur Deutschland-
Fragen der Großen Anfrage, wir wollten den Mit- und Ostpolitik sagen. Ich unterstreiche, daß das, was
gliederkreis einer Politischen Union nicht mit dem wir in der Regierungserklärung und im Bericht zur
Kreis der EWG-Mitglieder identisch halten. Lage der Nation gesagt haben, unverändert Basis
(Abg. Dr. Barzel: Davon habe ich kein Wort und Zielvorstellung unserer Deutschland- und Ost-
gesagt!) politik ist. Ich muß das wohl noch einmal wieder-
holen, damit Mystifikationen à la Barzel aufhören.
— So steht es 'in einem ,der Punkte Ihrer Anfrage.
Die Basis unserer Politik ist die feste westliche Inte-
Die müssen Sie mal lesen, Herr Barzel.
gration, daß Westberlin mit uns verbunden bleibt
(Lachen bei der SPD. — Zurufe von der und e s besondere Viermächte-Verantwortungen für
CDU/CSU: Wo steht das? — Schulmeister!) ganz Berlin gibt, ,daß .es besondere Rechte und Ver-
Ferner unterstellen Sie in Ihrer Großen Anfrage, daß antwortlichkeiten der drei Mächte für Deutschland
die Bundesregierung die Westintegration zugunsten als Ganzes gibt — .damit werden auch hier Grenzen
der Ostpolitik vernachlässigt. unserer eigenen Aktionsfreiheit sichtbar — und daß
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo steht das?) diese Bundesregierung davon ausgeht, daß es weiter
Die Antworten der Bundesregierung weisen diese eine deutsche Nation gibt, die in zwei deutschen
Unterstellungen überzeugend zurück. Denn, Herr Staaten lebt.
Kollege Barzel, diese Bundesregierung ist es doch Was die Ziele anbelangt — —
gewesen, 'die in Den Haag und nach Den Haag die
EWG vollendet hat. (Abg. Dr. Barzel: Wo ist die Selbstbestim
mung?)
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Wi
derspruch bei der CDU/CSU.) - — Ich bin jetzt bei den Zielen, das ist die Basis.
Diese Bundesregierung hat die Beitrittsverhandlun- Wir haben drei klare Ziele: Selbstbestimmung für
gen mit England möglich gemacht. unser Volk, Friedenssicherung auf dem Wege zu
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. einer europäischen Friedensordnung und Stärkung
Dr. Barzel: Davon ist doch kein Wort wahr! der Menschenrechte.
Wo ist denn die Wirtschaftsunion? — Abg. (Abg. Dr. Barzel: Davon steht in den
Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sie basteln ja 20 Punkten nichts drin!)
eine Legende nach der anderen! — Abg.
Dr. Barzel: Politische Zielsetzung zurück — Herr Kollege Barzel, wie oft müssen wir das
gestellt!) eigentlich noch wiederholen, um Ihnen klarzuma-
2682 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Apel
chen, daß das die Basis der Politik ist? Sie müssen — In der Zwischenzeit wird keine Denkpause ein-
zur Kenntnis nehmen, treten,
(Abg. Dr. Stoltenberg: Hat Ahlers aber
(Abg. Dr. Barzel: Das steht 'aber nicht in gesagt)
den 20 Punkten drin!)
sondern man wird über die politischen Inhalte nicht
daß alle Ihre Unterstellungen falsch und ungerecht- nur in Moskau, sondern auch in Warschau und
fertigt sind und nicht den Tatsachen entsprechen. Ost-Berlin nachdenken und weiterdenken.
(Beifall bei den Regierungsparteien. — (Zuruf von der CDU/CSU: Wie meinen
Abg. Dr. Barzel: Aber in den 20 Punkten Sie das?)
steht das nicht drin!) Kassel war also weder ein Erfolg noch ein Mißerfolg
In der Frage 1 der Großen Anfrage der CDU/ noch enttäuschend oder ergebnislos, weder ein Still-
CSU — Herr Kollege Dorn, Sie haben ja bereits stand noch ein Rückschritt. Alle diese Betrachtungen
darauf hingewiesen — finden wir erneut eine der gehen an der Sache vorbei. Kassel war, wie ich
üblichen Unterstellungen, nämlich die Unterstellung, sagte, eine Etappe, ein Schritt von vielen, die vor
uns liegen. Wir haben anscheinend im Gegensatz
daß unsere Politik die Spaltung vertieft. Dazu kann
ja wohl ganz nüchtern und sachlich festgestellt wer- zu Ihnen die guten Nerven, den langen Atem und
den, daß die Spaltung nicht tiefer werden konnte, die Konzeption, die in der Tat bei Ihnen fehlt, um
als sie war, als wir die Regierungsverantwortung diese Schritte konsequent ohne Aufgabe unserer
übernahmen. Grundposition weiterzugehen.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Diese Bundesregierung wird nicht nur verbal, mit
Daraus ergibt sich ja wohl auch — und das ist die verbalen Verrenkungen, sondern politisch aktiv
Fortsetzung der Politik vergangener Regierungen —, ihren Beitrag zu einer europäischen Friedensord-
daß über Gespräche, aus denen möglicherweise nung leisten, ohne Aufgabe unserer Selbstachtung,
Verhandlungen und Abkommen folgen, ein Weg ge- ohne aber auch mit Überheblichkeit und Besser-
sucht werden muß, um aus dieser tiefsten Spaltung wisserei unseren Partnern in Osteuropa entgegen-
herauszukommen. zutreten.
Wir haben festgestellt — damit bin ich bei der (Beifall bei der SPD.)
Bewertung von Kassel —, daß Herr Stoph Ton und Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige
Inhalt seiner Aussagen in der Tat verschärft hat. Bemerkungen machen zu der von Herrn Barzel er-
Aber wir sind ja auch erst in der ersten Phase der wähnten und scharf kritisierten Aussage des Herrn
l Gespräche. Kassel war für uns Sozialdemokraten Bundeskanzlers hinsichtlich eines Vertrages und
eine Etappe, eine Etappe eines langen Weges. Wir seines Charakters und der Forderung von Herrn
sagen hier mit Nachdruck, daß ohne Erfurt und ohne Stoph nach völkerrechtlicher Anerkennung. Wenn es
Kassel die deutsche Situation nicht besser, sondern jemals zu einem Vertrag kommt — wir teilen da
schlechter wäre; durchaus die Skepsis des Herrn Bundeskanzlers; sie
bringt uns allerdings nicht davon ab, weiter an der
(Beifall bei den Regierungsparteien) Sache zu arbeiten —, wird es ein Vertrag sein, der
denn erstens diese beiden Zusammenkünfte haben mehrschichtig ist. Er wird in einer ganzen Reihe
das Bewußtsein unseres Volkes für seine Probleme von Punkten eindeutig zwischenstaatliche, völker-
erneut geschärft, und zweitens — das ist viel rechtlich verbindliche Züge haben müssen, was die
wesentlicher — haben beide Regierungen in beiden Gleichberechtigung anlangt, was die Nichtdiskrimi-
deutschen Staaten durch dieses Zusammentreffen nierung anlangt, was den Gewaltverzicht anlangt,
unterstrichen, daß sie sich für das Schicksal in Mit- was die Haltung der beiden deutschen Staaten
teleuropa und für die Zukunft unseres Landes ver- gegenüber internationalen Organisationen anlangt.
antwortlich fühlen. So gesehen sind die 20 Punkte Neben diesem Teil mit eindeutig völkerrechtlichem
ein wesentliches Angebot von Willy Brandt. Ihre Charakter wird er einen Teil haben, der nicht die-
zwingende Logik, ihre unausweichlichen Überle- sen Charakter haben kann. In den Fragen des Han-
gungen, der Versuch eines gerechten und fairen dels — wegen der EWG-Problematik —, der Frei-
Angebots — ohne die von mir dargestellten Grund- zügigkeit der Menschen, der Staatsangehörigkeit
positionen aufzugeben —, werden auch im Ostblock und der Vorbehaltsrechte unserer Alliierten wird
ihren Eindruck nicht verfehlen. hier völkerrechtliche Qualität nicht gegeben sein
können. Hier müssen wir vielmehr Regelungen sui
(Zurufe von der CDU/CSU.) generis finden. Das ist unsere Position. Ein rein
Wir machen weiter und lassen uns darin auch juristischer Akt, wie ihn die DDR fordert, löst
nicht von Ihnen, meine Damen und Herren von der nichts. Erst wenn Inhalt in so einen Vertrag kommt,
Opposition, beirren. wird er nützlich und zweckmäßig für unser Volk.
Dann würde er in der Tat einen wesentlichen Teil
(Beifall bei den Regierungsparteien.) der starren juristischen Formeln überwinden. So ist
die Aussage des Herrn Bundeskanzlers zu ver-
Es gibt jetzt eine Verhandlungspause. Wir finden stehen.
das nicht schlecht.
Die Opposition bringt in den Fragen 22 bis 9 ihrer
(Abg. Rösing: „Denkpause"!) Großen Anfrage erneut entweder polemische Unter-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2683
Dr. Apel
stellungen oder fordert die Bundesregierung auf, den ja auch dazu zu gegebener Zeit Stellung neh-
über schwebende Verhandlungen hier Auskunft zu men müssen. Ich möchte nur den Kollegen Dichgans
geben. Ich war, ehrlich gesagt, entsetzt darüber, und Petersen dafür danken, daß sie in einer sehr
Herr Barzel, wie es Ihnen möglich war, nachdem nuancierten Darstellung dargelegt haben, daß auch
Sie von Herrn Bahr und vom Herrn Bundeskanzler bei Ihnen die Probleme deutlicher gesehen werden
Informationen bekommen hatten, die auch wir be- und wir mit einfachen Formeln nicht weiterkommen.
kommen hatten, hier hinsichtlich des sich abzeich- (Beifall bei der SPD.)
nenden Arrangements mit Moskau derartig falsche
Behauptungen aufzustellen. Das heißt doch, daß sich die sozialdemokratische
Bundestagsfraktion an drei Versuchen der CDU/
(Abg. Dr. Barzel: Fragen habe ich gestellt!)
CSU nicht beteiligt. Erstens, meine Damen und Her-
— Wenn Sie informiert sind, können Sie eigentlich ren von der CDU/CSU, nehmen wir Ihnen Ihre poli-
auch keine Fragen dieser Art stellen. Auch das ist tische Vergangenheitsbewältigung in der Deutsch-
dann unanständig, Herr Barzel. land- und Ostpolitik nicht ab. Das müssen Sie schon
(Beifall bei . der SPD. — Abg. Dr. Barzel: selber tun,
Ich kann noch weitergehende Fragen (Beifall bei den Regierungsparteien)
stellen!)
und Sie werden sehen und erklären müssen, wie
— Auch das ist unanständig, wenn Sie wissen, was weit Sie mit der jetzigen Politik kommen werden.
in diesen Vorgesprächen in Moskau herausgekom- Zweitens nehmen wir mit Besorgnis zur Kenntnis,
men ist. daß anscheinend bei Ihnen mit dem Schlagstock ab-
(Abg. Dr. Barzel: Ich kann noch weiter gegriffener und falscher deutschlandpolitischer
gehende Fragen stellen!) Argumente über Nachfolge- und Führungsprobleme
Sie können alles tun. zum Schaden der Sache entschieden werden soll.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Hier dürfen keine Und wir tun ein Drittes nicht, meine Damen und
Fragen gestellt werden! — Abg. Dr. Marx Herren. Wir ziehen dieses Thema der Deutschland-
[Kaiserslautern] : Dann werden wir noch und Ostpolitik nicht in den aktuellen Wahlkampf
hinein, wie es Herr Kiesinger in diesen Tagen tun
ein bißchen gezielter fragen! — Zuruf von
der CDU/CSU: Der Tag kann noch ganz zu sollen meinte;
anders werden! — Weitere Zurufe von der (Beifall bei der SPD — Abg. Rasner: Sie
CDU/CSU.) wissen, weshalb!)
Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Wir denn für dieses Thema brauchen wir sehr viel mehr
müssen uns in der Tat fragen, welchen Zweck es Kraft, sehr viel mehr Zeit und sehr viel mehr Ge-
hat, die Opposition intim und detailliert zu orien- duld, als . es in diesen Wochen des Wahlkampfes
tieren und zu informieren, wenn anschließend der möglich ist. Wir haben im übrigen bessere Argu-
Vorsitzende der Oppositionsfraktion sich hier hin- mente, überzeugendere Leistungen anzubieten, wir
stellt und erneut Behauptungen aufstellt, die jeder brauchen uns' nicht der billigen Demagogie in die-
Grundlage entbehren. sem Bereich hinzugeben.
(Beifall bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.)
Bei diesem Stand der Dinge lehnen wir es ab, zu Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
verlangen, daß die Bundesregierung diese sehr Abschluß kommen.
delikaten Dinge hier offenlegt. (Abg. Rasner: Kein Satz zur Sache! — Abg.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Natürlich! — Abg. Kiep: Nach dem Sie nichts gesagt haben!)
Rasner: „Mehr Demokratie"! — Abg. Dr. Die jetzige Bundesregierung hat allen Deutschen in
Barzel: „Delikate Dinge", das ist wahr! — Ost und West die latente Schläfrigkeit in ihrer
Abg. Dr. Stoltenberg: Mehr Transparenz!) ureigensten Sache, nämlich in der Frage der Selbst-
— Wir wissen und gehen davon aus — das wissen bestimmung für unser Volk, der Friedenssicherung
-
auch Sie, Herr Barzel —, daß die Grundlagen, die für Europa und der Sicherung der Menschenrechte
wir für unsere Ost- und Deutschlandpolitik festge- in Europa, genommen. Alle sind hellwach gewor-
den, die Zeit der augenzwinkernden Sonntagsreden,
legt haben, unsere Basisvorstellungen, unsere Ziel-
die doch nur dazu geführt haben, daß gleichzeitig
vorstellungen durch das, was in Moskau geschieht,
alle Wege zueinander zugewachsen sind, ist vorbei.
und auch das, was mit Warschau hier in Bonn wei-
In diesen Jahren wird geprüft werden müssen, ob
ter zu verhandeln sein wird, nicht im geringsten
es einen wesentlichen Fortschritt nach Osten gibt.
tangiert werden. Wir sind weder Optimisten noch Pessimisten, wir
Wir haben zur Kenntnis genommen, was Sie in sind da Realisten. Wir stellen fest, daß die Mehr-
Ihrer Resolution zur polnischen Westgrenze sagen. heit in diesem Hause, daß die Bundesregierung ein
Ich will das hier gar nicht kommentieren. Wir wer- klares Konzept hat, die Standfestigkeit besitzt, die-
2684 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Apel
ses Konzept durchzuhalten, ,daß sie die volle Rük- Die Europapolitik, meine Damen und Herren —
kendeckung der Alliierten hat um dies präzis zu sagen: die Politik, die diese
(Beifall bei der SPD) Regierung in der Perspektive der politischen Union
Europas verfolgt , ist durch die Treffen und Ent-
und daß sie flexibel genug ist und guten Willen scheidungen der letzten Monate ganz erheblich vor-
genug hat, um die Dinge voranzubringen. Die Oppo- angekommen. Das erwähne ich hier aber nicht, um
sition dagegen arbeitet gegen besseres Wissen mit der Debatte jetzt eine Wendung zu geben, die ja
Unterstellungen, Verdächtigungen und. Unrichtigkei- nach der, wenn auch nicht geschriebenen und for-
ten. mellen, so doch losen Übereinkunft ihre Fortsetzung
(Abg. Baron von Wrangel: Das tun Sie doch erst am 17. Juni finden soll. Ich erwähne das vor-
gerade! D a sind Sie doch gerade dabei!) nehmlich deshalb, weil in ihr wie in unserer nach
Sie setzt damit mehrheitlich den Weg in eine ge- Osten gerichteten Politik der Entspannung schon die
fährliche Extremposition fort, Aufzählung der Daten und der Taten eine deutliche
Sprache für das Wirken dieser Regierung spricht.
(Beifall bei der SPD)
Seit der Beantwortung der Großen Anfrage sind
mit dem einen Unterschied, meine Damen und Her-
aus den zehn Gesprächen von Staatssekretär Bahr
ren: die von Herrn Barzel hier erneut unterschwel-
mit Außenminister Gromyko in der Zwischenzeit
lig verkaufte Darstellung des Untergangs Deutsch-
vierzehn Gespräche geworden, und wir stehen jetzt
lands wird Ihnen heute nur noch vom „Bayern-
am Ende der Vorbereitung von Verhandlungen mit
kurier" und von der „National- und Soldatenzei-
der Sowjetunion. Hier hat unsere Politik einen wich-
tung" abgekauft.
tigen, einen entscheidenden Punkt erreicht, an dem
(Beifall bei den Regierungsparteien.) sich die Möglichkeit eröffnet, endlich einen geregel-
ten Modus vivendi mit der anderen, der zweiten
Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Supermacht, der Führungsmacht des europäischen
Bundesaußenminister. Ostens, zu finden. Den drei Gesprächsrunden mit
Polen wird in wenigen Tagen eine vierte Gesprächs-
runde in Bonn folgen. Den beiden Berlin-Gesprächen
Scheel, Bundesminister ,des Auswärtigen: Herr
der Alliierten im März und April ist am 14. Mai ein
Präsident! Meine Damen und Herren! In der Ant-
drittes Gespräch gefolgt, und die Termine für das
wort auf die Große Anfrage der CDU/CSU, die
vierte und fünfte Gespräch, nämlich am 9. Juni und
heutirzDbash,tdieBunrg-
Anfang Juli, liegen jetzt schon fest. Und wenn im
rung den Abschnitt zur Europapolitik mit einer Auf-
innerdeutschen Dialog eine neue Gesprächsrunde
zählung von Daten eingeleitet, die die Fortschritte
zunächst keinen Termin hat, bedeutet das allerdings
der letzten sieben Monate markieren. Inzwischen
nicht, daß der Dialog abgebrochen wäre. Die Denk-
sind schon wieder neue Daten hinzuzufügen, darun-
pause, die jetzt eingetreten ist — ich weiß nicht,
ter auch .die Gespräche in Paris und in Rom, die
wer den Begriff erfunden hat;
ich gestern geführt habe.
(Abg. Dr. Barzel: Herr Apel hat eben be-
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an stritten,. daß es eine gibt! — Abg. Baron
dieser Stelle eine Bemerkung machen. Ich bin aus von Wrangel: Was ist eine Denkpause?
der Sitzung des NATO-Ministerrats hierher zu die- Eine Pause zum Denken oder vom Denken?)
ser Debatte gekommen. Ich muß heute mittag wie-
der zurückfliegen, weil alle 15 Außenminister da ich entnehme ihn aus der öffentlichen Diskussion —,
sind und ich heute nachmittag an der Abschlußsit- hat eine Bedeutung auch für uns, vor allem im Hin-
zung teilnehmen muß. Ich kündige das jetzt an, blick auf unsere Moskauer Verhandlungen.
damit ich Verständnis dafür finde, Meine Damen und Herren! Auch vor jeder Dis-
(Abg. Dr. Barzel: Ganz klar, ja!) kussion der Fragen, um die es in den Gesprächen
geht, muß einmal festgestellt werden: Diese Inten-
wenn ich nicht bis zum Schluß der Debatte hierblei- sität der Gespräche mit der DDR und den Ländern
ben kann. Osteuropas ist selbst in sich schon ein Stück Ent-
Diese Besprechungen in Rom, meine Damen und spannung. Auch dann noch, wenn — was wir nicht
Herren, haben das bestätigt, was Herr Dr. Apel so- erwarten und schon gar nicht erhoffen — unsere
eben mit einem Satz zum Ausdruck brachte, daß Initiativen auf absehbare Zeit nicht oder nicht über-
nämlich unsere engen Konsultationen mit den Ver- all zu greifbaren Ergebnissen führen, hat die Bun-
bündeten uns in eine Gemeinschaft mit ihnen ge- desregierung in den letzten Monaten vor aller Welt
bracht haben, daß sie — unsere Verbündeten in der und für alle Zukunft unter Beweis gestellt, daß sie
NATO und vor allem unsere drei westlichen Ver- den Frieden will, ja mehr noch: daß sie aktiv dazu
bündeten — die Politik, die wir treiben, nicht nur beitragen will, den Frieden zu schaffen,
bis ins einzelne kennen, sondern auch stützen. Da- (Beifall bei den Regierungsparteien)
rauf aber kommt es an in einer Phase, in der in der
Tat die Politik in Bewegung geraten ist, und zwar und nicht nur darauf wartet, daß er sich durch das
nicht nur unsere, sondern die ganze Weltpolitik, vor Handeln anderer von selbst einstellt.
allem auch die in Europa. Die Zusammenarbeit zwi- Nun kommt es gewiß nicht nur darauf an, daß
schen den Verbündeten ist dabei eine wesentliche wir etwas tun, sondern es kommt auch darauf an,
und entscheidende Grundlage, auf der wir uns be- was wir tun. In dieser Hinsicht ist in der inner-
wegen. politischen Diskussion außenpolitischer Fragen bei
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2685
Bundesminister Scheel
uns zulande eine merkwürdige Lage entstanden, die des innerdeutschen Dialogs nicht durch voreilige
auch heute morgen hier in der Diskussion sichtbar Entscheidungen stören.
geworden ist. In der Regierungserklärung vom Die gegenwärtige Bundesregierung, ihre Vorgän-
28. Oktober 1969 heißt es, daß die Politik dieser gerin und gerade auch die Partei, deren Vorsitzen-
Regierung im Zeichen der Kontinuität und im Zei- der ich bin, haben deutlich betont, wie notwendig es
chen der Erneuerung stehe. Seither ist die Oppo- für uns und für Europa ist, auf einer realistischen
sition nicht müde geworden, vor allem die Elemente Grundlage die Verständigung zwischen den deut-
der Erneuerung — ja, wie sie meint, sogar die der schen Staaten zu suchen. Herr Stoph unterschätzt das
Diskontinuität — in unserer Politik zu betonen. Die Verständnis der Welt für diese unsere Absichten,
Vermutungen der Opposition wurden gelegentlich wenn er meint, durch Angriffe auf Vertreter einer
als die Wahrheiten der Regierungspolitik ausgelegt, solchen Politik seiner Sache dienen zu können. Un-
aber dadurch werden diese Vermutungen nicht rich- sere Aufforderung zum Verständnis für den beharr-
tiger. lichen Versuch, im innerdeutschen Verhältnis wei-
Es gibt eine Kontinuität der deutschen Politik terzukommen, ist in der Welt sehr wohl verstanden
nach außen. Herr Stoph hat sich in Kassel abschät- worden. Ich möchte sie heute erneuern und ihr hin-
zig über .den Satz in unserer Antwort auf die Große zufügen, daß wir ohne jede Doktrin auch in Zukunft
Anfrage geäußert — er hatte sie also sehr sorgfältig die Absicht haben, das Verhalten dritter Staaten
gelesen —, nach dem sich nicht unsere Ziele ver- gegenüber uns und der DDR nach unserer Interes-
ändert haben, sondern die Intensität, mit der wir senlage zu bewerten.
diese verfolgen. Doch gibt es keinen Grund, eine (Abg. Strauß: Wie ist die?)
solche Feststellung abzuwerten. Alle Regierungen
Ich erkläre auch hier, daß wir auf niemanden einen
der Bundesrepublik haben eine Politik des Friedens
Druck ausüben wollen und daß wir auf niemanden
,
Bundesminister Scheel
Wir wissen sehr wohl, daß unsere Achtung vor den men werden. Im Falle eines positiven Ergebnisses
anderen nur so viel wert ist wie .die Achtung der dieser Prüfung habe ich die Absicht, Verhandlungen
also nicht unter irgend- andervous.Withn zu führen in der Hoffnung, daß es gelingt, für die
einem Zwang, um jeden Preis zu Abschlüssen 'zu Bundesregierung an diesem entscheidenden Punkt
kommen. Der einzige Zwang unter . dem wir stehen, ein Ergebnis zustande zu bringen, das vor diesem
ist der, nicht nachzulassen in der Bemühung, dauer- Hause Bestand hat.
hafte und von den Völkern getragene 'Friedenslösun- (Beifall bei den Reigierungsp art ei en.
gen zu suchen.
DendisHaumßbetägn.
Das bedeutet aber auch, daß die einfache Rech-
nung von Leistungen und Gegenleistungen nicht auf- Bei den Verhandlungen mit der Sowjetunion
geht, ,die hier und da in einer polemischen Diskus- geht es im Rahmen des Gewaltverzichts auch um
sion aufgemacht wird. Man kann nicht zu gleicher die Frage, wie wir und wie die Sowjetunion heute
Zeit eine Grenze respektieren und sie verändern und künftig die bestehenden Grenzen in Europa be-
wollen. Man kann 'aber Grenzen respektieren, um trachten. Dabei muß klar sein, daß es nicht unsere
auf der Grundlage der Achtung bestehender Ver- Absicht ist, irgendwelche Grenzen zu verletzen. Es
hältnisse eine politische Normalisierung vorzuneh- muß aber auch klar 'sein, daß es keinen Vertrag
men, die allein einen erfolgversprechenden Aus- geben wird, durch den die deutsche Option, wie
gangspunkt für eine aktive deutsche Friedenspolitik ich das hier einmal genannt habe, also der Weg zu
bildet. einer europäischen Friedensordnung, in der das
(Abg. 'Schulhoff: Damit kommen Sie aber deutsche Volk seine Einheit wiederfindet, ausge-
doch nicht weiter!) schlossen oder auch nur erschwert wird.
--- Ich komme darauf. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
Dr. Barzel: Im Vertrag!)
Die vieldiskutierten Gegenleistungen liegen also
nicht auf derselben Ebene wie die Entscheidungen, Diese Regierung hat erklärt — und sie steht dazu —,
die jetzt von uns verlangt werden. Ihr Gewicht ist daß sie die staatliche Wiedervereinigung für gegen-
nichtsdestoweniger mindestens ebenso groß wie das wärtig unerreichbar hält. Sie hat nirgendwo erklärt,
unserer Bereitschaft, von der Wirklichkeit auszu- daß sie die Möglichkeit selbst aufzugeben bereit ist.
gehen, die wir vorfinden. Wer heute den Status quo Ich betone vielmehr, daß unsere Verhandlungspart-
und seine territoriale Festschreibung zum Haupt- ner wissen müssen: Wir wollen und können keine
gegenstand der öffentlichen Diskussion macht, wie Bindungen und keine Bedingungen eingehen, die im
das ja ein Blatt wie das „Neue Deutschland" unauf Widerspruch zu unserer Überzeugung und unserer
hörlich tut, .der wird uns keinen Schritt an eine Verfassung stehen, wonach der freie Wille der
Friedensordnung heranführen. Wer aber anderer- Menschen bestimmende Kraft für die Zukunft der
seits seine Polemik gegen den Status quo mit unrea- Staaten zu sein hat.
listischen Forderungen verbindet, der ist einer Ver-
gangenheit verhaftet, die wir ja igerade überwin- Zweitens. In immer stärkerem Maße wird die
den wollen. innenpolitische Diskussion durch die Frage be-
herrscht, wie wir mit Polen zu einer Grenzregelung
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
kommen können, die die — ich zitiere hier den frü-
Wir wollen eine Zukunft mit unserer Politik schaf- heren Bundeskanzler — berechtigten Wünsche der
fen. Polen, in sicheren Grenzen zu leben, aber auch
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) unsere Interessen berücksichtigt. Die öffentliche Dis-
In diesem Zusammenhang ist es allerdings nötig kussion der letzten Monate hat deutlich gemacht,
— und ich tue das gleich —, an einigen Punkten un- daß diese Frage nicht allein rational zu betrachten
serer Verhandlungen ganz klarzustellen, wie die ist, sondern tiefe Gefühle wachruft. Das ist gewiß
Positionen aussehen, wo unser Angebot und di e verständlich. Aber ebenso wahr ist, daß eine sinn-
Grenzen unseres Handelns liegen. volle Regelung das verantwortungsbewußte Han-
deln aller Beteiligten und Betroffenen voraussetzt.
Erstens. Staatssekretär Bahr ist am vergangenen Nicht nur der Gegensatz zwischen dem Bedürfnis
Samstag aus Moskau zurückgekehrt, nachdem er in nach Öffentlichkeit — eine Forderung, die hier in
den letzten vier Monaten dort in zahlreichen Ge- diesem Parlament natürlich zu Recht gestellt wird —
sprächen die Voraussetzungen für einen Gewaltver- und der Notwendigkeit der Vertraulichkeit — eine
zichtsvedrtrag zu klären versucht hat. Wir wissen Forderung, die die Regierung stellen muß — bringt
heute, 'daß ,die Sowjetunion die Absicht hat, durch Schwierigkeiten mit sich, sondern auch der Wider-
einen solchen Vertrag zu vollenden, was-mit der spruch zwischen der Hoffnung auf Sachlichkeit und
Anknüpfung der diplomatischen Beziehungen im der Tatsache, daß vielfach die Diskussion durch
Jahre 1955 nur formal geschehen ist, nämlich die Emotionen beladen ist.
der 'Beziehungen zwischen den bei- Normaliseung
den Ländern. Wir kennen auch ,die Bedingungen, Meine Damen und Herren, wir haben die Oder-
unter denen es möglich sein wird, formelle Vertrags- Neiße-Grenze nicht gewollt, aber sie ist ein Stück
verhandlungen aufzunehmen. Wie die sowjetische der europäischen Wirklichkeit, von der wir aus-
Regierung wird auch die Bundesregierung das Er- gehen müssen. Jede realistische Friedenspolitik, die
gebnis der erfolgreichen Vorgespräche von Herrn nicht die Vergangenheit versteinern, sondern für
Bahr prüfen, um dann zu entscheiden, wann und in eine bessere Ordnung, eine europäische Friedens-
welcher Form formelle Verhandlungen aufgenom- ordnung in der Zukunft wirken will, muß von dieser
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2687
Bundesminister Scheel
europäischen Wirklichkeit und von nichts anderem wieder festgestellt habe. Wir sollten froh sein, daß
ausgehen. The Respektierung der Grenzen ist auch unsere Verbündeten diese Frage so ernst nehmen.
hier eines ihrer elementaren Bestandteile. (Zustimmung bei der SPD.)
Es ist freilich auch ein Stück der europäischen Sie haben die Gespräche mit der Sowjetunion in
Wirklichkeit, daß die Bundesregierung geltende Bin- der Absicht eröffnet, im Hinblick auf Berlin, wo die
dungen nicht brechen will und also hier nur in Verantwortung der Alliierten unverändert besteht,
Übereinstimmung mit ihren Alliierten handeln verläßlichere Lösungen zu finden, als sie gegen-
kann, wie ihrem Handlungsvermögen überhaupt wärtig bestehen. Wir haben Grund zu der An-
Grenzen gesetzt sind. Die Bundesrepublik kann nur nahme, daß der hier unternommene Versuch im
für sich selber sprechen, und auch im Zusammen- Laufe der Zeit Erfolge bringen wird. Aber gerade
wirken mit ihren Verbündeten kann sie die Not- hier ist Geduld und Beharrlichkeit nötig.
wendigkeit einer umfassenden Friedensregelung Ich will allerdings nicht verhehlen, daß es unsere
nicht ersetzen. Im übrigen wird das Ergebnis der Verhandlungen -- —
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Halten Sie es dann für Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie
möglich, den endgültigen Beschluß zur Aufnahme eine Zwischenfrage, Herr Bundesaußenminister?
von Verhandlungen mit der Sowjetunion zu fassen,
bevor diese Konsultationen abgeschlossen sind? Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ja,
bitte schön!
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr
Kollege Barzel, wir haben mehrfach deutlich ge- Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Herr Bundesmini-
macht, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion und ster, würden Sie bei allem Verständnis, das wir für
Vertragsabschlüsse mit der Sowjetunion, Vertrags- den Willen der Regierung haben, nicht alle Einzel-
abschlüsse mit Polen, Vertragsabschlüsse auch mit fragen zu präjudizieren, es nicht doch für richtig
der DDR und daß die Regelung der Fragen, die mit halten, nach der heute morgen schon zitierten Erklä-
Berlin zusammenhängen, ein einheitliches poli- rung des Parteichefs Breschnew in Prag, daß die So-
tisches Ganzes bilden. Nur wenn alle Fragen zu un- wjetunion von ihrer bekannten Auffassung über
serer Zufriedenheit geregelt sind, können sie poli- Westberlin bei vertraglichen Regelungen mit der
tisch wirksam werden. Das ist unsere Meinung, und Bundesrepublik ausgeht, ganz klar zu sagen, daß ein
ich glaube, da stimmen wir hier im ganzen Hause zweiseitiges Gewaltverzichtsabkommen mit der So-
überein. wjetunion nur möglich ist, wenn es rechtlich und
politisch auch Westberlin in die Sicherung der Bun-
desrepublik einbezieht?
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Darf ich dann davon
ausgehen, daß das Kabinett heute die Aufnahme de-
finitiver Verhandlungen mit der Sowjetunion nicht Scheel, ' Bundesminister des Auswärtigen: Herr
Kollege Stoltenberg, ich wiederhole noch einmal, daß
beschließen kann, weil die Berlinfrage noch nicht
es letzten Endes an der Mehrheit dieses Parlaments
klar ist?
liegt, welche aufeinander abgestimmten einzelnen
Vertragsregelungen und unter welchen Bedingun-
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr gen sie zustande kommen.
Kollege Barzel, davon können Sie nicht ausgehen. (Beifall bei den Regierungsparteien. —
(Lachen bei der CDU/CSU.) Lachen bei der CDU/CSU.)
Ich wiederhole noch einmal, das Kabinett ist völlig Ich habe ganz klargemacht, daß wir die Sicherheit
souverän in dem, was es beschließt. Berlins zu einem essentiellen Element unserer Ver-
(Zustimmung bei den Regierungsparteien.) handlungen machen.
Ich will damit nicht sagen, daß das Kabinett einen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Beschluß faßt. Aber das Kabinett ist gewöhnt, seine Muß ich denn darüber noch hinausgehen und etwa
Beschlüsse souverän zu fassen. versuchen, Texte mit Ihnen zu entwickeln? Das kön-
nen Sie von mir nicht verlangen. Diese feste Position,
Ich darf noch einmal erläutern. Meine Antwort,
die wir einnehmen, sollte Ihnen nun wirklich als
Kollege Barzel, war die, daß die Probleme, die ich
Auskunft genügen, meine Kollegen. Darüber hinaus
eben genannt habe, in einem engen Sachzusammen-
kann ich weiß Gott nicht gehen. Aber das ist ja das
hang stehen. In Kraft gesetzt werden kann das eine
Entscheid,aßwruübieGndlagkr
nur, wenn das andere geregelt ist. Sie können aber
sind, von denen wir bei Verhandlungen ausgehen,
keine zeitliche Prioritätenliste aufstellen. Das ist
das, was ich sagen wollte. (Zuruf des Abgeordneten Rasner)
(Abg. Rasner: Es ist „klarer" geworden! — und das ist eine solche Grundlage. — Herr Kollege
Abg. Dr. Stoltenberg: Die erste Frage ist Rasner, eins kann ich versichern, und zwar ganz
nicht beantwortet worden! — Abg. Win deutlich: Die Ausführungen eines Vorsitzenden
delen: Vor Tisch hieß es anders!) einer anderen Partei werden niemals Grundlage
unseres Handelns sein,
— Ich wiederhole noch einmal, Sie können keine
zeitliche Prioritätenliste aufstellen, Sie müssen die (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Bei Go-
Dinge sich entwickeln lassen. Das Ganze ist eine po- mulka war es aber anders in der Regie-
litische Einheit; das haben wir mehrfach erklärt. rungserklärung! Da hat der Bundeskanzler
auf diese Ausführungen Bezug genommen!)
Meine Damen und Herren, ich will allerdings
— es sei denn, füge ich hinzu, wir nehmen ausdrück-
nicht verhehlen, daß es unsere Verhandlungen an
- lich Bezug darauf, aber das haben wir in diesem
anderen Orten erleichtern würde, wenn die Sowjet-
Falle nicht getan.
union ihrerseits gerade im Hinblick auf die Berliner
Gespräche ein Signal geben würde, das ihre Bereit- Die Opposition hat ihre Kritik an der Position der
schaft deutlich macht, für Berlin eine dem Willen Bundesregierung vor allem auch gegen den Punkt 5
der betroffenen Menschen entsprechende Lösung zu der Kasseler Erklärung des Bundeskanzlers gerich-
finden. Wir haben unsere Verhandlungs- und Frie- tet, auch heute morgen noch einmal. Dieser Punkt
densbereitschaft deutlich genug signalisiert, und es lautet: Beide Seiten respektieren die Unabhängig-
ist nur billig, wenn wir von der anderen Seite heute keit und Selbständigkeit jedes der zwei Staaten in
ein ähnliches Zeichen erwarten. — Herr Kollege Angelegenheiten, die ihre innere Hoheitsgewalt be-
Stoltenberg! treffen. Lassen Sie mich klarstellen, daß damit aus-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2689
Bundesminister Scheel
schließlich gemeint ist, daß die Bundesregierung leren Weg in der Gesellschaftsordnung suchen. Vor
nicht für sich in Anspruch nimmt, Hoheitsrechte im allem aber kennen wir keine Kompromisse in der
Gebiet der DDR auszuüben. Wir sind keine Annek- politischen und gesellschaftlichen Ordnung.
tionisten, auch wenn uns die innere Ordnung der (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
DDR nicht gefällt. Daß sie uns nicht gefällt, wollen
wir allerdings mit aller Deutlichkeit auch jetzt wie- In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn ich sage
der einmal hier feststellen. es führt für die Bundesrepublik kein jugoslawischer
Weg von Bonn nach Ostberlin oder nach Moskau.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD. — Abg.
Rasner: Ganz schwacher Beifall! - Abg. (Abg. Dr. Barzel: Er redet gegen die Jung
Dr. Barzel: „Tosender" Beifall links! — Ge sozialisten! — Abg. Rasner: „Stürmischer
genruf des Abg. Dr. Apel: Bei Ihnen gab es Beifall" bei der SPD!)
gar keinen! — Abg. Dr. Schulze-Vorberg: — Nein, nicht nur gegen die Jungsozialisten, nicht
Sagt das hier der Außenminister?) n u r.
— Herr Kollege, von Zeit zu Zeit gestatte ich mir (Abg. Rasner: Auch gegen die Jungdemo
schon einmal, allgemeine politische Bemerkungen kraten! — Weitere Zurufe von der CDU/
zu machen, da ich ja die große Ehre habe, Ihrem CSU.)
exklusiven Kreis der Abgeordneten anzugehören, — Sie sagen es .
die sich um alle Fragen der Politik kümmern soll-
Aber ich sage das, was die Position der Regie-
ten, und wenn ich das von Zeit zu Zeit außerhalb
rung ist: die europäische Friedensordnung wird ent-
meines Ressorts schon einmal tue, bitte ich um Nach-
weder von der Tatsache der grundverschiedenen
sicht. Aber ich glaube, in diesem Fall war es ange- inneren Ordnungen ausgehen oder sie wird nicht
bracht. Ich will sogar noch etwas mehr dazu sagen, zustande kommen können.
wenn Sie mir das gestatten; es scheint mir nötig zu
sein. (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
Gelegentlich wird die Bemühung der Bundesre- Das ist das Ziel unserer Politik.
gierung um einen Ausgleich mit den Ländern des (Abg. Strauß: Das visionäre Großeuropa!)
