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D eutscher Bundestag

58. Sitzung

Bonn, den 7. Februar 1963

Inhalt:

Fragestunde (Drucksache IV/947) Fragen der Abg. Dr. Mommer und Dürr:
Frage des Abg. Wellmann: Doppelte Gebühr für Gespräche bei
Gesundheitsschädigende ausländische Störung des Selbstwählverkehrs
Lebens- und Genußmittel Stücklen, Bundesminister 2592 A, B, C, D,
Frau Dr. Schwarzhaupt, 2593 A, B, C
Bundesminister 2589 B Dr. Mommer (SPD) 2592 B, C
Dürr (FDP) . . . . . . 2592 D, 2593 A
Frage des Abg. Blachstein: Dr. Schäfer (SPD) 2593 B
Verträge der Bundespost für spanische Frage des Abg. Freiherr von Mühlen:
Gastarbeiter
International gebräuchliche Adressen-
Stücklen, Bundesminister 2589 C, 2590 A schreibung
Blachstein (SPD) . . . . 2589 D, 2590 A Stücklen, Bundesminister 2593 D, 2594 A, B
Freiherr von Mühlen (FDP) 2593 D, 2594 A
Frage des Abg. Dr. Rinderspacher:
Aussprache über die Erklärung der Bundes-
Unzulässigkeit der Versendung von regierung:
leeren Briefumschlägen als Drucksache
Ollenhauer (SPD) 2594 C
Stücklen, Bundesminister . . 2590 A, B, D,
2591 A, B, C, D Dr. von Brentano (CDU/CSU) . . 2604 C
Dr. Mende (FDP) 2610 C
Dr. Rinderspacher (SPD) . . . 2590 B, C, D
Schmücker (CDU/CSU) . . . . 2615 D
Dr. Mommer (SPD) 2591 A Erler (SPD) 2621 C, 2631 D
Dr. Bechert (SPD) 2591 B Dr. Adenauer, Bundeskanzler . . . 2629 C
Dr. Schäfer (SPD) 2591 C Dr. Achenbach (FDP) . . . . . . 2632 B
Regling (SPD) 2591 C, D Dr. Schröder, Bundesminister . . . 2634 C
Dr. Jaeger (CDU/CSU) . . . . . 2638 C
Fragen des Abg. Biegler:
Nächste Sitzung . . . . . . . . . 2643 D
Schmuckblattformulare
Stücklen, Bundesminister . . . . 2591 D Anlagen 2645
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2589

58. Sitzung
Bonn, den 7. Februar 1963

Stenographischer Bericht Vizepräsident Schoettle: Keine Zusatzfrage,


Herr Wellmann! —
Beginn: 9.01 Uhr. Ich sehe gerade, daß der Minister für das Post-
und Fernmeldewesen eingetroffen ist. Wir können
Vizepräsident Schoettle: Die Sitzung ist er- also jetzt die Fragen aus seinem Geschäftsbereich
öffnet. behandeln, zunächst die Frage X/1 — des Herrn
Abgeordneten Blachstein —:

Wir treten in die Tagesordnung ein und beginnen


Billigt die Bundesregierung, daß die Deutsche Bundespost spa-
mit der nische Gastarbeiter mit einem Muster-Arbeitsvertrag von min-
destens einem Jahr Dauer anwirbt und diesen Arbeitern nach
Fragestunde (Drucksache IV/947). Ankunft in der Bundesrepublik neue Verträge für Postfach-
arbeiter für vorübergehenden Bedarf vorlegt, nach denen wäh-
Ich darf das Haus vorweg darauf aufmerksam rend der ersten 30 Tage das Arbeitsverhältnis täglich und später
mit einer Woche Frist gekündigt werden kann?
machen, daß die Fragen aus dem Geschäftsbereich
des Bundesministers für Verkehr, die gestern nicht Zur Beantwortung der Herr Bundesminister.
mehr aufgerufen worden sind, nach einer Verein-
barung im Ältestenrat erst morgen beantwortet Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
werden. meldewesen: Ich bin heiser und bitte vielmals zu
entschuldigen, daß meine Stimme etwas rauh klingt.
Ich rufe die Fragen aus dem Geschäftsbereich des
Das kommt aber nicht von einem feucht-fröhlichen
Bundesministers für das Post- und Fernmeldewesen
Abend.
I) auf. — Der Herr Bundespostminister ist offenbar
noch nicht anwesend.
Vizepräsident Schoettle: Das könnte verdäch-
(Zuruf von der SPD: Unpünktliche Post!) tig klingen, aber das nehmen wir hin, Herr Mini-
Dann rufe ich aus dem Geschäftsbereich des Bun- ster!
desministers für Gesundheitswesen die Frage XI/3 (Heiterkeit und Zurufe von der SPD.)
— des Herrn Abgeordneten Wellmann — auf — die
Fragen XI/1 und XI/2 sind vom Fragesteller zurück- Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
gestellt —: -meldwsn:DrIhatvodeuscnB-
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung ergriffen, um den despost mit den spanischen Gastarbeitern abzu-
deutschen Verbraucher vor gesundheitsschädigenden ausländi- schließenden Arbeitsverträge ist durch die Verein-
schen Lebens- und Genußmitteln oder Lebens- und Genußmittel-
fälschungen zu schützen? barung zwischen der Regierung der Bundesrepublik
Bitte, Frau Bundesministerin! Deutschland und der Regierung des spanischen Staa-
tes über die Wanderung, Anwerbung undVermitt-
lung von spanischen Arbeitnehmern nach der Bun-
Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für desrepublik Deutschland vom 29. März 1960 ver-
Gesundheitswesen: Nach den Bestimmungen des bindlich vorgeschrieben. Diese Arbeitsverträge
Lebensmittelgesetzes dürfen bei uns Lebensmittel werden für eine bestimmte Dauer oder Mindest-
und Bedarfsgegenstände eingeführt werden, die den dauer, in der Regel für ein Jahr abgeschlossen. Wie
in der Bundesrepublik geltenden lebensmittelrecht- ich festgestellt habe, ist lediglich in einigen Fällen
lichen Bestimmungen entsprechen. Die Verantwor- im Bereich der Oberpostdirektion Hamburg in un-
tung hierfür hat der Importeur. Für die Über- zulässiger Weise davon abgewichen worden. Ich
wachung sind die Länderbehörden zuständig, denn habe die Oberpostdirektion Hamburg angewiesen,
der Vollzug .des Lebensmittelgesetzes ist Länder- in Zukunft die bestehenden Vorschriften genau zu
sache. Die Überwachungsbehörde hat die Waren beachten.
alsbald nach ihrem Eintreffen daraufhin zu kontrol-
lieren, ob sie auch im Inland zugelassen wären. Vizepräsident Schoettle: Eine Zusatzfrage,
Es ist mir nicht bekannt geworden, daß in den Herr Blachstein!
letzten Jahren die Behörden der Länder häufiger
Verstöße bei Importwaren als bei im Inland her- Blachstein (SPD) : Herr Minister, können Sie
gestellten Lebensmitteln feststellen mußten. Wenn Auskunft darüber geben, um wie viele Fälle es sich
solche Verstöße festgestellt wurden, sind die Im- im Raum der Oberpostdirektion Hamburg gehandelt
porteure zur Verantwortung gezogen worden. hat?
2590 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern- — Nein, Herr Kollege Mommer! Ich bin gerne be-
meldewesen: Die Zahlen liegen mir nicht vor. Es reit, es einzusehen, wenn etwas völlig falsch ist.
handelt sich aber nur um einige wenige Fälle. Aber bei einem solchen Massenverkehr muß man
Richtlinien erlassen, die in dem großen Betrieb der
Blachstein (SPD) : Ist sichergestellt, daß die Deutschen Bundespost tatsächlich kontrolliert wer-
Oberpostdirektion Hamburg künftig in Ihrem Sinne den können. Wenn nun in einem Umschlag mit der
handeln wird? Aufschsrift „Drucksache" kein gedruckter Inhalt ist,
dann ist eben die Voraussetzung der Drucksache
Stücklen, Bundesministerfür das Post- und Fern- offengeblieben. Es könnte durchaus sein, daß aus
meldewesen: Ich bin davon überzeugt. diesem Brief der Inhalt verlustig gegangen ist.
Wenn aber eine Drucksache, d. h. ein Zeitungsaus-
Vizepräsident Schoettle: Frage X/2 — des schnitt oder irgendeine andere Drucksache, beige-
Herrn Abgeordneten Dr. Rinderspacher —: legt ist, dann ist auch für den Kontrollierenden ganz
eindeutig klar, daß damit ein Sammler eine Abstem-
Trifft die Meldung des „Westdeutschen Tageblattes", Dort-
mund, vom 20. Dezember 1962 zu, wonach Philatelisten nicht pelung haben will, und die Drucksache läuft ord-
mehr leere Briefumschläge als Drucksache schicken dürfen, viel-
mehr durch Einstecken eines x-beliebigen Zettels die Drucksache
nungsgemäß durch.
vervollständigen müssen?

Die Beantwortung übernimmt der Herr Minister. Vizepräsident Schoettle: Herr Rinderspacher,
eine weitere Frage!
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
meldewesen: Nach den Vorschriften der Postord- Dr. Rinderspacher (SPD) : Herr Minister, bei
nung ist bei allen gebührenbegünstigten Briefsen- dem Riesenbetrieb, von dem Sie eben mit Recht
dungsarten nur ein bestimmter Inhalt zulässig. So sprachen, ist es doch nach meiner bescheidenen
dürfen zum Beispiel Druckachen nur gedruckte oder Meinung völlig sinnlos, daß man nun die paar
vervielfältigte Texte oder Bilder enthalten. Ein Um- Prozent, die als Philatelisten — —

schlag ohne jeden Inhalt erfüllt diese Voraussetzun-


gen nicht. Er kann deshalb nur zur Briefgebühr ein- Vizepräsident Schoettle: Herr Kollege, Sie
geliefert werden. Wer daher auf einem Briefum- sollten nicht kommentieren, sondern fragen.
schlag einen Stempelabdruck zu Sammlerzwecken
wünscht, ohne dafür die volle Briefgebühr entrich- Dr. Rinderspacher (SPD) : Das ist der Vorspann
ten zu müssen, muß dem Umschlag durch Einlegen für meine Frage.
zum Beispiel eines Zeitungsausschnittes einen bei
Drucksachen zulässigen Inhalt geben. Vizepräsident Schoettle: Ich gebe zu, daß es
wie ein Vorspann aussieht.
Vizepräsident Schoettle: Eine weitere Frage,
Herr Rinderspacher, bitte!
Dr. Rinderspacher (SPD) : — daß nun die Post-
beamten darauf sehen müssen, ob dieser sinnlose
Dr. Rinderspacher (SPD) : Herr Minister, worin Zettel darin ist oder nicht, zumal es sich doch bei
liegt denn der Sinn dessen, daß in einen Umschlag Drucksachen um Massensendungen handelt. Der
etwas hineingetan werden muß, auch wenn dieses Sinn ist doch nicht, die Vorschrift einzuhalten, son-
Etwas keinen Sinn hat, und daß , die Post das kon- dern nach meiner bescheidenen Meinung, praktisch
trollieren muß? Es handelt sich doch bei den Phi- zu arbeiten.
latelisten monatlich um Zehntausende von solchen
Briefen, die freigemacht werden, und die Post muß Vizepräsident Schoettle: War das immer noch
kontrollieren, ob nun ein Fetzen Papier darin ist der Vorspann, Herr Kolege Rinderspacher?
oder nicht. Niemand hat doch etwas davon, wenn
hier zusätzlicher Arbeitsaufwand geleistet wird.
Dr. Rinderspacher (SPD) : Nein, Herr Präsident,
das war die Frage.
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
meldewesen: Wenn es sich um eine Normalgebühr,
eine Briefgebühr handelte, könnte es uns gleich- Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
gültig sein, ob eine Drucksache oder eine mit Rand- meldewesen: Herr Präsident, ich kann darin eine
vermerken versehene Drucksache oder eine Brief- Frage erkennen. — Ich würde auch sagen, Herr
sache darin ist. Da es sich aber um eine Sonder- Kollege, daß es bei normalen Briefgebühren völlig
gleichgültig ist, was sich in dem Brief befindet. Bei
gebühr handelt, also um eine begünstigte Gebühr,
einer Drucksache gilt aber die Vorschrift, daß sich
muß die Möglichkeit bestehen, zu prüfen, ob diese
darin nur bestimmte gedruckte Briefsachen befinden
begünstigte Gebühr nur für den bestimmten Zweck,
dürfen. Aus diesem Grunde muß eine Kontroll-
hier also für Drucksachen, verwandt wird. Aus diesem
möglichkeit sein. Wenn diese Kontrollmöglichkeit
Grunde brauchen wir die Kontrollmöglichkeiten. Ich
nicht da ist, dann — dessen dürfen Sie versichert
glaube, daß es wohl nicht allzuviel verlangt sein
sein — wird sich in der Reihenfolge der Wertigkeit
wird — — des Portos und damit auch der Briefsendungen ein
(Zurufe von der SPD. — Abg. Dr. Mommer: Durcheinander ergeben. Das kann nicht im Sinne
Machen Sie eine andere Anordnung!) einer ordnungsgemäßen Abwicklung liegen.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2591

Vizepräsident Schoettle: Herr Abgeordneter Dr. Schäfer (SPD) : Herr Minister, unter An-
Mommer zu einer Frage! erkennung Ihrer Überlegungen: Wäre es nicht am
besten, wenn man propagieren würde, die Phil-
atelisten sollten einen Zettel einlegen: „Abstempe-
Dr. Mommer (SPD) : Herr Minister, würden Sie lungsersuchen" oder „Philatelist"? Dann wäre bei-
mir zustimmen, wenn ich sage, daß es Ihnen selber den Seiten Rechnung getragen.
sehr unwohl war bei der Position, die Sie soeben
beziehen mußten,
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
(Heiterkeit) meldewesen: Bei gutem Willen gibt es einen Weg,
und wären Sie bereit, dem Hause zu sagen, daß Sie der beide Teile befriedigt.
sich die Sache in Ihrem Amt noch einmal überlegen?
Vizepräsident Schoettle: Eine weitere Frage,
Herr Abgeordneter Regling.
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
-meldwsn:HrKogMme,Siwsnch
will mir immer gern alles überlegen. Sie wissen Regling (SPD) : Wer hat denn diese Vorschrift
auch, daß es mir nicht ganz besonders wohl zumute erlassen, daß unbedingt ein Zettelchen drinstecken
ist, nicht nur wegen der Stimme. muß, auch wenn es nichts sagt?
(Heiterkeit.)
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
Aber ich wollte nur sagen, daß bei einem solchen meldewesen: Herr Kollege Regling, das ist sicher
Massenbetrieb einfach eine Kontrollmöglichkeit vor- schon sehr, sehr lange vor meiner Zeit geschehen.
handen sein muß. Die bisherigen langen Erfahrungen
(Heiterkeit.)
im Betriebsdienst haben diese Notwendigkeit er-
geben. Sollte sich aber zeigen, daß man darauf ver- Es könnte sein, daß diese Bestimmung in der Zeit —
zichten kann, dann bin ich der letzte, der nicht ich möchte nicht sagen: von Thurn und Taxis — un-
bereit wäre, das zu tun. mittelbar nach Heinrich v. Stephan erlassen worden
ist.
(Erneute Heiterkeit.)
Vizepräsident Schoettle: Noch eine Frage,
Herr Abgeordneter Mommer!
Vizepräsident Schoettle: Noch. eine Frage,
Herr Abgeordneter Regling.
Dr. Mommer (SPD) : Herr Minister, würden Sie
einen Ausweg in der logischen Deduktion sehen, Regling (SPD) : Sind Sie nicht auch der Meinung,
daß es wohl keine Vorschrift darüber gibt, wieviel daß zur Zeit von Thurn und Taxis wahrscheinlich
Worte eine Drucksache enthalten muß, und daß in noch nicht dieser Bedarf vorlag, Briefmarken in die-
der Drucksache, die der Philatelist beilegt, die Zahl ser Weise abstempeln zu lassen, und daß es heute
der Worte auf null zusammengeschrumpft und daher an der Zeit wäre, auf diese Wünsche Rücksicht zu
nicht erkennbar ist? nehmen und die Vorschriften zu ändern?
(Heiterkeit.)
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
meldewesen: Herr Kollege Regling, ich habe meine
Vizepräsident Schoettle: Das war zwar auch Bereitschaft zu vernünftigen Regelungen immer be-
keine Frage, Herr Kollege Mommer. Aber jetzt eine kundet; das gilt auch in diesem Falle.
Frage des Herrn Abgeordneten Dr. Bechert.
Vizepräsident Schoettle: Damit scheint also
Dr. Bechert (SPD) : Herr Minister, würden Ihre genügend Heu vom Boden zu sein.
Bedenken zerstreut sein, wenn auf solchen Briefen Wir kommen zu den Fragen X/3 und X/4 — des
die Aufschrift „Sammlerbrief" stünde, und würden Herrn Abgeordneten Biegler —:
Sie eine entsprechende Verordnung vorsehen? Besteht die Möglichkeit, für ernste Anlässe (Todesfall etc.)
außer dem vorhandenen Formular LX 18 durch die Deutsche
Bundespost noch weitere Schmuckblattformulare herauszugeben,
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern- um eine größere Auswahl zu ermöglichen und damit einem
Anliegen weiter Bevölkerungskreise zu entsprechen?
meldewesen: Herr Kollege Bechert, wir können nicht Stimmt es, daß das Schmuckblatt-Formular LX 9 von der
noch diese Aufdrucke im einzelnen klassifizieren. Deutschen Bundespost seit Herbst 1962 aus dem Verkehr gezogen
ist?
Bei dem Massenbetrieb der Post — er ist ja hier
bereits anerkannt worden — und bei der maschinel- Bitte, Herr Minister!
len Bearbeitung ist es gänzlich unmöglich, noch
solche Unterschiede zu machen. Dann ist es mir Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
schon lieber, wenn wir einen Weg finden, auf dem meldewesen: Es stimmt nicht, daß das Schmuckblatt-
die Sammler davor bewahrt werden, einen, wie Sie formular LX 9 aus dem Verkehr gezogen worden ist.
meinen, unnützen Streifen beilegen zu müssen.
Zur zweiten Teilfrage: Die neue Serie von Tele-
grammschmuckblättern, die voraussichtlich noch in
Vizepräsident Schoettle: Eine weitere Frage, diesem Jahr aufgelegt werden wird, soll auch ein
Herr Abgeordneter Dr. Schäfer. weiteres Blatt für Trauerfälle enthalten.
2592 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Vizepräsident Schoettle: Nächste Frage — des zuerhalten; und wir sind aus der Erfahrung zu der
Herrn Abgeordneten Dr. Mommer —: Überzeugung gekommen und auch unsere Messun-
Ist es richtig, daß die Deutsche Bundespost bei Störung im gen haben ergeben, daß eine ganze Reihe von Ge-
Selbstwählfernsprechdienst durch Kälteeinwirkung für handver- sprächen bei Störungen zurückgestellt werden, die
mittelte Gespräche die doppelte Gebühr verlangt?
eben nicht so wichtig sind, und nur die Gespräche
Bitte, Herr Minister! abgewickelt werden, die im Augenblick durchgeführt
werden müssen. Wenn aber keine prohibitive Rege-
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern- lung vorhanden ist, werden alle anmelden, und wir
meldewesen: Herr Präsident, ich bitte damit einver- sind nicht in der Lage, diese plötzlich aufkommende
standen zu sein, daß ich die Frage des Herrn Ab- Menge von handvermittelten Gesprächen zu bewäl-
geordneten Dr. Mommer und die des Herrn Abge- tigen, weil die technischen Einrichtungen nicht da
ordneten Dürr zusammenfasse; sie behandeln die- sind, weil die Fernplätze nicht da sind und weil das
selbe Materie. Personal nicht da ist. Wir können es uns unmöglich
leisten, für solche Fälle, die Ausnahmefälle sind,
Vizepräsident Schoettle: Dann rufe ich auch eine solche Reserve vorzuhalten, daß auch dann
die Frage X/6 — des Herrn Abgeordneten Dürr — noch eine ordnungsgemäße Abwicklung im Fern-
auf : sprechverkehr möglich wäre.
Ist es richtig, daß eine Anordnung des Bundespostministeriums
vorschreibt, daß handvermittelte Gespräche bei bestehendem
Selbstwählbetrieb auch dann die doppelte Gebühr kosten, wenn
der Selbstwählverkehr gestört ist?
Vizepräsident Schoettle: Noch eine Frage des
Herrn Abgeordneten Dr. Mommer.
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
-meldwsn:WirhabutedBnsrp- Dr. Mommer (SPD) : Herr Minister, meinen Sie
blik Deutschland ungefähr 86 % Selbstwählfern- nicht, daß, wenn Störungen auftreten, technisch be-
dienst. Die technischen Einrichtungen beim Selbst- dingt und von Ihrer Verwaltung zu vertreten oder
wählferndienst sind ohne Handbedienung. Wenn z. B. witterungsbedingt, Mehrkosten zu Ihren Lasten
nun eine Leitung ausfällt, sind wir technisch, räum- gehen müssen und nicht zu Lasten des Benutzers?
lich und personell nicht in der Lage, den aufkom-
menden Verkehr im handvermittelten Dienst abzu- Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
wickeln. Wir haben aus der Erfahrung heraus die -meldwsn:HrKogMme,ichwürd
Regelung getroffen — die seit Jahren angewandt Ihnen recht geben, wenn wir in der Lage wären,
wird —, daß wir, um wenigstens die notwendigsten diese Störungen zu erkennen und als von uns verur-
und dringendsten Gespräche durchführen zu können, sacht festzustellen; dann könnte eine solche Rege-
ohne daß Dringend-Gespräche oder Blitzgespräche lung getroffen werden. Da wir das aber im automati-
angemeldet werden müssen, die handvermittelten schen Selbstwählferndienst bei dem großen Netz der
Gespräche mit der doppelten Gebühr belegen. Der Bundesrepublik einfach nicht feststellen können,
normale Anfall ist daher wesentlich geringer, und müssen wir einen Weg suchen, um wenigstens die
Sie kommen praktisch mit, einer geringeren Gebühr dringenden oder die notwendigen Gespräche im
als der für Blitz- oder Dringend-Gespräche im hand- handvermittelten Dienst noch abwickeln zu können.
vermittelten Dienst durch.
Wenn es uns, Herr Kollege Mommer und Herr
Vizepräsident Schoettle: Eine Zusatzfrage des
Herrn Abgeordneten Dürr.
Kollege Dürr, möglich wäre, die Störungen als von
der Deutschen Bundespost verursacht, vielleicht so-
gar schuldhaft von der Deutschen Bundespost ver- Dürr (FDP) : Herr Minister, sind Sie mit mir dar-
ursacht, zu erkennen, so wäre eine solche Gebühr in einig, daß die von Ihnen geschilderte Regelung
nicht gerechtfertigt. Da wir aber bei einer Verbin- zwar für die Post zweckmäßig sein mag, aber keines-
dung z. B. von Hamburg nach Berchtesgaden gar wegs gerecht ist, und würden Sie die Frage noch
nicht feststellen können, ob im Raume Frankfurt— einmal wohlwollend prüfen, ob sich nicht ein an-
Nürnberg eine solche Störung auftritt, war diese derer Weg dafür finden läßt?
Regelung auch für den Kunden noch die günstigste.
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
Vizepräsident Schoettle: Eine weitere Frage -meldwsn:HrKogDü,ichabeusdrk-
des Herrn Abgeordneten Mommer. lich festgestellt, daß ich, wenn es eine Möglichkeit
gäbe, zu erkennen: es liegt eine Störung von seiten
der Bundespost vor, selbstverständlich nicht die
Dr. Mommer (SPD) : Herr Minister, halten Sie es doppelte Gebühr für die Handvermittlung festsetzen
also für richtig und gerecht, daß Sie über die Höhe würde, sondern die einfache Gebühr. Da wir das
der Gebühr, darüber befinden, ob ein Gespräch aber nicht können, sondern allein der Teilnehmer
dringlich oder nicht dringlich ist?
(Abg. Dr. Mommer: Im Zweifel zugunsten
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
meldewesen: Nein, natürlich nicht, Herr Kollege der Post?)
Mommer. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, das fest-- — Nein, Herr Kollege Mommer. Wenn der Teilneh
zustellen. Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, mer zwei-, dreimal eine Nummer wählt — das ist
den Fernsprechverkehr so weit als möglich aufrecht- doch die Praxis, und ich glaube, Herr Kollege Dürr,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2593
Bundesminister Stücklen
daß Sie darin eine gewisse Erfahrung haben — und Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
auf „besetzt" kommt, wendet er sich an das Fern- -meldwsn:HrKogSchäfe,sinat
amt und erklärt: Der Selbstwählferndienst ist ge- leider nicht. Die Fernsprechgebührenordnung ist
stört; ich bitte um Handvermittlung. Sonst gibt es keine Gummibandbestimmung, die ich so dehnen
die Handvermittlung ja gar nicht. Das Fernamt kann kann, wie es mir beliebt, sondern ein Gesetz, und
aber gar nicht feststellen, ob die Leitungen gestört ein Gesetz kann nur durch den dafür zuständigen
sind. Der Teilnehmer kann ja von sich aus mutwil- Gesetzgeber geändert werden; das ist in diesem
lig gestört, d. h. den Hörer abgenommen haben. Er Fall nicht der Bundestag, sondern der Verwaltungs-
kann so häufig angerufen werden, daß man nicht in rat der Deutschen Bundespost.
die freie Gasse kommt. Diese Verhältnisse haben es (Abg. Dr. Schäfer: Sie würden jeden Rechts
uns erschwert, einen Weg zugunsten des Teilneh- streit verliefen, ebenso wie früher beim
mers zu finden, und aus diesem Grunde haben wir Münzfernsprecher; damals hat die Bundes
den Weg gewählt, der beiden Teilen gerecht wird. post auch verloren!)

Vizepräsident Schoettle: Eine weitere Frage? Vizepräsident Schoettle: Herr Kollege Schäfer,
Sie sollten als Fraktionsgeschäftsführer etwas über
Dürr (FDP) : Herr Minister, könnte nicht in einem die Richtlinien der Fragestunde wissen!
solchen Fall das Fräulein vom Amt versuchen, im
Selbstwählverkehr (die Verbindung zu erreichen? ,(Abg. Dr. Schäfer: Ich weiß, aber ...!)
Wenn sie diese Verbindung nicht erreicht, müßte
doch der Post klar sein, daß hier eine Störung vor- Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
liegt?! meldewesen: Herr Präsident, ich darf meiner Ant-
wort vielleicht den letzten Satz anfügen.
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn Herr Kollege Schäfer, ich habe keine Unterlagen.
-meldwsn:HrKogDü,dasFäuleinvom Die Fragen sind allgemein gestellt. Wenn Sie der
Amt versucht in jedem Fall über den Selbstwähl- Meinung sind, daß es irgendwo ganz bestimmte
ferndienst die Verbindung herzustellen; denn der Plätze gibt, an denen solche Fälle, wie Sie sie hier im
Handvermittlungsdienst bedeutet ja, daß die Post Einzelfall aufgeführt haben, häufig vorkommen,
die Arbeit des Wählens — Vorwahlnummer, Teil- dann müßten Sie das sagen; denn sie könnten ge-
nehmernummer — durch die Beamtin vornimmt. eignet sein, als Unterlage für eine entsprechende
Das wird auch gemacht, wenn Sie ein handvermit- Ergänzung oder Änderung der Fernsprechordnung
teltes Gespräch anfordern, nur mit dem Unterschied, zu dienen. Für einen Einzelfall geht das aber nicht.
daß, wenn das Fräulein vom Amt nicht durchkommt, Es müßte natürlich schon eine gewisse Zahl sein,
sie es wiederholt versucht. Sie versucht, auf neuen die das rechtfertigen würde. Dazu bin ich dann gern
Wegen durchzukommen, 'in den Knotenamts- und bereit.
Ortsamtsbereich hinein. Dieser Versuch dauert eine
gewisse Zeit, was Sie nicht ohne weiteres feststel- Vizepräsident Schoettle: Ich rufe die Frage X/7
len können, weil Sie ja nicht unmittelbar an diesen —— des Herrn Abgeordneten Freiherr von Mühlen
Vorgängen beteiligt sind. auf :
Wie stellt sich der Herr Bundespostminister zu dem Vorschlag,
die international gebräuchliche offizielle Adressenschreibung (in
Vizepräsident Schoettle: Herr Dr. Schäfer zu der Reihenfolge Name, Straße, Ort statt wie bisher Name, Ort,
Straße) auch in der Bundesrepublik einzuführen?
einer weiteren Frage!
Bitte, Herr Minister!
Dr. Schäfer (SPD) : Herr Minister, Sie sind also
der Auffassung, daß im Zweifel der Benützer das Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fe rn
Risiko für das Versagen der postalischen Einrich- -meldwsn:IHibckaruf,dßensitm
tungen trägt? internationalen Verkehr keine Einheitlichkeit der
Aufschriftgestaltung besteht und andererseits die
Umgestaltung der Aufschrift mit erheblichen Kosten
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern- für die deutsche Wirtschaft verbunden wäre, die
meldewesen: Das Risiko ist nicht erkennbar, Herr Hunderte von Millionen von Anschriftendruckplat-
Kollege Schäfer. Wenn es erkennbar wäre, würde ten und -lochkarten usw. ändern müßte, ist von
man einen Weg finden. einer Änderung der Aufschriftgestaltung, deren mög-
(Abg. Dr. Mommer: Der Zweifel ist erkenn- liche Vor- und Nachteile vor allem im Zusammen-
bar!) hang mit der Einführung der neuen Postleitzahlen
sorgfältig geprüft worden sind, abgesehen worden.
Dr. Schäfer (SPD) : Wenn in den Wintermonaten
die Zahl der Wünsche auf Handvermittlung gegen- Vizepräsident Schoettle: Eine weitere Frage,
über den Sommermonaten unverhältnismäßig zu- Herr Abgeordneter von Mühlen.
nimmt, könnte doch verfügt werden, daß während
dieser Zeit, die statistisch ganz einfach erkennbar Freiherr von Mühlen (FDP) : Herr Minister,
ist, die Vorschrift über die verdopppelte Gebühr halten Sie es nicht für zweckmäßig, jetzt der Öffent-
-
suspendiert wird. Könnten Sie nicht diesen Weg lichkeit, eventuell in Form einer Empfehlung, zu
prüfen? sagen, daß die Firmen im Rahmen der Umstellung
2594 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Freiherr von Mühlen
auf die Postleitzahlen, die oft mit erheblichen Kosten Ollenhauer (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
verbunden ist, sich bei einer Neuprägung der und Herren! Der Bundeskanzler hat mit seiner
Adrema-Platten der international üblichen Adres- gestrigen Regierungserklärung das Verlangen der
sierungsform anpassen sollten! Opposition erfüllt, das wir im Anschluß an seine
improvisierte Erklärung in der Sitzung am 14. De-
StüCklen, Bundesminister für das Post- und Fern- zember 1962 gestellt hatten.
meldewesen: Herr Kollege von Mühlen, es gibt hier
nur zwei Wege: entweder wir stellen um — und Ich glaube, es war richtig, daß nach der Um- oder
die postalische Anschrift setzt sich dann eben in der Neubildung dieser Regierung Adenauer der Bun-
Reihenfolge „Name, Straße und Bestimmungsort" deskanzler hier eine Darstellung über die Aufgaben
zusammen —, oder wir lassen es bei der heutigen der fünften Regierung Adenauer in der Bundes-
Regelung. Eine Zweigleisigkeit ist in einem solchen republik gab. Wir haben diese Erklärung gestern
Betrieb, wie ihn die Deutsche Bundespost mit 30 Mil- gehört, und ich muß leider mit der Feststellung be-
lionen Briefen pro Tag hat, einfach nicht möglich. ginnen, daß wir sie als unbefriedigend empfinden.
Die Umstellung auf die Postleitzahlen erforderte (Beifall bei der SPD.)
nicht immer die Auswechselung der Anschriften-
platte, sondern es genügte in den meisten Fällen, In der Sache werde ich das im einzelnen noch zu
die Postleitzahl noch auf der alten Anschriftenplatte belegen versuchen, und was die Form angeht, so
anzubringen, die dann wieder verwandt werden kann ich mich auf den Herrn Bundeskanzler selbst
konnte. Eine Neugestaltung der Anschrift dagegen beziehen,
hätte bedeutet, daß in jedem Fall eine neue An-
schriftenplatte hätte hergestellt werden - müssen. (Zuruf von der SPD: Auf ihn selber be
Diese Kosten wollten wir der Wirtschaft im Augen- rufen!)
blick keinesfalls zumuten. Ob später einmal im der gestern von einer langweiligen Erklärung ge-
Rahmen des Weltpostvereins eine internationale sprochen hat.
Regelung kommt, ist noch offen. In den nächsten
Jahren ist damit sicherlich noch nicht zu rechnen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)