Ostens im eigenen Lande mißverstanden. Es war
die Meinung zu hören, wir suchten einen mittleren — Ja, es gibt da sehr subtile Möglichkeiten, euro-
Weg in den inneren Ordnungen. Lassen Sie mich päische Politik zu machen. Ich will sie hier verein-
darum mit aller Entschiedenheit feststellen: es gibt facht darstellen. Sie werden es an dem, was wir
keinen halben Weg zwischen Freiheit und Unfrei- tun, ablesen können: So viel Integration wie mög-
heit. lich in Westeuropa — ich komme nachher noch im
(Beifall bei Abgeordneten der SPD. — Sehr einzelnen darauf — und mit dem sich integrierenden
gut! und starker Beifall bei der CDU/CSU. Westeuropa im jeweiligen Integrationsrat so viel
Abg. Dr. Barzel: Kein Beifall bei der Kooperation, wie überhaupt nur denkbar, mit Ost-
SPD!) europa suchen. Das ist die Anwendung unserer Po-
— Meine Damen und Herren, darüber sind wir litik auf die Realitäten, die wir in Europa vorfinden.
uns in diesem Hause einig. Wir schließen also keine In der öffentlichen Debatte über die deutsche
Kompromisse in der Verfassungsordnung, aber wir Außenpolitik — auch hier — ist die Frage gestellt
schließen auch keine Kompromisse in der Wirt- worden, wie weit denn die Bundesregierung gehen
schafts- und in der Sozialordnung. darf, ohne ihr Mandat zu überziehen. Ist sie über-
Ich respektiere die Länder, die auf die eine oder haupt legitimiert, Wege zu beschreiten, die sich nach
andere Weise ihre Neutralität in den weltpolitischen Meinung einiger von den. bisherigen Wegen der
Konflikten bewahrt haben und bewahren wollen, deutschen Politik wesentlich unterscheiden? Es sind
und ich respektiere auch die Länder, die von unse- einige Klarstellungen zu diesen Einwendungen not-
rer Gesellschaftsordnung abweichende Ordnungen wendig.
entwickelt, aber auch nicht die Ordnung der soge- Jede Bundesregierung, die verfassungsmäßig zu-
nannten sozialistischen Staaten in vollem Umfang stande gekommen ist, ist legitimiert, ihre Politik zu
übernommen haben. Ich meine also, daß Ausdrücke betreiben. Im übrigen sucht diese Bundesregierung
wie „Finnlandisierung" für eine bestimmte Form vertragliche Regelungen in der Außenpolitik, und
der Neutralität oder „Titoisierung" für bestimmte solche vertraglichen Regelungen müssen nun einmal
Formen einer inneren Ordnung ebenso unberechtigte ratifiziert werden. In jedem Falle also wird unsere
wie auch taktlose Angriffe auf solche Länder und Politik sich diesem Parlament stellen und sich seiner
Völker sind, - Entscheidung unterwerfen müssen.
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist kein Angriff!)
Wer die gegenwärtige Diskussion in der Bundes-
die beide unsere Achtung verdienen. republik verfolgt, kann im übrigen nicht umhin, fest-
(Zustimmung bei der SPD.) zustellen, daß die Bundesregierung gerade in ihrer
Osteuropapolitik möglicherweise die Unterstützung
Einige von ihnen haben politisch, andere haben ge-
der Bevölkerung in einem stärkeren Maße hat, als
sellschaftlich einen mittleren Weg zwischen den
die zahlenmäßigen Majoritäten in diesem Parlament
Blöcken gesucht. Wir selbst wollen allerdings weder
es vermuten lassen.
das eine noch das andere, weder einen Weg der
Neutralität, der Neutralisierung noch einen mitt (Beifall bei den Regierungsparteien.)
2690 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundesminister Scheel
Um so mehr möchte ich betonen, daß wir für unsere Sie stellen doch permanent Fragen, auf die vorher
Initiativen eine breite Mehrheit suchen und auch schon an Sie Antwort gegeben worden ist.
dafür kämpfen werden. Es ist nicht unsere Absicht, (Beifall bei den Regierungsparteien.)
auf Gedeih und Verderb Vorstellungen ohne Rück-
sicht auf Mehrheiten durchzusetzen. Wenn wir eine Sie wollen doch der Offentlichkeit nicht vormachen,
Mehrheit in diesem Hause suchen, dann setzt das daß Sie die Fragen, die Sie stellen, deswegen
die Bereitschaft der Opposition voraus, eine solche stellen, weil Sie die Antwort nicht kennen oder weil
Politik der Kooperation mitzumachen. sie Ihnen verweigert worden ist,
(Zuruf von der CDU/CSU: Zu kennen!) (Beifall bei den Regierungsparteien)
sondern Sie stellen sie nur, weil Sie meinen, schon
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes- das Stellen dieser Fragen würde Ihren parteipoliti-
minister, eine Zwischenfrage des Herrn Abgeord- schen Zielen nützen.
neten Barzel? (Erneuter Beifall bei den Regierungs
parteien.)
Meine Damen und Herren, das ist zwar eine legi-
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Ja,
bitte! time Taktik des politischen Verhaltens; aber Sie dür-
fen doch nicht annehmen, daß wir das nicht erkennen
und nicht auch aussprechen.
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Bundesaußenmini- Ich s age noch einmal, der Wille zur Kooperation
ster, auf Grund dieser Passage gehe ich davon aus, ist da. Aber eines — um ,auf Ihre Frage zu kommen,
daß Sie das Risiko für die deutsche Politik sehen, Herr Dr. Barzel — geht natürlich nicht: etwa der
etwa einen Gewaltverzichtsvertrag zu paraphieren, Bundesregierung zu sagen, sie würde auf eine Mehr-
der dann hier keine Mehrheit findet, weil er nicht heit beim Ratifikationsverfahren über Verträge nur
vorher hier abgesichert ist. Ich wollte heute darauf dann rechnen können, wenn sie vorher von der
aufmerksam machen, daß dieses Risiko dann die Opposition grünes Licht für Verhandlungen bekom-
Bundesregierung zu verantworten hätte und nie- men .habe. Ich glaube, so darf ich das, was Sie in
mand anderes. Ihrer Frage ausdrücken wollten, nicht auslegen;
(Lachen bei der SPD.) denn dann müßte ich sagen: nein. Wir haben hier
ein parlamentarisches Verfahren. Das schreibt die
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Verfassung und das schreiben unsere Geschäfts-
Kollege Dr. Barzel, die Bundesregierung hat in der ordnungen vor, und wir halten uns daran. Darüber
Vergangenheit alles getan, um zu einem Höchstmaß hinaus tun wir ein Höchstmaß, um dem Parlament
an Kooperation nicht nur — Informationen zur Verfügung zu stellen. Aber wir
können unsere Verhandlungen in keinem Fall von
(Zurufe von der CDU: Nein! — Der Kanzler vorheriger Zustimmung abhängig machen.
nicht!)
— Mein Gott, wenn ich mir vorstelle, wie das früher Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes-
war, minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn
(Beifall bei den Regierungsparteien) Abgeordneten Barzel?
selbst bei Regierungen, denen ich selber angehört
habe. Wenn ich mir — Sie können das in den Dr. Barzel (CDU/CSU) : Im Hinblick auf Ihr An-
Protokollen einmal nachlesen — den Zeitaufwand gebot der Kooperation frage ich Sie, Herr Kollege
vorstelle, den der Außenminister gern für Diskus- Scheel: sind Sie bereit, mir heute schriftlich die
sionen außenpolitischer Fragen im Auswärtigen Unterlage zu geben, auf Grund deren das Kabinett
Ausschuß zur Verfügung stellt, und wenn Sie dem am Nachmittag entscheiden wird, und mich vorher
einmal den Zeitaufwand meiner Vorgänger gegen- anzuhören?
überstellen, den diese für den Auswärtigen Aus- (Unruhe bei den Regierungsparteien.)
schuß zur Verfügung gestellt haben, Das wäre Kooperation. Ich sage nicht, daß Sie be-
(Zurufe von der CDU/CSU) mücksichtigen müßten, was ich sage. Ich bitte darum,
mir das Papier zu geben und mich anzuhören, um
dann werden Sie zu einem unerhörten Mißverhält-
dann zu entscheiden. Das wäre Kooperation. Sind
nis kommen. Es gibt keine Bundesregierung, die sich Sie dazu bereit?
bemüht hätte, ein so hohes Maß an Information in
-
außenpolitischen Fragen dem ganzen Parlament zu
geben und darin insbesondere die Opposition ein- Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr
zuschließen. Kollege, ich glaube, die Definition von Koopera-
tion ist in diesem Hause nicht ganz einheitlich.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Die heutige Sitzung
ist doch der Gegenbeweis, Herr Scheel!) (Zurufe von der CDU/CSU: Das kann man
wohl sagen! — Beifall in der Mitte.)
— Hier hat der Kollege Apel soeben mit vollem Ihre Form der Kooperation — das wird jeder erken-
Recht darauf hingewiesen: nen — stellt Bedingungen, die eine Regierung
(Zuruf von der CDU: Wir wissen doch gegenüber einer Oppositionspartei nicht eingehen
nichts!) kann. Kooperation im Parlament heißt, daß über
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2691
Bundesminister Scheel
das notwendige Maß hinaus Information und Dis- Zweitens. Herr Dr. Barzel hat hier den Eindruck zu
kussion über Themen stattfinden, die normaler- erwecken versucht, als ob wir zwar die wirtschaft-
weise geheim sind. liche Zusammenarbeit nicht nur gefördert, sondern
auch einen gewissen Stand erreicht hätten, aber die
(Zuruf von 'der CDU/CSU: Vorher oder
politische Zusammenarbeit nicht wollten. Das wider-
nachher?)
spricht den Tatsachen zu 100 %; denn im Gegensatz
— Sie wollen doch wohl nicht sagen, daß Sie nicht zu manchen früheren Regierungen scheut sich diese
vorher informiert worden sind! Wir haben an kei- Regierung nicht, ganz offen auszusprechen, daß das
ner Stelle bisher einen Vertrag abgeschlossen, noch Ziel ihrer Europapolitik die politische Union ist. Das
haben wir begonnen, irgendwo Vertragsverhandlun- bekräftige ich hier noch einmal.
gen einzuleiten.
(Beifall bei den Regierungsparteien. —
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Abg. Dr. Barzel: In dieser Generation?)
Sie haben die Texte im einzelnen von mir mitgeteilt — Herr Dr. Barzel, ich komme gleich darauf zurück.
bekommen. Das ist ein völlig ungewöhnliches Ver-
fahren, das vorher niemals angewandt worden ist. Herr Dr. Barzel hat soeben aus einem vertrau-
Ichabemirngs,wBudekazlrA- lichen Papier etwas erwähnt.
nauer und seine Außenminister an vorheriger Infor- (Abg. Dr. Barzel: Nein, ich habe gefragt!
mation gegeben haben. Herr Apel hat daraus vorgelesen! — Zuruf
(Beifall bei den Regierungsparteien — Zu von der SPD: Sie haben es doch auch!)
ruf von der CDU/CSU: In Moskau war die — Gut, Sie haben bezüglich eines Ihnen zugegan-
Opposition dabei, in Frankreich auch!) genen vertraulichen Papiers etwas gefragt. Damit
Meine Damen und Herren, ich will das Gespräch wurde der Inhalt dieses Papiers der Offentlichkeit
über die Formen der Zusammenarbeit nicht fort- in diesem Umfang bekanntgemacht.
setzen. Ich verlasse mich darauf, daß ein gewisser (Abg. Stücklen: Herr Apel hat aus diesem
Stand, der sich entwickelt hat, fortgesetzt werden Papier vorgelesen!)
kann. Ich wollte hier nur darlegen, daß sich ein ge-
wisser Stand entwickelt hat. — Ja, Herr Kollege Stücklen. Aber er hat doch nur
aus diesem Papier vorgelesen,
Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu dem ma-
chen, was Herr Dr. Barzel heute morgen zur Europa- (Abg. Dr. Barzel: Lesen Sie doch das Ganze
politik gesagt hat. Auch er hat hier zum wiederhol vor, Herr Scheel!)
ten Male, und zwar unrichtigerweise, den Eindruck weil die Frage des Herrn Barzel den falschen Ein-
zu erwecken versucht, die Bundesregierung bremse druck erweckt hat, als ob in diesem Papier etwas
die westeuropäische Integration auf Kosten ost- stünde, was gegen die politische Einigung Europas
europäischer Initiativen oder weil die Osteuropa- gerichtet sein oder die politische Einigung Europas
politik ihr keine ausreichenden Initiativen im We- verzögern könnte. Das ist nicht der Fall. In diesem
sten lasse. Dies ist gänzlich falsch! Meine Damen Papier ist die Finalität unserer Europapolitik ganz
und Herren, die Bundesregierung hat in den weni- eindeutig klargestellt.
gen Monaten (Zuruf von der CDU/CSU: Es geht um die
(Abg. Dr. Barzel: Herr Scheel, ich habe vier Intensität, nicht um die Finalität!)
Argumente zur Begründung gegeben!)
— Ich komme ja auf die Intensität zu sprechen. Las-
— ja, ich komme darauf —, in denen sie die Verant- sen Sie mich das doch einmal erläutern. Ich werde
wortung hat, eine Strecke des Weges in der Europa- es Ihnen ja sagen, ohne daß ich aus dem Papier ver-
politik konkret mit beschlossen und in den meisten lese.
Fällen durch eigene Initiative angestoßen, wie sie in In diesem Papier ist etwas über den Rhythmus ge-
der Vergangenheit in Jahren nicht erreicht werden sagt, in dem man realistischerweiser eine politische
konnte. Einigung Europas erreichen kann, und über die Me-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern]: Aber in thoden, mit der man sie erreichen kann; denn wir
der Vergangenheit gab es doch andere sind doch gebrannte Kinder: In der Vergangenheit
Partner!) haben doch diejenigen, die ihren Idealen folgend
tatsächlich Utopien verlangt haben, die politische
— Sie geben damit also zu, daß wir Erfolge gehabt
Einigung Europas eher zum Scheitern gebracht als
haben. Sie wollen nur die Verantwortung für die
Erfolge anderen zubilligen. ihr geholfen.
-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist (Beifall bei den Regierungsparteien.)
nicht einmal Dialektik!) Wir gehen von den realistischen Möglichkeiten
aus. Deswegen wollen wir die politische Zusammen-
— Herr Kollege Marx, da habe ich gar keinen Ehr- arbeit beginnen mit Konsultationen, mit einem Mini-
geiz. Ich beschränke mich darauf, daß diese Regie- mum an Institutionen, gegen die nun einige unserer
rung in der Europapolitik de facto Erfolge nach- Partner partout etwas haben, zumindest am Anfang
weisen kann wie keine vorher im gleichen Zeitraum. der politischen Zusammenarbeit. Ich sehe gar nicht
(Beifall bei den Regierungsparteien. ein, daß wir um der verbalen Erläuterungen willen
Widerspruch bei der CDU/CSU.) eine Form fordern sollten, die dem Ziel nicht dient,
2692 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundesminister Scheel
sondern das Ziel blockieren würde. Das ist die Reali- Lassen Sie mich dann auf das eingehen, was der
stik, die wir in die Politik eingeführt haben. Herr Außenminister hier soeben erklärt hat. Er hat
(Beifall bei den Regierungsparteien.) einiges ,gesagt, was festgehalten werden muß; z. B.
daß nichts in diesem Vertrag mit Moskau stehen
Mir hat daran gelegen, das noch einmal zu be-
darf, was die 'deutsche Option behindert. Wir wer-
kräftigen; denn es gibt keine Phase der Westeuropa- den Sie, Herr Außenminister an diese Worte erin-
politik, .die auch so aussichtsreich wäre wie die nern.
Phase, in , der wir uns befinden. In dieser Phase muß (Abg. Dr. 'Barzel: In ,diesem Vertrag!)
man die. Bemühungen der Bundesregierung stärken,
nicht aber so tun, als ob die Weltöffentlichkeit ihren Sie haben (zweitens, Herr Außenminister, ein
Bemühungen mißtraute. Wort gesagt in Zurückweisung dessen, was Herr
Stoph zu Westberlin geäußert hat, und Sie haben
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Herrn Stoph mit Recht des Annexionismus beschul-
Das nützt uns in dieser Phase nichts. Ich hatte er- digt. Aber, Herr Außenminister, ich möchte Sie in
wartet, daß ich gerade auf diesem Felde, wo ich mich diesem Zusammenhang darauf :hinweisen, daß die
mit der Opposition einig zu sein glaubte, von der ,die Formel zu akzep- Sowjetunivsrlag,
Opposition Unterstützung bekommen würde. tieren, daß wir, die Bundesregierung, die Bundes-
Die Außenpolitik der Bundesregierung ist weder republik, keine Gebietsansprüche hätten. Das, was
kleinkariert noch kurzatmig. Sie ist ein in sich ge- die Sowjetunion hiermit :sagt, ist nicht mehr und
schlossenes Konzept. Sie ist nicht kurzatmig; das nicht weniger, ,als daß wir unsere Bindungen zu
verkennen zumeist ihre Kritiker. Es geht uns auch Berlin lösen sollten; denn sie versteht unter dieser
nicht um verbale Erfolge, Herr Dr. Barzel, die man Formel deren „Gebietsansprüche" unsere Bindun-
etwa möglichst schnell und gut einer erwartungsvoll gen zu Diese, sagt sie, seien widerrecht-
gespannten Öffentlichkeit verkaufen kann. Es geht liche .Ansprüche; und ich frage Sie, Herr Außen-
uns um ein beständiges Friedenswerk für Europa, für minister, ob Sie es zulassen werden, daß eine solche
das man eine ungeheure Geduld, einen sehr langen Formel, ohne (daß die Sowjetunion für alle erkenn-
Atem und ein hohes Maß an Gelassenheit benötigt. bar und verbindlich sagt, daß die bisherige Aus-
legung, .die sie dieser Formel gegeben hat, nicht
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut!) mehr gültig sei, in den Vertrag aufgenommen wird.
Wir haben dabei von vornherein mehr und schlim- Ein dritter Punkt. Herr Außenminister, Sie haben
mere Rückschläge .einkalkuliert, als wir bisher ein- gesagt, Berlin werde natürlich in ,die Verhandlun
stecken mußten. Wir verstehen, daß eine aktuell gen in Moskau eingeschlossen sein. Sie haben dann
interessierte Öffentlichkeit teilweise nervös jeden aber erklärt, es gebe keine zeitliche Priorität der
einzelnen Schritt 'dieser ,Politik aufmerksam und Berlin-Verhandlungen für Vereinbarungen mit Mos-
kritisch verfolgt. Wir können und werden uns da- kau. Herr Außenminister, ich antworte Ihnen, daß
durch aber nicht aus der Ruhe bringen lassen und es hier der Natur der ,Sache nach nur dann eine
unsere langfristig und weiträumig angelegte Politik Sachpriorität für Berlin geben kann, wenn es auch
nicht an kurzlebigen Zwischenergebnissen messen. eine zeitliche Priorität gibt.
Wir sind auch nicht zu 'kurzfristigen Erfolgen ver-
urteilt, meine Damen und Herren. Dafür steht viel (Beifall bei .der CDU/CSU.)
zuviel .auf dem Spiel. Denn sonst, Herr Minister, wären in Moskau prä-
Wir werden die Chancen einer langfristigen Si- judizielle Entscheidungen gefallen, von denen Sie
cherheit ides Friedens hier im dicht besiedelten schwerlich wieder herunterkommen werden.
Europa, durch das die Frontlinie ,der weltweiten Ein Viertes. Herr Außenminister, Sie haben ge-
politischen und gesellschaftlichen Auseinanderset- sagt — und darüber war ich in der Tat sehr er-
zung mitten hindurch geht, ,allerdings bis zum letz- staunt —, die Sowjetunion wolle vollenden, was
ten Millimeter ausloten. Würden wir dabei durch seinerzeit Adenauer und Bulganin mit der Auf-
Rechthaberei, ,durch einfache Denkschablonen oder nahme diplomatischer Beziehungen begonnen ha-
durch oberflächliche Formalismen gehemmt, so 'wür- ben. Sie haben erklärt, die Sowjetunion habe also
den ,wir der Verantwortung nicht gerecht, ,die uns zu die Absicht, die „Normalisierung" der Beziehungen
dieser Zeit und an dieser Stelle aufgetragen ist. zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik
(Beifall bei den Regierungsparteien.) zu erreichen. Herr Außenminister, was meinen Sie
damit? Wissen Sie denn nicht, was die Sowjet-
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der union unter Normalisierung versteht? Genau das,
Abgeordnete Freiherr von und zu 'Guttenberg. Es was Breschnew, wie Herr Barzel heute zitiert hat,
sind 30 Minuten Redezeit beantragt. - in Prag gesagt hat: die Unterwerfung der Bundes-
republik unter .den sowjetischen Machtwillen. Dies
wäre die Normalisierung á la Breschnew.
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen (Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie Umich bitte zunächst eine kurze Bemerkung zu den Fünftens. Herr Außenminister, ich habe mit ge-
die die beiden Herren Fraktions- Rednmach, spitzten Ohren gewartet, daß Sie, der Außenmini-
sprecher der Regierungskaalition gehalten haben. ster und Vorsitzende der Koalitionspartei FDP, die
Ich sage nur dies: mir scheint, daß beide Reden .dem Frage des Herrn Barzel beantworten würden, ab
Ernst der Sache nicht angemessen waren. Sie damit einverstanden waren oder heute einver
(Beifall bei der CDU/CSU.) standen sind, ,daß der Bundeskanzler in Kassel die
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2693
Freiherr von und zu Guttenberg
völkerrechtliche Anerkennung der DDR als nicht ßen Koalition nicht mehr? Wenn nein, frage ich, was
mehr ausgeschlossen bezeichnet hat. Sie haben dazu sich geändert hat? Etwa nur die des raschen Wech-
nichts gesagt. Ihr Schweigen mag beredt sein. sels fähige Meinung der Bundesregierung oder auch
die der Sowjetregierung?
(Abg. Dr. Barzel: Qui tacet, consentire
videtur!) Ich sage hier — und ich weiß, was ich sage —:
eine reine Hervorhebung des Art. 2 der UN-Charta
Sechstens. Sie haben viel zu Europa gesagt, und
im bilateralen Verhältnis zwischen Sowjetunion und
ich bestätige, daß ich Sie, Herr Außenminister, als
Bundesrepublik ist ungenügend,
jemanden ansehe, der in der Tat mit dem Herzen
Europapolitik macht. Aber, Herr Außenminister, ich (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)
weiß nicht, ob Sie das wissen: es gibt ein Papier der solange die Sowjetunion nicht expressis verbis dar-
deutschen Sozialdemokratischen Partei, auf verzichtet, unsere friedlichen Bemühungen um
(Abg. Dr. Barzel: Aha!) Wiedervereinigung in Freiheit als — ich zitiere die
UN-Charta — „Erneuerung aggressiver Politik" zu
welches auf Anforderung anderer europäischer So-
bezeichnen und dann aus Art. 53 ihren Gewaltvor-
zialisten Antworten auf einen Katalog. zu Europa-
behalt zu folgern. Wir benötigen, Herr Bundeskanz-
fragen enthält. Darin hat Ihre Partei, Herr
ler, in dieser nur scheinbar juristischen, in Wirklich-
Bundeskanzler, Antworten auf diese Fragen gege-
keit hochpolitischen und für die Zukunft weittragen-
ben, Antworten, 'die z. B. sinngemäß sagen, Haag
den Frage eine klare Antwort der Bundesregierung.
sei deshalb so sehr zu begrüßen, weil man dort
nicht utopischen Vorstellungen gehuldigt, sondern Meine Damen und Herren, die Opposition hatte
Realismus betrieben habe und weil man dafür ge- nur einen einzigen Grund für ihre Große Anfrage,
sorgt habe, 'daß der wirtschaftlichen Integration über die wir heute hier debattieren, nämlich die
lediglich politische Kooperation zugesellt werden tiefe Sorge, wohin die Reise führen soll, die die
solle. Bundesregierung nach Osten angetreten hat.
(Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, ich glaube, Sie wissen auch,
Man hat uns andere, nämlich 'billige parteipolitische
daß es ,andere europäische sozialistische Parteien
oder personale Motive unterstellt. So hat heute Herr
gibt, die über dieses Papier der deutschen Sozial-
Apel hier gesagt, es sei nicht die Sache, es seien
demokraten keineswegs erfreut waren. Anders ge-
Personalprobleme, die die CDU zu dieser Großen
sagt, Ihre Partei wäre in guter sozialdemokratischer Anfrage veranlaßt hätten.
Gesellschaft, wenn sie ein wenig mehr — entschul
digen Sie — europäischen Mumm beweisen würde. (Abg. Rasner: Dummes Zeug!)
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der Herr Apel, ich sage hier für mich: dies ist eine Krän
SPD: Zerbrechen Sie sich doch nicht den kung der führenden Männer der CDU/CSU.
Kopf über uns! — Abg. Rasner: Schade, (Beifall bei der CDU/CSU.)
daß Mommer nicht mehr da ist!)
Für uns sind die Dinge unserer Nation keine Partei-
Herr Außenminister, Sie haben eine letzte Frage politik, sondern Sache des Gewissens. Das nehmen
in Ihren Ausführungen nicht beantwortet, von der Sie bitte zur Kenntnis!
ich gehofft habe, Sie wären näher darauf eingegan-
gen. Es ist .das, was ,der Fraktionsvorsitzende der (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zu
CDU/CSU zum Problem des sowjetischen Gewalt- rufe von der SPD.)
vorbehalts im Rahmen eines Gewaltverzichts-Ver- Meine Damen und Herren! Ein Minister der SPD
trags gesagt hat. Herr Außenminister, kann die Bun- sagte mir vor kurzem etwa wörtlich: „Ihr — CDU/
desregierung auf Grund der bisherigen Sondierun- CSU — macht das falsch, wenn ihr Wähler gewin-
gen und Textentwürfe dem deutschen Volk wirklich nen wollt, dann dürft ihr euch nicht auf die Außen-
guten Gewissens verkünden, auch die Sowjetunion politik stürzen, dann müßt ihr Finanz- und Wirt-
verzichte auf Gewalt? Kann sie das? Kann sie ver- schaftspolitik machen."
künden, daß der bisherige Gewaltvorbehalt gegen
(Zuruf von der SPD: Können!)
die Bundesrepublik, d. h. die rechtswidrige sowje-
tische Auslegung der Art. 53 und 107 der UN-Sat- Dieser Mann merkte noch nicht einmal, meine Da-
zung, eindeutig ausgeräumt ist? Können Sie das? men und Herren, daß er uns damit unfreiwillig sel-
Oder ist es nicht vielmehr so, daß auch in dieser ber bestätigt hat, daß es uns also um diese Sache
Frage leider Schein und Mehrdeutigkeit herrschen? geht, wenn wir nicht nachlassen, die Regierung auf
diesem Felde zu bedrängen.
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Feigenblätter!) -
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Ist es nicht so, daß die Sowjetregierung in Wirklich-
keit doch an ihrer Rechtsauffassung und politischen Auch wir kennen die Meinungsumfragen, Herr
Begründung festhält, die sie uns in den Jahren 1967 Außenminister. Dennoch sagen wir hier unsere Mei-
und 1968 von sich aus in aller Form schriftlich über- nung. Ist dies nicht der beste Beweis dafür, daß wir
mittelt hat? die Dinge, die Sache meinen und nichts anderes?
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
Gilt die politische Qualifikation der rechtswidrigen Ich will die Sache, die hier auf dem Spiele steht,
sowjetischen Thesen durch die Regierung der Gro um deretwillen wir schwerste, sage ich, Sorge haben,
2694 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Mattick
sind durch die Moskauer Verhandlungsergeb- gang erinnert, daß es jetzt keine Parallele dazu
nisse eher verstärkt als abgeschwächt worden. gibt. Das Angebot lag nämlich auf dem Tisch, als
Und er kommt zu dem Schluß: die Opposition davon überhaupt noch nichts in
einem Vorgespräch erfahren hatte. Diese Politik be-
Wir werden uns auch noch sehr ernsthaft unter- treibt unsere Bundesregierung heute nicht, sondern
halten müssen über das Verhältnis zwischen sie informiert die Opposition über ihre einzelnen
Bonn und Pankow. Die Aufnahme diplomati- Schritte.
scher Beziehungen mit einer Regierung, die
Pankow als deutsche Regierung für die sowje- In diesem Lichte halte ich mir vor Augen, was
tisch besetzte Zone anerkannt hat, ist eine Stär- sich in den letzten Tagen zugetragen hat und was
kung der Position von Pankow. sich vielleicht am 30. Mai in dieser Stadt noch zu-
sätzlich zutragen wird. Ich spreche von der Unter-
Das ist eine Feststellung, die man sich heute noch richtung, die die Opposition erhält und die sie ja
einmal in Erinnerung rufen sollte. Man sollte das auch bestimmten Persönlichkeiten, die in ihrer Par-
ganze Protokoll noch einmal nachlesen. tei eine Rolle spielen, weiterzuvermitteln in der
(Abg. Strauß: Darum die Stellung Pankows Lage ist.
weiter stärken?)
In einem „Interview der Woche" hat Herr Czaja
— Nein, verehrter Herr Strauß. Jetzt machen Sie einige Äußerungen gemacht, zu denen ich zunächst
wieder einen Denkfehler. Sie unterlassen es nämlich, ein paar allgemeine Bemerkungen machen möchte.
zu überprüfen, was sich in den letzten fünfzehn Wir befinden uns im Augenblick in einer Situation,
Jahren auf Grund dieser Entwicklung abgespielt hat. in der einige Teile oder einige Persönlichkeiten der
In der Präambel der Antwort auf Ihre Große Anfrage Opposition • völlig darauf verzichten, die Informa-
sagt die Bundesregierung mit Recht: tionen, die sie hier im Hause und im Auswärtigen
Die Bundesregierung hat nach Übernahme der Ausschuß erhalten, zu benutzen und in Rechnung
RegirundTfstaSplungGe- zu stellen bei dem, was sie polemisch gegen diese
genwart feststellen müssen. Regierung sagen. Den Vorwurf mache ich Herrn
Becher, den mache ich Herrn Czaja. Ich erinnere an
Jetzt die Dinge so hinzuschieben, als wenn unsere die Reden, die in den letzten Wochen gehalten wor-
Politik etwas an der Spaltung vertiefte, das ist mei-
den sind.
ner Ansicht nach nur der Versuch, abzuweichen von (Abg. Dr. Czaja: Belegen!)
dem, was wir an Gemeinsamem zu tragen haben,
soweit es hier in den letzten Jahren als Politik ent- Ich erinnere an das, was Herr Czaja in dem Inter-
wickelt worden 'ist. view sagt — das ist noch das solideste Zitat, weil
(Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Die sozial- ich mich auf Polemik nicht einlassen möchte —:
demokratische Politik der siebziger Jahre So stehen wir sieben Jahre nach Adenauers
scheint im wesentlichen Vergangenheitsbe Rücktritt bei einem ohne jede politische und
wältigung zu sein!) geschichtliche Notwendigkeit in hektischer Eile
Bevor also die CDU zu ihren Überlegungen über betriebenen entschiedenen Wandel der deut-
die heutige Politik kommt, sollte sie mit sich selber schen Politik immer mehr vor dem Verlust
einmal ins Gericht gehen und sich die Frage vorle- dessen, was unter Adenauer gewonnen wurde.
gen, die Herr von Guttenberg soeben mit Recht in Im Lichte dessen, was ich soeben über die Aufnahme
bezug auf Helmut Schmidt zitiert hat. Was nämlich diplomatischer Beziehungen und über die Schluß-
seit 25 Jahren vor sich gegangen ist, wovon wir folgerungen gesagt habe, müßten Sie einmal dar-
und Sie keine Notiz genommen haben, ist nun als stellen, verehrter Herr Czaja, was Sie darunter ver-
Realität unvermeidbar, vor der wir nun stehen, näm- stehen,
lich der tiefste Stand der deutschen Spaltung, der er- (Abg. Dr. Czaja: Lesen Sie weiter!)
reicht werden konnte. Insofern bin ich der Meinung,
daß die Schritte der Regierung die einzigen mög- wenn Sie sagen: „Was unter Adenauer gewonnen
lichen Bemühungen sind, aus diesem Tiefstand her- wurde." Wir sind unter Adenauer und unter den
auszukommen. folgenden Regierungen in der Frage der deutschen
Politik nicht einen einzigen Schritt weitergekom-
Hier ist mehrmals die Frage angeschnitten wor- men, sondern wir befinden uns, wie es die Regierung
den, wieweit die Bundesregierung bereit ist, die mit Recht sagt, im Tiefstand der deutschen Spal-
CDU und die Öffentlichkeit zu informieren. Ich tung.
möchte zuerst einmal mit einer Gegenfrage- antwor-
ten. Wir haben in dieser Beziehung — ich habe Um mit dieser Polemik zum Schluß zu kommen:
schon darauf hingewiesen — eine informationsfreu- ich habe das „Deutschlandmagazin" vor mir. Da gibt
dige Regierung, die in keiner Weise von anderen es eine Bilderreihe mit der Unterschrift:
Regierungen der Vergangenheit ausgestochen wer- Wie sich die Bilder gleichen. 1938: Chamberlain
den kann. Das wissen die Führungskräfte der CDU kapituliert vor Hitler. Folge: Verhärtung der
wie wir auch. Aber ich darf einmal daran erinnern, Diktatur und Krieg.
wann denn die SPD-Opposition davon erfahren hat,
— Das Bild mit Chamberlain und Hitler. —
daß der damalige Bundeskanzler Adenauer die Ver-
teidigungsbereitschaft der Bundesrepublik angebo- 1970: Brandt bei Stoph. Was werden diesmal die
ten hatte. Jeder weiß hier, wenn er sich an den Vor- Folgen sein?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2701
Mattick
Meine Damen und Herren, das ist die Auseinander- Nun hat Herr von Guttenberg die Regierung
setzung unter der Gürtellinie, die nichts mehr mit einiges gefragt, was meiner Ansicht nach alles das,
einer Außenpolitik zu tun hat, um die wir hier was in den 20 Punkten steht, beiseite schiebt und
gemeinsam ringen, sondern nur noch mit dem, der Regierung quasi eine Politik unterstellt, die
was ich einleitend gesagt habe, mit der Absicht, weder in den 20 Punkten gemeint ist noch in den
alles, was diese Regierung tut, an den Rand der persönlichen Äußerungen des Bundeskanzlers zum
Diffamierung heranzubringen, um über sachliche Ausdruck kommt. Denn die Antwort auf die Große
Probleme in diesem Zusammenhang nicht mehr Anfrage, die die Bundesregierung gegeben hat,
reden zu können oder reden zu wollen. stellt eindeutige Positionen fest, die in den 20 Punk-
ten ihre Wiederholung finden. In keinem der 20
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Punkte wird an den Antworten gerüttelt, die die
Kiep: Herr Mattick, Herr Chamberlain war Bundesregierung auf die Große Anfrage gegeben
ein ganz ehrenwerter Mann!) hat. Ich würde doch die nächsten Redner der CDU
bitten, von dieser Position auszugehen und hier
Ich möchte ein paar Bemerkungen machen, meine nicht Pressemitteilungen, Kalkulationen, Spekulatio-
Damen und Herren, zu der Auseinandersetzung, die nen, Vermutungen zu debattieren, nachdem so klare
hier vor mir eingeleitet worden ist. Ich habe mir Antworten der Bundesregierung da sind. Dann
— und Sie sicher alle — die 20 Punkte der Bundes- wollen wir in die Punkte gehen. Das ist vielleicht
regierung sehr genau angesehen. Ich erinnere an nötig. Vielleicht sind einige Punkte dabei, zu denen
die Diskussion, die wir hier vor einigen Wochen Sie etwas zu sagen haben. Dann werden wir unsere
hatten. Damals wurde die Frage gestellt: Was hat Antwort darauf geben. Das halte ich für eine klare
die Bundesregierung vor? Wir haben damals gesagt sachliche Diskussion, in der Punkte geklärt werden
— ich selbst habe es so gesagt —: wir gehen darauf können. Hier aber nicht von dem auszugehen, was
aus, daß in der Frage der deutschen Politik die die Regierung dem kleinen Kreis der CDU-Führung
Bundesregierung bereit ist, eine Kompromißformel mitgeteilt hat, nicht von dem, was in der Antwort
zu finden. Ich selbst habe hier gesagt und wieder- auf die Große Anfrage steht, sondern mit Vermu-
hole das: in dieser Kompromißformel kann sich tungen und Spekulationen den Versuch zu machen,
die Bundesregierung auf Grund ihrer eigenen Posi- falsche Nachrichten aus dem Hause in die Öffent-
tion und auf Grund ihrer westlichen Rückendeckung lichkeit zu bringen, das ist eine Politik, meine
ein Entgegenkommen gegenüber der DDR-Regie- Damen und Herren, die auch die CDU — wenn sie
rung über die Hälfte, über 50%, erlauben. Ich bin es zu Ende denkt — nicht in allem Ernst verant-
der Meinung, daß die 20 Punkte sich genau in worten kann. Wir Sozialdemokraten wissen jeden-
diesem Rahmen halten. Wer sich das Verhalten der falls, daß die Bundesregierung mit diesen 20 Punk-
DDR-Führung in Kassel vor Augen hält und einmal ten nach Erfurt eine neue Situation geschaffen hat,
überprüft, was Erfurt für die DDR-Regierung be- die auch über Kassel hinaus — —
deutet hat, der konnte an sich von dieser Kasseler
Begegnung nicht mehr erwarten, (Lachen des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße].)
(Zuruf von der CDU/CSU: Also nichts?) — Ja allerdings! Ihre Einschätzung ist wahrschein-
lich eine andere als meine, allerdings unter der Vor-
als dies, Kenntnis zu nehmen und die weitere Ent- aussetzung — die Ihre Redner bis heute hier zur
wicklung laufen zu lassen. Kassel ist ein Stück des Kenntnis gegeben haben —,
Weges — von Erfurt über Kassel — zu einem Zu-
(Zuruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße])
stand — den man als ganzes Paket sehen muß — ,
in dem die Regierung der DDR in einer bestimmten daß Sie dieser Regierung das Mißtrauen nachsagen.
Entwicklungsphase über Erfurt und Kassel wird
hinausgehen müssen, weil eine internationale Politik Hier bin ich bei dem nächsten Punkt. Meine
das verlangt, weil das auch Interessen verlangen, Damen und Herren, wie lange wollen Sie denn die-
die innerhalb des Ostblocks eine Rolle spielen, die ses Spiel noch treiben, an dem, was die Regierung
aber im Augenblick von der DDR-Regierung nicht sagt, vorbeizugehen und Unterstellungen zu ent-
ausreichend berücksichtigt werden. Dies wird, wickeln, die Diffamierungen gleich sind und damit
glaube ich, jeder begreifen, wenn er sich einmal doch nur eines erreichen: im deutschen Volke Zwei-
vor Augen hält, wie die Verhandlungen an den ein- fel an der demokratischen Redlichkeit zu wecken,
zelnen Orten des Ostblocks zur Zeit laufen, ohne draußen bei den Menschen den Eindruck zu er-
daß die Regierung heute in der Lage ist, hier den wecken: hier sagt keiner die Wahrheit, und der
Verhandlungsstand darzulegen. Jeder weiß, daß be- Regierung etwas zu unterstellen, was nicht stimmt,
bestimmte Interessenunterschiede bei den Gesprä- und damit auch in dieser Frage in der öffentlichen
chen sichtbar werden und daß es am Ende für die Meinung Zweifel auszulösen, ob diese parlamen-
Führung des Ostblocks doch notwendig sein wird, tarische Demokratie korrekt ist und die Wahrheit
Gemeinsamkeiten zu entwickeln, bei denen die sagt, den Menschen sagt, was sie denkt und tut? Das
Position der DDR-Regierung, wie sie in Erfurt deut- ist der Versuch. Das ist sicher ein Stück Wahlkampf
lich geworden ist, meiner Auffassung nach sicher — ich würde sagen: ein schmieriger Wahlkampf —,
nicht mehr haltbar sein wird. Es wird jedenfalls die wenn man diese außenpolitischen schwierigen Pro-
Aufgabe der Bundesregierung sein, so zu verhan- bleme benutzt, um Irritierungen nach draußen zu
deln, daß eine solche Entwicklung dabei heraus- tragen, wobei Sie, die Sie hier reden, doch wissen,
kommt. daß es in Wirklichkeit anders ist.
2702 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Mattick
Nun lassen Sie mich noch ein paar Bemerkungen bei Themen, die die deutsche Frage berühren, und
zu der Lage machen, bei der Herr von Guttenberg gegenüber dem man den Versuch machen muß, aus
meiner Ansicht nach von völlig falschen Voraus- der Spanungssituation in eine Entwicklung hinein-
setzungen ausgeht! Wissen Sie, wenn ich mir so zukommen — darum Gewaltverzichtsverträge —, in
überlege, was Herr Dr. Barzel und Herr von Gut- der auch unter dem Dach der Sowjetunion Locke-
tenberg zu diesem Thema gesagt haben, muß ich rungen möglich sind, Beziehungen möglich sind, die
sagen: Über alledem steht eigentlich „zu spät". Es heute im Grunde genommen mehr oder weniger
sind Debatten, die durch die Entwicklung der letzten blockiert sind.
15 Jahre praktisch überholt sind, Debatten, die sich
Das ist die Politik, die hier versucht wird und die
in einer theoretischen Vorstellung bewegen, die in
meiner Ansicht nach vielleicht können Sie sich
der Praxis gar nicht mehr da ist, weil die internatio- in den nächsten Wochen einmal in der Beurteilung
nale Lage anders aussieht als die Ausgangsposi- dieser Frage neu orientieren — auch schon einige
tion, die Sie hier voraussetzen. Erfolge gezeigt hat, zuerst atmosphärische Erfolge,
Sehen Sie, der Angriff, der hier gegen die Sowjet- kleine Erfolge. Aber diese Politik stellt die einzige
union geführt worden ist, geht doch von einer ent- Möglichkeit dar, in einer solchen internationalen
scheidenden falschen Voraussetzung aus. Bei der politischen Lage wie der, in der wir uns jetzt be-
Sowjetunion handelt es sich, wie Sie wissen, um finden, aus der Stagnation und aus dem Tiefstand
eine Großmacht, um eine der vier alliierten Mächte, herauszukommen, in dem sich die deutsche Frage in
und nicht die Bundesrepublik oder ihre Regierung den letzten Jahren befand.
wird darüber entscheiden, welche internationale Unter diesem Gesichtspunkt begrüße ich die Be-
Position diese Sowjetunion hat, sondern ihre eigene mühungen der deutschen Bundesregierung, Schritt
Machtposition in dieser Weltpolitik und die Tat- für Schritt Wege freizumachen, Wege — so würde
sache, daß alle mit uns verbündeten und befreun-
ich beinahe sagen — aufzuschütten, um eventuell
deten Mächte in der Sowjetunion einen Partner für
in jeder einzelnen Frage der deutschen Politik gen
Verhandlungen auf verschiedensten Ebenen sehen
Osten einen Schritt weiterzukommen, dies vielleicht
und eben nicht das gelten lassen, was Herr von auch in dem Sinne, daß eines Tages im Anschluß
Guttenberg hier über die Sowjetunion gesagt hat. an Kassel neue Begegnungen möglich werden, die
Und wir als Deutsche sollen nun eine eigene Posi-
Kompromisse beider Seiten ermöglichen und die die
tion beziehen, die völlig abseits von dem steht, deutsche Lage und die Lage der Menschen drüben
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Aber natürlich!) etwas verbessern.
was unsere internationalen Freunde von uns er- Insofern sollten Sie, meine Damen und Herren,
warten, was sie selber tun und was dazu beitragen glaube ich, einmal überprüfen, ob Sie nicht dann,
kann, daß sich die Verhältnisse ändern? wenn Sie all das, was z. B. Herr von Guttenberg
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Amerika ist nicht hier zur Bundespolitik gesagt hat, abstreifen und
geteilt, Frankreich ist nicht geteilt, Groß sehen, was diese Bundesregierung in Wirklichkeit
britannien ist nicht geteilt!) tut, wenn Sie sich die 20 Punkte vor Augen halten
und wir über diese debattieren angesichts der Tat-
— Das hat doch damit nichts zu tun! Amerika ist
sache, daß Sie keine Alternative haben und hier
unser Verbündeter, ist eine Schutzmacht unseres
keine Alternative zu dieser Politik aufzeigen konn-
Landes. Und Sie erwarten von uns, daß wir im
ten, zu der Einsicht kommen werden, daß dies die
Gegensatz zu den amerikanischen weltpolitischen
einzige Möglichkeit einer deutschen Politik in einer
Interessen eine Frontstellung gegen die Sowjet-
Phase ist, in der ein Sprung über den Schatten noch
union einnehmen — wenn ich Herrn von Guttenberg
nicht möglich ist.
hier richtig verstehe —, die politisch-überhaupt nicht
vertretbar ist. Als letzte Position hat Herr von Guttenberg die
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Die Amerikaner moralische Widerstandskraft angesprochen, die Po-
haben uns bis zu dieser Stunde darin unter sition für die Freiheit für )alle. Dazu möchte ich
stützt!) noch folgendes sagen. Die moralische Widerstands-
kraft des deutschen Volkes wird in dem Ausmaß
Unsere Interessen sind die folgenden. Die deut- bestehenbleiben, in ,dem die Menschen in unserem
sche Spaltung ist nicht aufhebbar durch eine Politik Lande erkennen und begreifen, daß die jeweils
der Stagnation und nicht aufhebbar oder veränder- führenden Kräfte in diesem Lande alle denkbaren
bar durch eine Frontstellung gegen die sowjetische Bemühungen unternehmen, um 'Deutschland aus
Politik. Das hat sich, glaube ich, in den vergangenen dieser Lage herauszubringen, in der es sich heute
Jahren deutlich gezeigt. Unsere innenpolitische
- und in bezug auf die Spaltung und den Ost-West-Kon-
parteipolitische Haltung, unser Verhältnis zur kom- flikt befindet. Darin wird die moralische Position
munistischen Position wird dadurch, welche inter- der Bevölkerung liegen.
nationale Position wir gegenüber der Sowjetunion
und ihren Verbündeten beziehen, überhaupt nicht Wir alle haben es nicht verhindern können, daß
berührt. in den letzten Jahren insbesondere in der jungen
Generation, aber auch in der ganzen Bevölkerung
Diese Lage, in der wir uns heute befinden, zwingt der Glaube an die deutsche Einheit, die Hoffnung
uns, wenn wir weiterkommen wollen, dazu, in der auf eine Veränderung immer schwächer wurden.
Sowjetunion einen Verhandlungspartner zu sehen, Das lag doch nicht nur daran, daß die Zeit darüber
gegenüber dem man Kompromisse finden muß, auch hinweggegangen ist. Das lag auch daran, daß nichts
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2703
Mattick
geschehen ist, was in den Menschen das Gefühl Ich bin in der letzten Zeit sehr viel im Ausland
auslöste, .daß auch die Politik, daß die Kräfte, die gewesen. Ich erinnere mich an eine Unterredung mit
die Politik zu verantworten haben, daran rühren, einem englischen Freund, der mir die Frage stellte:
daran rütteln — das Suchen nach Wegen —, um Sagen Sie mal, sind denn nun eigentlich die Deut-
die Überwindung zustande zu bringen, um diesen schen ein unpolitisches Volk und wollen sie es immer
Zustand zu beenden. bleiben? — Ich fragte ihn, was er damit meine. Dar-
auf sagte er wörtlich zu mir: „Wir Engländer haben
Die Resignation, die wir in der Bevölkerung ha-
manchmal den Eindruck, daß Sie sich am guten Recht
ben, ist nicht die moralische Kraft, die Herr von
und an ideologischen Positionen festbeißen. Eine
Guttenberg heraufbeschwören wollte. Die Kraft
Ihrer nationalen Figuren scheint mir Michael Kohl-
wird sich steigern lassen. Sie »wird möglicher wer-
haas zu sein. Sie treiben oft keine Politik, Sie treiben
den, wenn die Bevölkerung sieht, daß die regie-
Urpolitik."
renden Kräften in diesem Lande ihre Anstrengun-
gen verstärken, mit der 'Rückendeckung des Meine Damen und Herren, an dieses Wort muß
Westens auch gen Osten Politik zu betreiben. Was ich heute wieder einmal denken. Sehen wir denn
wir hier begonnen haben, ist Politik gen Osten mit nicht, daß die Dinge in der Welt und in Europa in
dem Bemühen, Schranken abzubauen, schrittweise Bewegung geraten sind, und ergibt sich daraus nicht
die Voraussetzungen zu schaffen, die für ein Ne- die logische Folge, daß auch wir jetzt endlich unseren
beneinander geschaffen werden können. So sollten Beitrag leisten müssen und uns nicht immer querstei-
Sie diese Politik sehen. len können gegenüber dem, was andere im Verhält-
In bezug auf Europa ist hier genug gesagt wor- nis zu sich selbst und zu ihren Nachbarvölkern an-
den. Ich halte es effektiv für eine Verleumdung, streben, daß wir also aufgerufen sind, dort tätig zu
wenn die CDU-Opposition behauptet, daß diese Re- werden, wo wir tätig werden können? Wir sind ein
gierung bei ihrer Ostpolitik Europa vergißt. Umge- wirtschaftlich mächtiges Volk. Aber außenpolitisch
kehrt! Am Anfang stand das, was Sie Europa nen- können wir nicht einmal die Politik Luxemburgs
nen. Mit der Rückendeckung Europas wird die beeinflussen. Wir können, wir müssen jedoch dort
Ostpolitik möglich. Mit der Rückendeckung Europas arbeiten, wo wir als Deutsche miteinander sprechen.
und der Politik, die die Bundesregierung in dieser Das haben wir bisher nicht getan, und das versuchen
Richtung betreibt, wird es auch allmählich im Osten wir jetzt.
bei ,dem Partner, mit dem wir es dort zu tun haben, Herr Kollege Barzel sprach davon, daß die Schwie-
Einsichten geben, die es möglich machen, das, was rigkeiten, die von der DDR gemacht würden, offen-
jetzt begonnen ist, schrittweise zu einer Verbesse- bar unüberwindlich seien. Er sollte aber doch bitte
rung der Position zu führen. daran denken, daß wir unseren Hebel nicht nur in
(Beifall 'bei den Regierungsparteien.) Ostberlin angesetzt, sondern daß wir, weil die
deutsche Frage ein Bestandteil der europäischen Ent-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -
wicklung ist, vier Ansätze gemacht haben: den einen
Das Wort hat der Abgeordnete Borm.
in Moskau, den anderen in Polen, den dritten in
Borm (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen und Ostberlin und den vierten dort, wo wir selber nicht
Herren! Mit einer tiefen Sorge verfolge ich sehr reden können, wo aber unsere Verbündeten im Ein-
aufmerksam die heutige Debatte. Sie erinnert mich vernehmen mit uns reden: in Berlin.
an Zeiten, die Sie nicht mehr alle kennen. Sie er- Meine Damen und Herren, vergessen wir doch
innert mich an finstere Zeiten in Weimar. Wenn nicht, daß die Machthaber in der DDR — versetzen
wirsoetmachn,dwirsEecht wir uns einmal in ihre Situation hinein — nichts
viel anders sein. Mit Emotionen werden wir diese mehr fürchten, als daß dem deutschen Volk klar
schwierige Situation, in der unser Volk sich be- wird, daß der Popanz einer revanchistischen, einer
findet, nicht meistern können. Ich habe sehr auf- imperialistischen — oder wie immer sie das nen-
merksam dem Kollegen Barzel zugehört; er weiß, nen — Bundesrepublik, den sie sich aufgebaut haben,
wie sehr ich ihn schätze. Mein tiefer menschlicher in Wahrheit gar nicht existiert. Sie sind der harte
Respekt gehört den Worten unseres Kollegen Baron Kern, weil sie wissen, daß die vielbeschworene
von Guttenberg, hinter denen ein Mensch stand. Wahrheit in der Demokratie — hier gebe ich Ihnen
Das aber schließt nicht aus, daß ich mich sachlich recht, Herr Kollege Barzel — für sie in der Tat die
mit manchen Dingen auseinandersetze, welche die größte Gefahr ist. Diese Wahrheit sieht eben so aus,
Opposition heute vorgebracht hat. daß das Zerrbild, das drüben in der DDR von uns,
Man stellt im Ausland und auch bei uns manchmal der Bundesrepublik, gezeichnet worden ist, nicht
die Frage, ob es eine deutsche Nation überhaupt stimmt. Wir sollten uns aber hüten, nun unsererseits
noch gebe. Ich finde, der heutige Tag hat bewiesen, von einem Zerrbild auszugehen und zu glauben, daß
daß diese deutsche Nation noch besteht — wenn auch allein deswegen, weil Richtung und Methoden
im Negativen. Die Kasuistik, die 20 Jahre lang drüben kommunistisch orientiert sind, nun alles ver-
unsere Politik beherrscht und die verhindert hat, dammenswert sei, und zwar allein deswegen. Da gibt
daß irgendwelche Angebote der DDR, seinen sie es andere Dinge, die inakzeptabel sind. Wenn wir
ernst gemeint gewesen oder nicht, angenommen davon ausgehen würden, dann flüchten wir uns in
wurden, hat sich zeitlich verschoben. Jetzt, wo sich die Emotionen. Ich fürchte, daß wir dann falsche Prä-
Bundesrepublik entschlossen hat, ihrerseits den Ver- missen haben, und eine falsche Prämisse führt noch
such zu machen, jene Verhärtung aufzuweichen, stel- immer zur Erfolglosigkeit, mindestens zum falschen
len wir die gleiche Kasuistik auf Seiten der DDR fest. Resultat.
2704 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Borm
Der Herr Kollege Baron von ,Guttenberg hat eine Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
Frage an meine Kollegen von der SPD gestellt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Würde es einen Menschen geben, meine Damen und Abgeordneten Strauß?
Herren, der nach 37 Jahren seinen Frieden mit Hit-
ler machen würde? Nein. Aber wir sollten auch die Borm (FDP) : Herr Präsident, es hat mich gereizt,
Augen nicht davor verschließen, daß die Entwick- bei den Reden der Opposition Zwischenfragen zu
lung in dieser Bundesrepublik sehr wohl einen stellen. Ich habe keine Zwischenfrage gestellt. Ich
Frieden mit seinen Epigonen und mit manchen sei- bitte meinen Kollegen um Verständnis dafür, daß ich
ner Helfershelfer gemacht hat. Ich glaube, manche meine Ausführungen ohne Zwischenfrage zu Ende
Dinge in der Bundesrepublik sähen anders aus, wenn führen möchte.
wir uns dort etwas anders verhalten hätten. Aber
das sind Dinge, die heute nicht zur Diskussion (Abg. Strauß: Die Frage hätten Sie schon
stehen. längst beantworten können!)
Was tun wir? Wir haben uns hier in der Bundes-
republik ein Schutzschild aufgebaut: unter gar kei- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
nen Umständen völkerrechtliche Anerkennung der Meine Damen und Herren, ,es ist das gute Recht
DDR. Auf der anderen Seite ist das gleiche 'Schutz- eines jeden Redners, Zwischenfragen zuzulassen
schild aufgebaut: Vorbedingung jeder Unterredung, oder in der Sache zu sprechen.
jedes Redens überhaupt: vorherige Anerkennung
der DDR. Das sind zwei unvereinbare Standpunkte.
Es ist heute von meinem Kollegen Dorn sehr erfreu- Borm (EDP): Meine Damen und Herren, ich
lich klargestellt worden, daß für uns eine andere hätte es mehr begrüßt, wenn die Opposition heute
Formel gilt. Die völkerrechtliche Anerkennung als jene Stimmen hier zum Tragen gebracht hätte, die
solche ist überhaupt nichts, was die Dinge auf der mir hoffnungsvoll erschienen sind und auch heute
Welt bewegen kann. Sie kann nur Mittel zum noch hoffnungsvoll erscheinen. Beispielsweise — mit
Zweck sein. Aber eines, glaube ich, unterscheidet Erlaubnis des Herrn Präsidenten — ein ganz kurzes
Regierung und Opposition: sie ist für uns kein Zitat aus dem Informationsdienst des katholischen
Tabu. Sie kann natürlich nicht am Anfang der Ent- Arbeitskreises für zeitgeschichtliche Fragen, deren
wicklung stehen, und sie wird es nicht. Aber wenn Herausgeber unser Kollege Köppler ist. Dort steht:
das erreicht ist, was wir alle wünschen, menschliche Überraschungserfolge und Patentlösungen für die
,
Erleichterungen, vernünftige Möglichkeiten des Le- komplizierten Probleme, die im Ergebnis des
bens, Verbesserung der Lebensmöglichkeiten für die zweiten Weltkrieges entstanden sind bzw. die
Menschen in der DDR, dann — das darf ich zumin- sich inzwischen angehäuft haben, können jedoch
dest für mich sagen — bin ich bereit, auch diesen bei den ersten Gesprächen bzw. Verhandlungen
Komplex erneut zu überprüfen. 'Ich wiederhole: am nicht erwartet werden. Geduld, Standfestigkeit
Anfang kann es nicht stehen; aber ich will nicht und langer Atem sind zur Lösung dieser Pro-
ausschließen, daß es später einmal kommen kann. bleme erforderlich. Es ist dabei auch zu beden-
Es wunde von dem Weiterbestehen der deutschen ken, daß es im Gespräch mit den Regierungen
Nation gesprochen. Wie sich die Bilder gleichen! des kommunistischen Machtbereiches einen er-
Wenn man sich z. B. manche Äußerungen in das Ge- heblichen Nachholbedarf gibt.
dächtnis zurückruft, die in den vergangenen Wochen Meine Damen und Herren, um diesen Nachholbe-
nicht hier im Bundestag, aber von d'en Funktionären darf geht es, den wollen wir jetzt erfüllen.
mancher Verbände zu hören waren, so fragt man
sich manchmal, wo wir , eigentlich leben. Aber eines Ein Weiteres. Die Herren Kollegen Dichgans und
ist wohl festzustellen: die Dogmatiker — Petersen waren in Polen. Es ist immer gut, wenn
man sich einmal dorthin begibt, wo die Dinge sicht-
(Abg. Lemmer: Wen meinen 'Sie damit?)
bar werden, um die wir hier ringen. Da heißt es
— Soll ich Ihnen genau sagen, wen ich meine? dann:
(Abg. Lemmer: Ja, ich möchte 'es genau In den Oder-Neiße-Gebieten ist es eine Reali-
wissen!) tät, daß es heute ein von Polen bewohntes und
— Dann sollen Sie es genau wissen, Herr Kollege bearbeitetes Land ist.
Lemmer. 'Dann fragen Sie mal die Funktionäre der Die Kollegen halten die Bemühungen, im Ver-
Vertriebenenverbände; die meine ich. — Ich 'fürchte, handlungswege zu einer Verschiebung der Grenzen
daß bei uns die Dogmatiker von der Dogmatik drü- zu kommen, für eine Illusion. Das sind Ihre Freunde,
ben leben. Sie bedingen einander, und sie leben meine Damen und Herren von der Opposition. Set-
voneinander. In einer solchen Atmosphäre, meine zen Sie sich damit auseinander. Meine Zustimmung
Damen und Herren, werden wir durchaus nicht hat diese Äußerung.
weiterkommen können.
Ein weiterer unverdächtiger Kronzeuge ist der
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Realist Konrad Adenauer, wenn er nicht im Rampen-
Abg. Reddemann: Dolchstoßlegende!) licht der Offentlichkeit stand. Er sagte, er habe — so
Meine 'Damen und Herren, ich sagte, ich hatte zu lesen im dritten Band seiner Memoiren — Smir-
eine tiefe Besorgnis, als ich den Gang und die Be-
weisführung in der 'schwierigen, in der für unsere
Nation lebenswichtigen Frage heute erlebte.
A
now, dem seinerzeitigen sowjetischen Botschafter, das
ngebot gemacht, die DDR so zu stellen wie etwa
Österreich. Dann sagte er:
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2705
Borm
Ich machte Herrn Smirnow darauf aufmerksam, mitten". Ich wollte das nur festgestellt haben. Es
daß ich mit meiner Frage hinsichtlich des Status mag sein, daß man auch einmal etwas anderes liest;
'der DDR sehr weit gegangen sei. Wenn dies aber ich weiß e s sehr wohl, weil ich solche Dinge
in der deutschen Öffentlichkeit bekannt würde, sehr aufmerksam verfolge.
riskierte ich, von meinen eigenen Leuten In der Tat ist Berlin unser gemeinsames Anliegen.
— und damit meinte er anscheinend Sie — Der Herr Kollege Barzel hatte die Sorge, daß die
dafür gesteinigt zu werden. jetzige Politik der Gefährdung dienen könnte. Herr
Kollege Mattick hat die klassische, die klare und
Meine Damen und Herren, das scheint mir ein wirk- unzweideutige Antwort der Bundesregierung, die
lich zweifelsfreies Zitat zu sein. der Herr Bundesaußenminister gegeben hat, teil-
Was sagt Herr Kollege Strauß in seinem Buch weise zitiert. Ich wäre versucht, sie vorzulesen, will
„Entwurf für Europa"? Sie jedoch damit nicht aufhalten; Sie haben sie ja
selber. Aber ich meine: wenn es noch einen Zweifel
Jeder Versuch, die deutsche Wiedervereinigung
gegeben haben könnte, so ist er damit ausgeräumt,
auf rein nationaler Grundlage zu erreichen, ist
daß der Herr Bundesaußenminister gesagt hat, es
von vornherein zum ,Scheitern verurteilt.
werde keinen Vertrag geben, der die Lebensfähig-
Meine Damen und Herren, das ist die Maxime un- keit der Bevölkerung Westberlins beeinträchtigen
serer jetzigen Politik. und die Bindung Westberlins an den Bund lockern
Aber es gibt natürlich auch andere Dinge. Ich könnte; sie seien eine unverzichtbare Grundlage
möchte unter gar keinen Umständen in den Verdacht aller Abmachungen, die überhaupt nur getroffen
geraten, hier polemisieren zu wollen, besonders werden könnten.
nicht nach der menschlich ergreifenden Rede unseres Ich sehe noch eine weitere Garantie. Sie wissen,
Kollegen von Guttenberg. Herr von Guttenberg, es daß der Herr Bundeskanzler Regierender Bürger-
sollte aber einmal ausgesprochen werden, daß so meister von Westberlin war. Man machte ihm zum
mancheWidrspüIngeRihvor- Vorwurf, daß er in die Bonner Politik gegangen ist,
handen sind. Weisen Sie uns nach, daß auf diesem und er antwortete darauf — ich entsinne mich sehr
Gebiet auch nur der geringste Bruch in den Kreisen genau —: Wenn ich diese Stadt verlasse, so nur, um
der Koalition 'besteht. Sie sollten jeden Versuch, auf breiterer, wirkungsvollerer Basis für diese Stadt
diese Koalition 'über diese Fragen auseinanderdivti- weiterhin wirksam zu sein.
dieren zu wollen, unterlassen. Er 'ist zum Scheitern-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
venurteilt.
Das genügt mir.
Sie betonen Ihrerseits, meine Damen und Herren,
die Gesprächsbereitschaft. Unser Kollege Kiesinger Ebenfalls sei jener Engländer, von dem ich zu An-
hat, als er Bundeskanzler war, auch Gespräche ver- fang Besprachen habe, noch einmal zitiert: Wenn es
sucht. Ich glaube aber, die verbale Bereitschaft zu für die Briten — und das gilt nicht nur dort — eine
Gesprächen wind nicht genügen. Es müssen Vorbe- Garantie für einen politischen Neubeginn in der
dingungen für )den Erfolg geschaffen werden. Bundesrepublik gibt, so ist es die Persönlichkeit des
jetzigen Bundeskanzlers. — Ich will ihm keine
(Abg. D r. h . c. Kiesinger: Vorleistungen!)
Elogen machen; aber dies ist ein Aktivum unserer
— Nein, Vorbedingungen, Herr Kollege D r. Kie- Politik.
singer. Es müssen Vorbedingungen geschaffen wer-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
den, und diese Vorbedingungen sind in den 20 Punk-
ten niedergelegt. Diese 20 Punkte enthalten einfach Ich sagte vorhin: Vorbedingungen müssen ge-
keine Vorleistungen, sondern sie enthalten die not- schaffen werden. Ich glaube, die CDU wird früher
wendige Voraussetzung, um überhaupt zu einem oder später einmal sagen müssen, wie die offizielle
Gespräch zu kommen. Wer glaubt, unter dieser Meinung der Fraktion und der Partei zu den Äuße-
Ebene überhaupt nur irgendwie angehört Zu wer- rungen ist, die in den letzten Wochen seitens der
den, der wind jene Politik fortsetzen müssen, die Funktionäre einiger Vertriebenenverbände verlaut-
wir 20 Jahre geführt haben und die uns in unserem bart worden sind. Es handelt sich hierbei nicht nur
nationalen Anliegen auch nicht 'einen Millimeter um irgendwelche verbandsinternen Äußerungen. In
weitrgbach,sond!eutSpalngvr einer Zeit, in der wir uns bemühen, eine neue Poli-
eftha. -ti tik zu konzipieren, bei allen Schwierigkeiten, die
(Beifall bei den Regierungsparteien.) sich ergeben — sie hängen nämlich von denen da
drüben mit ab —, sind derartige Äußerungen im In-
Ich danke dem Herrn Kollegen Barzel für seine
land und im Ausland durchaus sehr ernst zu neh-
Sorge um Berlin. Herr Kollege, ich entsinne mich
men, und sie sind das gewünschte Wasser auf die
noch sehr , wohl :des Besuchs, als ich 'aus dem Zucht-
Mühlen aller derjenigen, denen auf der anderen
haus gekommen war und Sie gerade Minister ge-
Seite an einem Erfolg gar nichts gelegen ist.
worden waren. Ich stellte damals einerfreuliches
Maß von Gemeinsamrkeit in den Anliegen des freien (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Teils unsererStadt Berlin fest, die ein Fanal für Wir sind in Gespräche eingetreten. Für uns sind
die !Freiheit ist ,und bleibt. die laufenden Gespräche ein politisches Mittel zur
Übrigens darf ich Ihnen sagen: Herr Ulbricht und Friedenssicherung in Europa. Es gibt auch andere
Herr Stoph erklären, Westberlin liege auf dem Ter- Auslegungen, indem man sagt, daß die jetzige
ritorium der DDR; in der Sowjetunion sagt man „in- Politik den Friedengefährde. Ich bin überzeugt,
2706 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Borm
daß diese Politik die einzige Möglichkeit ist, zu — Ich bezeichne nichts als unwahr!
einer brauchbaren Friedensregelung, zu einer halt-
(Abg. Dr. Barzel: Das war nicht gegen Sie,
baren Friedensregelung in Europa zu kommen, und Herr Borm, das gehörte nur noch , der Voll
daß es eine Alternative dazu nicht gibt. Aber das
ständigkeit halber hinzu!)
werden wir in einigen Jahren besser wissen. Kassan-
drarufe werden an dieser Politik und ihren Möglich- — Gut, mag der Gemeinte sich die Jacke anziehen.
keiten wenig ändern. Herr Kollege Barzel, Sie haben gesagt, Sie hoff-
ten, daß Sie in Ihrem Bestreben, die Dinge nach
Diese Gespräche sind für uns ein politisches Mittel Ihrer Sicht und Ihren Wünschen zu ordnen, nicht
zur Friedenssicherung in Europa. Sie sind für uns allein stehen. Sie gestatten mir, Herr Kollege, darauf
nicht ein reines Alibi. Manch einer scheint mir ein hinzuweisen, daß das Parlament nach der Verfas-
Alibi notwendig zu haben, weil man nicht mehr die sung zwar die Abstimmungen macht. Aber alle sind
Augen davor verschließen kann, daß die Entwick- wir hier Stellvertreter. Wir bemühen uns, beim
lung in Europa angegangen ist, daß Dinge, die ver- wirklichen Souverän, beim Volk, unmittelbar Ver-
härtet waren, irgendwie aufgeweicht werden. ständnis zu finden. Bei allem Respekt vor diesem
Hohen Hause: der letzte Souverän ist das Volk; und
Was tun wir denn weiter, als daß wir uns endlich da stehen unsere Aktien nicht schlecht.
dazu bereitfinden, unseren Part in jener weltweiten
Entwicklung zu spielen, die darauf hinausgeht — (Beifall bei den Regierungsparteien.)
nachdem weder mit List noch Gewalt der eine den
anderübtölpo windeka—,zu
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
einem Modus vivendi, zu einem geregelten Neben- Das Wort hat Herr Abgeordneter Strauß. — Ent-
einander und — soweit dann nachher Deutschland in
schuldigung, ich höre jetzt, daß sich -der Bundes-
Frage kommt — zu einem positiven Miteinander auf
kanzler bereits gemeldet hatte; das war mir nicht
allen jenen Gebieten, die übergeordnet sind und ge-
mitgeteilt worden. — Wollten Sie das Wort nehmen,
meinsame Interessen darstellen, zu kommen? Weiter
Herr Bundeskanzler?
tun wir doch nichts. Wir legen uns nicht mehr quer,
wenn man in Washington und in Moskau über SALT (Abg. Dr. Barzel: Herr Strauß hat das Wort
und über Abrüstnug oder irgendwelche Dinge doch schon gehabt!)
spricht. Das sind für uns heute keine Dinge mehr, — Entschuldigung ! Ich frage den Herrn Schriftführer,
die für uns makaber, die verdächtig sind. Nein, wir ob der Herr Bundeskanzler eine Wortmeldung beim
fügen uns ein in diesen Gang der Entwicklung. Das amtierenden Schriftführer abgegeben hatte; mir ist
ist alles, das ist ,die Konsequenz aus der Weltlage. jedenfalls keine zugeleitet worden. — Es liegt keine
Wortmeldung vor. Dann hat der Abgeordnete
Es wird einmal eine ernste Frage sein — auch
Strauß das Wort.
dazu veranlaßt mich ,der Beitrag unseres Kollegen
Baron von Guttenberg —, was unter heutigen Um-
ständen eigentlich „national" ist. Herr Kollege Bar- Strauß (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr
zel hat für sich in Anspruch genommen, aus den Er- verehrten Damen und Herren! Ich darf einige Be-
fahrungen heraus zu reden, die er in der Hitlerzeit merkungen zum Verlauf der Debatte machen.
und die er jetzt gemacht hat. Meine Erfahrungen
gehen weiter. Ich kenne das Kaiserreich, ich war Herr Kollege Mattick, Sie haben heute die Spre-
1914 19 Jahre alt. Ich kenne die Weimarer Republik. cher der CDU/CSU in einer etwas eigenartigen
ich kenne das Hitlertum. Ich kenne die Bundesrepu- Weise kommentiert. Sie sagten einmal über den
blik. Ich kenne aber auch aus eigener leidvoller Er- Kollegen Barzel: Wie müßte der reden können,
fahrung die DDR. Fünfmal habe ich eine Erfahrung wenn er aus Überzeugung spricht! Es wäre besser,
gemacht. Da frage ich mich aus meiner eigenen Le- zu schweigen, als zu wissen, daß man nicht die
benserfahrung, was heute national ist. Heute scheint Wahrheit sagt. — Diese Charakterisierung steht
mir national alles das zu sein, was zunächst einmal Ihnen weder gegenüber Dr. Barzel noch gegenüber
die Existenzgrundlage, die Existenzvorausbedingun- einem anderen Mitglied des Hohen Hauses zu.
gen unseres Volkes sichert: der Friede. Es scheint (Beifall bei der CDU/CSU.)
mir national zu sein unser Einordnen in den unver-
Ich will hier nicht die Frage erörtern, was Wahrheit
meidlichen Lauf der Weltgeschichte, nicht quer zu
objektiv und subjektiv ist, quid est veritas? Aber
liegen, nicht eigene Interessen eigenbrötlerisch zu
mit Sicherheit hat Dr. Barzel das gesagt, was nach
verfolgen. Dieses Thema wird sicherlich noch einmal
seiner und seiner politischen Freunde Meinung die
erörtert werden.
Tatsachen sind. Das sollte man ihm so abnehmen,
- wie er es gesagt hat.
Aber um eines wollte ich bitten: Menschen, die
sich mühen, die vielleicht andere Wege gehen, die Sie haben weiter Anzeichen einer beginnenden
aber sicher dieselbe Zielsetzung haben, nicht zu Schizophrenie bei ihm festgestellt. Ich möchte darauf
verketzern und zu sagen, sie seien nicht national. nicht näher eingehen.
Der Begriff „national" wandelt sich; ein Mensch,
der für sein Volk arbeitet, wandelt sich nicht. Den Kollegen von Guttenberg haben Sie damit
hervorgehoben, daß Sie sagten, er habe in einer
(Abg. Dr. Barzel: Wenn jemand eine Sorge Schicksalsstunde seines Lebens gesprochen. Was soll
äußert, darf man das nicht als unwahr b e das heißen? Wenn jemand ein körperliches Mißge-
zeichnen!) schick hat, dann sagt das noch lange nichts gegen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2707
Dr. h. c. Strauß
die Richtigkeit, Wahrheit und Stichhaltigkeit seiner einlegen. Ostberlin versteht darunter eine Lern-
Aussage. pause der Bundesregierung,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von (Abg. Stoltenberg: Sehr wahr!)
der SPD. — Abg. Dr. Apel: Unglaublich! Da s während derer die Bundesregierung „ihren" -- auch
ist wieder typisch Strauß!) hier oft so gern beschworenen — Realismus, d. h.
Bei mir glaubten Sie bis jetzt freundlicherweise ihre Bereitschaft, auf die Forderungen der anderen
nur einen Denkfehler feststellen zu können. Seite ohne Abstriche einzugehen, weiterentwickeln
soll.
(Abg. Dr. Apel: Einen Webfehler!)
ADN hat doch gleich danach vermerkt, zu einer
Ich werde Ihnen noch Gelegenheit geben, über weiteren Begegnung könne es nur kommen, wenn
Denkfehler nachzudenken. Ich gehe auf den Zwischen- die Bundesregierung ihren Standpunkt ändere und
ruf „Webfehler" nicht ein, weil er in die Kategorie sich bereit zeige, für die Regelung der Beziehungen
der Zwischenrufe gehört, die ein echter Parlamen- beider deutscher Staaten ohne Diskriminierung und
tarier in diesem Hause nicht macht. für die völkerrechtliche Anerkennung der DDR ein-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. zutreten. Genauso lautet die erste Stellungnahme
Stoltenberg: Die Wehner-Schule ist da am Stophs, genauso die erste Stellungnahme Herrn
Werke! Das ist ganz klar die Wehner Verners, eines Mitglieds des SED-Politbüros. Und
Schule!) hier ist auch das Fernschreiben über den DDR-Mini-
sterratsbeschluß zu erwähnen: Gespräche werden
Meine sehr verehrten Damen und Herren, von
nur bei realistischer Haltung fortgesetzt.
den Rednern der Koalition ist heute mehrfach be-
tont worden — ich fasse es hier zusammen —, daß Ich warne davor, daß man Erklärungen und
Kassel die erste Phase der Gespräche darstelle, daß Reden von drüben auf dem Wege der Interpreta-
ohne Erfurt und Kassel die deutsche Spaltung tiefer tion, der Spekulation oder der begütigenden Aus-
wäre, die deutsche Situation schlechter und nicht legung glaubt allmählich in sich selbst zur Auf-
besser wäre, daß das Bewußtsein des deutschen lösung zu bringen.
Volkes geschärft worden sei, daß sich beide Regie- (Beifall bei der CDU/CSU.)
rungen, die Bonner und die Ostberliner zu ihrer
Man soll das ernst nehmen, was die andere Seite
Verantwortung bekannt hätten, daß die 20-Punkte-
sagt. Bis jetzt hat sie jedenfalls ihre Haltung —
Erklärung des Herrn Bundeskanzlers ihren Eindruck
im Ostblock — so hieß es wörtlich; das Wort muß
Gott sei es geklagt — nicht geändert. Es wäre gut,
noch aus einer vergangenen Sprachwelt stammen —, sich auch nicht darauf einzustehen, daß sie sie
nicht verfehlen würde, daß Moskau, Warschau und unter dem Einfluß weiß Gott welcher Kräfte in ab-
auch Ostberlin weiterdenken würden. Der Kollege sehbarer Zeit ändern würde, so daß eine dritte
Mattick sagte, Ostberlin müsse über Erfurt und Begegnung einen anderen Verlauf nähme. Wenn es
Kassel hinausgehen, weil das die ganze politische solche Informationen gibt, Herr Bundeskanzler,
Entwicklung und die weltpolitische Lage verlangen. warum geben Sie diese dann nicht wenigstens den
Fraktionsvorsitzenden? Dann würde die Debatte in
Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich statt dieser diesem Hause sicherlich anders verlaufen.
astrologischen Horoskope konkrete Indizien erfah-
(Abg. Rasner: Genau!)
ren hätte, auf was sich die Annahme gründet, daß
Moskau, Warschau und vor allen Dingen Ostberlin Aber bis jetzt müssen wir davon ausgehen, daß
die von uns ihnen sozusagen gewährte Denkpause die andere Seite nicht bereit ist, ihre Position zu
benützten, um über die Position von Erfurt und variieren, während die Bundesregierung ihre Posi-
Kassel hinauszugehen und auf den Boden der tion gegenüber früher schon variiert hat und in Kas-
20 Punkte der Bundesregierung, ohne Forderung auf sel auch deutlich angekündigt hat, daß sie bei Beant-
völkerrechtliche Anerkennung eines zweiten deut- wortung ihrer Fragen, die Sie, Herr Bundeskanzler,
schen Staates, zu treten. Das ist die Frage: welche in dem 20-Punkte-Programm gestellt haben, bereit
Tatsachen, welche Informationen, welche Indizien? sei, über kurz oder lang die Frage der völkerrecht-
Ich glaube, daß dafür keine bisherige Geheiminfor- lichen Anerkennung zu lösen. Das heißt, die andere
mation, die den Vorsitzenden der Fraktionen und Seite weiß: Wenn wir hart bleiben, unsere Forde-
ihren Mitarbeitern gegeben worden ist, herange- rungen aufrecht erhalten und möglicherweise noch
zogen werden könnte. Hier handelt es sich doch nur steigern, wird diese Bundesregierung zum Schluß
um Vermutungen, Erwartungen, Hoffnungen und nachgeben und auf den Boden treten, den wir ihr als
Spekulationen. Aber die nächste Station wird ja den einzig möglichen für eine Einigung hingestellt
beweisen, wohin die Reise geht. - haben.