Freiherr von Mühlen (FDP) : Dann könnte man Ich glaube, das war eine objektive Feststellung, der
aber doch den Firmen, die durch Neuanfertigung ich nichts hinzuzufügen brauche.
von Adrema-Platten eine Umstellung im großen
In dieser gestrigen Regierungserklärung finden
vornehmen müssen, von seiten der Post die Emp-
wir kein Wort über die Vorgeschichte und über den
fehlung zugehen lassen, daß sie sich gleich der
Hintergrund der Bildung dieses fünften Kabinetts
Adressierung im neuen internationalen Stil bedie-
unter Führung Dr. Adenauers. Man hatte den Ein-
nen.
druck, als fingen wir ganz von vorn an und als sei
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern- vorher gar nichts gewesen. Ich meine, daß man auch
meldewesen: Herr Kollege, ich kann Ihnen wirklich diese Art der Behandlung der Dinge nicht durch-
nicht weiter entgegenkommen, als ich das getan gehen lassen kann. Sicher, wir haben es hier mit
habe. Eine Zweigleisigkeit in der Anschrift würde der alten Koalition CDU/CSU und FDP zu tun, und
eine wesentliche Erschwerung des Betriebsablaufs wir wissen, daß ihre erste Auflage, d. h. die Regie-
bedeuten. Wir müssen abwarten, bis wir in der rungsbildung nach der Bundestagswahl 1961, nach
Lage sind, eine generelle Umstellung vorzunehmen. allgemeinem Urteil eine Regierung des verlorenen
Jahres war.
Vizepräsident Schoettle: Meine Damen und (Zustimmung bei der SPD.)
Herren, damit sind die Fragen in der für heute vorge-
sehenen Zahl beanwortet. Wir stehen nun vor der Wir haben das schon vor dem Zusammenbruch der
Situation, daß die Fragestunde früher zu Ende ge- Regierung festgestellt; aber während der Verhand-
gangen ist, als es die Planung gestern vorgesehen lungen über die neue Regierung, als noch nicht
hat. ganz klar war, wer Partner sein würde, haben wir
von beiden Seiten aus dem Munde der früheren
Nach einer interfraktionellen Verständigung soll Regierungsparteien eine volle Bestätigung dieser
die Sitzung bis 10 Uhr unterbrochen werden. Ich Feststellung erhalten. Es war eine Regierung des
glaube, das ist zweckmäßig, da der gestern amtie- verlorenen Jahres und eine Regierung der Krisen,
rende Präsident den Beginn der Aussprache über und zwar nicht nur eine Krise der Koalition, son-
die Regierungserklärung für 10 Uhr angekündigt dern leider auch eine Krise, die sehr tief unser
hat. Ich unterbreche die Sitzung bis 10 Uhr. öffentliches Leben berührt hat.
(Unterbrechung von 9.29 bis 10.02 Uhr.)
Ich finde, wenn sich jetzt die beiden Partner zu
einer neuen Regierung zusammengefunden haben,
Vizepräsident Schoettle: Die Sitzung ist wie- wäre es richtig und notwendig gewesen, hier ein
der eröffnet. Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung Wort darüber zu sagen, was denn geschehen soll
auf: und geschehen wird, um zunächst einmal die Trüm
Aussprache über die Erklärung des Bundes- mer wegzuräumen, die von der letzten Regierungs-
regierung. - krise noch übriggeblieben sind.
Das Wort hat Herr Abgeordneter Ollenhauer. (Beifall bei der SPD.)
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2595
Ollenhauer
Ich meine nicht das, was da an personellen Aus- Rechtsstaatlichkeit in unserem Lande für jedermann
räumungen auf der anderen Seite geschehen ist. gewahrt und gesichert wird.
(Heiterkeit bei der SPD.) (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
Ich meine das, was uns alle angeht, nämlich die Ich finde, das ist nicht ein Anliegen der Opposition,
Überwindung der Sorge der Bevölkerung unseres das man hier vorbringen muß, um ein kritisches
Landes, daß gewisse Vorgänge im Zusammenhang Wort zu dem zu sagen, was die Regierung zu er-
mit der Krise und im Zusammenhang mit der soge- klären hat. Ich meine, hier liegt ein allgemeines
nannten „Spiegel"-Affäre sich in Zukunft unter kei- Interesse vor, wenn wir in den kommenden Ausein-
nen Umständen wiederholen dürfen. andersetzungen davon ausgehen wollen, daß in der
(Beifall bei der SPD.) Frage der Anerkennung und Aufrechterhaltung und
Sicherung unserer rechtsstaatlichen Ordnung nicht
Ich habe nicht die Absicht, in diesem Zusammen- nur eine theoretische Übereinstimmung besteht, son-
hang noch einmal über die „Spiegel"-Affäre zu dis- dern der entscheidende Wille bei allen Beteiligten,
kutieren. Ich glaube, es gibt ein allgemeines Inter- das nun auch wirklich sicherzustellen.
esse daran, daß man den ernsten Versuch macht,
diese Sache, soweit das Parlament und soweit (Beifall bei der SPD.)
Exekutive und Verwaltung in Frage kommen, in
Was nun die Regierungserklärung selbst angeht,
einer anständigen, sauberen Weise zu bereinigen.
nämlich die Frage nach der Gesamtpolitik der Regie-
(Beifall bei der SPD.) rung und die Frage, ob denn diese neue, umgebil-
Das ist unsere eigene Überlegung dazu. Aber da dete Regierung aktionsfähiger sein wird als die
muß man hinzufügen, daß das, was wir inzwischen zusammengebrochene, müssen wir jedenfalls fest-
teils durch mühsames Fragen hier im Hause und stellen, daß diese Regierungserklärung darauf keine
teils jetzt durch die endlich veröffentlichten Berichte Antwort gibt.
der beteiligten Bundesminister herausbekommen (Sehr richtig! bei der SPD.)
haben, nun wirklich kein Bild ist, das wir so einfach
Ich sage nicht nur: keine befriedigende; sie gibt
stehenlassen dürfen.
keine Antwort. Denn, meine Damen und Herren, die
(Zustimmung bei der SPD.) Aufzählung eines Katalogs, was man alles tun
Es muß eine Regelung erfolgen, die alle Unklar- möchte oder sollte, ist noch keine Politik
heiten beseitigt und die eine Vorkehrung gegen (Beifall bei der SPD)
Wiederholungen unzulässiger Eingriffe und Eigen-
und läßt noch nicht erkennen, welche politische Linie
mächtigkeiten schafft.
nun wirklich von der Regierung verfolgt wird. Ich
Wir habe hier vier Berichte, und ich glaube — will hinzufügen: die Art und Weise, wie der Herr
ohne das vertiefen zu wollen —, es sind Berichte Bundeskanzler seine gestrige Erklärung angelegt
mit sehr viel Widersprüchen, Gegensätzen und offe- und durchgeführt hat, kann auch Politik sein.
nen Fragen. Ich möchte nicht, daß man die Zahl die-
(Heiterkeit bei der SPD.)
ser Berichte noch erhöht. So eine erfreuliche Lektüre
sind diese Berichte nicht. Aber vielleicht wäre es gut Man kann natürlich auf diese Weise alles, die wich-
gewesen, wenn wir noch einen fünften gehabt hätten, tigen mit den unwichtigen Fragen, nivellieren und
nämlich einen Bericht über die Rolle des Herrn Bun- damit so ein beruhigendes Gefühl schaffen, als sei
deskanzlers in diesen Auseinandersetzungen, alles so ziemlich in Ordnung. Ich tue sicher dem
Herrn Bundeskanzler nicht unrecht, wenn ich sage:
(lebhafter Beifall bei der SPD)
so war es auch gemeint.
der ja doch wohl als der Mann, der die Richtlinien
(Beifall bei der SPD.)
der Politik bestimmt, auch in dieser Sache mehr
gewußt hat als eine nachträgliche Information über Das war seine Absicht. Ich habe in der Lage, in der
die Durchführung der Aktion. er sich befindet, dafür einiges Verständnis.
Wie gesagt, ich will das hier nicht vertiefen. Aber (Heiterkeit bei der SPD.)
im Zusammenhang mit der Erklärung des Herrn Denn auf jeden Fall hat man auch den Vorteil:
Bundeskanzlers gestern möchte ich sagen: wenn wir wenn man alles anspricht, ist man am Ende zu nichts
die Sache für alle, soweit wir hier abseits des Ver- verpflichtet.
fahrens, das da läuft, in Frage kommen, in Ordnung
bringen und das Vertrauen in vollem Umfang wie- (Erneute Heiterkeit bei der SPD.)
derherstellen wollen, dann ist es nötig, daß mög- Ich möchte dem Herrn Bundeskanzler auf diesem
lichst bald und möglichst eindeutig ein Wort des Wege nicht folgen. Ich meine, es gibt in der Innen-
Herrn Bundeskanzlers über seine Vorstellungen und und Außenpolitik Schwerpunkte, über die wir reden
die Vorstellungen der Regierung über die Bereini- müssen und die Entscheidungen erfordern. Lassen
gung der Angelegenheit ausgesprochen wird. Das Sie mich zunächst in diesem Zusammenhang einige
heißt: wir erwarten nach wie vor von der Bundes- Fragen im Hinblick auf unsere Innenpolitik behan-
regierung eine verbindliche Erklärung darüber, daß deln. Fürchten Sie nicht, daß ich jetzt zu all den
sie alle Maßnahmen treffen wird, um Wiederholun- Kapiteln der Speisekarte von gestern noch ein klei-
gen der Vorgänge, wie wir sie hier in der Verwal- nes sozialdemokratisches Tüpfelchen setze. Ich
tung, in der Exekutive erlebt haben, auszuschließen, glaube, damit würden wir nicht sehr weit kommen,
und daß die Garantien gegeben werden, daß die und es würde der Sache, die wir hier verfolgen, nicht
2596 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Ollenhauer
dienen. Aber ich möchte sagen, es gibt einige Punkte, Was wir brauchen, ist nach alledem, was wir
über die wir uns sehr ernst unterhalten müssen und gestern in der Regierungserklärung gehört haben
von denen wir wünschen, daß wir von der Regierung und was ich inzwischen über gewisse Ausführungen
mehr über ihre Absichten hören. des Herrn Bundesfinanzministers im Haushaltsaus-
Da ist zunächst der Haushalt, das Haushaltsgesetz. schuß gehört habe, folgendes. Wir müssen wissen:
Meine Damen und Herren, wir sind uns ja wohl Was sind nach Vorstellung der Regierung im Jahre
darin einig, daß das Haushaltsgesetz sozusagen 1963 die tatsächlichen Ausgaben, und was sind nach
das Grundgesetz der inneren staatlichen Ordnung ihrer Vorstellung die tatsächlich zu erwartenden Ein-
und der inneren Aufgabenstellung überhaupt ist, nahmen? Da genügen keine allgemeinen Andeutun-
und hier stehen wir vor einer fast unerträglichen gen oder Ankündigungen. Da muß das Haus in die
Situation. Ich gebe zu, daß die Regierungsumbildung Lage versetzt werden, an Hand eines Nachtrags-
auch für die Regierung zeitliche Schwierigkeiten ge- haushalts, an Hand eines korrigierten Haushalts zu
bracht hat, so daß wir heute mit den Beratungen prüfen: Was ist nach den Vorstellungen der Regie-
über diesen Etat für das bereits laufende Etatjahr rung die Ausgabenseite, und was ist nach den Vor-
so in Verzug sind. Aber feststellen muß man hier, stellungen der Regierung die Einnahmenseite?, da-
daß das nicht die Schuld des Parlaments, sondern mit wir wissen, wie denn dieser Haushalt als aus-
die der Exekutive ist, die hier in Verzug geraten ist. geglichene Grundlage unserer Haushalts- und
Das zweite: Der Entwurf, der den Haushaltsbera- Finanzwirtschaft aussehen soll.
tungen für das Jahr 1963 zugrunde liegt, ist nicht Die Verantwortung dafür, meine Damen und Her-
real. Er war — wir haben das bei der ersten Lesung ren, liegt in erster Linie bei der Regierung. Die
des Etats ausgeführt — nicht von Anfang an solide Exekutive hat die Verantwortung, verbindlich zu
in der Darstellung der Ausgaben und Einnahmen, sagen, wie sie sich die Gestaltung des Haushalts
und er ist es heute noch viel weniger. Dafür hat der denkt, damit das Parlament prüfen kann, ob es be-
Herr Bundeskanzler gestern selber einige bemerkens- reit ist, diese Vorstellungen und Vorschläge zu
werte Hinweise gegeben. Er hat darauf verwiesen, akzeptieren.
in welchem Ausmaß die Kosten für die Verteidigung
gestiegen sind, Kosten, die uns sogar noch in einem Es geht hier um Milliardenbeträge, nicht um
ziemlich erheblichen Maße für das Jahr 1962 belasten, irgendwelche kleinen Summen, die nun nachbewil-
und Kosten, die noch mehr ins Gewicht fallen werden ligt werden müssen. Ich finde deshalb, das erste,
für das laufende Etatjahr 1963. was wir nach dieser allgemeinen Regierungserklä-
Wir haben dann hier vom Herrn Bundeskanzler rung erwarten müssen, ist hier 'im Plenum des Bun-
gehört, daß die Regierung und ihre Koalition im destages eine Darstellung der finanziellen und der
Laufe dieses Jahres eine ganze Reihe von Gesetz- Haushaltssituation durch den neuen Finanzminister,
entwürfen einbringen oder Maßnahmen durchführen ohne Verzug und ohne Umschweife, genau hinsicht-
will, die wieder zu neuen Ausgaben führen müssen, lich der Punkte, auf die es hier ankommt. Das ist
die durch den Entwurf, so wie er uns jetzt vorliegt, der eine Punkt.
nicht gedeckt werden. Das ist ein unhaltbarer Zu- Der andere, wie ich meine, entscheidende Schwer-
stand. Der Herr Bundeskanzler hat sogar mit einigen punkt in unserer Innenpolitik ist die Wirtschafts-
sehr wesentlichen Zahlen über die wirtschaftliche politik und im Zusammenhang damit auch die
Entwicklung darauf hingewiesen, daß alle hier be- Agrarpolitik. Ich will hier über Agrarpolitik 'im ein-
müht sein müssen, aus der veränderten Entwicklung zelnen nichts sagen. Wir werden in sehr kurzer
gewisse Folgerungen zu ziehen. Er war auch bemüht, Zeit die Gelegenheit haben, an Hand des Grünen
die Forderung nach Maßhalten gerechter an alle zu Berichts die Agrarpolitik der Regierung und die
verteilen, als das früher bei anderen Gelegenheiten Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zu disku-
und bei anderen Vertretern der Regierung ge- tieren.
schehen ist.
Hier möchte ich folgendes sagen. Der Herr Bun-
Er hat aber dann das Schwergewicht auf die For- deskanzler hat den Jahresbericht über die wirt-
derung gelegt, die öffentliche Hand, d. h. vor allen schaftliche Situation angekündigt. Ich möchte nur
Dingen die Länder und die Kommunen, solle maß- darauf hinweisen: auch dieser Bericht ist bereits
halten. Sicher kann sich kein Teil der Gemeinschaft wieder überfällig. Er war dem Parlament für den
von einer solchen notwendigen Beschränkung und
15. Januar versprochen worden. Er sollte die Basis
Zurückhaltung ausschließen. Aber wenn hier die
geben für eine regelmäßige Untersuchung unserer
Bundesregierung solche Appelle an die Tarifpartner
wirtschaftlichen Situation und auf der Basis dieser
und vor allen Dingen an die Kontrahenten der
Unterlagen zu einer Diskussion über die wirt-
öffentlichen Hand in Ländern und Gemeinden richtet,
schaftspolitischen Konsequenzen führen.
dann ist die erste Voraussetzung die, daß der Bund
selber, die Bundesregierung, klare Haushaltsvor- Wir wünschen, daß hier keine weitere Verzöge-
lagen zur Debatte stellt und Entscheidungen dar- rung eintritt. Soweit wir wissen, ist die Verzöge-
über herbeiführt. rung darauf zurückzuführen, daß es im Wirtschafts-
(Beifall bei der SPD.) kabinett keine Übereinstimmung gibt.
Man kann von anderen nichts verlangen, was man (Hört! Hört! bei der SPD.)
selber zu tun nicht gewillt oder nicht in der Lage ist. Ich hoffe, daß sich hier nicht wieder Vorzeichen der
(Erneuter Beifall bei der SPD.) Situation zeigen, die das Leben oder Nichtleben der
Hier ist Eile am Platze! vergangenen Koalition bestimmt hat, sondern daß
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2597
Ollenhauer
man hier zu Resultaten kommt, die man als Auffas- ger der Schwerpunkte nachdrücklichst unterstreichen.
sung der Regierung diesem Bundestag für eine Es ist unmöglich, über die Höhe unserer Verteidi-
Debatte über die Wirtschaftspolitik der nächsten gungsausgaben und über die Art ihrer Aufbringung
Zukunft vorlegen kann. im Zusammenhang mit dem Etat zu reden, wenn
man nicht vorher hier in diesem Hohen Hause und
Sie werden verstehen, und Sie werden sicher zu- in seinen Ausschüssen diskutiert über das, was die
stimmen: auch diese Frage drängt, vor allen Dingen praktischen Konsequenzen der neueren Entwicklung
wenn wir von dem ausgehen, was der Herr Bun- für die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik
deskanzler selbst und bei anderen Gelegenheiten sind.
der Herr Bundeswirtschaftsminister über unsere (Beifall bei der SPD.)
wirtschaftliche Situation gesagt haben. Wir wün-
schen eine solche Debatte, und wir wünschen eine Ich habe diese drei Hauptpunkte hier herausge-
Diskussion darüber, nach welchen Richtlinien die stellt, weil ich meine, daß — was immer man sonst
Regierung ihre Wirtschaftspolitik verfolgt und wel- an innenpolitischen Aufgaben sieht — jeder von
che Möglichkeiten wir sehen, sie dabei zu unterstüt- uns, Regierung und Opposition, eine Menge von
zen oder unsere eigenen Vorschläge zu machen. Nur Vorstellungen hat. Die Sozialdemokratische Partei
auf diese Weise können wir hier zu einem vernünf- und Fraktion wird sicher in den nächsten Monaten
tigen Resultat kommen. auf all den Gebieten, die gestern vom Herrn Bun-
deskanzler hier angeschnitten worden sind, ihre
Der dritte Schwerpunkt — die Reihenfolge sagt eigenen Vorstellungen und Vorschläge entwickeln.
hier nicht in jedem Fall etwas über die Rangord- Es gibt da einige Gebiete, bei denen uns eine Rege-
nung — scheint mir unsere Verteidigungspolitik zu lung und bestimmte Maßnahmen sehr dringlich er-
sein. In der heutigen Situation ist diese Frage ein- scheinen. Wir glauben, daß das, was der Herr Bun-
fach eines der elementarsten Stücke unserer staats- deskanzler gestern in bezug auf die Absichten der
politischen Arbeit und Entscheidung überhaupt. Wir Regierung angekündigt hat, noch nicht ausreicht, um
haben ja einen neuen Minister, und wir verstehen den dringendsten Erfordernissen Rechnung zu tra-
durchaus, daß Herr von Hassel Zeit braucht, um mit gen. Im Hintergrund steht hier die Frage, wie wir
dieser nicht sehr einfachen Lage fertig zu werden, die innere Ausgestaltung der Bundesrepublik in der
die er sicher in seinem Ministerium nach der Än- Richtung ihres Ausbaues zu einem sozialen Rechts-
derung vorgefunden hat. Aber wir haben auch eine staat weiterentwickeln können. Das ist nicht nur
neue Situation. Es sind wesentliche neue Elemente eine Fachfrage, das ist auch nicht nur eine Frage der
in die Diskussion und in die Aufgabenstellung der berechtigten, lebensnotwendigen Interessen der
Bundesrepublik gekommen. Einen sehr entscheiden- einen oder anderen Gruppe unserer Bevölkerung,
den Punkt hat der Herr Bundeskanzler gestern er- sondern in unserer Zeit, in der Lage, in der wir uns
wähnt. Er hat noch einmal — in Ergänzung einer befinden, ist dieses Kapitel der inneren Ausgestal-
früheren Auffassung von ihm — erklärt, daß die tung der Bundesrepublik, die Frage der sozialen
Bundesregierung der Durchführung der Verein- Sicherheit so zu sehen, daß soziale Sicherheit ein
barung zwischen dem amerikanischen Präsidenten gleichwertiger Bestandteil jeder Sicherheitspolitik
und dem britischen Premier in Nassau zustimmt sein muß.
und daß die Bundesregierung bereit ist, an der dort (Beifall bei der SPD.)
entwickelten Vorstellung mitzuarbeiten. Aber damit Das ist nicht nur eine Frage der militärischen Maß-
ist dieses Problem für uns noch nicht erledigt. nahmen, sondern in hohem Maße und vielleicht min-
Ich glaube, daß es über diese grundsätzliche Er- destens mit demselben Gewicht auch eine Frage der
klärung eine weitgehende Übereinstimmung gibt. inneren rechtlichen, freiheitlichen und sozialen Ord-
Was wir wissen müssen und was wir hier im Bun- nung in unserer Bundesrepublik überhaupt.
destag zu behandeln haben, ist die Frage: Was be- Das gilt auch für ein anderes Gebiet — auch das
deutet diese Entwicklung praktisch für unsere möchten wir hier nicht für die weiteren Unterhaltun-
eigene Verteidigungspolitik und für den Aufbau gen nur als eine Fachfrage sehen —, nämlich für die
unserer Verteidigung? Da gibt es sehr weitgehende Förderung von Forschung und Wissenschaft.
Konsequenzen, und es ist ein weites Gebiet, das in
anderen Parlamenten der NATO-Gemeinschaft (Beifall bei der SPD.)
schon sehr ausführliche Debatten zur Folge gehabt
Man hat hierfür ein neues Ministerium geschaffen.
hat. Wir haben darüber hinaus bisher nichts gehört
Aber das allein genügt doch nicht. Die Förderung
als die gestrige grundsätzliche Zustimmungserklä-
von Forschung und Wissenschaft ist heute genau
rung des Herrn Bundeskanzlers. Es ist klar, daß
Verteidigungsausgaben in diesem Etat und in den wie das ganze weite Gebiet der Erziehung eine
nächsten eine große Rolle spielen werden. Wir Forderung von allerhöchster staatspolitischer und
haben hier unsere Stellung zu beziehen. Aber Sie allgemeinpolitischer Bedeutung.
werden sicher zugeben müssen, daß irgendeine (Beifall bei der SPD.)
fruchtbare Diskussion über die Aufbringung der
Verteidigungslasten doch nur möglich ist, wenn wir Wenn wir hier weiter im Rückstand bleiben, sind
hier vorher eine Aussprache darüber haben können, wir auch im Rückstand — genauso wie wir es auf
was jetzt praktisch die Verteidigungspolitik der sozialem Gebiet sein würden — in der weltweiten
Regierung ist. Diese Forderung, diesen dringenden Auseinandersetzung zwischen den totalitären Kräf-
Wunsch, ich glaube, auch diese Notwendigkeit, möchte ten im Osten und den freiheitlichen Kräften im
ich hier im Zusammenhang mit der Darstellung eini- Westen.
2598 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Ollenhauer
Was wir hier haben möchten, ist eine klare Dar- die Bundesrepublik bereit sein muß, für die Erfül-
stellung der Bundesregierung darüber: Welche kon- lung dieser Aufgabe auch weiterhin erhebliche
kreten Maßnahmen sieht die Regierung auf diesem finanzielle Opfer auf sich zu nehmen.
Gebiet; wie soll nach ihrer Vorstellung die Vertei-
(Beifall bei der SPD.)
lung der Aufgaben, von denen ich in erster Linie
gesprochen habe, und denen, die hier zur Debatte Sie haben dabei — das möchte ich der Bundesregie-
stehen, in praktischer, sachlicher und finanzieller rung sagen — die Unterstützung der sozialdemo-
Hinsicht aussehen? Denn die Frage der Balance, der kratischen Opposition.
Auswägung unserer finanziellen und auch politi-
Ich möchte mit Zustimmung vermerken, daß der
schen Möglichkeiten zwischen diesen Sicherheits-
Herr Bundeskanzler gestern hier erklärt hat:
maßnahmen, die nötig sind, und dem, was wir an in-
nerem Ausbau gestalten wollen, ist von entschei- Die Bundesrepublik steht fest zum freien Teil
dender politischer Bedeutung für die Grundkonzep- Berlins, das untrennbar zum freien Deutschland
tion der Politik in der Bundesrepublik überhaupt. gehört.
Und da genügt nicht, das möchte ich noch einmal Auch diese Feststellung möchte ich unterstreichen,
sagen, eine Registrierung von Aufgaben und Ab- damit wir wissen, daß Berlin ein Teil von uns ist
sichten. Da muß das Gesicht eines Regierungspro- und nach unserem Willen ein Teil von uns bleiben
gramms und einer Regierungserklärung mehr Farbe soll und bleiben muß.
und mehr konkreten Inhalt bekommen, und es muß
durch konkrete Vorschläge auf den Gebieten er- Wir unterstützen die Verurteilung der Zonenpoli-
gänzt werden, die ich einfach einmal kurz skizziert tik, der Politik der Machthaber in der Sowjetzone,
habe, um deutlich zu machen, in welche Richtung und wir beklagen mit ihm die Verschärfung der
unsere Vorstellungen gehen und über welche Notlage unserer Landsleute in der Sowjetzone,
Punkte wir unter Umständen eine sachliche Aus- Menschen, die heute unter Bedingungen leben, von
einandersetzung haben wollen. Es ist unvermeidlich, denen wir manchmal wünschen müssen, daß sich
es ist notwendig, bei der Beratung von Einzelmaß- alle 50 Millionen Bundesbürger des harten mensch-
nahmen und Gesetzen gründlich und nachdrücklich lichen Schicksals völlig bewußt sind, dem diese un-
bestimmte Forderungen zu vertreten. Aber wenn sere Landsleute gerade in diesen Wochen und Mo-
eine Regierung sich hier am Beginn einer neuen naten ausgeliefert sind.
Arbeitsperiode dem Parlament vorstellt, dann müs- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
sen wir sehen, daß wir die Auseinandersetzung über der CDU/CSU.)
Sinn und Inhalt der Regierungspolitik auf der Basis
Die Unbilden und Schwierigkeiten, die wir hier
der Schwerpunkte führen können, von denen ich
angesichts der Kältewelle zu ertragen haben, sind
hier gesprochen habe. Meine Damen und Herren, ich
ein Kinderspiel gegenüber dem, was die Menschen
sehe noch nicht, daß nach dieser Regierungserklä-
in der Zone erleben und ertragen müssen. Da gibt
rung mehr an Konturen einer Regierungspolitik her-
es tatsächlich eine gemeinsame Aufgabe, die immer
auskommen wird, als wir in der Vergangenheit er-
bestanden hat und die wir hier nur noch einmal
fahren haben. Vom Standpunkt der Opposition: wir
unterstreichen können, nämlich dafür zu sorgen,
halten das noch eine ganze Weile aus!
daß das Bewußtsein der unlösbaren Zusammenge-
(Heiterkeit bei der SPD.) hörigkeit zwischen uns und den Menschen in der
Wir sind im Juni wieder in der „Halbzeit" dieser Zone und in Ostberlin hier in diesem Teil Deutsch-
jetzigen Legislaturperiode. lands gestärkt wird und daß wir aus diesem Be-
wußtsein auch die notwendigen Konsequenzen
Aber, meine Damen und Herren, denken Sie daran, ziehen, indem wir alles tun, was jeder einzelne
daß es hier in dieser Lage um entscheidende Allge- tun kann, um wenigstens etwas von der Not zu
meininteressen geht und daß wir es uns nicht leisten mildern, die in der Zone von unseren Landsleuten
können, daß diese Bundesrepublik später einmal ertragen werden muß.
feststellt: Auch dieses Jahr 1963 war ein verlorenes
Jahr. (Beifall bei der SPD.)
(Beifall bei der SPD.) Der Herr Bundeskanzler hat auf die Note der Bun-
Das ist das, meine Damen und Herren, was uns hier desregierung an die Sowjetregierung vom Februar
bewegt und was wir bei dieser Gelegenheit in aller 1962 hingewiesen, und er hat noch einmal seine
Offenheit auch zum Ausdruck bringen wollten. Erklärung vom Oktober 1962 in die Erinnerung ge-
rufen. In beiden Fällen ist der Versuch gemacht
Nun zu einer anderen Frage, einer wesentlichen
worden, mit der Sowjetunion in ein Gespräch zu
Frage, die, wenn man so will, zwischen Innen- und
kommen und vor allen Dingen auch Mittel und Wege
Außenpolitik steht, weil es sich um unsere Angele-
zu finden, die es möglich machen könnten, das
genheiten handelt, wenn wir von Berlin und wenn
menschliche Schicksal der Menschen hinter der
wir von Deutschland, vor allen Dingen von der
Mauer und hinter dem Stacheldraht zu erleichtern.
Situation in der Sowjetzone, sprechen.
Es ist richtig, daß die andere Seite darauf nicht
Meine Damen und Herren, wir unterstützen ohne reagiert hat. Aber das sollte uns nicht davon ab-
Vorbehalt die Feststellung des Herrn Bundeskanz- halten, auf diesem Weg nachdrücklich weiterzuboh-
lers, und wir freuen uns, daß er es in dieser Ein- ren, immer von neuem auf diese Dinge aufmerksam
deutigkeit gesagt hat, daß die Lebensfähigkeit und deutlich zu machen, daß es in der Frage der
Berlins erhalten und gestärkt werden muß und daß Verurteilung dieser Unmenschlichkeiten und in
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2599
Ollenhauer
unserem Bemühen, hier menschliche Erleichterungen gegenwärtigen europäischen internationalen Politik
zu schaffen, keine Ermüdung, kein Nachlassen und in keiner Weise gerecht.
keine Gewöhnung durch die Zeit geben kann und
(Beifall bei der SPD.)
geben wird.
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Ich möchte hier einiges dazu sagen, über unsere
in der Mitte.) Auffassung und, wie wir meinen, über die Notwen-
digkeiten, die sich für die deutsche Politik in diesem
Ich möchte meinen, meine Damen und Herren und Augenblick ergeben. Dabei will ich auch und muß
Herr Bundeskanzler, das ist nötig gegenüber dem ich einige Bemerkungen machen über die Bedeutung
Machthaber, der diese Zustände geschaffen und er- des deutsch-französischen Vertrages im Zusammen-
halten hat. hang mit den Vorgängen in Brüssel und mit unseren
Aber wir sollten auch nicht darauf verzichten, an anderen Verpflichtungen vertraglicher Art auf ande-
anderen Stellen im Westen, an denen die Möglich- ren Gebieten der westeuropäischen oder westlichen
keit besteht, zu wichtigen Institutionen oder Men- Politik.
schen zu reden, immer wieder die Frage der Ver- Damit dabei eines von vornherein außer Zweifel
stöße gegen die Menschenrechte in die Debatte zu steht, möchte ich vorweg bemerken: es kann keinen
bringen Zweifel geben über die Stellung der Sozialdemo-
(Beifall bei der SPD) kratie zu dem Ziel und zu der Aufgabe, ein auf-
richtiges, enges dauerndes Freundschaftsverhältnis
und das Bewußtsein, ich möchte sagen: die Kenntnis
zwischen dem französischen und dem deutschen
der Tatsachen mit großem Nachdruck in allen Teilen
der Welt und über alle uns zur Verfügung stehen- Volke herzustellen.
den Institutionen zu verbreiten und deutlich zu (Lebhafter allgemeiner Beifall.)
machen — das ist unsere starke Position —, daß der
Hier, möchte ich sagen, bedarf es von unserer Seite
Protest gegen die Unmenschlichkeit und die Forde-
rung nach der Sicherung der Menschenrechte nicht keiner langen Begründung und Motivierung. Die Ge-
nur auf dem leidvollen Schicksal der Deutschen, schichte der deutschen Sozialdemokratie auf dem
sondern auf den Grundsätzen der Charta der Ver- Gebiet ihrer internationalen Beziehungen hat ein
einten Nationen basieren. Kapital von besonderem Gewicht und besonderer
Eindringlichkeit: das sind die Bemühungen der deut-
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten schen Sozialdemokratie um eine deutsch-französische
in der Mitte.) Verständigung zurück bis weit in die Zeit vor dem
Wir haben über alle diese Möglichkeiten wiederholt ersten Weltkrieg.
im Ausschuß gesprochen. Es gibt da Hemmungen (Beifall bei der SPD.)
und Schwierigkeiten. Aber ich möchte nicht ver-
säumen, an dieser Stelle noch einmal an die Bundes- Wir freuen uns, dabei immer festgestellt zu haben
regierung zu appellieren, hier nichts zu unterlassen, — nicht nur durch Deklarationen —, daß wir in die-
sondern alles aktiv zu fördern, was möglich ist, um ser Frage, in dem Bemühen um dieses Ziel auch einig
diese Fragen in das Interessenfeld der weiten Welt waren mit unseren französischen Freunden, den
zu stellen und unter Umständen auch Möglichkeiten französischen Sozialisten in der SFIO, und ich darf
zu schaffen, um durch internationale Einwirkung in vielleicht — nicht um hier damit besonderen Ein-
der Frage der Sicherung und Wiederherstellung der druck zu machen — nur an die Tatsache erinnern,
Menschenrechte doch einen Erfolg zu erzielen. daß z. B. auf dem Friedenskongreß in Basel 1913 die
beiden Hauptsprecher der damalige Vorsitzende
Das alles ist im Hinblick auf das große Ziel sehr unserer Partei August Bebel und der Führer der
wenig und nicht befriedigend. Aber, meine Damen französischen Sozialisten Jean Jaurès waren und
und Herren, für die Betroffenen kann jeder Schritt daß die Tatsache des Bekenntnisses dieser beiden
in dieser Richtung eine bedeutsame Erleichterung Männer der Höhepunkt dieser Manifestation ge-
des persönlichen Schicksals sein, und es kann ihnen wesen ist. Wir sind dieser Tradition treu geblieben
vor allen Dingen durch unser Verhalten die Über- durch all die Jahre. Ich kann das nicht nur für uns
zeugung gegeben werden, daß wir hier tatsächlich sagen. Ich muß auch daran erinnern, daß z. B. die
nichts unversucht lassen, um für sie und ihre un- französischen Sozialisten, die sich nach dem Hitler-
mittelbaren menschlichen Interessen zu sprechen. krieg in ihrem Land in keiner einfachen Situation
Das ist unsere Pflicht und das ist unsere Aufgabe, befanden, damals die ersten waren, die sich öffent-
die wir nie außer acht lassen dürfen. lich und sichtbar gegen die Aufteilung Deutschlands
(Beifall bei der SPD.) nach dem Kriege gewandt
Meine Damen und Herren! Im Zusammenhang mit (Beifall bei der SPD)
der internationalen Politik hat es in der gestrigen
und die Meinung vertreten haben: Wir können in
Erklärung des Herrn Bundeskanzlers beachtenswert
Europa nur zu einem Frieden kommen mit einem
kurze Hinweise gegeben auf den deutsch-französi-
Deutschland, das nicht widernatürlich gespalten ist;
schen Vertrag und auf den Abbruch der Verhand-
wir können nur zu einem Frieden kommen in einem
lungen in Brüssel über die Aufnahme Großbritan-
Europa, in dem das französische und das deutsche
niens in die EWG. Ich finde, die Bemerkungen des
Volk in aufrichtiger Freundschaft zusammenleben.
Bundeskanzlers, die wir gestern hier gehört haben,
werden der Bedeutung dieses Komplexes unserer (Erneuter Beifall bei der SPD.)
2600 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Ollenhauer
Ich wollte das hier gesagt haben; denn ich möchte worden, ehe man mit großer Geduld und sehr vie
nicht, daß das, was ich später an kritischen Bemer- len Schwierigkeiten und Krisen zu dem Resultat der
kungen über die möglichen Auswirkungen des Ver- Römischen Verträge gekommen ist.
trages im Hinblick auf die europäische und inter- (Beifall bei der SPD.)
nationale Situation auszuführen habe, etwa als eine
Abschwächung oder als eine Gegenposition gegen- Aber hier war sogar trotz der schwierigeren
über den von uns allen hier so nachdrücklich und Frage, als Siebenter in eine bereits bestehende Ge-
eindeutig bejahten Fortschritten — wesentlichen meinschaft der Sechs zu kommen, die sachliche Lö-
Fortschritten — in der Frage der dauernden deutsch- sung in Sicht.
französischen Zusammenarbeit angesehen wird. (Sehr gut! bei der SPD.)
Der Vertrag und der Abschluß sind in einen sach- Eine weitgehende Übereinstimmung war erzielt
lichen und in einen zeitlichen Zusammenhang ge- worden. Es war ein Rest von Fragen geblieben, von
stellt worden, bei dem wir nicht umhin können, die denen alle Beteiligten erklärten und wußten, daß
Auswirkungen dieser Tatsache heute mit allem sie in absehbarer Zeit überwindbar und lösbar ge-
Ernst, jedenfalls in einer ersten Betrachtung, zu un- wesen wären.
tersuchen. Wir haben heute nicht die erste Lesung (Zustimmung bei der SPD.)
dieses Vertrages, wir werden sie später haben; aber
Ich sage das hier nicht als eine Interpretation der
man kann an diesem Tage nicht über die europäische
Lage vor Abbruch der Verhandlungen. Lesen Sie
Krise und über die möglichen Konsequenzen reden, alles, was inzwischen über den Stand der Verhand-
ohne auch die Tatsache dieses Vertragsabschlusses lungen berichtet worden ist! Sehen Sie sich die
mit in Betracht zu ziehen. Erklärung z. B. eines Mannes wie Monnet an, der
Der Bundeskanzler hat gestern auf der einen ausdrücklich darauf hinweist, daß für Großbritan-
Seite die positive Bedeutung des Vertrages unter- nien die Anerkennung der Verträge von Rom nicht
strichen und auf der anderen Seite die Auffassung mehr zur Debatte stand! Lesen Sie den unerhört
vertreten, daß man zwar in Brüssel einen schweren interessanten Bericht eines Mannes wie des Vize-
Rückschlag erlitten habe, daß aber diese Krise heil- präsidenten Mansholt, der in dem schwierigsten Ge-
bar sei. Das letzte hoffen auch wir. Aber es geht hier biet zu verhandeln hatte, von dem wir wissen, daß
nicht nur um eine lokale oder partielle Angelegen- er die größten Bedenken hatte, ob es möglich sei,
heit, wenn die Verhandlungen in Brüssel über die in den agrarpolitischen Fragen zu Rande zu kom-
Aufnahme von Großbritannien unterbrochen und men. In der öffentlichen Erklärung von Mansholt
praktisch zunächst gescheitert sind, es geht um mehr: nach dem Scheitern wird klar, daß der Mann unter
es geht durch diesen Vorgang tatsächlich um die dem Eindruck stand: Wir kommen über den Berg,
Frage der weiteren Existenz, der weiteren Entwick- die sachliche Lösung ist zu erreichen, ohne daß die
lungsmöglichkeit der Europäischen Gemeinschaft, Grundlagen des Vertrages verletzt werden.
der europäischen Zusammenarbeit, und ich füge hin-
zu: auch der atlantischen Gemeinschaft des freien (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Schmid.)
Europas mit den Vereinigten Staaten.
(Beifall bei der SPD.) Der Bericht des Präsidenten der Kommission, Pro-
fessor Hallsteins, ist in dieser Frage von einer sol-
Ich habe nicht die Absicht, hier irgend etwas zu chen Eindeutigkeit, daß man ihm nichts hinzuzufügen
deklarieren, was vielleicht einen gewissen drama- braucht. Es ist keine Frage: von der Sache her gab
tischen Effekt für die Stunde haben könnte. Was es keine Notwendigkeit und keinen Anlaß, die Ver-
uns in diesem Punkt bewegt, sind die Sorgen, die handlungen jetzt etwa scheitern zu lassen.
in der Sache selbst liegen. Es ist doch so: Die Ver-
handlungen in Brüssel mit Großbritannien sind nicht Wie ich gelesen habe, hat das Europäische Parla-
in der Sache gescheitert — darin liegt das Beson- ment gestern bei Stimmenthaltung der französischen
dere dieses Zusammenbruchs —, sondern durch Ein- Gaullisten, im übrigen aber einstimmig beschlossen,
wirkungen politischer Art, durch Einwirkungen von die Europäische Kommission aufzufordern, in drei
außen, durch den Einspruch eines Mitglieds der Wochen einen Bericht über den Stand der Verhand-
Sechs und — ich will es noch klarer sagen — durch lungen vorzulegen, der in der März-Sitzung des
den Einspruch eines Mannes. Europäischen Parlaments beraten werden soll.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dieser
(Beifall bei der SPD.)
Bericht wird die Feststellung bestätigen.
Die Verhandlungen über die Aufnahme Großbritan-
Das macht die Sache in ihrer Bedeutung so außer-
niens hatten große Fortschritte gemacht. Großbritan-
ordentlich, ich möchte sagen, gefährlich. Das Veto
nien hat im Zusammenhang mit seinem Aufnahme-
eines Mannes ist eine geradezu politische Entschei-
antrag die Römischen Verträge anerkannt. Es hat
dung außerhalb der in der Sache selbst gelegenen
sich mit der Prozedur, die in diesen Verträgen fest-
Fragen. Wir werden uns mit diesem Punkt noch zu
gelegt ist, einverstanden erklärt. Das war der Aus-
gangspunkt der Verhandlungen. Dieser Punkt hat beschäftigen haben. Ich bitte Sie, meine Damen und
nicht zur Debatte gestanden. Es hat sachliche Mei- Herren, sich das auch zu überlegen.
nungsverschiedenheiten gegeben. Aber, meine Da- Man hört jetzt z. B. von der anderen Seite, daß
men und Herren, auch als sich die Sechs zusammen- - man sich bei den Verhandlungen mit England immer
gefunden haben, hat es sachliche Meinungsverschie- mehr von den Römischen Verträgen entfernt hat.
denheiten gegeben, und da ist lange verhandelt Dazu möchte ich einmal die Frage aufwerfen: ist das
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2601
Ollenhauer
Veto von Herrn de Gaulle mit den Verträgen von Verdienst in der Frage der deutsch-französischen
Rom überhaupt vereinbar, Verständigung hat; er hat es verdient, in diesem
(Sehr wahr! bei der SPD) Zusammenhang erwähnt zu werden. Aber dieser
Hinweis auf Robert Schuman wirft doch eine andere
in denen festgelegt ist, daß die Gemeinschaft allen Frage auf. Robert Schuman ist 'der Schöpfer des
offensteht, die die Verträge anerkennen?! Das lag Schuman-Vertrages, d. h. des Vertrages über die
hier vor. Wie wollen denn, meine Damen und Montanunion. Dieser Vertrag trägt in weit höherem
Herren, Frankreich und sein Präsident diesen Ein- Maße als alle anderen europäischen Verträge ein-
griff rechtfertigen und mit diesen Erklärungen und schließlich EWG einen supranationalen Charakter.
den Festlegungen des Vertrags in Übereinstim- Er ist der Idee eingeordnet, eine europäische Ge-
mung bringen? Die Pressekonferenz des Herrn de meinschaft zu entwickeln, bei der sowohl nach Ziel-
Gaulle fand am gleichen Tage statt, an dem Herr setzung wie nach der Praxis des Vertrages immer
Mansholt seinen Bericht in Brüssel vorlegte, und
mehr nationale Interessen durch gemeinsame Inter-
wer mit Teilnehmern dieser dramatischen Sitzung
essen abgelöst werden, durch ein gemeinsames
gesprochen hat, weiß, was sich da abgespielt hat:
Handeln und sogar im Falle der Montanunion durch
wie sich sozusagen auf der einen Seite aus dem
eine praktische gemeinsame Politik auf wichtigen
Bericht die Hoffnung ergab, daß man bald zu einer
Gebieten, z. B. der Energie. Alles das, was noch an
positiven Lösung komme, und zwischendurch, ab-
nationalen Eigenwilligkeiten und Interessen da
satzweise, diese brutale Absage des französischen
Staatspräsidenten erfolgte. war, wurde abgebaut.