An diese beiden Begegnungen zwischen dem frei Was gibt dieser Bundesregierung das Recht, die
gewählten deutschen Bundeskanzler und einem Unabänderlichkeit dieser Position und die Härte der
Spitzenmann des SED-Regimes hatten sich natürlich Stellung der anderen Seite in Zweifel zu ziehen und
auch viele Hoffnungen geknüpft. Das wichtigste Er- durch Interpretation die Tatsachen ändern zu wol-
gebnis von Erfurt und Kassel ist jetzt die Bereit- len? Das ist doch eine der uns beklemmenden Hal-
schaft Stophs, seinem Gesprächspartner Zeit zum tungen, von denen wir immer staunend Kenntnis
Nachdenken zu geben, und dessen Schlußfolgerung nehmen müssen. Alles, was wir über die Ergebnisse
— ich meine die Schlußfolgerung des Herrn Bundes- der Gespräche in Moskau und Warschau bisher ge-
kanzlers —, man solle eine längere „Denkpause" hört haben, endete bisher mit ähnlichen Feststel-
2708 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Strauß
lungen: nun verstehe man die kommunistischen Ge- gemeint haben. Genau das ist ein Bestandteil dessen,
sprächspartner besser als vorher, aber auch die was in der sowjetischen Auslegung der UNO-
andere Seite erkenne die Politik der Bundesregie- Charta eine „aggressive policy" ist. Sie wollen sie
rung klarer als zuvor; eine Denkpause könne weiter nicht verrücken, aber Sie wollen sie aufheben.
helfen. Zwischen jeder Runde der Bahr-Gespräche Angesichts der Realitäten, die in beiden Teilen
in Moskau gab es Denkpausen. Nun ist nach Kassel Deutschlands herrschen, gilt die Frage, die Sie gar
offensichtlich die ganz große Denkpause gekommen. nicht beantworten können — darum stelle ich sie
Ich hätte sehr gewünscht, Herr Bundeskanzler, daß gar nicht --: Wie wollen Sie die Grenzpfähle .durch
Sie uns einmal etwas darüber gesagt hätten, was Sie Anerkennung oder anerkennungsähnliche Akte an-
vorhaben in dieser Denkpause zu tun. gesichts der bestehenden Wirklichkeiten aufheben?
Ob aufheben der verrücken, darüber reden ' wir
(Zurufe von der SPD: Denken!)
dann !gar nicht.
Ich bin nämlich auch fest überzeugt, hätte man über (Beifall bei der CDU/CSU.)
das Ergebnis von Kassel hier einen Erfolg melden Wir müssen leider feststellen, daß die östlichen
können, nichts hätte Sie abgehalten, in dieser Dis-
Partner der Bundesregierung den Spaten ihres vor-
kussion eine ausführliche Rede hier im Parlament ausschauenden Planens und Wollens erheblich tiefer
zu halten und diesen Erfolg gebührend zu feiern. angesetzt haben als die Berater unserer Ostpolitik,
(Beifall bei der CDU/CSU.) auf die der Bundeskanzler mehr gehört hat als auf
Aus der Tatsache, daß Sie nicht in einer Regie- sachkundige Diplomaten. Was diesem Hause im
rungserklärung Ablauf und Ergebnis sozusagen als Laufe der letzten sieben Monate an unwiderruflichen
Sondermeldung der Erfolgspolitik der Bundesre- einsamen Entschlüssen und an Geheimhaltung in Le-
gierung diesem Parlament geboten haben, schließen bensfragen unseres Volkes zugemutet worden ist,
wir, daß Sie im Innersten Ihres Herzens das Ergebnis das ist tatsächlich einmalig in der Geschichte der
von Kassel genauso beurteilen, wie wir es tun, Bundesrepublik Deutschland.
nämlich im Ablauf als eine Blamage und im Ergeb- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von .der
nis als eine Pleite und nichts anderes. SPD.)
(Beifall bei der CDU/CSU.) — Trotz der Zwischenrufe aus dieser Fraktion
Ich stimme \der Auffassung \der Bundesregierung glaube ich, daß, wenn nicht die ganze Fraktion der
gerne :zu, daß nun die ,Stunde vertieften Nachden- SPD, dann jedenfalls Teile von ihr betroffen waren,
kens 'gekommen ist. Diese Notwendigkeit gilt in als der deutsche Bundeskanzler am 28. Oktober 1969
erster Linie für die Bundesregierung selbst. Auch bei ohne jede vorherige Beratung, wenn auch mit der
größtem Wohlwollen kann die Opposition der Regie- Vorankündigung durch den Bundespressechef, in
rung nicht den schwerwiegenden Vorwurf ersparen, den parlamentarischen Körperschaften die folgen-
daß sie bei dam hastigen Start ihrer neuen Deutsch- schwere und nicht wiedergutzumachende Ü bernahme
landpolitik nicht tief genug, nicht umfassend genug der kommunistischen Zwei-Staaten-Doktrin durch
und nicht weitblickend genug nachgedacht hat. Sie die einzig frei gewählte deutsche Regierung ver-
hätesicundrmLa itncheVr- kündete. Rückblickend werde ich den Eindruck nicht
lust an Glaubwündigketit und auch a n Seriosität im los, daß diese Überrumpelung auch deshalb erfolgte,
Inland und im Ausland ersparen können. Sie hätte weil die Bundesregierung befürchtete, sie werde bei
den von ihr mitverschuldeten Aufstieg Walter einer parlamentarischen Abstimmung für einen sol-
Ulbrichts verhindern können, wenn sie ihrem ein- chen Akt selbst bei den gegenwärtigen Mehrheits-
seitigen guten Willen jenes Ausmaß an Voraus- verhältnissen keine Mehrheit finden können.
planung hinzugefügt hätte, das bei allen außen- (Zurufe von der SPD.)
politischen .Schritten, besonders aber vor uniwider-
Oder glauben Sie etwa, Herr Bundeskanzler, daß
ruflichen Positionsänderungen im Ost-West-Ver-
diese Leistung notwendig war, bloß um mit den
hältnis, so lebensnotwendig isst.
anderen reden, nicht einmal verhandeln zu können?
Ichglaube :sogar sagen zu dürfen, Herr Bundes- Sind Sie auch jetzt noch der Meinung, daß die
kanzler daß Ihre Saarbrücker Rede, au deren gute Sowjetunion Verhandlungen abgelehnt hätte, wenn
Wirkung Sie im anderen Teil Deutschlands gehofft man ihr nicht vorher die Zwei-Staaten-Theorie als
hatten, genau das Gegenteil von dem, was Sie ein sichtbares Zeichen guten Willens angeboten
wünschten, hervorgerufen hat und daß möglicher- hätte? Wir sind aus gutem Grunde anderer Mei-
weise die positiven Informationen, die Sie darüber nung. Wir sind darüber hinaus der Meinung, daß
aus Moskau bekommen haben, auch nicht stimmen. kommunistische Gesprächspartner einseitige Vor-
Der eine große Satz in Ihrer Rede — unter den leistungen Ihrerseits von vornherein als erledigt in
vielen anderen —, der den stürmischsten Beifall "Anspruch nehmen und nicht bereit sind, dafür den
Ihres Parteitages bekommen hat, hieß: geringsten Gegenwert zu zahlen, und im übrigen
Wer Grenzpfähle aufheben will, der muß auf- ihren Gesprächspartner für reichlich naiv halten,
hören, sie verrücken zu wollen. daß er ohne Gegenleistung etwas bietet, was für sie
einen substantiellen Fortschritt bedeutet.
Genau das ist drüben bei .denen, die entweder eine
Änderung des gesellschaftlichen Systems oder die Seit jenem schwarzen Tag der deutschen und
toaleAbkpsungihrRme unsvr- europäischen Geschichte hat die CDU/CSU — nicht
langen, ganz anders aufgefaßt worden, als Sie es zuletzt auf Grund eigener Regierungs- und Ver-
mit Ihrem unbestritten guten Willen in dieser Rede handlungserfahrungen — die Regierung immer wie-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2709
Dr. h. c. Strauß
der beschworen, den ideologischen Dogmatismus, die ja. Ist Stoph kein Dogmatiker, sondern ein Mann,
langfristig offensiven Ziele und die unerbittliche der bereit ist, unter gewissen Voraussetzungen den
Härte ihrer kommunistischen Partner richtig einzu- Boden :dieser Dogmatik . des anderen Blocks zu ver-
schätzen. Aber die Parteien der jetzigen Regierungs- lassen und einen ,Kompromiß zuschließen, bei dem
koalition und sie lobpreisende Kommentatoren ha- beide Seiten echte, unwiderrufliche Leistungen zu
ben es schon im Wahlkampf und in den ersten erbringen bereit sind? Auch darüber hätte ich gern
Wochen nach der Regierungsbildung vorgezogen, in einmal — wenn nicht öffentlich, dann in subjektiver
unserem Volk einen ostpolitischen Optimismus zu Bewertung — etwas gehört von dem Herrn Bundes-
verbreiten und eine Wohlwollenseuphorie auszu- kanzler, von anderen, die es wissen, von den Ein-
strahlen, in deren Augen der nüchterne Realismus geweihten in diesem Lande, zu denen man ja nicht
und die langfristige europäische Entspannungskon- unbedingt zu gehören kraucht, um gut informiert zu
zeption der CDU/CSU nichts anderes sind als ideen- sein.
lose Sturheit und gewollter Immobilismus der CDU/ (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
CSU. Diese Einteilung. ist eine lebensgefährlich :dumme
(Sehr wahr! bei der SPD.) Verzerrung der Verhältnisse drüben, und zwar eine
— Nun sage ich Ihnen etwas. Wenn ich mich heute, Verzerrung nach dem Wunschdenken, das der Recht-
Herr Kollege Mattick, an die Rede Ollenhauers von fertigung der eigenen Politik dient, d . h. in diesem
damals erinnere, in der er die Aufnahme diploma- Falle, der Sinngebung des Sinnlosen dienen soll.
tischer Beziehungen als Ergebnis der Verhandlun- Das andere ist eine innenpolitische Diffamierung,
gen Adenauers in Moskau als eine Gefahr für die die in erster Linie ihre Urheber trifft.
deutsche Politik, als eine Gefahr für die Einheit und Die CDU/CSU hat die Bundesregierung, nachdem
Freiheit unseres Landes darstellte, dann möchte ich sie die Zwei-Staaten-Theorie und damit eine Kern-
nur eines feststellen: Entweder hat Ollenhauer da- these der kommunistischen Deutschlandpolitik an-
mals total unrecht gehabt, oder Sie haben heute genommen hat, eindringlich vor der Illusion ge-
total unrecht. Aber warum Adenauers Politik da- warnt, die kommunistischen Partner könnten durch
mals total falsch war, mit Moskau, dem Hauptpart- einseitige Vorleistungen und durch Einschwenken
ner auf der anderen Seite — nicht zuletzt auch um auf ein bestimmtes Vokabular in den politischen
den Preis der Freilassung von Zehntausenden von' Kernfragen zu einem wirklichen Entgegenkommen
Gefangenen; an diese Schicksale darf man ja auch in der Sache bewogen werden. Das ist das Gespen-
denken —, ins Gespräch zu kommen, — warum das stische auch an dieser Diskussion, daß man glaubt,
damals falsch gewesen sein soll und Ollenhauer durch die Benutzung eines gemeinsamen Vokabulars
recht gehabt haben soll und die heutige Bundes- auch gemeinsame politische Begriffe und gemein-
regierung wiederum recht hat und wir unrecht same politische Ergebnisse zum Schluß zustande zu
haben, bringen. Diese Rechnung wird nicht aufgehen. Wir
(Zuruf des Abg. Mattick) werden zur gegebenen Zeit hier darauf hinweisen.
dafür bedürfen Sie jetzt Ihrerseits einer Denkpause, Die Bundesregierung hat es vorgezogen, mit den
damit Sie diesen Denkfehler, den Sie sonst mir Argumenten eines doch sehr oberflächlichen Realis-
unterstellen, endgültig bei sich verarbeiten können. mus gerade jene nationalen und freiheitlichen
(Beifall bei der CDU/CSU.) Grundpositionen in der Deutschlandfrage abzuwer-
ten und weitgehend aufzugeben, welche alle demo-
In .die .gleiche Richtung gehört die, ich muß schon
kratischen Parteien dieses Landes 20 Jahre lang ge-
sagen, tolpatschig-dreiste Einteilung der Politiker in meinsam getragen haben. Das waren doch nicht
der Bundesrepublik in fortschrittliche Entspannungs-
Positionen der CDU/CSU, das waren die Positionen
politiker einerseits und kalte Krieger andererseits.
der Demokraten in diesem Lande, das waren die
Die Idealtypen der ersten Kategorie sind Willy
Positionen aller verantwortlichen politischen Kräfte;
Brandt und auf der anderen Seite offensichtlich Willi
das waren die Positionen, die nicht aufgegeben wer-
Stoph. Die Demonstrationsexemplare der zweiten
den dürfen, wenn nicht eine einseitige Gewichtsver-
Gattung sind Barzel, Kiesinger, Strauß usw. hier,
lagerung in einem für uns alle unerwünschten Sinne
während Ulbricht, Winzer und Konsorten es drüben
eingeleitet und fortgesetzt werden soll. Es waren
sind. Ich frage jetzt gerade Sie, Herr Kollege Borm.
die Positionen, die den freien Teil Deutschlands
Sie haben gesagt, +daß wir den Dogmatikern drüben
in West und Ost und auch in der Dritten Welt zu
helfen. Wären Sie in der Lage gewesen — das war
einem angesehenen, nicht immer bequemen, aber
nämlich meine Frage —, uns zu sagen, wer drüben
klar kalkulierbaren Faktor der Weltpolitik gemacht
die Nichtdogmatiker sind, denen mau zuspielen und
haben. In der Zwischenzeit lastet auf uns auch wie-
zuarbeiten muß, damit sie sich ihrerseits gegen die
der der noch nicht ganz vergessene Ruf der deut-
Dogmatiker .durchsetzen können, so wie Sie — im
schen Unbestimmbarkeit, der deutschen Unrast, der
Besitze des Heilsverlaufes der Menschheitsgeschichte,
deutschen Unruhe und eben der deutschen Unbe-
der bei Ihnen deponiert ist, weshalb Sie ihn heute
stimmbarkeit, die im Namen unbewiesener histo-
vorhergesagt haben — Ihrerseits einen Beitrag lei-
rischer Notwendigkeiten ihre Partner plötzlich mit
sten wollen, die Dogmatiker bei uns überwinden
weittragenden politischen Wendungen konfron-
zu können?
tieren.
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) Ich möchte hier eines auch einmal sehr deutlich
Wo sitzen drüben. die Nichtdogmatiker? Ist Ulbricht sagen: Es hat gar keinen Sinn, sich auf echte oder
ein Dogmatiker? — Nach allgemeiner Meinung wohl vermeintliche Zustimmung unserer westlichen Part-
2710 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Strauß
ner zu berufen. Das, was deutsche Interessen sind, die entscheidenden Partner dieser Vereinbarung un-
wenn sie gegen die Bundesregierung vorgetragen ter diesem Wortlaut verstehen.
und erkämpft werden müßten, wird uns bestimmt
Aber ob es sich um den Atomsperrvertrag, ob es
nicht von unseren Alliierten abgenommen, die nach
sich um Gewaltverzichtsvereinbarungen mit Moskau
den Grundsätzen auch der diplomatischen Höflich-
und Warschau oder um innerdeutsche — wie man
keit und der Nichteinmischung in unsere innenpoli-
sagt — Übergangsregelungen handelt, wir werden
tischen Probleme dieser Bundesregierung nach
all das weiterhin entscheidend danach messen, ob
außen so weit helfen, als sie glauben, ihr helfen zu
die Bundesregierung unsere Zukunft mit der lebens-
können. Die Tatsache, daß heute Art. 7 des Deutsch-
gefährlichen Hypothek von Auslegungsproblemen
land-Vertrages umstritten ist, die Tatsache, daß man
belastet.
sich bereits über die Revision nach Art. 10 Gedanken
(Beifall bei der CDU/CSU.)
macht, beweist :doch, daß man hier darangeht, sich .
neue Positionen zu schaffen, die nur mit Hilfe der Die Bundesregierung ist bisher dabei geblieben, auch
Alliierten geschaffen werden könnten, neue Positio- weiterhin mit dem gefährlichen Trick der „verbalen
nen, die dann eine weitere Änderung unserer Poli- Annäherung"
tik auf dem Wege nach unten und für die Sowjet- (Abg. Dr. Barzel: Anbiederung!)
zone — ich wage das Wort noch zu sagen — auf
zu arbeiten. Man kann fast sagen, das Neue in der
dem Wege nach oben bedeuten würden und nichts
gegenwärtigen Ostpolitik besteht darin, das klare
anderes.
Formeln, die allerdings im historischen Prozeß nicht
Herr Bundeskanzler, ich weiß wirklich nicht, ob zu dem von uns allen gewünschten Ergebnis führen
Sie ermessen, was es bedeutet, daß wir in ,den letz- konnten, nunmehr durch unklare Formeln ersetzt
ten zwanzig Jahren nach all den Unzuverlässigkeiten werden sollen, von denen man zunächst sagte und
und Unberechenbarkeiten der deutschen Geschichte annahm oder über die man die Meinung verbreitete,
für Freund und Nichtfreund wieder zu einem hoch- sie würden zu schnellen Resultaten führen, während
angesehenen, berechenbaren und vertragstreuen man jetzt allmählich den Hundertmeterlauf in einen
Staat geworden sind. mehrjährigen Marathonlauf umfunktioniert hat, weil
man sieht, daß mit den unklaren Formlen noch weni-
Ich weiß umgekehrt auch nicht, ob Sie und Ihre An- ger zu erreichen ist, als mit den klaren zu erreichen
hänger ermessen, welchen Schaden eine falsch ver- gewesen wäre.
standene Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an
(Beifall bei der CDU/CSU.)
die vordergründigen Machtrealitäten für die Stel-
lung Deutschlands in der Welt herbeiführen muß. Ich warne hier auch davor, juristische Positionen
Schlagen Sie bitte nicht auch diese unsere ernste schlechthin als Formaljuristereien und als juristi-
Sorge mit Hinweisen auf die Zustimmung im schen Formelkram abzutun. Die Sowjets sind wohl
Westen, auf Teile von Presse, Rundfunk und Fern- keine Dilettanten der Politik, und die Tatsache, daß
sehen in den USA einfach aus. Weisen Sie auch die Sowjets auf rechtliche Festlegungen Wert legen,
nicht allein auf Meinungsumfragen in einer nicht kann man doch nicht mit dem Hinweis abtun, daß
informierten deutschen Öffentlichkeit hin. sie in juristischem Formelkram erstarrt seien, wäh-
rend sich die Bundesregierung in ihrem faustischen
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) Tatendrang bereits längst über diese Nebensäch-
Denn sonst müßten wir Ihnen allerdings sagen: neh- lichkeiten irdischer Daseinsgestaltung hinweggesetzt
men Sie die Meinungsumfrage ernst, wonach drei hat.
Viertel des deutschen Volkes von jeder deutschen (Beifall bei der CDU/CSU.)
Regierung ein aktives Eintreten für die baldige Deshalb sind wir jetzt nach Kassel sehr gespannt
Schaffung eines europäischen Bundesstaates erwar- darauf, ob Staatssekretär Bahr aus Moskau klare
ten und diesem Eintreten die oberste politische Sachlösungen oder mehrdeutige Formelkompro-
Priorität geben. misse als Gegenstand der aufzunehmenden Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU.) handlungen mitgebracht \hat.
Herr Bundeskanzler, Sie haben vor kurzem eine
Die CDU/CSU hat die Bundesregierung vor der
Frage, die sehr schnell nach Erfurt gestellt wurde
Einführung einer zwielichtigen und vieldeutigen
und die hieß „Wie ist Ihr Konzept für Kassel?", fol-
Ausdrucksweise in der deutschen Außenpolitik, be-
gendermaßen beantwortet: Ich werde ein paar
sonders aber in Verträgen, gewarnt, die dem öst-
Herren daransetzen, die das Ergebnis von Erfurt
lichen Partner angeblich nur verbal entgegenkom-
daraufhin untersuchen sollen, wo es zumindest
men will, ohne in der Sache unsere fundamentalen,
- verbale Berührungspunkte und wo es darüber hinaus
d. h. nicht in Verhandlungen verfügbaren Positionen
sogar inhaltliche Berührungspunkte gibt. — Herr
in Frage zu stellen oder preiszugeben. Wir dürfen
Bundeskanzler, hier lüften Sie eines Ihrer arcana
den unter Adenauer mühsam aufgebauten Kredit, imperii, eines der Geheimnisse Ihrer Regierungs-
ein Volk mit eindeutiger Vertragstreue und eindeu- politik: Ihren Glauben, ich muß schon beinahe
tiger, keiner Interpretation bedürfenden Sprache zu sagen, Ihren bewundernswerten Aberglauben an
sein, als moralischen Trumpf ersten Ranges für die politische Bedeutung verbaler Übereinstimmung.
unsere Stellung in der Welt nach dem zweiten Welt-
krieg in Anspruch nehmen. Wenn wir etwa den (Beifall bei der CDU/CSU.)
Atomsperrvertrag mit seinem mehrdeutigen Wort- Dieser Aberglaube ist mir angesichts der Doppel
laut ratifizieren sollen, so müssen wir wissen, was deutigkeit vieler Begriffe, angesichts der diametralen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2711
Dr. h. c. Strauß
Unterschiedlichkeit in der Auslegung von Begriffen kommen zu können, ob darin nicht — das wird
wie Frieden, Freiheit, Fortschritt und Normalisie- die Aufgabe sein, das festzustellen —, auch
rung schlechterdings nicht verständlich. Wenn zwei eine Annäherung an jene Vorstellungen er-
sagen, sie wollen den Frieden, und es steht zwi- reicht wird, die man sich selber gesetzt hat.
schen den beiden dasselbe, was zwischen dem Ich habe es dreimal gelesen, und es ist mir nicht
Westen und Moskau leider steht, dann heißt das, gelungen, den Sinn auch nur einigermaßen — sei
daß Moskau unter Frieden in Europa etwas ganz es auch nur gefühlsmäßig, emotional, geschweige
anderes versteht, als wir darunter verstehen. Der denn rational oder intellektmäßig — zu erfassen.
Frieden nach sowjetischer Version heißt die Aus- Sie können mich ja nicht gerade als Freund der
dehnung der Ideologie und des gesellschaftlichen Jusos in Anspruch nehmen; da gibt es vielleicht
Systems, das drüben jenseits der Demarkations- sogar Gemeinsamkeiten, die hier geleugnet werden.
linie herrscht, auch ohne Besetzung durch die Rote Aber hier ist mir doch ein gewisses Verständnis
Armee, auf den Rest Europas, weil dann der Friede gekommen für den Antrag auf Ihrem Parteitag, er
im Sinne der Pax sarmatica — wenn ich Herrn möge beschließen, daß alles getan wird, was getan
Carlo Schmid entgegenkommen darf; früher sagte werden soll, damit etwas getan wird.
ich Pax sovietica, bis er mich in „Pax sarmatica"
verbessert hat — entstanden sein wird. Wenn beide (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
Seiten von Frieden reden, meinen sie damit noch Das ist, man könnte sagen, humorvoll, ironisch, ich
lange nicht das gleiche. möchte nicht einmal sagen: bissig.
(Abg. Wienand: Das kam vor 20 Jahren Aber, Herr Bundeskanzler, sind Sie sich darüber
von Ihnen besser, Herr Kollege Strauß!) im klaren, daß Beurteilung, Bewertung und Behand-
— Ach, du lieber Gott, was bei Ihnen in 20 Jahren lung der Bundesregierung durch Ihre kommunisti-
noch übrigbleibt von dem, was Sie heute vertreten, schen Gesprächspartner ganz klar eines gezeigt hat:
wage ich gar nicht zu sagen. daß man dort dieses Spiel durchschaut, der Bundes-
regierung vorwirft, sie treibe eine reaktionäre Poli-
(Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.) tik der Kontinuität und führe eine Sprache der fort-
Wenn Herr Ehmke und andere Männer der schrittlichen Aufgeschlossenheit für Entspannung.
Regierung uns immer wieder sagen, wir müßten Genau diese Doppeldeutigkeit der Sprache ist es,
weg von der früheren emotionalen Deutschland- was die Behandlungsmethode für die hiesige Bun-
politik, hin zu einer rationalen Entspannungspolitik, desregierung ausgelöst hat: nämlich mit Zuckerbrot
so kann ich nur fragen: was ist irrationaler, was ist und Peitsche. In Kassel war es die Peitsche, das
unverantwortlicher als der Aberglaube, in der knallharte Nein, und dann kam wieder der Luft-
jetzigen Weltlage führe der Weg von der verbalen ballon aus Moskau mit der verführerischen Auf-
Übereinstimmung zur sachlichen Übereinstimmung. schrift, daß man nunmehr dort ein Abkommen ganz
Das hat mit Ratio, mit Intellekt und mit Vernunft konkret, mit allen für uns wünschenswerten Punk-
und mit Wirklichkeit und mit Realismus überhaupt ten darin, wenn auch unter gewissen Abstrichen, er-
nichts zu tun. reichen könne. Man will Sie, Herr Bundeskanzler,
Wenn ich schon Bundesminister Ehmke genannt von einer Station zur anderen treiben, bis es keine
habe, nun, er hat gesagt, man habe gehofft, in Umkehr mehr gibt.
Kassel drei Millimeter vorwärts zu kommen — ur- (Beifall bei der CDU/CSU.)
sprünglich las man es anders —, aber jetzt sei man
Ich habe hier an dieser Stelle schon einmal gesagt:
eben halt nur einen Millimeter vorwärtsgekommen.
Sie nähern sich dem Punkt, wo Sie entweder auf die-
Die ganze Bundesregierung war heute nicht in der
ser Bahn umkehren und damit das Scheitern Ihrer
Lage, auch nur einen einzigen Millimeter verständ-
bisherigen Bemühungen eingestehen oder weiter-
lich für die Offentlichkeit darzustellen.
machen müssen, um den Schein des Erfolges einzu-
(Beifall bei der CDU/CSU.) heimsen, wobei Sie dann Positionen aufgeben, die
nach Recht und Geschichte nicht aufgegeben werden
Worin besteht denn der eine Millimeter? Daß man
dürfen, und zwar weder von dieser Regierung noch
sich abermals gegenseitig durch Austausch von Mo-
nologen angesprochen hat? Ist der eine Millimeter von einer anderen.
in den Geheimgesprächen erörtert worden oder (Beifall bei der CDU/CSU.)
herausgekommen? Beruht er im Ablauf des Proto- Diese Alternative läßt sich nicht durch noch so
kolls? Beruht er in verbalen Übereinstimmungen? flexible Formulierungen, durch ein noch so raffiniert
Was ist denn der Millimeter? ersonnenes Vokabular der Mehr- oder Vieldeutig-
Ein anderer Bundesminister sagte auf die Frage, keiten zum Schluß in ein Nichts der Harmonie auf-
ob die Forderung der anderen Seite . nach völker- lösen, bestimmt nicht.
rechtlicher Anerkennung für ihn ein unüberwind- Das ist die Frage, vor der Sie stehen und zu der
liches Hindernis sei — der Bundesminister für inner- Sie, wenn Sie heute — wofür ich persönlich Ver-
deutsche Beziehungen —: ständnis hätte — nicht dazu in der Lage sind, einmal
Ich halte überhaupt nichts für unüberwindliche Rede und Antwort stehen müssen. Wenn ich mich
Hindernisse, sondern bin der Meinung, daß die bisher getäuscht hätte oder mich in Zukunft täuschte,
nun eingetretene Denkpause für beide Seiten würde ich auch nicht anstehen, dieser Bundesregie-
Veranlassung geben wird, das Bisherige an rung öffentlich zu testieren, daß sie mit ihrer Kon-
Aussagen zu analysieren, um zu Ergebnissen zeption recht gehabt habe. Aber sie wird mit einer
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Dr. h. c. Strauß
Konzeption freiheitlich-rechtsstaatlicher Art nur dann Boden der Tatsachen, wer steht ,auf dem Boden
durchkommen, wenn diese von allen politischen klarer, vernunftgemäßer und erfahrungsgehärteter
Kräften dieses Hauses und der Öffentlichkeit, die in Überzeugungen, um eine Friedenspolitik, auch wenn
das Lager der Demokratie gehören, einmütig ge- sie in der Gegenwart weniger sanft und angenehm
tragen wird. klingt, treiben zu können, und 'wer gebraucht das
(Beifall bei der CDU/CSU.) einschmeichelnde Wort „Frieden", um damit eine
Meine Damen und Herren, Herr Mattick hat es Bahn zu öffnen, auf der Ulbrichts Aufstieg, Bonns Ab-
mir leicht gemacht. Er hat darauf hingewiesen, daß stieg und eine Gewichtsverschiebung zugunsten der
schon die früheren Bundesregierungen das Gespräch Sowjets in Europa auf die Dauer nicht mehr auf-
mit dem Osten gesucht hätten. Hat jetzt Adenauer gehalten werden können?
zuviel oder zuwenig getan? Am Anfang hat er offen- (Beifall bei der CDU/CSU.)
sichtlich nach Meinung des damaligen SPD-Partei-
vorsitzenden zuviel getan. Hat er später zuwenig Da frage ich Sie: Was ist denn die Denkgrundlage
getan? Nein, meine Damen und Herren. Wir stehen Ihrer Politik? Fassen Sie 'es nicht als eine Beleidi-
hier einer Tatsache, einer Realität, einer Härte der gung auf, wenn nicht nur ich, sondern auch andere
Fakten gegenüber, die durch Vorleistungen mit fragen: Gehen Sie davon aus, daß die Amerikaner
dauernd bekundeter Gesprächsbereitschaft, wobei uns so und so eines Tages hier allein lassen wer-
wir uns beschimpfen und angreifen lassen, während den und daß man sich deshalb so gut wie möglich
die andere Seite knallhart auf ihren Forderungen mit der anderen Seite arrangieren müsse? Gehen Sie
besteht und darüber hinaus erwartet, daß man ihr davon aus? Meinen Sie vielleicht, daß guter Wille
noch mehr entgegenkommt, auch nicht um ein Jota hier, ,den Sie ohne Zweifel haben, guten Willen drü-
geändert wird. Ich bin nicht der Meinung, daß Mos- ben erzeugt und daß sich der Kreml dem guten Wil-
kau der einzig mögliche Gesprächspartner ist. Aber len hier auf die Dauer nicht entziehen kann, ebenso
in Moskau wird das Konzert bestimmt; in Moskau die Dogmatiker nicht? Oder glauben Sie, daß die
werden Melodie und Text geschrieben. Vernunft es gebietet, mit dem kommunistischen Geg-
ner zu verhandeln, und daß ein solches Verfahren
Darum, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, möchte
ich mir erlauben, an Sie einige Fragen über Ihre dynamisch, flexibel sei, ganz gleich, ob etwas her-
Politik, Ihre politischen Vorstellungen zu der The- auskommen kann, während die bisherige Denkweise
menstellung zu richten, in der wir uns heute be- statisch, stationär gewesen .sei? Gehen Sie davon
aus, daß die Sowjetunion davon überzeugt sei, auf
finden. Bitte, überlegen Sie sich diese Fragen! Sie
brauchen sie nicht deshalb zu beantworten, weil ich die Dauer ihr Imperium nicht 'halten zu können, und
sie stelle, sondern diese Fragen werden Ihnen immer daß man ihr helfen müsse, ohne Sicherheitsrisiko
wieder gestellt werden, und Sie werden sich einer und ohne Gesichtsverlust diese Stellungen 'zu räu-
Antwort nicht entziehen können. men? Wenn Sie dieser Meinung sind, hat Ihre Politik
'einen 'Sinn, auch wenn er falsch ist; aber dann steckt
Die erste Frage lautet — jetzt rede ich von der noch eine Denklogik dahinter.
Ratio —: Was ist die Ratio, die Denk- und Vernunft
grundlage dieser Politik? Man sage nicht: den Frie- Wenn man aber davon überzeugt sein muß, daß
den sicherer machen und die Völkerversöhnung. die 'Sowjetunion um jeden Preis, auch um den Preis
Wer will denn nicht den Frieden? Manches, was als eines vernichtenden Urteils der Weltmeinung — das
Friedenspolitik in der Zeitpolitik ausgelegt worden dauertimübgnchl,sePrag—bit
ist, hat sich hernach als Schritt auf dem Weg zum ist, ihre Positionen zu behaupten, dann hat Ihre
Krieg erwiesen. Ich denke hier an den 30. September Politik keinen Sinn. Sie können weder durch ver-
1938. Wer sich damals, nicht nur in Italien und bale Übereinstimmung, noch durch dauernde Ge-
Deutschland, sondern auch in Frankreich und Eng- spräche, noch durch Entgegenkommen in der Sache
land, öffentlich gegen das Münchner Abkommen oder im Protokoll, durch die Bereitschaft, sich demü-
erhoben hat, ist als Kriegshetzer und Friedensfeind tigen zu lassen, die Härte dieses Herrschafts-
abgestempelt und als solcher diffamiert worden. anspruchs vermindern, geschweige denn aus der
Heute verlangt man von uns, dieses Abkommen Welt schaffen.
nachträglich zu annullieren, um damit zu beweisen, (Beifall bei der CDU/CSU.)
daß wir es von Anfang an als nicht gültig hätten
erklären sollen. Das ist doch die Lage.
War !der Einmarsch der Sowjets und ihrer Kom- Glauben Sie immer noch, daß !die DDR eine Politik
plizen in Prag ein Akt des Friedens? Herr Breschnew treibt, di e von Moskau mehr :oder minder mit un-
konnte in Prag in zynischer Weise erklären, das guten Gefühlen gesehen wird oder abgelehnt wird,
sei ein Akt gewesen, der Blutvergießen habe - ver- ebenso 'in Warschau und in Prag, und daß man des-
hindern sollen. Und hat nicht Herr Stoph — ich halb jetzt Moskau, Warschau und Prag durch ent-
glaube, auch Ihnen 'gegenüber — erklärt, die Mauer gegenkommendes Verhalten gegenüber Ostberlin
sei ein Akt der Menschlichkeit? Einen scheußliche- gewissermaßen helfen muß, mit der Hypothek
ren Mißbrauch der allen Menschen 'heiligen und lieb Ulbricht fertig zu werden? Sind wir also hier gewis-
gewordenen Begriffe als mit diesen eben genannten sermaßen innere Entwicklungshelfer eines Heils-
Realitäten kann 'man sich nicht vorstellen. plans der Entwicklungsgeschichte innerhalb des So-
Die Alternative lautet doch nicht, daß die einen wjetblocks? Wenn Sie das meinen, hätte Ihre Politik
hier im Hause für und die anderen gegen den Frie- einen Sinn. Wenn Sie das nicht meinen, hat Ihre
den seien, sondern die Frage ist: Wer steht auf dem Politik keinen Sinn.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2713
Strauß
Gehen Sie von Interessenidentität oder von triebenenverbandes. Man sollte überhaupt mit die-
Interessenkonfrontation zwischen der DDR und den ser Klassifizierung aufhören.
anderen kommunistischen Regierungen aus? Sind (Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie überzeugt, (daß hier eine Blockstrategie vorliegt,
oder glauben Sie, daß hier Divergenzen vorliegen, Ich bin bestimmt weder Funktionär irgendeines Ver-
die man geschickt (ausnutzen muß, um Herrn Ulbricht bandes noch gehöre ich zu den Vertriebenen, aber
zu isolieren, die Dogmatiker drüben zu eliminieren was hier von Herrn Hupka und von anderen aus der
und die Nichtdogmatiker allmählich in den Vorder- gleichen Richtung gesagt wird, das ist nicht eine spe-
grund zu bringen, damit Nichtdogmatiker hier und zifische Forderung eines besonders isolierten Ele-
Nichtdogmatiker drüben dann endlich bessere Ver- mentes des deutschen Volkes, der Vertriebenen, das
hältnisse, ein (geregeltes Nebeneinander, Normalisie- ist die Meinung der Deutschen oder sollte es jeden-
rung der Beziehungen und eines Tages vielleicht so- falls sein. Man kann die Vertriebenen nicht einfach
gar die Voraussetzungen zur Wiederherstellung der mit dem Ausdruck „Vertriebenenfunktionäre" weg
deutschen Einheit schaffen können? dividieren.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Dann stelle ich -noch eine Frage in diesem Zusam-
menhang, eine Frage, die nicht von mir allein ge- Sie haben davon gesprochen, „den Frieden siche-
stellt wird, sondern auch in Ihren Reihen gestellt rer machen", den Frieden sicherer machen, als er
wird: Sind Sie, wenn Sie ;sagein, daß wir die Völker jetzt ist. Ich habe ernsthafte Zweifel, ich befürchte,
versöhnen müßten, der Meinung, daß Abkommen daß Sie den Frieden nicht sicherer machen, sondern
mit den Regierungen., mit kommunistischen Dikta- daß Sie ihn unsicherer machen, weil der Schatten
turen gleichzusetzen sind mit einem Akt der Ver- Moskaus über Europa von Jahr zu Jahr länger wird,
söhnung zwischen unserem Volke und 'den Völkern, wenn die entscheidende zentrale Macht dieses Konti-
die von diesen Regierungen beherrscht werden? Sie nents diese Politik fortsetzt, die im Oktober mit der
haben damals im Bericht zur Lage der Nation von Übernahme der Zweistaatentheorie begonnen hat.
der Versöhnung der Völkergesprochen. Ich wage, (Beifall bei der CDU/CSU.)
hier zu sagen, auch wenn es gegen den Zeitgeist Wollen Sie nicht auch einmal erklären, ob die For-
und gegen gewisse modernistische Ansichten geht, mel noch gilt — sie stammt wohl von Ihnen, Herr
daß Abkommen des Entgegenkommens, Abkommen Wehner —: Durch Sozialismus zur Wiedervereini-
mit einseitigen Verzichtleistungen zugunsten kom- gung, durch Wiedervereinigung zum Sozialismus.
munistischer Diktaturen nicht nur diese au höheren Was heißt denn: „Wandel durch Annäherung"? Soll
Forderungen anstacheln, sondern der wirklichen hier unter Umständen dann auch Wandel durch An-
Versöhnung der Völker im Wege stehen und schon passung erfolgen? Was bedeutet diese Formel?
gar nicht di ese zu begünstigen geeignet sind.
(Abg. Wehner: Erfinden Sie ruhig weiter!)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Wenn alle Parolen Ihrer Parteitage Erfindungen sind
Hat nicht ein Mitglied Ihrer Fraktion, Herr Herbert (Abg. Wehner: Ich rede von der, die Sie
Hupka — und ich zitiere hier einen unverdächtigen jetzt erfunden haben!)
Zeugen, den Sozialdemokratischen Pressedienst —,
in der Wochenzeitschrift „Der Schlesier" einen Auf- — das ist die vom Stuttgarter Parteitag —, dann
satz über „die viel differenziertere Haltung der Po- stelle ich die Frage — das ist schon einige Zeit her,
len" geschrieben, „als sie aus den landläufigen Be- Herr Wehner —: Ist das Selbstbestimmungsrecht
richten hervorgeht"? Er sagt wörtlich: negotiabel?
Hier sind die schrecklichen Vereinfacher am Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: Was muß die
Werk. Für sie isst die offizielle Einstellung der DDR tun, damit Ihre in Ihrer Schlußerklärung aufge-
kommunistischen Diktatur gleichbedeutend mit stellte Voraussetzung für völkerrechtliche Anerken-
dem Willen des regierten und untierldrückten nung des zweiten deutschen Staates auf unserer
Volkes.... Jedes Entgegenkommen einer west- Seite erfüllt ist? Welche Antworten müssen Sie be-
lichen Macht 'gegenüber den Forderungen eines kommen — wenn Sie überhaupt Antworten bekom-
kommunistisch beherrschten Staates, also auch men —, oder wie müssen die Antworten qualifiziert
Polens, muß als Substanzverlust des Westens sein, damit Sie Ihrerseits dann sagen: Ich habe das
und ,Substanzgewinn des Ostens verbucht wer- am Ende unserer letzten Begegnung erklärt; ich habe
den. Auch aus diesem Grunde sieht man in Po- jetzt Antworten bekommen, die Antworten sind da,
len in der Anerkennung (der Oder-Neiße-Linde sie befriedigen mich, also bin ich jetzt bereit, auch
durch den freien Teil Deutschlands eine Stär- diese Frage zu lösen einschließlich der Vertretung
kung der kommunistischen Position unid - einen von zwei deutschen Staaten in der UNO.
Verlust an Hoffnungen, daß es eines Tages zu Sie können auch nicht durch widersprüchliche
einer Besserung der innenpolitischen Verhält- Denkkategorien aus der Welt schaffen, die Behaup-
nisse in Pollen kommen könnte. tung widerlegen, daß Sie zwei total verschiedene,
(Zuruf von der SPD: Zitieren Sie doch auch, diametral verschiedene europäische Vorstellungen
haben. Sie, Herr Bundeskanzler, haben sowohl in
was Herr Dichgans geschrieben hat!)
Norwegen wie in Andeutungen in Saarbrücken eine
— Ich habe jetzt Herrn Hupka zitiert. Ich habe mich visionäre Vorstellung vom Großraum Europa dar-
mit Herrn Hupka nicht abgesprochen. Werten Sie gelegt, eine liebenswerte Vorstellung, wenn sie die
jetzt nicht Herrn Hupka als Funktionär eines Ver Substanz der Realität hinter sich hätte. Wenn Sie
2714 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Strauß
aber dann auch sagen: „Ich bin gleichzeitig für die Eine Friedensordnung mit einer Fixierung der
westeuropäische Integration, auch in dieser Gene- Teilung Deutschlands trägt den Keim des Un-
ration", dann müssen Sie sich sagen lassen, daß Ihre friedens und schlimmstenfalls des Krieges in
Vorstellung, man könne beides verbinden, absolut sich. Verzicht auf Gewalt heißt doch nicht Aner-
falsch und ein weiterer Akt der Selbsttäuschung ist, kennung der Gewaltakte anderer oder Besiege-
weil die Sowjetunion entscheidenden Wert darauf lung solcher Gewaltakte durch Resignation ge-
legt, durch die Vision des übergeordneten Europas genüber fremder Gewalt.
die Bildung eines westeuropäischen Kraftzentrums
(Beifall bei der CDU/CSU.)
aus Gründen, .die man wohl in diesem Hause eigent-
lich niemandem mehr zu . erläutern braucht, zu ver-
hindern.
Vizepräsident Dr. Sc h mitt Vockenhausen:
-
Deutsche heucheln, auch sie seien damit ein- Das Wort hat der Herr Bundeskanzler.
verstanden, daß in dem einen Teil Deutschlands
russische, in dem anderen Teil andere Prinzi- Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine
pien herrschen, der legt eine Bombe mit Zeit- Damen und Herren! Der Kollege Strauß war ja ganz
zünder an den Weltfrieden, - schön munter. Er scheint seine Entwaffnung durch
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) eine Stewardeß der Lufthansa gut überstanden zu
und wer glaubt, ein Verzicht auf die Grenzrege- haben.
lung in einem Friedensvertrag mit einer Ver- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs-
tretung des ganzen deutschen Volkes könnte parteien. — Pfui-Rufe von der CDU/CSU.)
die Sowjetunion umstimmen, der übersieht, daß — Man wird doch wohl einen Scherz machen kön-
sie jene Grenze, wenn das eine ist, sowieso in nen.
der Hand hat. (Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU. —
(Abg. Wehner: Ich suche schon um Asyl Abg. Wehner: Das Volk steht auf! — Glocke
recht bei Ihnen an!) des Präsidenten.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2715
(Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischen-
frage .des Abgeordneten Dr. Barzel?
Eingebettet in das westliche Verteidigungsbündnis
und gemeinsam mit ihm bemühen wir uns- um den Brandt, Bundeskanzler: Bitte sehr!
Abbau von Spannungen zwischen Ost und West, so
wie alle anderen maßgeblichen westlichen Staaten
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Würden Sie denn, Herr
es auch tun. Wenn Sie von meinem Denkansatz hier-
Bundeskanzler, an dieser Stelle die Frage, die Herr
zu etwas wissen wollen, dann kann ich Ihnen von Guttenberg hinsichtlich der Einstellung Ihrer
sagen: er besteht darin, Herr Strauß, daß ich uns Partei gestellt hat, und die von mir gestellte Frage
nicht für schlauer halte als unsere gesamten west- nach dem Inhalt des verpflichtenden oder freiwilli-
lichen Verbündeten zusammen. gen Charakters der Konsultationen als des Herz-
.(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu stücks Ihrer politischen Europavorstellungen beant-
rufe von der CDU/CSU.) worten?
2716 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Brandt, Bundeskanzler: Herr Kollege Barzel, Aber sie bemüht sich, statt auf etwas zu verzichten,
ich muß mir vorbehalten, !auf die in der Debatte was sie nicht hat, darum, für diese Bundesrepublik
gestellten Fragen in der Reihenfolge einzugehen, undfüriestchVolknMer.a-
wie sie in mein Konzept passen. trauen, ein Mehr an Frieden, ein Mehr an Sicherheit
(Beifall bei den Regierungsparteien. — neu zu gewinnen. Darum bemüht sie sich.
Zurufe von der CDU/CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
Allerdings mag das, woran Sie jetzt interessiert sind, rufe von der CDU/CSU.)
auch hierher passen. Herr Kollege ,Strauß, wenn 'Sie ,am Samstag auf
Wenn gesagt wird, wir kümmerten uns zu wenig jener Kundgebung, auf der zum Widerstand aufge-
oder zu wenig rasch, um die politische Einigung rufen werden soll, sprechen werden, dann möchte
Europas — sprich: Westeuropas —, dann antworte ich Ihnen gern den Rat geben, dort zum Widerstand
ich: wichtiger als schönklingende, dabei zuweilen nicht gegen die Vernunft, sondern gegen den Natio-
auch quallige Beteuerungen früherer Jahre ist mir nalismus und den Mißbrauch nationalistischer Vor-
das, was jetzt möglich ist. stellungen ,aufzurufen.
(Abg. Dr. Barzel: Das betraf wieder die (Beifall bei den , Regierungsparteien. — Abg.
letzten drei Jahre des Außenministers! — Dr. Barzel: Vernunft haben Sie nicht ge
Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) pachtet! Glauben Sie nicht, daß es vernünf
tig ist, das Heimatrecht zu verteidigen und
Was jetzt möglich ist, ist im Kommuniqué der Haa- Unrecht „Unrecht" zu nennen?)
ger Konferenz festgelegt.
Ich bin sehr dafür, daß das Ringen der Meinungen
(Abg. Dr. Barzel: Da steht zumindest „poli um den richtigen Weg und die richtigen Methoden
tische Einheit" und nicht politische Zusam deutlich wird.
enarbeit" !)
(Abg. Rasner: Antworten kriegen wir über
Darüber haben wir hier berichtet. Gestützt auf haupt nicht!)
das, was dort festgelegt ist, ist den Außenministern Ich halte es für bedauerlich, daß falsche Fronten kon-
ein Mandat erteilt worden. Die deutsche Regierung struiert werden und die Politik der Regierung heute
— das kann ich Ihnen guten Gewissens sagen — auch hier weithin völlig falsch dargestellt wird.
marschiert nicht hinter anderen her, sondern bemüht
sich in dieser Frage um den größtmöglichen gemein- (Abg. Dr. Barzel: Geben Sie doch einmal
samen Nenner für politische Konsultation und Zu- eine Darstellung! — Weitere Zurufe von
sammenarbeit, darauf können Sie sich wirklich ver- 'der CDU/CSU.)
lassen. — Hören Sie doch zu! Wir haben doch auch stun-
(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der denlang zugehört. — Als ob es zu veranworten
CDU/CSU.) wäre — wie es Ihr zweiter Redner heute früh
sagte —, uns in 'ein Lager, das für das Recht, mrd ein
Die Außenminister werden Ende Juli, wie es ihr
anderes Lager, das für das Unrecht sei, aufteilen zu
Auftrag ist, hierüber den Regierungschefs berichten.
wollen! Das können Sie, das können die meisten
Die Regierung ist auf diesem Gebiet wie auf ande-
von Ihnen selbst nicht so meinen und aufrechterhal-
ren für jede, auch kritische Hilfe dankbar. Aber pole-
ten.
mische Verdrehungen der tatsächlichen Zusammen-
(Abg. Dr. Heck: Das ist auch nicht gesagt
hänge helfen weder der Bundesrepublik Deutschland
worden!)
noch der Einigung Europas ; auch das müssen Sie sich
hier bitte sagen Jassen. — Lesen Sie es im Protokoll nach!
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Das dient nicht den deutschen Interessen. Des-
halb rege ich an, auch insoweit die Sachlichkeit nicht
Das andere ist dies. zu kurz kommen zu lassen. Ich muß Ihnen ehrlich
'(Abg. Rasner: Er ficht auf Rückzug! — Abg. sagen: bei manchem, wa s heute vormittag vorgetra-
Dr. Barzel: Wollen Sie nicht antworten?) , gen worden ist, habe ich mich gefragt, in welcher
Welt einige der Kollegen leben und von welchem
— Sie müssen es mir schon überlassen, in welcher Deutschland sie sprechen.
Reihenfolge ich mich äußere. Ich sage zunächst: Ich
muß !mich noch zu einem anderen Punkt gegen das (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
wehren, was hier und anderswo vorgebracht wird. Es Dr. Barzel: Vom ganzen, Herr Bundeskanz
ist einfach nicht wahr, der Regierung zu unterstel- er! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.)
--m
-l
len, .sie vernachlässige rin den Ost-West-Gesprächen Meiner Überzeugung nach — und der habe ich hier
deutsche Interessen, sie gehe — wie hieß es heute Ausdruck zugeben — ist 'es weithin nicht die Welt,
früh irgendwann? — auf das sowjetische Deutsch- mit 'der wir , es zu tun halben, die Welt, in der das
landkonzept ein, sie gebe Positionen preis, sie leiste Gleichgewicht des !Schreckens herrscht und in der es
Verzichtpolitik. Nein, sie kann .ebensowenig wie immer nur kleine, mühsam errungene Fortschritte
irgendeine andere Bundesregierung den zweiten in Richtung auf Frieden, Entspannung und bessere
Weltkrieg nachträglich, 25 Jahre hinterher, gewin- Zusammenarbeit geben kann, weil es immer noch
nen. Das kann sie tatsächlich nicht. schwere !Spannungen und blutige Konflikte gibt.
(Zurufe von der CDU/CSU.) (Abg. Rasner: Keine Antworten!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2717
Bundeskanzler Brandt
Das Deutschland, in idem wir leben, ist nicht der Außenminister noch da wäre, könnte er Ihnen sagen,
mächtige Staat, von dem manche zu meinen schei- wie viele Stunden
nen, daß per es sei, (Zurufe von der CDU/CSU)
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Eben!) — ich würde das nicht auf die leichte Schulter neh-
dessen Mitte ausreichen, das im Krieg Verlorene men; gerade diejenigen unter Ihnen, die in diesem
zurückzugewinnen, die Wiedervereinigung zu er- Lande noch einmal regierungsfähig werden wollen,
zwingen müßten das, wovon ich jetzt spreche, sehr ernst neh-
(Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wer sagt men —
denn so etwas? Das sagt doch niemand! — (Beifall bei den Regierungsparteien)
Weitere Zurufe von der CDU/CSU) der Außenminister am Montag zunächst mit seinen
und die politische Einheit Westeuropas herzustel- amerikanischen, britischen und französischen Kolle-
len. gen über die Dinge gesprochen hat, über die hier
(Abg. Rasner: Popanz statt Antworten! — leicht hinweggegangen wird, und wie sich gestern
Abg. Baron von Wrangel: Das ist doch die ganze Allianz in einem Geiste positiver Zusam-
lächerlich!) menarbeit geäußert hat. Nun können Sie doch nicht
allen Ernstes meinen, die Regierung, die Sie nicht
Ich will ja nicht den Spieß umdrehen, aber wenn mögen, SPD und Freie Demokraten und alle Ver-
hier schon, Herr Kollege Strauß, vom Aufstieg bündeten zusammen haben unrecht, nur Sie allein,
Ulbrichts gesprochen worden ist, frage ich mich, wie die Union in diesem Saal, haben recht.
man sich so kühn über die Tatsache hinwegsetzen
kann, daß während der vielen Jahre, in denen eine (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Re
Partei, die jetzt die Opposition stellt, dieses Land gierungsparteien. — Zurufe von der CDU/
regiert hat, — nicht, weil sie es so gewollt hat, CSU.)
sondern weil die Tatsachen sich so ergeben haben —
die Spaltung Deutschlands tiefer geworden ist und Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
sich das Gewicht der DDR verstärkt hat. Herr Bundeskanzler, sind Sie bereit, eine Frage des
(Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Abgeordneten Dr. Barzel zu beantworten?
teien. — Zurufe von der CDU/CSU.)
Brandt, Bundeskanzler: Bitte!
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Herr Bundeskanzler, erlauben Sie eine Zwischen- Dr. Barzel (CDU/CSU) : War diese Zustimmung
frage des Abgeordneten von Fircks? der ganzen Allianz, von der Sie eben sprachen, Herr
Bundeskanzler, auf Grund eines mündlichen Berichts
Brandt, Bundeskanzler: Bitte sehr! über allgemeine Entspannungsbemühungen oder auf
Grund einer schriftlichen Unterlage über die konkre-
ten Ergebnisse der Bahr-Mission in Moskau?
Freiherr von Fircks (CDU/CSU) : Herr Bundes-
kanzler, Sie sagten eben, Sie wüßten manchmal
nicht, von welchem Deutschland hier gesprochen Brandt, Bundeskanzler: Im ersten Fall das letz-
würde. Könnten Sie uns vielleicht sagen, von wie tere, im zweiten Fall das erste.
vielen und von welchen „Deutschländern" Ihrer Mei- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
nung nach überhaupt gesprochen werden könnte
oder gedacht werden sollte? Das ist uns in Ihren Bei dem tiefen Respekt, den ich dem zolle, was
Ausführungen auch oft sehr unklar. Herr Kollege von Guttenberg gesagt hat, kann ich
trotzdem nicht umhin zu sagen, daß ich bei dieser
bewegenden Rede immer wieder das Gefühl gehabt
Brandt, Bundeskanzler: Darauf werden wir habe, hier zeige sich doch vielleicht neben anderem,
sicherlich gleich im Zusammenhang mit Kassel kom- warum die Bundesrepublik in den zurückliegenden
men; denn das ist die Problematik dieser schwieri- Jahren nach Osten erfolglos bleiben mußte und
gen Begegnung mit dem Ministerratsvorsitzenden warum vielleicht doch die eine oder andere Mög-
der DDR gewesen. lichkeit in der Vergangenheit verspielt worden sein
Ich darf auf die wirtschaftliche und politische Eini- könnte.
gung Europas, über die wir eben schon sprachen, (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
hinweisen. Wenn nicht mehr Fortschritte erzielt Dr Marx [Kaiserslautern] : Und wir werden
worden sind, dann weiß ich natürlich auch: - nicht wägen, was Sie ab September und in der
wegen des bösen Willens früherer Regierungen, Zukunft verspielen!)
sondern überwiegend wegen objektiver Schwierig-
Bei dem leidenschaftlichen Engagement, dessen Zeu-
keiten.
gen wir geworden sind, wird man aus meiner Stel-
(Abg. Dr. Barzel: Aha!)
lung und Verantwortung den Vorwurf zurückweisen
Wer in der Politik Offenheit und Ehrlichkeit will, müssen, als übersehe diese Bundesregierung mit
der darf diese Dinge nicht verschweigen. Er darf dem Teil ihrer Politik, der nach Osten gerichtet ist,
auch nicht verschweigen, Herr Kollege Strauß, daß die Gefahren, die Europa durch ein Zerbröckeln der
die Zustimmung der Verbündeten nicht einfach ein NATO drohen könnten, als übersehe sie auch die
Problem diplomatischer Höflichkeit ist. Wenn der allzu bekannten Tatsachen, daß wir es in Europa
2718 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler Brandt
nicht überall mit freiheitlichen Verhältnissen zu tun hier streiten — der Mitglieder der Atlantischen
haben. Ich muß dem noch einmal entgegenhalten, Allianz insgesamt an den Osten einigen? Eben heute
daß die Politik vergangener Jahre es nicht verhin- nachmittag einigen sie sich darüber, während wir
dert hat, es nicht hat verhindern können, daß die uns hier streiten. Und wie wäre die Einigung in
Realitäten, mit denen wir es heute zu tun haben Rom zu erklären, wenn dort nicht alle davon über-
und die weithin als Ergebnis und Folgen des zwei- zeugt wären, daß dies ihren Interessen und ihrer
ten Weltkrieges bekannt sind, sich immer mehr ver- Sicherheit entspricht?
festigt haben. Wer diese Realitäten — lassen Sie Ich wiederhole es noch einmal: wir haben nicht die
mich das mit ganzem Nachdruck sagen — zum Aus- Absicht, Unrecht anzuerkennen; wir haben nicht die
gangspunkt seines Handelns macht, der handelt Absicht, Positionen und Rechtsüberzeugungen auf-
vernünftig und nicht unmoralisch. zugeben, die für die Gestaltung der deutschen Zu-
(Abg. Dr. Barzel: Wenn er die Absicht hat, kunft einen Wert haben können. Aber wir haben die
sie zu verändern und wenn ihm dies erlaubt Absicht, uns fest auf den Boden der Tatsachen zu
bleibt!) stellen.
(Zuruf des Abg. Dr. Barzel.)
Es handelt sich nämlich nicht darum, Unrecht zu
verschweigen oder anzuerkennen oder gar gutzu- — Genau das, was ich sage, heißt das. Man mag,
heißen, sondern es handelt sich darum, die Ver- wenn man will, dies, wovon ich eben sprach, nämlich
hältnisse zu bessern, von den Tatsachen auszugehen,
(Abg. Rasner: Und nicht festzuschreiben!) (Abg. Dr. Barzel: Und von Positionen, die
damit eines Tages mehr Recht als heute auf deut- einen Wert haben!)
schem Boden und in Europa sein kann. Darum geht in polemischer Absicht „Anerkennung" nennen; man
es. mag seine Augen vor den Realitäten verschließen
(Beifall bei den Regierungsparteien und bei und weiterhin blind sein für Möglichketien, die auch
der CDU/CSU. — Abg. Rasner: Und nicht der deutschen Politik gegeben sind und die bereits
festschreiben!) sichtbar werden. Es kann auch nicht im Interesse der
Diese Bundesregierung wird den Schutz der Opposition liegen, sich bei der ernsthaften Beschäfti-
NATO gewiß nicht aufgeben. Aber sie wird ihn gung mit dieser Materie abseits zu stellen. Denn, von
zusammen mit den anderen NATO-Partnern ergän- allen Einzelfragen abgesehen,
zen durch eine Politik der aktiven Koexistenz. Sie (Abg. Dr. Barzel: Die nicht beantwortet wer
wird kein Recht preisgeben, sondern sie wird darauf den!)
hinwirken, daß Rechtsvorstellungen politisch und
damit auch geschichtlich wirksam werden können. ist diese Position wohl doch noch eine einheitliche,
Wenn man auf diese Bemühungen verzichtet, dann daß wir auf eine europäische Friedensordnung hin-
eben läßt man Rechtstitel zum Formelkram werden. wirken wollen.
Das genau ist es, was zu lange geschehen ist. Das Ich komme jetzt zu dem, wonach insbesondere
Ergebnis war, daß weder die Einheit Deutschlands gefragt wurde
noch Schritte dahin erreicht werden konnten. Von (Abg. Dr. Stoltenberg meldet sich zu einer
dieser Tatsache kann man nicht ablenken durch das Zwischenfrage)
Heraufbeschwören einer Gefahr für die Sicherheit
und die Freiheit der Bundesrepublik, einer Gefahr — ich bitte, mich jetzt damit fortfahren zu lassen —,
— das muß die Bevölkerung von dieser Stelle aus nämlich zu einer Erörterung der Begegnung in Kas-
wissen —, die nicht existiert und die schon gar nicht sel. Dazu meinte Herr von Wrangel am 15. Mai,
existieren kann durch die Politik dieser Regierung wenn ich es richtig gelesen habe, daß in Kassel ent-
im atlantischen Bündnis. weder ein Wunder geschehen müsse oder daß es zu
(Beifall bei den Regierungsparteien.) einem Eklat komme, und aus diesem Eklat heraus
'werde Stoph abreisen, und nach diesem von ihm
Oder will etwa jemand behaupten, daß eine Gefahr erwarteten Eklat würden die Beziehungen schlechter
für den Zusammenhalt der NATO nicht vielmehr sein als zuvor. Nun, so bescheiden bin ich in meiner
dadurch entstehen könnte, daß ein größerer Teil der Einschätzung nicht gewesen. Nach dieser Einschät-
Bündnispartner eine Politik der Entspannung be- zung von Herrn von Wrangel kann der Mißerfolg
treibt und ein anderer Teil sich querlegt und sich gar nicht so groß gewesen sein. Aber lassen wir
dem widersetzt? Oder wollte jemand allen Ernstes das einmal.
behaupten, daß die Tendenzen zu einer Verringe- (Abg. Dr. Barzel: Wo ist der Millimeter?)
rung amerikanischer Streitkräfte ihre Ursache
- in der
Politik der Bundesregierung hätten? Ich spreche jetzt von dem Vorsitzenden Ihrer
(Abg. Dr. Barzel: Nicht die Ursache, aber Fraktion, der heute früh wie draußen sagt und dies
es wirkt darauf ein!) natürlich auch die Leute im Lande glauben lassen
möchte, die Verhandlungen in Erfurt und Kassel
Das kann uns doch kein Kundiger weismachen wol- hätten nicht nur keine Entspannung, sondern sie
len. Die Ursachen liegen weit außerhalb unserer hätten eine Verschärfung
Einwirkungsmöglichkeiten. Wie wollte man erklä- (Abg. Dr. Barzel: Verhärtung!)
ren, wieso sich jetzt in Rom — ich sage es noch
einmal — alle NATO-Regierungen auf ein Verhand- — Verhärtung gebracht. Ich widerspreche dem. Ich
lungsangebot — unabhängig von dem, worüber wir sage — und dazu äußere ich mich gleich —, das
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2719
Bundeskanzler Brandt
Ergebnis war völlig unbefriedigend. Und doch -- Ich möchte auch heute insoweit diejenigen nicht
und ohne daß ich mir etwas vormache — ist die drängen, die in Ostberlin die Regierung bilden, aber
Tatsache, daß zweimal in zwei Monaten verantwort- ich möchte klarstellen, daß die auch heute hier viel-
liche Männer aus Bonn und Ostberlin stundenlang, zitierte Denkpause vor allem in Ostberlin genutzt
auch wenn sie sich nicht einigen können, Argumente werden sollte.
austauschen, ein Fortschritt gegenüber den Jahren, (Abg. Dr. Barzel: Sehr gut!)
in denen wir mit dem Rücken gegeneinander stan-
Die Bundesregierung hat ihr Konzept; das hat sie
den.
dort unterbreitet. Danach sollten wir unter anderem
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs
das Mögliche nicht unterlassen, nur weil das
parteien. — Zurufe von der CDU/CSU.)
Wünschbare heute 'nicht erreichbar ist. Das gehört
dazu.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: (Abg. Dr. Barzel: Ja, ist gut!)
Herr Bundeskanzler, Sie genehmigen die Frage?
Die vor uns liegende Zeit sollte aber auch dazu
benutzt werden, zu überlegen, daß zwischen den
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Ich verstehe Sie also
recht, Herr Bundeskanzler, daß Sie meinen Satz, das beiden Seiten in Deutschland 'im zwischenstaatlichen
Ergebnis von Kassel sei nicht Entspannung, sondern Verkehr die für solchen zwischenstaatlichen Verkehr
Verhärtung, damit zurückweisen, daß dieses Treffen übliche Methode eingeführt wird, wonach man zu
vertraglichen Ergebnissen dann immer noch leichter
überhaupt stattgefunden hat?
kommt, wenn ein gründlicher Meinungsaustausch
voraufgegange ist. Wer, auch unter noch so schwie-
Brandt, Bundeskanzler: Im wesentlichen 'damit, rigen Partnern, die Gedanken miteinander klärt,
daß es stattgefunden hat und daß Argumente anein- der wird es leichter finden, sie zu formulieren. Dies
ander gemessen worden sind. hat sich zwischen der Bundesrepublik und der So-
wjetunion bewährt, dies sollte auch die Methode
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Und Sie nehmen bitte zwischen Ostberlin und Bonn werden.
zur Kenntnis, daß ich vom Ergebnis gesprochen
Ich sage dies nicht, um nachträglich die beiden
habe, daß das Ergebnis nicht zur Entspannung, son-
Begegnungen mit dem Ministerratsvorsitzenden aus
dern zur Verhärtung geführt hat und daß Ihre Argu-
Ostberlin in ihrer Bedeutung zu verkleinern,
mentation daneben gelegen hat.
(Abg. Dr. Barzel: Ein neuer Auftrag für
(Zurufe von der SPD: Frage!)
Egon Bahr!)
Brandt, Bundeskanzler: Die Bundesregierung, auch nicht, weil ich der manchmal geäußerten Auf-
meine Damen und Herren, hat das Gespräch mit der fassung der Opposition wäre, man hätte keinesfalls
Regierung der DDR angestrebt. Sie hat das hier vor mit Begegnungen der Regierungschefs beginnen
dem Hohen Hause rechtzeitig gesagt. sollen.
(Abg. Dr. Barzel: Wir haben das unterstützt,
(Abg. Baron von Wrangel meldet sich zu
das wissen Sie!)
einer Zwischenfrage.)
— Nein, jetzt nicht. — Sie hat dabei von Anfang an Nach der jahrelangen Verkrustung war wohl diese
keinen Zweifel gelassen, daß der Weg zu einer Art von Begegnung nötig, um in Gang zu kommen.
Regelung der Beziehungen zwischen den beiden Aber nun, da dies geschehen ist, sollte man über
Staaten in Deutschland lang und schwierig sein die Wünsche und Vorschläge beider Seiten reden.
wird. Sie hat ihre Positionen und Vorschläge in Man sollte sehen, was davon annähernd überein-
monatelanger Vorarbeit sorgfältig abgewogen und stimmt, was davon 'in absehbarer Zeit praktisch und
präzise formuliert. Sie hat vor der falschen Hoffnung grundsätzlich gelöst werden kann, und auf der
gewarnt, als könne es für Probleme, die sich in mehr Basis dieser Arbeit sollten sich die Regierungschefs
als 20 Jahren entwickelt haben, kurzfristig Lösungen dann wieder treffen. Niemand darf glauben, das
Ergebnis von Verhandlungen vorwegnehmen zu
geben. Ich war deshalb weder überrascht noch ent-
täuscht, daß ich auf die von mir in Kassel vor- können.
gelegten 20 Punkte, die übrigens am letzten Freitag Daß unsere Art, die Auseinandersetzung über un-
im„NeunDtschlad"izgerZtunüb terschiedliche Standpunkte zu führen, sich von ,der
vollinhaltlich abgedruckt wurden — das Blatt war der anderen Seite unterscheidet, ist ebenfalls nicht
dann auch rasch verkauft —, was ich begrüßt habe, überraschend. Die Gelassenheit einer wohlüberleg-
weil dadurch eine ganze Reihe von Mitbürgern drü- ten Position wiegt schwerer und ist auf die Dauer
-
ben sich ein Bild machen konnte, keine unmittelbare auch erfolgreicher als polemische Überspitzungen,
Antwort erhielt. Die Delegation der DDR hat auch die einer nüchternen Widerlegung nicht standhalten,
keine neuen Gesichtspunkte vorgebracht. wie wir es in Kassel in der vergangenen Woche, zu-
mal am Donnerstagnachmittag, erlebt haben.
Wenn Kassel mit der übereinstimmenden Auf-
fassung aller Teilnehmer endete, den Faden nicht Ich möchte das Ergebnis meiner bisherigen zwei
abreißen zu lassen, das Gespräch zu einem geeig- Gespräche mit dem Ministerratsvorsitzenden der
neten Zeitpunkt fortzusetzen, so gilt dies insbeson- DDR auf die kurze Formel bringen, daß in Kenntnis
dere auch, weil eine Antwort der DDR-Seite auf die beider Positionen und nach gründlicher Überlegung
Vorschläge der Bundesrepublik, der Bundesregie- beider Seiten eine Grundlage für die Weiterführung
rung noch aussteht. der politischen Gespräche in einer konkreteren Form
2q20 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler Brandt
als bisher gegeben ist. Das ist meine kurze Zusam- Bei dem Gespräch in Kassel nahm das Thema der
menfassung. Und dafür waren — das kann nicht ver- angeblichen Diskriminierung der DDR — wie es
wischt werden — Erfurt und Kassel eine politisch drüben genannt wird — „durch Gesetze und Norma-
unumgängliche Notwendigkeit. tivakte der Bundesrepublik" in den Ausführungen
der Delegation der anderen Seite viel Raum ein.
Es ist klar, daß Verhandlungen nur möglich sind,
Darüber ist von unserer Seite schon einiges gesagt
wenn keine Seite ihre Vorschläge als etwas betrach-
worden. Es ist noch eine Menge zu sagen. Aber ich
tet, was der andere entweder nur annehmen oder
glaube, darauf kann man noch hier oder in den
nur .ablehnen kann. Es ist klar, daß in einer derarti-
zuständigen Ausschüssen zurückkommen. Es lohnt,
gen Lage keine der beiden Seiten mit einem Ergeb-
darauf zurückzukommen. Ich habe dort vorgeschla-
nis zu hundert Prozent zufrieden sein kann. Jede
gen — wie es in den 20 Punkten steht —, daß wir
Seite kann es sich, wenn wir einmal so weit sein
sollten, dann immer noch besser vorstellen. bereit sind, auch zu prüfen, auf welchen Gebieten
Kollisionen zwischen der Gesetzgebung beider Staa-
Der Wille, zu einer Übereinkunft zu gelangen, ten bestehen und ob und wie diese beseitigt wer-
wird entscheidend sein, wenn die sachliche Prüfung den könnten.
die Möglichkeit dazu ergibt. Diese Möglichkeit sehe Nun, ich übersehe nicht, daß die von der anderen
ich. Der gute Wille ist bei uns vorhanden. Auf die Seite erhobenen Vorwürfe wie auch andere Erschei-
Antwort nach der Pause warte 'ich ohne Hast. nungen in der Verhaltensweise der DDR Varianten
Die Bundesregierung hat ihre Bereitschaft zu des Strebens nach dem politischen Ziel der formalen
einer vertraglichen Regelung der Beziehungen zwi- völkerrechtlichen Anerkennung sind. Ich habe be-
schen den beiden Staaten ausdrücklich auf die Zu- reits in Erfurt dem Vorsitzenden des Ministerrats
kunft und den Zusammenhalt der Nation ausgerich- gesagt, daß der Versuch, die Problematik der Bezie-
tet. Das ist in den kritischen Anmerkungen des heu- hungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland
tigen Vormittags sehr untergegangen. allein unter den völkerrechtlichen Gesichtspunkt zu
stellen, weder dem Gewicht noch dem Umfang der
Unter dem Gesichtspunkt der Bedeutung, die wir Fragen gerecht wird. Inhalt und Form von Regelun-
den Menschenrechten beimessen, muß auch die Fest- gen und Vereinbarungen zwischen den beiden Staa-
stellung betrachtet werden, daß die Unabhängigkeit ten in Deutschland stehen in einem unmittelbaren
und Selbständigkeit jedes der beiden Staaten in An- Zusammenhang.
gelegenheiten seiner inneren Hoheitsgewalt respek-
tiert werden soll. Ich sage dies mit besonderer Be- Das gilt unverändert auch für den Standpunkt der
tonung, weil völlig klar sein muß, daß kein Vertrag Bundesregierung zur Mitarbeit anderer in inter-
zu irgendeiner Art von Mitspracherecht der DDR in nationalen Organisationen. Ich habe dem Vorsitzen-
Angelegenheiten der Bundesrepublik Deutschland den des Ministerrats erklärt, daß wir zuerst das
führen darf. politische Verhältnis zwischen den beiden Staaten
regeln müssen, bevor wir in der Lage sein werden,
(Abg. Dr. Barzel: Auch nicht Westberlins?) das Verhältnis zu dritten Staaten und in den inter-
— Ich komme auf Westberlin. nationalen Organisationen einvernehmlich zu regeln.
Hier ist der Standpunkt der DDR anders.
Punkt 5 unserer 20 Punkte — der Grundsätze und
Was die Fortführung der Gespräche betrifft, weise
Vertragselemente, wie ich sie genannt hatte — ist
ich darauf hin, daß Herr Stoph bereits in Kassel die
hier und da, auch in der Rede des Kollegen Barzel
Bereitschaft der Regierung der DDR zur Fortsetzung
heute früh, so verstanden worden, als ob er bedeu-
der Gespräche erklärt hat. Dies ist inzwischen durch
ten könnte, wir würden und dürften uns nicht mehr
einen Beschluß des Ministerrats der DDR vom 25.,
zu so gravierenden und bedrückenden Tatsachen
also vom Montag dieser Woche, bestätigt worden.
äußern, wie sie entlang der innerdeutschen Grenze
und an der Mauer in Berlin gegeben sind. Tatsäch- (Abg. Dr. Stoltenberg: Unter welchen Be
lich bedeutet Punkt 5: Die Bundesrepublik Deutsch- dingungen?)
land nimmt keine Hoheitsgewalt in der DDR in An- — Wenn ein nächstes Gespräch — am besten als
spruch, genauso wie umgekehrt die DDR keine qualifiziertes Vorgespräch — stattfindet, wird es von
Hoheitsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland vielen Faktoren bestimmt werden, auch von denen
in Anspruch nehmen kann. der allgemeinen Entwicklung des Verhältnisses zwi-
(Abg. Dr. Barzel: Wenn die drüben weiter schen Ost und West. Die Bundesregierung wird es
schießen? — Abg. Dr. Marx [Kaiserslau weder in diesem Bereich noch gegenüber der DDR
tern] : Es heißt nicht „in Anspruch nehmen", an Initiativen fehlen lassen, um in konstruktiver
- Weise und in Wahrung ihrer unmittelbaren Positio-
es heißt „respektieren" !)
nen und Ziele Beiträge zu einer Entspannung und
— Wir wollen doch einen Zustand bekommen, in Normalisierung zu leisten. Sie wird sich dabei von
dem wir über das Weiterschießen hinwegkommen, dem Grundsatz leiten lassen, daß die Sicherheit des
Herr Kollege Barzel. einen nicht die Unsicherheit des anderen und der
Vorteil des einen nicht der Nachteil des anderen sein
(Beifall bei der SPD.) dürfen.
Das ist doch der Sinn und das Ziel der Politik. In diesem Zusammenhang einige Bemerkungen zu
dem, was auch hier viel Interesse gefunden hat, näm-
(V o r s i t z: Präsident von Hassel.) lich was mit der Problematik — aus der Sicht der
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2721
Bundeskanzler Brandt
1 anderen Seite — völkerrechtlicher Beziehungen, Herr Stoph — „als völkerrechtliche Anerkennung
Beziehungen auf der Basis des Völkerrechts oder der DDR bezeichnen, lösen läßt". Ich hätte ebensogut
völkerrechtlicher Anerkennung zusammenhängt. sagen können, weil er noch mehr von „völkerrecht-
Herr Stoph hat in seiner Erwiderungsrede in Kassel lichen Beziehungen" gesprochen hat: Die Frage, die
am Donnerstag vormittag zirka dreißigmal von völ- Sie als Regelung der Beziehungen — —
kerrechtlichen Beziehungen, Völkerrechtssubjekti- (Abg. Dr. Barzel meldet sich zu einer Zwi
vität, vom Völkerrecht als Grundlage der Beziehun- schenfrage. — Abg. Dr. Apel: Keine Zwi
gen und ähnlichem gesprochen. Ich hatte vorher, schenfragen mehr! — Abg. Dr. Marx [Kai
indem ich mich auf Erfurt bezog — hieran hat der serslautern] : Wird es euch peinlich?)
Kollege Barzel heute vormittag erinnert —, deutlich
gemacht, „daß wir" — ich zitiere — „weder die wei- — Ich muß darum bitten, jetzt diesen Gedanken
terwirkenden Rechte der Vier Mächte überspielen weiterentwickeln zu können. Danach gebe ich Ihnen
noch die Spaltung Deutschlands völkerrechtlich an- gern das Wort.
erkennen wollen". Hiervon ist zu keinem Zeitpunkt, (Unruhe.)
in keinem Gespräch, weder am Delegationstisch noch Ich habe gesagt, ich sei .davon überzeugt, daß
an anderer Stelle, auch nur irgend etwas abgestri- eine solche Erörterung und Prüfung möglich sein
chen worden,' nämlich könnte, wenn wir eine Antwort auf die Frage erhiel-
(Abg. Dr. Barzel meldet sich zu einer Zwi ten, was sich durch vertragliche Regelungen im
schenfrage) Interesse der Menschen verändern würde. Ich habe
— lassen Sie mich meinen Gedanken weiterent- nicht gesagt,. wie heute hier zitiert wurde, obgleich
wickeln — von diesem auch von Ihnen aufgegrif- man den Text im Bulletin kannte: Stoph braucht nur
fenen Satz, „daß wir" — ich wiederhole — „weder irgendeine Antwort zu geben. Nein, es ist nicht
die . . . Rechte der Vier Mächte überspielen noch die irgendeine Antwort, sondern es ist die Antwort auf
Spaltung Deutschlands völkerrechtlich anerkennen" .den folgenden Satz, der dieser Bemerkung vorauf-
— oder sanktionieren — „wollen" . Das blieb und geht, die ich soeben zitierte — ich zitiere —:
bleibt unabgekürzt aufrechterhalten. Sie sprechen immer auch davon, daß sich die
(Abg. Dr. Barzel: Was war denn nachmit Regierung der DDR vom Interesse der Menschen
tags?) leiten lasse, wie wir es zu tun bemüht sind,
aber uns fehlen die konkreten Angaben dar-
— Darauf komme ich doch gleich. Das, was nachmit über, was dies im Zusammenhang mit den ver-
tags war, hatte mit der Mittagspause überhaupt traglichen Regelungen 'zwischen unseren Staa-
nichts zu tun, sondern nur mit dem, was ich Ihnen ten bedeuten soll.
jetzt zu erklären versuche.