Ich habe hier auch eine Frage, die uns angeht. Die heutige Konsultationsverabredung z. B. im
Zweifellos war diese Erklärung des Herrn Staats- deutsch-französischen Vertrag für zwei der Partner
präsidenten de Gaulle eine Erklärung von weittra- in der Gemeinschaft der Sechs ist im Grunde das
gender Bedeutung für die europäische innere Orga- glatte Gegenteil der Idee, die Robert Schuman in
nisation überhaupt. Nun ist sicher richtig, daß die diesem Zusammenhang hinsichtlich einer euro-
Pressekonferenz des Herrn de Gaulle vor der for- päischen Zusammenarbeit vertreten hat.
mellen Unterzeichnung des deutsch-französischen (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
Vertrages mit der Konsultationsverabredung erfolgt
Ich glaube, das muß hier unzweideutig klargemacht
ist. Aber, meine Damen und Herren, immerhin: am
14. Januar war der Vertrag sicher bereits im vollen werden.
Wortlaut bekannt und ausgehandelt, wenn er auch
erst am 22. Januar aus Anlaß der Anwesenheit des Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine
Bundeskanzlers in Paris unterschrieben wurde, und Zwischenfrage?
es wäre für uns wichtig, zu wissen, ob, nachdem
in diesem Vertrag die Konsultationsverabredungen Ollenhauer (SPD) : Bitte!
eine so entscheidende Rolle spielten, Herr Staats-
präsident de Gaulle den Herrn Bundeskanzler vor
seiner Pressekonferenz über seine Absicht, in dieser Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) : Herr Kol-
Weise die Ablehnung der Aufnahme Großbritanniens lege Ollenhauer, Sie haben soeben gesagt, daß die
öffentlich anzukündigen, konsultiert hat. Vereinbarung über eine zweiseitige Konsultation
zwischen Deutschland und Frankreich das glatte
(Beifall bei der SPD.) Gegenteil der Sechser-Idee Schumans sei. Ist
Hier ist eine Frage, auf die wir gern eine klare Ihnen bewußt — und das ist meine Frage —, daß
und offene Antwort haben möchten, und es ist kein der Präsident de Gaulle in seiner Pressekonferenz
Zweifel darüber — wenn wir diesen deutschfran- wörtlich gesagt hat, daß dieser Vertrag ein Beispiel
zösischen Vertrag im einzelnen prüfen —, daß dieser geben solle, das nützlich für die Zusammenarbeit
Teil über Konsultationsverabredungen ein wesent- aller sein könne?
licher Bestandteil ist und daß in diesem Vertrag
auch davon gesprochen wird, daß eine solche Kon-
sultation vor wichtigen Entscheidungen bestehender
Ollenhauer (SPD) : Ja, Herr von Guttenberg, das
europäischer Gemeinschaften eintreten soll. Das be- ist richtig. Aber hier haben wir es mit dem Vertrag
zieht sich also auf alle europäischen Gemeinschaften, zu tun. In dem Vertrag ist die Frage der Konsul-
die wir haben, einschließlich der NATO. tation der Zwei, die Mitglieder der Gemeinschaft
sind, ein wesentlicher Bestandteil mit praktischen
Da ist nun die Frage: was ist eigentlich der Sinn Konsequenzen, die man nicht durch Erklärungen all-
der Europapolitik, von der — wie der Herr Bundes- gemeiner Art aus der Welt schaffen kann.
kanzler gesagt hat — in der dem Pariser Vertrag
beigefügten Erklärung die Rede ist? Basiert diese (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
Vorstellung über die europäische Zusammenarbeit Bitte, wir wünschen, diese Frage in aller Sach-
wirklich auf Zusammenarbeit und Integration, und lichkeit und in allem Ernst zu diskutieren. Aber es
ist es wirklich das Ziel beider Partner, gemeinsame ist die entscheidende Frage, wo wir in unserer
europäische Interessen über nationale Interessen Europapolitik stehen und welche Linie wir in Zu-
oder Interessen von Gruppen, von Nationen inner- kunft verfolgen wollen. Wir sind der Meinung, es
halb der Gemeinschaft zu stellen? soll eine Europapolitik mit all ihren praktischen
Herr Bundeskanzler, Sie haben geistern mit Recht Konsequenzen sein im Sinne der Idee z. B. von
an Robert Schuman erinnert, der sicher ein großes Robert Schuman und manchem anderen Franzosen,
2602 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Ollenhauer
der in dieser Frage auf unserer Seite steht, ohne mal, über jeden Zweifel erhaben, vor allem gegen-
daß er die Möglichkeit hat, heute einen praktischen über unseren Freunden im Westen Klarheit ge-
Einfluß auf die französische Politik auszuüben. schaffen werden.
(Erneuter Beifall bei der SPD.) (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
Ein Mann wie der Staatssekretär Müller-Armack,
Meine Damen und Herren, da liegt unsere beson-
der so aktiven Anteil an all den Verhandlungen im
dere Verantwortung auch gegenüber den Europäern
Sinne einer Erweiterung der Europäischen Gemein-
in diesem Sinne in anderen Ländern. schaft genommen hat, hat erklärt, er stimme mit
Folgende Konsequenz möchten wir daraus ziehen: seinem Minister überein, aber er könne die Verant-
Wir werden untersuchen — nicht heute, aber mor- wortung für die Europapolitik nicht mehr tragen, er
gen und übermorgen im Zusammenhang mit der wolle zurücktreten.
Beratung des Vertrages —, inwieweit der Vertrag (Hört! Hört! und Zurufe von der SPD.)
durch seinen Inhalt und die Konsequenzen seiner
Bestimmungen andere internationale oder euro- Meine Damen und Herren, was geht denn hier vor?
päische Verträge, die wir abgeschlossen haben, (Sehr gut! bei der SPD.)
schwächt oder beeinträchtigt. Das gilt für die Euro- Man kann doch in einer Regierungserklärung nicht
päische Wirtschaftsgemeinschaft, das gilt für den so tun, als wenn alles in bester Ordnung wäre,
Montanvertrag und das gilt auch für NATO, meine während die ganze Welt darauf wartet: Was sagt
Damen und Herren. Wir wünschen nicht Gefahr zu das Parlament und was sagt die Regierung, um die
laufen, daß durch die Bestimmungen dieses Ver- Zweifel und Unsicherheit auszuräumen?
trags eine solche Abschwächung und eine solche
Beeinträchtigung oder sogar allmähliche Auflösung (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Abg.
erfolgt. Wir sind der Meinung, daß die Bundesregie- Dr. Mommer: Und was sagt der Minister
rung hinsichtlich der weiteren Entwicklung jede des Staatssekretärs!?)
denkbare Anstrengung machen sollte, um die Frage Meine Damen und Herren, ich glaube, Sie werden
der Mitgliedschaft Großbritanniens und im Zusam- verstehen, hier geht es nicht um eine Drängelei der
menhang damit auch noch der anderen Länder, die Opposition. Es geht darum, daß in dieser Lage, die
um ihre Aufnahme nachgesucht haben und für die, durch das unglückliche Zusammentreffen der Unter
wie z. B. im Falle Dänemark, die Mitgliedschaft in zeichnung des Vertrages mit dem Zusammenbruch
der EWG von lebensentscheidender Bedeutung ist, der Verhandlungen entstanden ist, alle Zweifel über
einer Lösung zuzuführen. Wir sollten auch daran die Entschlossenheit der Bundesrepublik in der Rich-
denken, daß es, wenn wir unsere Bemühungen um tung einer weiteren aktiven Förderung der EWG
die Mitgliedschaft Großbritanniens fortsetzen, dann und ihrer Ausdehnung um die Mitgliedschaft Groß-
ebenfalls um die Mitgliedschaft von Dänemark, Nor- britanniens ausgeräumt werden, und zwar durch
wegen und anderen Ländern geht, die um die volle Erklärungen der Bundesregierung, die jedermann
Mitgliedschaft nachgesucht haben. Ich gebe zu, daß als unbestreitbar akzeptfern muß. Daran fehlt es
unsere Minister bei den Beratungen in Brüssel im bis heute.
letzten Stadium große Anstrengungen gemacht ha- (Beifall bei der SPD.)
ben, um den Zusammenbruch der Verhandlungen zu Diese Frage können nur Sie lösen, meine Damen
vermeiden. Wir haben ja auch nach den Ereignissen und Herren, Sie in der Regierung und Sie in der
in Brüssel die Erklärung des Bundeskabinetts ge- Koalition! Aber Sie müssen sie lösen, und zwar
lesen und gehört — der Bundeskanzler hat sie ohne Verzögerung.
gestern ebenfalls in seiner Rede erwähnt —, daß die
Warum sage ich das? Ich sage es — und das
Regierung ihre Bemühungen um die Aufnahme
möchte ich noch hinzufügen —, weil wir in Sorge
Großbritanniens fortsetzen will.
um die weitere Entwicklung nicht nur in Europa,
Aber, meine Damen und Herren, sprechen wir sondern in der freien Welt sind. Wenn wir die Frage
offen. Leider ist es eine Tatsache, daß bei unseren der EWG und das Verhältnis unseres Vertrags zur
Freunden in Westeuropa immer noch in Frage steht, EWG in Zusammenhang mit der Konsultationsver-
ob die deutsche Bundesregierung in dieser Forde- abredung nicht bald lösen, so wird es unvermeidlich
rung und in ihrem praktischen Wirken für die Auf- sein, daß die Existenz einer solchen Verabredung
nahme Großbritanniens tatsächlich bis zum letzten eine auflösende, zersetzende Wirkung auf die EWG
entschlossen ist. Ich will hier gar nicht die Ursachen hat.
untersuchen. Da gibt es alle möglichen Versionen, (Zuruf von der SPD: Sehr wahr! — Abg.
die Sie alle kennen. Was uns aber beunruhigt, ist, Dr. Schäfer: Leider!)
daß es auch nach der Regierungserklärung des Ka- Das ist unvermeidlich, das liegt in der Natur der
binetts in dieser Frage ebenso gegensätzliche und Sache.
unterschiedliche Äußerungen gibt wie die des Herrn
Das zweite! Wir müssen ernsthafte Anstrengun-
Bundeskanzlers und die des Herrn Bundeswirt-
gen machen, um die Frage Großbritannien positiv
schaftsministers.
zu lösen. Ich weiß, es gibt kein Rezept, zu sagen:
(Beifall bei der SPD.) Wir fangen morgen so an. Das ist die Schwierigkeit.
Meine Damen und Herren, wo stehen wir hier - Ich bin durchaus einverstanden, wenn gesagt wird:
eigentlich? Was ist die Haltung der Regierung? Was Wir wollen jedenfalls alle vorhandenen Ebenen be-
ist die Haltung der Koalition? Hier muß doch ein- nutzen, um über diese Frage im Gespräch zu blei-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2603
Ollenhauer
ben, z. B. WEU oder andere Möglichkeiten in Zu- Nun ist die Frage offen: ja, glauben wir denn,
sammenhang mit dem, was das Europäische Parla- daß das alles nun einfach so weitergeht, daß man
ment jetzt erwogen hat. Einverstanden! Aber, meine sich nun einfach damit abfindet: Es geht eben nicht?
Damen und Herren, das muß von uns — und von Ist das unser Interesse? — Es kann nicht unser
uns in erster Linie! — aktiv und mit vollem Herzen Interesse sein!
betrieben werden. Darum geht es. Ich will hier gar nicht irgend etwas verabsolu-
(Abg. Dr. Mommer: Das ist die Frage beim tieren. Aber es kann doch unter ernsthaften Men-
Kanzler: Was ist mit dem vollen Herzen!) schen in diesem Lande in dieser Lage keine Mei-
nungsverschiedenheit geben: unsere Beziehungen
Und warum? Nicht nur, weil wir um diese Erwei- mit den Vereinigten Staaten, auf welchem Gebiet
terung der Europäischen Gemeinschaft durch Groß- immer, müssen so eng und so eindeutig wie nur
britannien und die skandinavischen Länder nicht möglich gestaltet werden,
herumkommen! Wir brauchen sie, um die Gemein-
schaft wirklich weiterzuentwickeln. (Beifall bei der SPD, in der Mitte und
rechts)
Lassen wir es beim jetzigen Stande, so kommt weil unsere Lebensmöglichkeit und die Existenz
auch die Frage unserer Partnerschaft mit den Ver- von Berlin davon abhängen
einigten Staaten ins Spiel. Ich möchte jetzt einmal
nicht über das Militärische sprechen; das werden (Beifall bei der SPD)
wir in anderem Zusammenhang tun müssen, und und auch die Chancen für eine allmähliche Fortent-
dann werden wir sicher eine ganze Reihe von wich- wicklung unserer Position in der Frage der Aner-
tigen Fragen zu behandeln haben. Ich möchte über kennung.
etwas anderes sprechen, nämlich über die Tatsache,
die nicht diskutabel sein sollte, daß in Zukunft die Das ist unsere Sorge, und deshalb in diesem Zu-
militärische Zusammenarbeit mit den Vereinigten sammenhang hier unser dringender Appell an Sie,
Staaten, die für uns unabdingbar sein sollte, für an die Regierung und an die Koalition: Lassen Sie
die wirtschaftliche und die politische Zusammen- es nicht bei dem Eindruck, den gestern leider die
arbeit von entscheidender Bedeutung sein wird. Wir Erklärung des Herrn Bundeskanzlers erwecken
haben im Juli vorigen Jahres eine Botschaft des mußte! Er hat in seiner Aufzählung so etwa gesagt:
amerikanischen Präsidenten Kennedy an Europa Ja, darüber spricht man auch, aber das sind eigent-
über eine Partnerschaft auf wirtschaftlichem Gebiet lich keine aufregenden Dinge. — Es sind auf-
zwischen Europa und den Vereinigten Staaten be- regende Dinge, es ist eine Krise, und wir brauchen
kommen. Der amerikanische Präsident hat nach die- eine große Anstrengung von unserer Seite.
ser Botschaft in seinem eigenen Kongreß unter Sehen Sie, da hat der Herr Bundeskanzler gestern
großen Schwierigkeiten einen weittragenden und mit Recht auf die Position der Vereinigten Staaten
tiefgreifenden Beschluß in bezug auf die künftige vor allen Dingen nach ihrer Haltung im Falle Kuba
Handelspolitik gegenüber Europa durchgesetzt. Er hingewiesen. Er hat mit Recht gesagt, daß wir dieser
hat in seinem eigenen Lande die Konsequenzen festen Haltung für die Stärkung der Position des
gezogen unter Überwindung erheblicher Schwierig- Westens viel verdanken. Einverstanden! Aber ich
keiten, weil das ja ein Schritt gegen viele traditio- meine, die Anerkennung dieser Leistung der Ver-
nelle Vorstellungen und Einrichtungen in der bis- einigten Staaten auch für die Festigung der west-
herigen amerikanischen Außenwirtschaftspolitik lichen Position allein genügt doch nicht. Die Aner-
war. kennung verpflichtet uns, unseren Beitrag dafür
Meine Damen und Herren, diese Zusammenarbeit, zu leisten, daß diese Zusammenarbeit des freien
die sich nicht nur auf die wirtschaftliche Zusammen- Westens noch stärker und effektiver wird und daß
arbeit beschränken, sondern die eine Zusammen- sie jetzt nicht durch innere Auseinandersetzungen
arbeit der freien Welt, Europas und der Vereinigten in Europa unter Vorstellungen nationalpolitischer
Staaten, auf dem Gebiete der Entwicklungshilfe ein- Art aus dem 19. Jahrhundert zurückgeworfen und
beziehen sollte, hat eine überragende politische Be- zerstört wird.
deutung nicht nur für die europäischen Länder, (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
sondern auch für die Notwendigkeit eines solchen
Zusammenwirkens der beiden — wenn Sie wol- Die Gefahr der Auseinandersetzung zwischen den
len — Ländergruppen in der Entwicklungspolitik. beiden großen Kräften in der Welt ist noch nicht
gebannt. Vielleicht richtig: wir sind etwas beruhig-
Das Bedauerliche ist, daß es seit Juli vorigen ter. Vielleicht ist die Gefahr eines schrecklichen
Jahres zwar sehr viele Sympathieerklärungen, aber Zusammenstoßes geringer. Aber, meine Damen und
keine einzige positive Maßnahme irgendeiner euro- Herren, das darf uns nicht dazu führen, daß wir, wie
päischen Regierung gegeben hat, um diese Initia- z. B. im Falle des Scheiterns der Verhandlungen in
tive von Kennedy wirklich aufzugreifen. Brüssel, Herrn Chruschtschow einen Erfolg gratis
ins Haus liefern.
(Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner:
Leider wahr!) (Beifall bei der SPD.)
Das ist doch eine Stärkung seiner Position.
— Das ist leider wahr. Und, meine Damen und
Herren, jetzt kommt noch hinzu, daß Kennedy ge- Darum meine ich — und deswegen habe ich Sie
sagt hat: Wir meinen Europa, europäische Gemein- bemüht, diesen Ausführungen zu folgen —: Lassen
schaft einschließlich Großbritannien. Sie uns diesen ganzen Komplex EWG, Erweiterung
2604 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Ollenhauer
durch Großbritannien und Verhältnis des deutsch- in positivem Sinne, daß jeder Zweifel ausgeräumt
französischen Vertrages zu unseren anderen euro- ist.
päischen und sonstigen vertraglichen Verpflichtun- Sie haben jetzt das Wort, und ich hoffe, wir ha-
gen mit aller Gründlichkeit und allem Ernst unter- ben nicht nur Ihre Worte, sondern auch Ihre Taten.
suchen. Es darf nicht so sein, daß wir später etwa
den Kommentar erhalten: Da haben die Deutschen in (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
dieser Zeit einen so gut gemeinten und richtigen
Vertrag über deutsch-französische Verständigung Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
unterzeichnet, und sie haben gar nicht gewußt, daß Abgeordnete von Brentano.
im Grunde in diesem Vertrag eine entscheidende
Wende ihrer und der westlichen Politik überhaupt Dr. von Brentano (CDU/CSU) : Herr Präsident!
begründet lag. Meine Damen, meine Herren! Ich habe die Absicht,
(Zustimmung bei der SPD.) in erster Linie zu dem außenpolitischen Teil der Re-
In diese Lage dürfen wir und möchten wir nicht gierungserklärung zu sprechen, aber ich möchte doch
kommen, mit wenigen Worten auf die Eingangsausführungen
(Beifall bei der SPD) unseres Kollegen Ollenhauer eingehen. Er hat — ich
weiß nicht, ob es sehr glücklich war, Herr Kollege
und deswegen diese Bemerkungen. Ollenhauer — in den ersten Satz seiner Ausführun-
Lassen Sie uns alle die Dinge untersuchen. Es gen die sogenannte Spiegel-Affäre gestellt. Ich weiß
gibt verschiedene Möglichkeiten, Gefahren oder nicht, ob das der Bewertung gerecht wird. Aber ich
Mißdeutungen auszuschließen. Man kann z. B. dar- möchte ein anderes dazu sagen: Warum sprechen
über reden. Manches — ich will das hier nur als ein wir hier eigentlich von „Spiegel-Affäre"? Warum
Beispiel nennen — wäre leichter in dieser Lage, sprechen wir nicht
wenn die beiden Regierungen — die beiden Regie- (Zuruf von der SPD: — von Strauß?!)
rungen — verbindlich erklärten, als Teil dieses Ver-
trages, daß der Vertrag im Zusammenhang mit allen von dem ganzen Komplex, der mit der Einleitung
anderen vertraglichen Verpflichtungen gesehen wer- eines Verfahrens gegen den Redakteur Augstein
den muß, die die beiden Länder eingegangen sind, wegen Verdachts des Landesverrats zusammen-
einschließlich EWG und NATO und anderer Ver- hängt?
träge, und daß sie in ihrem Wert und ihrer Praxis (Beifall in der Mitte. — Zurufe von der SPD.)
nicht beeinträchtigt werden dürfen, sondern gestärkt
Ich glaube, damit gewinnt die Sache einen anderen
werden müssen, damit hier jeder Zweifel ausge-
Aspekt.
räumt wird. Das mag ein Weg sein; denn einseitige
(Erneute Zurufe von der SPD.)
Erklärungen dieses Bundestages oder einseitige Er-
klärungen dieser Regierung reichen nicht aus. Es Sie haben gesagt, Herr Kollege Ollenhauer, Sie
kann sich nur um verbindliche Erklärungen der erwarteten von der Bundesregierung Garantien da-
beiden Partner handeln. für, daß sich die Begleiterscheinungen — die auch
wir zum Teil, ich sage das in aller Offenheit, be-
Wie gesagt, ich möchte die Möglichkeiten, die es
klagen — nicht wiederholen. Dann möchte ich doch
dort gibt, nicht im einzelnen aufzählen, aber ich
vorschlagen — und ich glaube, Sie werden mich
bitte, eines zu erwägen. Wir sollten uns angesichts
verstehen —, daß sich an diesen Garantien auch die
der Wirkung und der psychologischen Situation und
Fraktionen dieses Hauses beteiligen,
auch aus der Sache selbst ernsthaft überlegen, ob
die deutsche Bundesregierung nicht Großbritannien (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
und allen ihren anderen europäischen Partnern im neten der FDP)
Westen einen gleichen Freundschaftsvertrag an- um dadurch nämlich auch wirksame Garantien dafür
bietet, zu bekommen, daß keine Geheimdokumente in
(Beifall bei der SPD) falsche Hände gelangen.
um deutlich zu machen, daß wir diese Art von Be- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
ziehungen mit allen unseren Freunden auf euro- rufe von der SPD: Die haben Sie doch! —
päischem Boden haben möchten und bereit sind, sie Sind schon wieder welche weg? — Abg. Dr.
aufzunehmen. Mommer: Noch mehr als 152? — Weitere
Ich komme zum Schluß. Ich glaube, wir werden Zurufe und Heiterkeit bei der SPD.)
über diesen Komplex noch zu reden haben, vor al- — Ich nehme doch bestimmt an, daß Sie in Ihrer
lem im Zusammenhang mit dem Vertrag selbst. Aber Fraktion auch wissen, was ich meine, wenn ich
ich bitte Sie noch einmal: Denken Sie daran, daß wir diese Feststellung treffe,
die jetzige Krise in Brüssel nicht ansehen dürfen als
ein lokales, zeitlich gebundenes Ereignis, wie man- (Beifall bei der CDU/CSU)
che anderen Fehlschläge auch, sondern daß hier die und Sie sollten keinen Anlaß haben, das in irgend-
Frage der Existenz der Gemeinschaft und die Frage einer Weise zu bagatellisieren.
ihrer Weiterentwicklung auf dem Spiel steht und
daß es von entscheidender Bedeutung ist, daß die (Erneuter Beifall bei' der CDU/CSU und Zu
Position der Bundesrepublik durch Erklärungen ihrer- rufe von der SPD.)
Regierung und ihrer Mehrheit vor aller Welt, vor Dann hat Herr Kollege Ollenhauer den innen-
allem vor unseren Freunden, so klargemacht wird politischen Teil der Regierungserklärung beanstan-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2605
Dr. von Brentano
det. Er sagte, eine Zusammenstellung solcher Ziele will, die nicht nur das ganze deutsche Volk bewe-
und Aufgaben sei noch keine Politik. Nun, ich glaube, gen, sondern die in ihren Auswirkungen die ge-
auch die Zusammenstellung unerfüllbarer Forderun- samte Welt beunruhigen müssen.
gen ist keine Politik, Herr Kollege Ollenhauer. Das Memorandum der Bundesregierung vom
(Sehr gut! in der Mitte.) 21. Februar 1962 fand keine Antwort. In seinem
Sie haben darüber hinaus, Herr Kollege Ollen- Schreiben vom 28. August hat der Bundeskanzler
hauer, den Stil kritisiert und gesagt, die Regierungs- an den Ministerpräsidenten der Sowjetunion appel-
liert, dazu beizutragen, daß den vielgeprüften Men-
erklärung sei ziemlich langweilig gewesen. Unter
schen in Berlin in Zukunft neues Leid erspart werde.
uns gesagt: weite Teile Ihrer Antwort waren nicht
Die Antwort des sowjetischen Regierungschefs vom
sehr kurzweilig.
24. Dezember war schlechthin zynisch. Den jungen
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) Peter Fechter, den sowjetzonale Rotarmisten an der
Lassen Sie mich nun aber, meine Damen und Her- Mauer verbluten ließen, bezeichnet er als Opfer ei-
ren, auf den außenpolitischen Teil der Regierungs- nes Verbrechens, in das der junge Deutsche — ich
erklärung eingehen. Ich glaube, der Herr Bundes- zitiere — „von halbfaschistischen Hetzern aus der
kanzler hat gestern mit Recht mit der Erwähnung Bundesrepublik und aus Berlin" getrieben worden
der Kuba-Krise begonnen. Aber selbstverständlich sei. Meine Damen und Herren, es widerstrebt mir,
kann man die Aktion der Sowjetunion im Karibi- mehr aus diesem wahrhaftig unmenschlichen Doku-
schen Meer und die Reaktion der Vereinigten Staa- men zu zitieren. Ein anderes möchte ich hier aller-
ten nicht als einen isolierten Vorgang betrachten. dings zitieren: Am 27. September vorigen Jahres
Wir müssen ihn als ein symptomatisches Ereignis in sprach der britische Außenminister Lord Home vor
der Auseinandersetzung der freien Welt mit der der Vollversammlung der Vereinten Nationen auch
aggressiven Politik des Weltkommunismus sehen zu diesem Mord an Fechter. Er sagte:
und daraus die Lehren ziehen. Die ruhige Entschlos- Es ist eine fast unerträgliche Provokation für
senheit, mit der die Regierung der Vereinigten Staa- zivilisierte Menschen, daß so etwas in unserer
ten auf die akute Drohung geantwortet hat, hat Zeit geschehen kann. Es ist eine Beleidigung
sicherlich in allen Teilen der Welt, nicht nur der im für alle, die den Menschen als ein Kind Gottes
atlantischen Bündnis zusammengeschlossenen freien anerkennen und respektieren.
Welt, die Überzeugung von der Abwehrkraft und
der Abwehrbereitschaft der Vereinigten Staaten ge- Wenn ich diese beiden Äußerungen vergleiche,
stärkt. Nur dieser Haltung ist es zuzuschreiben, daß dann wird mit erschreckender Deutlichkeit klar, daß
sich die akute Krise nicht zu einer weltpolitischen sich hier zwei Welten gegenüberstehen, die ein-
3 Katastrophe entwickeln konnte, und ich glaube, daß ander ausschließen. Aber es wird auch klar, daß wir
wir dafür der amerikanischen Administration unsere gar nicht wählen können, welcher dieser Welten
uneingeschränkte Anerkennung und unseren Dank wir angehören wollen, weil es für diejenigen, die
aussprechen sollten. sich zu den Grundrechten des Menschen bekennen,
keine Alternative geben kann.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Aber ein anderes hat uns diese Krise auch ins Be- (Beifall bei der CDU/CSU.)
wußtsein gerufen, und hier stimme ich mit den Aus- Trotz dieser Enttäuschung haben die Bundesregie-
führungen überein, die Herr Kollege Ollenhauer rung und die Regierungen der mit uns verbündeten
zum Schluß gemacht hat; ich meine die unbedingte Staaten immer wieder den Versuch unternommen,
Notwendigkeit einer echten und unzerstörbaren So- Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Sie haben der
lidarität der freien Welt. Ich stelle dieses Bekenntnis Sowjetunion immer von neuem ernsthafte Verhand-
bewußt an den Anfang meiner Ausführungen, denn lungen angeboten, wie es auch der Bundeskanzler
wir haben alle mit Sorge und Bestürzung gespürt, am 9. Oktober 1962 getan hat. Ich teile Ihre Auf-
daß Zweifel an dieser Haltung laut geworden sind. fassung, Herr Kollege Ollenhauer: auch die Ent-
Für meine politischen Freunde erkläre ich schon täuschungen dürfen uns nicht daran hindern, den
hier und in diesem Zusammenhang, daß jede Frage Versuch immer von neuem fortzusetzen. Aber wir
nach einer möglichen Änderung der deutschen Au- müssen uns auch klar sein, daß solche Verhandlun-
ßenpolitik unberechtigt ist. gen mit Aussicht auf Erfolg wohl nur geführt wer-
(Beifall bei der CDU/CSU.) den können, wenn sich die Sowjetunion endlich
dazu entschließt, das Recht des deutschen Volkes
Ausbau und Stärkung der atlantischen Gemeinschaft auf Selbstbestimmung und auf seine Heimat anzu-
ist und bleibt das unverzichtbare Ziel der deutschen erkennen.
Politik, zu dem wir uns bekennen. (Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.) Wer anders kann über die politische, die soziale
und die geistige Ordnung, in der ein Mensch leben
Gerade das deutsche Volk weiß, wie ich meine, um soll, bestimmen, wenn nicht der Mensch selbst?
diese Notwendigkeit; denn die Spannung in Europa,
die nach wie vor in der Teilung Deutschlands und Aber für den Ministerpräsidenten Chruschtschow
in der Bedrohung der Stadt Berlin ihren Ausdruck stellt sich die Frage anders. Welche Verachtung für
findet, hat sich nicht gemindert. Bis zur Stunde hat jede demokratische Ordnung spricht aus seiner Ab-
die Sowjetunion nicht zu erkennen gegeben, daß lehnung freier Wahlen mit der Begründung, die er
sie ernsthaft an einer Lösung der Fragen mitwirken neulich in Fürstenberg oder in Berlin gab:
2606 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Dr. von Brentano