Dann geht es weiter: Es müßte doch möglich sein,
(Abg. Dr. Barzel: Das ist traurig! Wir hatten uns darauf eine Antwort zu geben, und dann:
gedacht, da wäre Ihnen irgend etwas ange „Wenn wir solche Antworten erhielten", und dann
boten worden!) das, was ich Ihnen vorgetragen habe.
— Ich versuche jetzt, Ihnen das zu erklären, wenn
Sie die Güte hätten, dabei zuzuhören. Meine Damen und Herren, hier hat doch Herr Kol-
lege Strauß, als er polemisierte, nicht gelesen, was
In den Darlegungen des Herrn Stoph verdienen, im „Bulletin" stand. Denn er hat unterstellt, daß ich
auch wegen der Wirkung auf andere, nicht nur im mich dort äußere, ohne auf das zu reagieren, was
Osten, je eine Behauptung und eine Unterstellung dieanrStsg,uohevndra
besondere Beachtung: erstens die Behauptung — ich Seite etwas zu erwarten. Dies wird eben dem
zitiere —, die völkerrechtliche Anerkennung der Gegenstand, mit dem wir es zu tun haben, nicht ge-
DDR durch die BRD sei, so sagt er, nicht nur eine recht.
juristische Frage oder etwa eine Sache des Prestiges
der DDR oder eines anderen Staates, und zweitens Im übrigen habe ich in der gleichen Replik be-
die Unterstellung, eine Verweigerung der völker- tont:
rechtlichen Anerkennung der DDR, wie er es nennt, Soweit zwischen den beiden Staaten in Deutsch-
und ihrer Staatsgrenze bedeute, daß wir uns „für land nicht vertraglich besondere Regelungen für
aggressive Handlungen die Hände freihalten" woll- bestimmte Sachgebiete getroffen worden sind
ten, — so wörtlich zitiert. In diesem Zusammenhang oder getroffen worden sind oder werden, finden
müssen Sie meine Bemerkung in der Erwiderung am die allgemein anerkannten Prinzipien des zwi-
Nachmittag sehen und lesen, also insbesondere im schenstaatlichen Rechts ... Anwendung.
Zusammenhang mit der Unterstellung, wir wollten An anderer Stelle habe ich gesagt: Unsere Vertrags-
uns die Hände für aggressive Handlungen - frei- elemente stützen sich auf die Regeln des zwischen-
halten. staatlichen Rechts, es sei denn, daß sich aus der
In diesem Zusammenhang habe ich gesagt — auch Natur der Sache Abweichendes ergibt.
das zitiere ich wörtlich nach dean, was der Steno-
Hierzu kommt dann noch einmal der besondere
graph dort festgehalten hat —
Hinweis darauf, daß die bestehenden Viermächte-
(Abg. Dr. Barzel: Das haben wir ja nicht!) vereinbarungen über Deutschland und Berlin zu
— doch, das linden Sie auch im Bulletin; ich könnte achten seien, aber auch der Hinweis, daß in den
jetzt statt „Stenograph" sagen: Bulletin —, „das sich auszuhandelnden Vereinbarungen, die ,der Lage zu
im Laufe der Zeit auch die Frage, die Sie" — Sie, entsprechen haben, wie ich sagte, d. h. der Lage
2722 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler Brandt
Deutschlands und der Deutschen 25 Jahre nach zusammen sieht, wissen, daß hierin dies einge-
Kriegsende, gegebenenfalls die Anwendung völker- schlossen ist, was Sie Selbstbestimmungsrecht
rechtlicher Prinzipien für die Beziehungen unserer nennen.
Staaten zueinander formell Ausdruck finden kann. (Abg. Dr. Barzel: Was w i r Selbstbestim
Das heißt, wie wir es an anderer Stelle hier und mungsrecht nennen!)
draußen gesagt haben: Ein Vertrag oder mehrere Jetzt nehme ich Herrn Strauß beim Wort.
Verträge oder vertragliche Regelungen zwischen die
(Abg. Dr. Barzel: Was w i r Selbstbestim
sen beiden Staaten in Deutschland sollen in der Tat
mungsrecht nennen!)
die gleiche Verbindlichkeit haben wie Verträge, die
jeder von ihnen mit Dritten abschließt. Das sollen Ich frage Sie: Was soll denn dies heißen?
sie tatsächlich. (Abg. Dr. Barzel: Oder nennen wir das
Ich meine, diese Position ist klar. Sie geht davon anders als Sie? — Weitere Zurufe von der
aus, daß Verhandlungen aufgenommen werden sol- CDU/CSU.)
len und idaß in Verhandlungen auch über die Rechts- — Lassen Sie mich jetzt ausreden. Keiner hat Sie
qualität der verschiedenen zu treffenden Regelun- unterbrochen. Was ist das hier für eine Art, Herr
gen zu sprechen sein wird. Barzel!. Sie haben hier heute vormittag völlig un-
Ich stehe zu jedem Wort, das ich insoweit in Kas- unterbrochen reden können. Sie sollten denselben
sel gesagt habe. Mich interessiert, daß die Opposi- Stil auch dem Regierungschef gegenüber wahren.
tion hier glaubt, ich sei über die Politik hinausge- (Lebhafter Beifall bei den Regierungs
gangen, die ich in den Regierungserklärungen vom parteien.)
28. Oktober und vom 14. Januar bekanntgegeben
habe. Herr Stoph, der der eigentliche Partner in die- Jetzt frage ich Sie: Was soll denn nun gelten?
sem Geschäft ist, glaubt dies nicht, wie seine Ein- Was Herr Barzel und Herr Guttenberg sagen: „Ihr
lassungen und seitherigen Erklärungen zeigen. müßt mit den Kommunisten auch noch vereinbaren,
daß Selbstbestimmung gilt", oder was Herr Strauß
sagt: „Das hat alles keinen Zweck, denn verbale
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Übereinstimmung mit den Kommunisten nützt weder
Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Barzel?
auf diesem Gebiet noch auf einem anderen"?
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Brandt, Bundeskanzler: Bitte sehr.
Nur das eine oder das andere kann gelten.
Dr. Barzel (CDU/CSU) : Sie haben dargetan, daß (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist an den
Ihr Hinweis auf das In-Aussicht-Stellen der völker- Haaren herbeigezogen!)
rechtlichen Anerkennung die Antwort auf die Unter-
stellung von Herrn Stoph gewesen sei, wir hätten — Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen!
die Absicht, mit Gewalt unsere Ziele durchzusetzen. Überall im Ost-West-Konflikt liegt das Problem
Hätte es nicht genügt, dem mit dem Hinweis auf die vor, und da gibt es Leute, die sind nicht sehr viel
Ziffer 4 Ihrer eigenen 20 Punkte zu antworten, wo dümmer als Herr Strauß, die stoßen — die Ameri-
Sie ihm den Gewaltverzicht anbieten? Dies wäre kaner mit den Russen bei SALT und alle anderen,
doch genug gewesen, und nicht .das Überschreiten die mit Ost-West-Geschichten zu tun haben — auf
der verabredeten Grenzen. dieselbe Schwierigkeit: Wie wollen Sie im Wissen
darum, daß es schwierig ist, dortige und hiesige
Brandt, Bundeskanzler: Ich kann das nicht ein- Terminologie auf einen Nenner zu bringen, etwas
sehen, sondern ich sage noch einmal: Jede ernst- vereinbaren, ohne daß Sie nicht doch den Versuch
hafte Verhandlung über einen Vertrag wird ohne- machen, es mit Worten aufzuschreiben. Es ist natür-
hin zeigen, daß in einem solchen Vertrag oder meh- lich daraufhin abzuklopfen, daß es möglichst nicht
reren solchen Verträgen verschiedene Rechtsquali- der Gefahr der Fehldeutung unterliegt. Dieses Pro-
täten ihren Niederschlag finden müssen, einige auch blem liegt überall vor.
ganz eigener Art, weil es für sie keinen Vergleich Herr Kollege Barzel, Sie haben heute vormittag
und kein Vorbild gibt. zu suggerieren versucht, das Kabinett werde heute
Nun, meine Damen und Herren, wieso in dem, über die Aufnahme von Verhandlungen mit der
was wir in Kassel gesagt haben, eine Einschränkung Sowjetunion beschließen.
unseres Bekenntnisses zum Selbstbestimmungsrecht (Abg. Dr. Stoltenberg: Das steht doch in
-
liegen soll, das kann ich überhaupt nicht begreifen. den Zeitungen!)
(Abg. Rasner: Warum hinterher dann — In den Zeitungen steht vieles. Ich wollte nur
interpretieren?) sagen,
-- Was heißt „hinterher interpretieren"? Ich könnte (Abg. Dr. Stoltenberg: Auf Grund von In
ebenso fragen: Warum lesen Sie nicht vorher, bevor formationen aus dem Regierungslager!)
Sie polemisieren?
dies hätte Ihnen von vornherein als ganz unwahr-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) scheinlich vorkommen müssen, und zwar schon aus
Jeder Gutwillige, Herr Rasner, muß, wenn er die folgenden Grunde: Der Bundeskanzler wird doch
20 Punkte sieht und die Punkte 1, 3, 10, 11 und 12 nicht ohne Not in einer solchen Frage im Kabinett
Deutscher Bundestag --- 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2723
Bundeskanzler Brandt
entscheiden lassen, wenn sein Außenminister nicht Folgendes ist natürlich schwierig, Herr Kollege
dabei ist, — der doch heute abend — — Barzel. Man kann nicht, wie es auch die vorige Re-
gierung am 9. April 1968 getan hat, und zwar aus
(Lachen bei der CDU/CSU. — Abg. Rasner:
guten Gründen — das gleiche gilt für diese Regierung
Sie lernen wenigstens! — Weitere Zurufe
—, der Sowjetunion mitteilen, auch im Zusammen
von der CDU/CSU.)
mit Berlin: Die Bundesrepublik Deutschland erhebt
— Sie könnten so etwas auch einmal so hinnehmen, keine „Gebietsansprüche" gegen irgend jemanden,
wie es gesagt ist, und hier nicht versuchen, alles und dann wie Herr von Guttenberg das Wort „keine
ins halb Unseriöse zu ziehen. Gebietsansprüche", wie wir es heute gebrauchen, in
(Beifall bei den Regierungsparteien.) dem Sinne auslegen, daß wir damit die sowjetische
Berlinpolitik unterstützten. Dies geht nicht, meine
Meine Damen und Herren, ich will nur sagen, Herr Damen und Herren.
Kollege Barzel, ich kann Ihnen den Gefallen nicht
tun. Wenn das Kabinett nicht beschließt, sondern, (Beifall bei den Regierungspartein.)
wie ich es empfehlen werde, nur berät und später — Bitte sehr!
beschließt, dann kann ich das Ihnen nicht als Erfolg
Ihrer Intervention heute früh ankreiden, Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Bundeskanzler,
(Abg. Dr. Barzel: Ist es trotzdem!) darf ich dann davon ausgehen, daß die gesamte
Antwort der Bundesregierung vom 9. April 1968
und zwar deswegen, weil dies schon gestern meine
immer noch der . Gegenstand der 'Politik Ihrer Re-
Meinung zu diesem Gegenstand war.
gierung ist, einschließlich der Frage , der Artikel 53
(Abg. Dr. Barzel: Auch am Montag, Herr und 107, die damals zur Ablehnung der sowjetischen
Bundeskanzler?) Entwürfe führten?
— Jawohl.
(Abg. Dr. Barzel: Wir wollen hier gar nicht Brandt, Bundeskanzler: Ich habe Ihnen soeben
jubilieren!) gesagt, daß Problematik der Artikel 53 und 107
keineswegs ausgeklammert und ,ausgeschlossen war,
Meine Damen und Herren, ich unterstreiche das, und ich habe in einer bewußt , vorsichtigen Formu-
was Herr Kollege Borm gesagt hat: Rechte nicht lierung — Si e , werden noch merken, warum ich sie
preisgeben. Aber zum Abwenden von Schaden für so gewählt habe — ausgedrückt, daß wir auch auf
die Bundesrepublik gehört auch, zu verhindern, daß diesem Gebiet für die deutsche Position .Fortschritte
die Bundesrepublik in die Rolle des Michael Kohl- erreicht haben.
haas in der Welt gedrängt wird.
(Abg. Dr. Barzel: Warum kommt es dann
(Abg. Dr. Stoltenberg: Sehr richtig, das nicht auf Iden Tisch? Dann hätten Sie es
würde ich auch sagen!) (doch veröffentlichen können!)
Was die Gespräche angeht, die Herr Bahr in Mos- — Gut. Herr Barzel sagt: Veröffentlicht das doch!
kau geführt hat, so weiß man, daß sie der Vorberei- Ein anderer wichtiger Vertreter der Opposition hat
tung eines Gewaltverzichtsvertrages dienen. Meine kürzlich gesagt, er sei sich dessen bewußt, ?daß eine
Damen und Herren, Sie werden sehen, wenn es so 20jährige Tradition fortgesetzt werde, wenn die
weit ist, Bundesregierung mit ihren öffentlichen Äußerungen
(Abg. Dr. Barzel: Nicht am 8. Juni?) zurückhaltend sei, während sie sich in wichtigsten
Verhandlungen befinde. Dies muß ich vor dem
daß keine Positionen aufgegeben worden sind und deutschen Volk , einmal , sagen: Hier wind uns etwas
aufgegeben werden, sondern daß sich die Bundes- zugemutet, das kein vernünftiges Regieren möglich
regierung im Gegenteil gerade auch hier, und zwar machen würde.
mit Erfolg, darum bemüht hat, die Position der
(Lebhafter Beifall bei ,den Regierungspar
Bundesrepublik zu verbessern — auch in bezug auf
teien.)
die Problematik, die hier in bezug auf die soge-
nannten Feindstaatenklauseln der UNO-Charta an- Man könnte das auch noch anders sagen.
gesprochen worden sind. (Abg. Rasner: Hinter 'unserem Rücken!)
(Abg. Dr. Barzel: Wenn das so gut ist, kann Di e Bundesregierung verhält sich nur so, wie das
man doch morgen veröffentlichen!) international üblich ist. Auch die CDU wird an dem,
wasinterolÜbch,intsäder.
Wir bemühen uns um einen Zuwachs an Sicherheit
und an Möglichkeiten für friedliche Zusammenarbeit.
- (Beifall bei der SPD.)
Eine Regierung — wer 'immer sie gebildet hat —, die
(Abg. Dr. Barzel: Dann veröffentlichen Sie
mitten i n Verhandlungen sich in der Öffentlichkeit
es doch!)
zuviel ,entlocken läßt, wird als Verhandlungspartner
Das wird auch seine Auswirkungen auf Berlin haben, nicht ernst genommen und kann die Interessen ihres
Landes nicht mehr so vertreten, wie es nötig
(Abg. Dr. Barzel: Dann kann man doch mor
gen veröffentlichen!) Ich kann es auch noch anders sagen. Wenn selbst
die 'Regierungen unserer drei westlichen Haupt-
und hier kommen wir zu einem umgekehrten Schluß verbündeten über ihre Berlinverhandlungen absolu-
wie Sie. tes Stillschweigen bewahren, so sicher nicht, weil
2724 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Bundeskanzler Brandt
i hnen Berlin nicht wie uns am Herzen liegt. Wir kön- das Aussprechen des Satzes, es gebe zwei deutsche
nen jedenfalls sagen, daß es hier noch mehr um Staaten auf deutschem Boden, durch den Bundes-
unsere Sache geht, als um die der dre i Mächte. kanzler der Bundesrepublik ein konstitutiver Akt
Wir müssen erst recht darauf achten, daß kein Por- und nicht eine Tatsachenbeschreibung ist?
zellan zerschlagen wird und daß die lebenswichtigen (Beifall bei der CDU/CSU.)
Interessen unseres Volkes nicht verletzt werden.
So geht e s nicht, meine Herren: auf der einen Seite
möchte die Opposition vertrauliche Informationen Brandt, Bundeskanzler: Ich fürchte, Herr Kol-
erhalten — und erhält sie auch —, auf der anderen lege von Guttenberg, daß ich mit dieser Feststel-
Seite erklärt sie, sie könne in ihren Äußerungen in lung, ob so oder so interpretiert, außer einigen
der Offentlichkeit darauf keine Rücksicht nehmen. ehrenwerten Mitgliedern dieses Hohen Hauses nicht
Ich verstehe natürlich durchaus nicht nur das legi- viele Menschen in der Welt überrascht habe;
time Interesse der Opposition, die Regierung 711 be- (Zuruf von der CDU/CSU: Oh, in der Tat,
drängen. Aber mit der heute hier präsentierten ja! — Weiterer Widerspruch bei der
Zwiespältigkeit .aus freundlicher Unsachlichkeit und CDU/CSU.)
unfreundlicher Sachlichketit werden Sie nicht viel
erreichen. denn dort hat es sich schon weitgehend herumge-
(Beifall bei der SPD.) sprochen, um was es sich bei der DDR handelt.
Ich habe mich nicht in die Dinge der Union ein- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
zumischen. Aber hier geht es um den Staat, den ruf von der CDU/CSU: Da irren Sie sich!)
wir alle zu tragen haben, und seine Interessen Nach unserer Auffassung ist dies die Basis, ohne
dürfen selbst dann nicht in die Ecke gestellt werden, die eine Politik der Entspannung und der Normali-
wenn wichtige Landtagswahlen vor der Tür stehen. sierung in Europa nicht möglich ist. In der Tat ist
(Beifall bei der SPD. — Abg. Rasner: Als danach gefragt worden. Ohne das Zurkenntnis-Neh-
ob das damit etwas zu tun hat!) men auch dieser bitteren Tatsache, die nicht dadurch
Eine Regierung muß handeln, sich aber auch die besser wird, daß man den Kopf in den Sand steckt,
Konsequenzen überlegen. Das tut die Regierung. hätten die Gespräche in Warschau und Moskau
Sie hält sich dabei in Moskau und in Warschau, in nicht sinnvoll geführt werden können, wäre es nicht
Erfurt und in Kassel, in Rom und in Washington, in zum Beginn des Dialogs zwischen Ostberlin und uns
London und in Paris an die festgelegte und in aller gekommen. Wenn man dies eine Vorleistung nennt
Öffentlichkeit wieder und wieder ausführlich dis- — das, was Sie, Herr Kollege Strauß, Zweistaaten-
kutierte Politik, die in den Regierungserklärungen theorie nennen wollen —, so ist es eine Vorleistung
niedergelegt ist. Dort sind unsere Absichten ebenso gewesen, die der Bundesrepublik genützt hat. Von
klar abgesteckt worden wie die Grenzen dessen, was anderen Vorleistungen habe ich noch nichts gehört.
wir können. (Zurufe von der CDU/CSU.)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn In den letzten Tagen habe ich wieder einmal —
nun noch einmal auf das Selbstbestimmungsrecht nicht zum ersten Mal, seit ich Bundeskanzler bin —
und darauf, daß es unantastbar bleiben müsse, hin- sowohl in dem Briefwechsel zwischen Konrad
gewiesen wird: Wozu sagt man das? Gegen wen Adenauer und sowjetischen Staatsmännern als auch
soll sich das eigentlich richten? Die Selbstbestim- in den Aufzeichnungen, die er über diese Gesprä-
mung ist selbst dann kein Verhandlungsobjekt für che gemacht hat, geblättert. Meine Damen und Her-
uns, wenn die Opposition das bezweifelt, und dies ren, ich war und bin tief beeindruckt von dem Ernst
brauche ich nicht jeden Tag zu wiederholen. und dem Mut, mit dem Adenauer einen Ausgleich
(Beifall bei den Regierungsparteien.) mit der Sowjetunion gesucht hat, nicht nur, indem er
die wirkliche Lage sah, wie sie sich durch den Krieg
Herr Kollege Strauß, die Bundesregierung hat und nachher entwickelt hatte, sondern auch, weil er
hier nicht am 28. Oktober eine Zweistaatentheorie erkannte, daß das bloße Beharren und das Wieder-
erfunden. Was heißt hier Zweistaatentheorie? Die holen von bekannten Forderungen weder uns noch
Bundesregierung hat die Erkenntnis daraus abgelei- der Sowjetunion Ruhe schaffen würde. Er wollte —
tet — das ist bitter genug, und es ist uns schwer das kann man sehr beeindruckend nachlesen — die
genug geworden —, daß es eine Realität von zwei Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
Staaten auf dem Boden Deutschlands gibt. Das ist land und Frankreich zum Vorbild der Aussöhnung
keine Theorie; die Regierung hat sich damit auf zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion
den Boden der Tatsachen gestellt. machen. 'Ich habe festgestellt, daß von ihm wichtige
-
und wichtigste Anregungen und Vorschläge gemacht
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- worden sind, ohne daß je die Ö ffentlichkeit davon
schenfrage des Abgeordneten Freiherr von Gutten- unterrichtet worden ist. Ich will es mir ersparen,
berg? hier aufzuzählen, wer und welche Institutionen im
einzelnen nie davon unterrichtet wurden.
Brandt, Bundeskanzler: Bitte sehr! (Zuruf von der CDU/CSU: Da ist doch ein
Unterschied!)
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) : Die Zusammenarbeit zwischen Regierung und Op-
Herr Bundeskanzler, stimmen Sie mir nicht zu, daß position ist eine Sache, für die beide Seiten Verant-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2725
Bundeskanzler Brandt
wortung tragen. Die Regierung hat sich entschieden. Dr. h. c. Kiesinger: Herr Präsident! Meine
Die Opposition muß mit sich selbst ins reine kom- Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn
men und sich dann auch entscheiden. Bundeskanzlers erfordern von 'unserer Seite noch
(Zurufe von der CDU/CSU.) einige Worte, die darauf eingehen, was in dieser
Debatte immer wieder von den Vertretern der Re-
Meine Damen und Herren, was Herr Barzel zum gierung angeklungen ist. Herr Bundeskanzler, Sie
Schluß seiner Rede heute vormittag gesagt hat, halben gesagt, wir seien nicht schlauer als unsere
nehme ich sehr ernst. Er sprach davon, daß das Partner zusammengenommen in der Welt. Natürlich
Gleichgewicht in Europa nicht zugunsten .der So- sind wir es nicht. Aber, Herr Bundeskanzler, wir
wjetunion verändert werden dürfe. Da stimme ich sind in einer völlig anderen Lage
ihm voll zu. Aber das nützt nichts als Wunsch und (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
Erklärung. Welche Folgerungen sind aus dieser in-
soweit gemeinsamen Überzeugung zu ziehen? Ich als unsere Partner in der Welt. Wir leben ,gezwun-
nenne z. B. das Hinwirken auf die Politik, die heute genermaßen in einem geteilten Land. 17 Millionen
von der NATO nicht mit einer isolierten Bundes- unserer Landsleute leben gezwungenermaßen unter
republik, einem totalitären kommunistischen Regime und sind
(Abg. Dr. Barzel: Sehr gut!) nach dem Willen des Ostens dazu verurteilt, dies nie
mehr zu verlassen.
sondern mit dieser Bundesregierung und allen zu-
sammen beschlossen wird. ('Beifall bei der CDU/CSU.)
(Abg. Dr. Barzel: Sehr gut!) Wenn man in diesem Zusammenhang sagt — und
Sie sagen es oft —: da alle anderen Länder ihre Be-
Sie, Herr Kollege Barzel, ziehen doch überwiegend ziehungen zur Sowjetunion normalisiert hätten,
eine Konsequenz — ich fürchte, aus Resignation —, seien wir nun an der Reihe, das auch zu tun, und
die die Konfrontation der Blöcke als entscheidenden wir dürften uns nicht gegen derartige Entspannungs-
Faktor für die Erhaltung unterstellt. bemühungen querlegen, dann zeigt das eben, daß
(Abg. Dr. Barzel: Das ist aber wirklich Sie einen völlig falschen Begriff von der Möglichkeit
falsche Unterstellung!) der Normalisierung der Beziehungen unseres Lan-
des mit der Sowjetunion haben. Darauf hat Baron
Die Regierung zieht die Konsequenz, unter Erhal- Guttenberg heute mit aller Leidenschaft hingewie-
tung des Gleichgewichts die Konfrontation abzu- sen.
bauen. Dabei weiß sich die Bundesregierung mit
Normalisierung zwischen uns und der Sowjet-
unseren Verbündeten einig. Gerade deshalb, weil
union kann doch nur bedeuten, daß wir für die
wir unsere !Freunde in der Welt an unserer Seite
wissen, unternehmen wir den großen und gar nicht Deutschlandfrage eine gerechte Lösung miteinander
ganz leichten Versuch, hier in der Mitte Europas zu finden versuchen. Wer diese Normalisierung etwa
Entspannung statt Spannung zu schaffen. Ja, das ist, mit den Verhandlungen vergleicht, die die Vereinig-
ich , gebe es zu, etwas anderes als die Politik der ten Staaten in den SALT-Gesprächen mit den Russen
50er oder der 60er Jahre. Aber unser Volk hat es führen, macht einen falschen Vergleich. Die Verei-
verdient, daß wir uns auch nach der anderen Seite nigten Staaten müssen mit der Sowjetunion in die-
um Versöhnung und Freundschaft bemühen. Dies ist sen SALT-Gesprächen verhandeln, weil sie — die
nämlich die Aufgabe der 70er Jahre. Wenn das beiden großen Supermächte — bei fortbestehendem
gelingt, wird man — ich greife das Wort auf — von Antagonismus die Sorge haben müssen, daß es
einer Wende sprechen können. Diese Wende wird irgendwie und irgendwann — durch einen Zufall
dann 'für unser Volk und für Europa ein Segen sein. oder eine Leichtfertigkeit — zur Entfesselung eines
großen nuklearen Krieges kommen könnte. Das ist
(Langanhaltender Beifall bei den Regie also ein völlig anderer Fall; hier verhandeln zwei
rungsparteien.) Ebenbürtige auf gleicher Stufe.
Immer wieder klingt in Ihren Ausführungen ein
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- Optimismus durch im Blick auf die Möglichkeiten
ren, bevor ich das Wort dem letzten Redner des von Ergebnissen in den Verhandlungen mit dem
heutigen Tages gebe — es sind noch etwa sieben Osten, den ich einfach nicht verstehen kann. Der
oder acht Wortmeldungen, die dann für den 17. Juni Außenminister hat in seiner Antwort auf die Große
anstehen würden —, und zwar Herrn Dr. Kiesinger Anfrage der CDU/CSU einen interessanten Satz
zu einer Rede, für die 30 Minuten angemeldet sind, gesagt. Er hat gesagt: Die Bundesregierung ist sich
möchte ich zur Geschäftslage folgendes sagen. „über die aktuellen Zielsetzungen der sowjetischen
- Deutschland- und Europapolitik im klaren". Herr
Wir werden danach noch die zweite und dritte Bundeskanzler, sind Sie sich wirklich über diese
Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Zielsetzungen im klaren? Welches sind diese Ziel-
rung des Berlinhilfegesetzes durchführen, und zwar, setzungen? Oder sind wir da verschiedener Mei-
wie vereinbart worden ist, ohne Debatte. Dann ha- nung?
ben wir noch ein paar persönliche 'Erklärungen. Wir
werden die Zeit um etwa 15 Minuten überziehen. Wir meinen, die Zielsetzungen der sowjetrussi-
Ich glaube, daß wir damit einverstanden sein kön- schen Europa- und Deutschlandpolitik sind folgende:
nen. Dann käme die Fragestunde. Erstens, die politische und rechtliche Verbesserung
des Besitzstandes der Sowjetunion in Europa, das,
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kiesinger. was sie die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges
2726 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Kiesinger
nennt. Zweitens, darüber hinaus — wo immer sie schen Position und zu einer Kräftigung der sowjet-
es kann — die Ausdehnung ihres Einflusses über russischen Politik und ihrer gegen ganz Europa
weitere Teile, über ganz Westeuropa. gerichteten Zielsetzungen.
(Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) Wir scheinen uns zwar manchmal in unseren Er-
Dazu ihre beständige Politik gegen die NATO, ihr klärungen über den zentralen Punkt, um den es
Versuch, die Amerikaner zum Verlassen Europas zu geht, einig zu sein: über das Selbstbestimmungsrecht
bewegen, und dazu ihre beständige Bemühung, die des deutschen Volkes. Aber Baron Guttenberg hat
westeuropäische Einigung zu verhindern. mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß es nicht
darum geht, zu sagen, das Selbstbestimmungsrecht
Herr Bundeskanzler, sind wir uns über diese sei kein Verhandlungsgegenstand, daß es nicht um
Zielsetzungen der Sowjetunion einig? Sind wir uns allgemeine Bekenntnisse geht, sondern um die
schließlich darüber einig, daß das alles dahin zielt, Frage, ob Sie eine Politik begonnen haben und wei-
eine Vorherrschaft der Sowjetunion über ganz terführen wollen, die durch ihre konkreten Maß-
Europa zu erreichen? nahmen und Entscheidungen den Weg zu diesem
Es wird gesagt, die Spaltung Deutschlands sei in Selbstbestimmungsrecht verbaut,, also die Freiheits-
den letzten 20 Jahren immer tiefer geworden. Herr chance unserer 17 Millionen Landsleute im Osten
Bundeskanzler, sehen Sie denn die Spaltung Deutsch- schwächt.
lands als ein isoliertes Faktum an? Ist es nicht viel- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
mehr so, daß das Gewicht, die militärische und poli- Das ist Ihre Unterstellung! Das ist das, was
tische Macht der Sowjetunion in diesen 20 Jahren an dieser Waffe unsauber ist!)
immer stärker geworden ist und in der Zukunft im-
mer stärker zu werden droht und als ein Ergebnis — Ich unterstelle, Herr Wehner, gar nichts.
dieses Prozesses die Tatsache verzeichnet werden (Abg. Wehner: In Ihrem Schlußwort unter
muß, daß auch die deutsche Spaltung tiefer gewor- . stellen Sie das dem Bundeskanzler und uns!
den ist. Die deutsche Spaltung ist in dieser Sicht — Abg. Lemmrich: Herr Wehner, Ihre gan
— wir wollen uns doch bitte daran erinnern, was zen Darlegungen waren doch eine Unterstel
wir gemeinsam immer so bezeichnet haben — zu- lung!)
gleich eine Spaltung Europas.
— Ich habe gesagt, daß wir uns nicht mit allgemei-
(Beifall bei der CDU/CSU.) nen Bekenntnissen zum Selbstbestimmungsrecht be-
Wenn wir uns darüber einig wären, wenn wir hier gnügen können, sondern daß wir die Politik dieser
eine gemeinsame Analyse hätten, Herr Bundeskanz- Regierung daraufhin prüfen müssen, ob sie durch
ler, dann ergibt doch der logische Schluß, daß diesel- ihre konkreten Maßnahmen den Weg zum Selbst-
ben Zielsetzungen die Sowjetunion bei den gegen- bestimmungsrecht und die Freiheitschance unserer
wärtigen Verhandlungen mit dieser Regierung be- Landsleute verbaut. Bis jetzt habe ich nur eine Frage
stimmen. gestellt.
(Abg. Dr. Barzel: Natürlich!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Die deutsche Zielsetzung bei diesen Verhandlungen Herr Scheel hat zwar gesagt, niemand könne dem
müßte also sein, diesen Absichten der Sowjetunion deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht ver-
entgegenzuwirken. Das nennen wir, den Versuch schaffen, indem dieses Recht beschworen wird. Aber
zu machen, „die Verhältnisse zu bessern". Entweder in der Antwort des Außenministers auf unsere
glauben Sie, daß es möglich sei, bei den Verhand- Große Anfrage steht folgender merkwürdiger Satz:
lungen diesen Zielsetzungen der Sowjetunion tat-
Die Entspannungs- und Verständigungspolitik
sächlich entgegenzuwirken, die Sowjetunion dazu
dient dem Ziel, allen Völkern das Selbstbe-
zu bringen, Abstriche zu machen, auf das eine oder
stimmungsrecht nach ihrer eigenen Wahl zu
andere Ziel zu verzichten. Gut, dann verhandeln
gewährleisten; die Entspannungs- und Verstän-
Sie! — Ich wünsche Ihnen und uns allen sehr viel
digungspolitik der Bundesregierung wird in die-
Glück auf diesem Wege. — Oder aber, Sie haben
sem Zusammenhang notwendigerweise auch die
diese Hoffnung nicht. Dann, Herr Bundeskanzler,
Selbstbestimmung der Deutschen in Deutschland
durften Sie auch das Risiko solcher Verhandlungen
fördern.
nicht eingehen; denn da gibt es an irgendeiner Stelle
einen Punkt, von dem Sie nicht mehr zurückgehen Wie soll ich diesen Satz verstehen? Wenn ich je eine
können. Dann ist es eben nicht richtig, was der Beschwörungsformel für das Selbstbestimmungsrecht
Außenminister gesagt hat, daß Sie nicht mehr zum gehört habe, dann ist es dieser Satz. Es wäre doch
Erfolg verdammt seien. Sie sind es. Sie -können eine ungeheure Überschätzung unserer eigenen
nicht einfach zurückkehren. Kräfte, zu glauben, wir könnten durch unsere Politik
(Beifall bei der CDU/CSU.) das Selbstbestimmungsrecht aller anderen Völker
fördern und durchsetzen und dann auf diesem Um-
Deswegen haben wir die begründete Sorge, daß weg den Deutschen drüben das Selbstbestimmungs-
diese Verhandlungen im Gegensatz zu Ihren gewiß recht sichern. Das ist eine Beschwörungsformel.
redlichen Absichten zu einem ganz anderen Ergeb-
nis als zu einer „Besserung der Verhältnisse" füh- Meine Damen und Herren, es geht doch darum,
ren. Sie führen nach unserer Meinung — das klang wie wir das Selbstbestimmungsrecht und die Frei-
in den Darlegungen aller Redner der CDU/CSU heitschance unserer Landsleute schützen. Die Re-
heute an — zu einer Verfestigung der sowjetrussi- gierung versichert uns, es dürfe kein Dissens be-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2727
Dr. h. c. Kiesinger
stehenbleiben. Es müsse volle Klarheit über den erfundene Doktrin. Es ist ein Grundprinzip der so-
Inhalt der Begriffe, die in Abmachungen verwendet wjetischen Politik von Anfang an, daß keine Be-
werden, erreicht werden. Unsere erklärten fried- völkerung die sich im kommunistischen Lager be-
lichen Ziele, so der Außenminister, dürften nicht als fand und befindet, das Recht habe, aus freier
territoriale Ansprüche und als Verletzung des Ge- Selbstbestimmung dieses Lager wieder zu verlasen.
waltverzichtsabkommens hingestellt werden. — Das Haben Sie .den Optimismus, daß die Sowjetunion
sind gute Worte, Herr Bundeskanzler. Wir unter- hier ihren Sinn ändert? Glauben Sie, , eine Formu-
stützen diese Worte und diese Absichten selbstver- lierung erreichen zu können, bei der die Sowjet-
ständlich voll und ganz. Aber nun die Frage: Wie union deutlich macht, daß die 17 Millionen Deut-
wollen Sie das praktisch realisieren, wenn meine sche in .der DDR von dieser Doktrin nicht betroffen
Analyse über die Absichten der Sowjetunion in Eu- seien? Wenn Sie diesen Optimismus nicht haben,
ropa stimmt? Ist es Ihnen gelungen, Herrn Stoph zu dann weiß ich überhaupt nicht, inwiefern Sie opti-
überzeugen? Oder glauben Sie, daß die Sowjetunion mistisch sein können für die Ergebnisse der Ver-
von ihren Auffassungen abgehen wird, die wir zur handlungen mit Moskau,
Genüge kennen? Sie wissen ja, daß sowohl Herr
(Abg. Wehner: „Überhaupt nicht" ist das,
Stoph als auch die Sowjetunion in ihren Mitteilun- was Sie eigentlich meinen!)
gen an unsere gemeinsame Regierung die Auffas-
sung vertreten, daß eben auch friedliche Bemühun- inwieweit Sie nicht bereit sind, Feigenblätter der
gen um die Wiedervereinigung aggressiven Charak- Sowjetunion in diesen Lebensfragen unseres Vol-
ter hätten. Damit es noch einmal in Ihre Erinnerung kes für wirkliche Zugeständnisse zu nehmen.
gerufen wird, darf ich mit Erlaubnis des Herrn Prä- (Abg. Dr. Barzel: Der erste Wind, und das
sidenten Herrn Stoph zitieren: ist alles weg!)
Wer nur erklärt, er wolle bei der Änderung Es war heute früh erwähnt worden, daß Herr
der Grenzen keine Gewalt anwenden, nähert Genscher uns im Jahre 1966 vorwarf, daß wir irriger-
sich sehr den Thesen, die dazu aufrufen, für eine weise den kommunistischen Osten für eine von der
Änderung der Grenzen mit sogenannten fried- Sowjetunion dirigierte und beherrschte Welt an-
lichen Mitteln zu kämpfen. Eine Taktik, mit der sähen. Nun, meine Damen und Herren, Herr Gen-
bereits Hitler seine Aggression vorbereitete. scher hat das im Jahre 1966 gesagt. Im Jahre 1965
(Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) hat die Sowjetunion in den Vereinten Nationen den
Nun, das war Herr Stoph. Schwerer wiegt, was die Entwurf einer 'Deklaration eingebracht. Ich bitte den
Herrn Präsidenten um die Erlaubnis, die wenigen
Sowjetunion dann zu sagen hatte. Die Frage ist, ob
Sätze vorlesen zu dürfen. Dieser Entwurf lautete:
Sie bei Ihrem optimistischen Ausblick auf .das Ver-
handlungsergebnis mit eingeschlossen haben, daß Die Verpflichtung, daß alle Staaten .die Unab-
die Sowjetunion dann von ihrer Auffassung, die hängigkeit und Souveränität anderer Staaten
sie uns während unserer gemeinsamen Regierung zu lachten haben, ist eines der Grundprinzipien
mitgeteilt hat, zurückgehen werde. Die eine Aus- der Charta der Vereinten Nationen und des
sage steht im Memorandum vom 21. November zeitgnöschVlkrte.Invio
1967, und die andere in dem Memorandum vom 12. die inneren Angelegenheiten von Staaten kann
Oktober 1967. In beiden Äußerungen kommt klar durch keine ideologische, wirtschaftliche, po-
zum Ausdruck, daß die Sowjetunion auch die fried- litische oder andere Erwägung gerechtfertigt
liche Bemühung um die Wiedervereinigung oder um werden. Das Re cht jedes Volkes, sich mit den
das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen als Problemen der inneren Entwicklung zu befassen
aggressive Politik betrachtet. und seine eigene Zukunft zu wählen, ist heilig.