Wir können doch auch rechnen! Die Arithmetik Gesittung und die aus korrekten diplomatischen
ist doch in diesem Falle nicht zu unseren Gun- Beziehungen zweier Staaten hervorgehenden
sten. Wenn die DDR 50 Millionen Menschen völkerrechtlichen Verpflichtungen grob zu miß-
hätte und die Bundesrepublik 17 Millionen, nun achten.
gut, dann wären wir selbstverständlich für ge-
Ich frage die Bundesregierung, ob sie bereit ist,
samtdeutsche Wahlen.
die Akten ,der Regierung der Sowjetunion mit der
Die freie Willensentscheidung der Menschen ist für Aufforderung zuzustellen, diejenigen, die sich die-
ihn — er sagt es — vollkommen gleichgültig. Er ist ser Verbrechen schuldig gemacht haben, zur Verant-
nur bereit, die verfälschte und verlogene Entschei- wortung zu ziehen.
dung zu honorieren, die unter dem Druck eines tota-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
litären Systems zustande kommt. Genauso wie es
der in Ideologie und Praxis dem Kommunismus we- Ich frage die Bundesregierung auch, ob sie bereits
sensverwandte Nationalsozialismus tat, setzt er vor- Überlegungen angestellt hat, ob und wie sie diese
aus, daß die Menschen unter der Angst, unter dem unvergleichbaren Tatbestände internationalen Be-
Terror so entscheiden, wie er es will, also gegen sich hörden und Institutionen zur Kenntnis bringen will,
selber. Es ist wirklich schwer vorstellbar, wie eine etwa dem Gerichtshof im Haag oder den Vereinten
Entspannung zustande kommen soll, wenn der eine Nationen. Es ist unerträglich, die Begründung dieses
Teil, der daran mitwirken muß, so denkt und sich so Urteils zu lesen und sich zu vergegenwärtigen, was
verhält. hier auf deutschem Boden im Auftrag einer aus-
Der Herr Kollege Ollenhauer hat — auch das ländischen Macht geschehen konnte.
greife ich gern auf — mit Recht darauf hingewiesen, Ich sagte schon, .daß die Ost-West-Spannung bis
daß wir unter keinen Umständen nachlassen dürfen, zur Stunde in unverminderter Härte anhält und daß
alles zu tun, was in unserer Macht steht, um die es darum unerläßlich ist, die Geschlossenheit und
Kontakte mit den Menschen in der Zone zu pflegen. Solidarität der freien Welt zu erhalten und zu stär-
Der Herr KollegeOllenhauer hat mit Recht ein- ken. Gerade darum beklagen auch wir es, Herr
dringlich auf den Leidensweg dieser Menschen hin- Kollege Ollenhauer, daß in den letzten Wochen Un-
gewiesen. Ich unterstreiche auch das andere, was er klarheiten und Mißverständnisse aufgetaucht sind.
sagte: wir sollten immer wieder den Versuch ma- Sie knüpfen sich an einen Vorgang, den wir begrü-
chen, Verstöße gegen die Menschenrechte, die dort ßen sollten, aber auch an ein Ereignis, das wir
und in Ostberlin, an der Mauer und an der Zonen- bedauern müssen: an die Unterzeichnung des
grenze begangen werden, in der Welt bekanntzu- deutsch-französischen Abkommens und an die Unter-
machen und damit den Protest der freien Welt ge- brechung der Brüsseler Verhandlungen über den
gen das wachzurufen, was dort an Unmenschlichkeit Beitritt Großbritanniens zur EWG. Meine politischen
gegen Deutsche geschieht. Freunde begrüßen es, daß die Regierungserklärung
In diesem Zusammenhang richte ich an die Bun- und die Debatte uns Gelegenheit geben, diese Miß-
desregierung eine konkrete Frage. Die Sowjetunion verständnisse anzusprechen und, wie ich hoffe, aus-
hat in diesen Tagen auf einer Pressekonferenz neue zuräumen. Der Bundeskanzler hat gestern ein kla-
Vorwürfe gegen die Bundesregierung erhoben, die res und unmißverständliches Bekenntnis zur Fort-
ebenso maßlos wie unberechtigt waren. Es geschah setzung unserer europäischen und atlantischen Poli-
das im Zusammenhang mit einem Verfahren, das tik abgelegt. Ich unterstreiche diese Erklärungen
zur Zeit in Koblenz gegen Personen geführt wird, ohne Vorbehalt, aber ich möchte sie ergänzen und
die wegen beispielloser Verbrechen gegen die kommentieren, um jeder Zweifel an der Haltung
Menschlichkeit angeklagt sind. Ich glaube nicht, daß der Fraktion der CDU/CSU endgültig zu beseitigen.
wir es nötig haben, auf diese Anwürfe einzugehen. Unsere Entschlossenheit und Bereitschaft, die
Die rechtsstaatliche Ordnung, in der wir leben, legt Politik der europäischen Integration fortzusetzen,
uns die Pflicht auf, solchen Verbrechen nachzuge- ist durch die jüngsten Ereignisse nicht geschwächt,
hen. Die Bundesregierung und die Regierungen der
sondern gestärkt worden.
Länder arbeiten zu diesem Zweck loyal und pflicht-
bewußt zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU.)