(Abg. Dr. Barzel: Genau das ist der Punkt!) (Abg. Stücklen: Siehe Prag!)
Da heißt es: Inzwischen halben wir die tragischen Ereignisse in
der Tschechoslowakei erlebt. Unid ich weiß nicht, ob
Wenn man eine Politik für legitim erachten
Sie den Optimismus haben ,dürfen, daß die Sowjet-
würde, die auf die Änderung der gegenwärtigen
union Ihnen entgegenkommen wird, wenn Sie sie
Grenzen, d. h. auf die Revision der Ergebnisse
an dieses „heilige Recht jedes Volkes" erinnern wer-
des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegs- den, Herr Bundeskanzler.
entwicklung, gerichtet ist, so käme das einer
Billigung der Vorbereitung zur Entfesselung (Beifall bei der CDU/CSU.)
eines neuen Krieges gleich.
Daß ist es, was uns Sorge macht. Die Sorge, daß
Da steht nicht: eine Politik, die mit Gewalt diese Sie in einem unberechtigten Optimismus, in einer
Ziele verfolgt, sondern ganz einfach: Eine Politik unbegründeten Hoffnung, aus einer falschen Ana-
verfolgt, die auf dieses Ziel gerichtet ist. Herr Bun- lyse, in einem verfehlten Denkansatz — um mit
deskanzler, haben Sie und haben Ihre Unterhändler meinem Freunde Strauß zu reden — eine gefährliche
einen derartigen Satz im Bewußtsein, wenn in Mos- Politik begonnen haben.
kau verhandelt wird und wenn es dort zu Abma-
chungen mit Moskau kommt? Ich hätte heute nicht mehr geredet; denn das, was
m ein .engster und vertrautester Mitarbeiter im Bun-
Unid wie steht es, wenn man konkret vom Selbst- deskanzleramt, Baron Guttenberg, heute früh ge-
bestimmungsrecht redet, denn nun mit der Bresch- sagt hat, meine Damen und Herren, das war nicht
new-Doktrin? Das ist doch nun nicht eine neu eine Verleumdung der Koalition — er hat Ihnen
2728 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. h. c. Kiesinger
redlichen Willen unterstellt —, aber es war der Baron Guttenberg sagte es heute früh klar. Wir
warnende Ruf eines Mannes, der sich seit vielen hatten und haben den Art. 7 des Deutschlandver-
Jahren mit der Frage der Besserung der Beziehungen trages. Das, Herr Bundeskanzler, war eine Unter-
zwischen West und Ost befaßt; Sie kennen seine stützung unserer Alliierten, die uns Hilfe bei der
Rolle im Rahmen der Großen Koalition, seine hilf- friedlichen Wiedervereinigung des deutschen Volkes
reiche Rolle, und seinen stets redlichen Willen. Un- versprach; das war eine Unterstützung, die uns viel
terstellen Sie ihm, der mit dem ganzen Einsatz mehr wert ist als eine „differenzierte Unterstützung"
seiner Existenz der westlichen Welt, die natürlich sehr leicht zu
(Beifall bei der CDU/CSU) erlangen ist, wenn wir Deutschen selbst daran-
gehen, ein für alle schwieriges Problem leichthin
heute diese Warnung ausgesprochen hat, daß es ihm aus der Welt zu schaffen.
bis in die letzte Faser hinein ernst ist! Und so ernst,
Herr Bundeskanzler, ist es auch uns. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie sagen, es werde ein langer und schwieriger Es ist auch gar nicht so, daß die Existenz eines
Weg sein. Das haben wir immer gesagt. Wir haben zweiten deutschen Staates in der Welt so selbst-
uns nicht versperrt gegen einen langen und schwie- verständlich akzeptiert würde. Natürlich gab es
rigen Weg, der zu einer Besserung führen soll, viel- Leute, die das sagten; es gab aber auch solche unter
leicht sogar zur Wiedervereinigung oder, wie ich unseren Verbündeten — und ich habe erst kürzlich
lieber sagen möchte, zur Verwirklichung der Frei- einen gesprochen —,
heitschance unserer 17 Millionen Landsleute drüben. (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
(Abg. Dr. Barzel: Sehr gut!) die sehr erstaunt darüber sind, daß wir dieses
Zugeständnis schon gemacht haben.
Denn diese Freiheitschance ist es, auf die es uns
(Zurufe von der SPD: Wer war das? —
ankommt, und nicht nur, wie es heute da und dort
Wer waren die?)
anklang, das Streben nach menschlichen Erleichte-
rungen. Menschliche Erleichterungen sind wichtig, — Wenn Sie dem Herrn Bundeskanzler das Recht
und wir haben die östliche Seite aufgefordert, mit zugestehen, Geheimdiplomatie zu treiben, weil
uns in dieser Frage übereinzukommen. Aber wenn sonst die deutschen Belange geschädigt würden,
es weitergehen soll und wenn von unserer Seite dann müssen Sie mir zugestehen, die Vertraulich-
wirklich ernste Verzichte auf Positionen verlangt keit von Gesprächen zu wahren, die wenn ich diese
werden, die wir bisher verteidigt haben, dann kön- Vertraulichkeit bräche, uns allen nichts nützen wür-
nen und dürfen nicht menschliche Erleichterungen den.
uns dazu bewegen, sondern nur eine Verfestigung, (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr.
eine Belebung, eine Stärkung, eine ernsthafte Ver- Barzel: Herr Bahr treibt nur sichtbare
sicherung der Freiheitschance unserer Landsleute. Geheimdiplomatie mit publizistischem
(Beifall bei der CDU/CSU.) Effekt!)
Wir hatten als drittes keine völkerrechtliche An-
Und das heißt, die Sowjetunion müßte klar und erkennung der DDR durch die große Mehrzahl der
ohne einen versteckten Dissens erklären, daß auch Staaten, insbesondere durch die freien Völker der
sie das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Vol- Welt. Das ist ein außerordentlicher Erfolg gewesen.
kes respektiert und anerkennt. Diese Position haben wir verteidigt. Wir haben sie
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) sogar noch gemeinsam verteidigt, als wir der Hall-
stein-Doktrin eine flexiblere Formulierung gaben.
Mit welchen Methoden dieses Ziel in dieser Eine Formulierung übrigens, für die ich persönlich
schwierigen Welt zu erreichen wäre, das ist eine immer eingetreten war.
ganz andere Frage.
Wir hatten endlich von unseren Verbündeten die
(Abg. Wehner: Die würfeln wir mal aus!) Anerkennung, daß es unser gutes Recht sei, für
Auch da sind wir der Überzeugung, daß das ein das Schicksal unserer Landsleute einzutreten, für
langer und schwieriger Weg werden würde. ihre Freiheit tätig zu sein und zu wirken, also
gerade für etwas, was der Breschnew-Doktrin wider-
Sie haben schon zu verschiedenen Malen in der spricht. Das ist es, was wir hatten und haben, Herr
Offentlichkeit und auch heute wieder gesagt, man Bundeskanzler, und darum können wir auf vieles
könne nicht auf etwas verzichten, was man nicht verzichten, worauf wir nicht verzichten dürften.
habe. Wenn man gar noch auf manche Position von vorn-
(Zuruf von der SPD: So ist es!) herein verzichtet, nicht einmal sich die Mühe gibt,
— Ja, ich höre den Zuruf „So ist es", meine Damen sie in das Verhandlungsgeschäft mit den anderen
und Herren. Ich wundere mich jedesmal darüber, wie einzubringen, um für unsere Deutschen drüben
leicht so etwas über die Zunge geht. etwas herauszuholen, dann nennen wir das mit
Recht Vorleistungen, und zwar nutzlose Vorleistun-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) gen. Wir nennen es auch das, was es ist, nämlich
Was haben wir denn in der Deutschlandfrage? Lei- einen schweren politischen Kunstfehler.
der müssen wir jetzt sogar schon fragen: Was hatten (Beifall bei der CDU/CSU.)
wir und was haben wir noch? Was alles soll auf diesem langen und schwierigen
(Abg. Rasner: Genauso ist es!) Wege noch geschehen? Was soll auf diesem langen
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2729
Dr. h. c. Kiesinger
und schwierigen Wege noch preisgegeben werden? Ist es nicht vielmehr so, daß eine solche Politik nach
Schon wissen wir von der DDR, daß sie von Ihnen Osten allenfalls möglich wäre, wenn es diese west-
die Einlenkung in der Frage der völkerrechtlichen europäische Einigung schon gäbe?
Anerkennung erwartet und daß sie sagt: Nur dann (Beifall bei der CDU/CSU.)
gibt es neue Gespräche.
Es gibt sie doch nicht einmal auf wirtschaftlichem
(Abg. Dr. Barzel: Und neue Forderungen Gebiet. Sie selber sind voller Skepsis, wann diese
schon!) Einigung kommen kann, die allein die Basis für diese
Sind Sie dazu bereit? Ostpolitik darstellen könnte, nämlich die politische
Einigung, die politische Union.
Noch stehen im Hintergrund die Forderungen auf
Sie sagen: Jetzt ist nicht mehr möglich — habe ich
Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der
Sie recht verstanden? — als Konsultation und Koope-
Bundesrepublik und die Forderung Herrn Ulbrichts,
ration. Es ist oft 'das Wort zitiert worden, Politik
daß wir die Pariser Verträge aufkündigen, also die sei die Kunst des Möglichen. Herr Bundeskanzler.
NATO verlasesn sollen. Haben Sie, Herr Bundes-
Aufgabe der Politik ist es nach meiner Meinung
kanzler, den Optimismus, daß, wenn es zu Verein-
vielmehr, zu erkennen, was notwendig ist, und das
barungen mit der Sowjetunion in den Fragen ge- Notwendige dann möglich zu machen.
kommen sein würde, über die Sie jetzt verhandeln,
die Sowjetunion und Herr Ulbricht dann auf diese (Beifall bei der CDU/CSU. — Sehr richtig!
Forderungen — Änderung der gesellschaftlichen bei der SPD.)
Verhältnisse der Bundesrepublik und Verlassen der Wenn Sie nach den Möglichkeiten in Ost und
NATO — verzichten würden? Sie würden es ganz West Ausschau hielten und sich mit demselben
bestimmt nicht tun. Sie würden die neugewonnene, Schwung, derselben Energie und demselben Auf-
verfestigte Position dazu benützen, um in diesem wand an öffentlicher Werbung für Ihre Politik im
Felde weiter gegen uns und Westeuropa zu kämp- Interesse einer Stärkung des atlantischen Bündnis-
fen. Dies ist doch die wirkliche Situation. ses nach Westen wendeten und die Amerikaner da-
von überzeugten, daß sie mit ihren Truppen hier-
Deswegen begreife ich nicht, warum Sie mit dieser bleiben müssen, wenn Sie sich ferner im Interesse
ungeheuren Hast an die neue Politik gegangen sind. der Einigung Europas weit über Konsultation und
Das ist wirklich eine Wende der deutschen Politik. Kooperation hinaus zum Pionier, zum Vorkämpfer
Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion hat recht, dieser europäischen Union machten, dann allerdings
wenn er dieses Wort heute früh gebraucht hat. Viel- würden Sie sich nicht nur um dieses Volk, nicht nur
leicht wird es einmal als ein historisches Wort in um Westeuropa, sondern um Frieden und Freiheit
der Geschichte dieses Parlaments stehenbleiben. in der Welt hochverdient machen.
Wenn Sie diese Politik vorhaben, dann kann ich (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
mich nur fragen, was Ihnen den Glauben zum Erfolg
gibt. Oder sollten Sie etwa den gefährlichen Weg Präsident von Hassel: Meine Damen und
beschreiten wollen, sich darauf einzulassen, Begriffe Herren, ich darf Sie 'bitten, noch einen Augenblick
zu verwenden, von denen Sie wissen, die Sowjet- zu verweilen. Es liegen noch acht Wortmeldungen
union verwendet sie anders als Sie und als wir, und vor. Auf Grund einer Vereinbarung im Ältestenrat
sich zu sagen: wenn wir das erreichen, ist es schon wird die Aussprache über diesen Tagesordnungs-
viel. Herr Bundeskanzler, wenn Sie das täten, wür- punkt am 17. Juni fortgesetzt.
den Sie sich der unbeschränkten Kontrolle der
Sowjetunion und einem unerträglichen Interven- (Abg. Stücklen: Das ist doch ein Feiertag!)
tionsanspruch der Sowjetunion , ausliefern. Denn sie Bevor ich aber diesen Punkt für heute verlasse,
würde in der Zukunft die Vereinbarungen so an- muß ich noch dreierlei erledigen. Mir ist heute, als
wenden, wie sie die darin enthaltenen Begriffe ich mein Amt hier übernahm, vorgetragen worden,
„Respektierung der territorialen Integrität", „Re- daß am heutigen Morgen ein bestimmter Zwischen-
spektierung der Grenzen" usw. versteht. Sind Sie ruf gemacht worden sei. Ich habe mir in der Zwi-
sich klar darüber, daß sich hier derjenige, der mit schenzeit den Stenographischen Bericht darüber ge-
Hast vorgeht, von vornherein eine schlechte Ver- ben lassen. Daraus ist ersichtlich, daß während der
handlungsposition ausgesucht hat? Die anderen ha- Rede des Herrn Abgeordneten von Guttenberg der
ben Zeit, viel Zeit, und sie wissen es. Sie haben Zwischenruf des Abgeordneten Dr. Apel gefallen
keine gute Methode angewandt! ist: „Ein unanständiger Mensch!"
Ich komme zum Schluß, da die Zeit abläuft. Herr (Lebhafte Pfui-Rufe von der CDU/CSU. —
Bundeskanzler, Sie haben gesagt, daß Sie diese Ost- Gegenruf von der SPD: Ihr habt es nötig!)
politik auf die westeuropäische Einigung stützen Ich bedaure diesen Zwischenruf und rüge ihn.
wollten, um, gestützt durch die westeuropäische Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Petersen
Einigung, eine gesamteuropäische Friedensordnung zu einer persönlichen Erklärung nach § 35 der Ge-
zu erreichen. Wo ist denn diese westeuropäische schäftsordnung.
Einigung, Herr Bundeskanzler? Wann werden wir
sie haben?
Petersen (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da-
(Abg. Wehner: Wenn Ihr Freund de Gaulle men und Herren! Ich bin heute morgen von verschie-
wiederaufsteht!) denen Kollegen der Regierungskoalition angespro-
2730 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Petersen
chen worden, und zwar im Zusammenhang mit ich sehe, heute die allgemeine Meinung aller Frak-
einem Bericht, den mein Kollege Dr. Dichgans und tionen dieses Hohen Hauses zu sein. Inwieweit die
ich nach einer neuntägigen Reise durch Polen verfaßt Verhandlungen im Einzelfall nützlich sind, hängt
haben. Es ist der Versuch gemacht worden, diesen natürlich von der Anlage und dem Inhalt dieser Ver-
Bericht und idle darin enthaltenen Aussagen in eine handlungen ab.
Unterstützung der Politik der Bundesregierung ge-
genüber Polen umzumünzen. Die zweite Aussage bezieht sich auf den Satz, der
Satz „Mord bleibt Mord" sei eine zu starke Verein-
(Zurufe von der SPD: Das wäre ja erschüt- fachung. Dieser Satz findet sich in einem Kontext,
ternd! — Weitere Zurufe von der SPD.)' der sich mit dem Verschulden der Grenzpolizeibeam-
Ich möchte zunächst einmal die Bitte aussprechen, ten beschäftigt, die Schießbefehle ausführen. Die
da ich nach § 35 der Geschäftsordnung nicht im ein- juristischen Ausführungen dazu finden Sie auf
zelnen darauf eingehen kann, daß die Kollegen doch Seite 235 meines Buches. Sie sind auch in der „Neuen
einmal den vollen Wortlaut dieses Berichts, der Juristischen Wochenschrift" veröffentlicht. Die Diffe-
zehn Punkte umfaßt und der gestern in der „Frank- renzierung, die ich hier vornehme, entspricht übri-
furter Allgemeinen" voll abgedruckt worden ist, ge- gens voll der deutschen Judikatur. Kein einziger sol-
nau lesen. Dann werden Sie nämlich merken, daß cher Schütze ist bei uns jemals wegen Mordes an-
wesentliche Unterschiede und Alternativen aufge- geklagt worden. Für die Leute dagegen, die solche
zeigt werden, z. B. bei der Frage — die Herr Dr. Schießbefehle erteilen, gilt selbstverständlich im
Kiesinger eben angesprochen hat — der Hektik der moralischen Bereich nach wie vor der Satz „Mord
Verhandlungen. Wir sind nämlich der Auffassung bleibt Mord".
— und haben das gesagt —, daß wir nicht einen (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr gut!)
schnellen, sondern einen guten Vertrag 'brauchen.
Im übrigen endet dieser Abschnitt mit dem Satz:
Wir haben zweitens von dieser Regierung noch „Selbstbestimmung Mitteldeutschlands" sollte
nichts über die Hunderttausende von Menschen ge- unsere Formel sein.
hört, die da drüben leben und die, nach unserem
Grundgesetz, immer noch Deutsche sind, (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist
nicht zitiert worden!)
(Abg. Marx [Kaiserslautern] : Und nach
ihrem Willen!) Zu unserer Reise nach Polen beschränke ich mich
darauf, meinem Kollegen Petersen zuzustimmen.
auch wenn ihnen eine andere Staatsangehörigkeit (Beifall bei der CDU/CSU.)
zudiktiert worden ist. Was soll bei diesen Verhand-
lungen eigentlich mit diesen Menschen werden?
Präsident von Hassel: Ich wiederhole, daß wir
(Zuruf von der SPD: Das ist doch keine Er die Aussprache über diesen Punkt der Tagesord-
klärung!) nung am 17. Juni fortsetzen.
Drittens — und damit schließe ich diese Erklärung Wir kommen nunmehr zu Punkt 20 der Tages-
— bin ich der Überzeugung, daß ohne die aktive Mit- ordnung:
arbeit der Vertriebenen, die heute morgen öfters
angegriffen worden sind, eine Versöhnung mit dem Zweite und dritte Beratung des von der Bun
polnischen Volk nicht möglich sein wird. desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Berlinhilfege
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der setzes und anderer Vorschriften
SPD: Das war keine Erklärung, sondern ein — Drucksache VI/614 —
Diskussionsbeitrag!)
a) Bericht des Haushaltsausschusses (7. Aus-
schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Präsident von Hassel: Herr Abgeordneter Pe-
tersen, das grenzte schon an einen Sachbeitrag. Ich — Drucksache VI/851 —
darf bitten, daß der nächste, der um das Wort zu Berichterstatter: Abgeordnete Frau Krappe
einer persönlichen Erklärung nach § 35 gebeten hat, b) Schriftlicher Bericht des Finanzausschusses
Herr Abgeordneter Dichgans, sich an die Bestimmun- (6. Ausschuß)
gen über die Abgabe persönlicher Erklärungen hält. — Drucksache VI/752, zu VI/352 —
— Bitte schön, Herr Abgeordneter Dichgans!
Berichterstatterin:
Abgeordnete Frau Funcke
Dichgans (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine (Erste Beratung 45. Sitzung)
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Heute - mor-
gen hat der Kollege Dorn aus meinem Buch zitiert. Ich darf den Berichterstattern für ihren Bericht
Nun freut sich ein Autor immer, wenn er lobend danken. Soweit ich sehe, wird keine mündliche
zitiert wird. Trotzdem muß ich dieses Zitat zurecht- Ergänzung gewünscht.
rücken. Ich eröffne die allgemeine Aussprache. — Das
Dieses Zitat enthält zwei Aussagen, zunächst die Wort wird nicht begehrt. Ich schließe die Aus-
Aussage — und dafür habe ich mich schon seit lan- sprache.
gem eingesetzt —, daß eine direkte Verhandlung Wir kommen zur Abstimmung in zweiter Le-
zwischen der Bundesregierung und den Machthabern sung. Ich gehe davon aus, daß wir geschlossen ab-
in Ostberlin zweckmäßig wäre. Das scheint, sowei t stimmen können. — Keine Bedenken. Ich rufe auf
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2731
Präsident von Hassel
Art. 1, Art. 2, Art. 3, Art. 4, Art. 5, Art. 6, Ein- Bitte, zur Beantwortung der Parlamentarische
leitung und Überschrift. — Wer zustimmt, den bitte Staatssekretär Dr. Dahrendorf!
ich um das Handzeichen. — Ich bitte um die Ge-
genprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig so be- Dr. Dahrendorf, Parlamentarischer Staatssekre-
schlossen. tär beim Bundesminister des Auswärtigen: Herr
Präsident, die Bundesregierung hat im Parlament
Ich rufe .auf zur wiederholt ihre deutliche und positive Einstellung
dritten Beratung in der Frage der allgemeinen und direkten Wahlen
und ihre Bemühungen um deren Einführung dar-
Ich eröffne die Aussprache. — Das Wort wird nicht gelegt, zuletzt in der schriftlichen Beantwortung der
begehrt. Ich schließe die Aussprache. Wer diesem fast Bleichlautenden Anfrage des Abgeordneten
Gesetz in der dritten Beratung zustimmen will, den Dr. Slotta in der Sitzung vom 8. Mai dieses Jahres.
bitte ich, sich zu erheben. — Ich bitte um die Ge-
Ich darf mich darauf beschränken, noch einmal
genprobe. — Enthaltungen? — Einstimmig so be-
festzustellen: Die Bundesregierung tritt ein für
schlossen.
allgemeine, freie, unmittelbare europäische Wahlen.
Wir kommen nunmehr zurück zu Punkt 1 der Sie hat für dieses ihr Eintreten aber bisher nicht bei
Tagesordnung: allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Einverständ-
nis erzielen können. Auch für Übergangslösungen
Fragestunde vorgesehene Kompromißvorschläge haben sich bis-
— Drucksache 111/809 — her nicht durchsetzen lassen. Wir werden uns in
Ich darf die Kollegen darauf aufmerksam machen, den bevorstehenden Konferenzen wiederum mit
daß die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bun- Nachdruck dafür einsetzen, daß auf diese Weise auf
desministers der Finanzen, der auf den Geschäfts- der parlamentarischen Ebene der europäische Ge-
bereich des Auswärtigen Amts folgen würde, heute danke weiter gefestigt wird.
nicht beantwortet werden können, weil sich der
Parlamentarische Staatssekretär, der bis 16 Uhr hier Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. —
war, begründet hat entschuldigen müssen. Diese Fra- Wir sind am Ende Ihres Geschäftsbereichs. Ich be-
gen werden in der nächsten Woche aufgerufen. danke mich für die Beantvortung.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Auswärtigen Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers
Amts auf, zunächst die Frage 99 des Abgeordneten der Justiz auf, zunächst die Frage 14 des Abgeord-
Haase (Kassel). Ist der Abgeordnete im Saal? — neten Müller (Niederfischbach). Ist der Abgeordnete
Der Abgeordnete Haase ist nicht anwesend, die im Saal? — Er ist nicht im Saal; die Frage wird
Frage wird schriftlich beantwortet. schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 100 des Abgeordneten Dr. Frage 15 des Abgeordneten von Thadden:
Giulini auf: Ist es richtig, daß im Bundesjustizministerium Anträge von
SPD-Gremien zum SPD-Parteitag in Saarbrücken in größerer Zahl
Kann die Bundesregierung darüber Auskunft geben, ob Japan während der Dienststunden auf ihren Gehalt überprüft und Be-
nach dem Start des chinesischen Satelliten es entgegen früheren ratungshilfe gegeben wurde?
Verlautbarungen ablehnt, den Atomwaffensperrvertrag zu unter-
zeichnen bzw. zu ratifizieren?
Zur Beantwortung, bitte, Herr Parlamentarischer
Die Frage wird auf seinen Wunsch schriftlich be- Staatssekretär Bayerl!
antwortet. Die Antwort des Parlamentarischen
Staatssekretärs Prof. Dr. Dahrendorf lautet: Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär
Zu Ihrer Frage ist zunächst festzustellen, daß der Start eines beim Bundesminister der Justiz: Herr Kollege, ich
chinesischen Satelliten die Unterzeichnung des NV-Vertrages halte es nicht nur für legitim, sondern auch für not-
durch Japan nicht mehr beeinflussen kann. Japan hat den Nicht-
verbreitungsvertrag am 3. Februar 1970 unterzeichnet. wendig, daß ein Minister sich in Sachfragen, die
In einer aus diesem Anlaß veröffentlichten und allen Regie- möglicherweise an ihn gestellt werden und die die
rungen notifizierten Erklärung hat die japanische Regierung dar-
gelegt. auf welcher Grundlage sie den NV-Vertrag unterzeichnet laufenden Arbeiten seines Hauses betreffen, sach-
hat. Darin heißt es gleich zu Beginn: kundig macht und sich ein genaues Bild über den
Die japanische Regierung ist überzeugt, daß dieser Vertrag Stand der Arbeiten verschafft. Deshalb sind in
als ein erster Schritt zu einer nuklearen Abrüstung dienen wird;
sie hofft, daß möglichst viele Staaten dem Vertrag beitreten meinem Hause kurze Stellungnahmen zu Anträgen
werden, um ihn wirksam zu machen. Die japanische Regierung
hofft insbesondere, daß die Regierung Frankreichs und der
an den SPD Parteitag ausgearbeitet worden, die
-
Volksrepublik China, die Kernwaffen besitzen, aber noch ihre sich mit Rechts- oder justizpolitischen Fragen befas-
Absicht, dem Vertrag beizutreten, zu erklären haben, bald Ver-
tragspartner werden, daß sie in redlicher Absicht Verhandlungen sen.
über die nukleare Abrüstung führen, und daß sie auch schon
vorher auf solche Handlungen verzichten, die im Widerspruch zu
den Zielen dieses Vertrages stehen.
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der
Neue Erklärungen der japanischen Regierung zum NV-Vertrag,
insbesondere zur Frage des Zeitpunktes der Ratifizierung, liegen
Abgeordnete von Thadden.
— soweit der Bundesregierung bekannt ist — nicht vor.
Ich rufe die Frage 101 des Abgeordneten Geisen- von Thadden (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär,
hofer auf: sehen Sie nicht die Gefahr, daß hier eine Vermi-
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der Forderung
schung von Staat und Partei eintritt?
des Europäischen Parlaments nach allgemeinen, freien, un-
mittelbaren europäischen Wahlen Geltung zu verschaffen?
Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär
Ist der Abgeordnete im Saal? — Er ist anwesend. beim Bundesminister der Justiz: Keineswegs. Es ist
2 732 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Dr. Bayerl
die Übung unseres Hauses, daß wir uns mit allen Nach den vorliegenden statistischen Daten ist ein
rechtspolitischen Fragen, die auch auf Ihrem Partei- Rückgang des Wohnungsbaues sowohl auf der Nach-
tag oder von anderen gesellschaftspolitischen Ver- frageseite als auch — wenn man von der Behinde-
bänden angesprochen und erörtert werden, beschäf- rung durch den extremen Winter 69/70 absieht —
tigen. von seiten der Bautätigkeit nicht festzustellen.
Nach Schätzungen des Ifo-Instituts, München, die
Präsident von Hassel: Zweite Zusatzfrage, der nach der Diskonterhöhung aufgestellt wurden, ist
Abgeordnete von Thadden. in diesem Jahr schon aufgrund des gegenüber An-
fang 1969 waiter gestiegenen Wohnungsbauüber-
von Thadden (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, hangs eine ,etwa gleichhohe Wohnungsbauproduk-
halten Sie es für denkbar, daß Beamte, die nicht der tion wie 1969 zu erwarten. Die Bundesregierung ist
Sozialdemokratischen Partei angehören und die in deshalb nicht der Meinung, daß die Diskonterhöhung
größerer Anzahl solche Unterlagen zu bearbeiten für die Ziegelindustrie die befürchteten Auswirkun-
hatten, das als Zumutung empfunden haben? gen haben wird. Der durch den Winter bedingte
Absatzstau wird sich jetzt nach dem kräftigen Ein-
Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär setzen der Bausaison rasch .auflösen.
beim Bundesminister der Justiz: Das halte ich nicht
Zweck der Diskonterhöhung vom 6. März 1970
für denkbar, weil alle Beamten aufgefordert sind,
war es, die Kreditaufnahme einzuschränken mit der
sich mit rechtspolitischen Fragen auseinanderzuset-
Folge, daß die gesamtwirtschaftliche Nachfrage vor
zen, die für die Leitung des Hauses von Wichtig-
allem nach Investitionsgütern zurückgeht, die Lager-
keit sind.
haltung reduziert wird und die konjunkturellen Span-
nungen, die für die derzeitigen Preissteigerungen
Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, der ausschlaggebend sind, abgebaut werden.
Abgeordnete Dr. Marx.
Die konjunkturellen Daten rechtfertigen zur Zeit
noch keine Lockerung des Restriktionskurses. Die
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr vom Bundesverband der Deutschen Ziegelindustrie
Staatssekretär, auf Grund Ihrer vorhergehenden
angeregte spezielle Unterstützung hält die Bundes-
Antwort darf ich fragen: Gibt es Anträge zu CDU-
regierung unter diesen Umständen weder für not-
oder CSU-Parteitagen, die Sie in ähnlicher Weise in wendig noch für zweckmäßig.
Ihrem Hause geprüft haben?
Ich rufe 'die Frage 38 des Abgeordneten Dr.
Dr. Bayerl, Parlamentarischer Staatssekretär Warnke auf. — Ist der Abgeordnete im Saal? —
beim Bundesminister der Justiz: Da bin ich im Mo- Die Fragen 38 und 39 werden schriftlich beantwortet.
ment überfragt; aber ich bin gern bereit, Ihnen Ich , danke Ihnen, daß Sie erschienen sind, Herr Par-
schriftlich Auskunft zu geben. lamentarischer Staatssekretär.
Wir kommen zum ,Geschäftsbereich des Bundes-
Präsident von Hassel: Keine Zusatzfrage. — ministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten,
Ich rufe die Frage 16 der Abgeordneten Frau Klee zunächst zur Frage 40 des Abgeordneten Schmidt
auf. Sie ist nicht im Saal; die Frage wird schriftlich (München). Ist der Abgeordnete im Saal? Er ist —
daß infolge eines knappen Angebotes an Kälbern den Olympischen Spielen 1972 in dem geplanten
die Kalbfleischpreise seit längerer Zeit relativ hoch Umfang fertiggestellt und in Betrieb genommen.
liegen. Bei dieser Lage ist es zweifelhaft, ob eine
Preissenkung für Magermilchpulver zu einer Sen- Präsident von Hassel: Eine Zusatzfrage, Herr
kung des Preises für Kalbfleisch führen würde. Abgeordneter Dr. Riedl!
Im übrigen hat der Rat der Europäischen Gemein-
schaften die Beihilfe für Magermilchpulver zu
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Staats-
Futterzwecken auf 8,25 RE/ 100 kg oder rd. 30 Pf /kg sekretär, Sie halten 'also die etwas mit Sorge erfüll-
festgesetzt. Eine Erhöhung der Beihilfe ist nicht ten Bedenken der Bundesbahndirektion München,
daß auf Grund der bestehenden Personalnot im
vorgesehen.
Großraum München mit einer verzögerten Fertigstel-
Die Einfuhren an Kälbern und Kalbfleisch gleichen lung der S-Bahn gerechnet werden muß, nicht für
in etwa die Ausfuhren insbesondere nach Italien stichhaltig?
aus. Sie sind ein Marktregulativ.
Ich rufe die Frage 47 des Abgeordneten Mertes Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Frage Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
wird schriftlich beantwortet. Fernmeldewesen: Ich halte sie im Moment nicht für
stichhaltig. Ich hoffe, daß sich durch zusätzliche
Die Frage 48 des Abgeordneten Niegel wird zu- Kräftebereitstellungen, die im Rahmen der Bundes-
rückgezogen. bahn vorgenommen worden sind, einzelne Rück-
Ich bedanke mich; auf diese Weise schaffen wir stände aufholen lassen.
die Fragestunden sehr viel schneller.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- Präsident von Hassel: Keine weiteren Zu-
ministers für Verkehr und für das Post- und Fern- satzfragen.
meldewesen, zunächst zur Frage 74 des Abgeord- Ich rufe die Frage 79 des Abgeordneten Dasch auf.
neten Köster. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Frage wird
die Fragen 74 und 75 werden schriftlich beantwortet. schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Fragen 76 und 77 des Abgeordneten Ich rufe die Frage 80 des Abgeordneten Dr. Abe-
Peiter auf: lein auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die
Welche Erfahrungen wurden mit den verschiedentlich an Bäu- Fragen 80 und 81 werden schriftlich beantwortet.
men am Rand von Bundesstraßen angebrachten Stanniolstreifen
zur Abschreckung des Wildes gemacht? Ich rufe 'die Frage 82 des Abgeordneten Schwabe
Ist beabsichtigt, diese relativ billigen Maßnahmen auf das auf. — Der Fragesteller ist nicht im Saal; die Fra-
gesamte Bundesstraßennetz auszudehnen?
gen 82 und 83 werden schriftlich beantwortet.
Der Fragesteller hat sich mit schriftlicher Beant- Ich rufe die Fragen 84 und 85 des Abgeordneten
wortung einverstanden erklärt. Die Antwort des Stein (Honrath) auf:
Parlamentarischen Staatssekretärs lautet: Ist es zutreffend, daß die Deutsche Bundespost bei den organi-
satorischen Maßnahmen in neugegliederten Gemeinden nicht ein-
Die von einzelnen Länderbehörden verschiedent- heitlich vorgeht, daß insbesondere in den Kreisen Herford und
lich an Bäumen angebrachten Stanniolstreifen haben Lemgo sowie im westlichen Münsterland auch jetzt noch die
Ortsbezeichnung selbständiger Ortschaften als Bindestrich-Zusatz
hinsichtlich des Wildschutzes nicht den gewünschten — im Einklang mit dem von der Regierung des Landes Nord-
Erfolg erbracht. Eine wirksame Hinderung des Wil- rhein-Westfalen ausdrücklich hervorgehobenen Interesse, die
Namen der bisherigen Gemeinden als Ortschaftsnamen zu er-
des am Betreten des Straßenkörpers wurde nicht halten (Beantwortung der Kleinen Anfrage Nr. 533, Drucksache
1840 des Landtages Nordrhein-Westfalen vom 6. März 1970) —
erreicht. Sie wirken auch nur in den Dunkelstunden bestehen bleibt, während in anderen Bereichen, vor allem im
bei aufgeblendetem Scheinwerferlicht. Es wurde Bereich der Oberpostdirektion Köln, alte Ortsbezeichnungen im
postalischen Verkehr nicht mehr zugelassen werden?
eine baldige Gewöhnung des Wildes festgestellt. Ist die Bundesregierung bereit, diese organisatorischen Maß-
nahmen der Deutschen Bundespost aus strukturpolitischen Grün-
Auf Grund der Erfahrungen ist nicht beabsichtigt, den zum Schutz der wirtschaftlichen Interessen der mittleren und
derartige Maßnahmen auf das gesamte Bundes- kleineren Wirtschaftsbetriebe sowie zur Wahrung der histori-
schen und kulturellen Belange der betroffenen Ortschaften zu
straßennetz auszudehnen. überprüfen, mit dem Ziele, daß — in Übereinstimmung mit der
Auffassung der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen —
- auch bei postalischen Anschriften der bisherige Ortsname in
Ich rufe die Frage 78 'des Abgeordneten Dr. Riedl einer Anschrift neben dem Gemeindenamen als Bindestrich
(München) auf : Zusatz erhalten bleibt?
Ist trotz der akuten Personalnot bei der Deutschen Bundes- Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische
bahn, insbesondere bei den technischen Kräften, damit zu rech-
nen, daß der Bau der S-Bahn in der Region München bis zu Staatssekretär.
den Olympischen Spielen 1972 abgeschlossen werden kann, und
ist insbesondere gewährleistet. daß bis dahin der Innenausbau
und die technischen Anlagen der S-Bahn fertiggestellt sein
werden? Börner, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Verkehr und für das Post- und
Zur Beantwortung der Herr Parlamentarische Fernmeldewesen: Herr Kollege, bis Ende 1969
Staatssekretär. wurde 'bei der Änderung von postalischen Ortsna-
2734 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Berichtigung
51. Sitzung, Seite 2559 B, Zeile 5: bitte einfügen
nach Zeile 5 im Anschluß an die Worte „befangen
ist?": „Jahn, Bundesminister der Justiz: Ich halte
das für eine hilfreiche Anregung. Ich bin gerne be-
reit, das prüfen zu lassen und Ihnen gegebenen-
falls weitere Nachricht darüber zu geben."
Die Zeilen 10 bis 13 sind zu streichen.
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2737
sichts der eintretenden Listenpreiserhöhung eine angeblich gesprochen haben soll. Eine Rückfrage bei
neue Preisvereinbarung mit Preiszugeständnissen Herrn Dr. Emminger hat jedoch ergeben, daß er sich
auf der Stahlseite getroffen wurde. Diese Preisver- zu dieser Frage nach der Sitzung des Zentralbank-
einbarung hat der Ruhrkohle AG eine Rabattverbil- rates am 13. Mai 1970 nicht geäußert hat.
ligung für den Hausbrandkoks von 10,— DM/ t sowie Die Maßnahmen, die die Bundesregierung in der
Rabattverbilligungen für Hausbrandkohle und Stein- derzeitigen Konjunkturphase zur Wiedererreichung
kohlenbriketts ermöglicht. Die von der Bundes- der Preisstabilität für notwendig hält, hat sie in
regierung erwogene Subventionsumschichtung zu- ihrem Antrag zum Jahreswirtschaftsbericht 1970 dar-
gunsten der Kokslieferungen an private Haushalte gestellt und erläutert. Der Nachtrag wird dem hohen
hat sich dadurch erübrigt. Hause in diesen Tagen zugeleitet.
Die Frage der zusätzlichen Haushaltsbelastung
stellt sich damit nur noch hinsichtlich der Zuschüsse
nach dem 2. Verstromungsgesetz. Diese Zuschüsse
werden erst nach Ablauf des Kalenderjahres gewährt,
Anlage 4
in dem die zuschußfähige Gemeinschaftskohle in den
Kraftwerken eingesetzt worden ist. Die Kohlenpreis- Schriftliche Antwort
erhöhung kann sich daher frühestens im Haushalts-
jahr 1971 auswirken. In welchem Umfang dann tat- des Parlamentarischen Staatssekretärs Logemann
sächlich zusätzliche Haushaltsmittel erforderlich sein vom 27. Mai 1970 auf die Mündlichen Fragen des
werden, ist im gegenwärtigen Zeitpunkt schwer ab- Abgeordneten Schmidt (München) (Drucksache
zuschätzen, da die Höhe der zu gewährenden Zu- VI/ 809 Fragen A 40 und 41:
schüsse auch von der Entwicklung der Heizölpreise Hält es die Bundesregierung volkswirtschaftlich für vertretbar,
bestimmt wird. Seit etwa Ende 1969 zeigen auch die daß im Einzugsbereich kommunaler Schlachthöfe, die zum Teil
mit erheblichen Kosten ausgebaut wurden, aber bis heute nicht
PreisfüchwHzölnderBuspbik voll ausgelastet sind, private Schlachthöfe mit öffentlichen Mit-
teln gefördert werden?
und in Westeuropa allgemein steigende Tendenz.