Vor kurzem ist aber auch die schriftliche Begrün- Es geht hier wirklich um ein Kernstück der deutschen
dung des Urteils bekannt geworden, das der Dritte Außenpolitik. Keine der europäischen Nationen
Strafsenat des Bundesgerichtshofes gegen den sow- innerhalb oder außerhalb der Europäischen Wirt-
jetischen Staatsangehörigen Bogdan Staschynskij schaftsgemeinschaft ist nach unserer Überzeugung in
erlassen hat. Der Angeklagte wurde wegen Beihilfe der Lage, allein und auf sich selbst gestellt in der
zum Mord in zwei Fällen zu acht Jahren Zuchthaus veränderten Welt zu bestehen, sich in geordneter
verurteilt. Aus der Begründung — einer sorgfälti- Freiheit zu entfalten und diese Freiheit zu sichern.
gen Begründung — zitiere ich nur folgende Fest- Die Bundesrepublik kann für sich in Anspruch neh-
stellungen: men, vom ersten Tage ihres Bestehens an sich zu
dieser Erkenntnis bekannt und die Konsequenzen
Bedenkenlos haben die sowjetrussischen Auf- daraus gezogen zu haben. Der Vertrag über die
traggeber es für angebracht gehalten, die Bege- Montanunion, der Versuch, die Europäische Ver-
hung zweier politischer Morde auf dem Gebiet teidigungsgemeinschaft zu schaffen, der Gedanke,
der Bundesrepublik Deutschland anzuordnen die Europäische Politische Gemeinschaft zu errichten,
und auszuführen und dabei jede internationale die Römischen Verträge — alles das war nur mög-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2607
Dr. von Brentano
lich, weil die Bundesregierung unablässig diese euro- schen Ministerpräsidenten Robert Schuman, die
päische Politik mit letzter Hingabe vertreten hat; zum Abschluß des Vertrages über die Montanunion
nicht immer, meine Damen und Herren, mit der führte, und diese Entwicklung endete vorläufig mit
uneingeschränkten Zustimmung dieses Hohen dem Abschluß der Römischen Verträge. Eigentlich
Hauses. bin ich überzeugt, daß alle, die wirklich den Frie-
(Beifall bei der CDU/CSU.) den in , der Welt wünschen, gleichgültig wo sie sind
Aber wir waren uns auch immer im klaren darüber, und in welchem Land sie leben, mir zustimmen müs-
daß jeder Versuch, Europa zusammenzuschließen, sen, wenn ich sage, daß in diesem Bereich ein ent-
die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frank- scheidender Beitrag zur Erreichung dieses großen
reich zur Voraussetzung hat. Der Herr Bundes- Zieles erbracht worden ist. Darum begrüße ich den
kanzler hat mit Recht auf die unheilvolle Vergangen- Abschluß des deutsch-französischen Abkommens.
heit verwiesen. Im letzten war es der deutsch-fran- Auf irgendwelche Einzelheiten will ich heute nicht
zösische Gegensatz, an dem sich zwei Weltkriege eingehen. Ich sehe in der Unterzeichnung dieses
entzündeten, die die europäischen Staaten an den Abkommens in der Tat ein historisches Ereignis
Rand des Zusammenbruchs führten. und hoffe, daß wir es hier im Bundestag auch in
gebührender Weise werden ratifizieren können,
Auch hier möchte ich daran erinnern, daß es der nachdem wir Gelegenheit gehabt haben — Herr
große britische Staatsmann Sir Winston Churchill Kollege 011enhauer, da stimme ich Ihnen zu —, die
war, der bereits am 18. September 1946 in Zürich Auswirkungen des Abkommens auf andere Ver-
wörtlich sagte: „Der erste Schritt bei der Neubildung träge und auf unsere Beziehungen zu anderen Län-
der europäischen Familie muß ein Zusammengehen dern sorgfältig zu prüfen.
zwischen Frankreich und Deutschland sein." Ich war
dankbar, auch zu hören, wie sich Herr Kollege Ollen- Ich stelle aber ausdrücklich fest, daß wir in die-
hauer trotz gewisser Vorbehalte — auf die ich noch sem Abkommen keine Änderung der politischen
zu sprechen komme — auch für seine Fraktion und Konzeption der Bundesregierung erblicken.
Partei zu der deutsch-französischen Zusammenarbeit ,(Beifall in der Mitte.)
bekannt hat. Er hat auf die lange Geschichte seiner
Partei und auf das Treffen im Jahre 1913 verwiesen. Das Ziel der multilateralen Integration Europas
Aber, meine Damen und Herren, er wird es mir nicht bleibt unverändert. Niemand von uns denkt daran,
übelnehmen dürfen, wenn ich ihm sage, daß auch es durch bilaterale Allianzen zu ersetzen
manche Zwischenakte in der Geschichte der Sozial-
(erneuter Beifall in der Mitte)
demokratischen Partei zu registrieren sind, Zeiten, in
denen das Bekenntnis zur deutsch-französischen Zu- oder auch nur zu gefährden. Eine enge deutsch-
sammenarbeit nicht so ohne Einschränkung abge- französische Zusammenarbeit wollen wir in den
geben wurde wie heute und hier; und diese Zeiten Dienst der europäischen und atlantischen Politik
liegen noch gar nicht allzu lange zurück, als wir stellen, um die Erreichung der gemeinsamen Ziele
hier in diesem Raum über politische Entscheidungen zu unterstützen. Ich bin überzeugt, daß mancher
debattierten. besorgte Kritiker dies später erkennen wird.
(Abg. Dr. Mommer: Zum Beispiel den Saar- Die Politik der europäischen Integration hat in
Vertrag! — Beifall bei der SPD.) diesen Tagen einen Rückschlag erlitten. Die Unter-
— Ach nein, schon früher! Zum Beispiel die Euro- brechung der Verhandlungen mit Großbritannien
päische Verteidigungsgemeinschaft! hat, wie auch der Herr Bundeskanzler gestern mit
(Beifall bei der CDU/CSU.) Recht festgestellt hat, zu einer ernsten Krise ge-
führt. Aber er fügte hinzu, daß die Krise heilbar
Aber ich bin ja sehr dankbar, meine Damen und sei, und ich teile diese Überzeugung.
Herren, daß das nur noch historische Reminiszenzen
sind, und ich begrüße — ich sage das in aller Offen- Wir waren tief befriedigt, als die britische Regie-
heit —, daß wir auch hier die gleiche Sprache zu rung den Entschluß faßte, den Römischen Verträ-
sprechen beginnen; denn — und hier kann ich auch gen beizutreten. Ich denke an die Rede des briti-
zitieren, was der Bundeskanzler in anderem Zusam- schen Lordsiegelbewahrers vom 17. Mai 1961 vor
menhang sagte — es kommt mir und meinen poli- dem britischen Unterhaus. Sie enthielt ein klares,
tischen Freunden und, ich glaube, uns allen darauf unmißverständliches Bekenntnis zur Europapolitik.
an, daß hier ein Vertrag geschlossen wird nicht Auch in seiner Rede vor dem Ministerrat der EWG
nur von Regierung zu Regierung, von Regierungs- hat sich Minister Heath nicht nur zum Inhalt, son-
mehrheit zu Regierungsmehrheit, sondern von Volk dern auch zur politischen Philosophie der Römi-
zu Volk. schen Verträge bekannt. So war es nur logisch und
richtig, daß der Ministerrat einstimmig die Auf-
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
nahme der Verhandlungen mit Großbritannien be-
Ich hoffe und wünsche, meine Damen und Herren, schloß. Die Präambel der Römischen Verträge hat
daß das auch in der endgültigen Ratifizierung hier uns dazu ebenso verpflichtet wie Artikel 237. Die
in diesem Hohen Hause zum Ausdruck kommt. Verhandlungen haben gezeigt, daß Großbritannien
(Beifall bei der CDU/CSU.) bereit war beizutreten. Der Präsident der Kommis-
sion, Herr Professor Hallstein, hat noch vorgestern
Diese Entwicklung der deutsch-französischen Be- vor dem Europäischen Parlament einen Bericht ab-
ziehungen begann mit der Initiative des französi- gegeben. Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben ihn
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Dr. von Brentano