Ist der Bundesregierung bekannt, daß durch die Fehlleitung
Weitere Preiserhöhungen sind von den Mineralöl- der öffentlichen Mittel zur Errichtung privater Schlachthöfe nicht
gesellschaften bereits angekündigt worden. Wieweit nur eine große Zahl von Arbeitsplätzen, sondern auch durch die
erhöhten Kosten viele mittelständische Betriebe in ihrer Existenz
die Preisvorstellungen der Mineralölwirtschaft auf gefährdet sind?
dem Markt durchgesetzt werden können und wie-
Die Bundesregierung, die seit 1963 zur besseren
weit Heizöllieferungen an Kraftwerke betroffen wer-
Verwertung des Schlachtviehs in marktfernen Ge-
den, läßt sich heute noch nicht beurteilen. Jedenfalls
bieten die Errichtung sowie den Aus- und Umbau
werden sich die finanziellen Mehrbelastungen vor-
von Schlachtanlagen für Großvieh und Schweine
aussichtlich in vertretbaren Grenzen halten. Über
fördert, hält diese Maßnahme für sachlich geboten.
eventuell erforderlich werdende Deckungsmöglich-
Es wurden demnach nur Anlagen gefördert, wenn
keiten wird im Rahmen der Haushaltsberatungen für
dadurch die Schlachtviehverwertung in besonderem
den Bundeshaushalt 1971 zu entscheiden sein.
Maße verbessert werden konnte, und keine oder nur
solche Anlagen vorhanden waren, deren Aus- oder
Umbau wirtschaftlich nicht vertretbar war. In Erwä-
gung dieser Gesichtspunkte werden daher nur
Anlage 3 Schlachtanlagen gefördert, die nicht im Einzugsbe-
reich kommunaler Schlachthöfe liegen.
Schriftliche Antwort
Da nur solche Anlagen gefördert worden sind, die
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Arndt nicht im Einzugsbereich kommunaler Schlachthöfe
vom 27. Mai 1970 ,auf die Mündlichen Fragen des liegen, glaube ich, daß man von einer Fehlleitung
Abgeordneten Dr. Warnke (Drucksache VI/ 809 Fra- öffentlicher Mittel nicht sprechen kann. Der Bundes-
gen A 38 und 79) : regierung ist auch nicht bekannt, daß durch die För-
Wie beurteilt die Bundesregierung die Erklärung des Vize- derung von Schlachtanlagen Arbeitsplätze und mit-
präsidenten der Deutschen Bundesbank, Emminger, der nach der telständische Betriebe in ihrer Existenz gefährdet
Sitzung des Zentralbankrates vom 13. Mai 1970 erklärt hat, daß
nach Ansicht der Deutschen Bundesbank nur eine Preissteige wurden. Durch die Errichtung von Schlachtanlagen
rung von jährlich 2 % tragbar sei"? in marktfernen Gebieten sind im Gegenteil neue
Welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung zu ergreifen,
um der Auffassung der Deutschen Bundesbank zu entsprechen? Arbeitsplätze geschaffen worden, was im Sinne einer
Die Bundesregierung hat immer deutlich betont, Strukturverbesserung im ländlichen Raum sehr wün-
daß die gegenwärtigen Preissteigerungsraten zu schenswert ist.
-
hoch und auf die Dauer nicht tragbar sind. Wir ken-
nen .aber auch die Ursachen dieser Preissteigerungen.
In der Projektion der Wirtschaftsentwicklung bis
zum Jahre 1974 — Anlage 3 zum Jahreswirtschafts- Anlage 5
bericht 1970 — geht die Bundesregierung von einer Schriftliche Antwort
durchschnittlichen Zuwachsrate des gesamtwirt-
schaftlichen Preisniveaus und insbesondere des des Parlamentarischen Staatssekretärs Logemann
Preisniveaus des Privaten Verbrauchs von 2 1/2 % vom 27. Mai 1970 auf die Mündlichen Fragen des
bis 2 % und damit etwa von derselben Rate aus, von Abgeordneten Höcherl (Drucksache VI/ 809 Fragen
der der Vizepräsident der Deutschen Bund esbank A 42 und 43) :
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2739
Der zusätzliche Kostenaufwand betrug nicht 50 Mit dem 1. April 1970 ist bei Butter der inner
Mill. DM, sondern 26 Mill. DM, da Lagerbutter gemeinschaftliche Warenverkehr völlig liberalisiert
schon seit Jahren laufend mit einem angemessenen worden. Die bis zu diesem Zeitpunkt im wesentli-
Qualitätsabschlag in den Markt gegeben wird. Im chen einzelstaatlich durchgeführte Auslagerung der
Kalenderjahr 1969 betrug der Qualitätsabschlag 60 Interventionsbutter zur Marktversorgung mit einem
Pf/ kg, so daß der Mehraufwand bis zu der Verbilli- Preisabschlag mußte von diesem Zeitpunkt an ein-
gung von 1,25 DM nur 65 Pf/ kg beträgt. heitlich geregelt werden.
Der Kostenaufwand liegt im Rahmen der auch bei Die Kommission der Europäischen Gerneinschaften
anderen Absatzmaßnahmen entstehenden- Kosten. war — wie eine Reihe anderer Mitgliedsländer —
Ein günstigerer Absatz auch auf dem Weltmarkt der Meinung, daß die verbilligte Abgabe von But-
war nicht möglich. ter nicht zu einem Mehrtabsatz fahrt, sondern im
Die Notwendigkeit einer solchen Maßnahme kann wesentlichen frische Butter ersetzt. Die Kommission
außerdem nicht nur allein vom finanziellen Aspekt hat deshalb im Verwlaltungsausschußverfahren den
her gesehen werden. Bei der bestehenden Über- Preisabschlag für Molkereibutter von zunächst ca.
schußsituation muß die Verbrauchernachfrage ge- 60 Pf/ kg auf 48 Pf/ kg unid seit 19. Mai 1970 auf
weckt werden, wozu sich für einen wirtschaftlichen 36 Pf/ kg reduziert, was nach Abzug der Ausform-
Effekt bestimmte Zeiten, z. B. die Monate November kosten zu einer Preisdifferenz zur Markenbutter von
bis Januar, besonders eignen. weniger als 10 Pf/ kg führt.
2740 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
Anlage 9
Schriftliche Antwort Anlage 11
Schriftliche Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs Börner vom
27. Mai 1970 auf die Mündliche Frage des Abge- des Parlamentarischen Staatssekretärs Börner vom
ordneten Dasch (Drucksache VI/ 809 Frage A 79): 27. Mai 1970 auf die Mündlichen Fragen des Abge-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2741
ordneten Schwabe (Drucksache VI/ 809 Fragen A 82 holbedarfs zum Ziel. Das Ausmaß der Fortschritte
und 83) : in der Verminderung der Notunterkünfte hängt al-
Trifft es zu, daß die 30 Millionen Serien von Gedenkmarken lerdings auch davon ab, wieweit es gelingt, dem
der Deutschen Bundespost für Beethoven, Hegel und Hölderlin
bereits nach wenigen Tagen ausverkauft waren?
Entstehen neuer Wohnungsnotstandfälle und dem
Wenn ja, gedenkt die Deutsche Bundespost einen Nachdruck
Nachrücken anderer Personen in die Notunterkünfte
zu veranlassen, zumal im Beethoven-Jahr eine längere Bereit- entgegenzuwirken. Hierbei spielen die Probleme
stellung gerade der Erinnerungsmarke an diesen weltberühmten
Künstler sicherlich von Vorteil wäre und da mit einer solchen der Unterbringung der illegal zugewanderten Gast-
Neuauflage einer übermäßigen Briefmarkenspekulation ent- arbeiter eine Rolle.
gegengewirkt werden könnte?
Im übrigen reicht die Aufgabe der Beseitigung
Sondermarken sind in aller Regel mehrere Wochen von Notunterkünften erheblich über den Bereich
an den Schaltern vorrätig. Ob an einzelnen Schal-
der Wohnungspolitik hinaus. Die Bundesregierung
tern die von Ihnen erwähnten Sondermarken bereits hat erst kürzlich im Sozialbericht 1970 darauf hin-
nach wenigen Tagen vergriffen waren, läßt sich nicht gewiesen, daß es an 'zahlreichen Stellen gelungen
übersehen.
ist, mit neuen Methoden .der Sozialarbeit, die die
Ein Nachdruck ist nicht vorgesehen. Es war von eigene Initiative der Betroffenen anregen sollen,
Anfang an angekündigt, daß eine Auflage von je die Auflösung sog. Obdachlosensiedlungen und die
30 Millionen Stück hergestellt werden sollte. Neben dezentralisierte Unterbringung ihrer Bewohner in
technischen Schwierigkeiten läßt sich ein kurzfristi- geeigneten Wohnungen zu erreichen. Hier kommt
ger Nachdruck vor allem wegen der für die übrigen es entscheidend darauf an, , daß die Verwaltungs-
noch in diesem. Jahr erscheinenden Sondermarken stellen auf örtlicher Ebene gut zusammenarbeiten
notwendigen Druckkapazität nicht durchführen. Bei und alle positiven Ansätze bei den Betroffenen, bei
einer Auflagenhöhe von 30 Millionen Stück besteht einsatzbereiten Bürgern und bei gemeinnützigen
nach meinen Erfahrungen keine Spekulationsgefahr. Einrichtungen nutzen.
Anlage 13
Anlage 12
Schriftliche Antwort
Schriftliche Antwort
des Parlamentarischen Staatssekretärs Ravens vom
des Parlamentarischen Staatssekretärs Ravens vom 27. Mai 1970 auf die Mündliche Frage des Abge-
27. Mai 1970 auf die Mündlichen Fragen des Abge- ordneten Mertes (Drucksache VI/ 809 Frage A 88) :
ordneten Dichgans (Drucksache VI/ 809 Fragen A 86
Ist nach Meinung der Bundesregierung sichergestellt, daß die
und 87): derzeitigen Mieterhöhungen auf Grund höherer Hypotheken-
Wie viele Bürger der Bundesrepublik Deutschland leben gegen- zinsen nach deren Senkung auch wieder ermäßigt werden, oder
wärtig noch in Notunterkünften? besteht für die Baugesellschaften eine gesetzliche Verpflichtung
dazu nicht?
Auf welche Zahl glaubt die Bundesregierung, die Notunter-
künfte bis zum Ende der Legislaturperiode vermindern zu kön- Bei allen Wohnungen, die an die gesetzliche
nen?
Kostenmiete gebunden sind, muß die Miete nach
Bei der Gebäude- und Wohnungszählung 1968 der Senkung der Hypothekenzinsen entsprechend
wurden nach vorläufigen Ergebnissen rd. 147 000 ermäßigt werden, wenn sie zuvor wegen der Zins-
Wohngelegenheiten in Unterkünften ermittelt, die erhöhung erhöht worden ist. Bei den genannten
als Notunterkünfte im engeren Sinne zu bezeichnen Wohnungen handelt es sich um die Wohnungen
sind. In diesen Notunterkünften leben rd. 425 000 des sozialen Wohnungsbaues, die Wohnungen der
Menschen. Hinzu kommen die Wohngelegenheiten Wohnungsfürsorge der öffentlichen Hand und um
in Wohngebäuden, die nicht die Merkmale einer alle sonstigen Wohnungen der gemeinnützigen
Wohnung haben und auch ihrer Ausstattung nach Wohnungsunternehmen.
unzulänglich sind. Faßt man beide Kategorien von
Bei Wohnungen, die nicht 'an die Kostenmiete ge-
im allgemeinen schlechten Wohngelegenheiten zu-
bunden sind, gibt es keine gesetzliche Grundlage
sammen, so kommt man auf eine Zahl von rd. 1/2
für eine Mieterhöhung. Daher besteht auch keine
Million; in , diesen schlechten Wohngelegenheiten
leben rd. 1 1/2 Millionen Menschen. gesetzliche Verpflichtung für eine Mietermäßigung.
In der Bundesrepublik besteht die Möglichkeit, Die in Ziffer 8 der Empfehlung 594 aufgestellten
Sicherheitstechnik an zwei Hochschulen zu studie- Ziele werden von der Bundesregierung begrüßt. Sie
ren, nämlich an den Technischen Hochschulen Aachen ist bereit, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an
und München. Ein weiterer Lehrstuhl für Sicherheits- dem Förderungsplan zu beteiligen und hat in die-
technik wird gegenwärtig an der Technischen Hoch- sem Sinne sowohl im Rat für kulturelle Zusammen-
schule Hannover eingerichtet. Ferner gehören an arbeit (CCC) ails auch im Ministerkomitee Stellung
etwa 50 von ungefähr 130 staatlichen Ingenieurschu- genommen.
len Arbeitsschutz oder Sicherheitstechnik zum Unter-
Wie in der Empfehlung rausgeführt, hat der Euro-
richtsprogramm.
parat bereits i n der Vergangenheit ein Projekt ini-
Dieser Unterricht wird meist von nebenamtlichen tiiert, das die Weiterbildung von türkischen Lehrern
Lehrkräften in , der Form von Arbeitsgemeinschaften in 'den Mitgliedstaaten zum Inhalt hatte. Die Bun-
erteilt. Einen eigenen Studiengang für Sicherheits- desregierung hat sich an dem Programm, das ein. im
technik gibt es bislang weder an den Hochschulen Ganzen zufriedenstellendes Ergebnis hatte, in erheb-
noch an .den Ingenieurschulen. lichem Umfang beteiligt. Es ist daran gedacht, es für
1970-1972 durch 'Gewährung von Jahresstipendien
an je zwei türkische Lehrer in der Bundesrepublik
Deutschland weiterzuführen.
Die in der Empfehlung 594 enthaltenen Zielvor-
stellungen (Ziff. 8) werden im Rahmen der laufenden
Anlage 15 Programme des türkischen Erziehungsministeriums
zur , Reformierung des neusprachlichen Unterrichts
Schriftliche Antwort bereits seit drei Jahren angestrebt und sind zum
Teil schon verwirklicht. Bei der Reformierung des
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahren- deutschen Sprachunterrichts wurde uns von Anfang
dorf vom 14. Mai 1970 ,auf die Schriftliche Frage an eine breite Möglichkeit der Mitarbeit eingeräumt.
der Abgeordneten Frau Dr. Walz (Drucksache Dies wurde dadurch begünstigt, daß seit 1965 an der
VI/ 809 Frage B 1) : Deutsch-Abteilung der größten und wichtigsten Päd-
Wie steht die Bundesregierung nun tatsächlich zur Institutio- agogischen Hochschule des Landes eine wachsende
nalisierung der Konferenz der Europäischen Erziehungsminister
und zur Einrichtung der Europäischen Erziehungsbehörde, nach- Zahl deutscher Dozenten mitwirkte. Der Anstoß
dem am 21. Januar der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Dah- zur didaktischen Modernisierung des Unterrichts,
rendorf auf eine Frage des Abgeordneten Dr. Schulz (Berlin)
(Drucksache VI/245 Frage A. 43) ausführte, daß die Bundesregie- zu einer Unterweisung der künftigen Deutschlehrer
rung nicht die Institutionalisierung der Konferenz der Euro-
päischen Erziehungsminister und nicht die Einrichtung einer in modernen Unterrichtsmethoden und zur Ausarbei-
Europäischen Erziehungsbehörde befürworte, inzwischen aber tung eines modernen Deutschlehrbuches für die Mit-
auf einer Informationstagung in Brüssel zu hören war, daß das
Kanzleramt zumindest die Europäische Erziehungsbehörde be- telstufe ging von den deutschen Dozenten und der
fürworte? Zweigstelle des Goethe-Instituts 'in Ankara aus, die
Die Bundesregierung ist nach wie vor der Ansicht, einen entsandten Mitarbeiter unentgeltlich an die
daß die Institutionalisierung der Europäischen Erzie- Hochschule abgeordnet hat. Die Reformarbeit des
hungsministerkonferenz und die damit verknüpfte türkischen Erziehungsministeriums konnte daher auf
Errichtung eines Europäischen Erziehungsbüros nicht dem Gebiet des Deutschunterrichts an die von deut-
zu befürworten ist. Die europäische Zusammenarbeit schen Kräften geleisteten Vorarbeiten anknüpfen.
auf , dem Gebiet des Erziehungswesens ist durch die Die Pädagogische Verbindungsstelle in Ankara
bestehenden Einrichtungen, insbesondere den Rat (Zweigstelle des Goethe-Instituts) bemüht sich im
für kulturelle Zusammenarbeit des Europarats (CCC) übrigen, durch die Pflege ständiger Kontakte mit
bereits gewährleistet. Gegen die Festlegung einer den Deutschlehrern in der Provinz diese auf ihre
Permanenz der Europäischen Erziehungsminister- neuen Aufgaben vorzubereiten. Die in der Emp-
konferenz bestehen jedoch keine Bedenken. fehlung 594 genannte Einführung audiovisueller
Hilfsmittel kommt vorerst allerdings wohl nur für
Für die Erörterung der Empfehlung 567 (69) hat
die Lehrerbildungsanstalten und Oberschulen in den
der deutsche Ministerbeauftragte inzwischen eine Großstädten in Frage.
den obigen Ausführungen entsprechende Weisung
erhalten. Die Deutschabtrilung der Pädagogischen Hoch-
schule in Ankara besitzt ein von der Bundesregie-
rung gespendetes Sprachlabor.
Anlage 16
Schriftliche Antwort Anlage 17
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Dahren- Schriftliche Antwort
dorf vom 26. Mai 1970 auf die Schriftliche Frage der
Frau Herklotz (Drucksache VI /809 Abgeordnt des Bundesministers Genscher vom 26. Mai 1970 auf
Frage B 2) : die Schriftliche Frage des Abgeordneten Weigl
(Drucksache VI/ 809 Frage B 3) :
Ist die Bundesregierung bereit, sich im Sinn der Empfehlung
594 der Beratenden Versammlung des Europarates vom 26. Ja- Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß die noch be-
nuar 1970 an dem Plan des Europarates zu beteiligen, den Unter- stehenden Ortsklassenunterschiede durch Ländergesetze aufge-
richt in modernen Fremdsprachen in der Türkei zu fördern? hoben werden sollten?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970 2743
Die Ortsklasse der einzelnen Gemeinden ergibt denken könnten jedoch außer Betracht bleiben, wenn
sich aus dem Ortsklassenverzeichnis des Bundes. sich die sechs Europastaaten entschließen würden, in
An die dort festgelegten Einstufungen sind auch die dieser Frage einheitlich zu verfahren.
Länder gebunden (§ 56 Abs. 2 des Bundesbesol- Ein offizieller Antrag ist bisher an die Sechser-
dungsgesetzes). Das Ortsklassenverzeichnis kann Gemeinschaft noch nicht gestellt worden. Die er-
nur durch eine mit Zustimmung des Bundesrates zu freuliche Entwicklung der Europapolitik seit der
erlassende Rechtsverordnung der Bundesregierung Gipfelkonferenz vom Dezember 1969 läßt jedoch
geändert werden (§ 13 Abs. 2 BBesG). Für eigene hoffen, daß sich die Regierungen zu gegebener Zeit
Gesetze der Länder ist insoweit somit kein Raum.
auch mit der Flaggenfrage befassen werden. Wenn
Die Bundesregierung hat wiederholt erklärt, daß dann die übrigen Mitglieder der Europäischen Ge-
das Ortsklassenverzeichnis nicht mehr geändert meinschaft einem Vorschlag, daß an allen Grenzen
werden soll. Die Gründe hierfür sind in der schrift- der Europastaaten neben den Staatsflaggen ständig
lichen Antwort vom 13. Mai 1969 auf eine Frage des die Europaflagge gezeigt werden soll, zustimmen
Herrn Bundestagsabgeordneten Baier (Sten. Ber. würden, wäre die Bundesregierung bereit, dabei
S. 12896 — B —) dargelegt. mitzuwirken.
Die Unterschiede zwischen dem Ortszuschlag der
Ortsklasse S und dem der Ortsklasse A sollen je-
doch stufenweise beseitigt werden. Mit dem schritt-
weisen Abbau ist bereits in dem am 1. April 1969 Anlage 19
in Kraft getretenen Zweiten Besoldungsneurege- Schriftliche Antwort
lungsgesetz (BGBl. I S. 365) begonnen worden. Durch
das Siebente Gesetz zur Änderung des Bundesbesol- des Bundesministers Jahn vom 26. Mai 1970 auf die
dungsgesetzes vom 15. April 1970 (BGBl. I S. 339) Schriftliche Frage des Abgeordneten von Thadden
wurden die Unterschiede mit Wirkung vom 1. Ja- (Drucksache VI/809 Frage B 5) :
nuar 1970 in allen Tarifklassen weiter verringert. Welche Möglichkeiten sieht der Bundesjustizminister dafür,
Die Länder werden sich den Bundesregelungen an- daß Strafgefangene, die durch ihre Tat Privatpersonen Vermö-
gensschaden zugefügt haben, leichter zur Wiedergutmachung da-
schließen. Die verbliebenen — relativ geringfügigen durch instand gesetzt werden, daß ihre Arbeitsbelohnung erhöht
— Unterschiede sollen im Verlauf dieser Legislatur- wird?
periode in zwei weiteren Stufen gänzlich beseitigt Nach der bundeseinheitlich geltenden Dienst- und
werden. Vollzugsordnung erhält der Gefangene gegenwärtig
eine Arbeits- und Leistungsbelohnung, deren Höhe
in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich fest-
gesetzt ist.
Im Rahmen der Strafvollzugsreform hat mein
Anlage 18 Amtsvorgänger Dr. Heinemann im Jahre 1967 die
Schriftliche Antwort Strafvollzugskommission berufen, die mit der Erar-
beitung eines Strafvollzugsgesetzes beauftragt ist,
des Bundesministers Genscher vom 26. Mai 1970 auf das an die Stelle der Dienst- und Vollzugsordnung
die Schriftliche Frage des Abgeordneten Dr. Gölter treten soll. Die Kommission hat bei ihren Reform-
(Drucksache VI/ 809 Frage B 4) : arbeiten auch eingehend die Frage des Arbeitsent-
gelts für Strafgefangene geprüft. Sie ist zu dem Er-
Wird die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß an den
Grenzübergängen neben der deutschen und der jeweiligen Fahne gebnis gekommen, daß dem Gefangenen künftig der
des Nachbarlandes auch die Europa-Fahne gezeigt werden darf?
Anspruch auf ein leistungsangemessenes Arbeitsent-
Die Europaflagge wird schon seit 1965 alljährlich gelt eingeräumt werden sollte. Bei der Erörterung
am Europatag, dem 5. Mai, im Bund und in den dieser Frage hat sich die Kommission nicht zuletzt
Ländern gehißt. Ihre Anregung, an den Grenzüber- auch von dem Gesichtspunkt leiten lassen, daß der
gangsstellen neben der deutschen und der jeweili- Gefangene durch ein angemessenes Arbeitsentgelt
gen Flagge des Nachbarstaates ständig die Europa- in die Lage versetzt werde, auch während der Zeit
flagge zu setzen, ist bereits im Sommer vorigen des Strafvollzugs — wenigstens teilweise — den
Jahres vom Generalsekretär der Europa-Union in von ihm verursachten Schaden zu ersetzen. Die
Deutschland an mich herangetragen worden. Das Strafvollzugskommission hat in ihren Grundsätzen
Setzen der Europaflagge an den deutschen Grenz- zur Frage der Verwendung des Arbeitsentgelts aus-
übergängen würde dazu beitragen, auch gegenüber drücklich darauf hingewiesen, daß der Gefangene
einer breiteren Öffentlichkeit den politischen Wil- zur Wiedergutmachung des von ihm durch seine
len zur europäischen Einigung sinnfällig zu - doku- Straftat verursachten Schadens anzuhalten sei.
mentieren. Da die Europaflagge aber kein nationa-
les, sondern ein Gemeinschaftssymbol ist, kann
diese Frage nicht auf nationaler Ebene, sondern nur
im Einvernehmen mit den übrigen Mitgliedstaaten Anlage 20
der Europäischen Gemeinschaft entschieden werden.
. Schriftliche Antwort
Innerstaatlich bestehen gewisse Bedenken gegen die
Gleichstellung der Fahne einer nichtstaatlichen Ver- des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Reischl
einigung mit den staatlichen Hoheitssymbolen der vom 25. Mai 1970 auf die Schriftliche Frage des Ab
Bundesrepublik und ihrer Nachbarländer; diese Be- geordneten Meister (Drucksache VI/809 Frage B 6) :
2744 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 53. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 27. Mai 1970
des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Reischl Ist der Bundesregierung bekannt, daß durch die Preisauszeich-
nungspflicht potentielle Einbrecher und Diebe angeregt werden
vom 27. Mai 1970 auf die Schriftliche Frage des Ab- könnten, strafbare Handlungen zu begehen?
geordneten Weigl (Drucksache VI/809 Frage B 7): Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß
Bis wann können Antragsteller aus dem Zonenrandgebiet mit Pelze, Schmuck und andere hochwertige Gegen-
der Auszahlung der Investitionszulage für Investitionen im
Jahre 1969 rechnen? stände allein ihres Wertes wegen bei der Preisaus-
zeichnung nicht anders behandelt werden sollten als
Die Verwaltung der Investitionszulage obliegt Gegenstände des täglichen Bedarfs. Auch der Käu-
nach der Finanzverfassung den Ländern, die damit fer hochwertiger Waren ist an einer Unterrichtung
auch allein für die zur Festsetzung und Auszahlung über die Preise möglichst schon durch die Schau-
der Investitionszulage erforderlichen organisato-
- fensterpreisauszeichnung interessiert.
rischen Maßnahmen zuständig sind. Die Bundes-
regierung kann 'deshalb nur allgemein auf folgen- Nach Auskunft des Bundeskriminalamtes halten
des hinweisen: sich die Einbruchdiebstähle in Juwelier- und Pelz-
geschäften im Rahmen ides leider Gewöhnlichen. Es
Die Zeit für die Bearbeitung der einzelnen An- ist aber vorgesehen, die bereits vor Verkündung der
träge auf Gewährung .der Investitionszulage ist von Preisauszeichnungsverordnung eingehend behan-
Fall zu Fall unterschiedlich. Nicht unerhebliche Ver- delte Sicherheitsfrage in einem Gespräch mit dem
zögerungen können sich insbesondere dann ergeben, Bundesverband der Juweliere und Uhrmacher, dem
wenn Rückfragen erforderlich sind oder die nach Verband der Sachversicherer und dem Bundeskrimi-
§ 1 Abs. 4 des Investitionszulagengesetzes vorzu- nalamt Anfang Juni 1970 erneut zu erörtern.
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1969 sollte dieser Teil des Äußeren Fernstraßen gänzung dieser Untersuchung wurde im Mai 1961 ein
ringes nicht in die I. Dringlichkeit eingestuft werden. Wirtschaftsinstitut beauftragt, ein Gutachten 'darüber
zu erstatten, ob der Ausbau der Saar für 1350-t-Schiffe
Der in der I. Dringlichkeit vorgesehene Teil des aus verkehrswirtschaftlichen Gründen erforderlich
Äußeren Fernstraßenringes von München (von der und zweckmäßig ist. Das Gutachten wurde im Juli
BAB Stuttgart bis zur BAB Salzburg) zusammen mit 1961 auf den Bau eines Saar-Pfalz-Rhein-Kanals er-
der Entlastungsautobahn München—Rosenheim wer- weitert.
den in den nächsten Jahren so außergewöhnlich
hohe Beträge an Bundesmitteln binden, daß darüber Im Januar 1965 wurde dann zwischen dem Bun-
hinaus nicht noch der westliche Teil des Äußeren desminister für Verkehr, dem Saarland und dem
Fernstraßenringes in die I. Dringlichkeitsstufe ein- Land Rheinland-Pfalz vereinbart, einen Rahmenent-
gereiht werden konnte, ohne die Planungsziele der wurf mit Kostenermittlung für den Ausbau der Saar
I. Dringlichkeit im Raum München zu gefährden. durch das Wasser- und Schiffahrtsamt Saarbrücken
aufstellen zu lassen. Diesem Amt ist im August 1967
auch die Ausarbeitung eines entsprechenden Rah-
menentwurfs für einen Saar-Pfalz-Rhein-Kanal über-
tragen worden. Die Kosten für diese Planungsarbei-
Anlage 27 ten übernahmen die beiden° Länder und der Saar-
Pfalz-Kanal-Verein e. V.
Schriftliche Antwort
Am 11. 2. 1969 hat die damalige Bundesregierung
des Parlamentarischen Staatssekretärs Börner vom beschlossen, daß ein Wasserstraßenanschluß für das
27. Mai 1970 auf die Schriftlichen Fragen des Abge- Saarland gebaut wird und als erstes Teilstück die
ordneten Leicht (Drucksache VI/ 809 Fragen B 16 Kanalisierung der Saar von Saarbrücken bis Dillin-
und 17): gen in Angriff zu nehmen ist, jedoch noch nicht ent-
schieden, ob der Anschluß durch den Bau eines Saar-
Wie hoch ist die Summe der Rheinland-Pfalz zugewiesenen
Mittel im Jahre 1970 für den Autobahn- und Fernstraßenbau? Pfalz-Rhein-Kanals oder durch die Kanalisierung der
Wie hoch ist die ausgebrachte Sperre bei diesen Mitteln?
Saar bis zur Mosel vollendet werden soll. Die neue
Bundesregierung hat diesen Beschluß am 29. 1. 1970
Der Anteil des Landes Rheinland-Pfalz am z. Z. bestätigt.
verfügbaren Straßenbauvolumen 1970 beträgt: Beide inzwischen vorgelegte Rahmenentwürfe
a) bei den Bundesstraßen werden z. Z. ergänzt. Auf Wunsch der Schiffahrt wird
und Betriebsstrecken der geprüft, ob die Saar für 172-Meter-Schubverbände
Bundesautobahnen = 265 Millionen DM ausgebaut werden kann. Für den Saar-Pfalz-Rhein-
Kanal wird als Variante die Anordnung von Schleu-
b) beim BAB-Neubau = 171 Millionen DM
sentreppen anstelle der geplanten Schrägaufzüge un-
Zusammen = 436 Millionen DM tersucht.
Die in 'den Rahmenentwürfen ermittelten Kosten
Bei Freiwerden der gesperrten Mittel von 540 Mil-
für 'die beiden Wassertransportprojekte werden der
lionen DM würden hinzutreten:
nach der neuen Bundeshaushaltsordnung durchzu-
bei a) = rd. 25 Millionen DM führenden Untersuchung von Nutzen und Kosten des
bei b) = rd. 29 Millionen DM Wasserstraßenanschlusses für das Saarland zu-
grundegelegt. In dieser Untersuchung, die der Bun-
Zusammen — rd. 54 Millionen DM desminister für Verkehr in Kürze vergeben wird,
werden auch die früheren Studien und Gutachten
des Bundes und des Saarlandes berücksichtigt.
Nach Vorliegen des Ergebnisses der Nutzen-
Kosten-Untersuchung wird die Bundesregierung ent-
Anlage 28 scheiden, ob der Wasserstraßenanschluß für das
Schriftliche Antwort Saarland durch den Bau eines Saar-Pfalz-Rhein-
Kanals oder durch die Kanalisierung der Saar bis
des Parlamentarischen Staatssekretärs Börmer vom zur Mosel vollendet wird.
27. Mai 1970 auf die Schriftliche Frage des Abgeord-
neten Brück (Drucksache VI/ 809 Frage B 18) :
-
Was ist seit der Eingliederung des Saarlandes in die Bundes-
republik Deutschland von der Bundesregierung getan worden,
um einen Anschluß des Saarlandes an das deutsche Wasser-
straßennetz zu schaffen? Anlage 29
Der Bundesminister für Verkehr hat im August Schriftliche Antwort
1958 nach Abstimmung mit dem Minister für öffent-
liche Arbeiten des Saarlandes das Wasser- und des Parlamentarischen Staatssekretärs Börner vom
Schiffahrtsamt Saarbrücken angewiesen, die techni- 27. Mai 1970 auf die Schriftliche Frage des Abge-
schen Möglichkeiten und Kosten des Saarausbaus für ordneten Dr. Schulze-Vorberg (Drucksache VI/ 809
verschiedene Schiffsgrößen zu untersuchen. Zur Er- Frage B 19) :
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Die Untersuchungen zur Aufstellung des Ausbau- des Parlamentarischen Staatssekretärs Ravens vom
planes für Bundesfernstraßen in den Jahren 1971 27. Mai 1970 auf die Schriftlichen Fragen des Ab-
bis 1985 haben gezeigt, daß die Westumgehung geordneten Dr. Beermann (Drucksache VI/ 809 Fra-
Würzburg im Zuge der BAB/ Neubaustrecke A 23 in gen B 22 und 23) :
die III. Dringlichkeit eingestuft werden soll. So ist Bis zu welcher Obergrenze beabsichtigt die Bundesregierung,
es auch in dem Bedarfsplan eingetragen, der Ihnen die §§ 8 und 43 des Wohngeldgesetzes ändern zu lassen?
Bis wann wird die Bundesregierung eine entsprechende Ge-
sicher bekannt ist. Die Einstufung der Westum- setzesvorlage dem Deutschen Bundestag zuleiten?
gehung Würzburg erfolgte auch im Einvernehmen
a) In dem von der Bundesregierung am 30. April
mit dem Lande Bayern. Bei der Vielzahl vordring-
licher Autobahnprojekte kann somit den Vorstel- 1970 beschlossenen Entwurf eines Zweiten Wohn-
lungen nach vorrangigem Bau der Westumgehung geldgesetzes ist eine Erhöhung der Einkommens-
Würzburg nicht entsprochen werden. grenze vorgesehen. Künftig soll Wohngeld nicht
gewährt werden, wenn das Familieneinkommen den
Betrag von 9600 DM übersteigt; diese Grenze soll
sich für das zweite und jedes weitere zum Haushalt
rechnende Familienmitglied um je 2400 DM erhöhen
(§ 19 des Entwurfs).
Anlage 30
b) Eine dem § 14 WohngeldG entsprechende Vor-
Schriftliche Antwort schrift, wonach die Miete oder Belastung insoweit
nicht berücksichtigt wird, als sie die Obergrenzen
des Parlamentarischen Staatssekretärs Börner vom nach § 43 oder — bei preisgebundenem Wohn-
26. Mai 1970 auf die Schriftlichen Fragen des Ab raum — die preisrechtlich zulässige Miete über-
geordneten Dr. Hammans (Drucksache VI/ 809 Fragen steigt, ist im Entwurf eines Zweiten Wohngeldge-
B 20 und 21) : setzes nicht mehr enthalten. Statt dessen sind in
Hat die Deutsche Bundespost nach der kommunalen Neu- § 8 des Gesetzentwurfs absolute Höchstbeträge für
gliederung des Kreises Kempen-Krefeld die neuen postalischen
Ortsbezeichnungen festgelegt, ohne mit den betroffenen Ge-
die zu berücksichtigende Miete oder Belastung vor-
meinden gesprochen zu haben? gesehen. Ausgehend von den geltenden Vorschrif-
Ist die Deutsche Bundespost bereit, wenn Frage 20 bejaht
werden muß, dies nachzuholen und noch Änderungen vorzu- ten sind die Höchstbeträge unter Zugrundelegung
nehmen? angemessener Wohnflächen und Mieten bzw. Bela-
stungen entwickelt worden. Hierbei sind die Ergeb-
Die Deutsche Bundespost hat bei der kommu-
nisse der Wohnungsstatistik berücksichtigt.
nalen Neugliederung des Kreises Kempen-Krefeld
postalische Ortsbezeichnungen nicht von sich aus Die Höchstbeträge sind nach Gemeindegrößen-
festgelegt. Sie ist vielmehr bei der Benennung ihrer klassen, nach der Zahl der zum Haushalt rechnen-
Ämter und Amtsstellen streng der Namensgebung den Familienmitglieder sowie nach Alter und Aus-
gefolgt, wie sie entsprechend der Gemeindeordnung stattung der Wohnungen gestaffelt.
von der Landesregierung des Landes Nordrhein Die vorgesehene Regelung soll die Nachteile be-
Westfalen vorgenommen worden ist. seitigen, die sich nach dem geltenden Recht in den
Gemeindenamen und postamtliche Namen stim- Fällen ergeben, in denen die Miete oder Belastung
men dabei in der Regel überein. Nur wenn in einer die Obergrenze übersteigt, die benötigte Wohn-
Gemeinde mehrere Postanstalten bestehen, erhal- fläche (§ 13 WohngeldG) jedoch nicht erreicht wird
ten sie zum postamtlichen Namen als Unterschei- oder in denen zwar die Miete oder Belastung inner-
dungskennzeichen arabische Ziffern hinter dem Ge- halb der Obergrenze liegt, die benötigte Wohn-
meindenamen. fläche aber überschritten wird.
Von dem Grundsatz, daß die Deutsche Bundespost Die beabsichtigte Neuregelung dient zugleich der
die von den Ländern verliehenen Namen der Ge- Verfahrensvereinfachung. Die Berechnung der
meinden als postamtliche Namen verwendet, wird Wohnfläche und die Festsetzung der benötigten
lediglich dann abgewichen, wenn es sich um gleiche Wohnfläche entfallen. Ferner wird die Ermittlung
oder ähnliche Gemeindenamen handelt, die sich für der nach dem Wohnungsbindungsgesetz 1965 oder
den praktischen Post- und Fernmeldebetrieb nicht nach anderen Vorschriften preisrechtlich zulässigen
genügend unterscheiden. In diesen Fällen wird, um Miete entbehrlich. Dadurch wird die Handhabung
betriebliche 'Schwierigkeiten und Fehlleitungen des Gesetzes einfacher und verständlicher.
-
— vor allem im internationalen Telegrafendienst,
Der Regierungsentwurf eines Zweiten Wohngeld-
wo die Postleitzahlen nicht mit übermittelt wer-
gesetzes ist am 15. Mai 1970 dem Bundesrat zuge-
den — auszuschließen, dem Namen ein postamt-
leitet worden und als Drucksache 260/70 veröffent-
licher Zusatz (z. B. bei Kempen „Niederrhein") bei-
gefügt. licht. Das Plenum des Bundesrates wird voraussicht-
lich am 26. Juni 1970 über den Gesetzentwurf bera-
Angesichts dieses Vorgehens bei der Festlegung ten, der sodann mit etwaigen Änderungsvorschlägen
der postamtlichen Ortsbezeichnung besteht keine des Bundesrates und einer Gegenäußerung der Bun-
Notwendigkeit, die betroffenen Gemeinden dabei desregierung dem Deutschen Bundestag zugeleitet
zu konsultieren. wird.
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