mit Recht zitiert. Ich kenne den Bericht noch nicht Nutting stellt noch eine Erwägung an. Ich glaube,
in seinem Gesamtinhalt, sondern nur auszugsweise, sie gilt für uns. Sie kommt aus dem Munde eines
aber man kann wohl von diesem Bericht sagen, daß Mannes, der hohe Bedeutung hatte und besitzt. Er
mit ihm eine Bilanz gezogen wurde, die positiv sagt:
und optimistisch war, die zeigte, daß die Verhand- Niemand, der Sinn für Geschichte hat, könnte
lungen, wenn sie wieder aufgenommen werden, in eine erneute Trennung Deutschlands und Frank-
der Tat zu einem guten Ende geführt werden kön- reichs wünschen. Dieses Paar ist hier als Haupt-
nen. partner an dem Geschäft beteiligt, das sich „Ge-
meinsamer Markt" nennt. Und weder diese bei-
Doch wir können dem, was heute geschehen ist,
den noch ihre westlichen Verbündeten haben
nur gerecht werden, wenn wir auch einmal an das
Interesse daran, daß ihr Verhältnis in naher
denken, was in der Vergangenheit geschah oder bes-
oder ferner Zukunft wieder gelöst wird.
ser gesagt nicht geschah. Ministerpräsident Robert
Schuman hat seinerzeit Großbritannien zu den Ver- Dieser Politik war und ist die Bundesregierung treu
handlungen über seinen Plan ausdrücklich eingela- geblieben. Auch der Bundestag hat diese Auffassung
den. Die Absage der britischen Regierung wurde immer wieder bestätigt.
damals von der konservativen Opposition im Unter- Als die Römischen Verträge verabschiedet wur-
haus heftig kritisiert. Auch die Beteiligung an den den, hat der Bundestag am 4. Juli 1957 in einer Ent-
Beratungen über die europäische Verteidigungsge- schließung dem Wunsch Ausdruck gegeben, die Eu-
meinschaft wurde Großbritannien angeboten, ohne ropäische Wirtschaftsgemeinschaft durch andere eu-
daß sich die britische Regierung dazu entschließen ropäische Länder, insbesondere Großbritannien zu
konnte. Gewiß, sie hat nach dem Scheitern dieses ergänzen. Ich selbst habe am 31. Januar 1962 eben-
mutigen Planes des französischen Ministerpräsiden- falls von dieser Stelle aus dem gleichen Wunsch
ten Pleven mit großer Energie die Initiative ergrif- Ausdruck verliehen, und der Bundesminister des
fen und durch den Umbau der Brüsseler Verträge zu Auswärtigen hat diese Haltung der Bundesregie-
der sogenannten Westeuropäischen Union den rung am 27. Juni ausdrücklich bestätigt. Ich erinnere
Schock des Scheiterns der EVG zunächst abgefangen. auch an den Besuch des Bundeskanzlers in Großbri-
Aber auch als Großbritannien damals zu den Bera- tannien im Februar 1961, bei dem ich ihn begleitete,
tungen über die Gründung der Europäischen Wirt- als er dem britischen Premierminister in seiner Rede
schaftsgemeinschaft eingeladen wurde, konnte es sagte: „Ohne Großbritannien ist kein Europa denk-
sich nicht entschließen, die Einladung anzunehmen. bar".
Ich glaube, es ist keine unberechtigte oder gar un-
billige Kritik, wenn ich feststelle, daß der Versuch, Wir sollten allerdings auch die sachlichen Schwie-
die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft durch die rigkeiten, die dem Beitritt neuer Mitglieder zur I
Schaffung einer Freihandelszone wieder aufzulösen, EWG zwangsläufig entgegenstehen, nicht unter-
ein wenig glücklicher Beitrag zur Europapolitik war. schätzen oder gar verschweigen.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
(Sehr richtig! in der Mitte.)
Ich glaube, es genügt nicht, nur auf den guten Wil-
Meine Damen und Herren, ich erwähne diese
len und auf die eine oder andere optimistische Dar-
Dinge nur, um darzutun, daß die Bundesregierung
stellung hinzuweisen. Es ist doch dahin gekommen
und die europäischen Partner der Verträge zu jedem
— und das ist gut so —, daß die Gemeinschaft in
Zeitpunkt das Ihre getan haben, um Großbritannien
den vergangenen Jahren eine erstaunliche Entwick-
heranzuziehen. Es ist nicht ohne Interesse, hier einen
lung genommen hat. Sie ist zusammengewachsen,
Satz aus dem Buch des früheren britischen Staats-
und es sind Fakten geschaffen worden. Jeder, der
sekretärs Anthony Nutting, der vielen in diesem
neu hinzutritt, muß sich zunächst mit diesen Fakten
Hohen Hause noch bekannt ist, anzuführen. Aus
abfinden und auch diese Entscheidungen überneh-
einem Gespräch, das er mit dem Bundeskanzler
men. Das ist kein einfacher Vorgang. Deswegen
hatte, als es um die Europäische Verteidigungsge-
können wir auch gar nicht erwarten, Herr Kollege
meinschaft ging, zitiert er wörtlich, was ihm der
Ollenhauer, daß England oder ein anderes Land
Bundeskanzler damals gesagt hat:
sagt: Ich trete den Römischen Verträgen bei, so
Sehen Sie nicht, wie schlecht das alles für das wie sie sind. — Das wäre zuviel und zuwenig,
deutsche Volk ist? Nichts könnte für den deut- meine Damen und Herren. Es wäre zu wenig, denn
schen Charakter schlechter sein, als täglich die Römischen Verträge haben sich weiterentwik-
immer deutlicher zu sehen, wieviel Angst die kelt. Es wäre aber auch zu viel verlangt, denn wir
Franzosen vor uns Deutschen haben. Ich möchte waren und wir sind bereit, so, wie wir das auch im
Ihnen vor allem diese Angst nehmen und Frank- Kreise der Sechs taten, dem einzelnen Mitglied
reich und Deutschland zusammenbringen. Das gewisse Übergangsmöglichkeiten, gewisse Rechte
kann ich aber nicht ohne die Hilfe Großbritan- einzuräumen, die damals als clauses de sauvegarde
niens. Je länger Sie diese Hilfe verweigern, bezeichnet wurden. Es ist das unbedenklich gewe-
desto geringer sind die Aussichten, daß wir eine sen, wie die Entwicklung gezeigt hat; denn alle
Annäherung durch die EVG zustande bringen. diese Klauseln sind niemals in Anspruch genom-
men worden.
Nun, meine Damen und Herren, wäre uns nicht vie-
les an unerfreulicher Entwicklung erspart geblieben, Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang auch
wenn Großbritannien auf diesen doch warmen daran erinnern — ich komme nachher noch auf un-
Appell damals positiv reagiert hätte? ser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, auf den
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2609
Dr. von Brentano
Wunsch der Partnerschaft zurück, den ich voll und sollte sich unbedenklich bereit erklären — wie Sie
ganz unterstreiche, Herr Kollege Ollenhauer hat mit es auch angeregt haben, Herr Kollege —, Verträge
Recht die Botschaft des amerikanischen Präsidenten ähnlicher Art mit anderen europäischen Partnern ab-
vom Juli 1962 in Philadelphia zitiert, in der er diese zuschließen; denn ein Netz wohlabgewogener zwei-
Partnerschaft anbot —, aber ich darf daran erinnern, seitiger Verträge kann auch die multilaterale Inte-
daß noch bis vor zwei Jahren die amerikanische gration wirksam unterstützen.
Regierung uns mit guten Gründen sagte: Den Zu-
sammenschluß der Sechs akzeptieren wir; aber den Über unser Verhältnis zu den Vereinigten Staaten
Zusammenschluß der Sieben können wir wegen der sprach ich schon. Hier dürfen keine Mißverständ-
objektiv diskriminierenden Wirkungen dieses grö- nisse aufkommen, und wir müssen die Vereinigten
ßeren Gemeinsamen Markts nicht hinnehmen. Es Staaten davon überzeugen, daß die deutsch-franzö-
ist also nicht so, daß diese Gedankengänge schon sische Zusammenarbeit ebenso wie die Politik der
immer die amerikanische Politik bestimmt hätten. europäischen Integration das ausgesprochene Ziel
Das sage ich auch ohne Kritik; denn wir haben für haben, die atlantische Gemeinschaft zu stärken.
diesen Vorbehalt der Vereinigten Staaten volles (Beifall bei der CDU/CSU.)
Verständinis.
Wir wissen es, meine Damen und Herren, und wir
Nun, ich sprach davon, welche Entwicklung der bedauern es, daß Frankreich nicht immer die gleiche
Gemeinsame Markt in diesen Jahren genommen hat, Bereitschaft gezeigt hat wie wir selbst, sich an der
und wir sollten hier auch hören und sehen, wie die militärischen Integration im Rahmen der NATO zu
Sowjetunion reagiert, einmal, wie sie reagiert hat
beteiligen. Aber darum gerade begrüßen wir es, daß
auf die Entwicklung im Herbst vorigen Jahres, als
die Bundesregierung nicht gezögert hat, den Vor-
in Moskau jene Wirtschaftskonferenz zusammen-
schlag der amerikanischen Regierung anzunehmen,
trat. Wenn man die Berichte und die Artikel liest,
den der amerikanische Staatssekretär Ball in Bonn
die dann darüber in der „Prawda" und in anderen
gemacht hat, sich an der Errichtung einer multilate-
Zeitungen erschienen sind, erkennt man die Unruhe,
ralen Atomstreitmacht zu beteiligen. Wir wissen
die dort entstanden ist. Denn hier, in dieser euro-
es alle, und es ist nicht nötig, uns daran zu erinnern,
päischen Politik, wurde ein neues Selbstbewußtsein,
daß die NATO das stärkste Bündnissystem in der
ein neuer Behauptungswille der europäischen Völ-
ker sichtbar, ein Wille, der nicht auf machtpolitische Welt ist und daß die Vereinigten Staaten nicht nur
Auseinandersetzungen mit Waffen gerichtet ist, Partner in diesem Verband sind, sondern daß sie
sondern der nichts anderes zum Ziel hatte, als die die stärkste Macht der freien Welt sind. Wir begrü-
unendlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, die der ßen es, daß die Vereinigten Staaten unter dem Prä-
Zusammenschluß der hochindustriealisierten, tech- sidenten Eisenhower wie unter dem Präsidenten
nisch und geistig hochentwickelten europäischen Kennedy so eindeutig und entschlossen die Sache
Völker auch für die Erhaltung des Weltfriedens der freien Welt zu ihrer eigenen gemacht haben. In
bedeutet. der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und
dem Ostblock muß sich diese Solidarität der Bünd-
Es ist nicht uninteressant, die sowjetrussischen nispartner zu jeder Zeit und in jeder Lage neu be-
Kommentare zur Unterbrechung der Brüsseler Ver- währen.
handlungen zu hören oder zu lesen, und ich unter-
In der NATO sind freie, unabhängige Staaten von
streiche das, was Sie, Herr Kollege Ollenhauer, uns
verschiedenartigem politischem Gewicht zusammen-
sagten. Gerade diese Kommentare geben uns Anlaß,
geschlossen. Darin besteht die Eigenart, darin be-
nachdenklich zu werden und einen neuen Weg zu su-
steht aber auch der Vorzug dieses Bündnisses, das
chen; denn wir empfinden, daß wir hier der Sowjet-
keine Prärogativen der Macht legalisiert. Aber es ist
union zumindest vorübergehend einen Vorteil in die
eine sehr nüchterne Erkenntnis, daß die Stärke und
Hand gespielt haben, der sich logischerweise zu un-
die Kraft der Bündnispartner eben von verschiede-
serem Nachteil auswirken muß. Es ist interessant,
nem Gewicht sind. Die Bundesrepublik erkennt den
daß in einer Sendung für Nordamerika die Sowjet-
Führungsanspruch der Vereinigten Staaten in die-
union wissen läßt, Frankreich habe die Unterstüt-
sem Bündnis gleichberechtigter Partner nicht nur
zung Deutschlands erhalten, um England aus Europa
an; sie hat wiederholt die Vereinigten Staaten auf-
herauszuhalten. In einer Sendung für Frankreich
gefordert, diese Führungsrolle zu übernehmen, so-
hört man, die Bundesrepublik habe die britische
gar schon zu einem Zeitpunkt, in dem die Opposition
Karte gespielt und Großbritannien habe als Gegen-
noch gegen die NATO-Mitgliedschaft der Bundes-
leistung versprochen, den Atomwaffenhunger der
republik war.
deutschen Revanchisten zu stillen. Nun, ich könnte
beliebig viele solcher Zitate bringen; aber das (Beifall bei der CDU/CSU.)
scheint mir langweilig zu sein. Viele von uns ken-
Meine politischen Freunde gehen davon aus, daß
nen solche Sendungen noch aus der Zeit des „Drit-
das deutsch-französische Abkommen ebenso wie
ten Reiches".
alles andere, was im europäischen Bereich geschieht,
Meine Damen und Herren, ich habe betont, daß die die Wirksamkeit und Kraft des atlantischen Bünd-
deutsch-französische Zusammenarbeit den europäi- nisses stärken muß und nicht schwächen darf. Wenn
schen Zusammenschluß nicht behindern, sondern för- Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten,
dern soll. Darum soll uns auch niemand unterstellen, dann mit dem Ziel, die europäische Politik zu stär-
daß die deutsch-französische Vereinbarung ein Stre- ken, der europäischen Integration ungeachtet augen-
ben nach Hegemonie verberge. Die Bundesregierung blicklicher Rückschläge neue Impulse zu geben und
2610 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Dr. von Brentano


der atlantischen Gemeinschaft zusätzlich neue Jeder Fortschritt, den wir in diesen Bereichen in
Stärke zu verleihen. gemeinsamer Anstrengung erzielen, dient auch —
das sollten wir uns immer vor Augen halten — der
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
Verwirklichung dieses obersten Ziels der deutschen
Der amerikanische Präsident hat in seiner Rede Politik, der Wiedervereinigung mit den Deutschen
vom 4. Juli, die Sie auch zitiert haben, Herr Kollege, in der Zone in einem freiheitlichen, rechtsstaat-
auch über diese Fragen gesprochen. Mir scheint, wir lichen Deutschland.
können alles, was er dort sagte, unterstreichen. Er
(Lebhafter Beifall bei den Regierungs
hat die Europäer aufgefordert, sich in einem star-
parteien.)
ken, geeinten Europa zusammenzuschließen, in dem
die Vereinigten Staaten einen Partner, nicht einen
Rivalen sehen. Er hat auf die interkontinentale Zu- Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der
sammenarbeit verwiesen und hat eine atlantische Abgeordnete Dr. Mende.
Partnerschaft gefordert, zu der wir bereit sind. Wir
begrüßen es, daß der frühere amerikanische Außen-
minister Herter beauftragt wurde, die Vorausset- Dr. Mende (FDP): Herr Präsident! Meine Damen
zungen für diese atlantische Partnerschaft mit den und Herren! Die Freie Demokratische Partei begrüßt
europäischen Regierungen und mit der EWG zu er- diese Aussprache des Deutschen Bundestages als
örtern. eine Möglichkeit des öffentlichen Gesprächs mit der
Bundesregierung und als eine Möglichkeit der Aus-
Meine politischen Freunde erwarten von der Bun- einandersetzung der drei Fraktionen dieses Hauses.
desregierung, daß sie, wie es auch der Bundeskanz-
ler angekündigt hat, alles tun wird, was in ihrer Der Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion,
Macht steht, um die europäische Integration voran Kollege Ollenhauer, hat die „langweilige" Regie-
zuführen. Ich möchte auch hier wiederholen, daß wir rungserklärung beklagt. Man hätte demnach mit
uns der Krise, in die wir geraten sind, bewußt sind. einer fesselnden Programmrede des Oppositions-
Aber ich meine doch, wir sollten hier auch auf das führers rechnen müssen, die dieser „langweiligen"
hören, was die britische Regierung selbst sagt. Am Regierungspolitik ,die zündende Alternative der
30. Januar hat Macmillan auf die Frage: Sind das Opposition entgegenhält.
düstere oder abschreckende Aussichten?, ganz klar (Beifall bei den Regierungsparteien.)
erklärt: „Keineswegs. In Situationen dieser Art ha-
ben wir uns in der Vergangenheit stets am besten Aber wer in den anderthalb Stunden, die Kollege
bewährt. So wird es auch diesmal wieder sein." Ollenhauer sprach, darauf wartete, der wurde ent-
Und der stellvertretende Außenminister Heath hat täuscht.
nach der Unterbrechung der Verhandlungen gesagt: (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Die Rede des Oppositionssprechers war nämlich eine
Wir denken gar nicht daran, nunmehr Europa
Addition von Ermahnungen, guten Ratschlägen, B e-
den Rücken zu kehren. Im Gegenteil, wir wer-
fürchtungen und dem Bekenntnis zur Gemeinsam-
den die Zusammenarbeit mit Europa erneut
keit bei der jetzt auf uns zukommenden Prüfung
suchen, so lange bis sie unterschrieben ist.
des Vertrags.
Deswegen sage ich auch: die Verhandlungen mit Der Bundeskanzler hat gestern zum erstenmal in
Großbritannien müssen wieder in Gang kommen. den 14 Jahren dieses Parlaments die Opposition
Vielleicht bietet in der Tat Art. 2 des Protokolls inständig gebeten, Opposition zu sein und als be-
zu den Brüsseler Verträgen dazu auch eine Möglich- lebendes Element zu wirken. In der Tat, ein ein-
keit; denn die Westeuropäische Union hat sich ja ma liger Vorgang, daß der Regierungschef die Oppo-
auch zu dem Ziel bekannt — ich zitiere aus diesem sition bitten muß, Opposition zu sein.
Protokoll —, „die Einheit Europas zu fördern und (Heiterkeit und Zustimmung bei den
seine fortschreitende Integration zu unterstützen". Regierungsparteien.)
Wir werden dabei sicherlich auch die Mitarbeit un-
serer Freunde in der EWG finden, die die Unter- Man hat manchmal den Eindruck, daß die sozial-
brechung der Brüsseler Verhandlungen ebenso be- demokratische Opposition mehr und mehr auf 'dem
dauert haben wie wir selbst. Ebenso erwarten wir Wege ist, eine Koalitionspartei im Wartestand zu
von der Bundesregierung — auch daran besteht werden
nach den Erklärungen des Kanzlers kein Zweifel — (Erneute Heiterkeit und Beifall bei den
die Fortsetzung ihrer aktiven Politik im Rahmen Regierungsparteien — Zurufe von der SPD)
der NATO. Auch in dieser Organisation, vielleicht
und sich mit allen Mitteln darum bemüht, möglichst
auch in der OECD, sollte die Frage der atlantischen
noch in dieser Wahlperiode in die Bundesregierung
Partnerschaft diskutiert werden. Wir dürfen auf
einzutreten. Auch hier erscheint es mir als ein
keine Möglichkeit verzichten, uns der Instrumente
Widerspruch. Auf der einen Seite spricht man von
zu bedienen, die wir schon besitzen. Zu diesen In-
einem verlorenen Jahr und beklagt diese schlechte
strumenten wird dann auch der französisch-deutsche
Bundesregierung. Auf der anderen Seite hat man
Vertrag gehören, der der Bundesregierung — das
es eilig, in diese schlechte Bundesregierung als Teil-
hoffe ich bestimmt -- zusätzlich Möglichkeiten ge-
haber einzutreten.
ben wird, ihre Vorstellungen über die europäische
-
und atlantische Zusammenarbeit mit Frankreich ab- (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs
zustimmen. parteien. Zurufe von der SPD.)
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2611

Dr. Mende
Verlorenes Jahr, Herr Kollege Ollenhauer! Es ist unseres Volkes, (die ,das „Ohne mich!" zum Prinzip
eine harte Kritik an der starken Opposition von der Verteidigung eines Volkes machen wollten.
200 Abgeordneten in diesem Hause, wenn es ein Schließlich scheiterte die EVG in der Assemblée
verlorenes Jahr dieser 4. Legislaturperiode geben Nationale im August 1954. Es folgten dann der Bei-
sollte. Dieser Vorwurf trifft dann auch die Sozial- tritt zur Westeuropäischen Union und zum Nord-
demokraten selber, die eben nicht dieser Regierung atlantikpakt. Dem Beitritt zur Europäischen Wirt-
so im Nacken saßen, daß nicht ein Jahr verloren- schaftsgemeinschaft hat die Freie Demokratische
gehen konnte. Partei widersprochen, aber nicht aus Europa-Feind-
lichkeit, sondern aus der Sorge, daß der Zusammen-
(Beifall bei der FDP und CDU/CSU — schluß der Sechsergemeinschaft zu einer Reaktion
Lachen und Zurufe von der SPD.) Großbritanniens und der anderen europäischen
— Ach, nun empören Sie sich doch nicht! Sie waren Staaten führen müßte, was dann ja auch im Rahmen
doch vor zwei Monaten bereit, in eine vierte Bun- der EFTA geschehen ist, also zu einer erneuten
desregierung Adenauer einzutreten und personelle Spaltung. Wir haben .damals die Freihandelszone
Konzessionen zu machen, die Sie mir vor einem und die Ausweitung des Europa-Gedankens aus der
Jahr hart vorgeworfen haben! Enge der Sechs in ein weiteres Feld befürwortet.
Um so dankbarer waren wir, daß schließlich die
(Beifall bei der FDP. — Zuruf von der SPD: Sechser-Gemeinschaft eine Attraktivkraft auszuüben
Das stimmt ja ,gar nicht! — Weitere Zurufe schien und Großbritannien und die skandinavischen
links.) Staaten sich um den Beitritt bemühten.
Lassen Sie mich zu dieser Frage der Auseinander- Auch das deutsch-französische Verhältnis war
setzung mit dem Wesen und Wirken der Opposition spätestens mit dem ehrenwerten Respekt, den die
noch im innenpolitischen Teil sprechen! Ich möchte französische Regierung und das französische Volk
mich, wie es die Regierungserklärung tat, zunächst der Entscheidung an der Saar zuteil werden ließen,
dem außenpolitischen Teil zuwenden. außerhalb jeglicher Mißverständnisse für die Freie
Die Kuba-Krise hat drei positive Elemente, wie Demokratische Partei. Wir bejahen die deutsch-fran-
jede überwundene Krise eine heilsame Wirkung zösische Versöhnung und die deutsch-französische
hat. Die Geschlossenheit ,der westlichen Allianz und Freundschaft als eine Ausgangsstation, als Basis
die Entschlossenheit des amerikanischen Präsiden- einer europäischen Zusammenarbeit und als einen
ten und des amerikanischen Volkes werden dem historischen Schlußstrich unter eine Zeit deutsch-
sowjetischen Ministerpräsidenten die Grenze der französischer tragischer Bruderkriege. Aber die
Selbstachtung der Vereinigten Staaten markiert ha deutsch-französische Freundschaft kann nur Aus-
ben und werden ihn — auch in .der Berlin-Frage — gangsstation der europäischen Zusammenarbeit sein.
vor einer Fehleinschätzung .der Lage bewahren. Sie darf niemals Endstation europäischer Sehnsucht
Das zweite positive Element ist die ernüchternde werden.
Wirkung auf einen Teil unserer Bevölkerung. Mehr Wir bedauern den Rückschlag, den die Auswei-
denn je erkannten wir in diesen Oktobertagen des tung des Europagedankens in Brüssel erlitten hat.
vergangenen Jahres, daß sich niemand auf den pri- Aber wie damals 1954 beim Scheitern der EVG in
vaten Bereich einer Selbstisolierung zurückziehen der Assemblée Nationale und wie bei anderen ähn-
kann, sondern daß die res privata untrennbar mit lichen Ereignissen wird sich auch hier das Rad der
der res publica verbunden ist und .daß daher das europäischen Geschichte weiterdrehen. Neue Situa-
Schicksal , des einzelnen und seiner Familie eng an tionen werden die Gelegenheit zu neuen Konstruk-
das Schicksal des Volkes, ja sogar des Kontinents tionen bieten, sei es im Rahmen von Zollvereinba-
geknüpft ist und schließlich mit der Frage Krieg rungen, sei es im Rahmen einer engeren Kontakt-
oder Frieden verbunden bleibt. aufnahme im Rahmen der Westeuropäischen Union,
der OECD und schließlich in der atlantischen Ge-
Drittens hat insbesondere der 28. Oktober 1962
meinschaft.
mit dem Einlenken des sowjetischen Ministerpräsi-
denten Chruschtschow möglicherweise ein histori- Die Freie Demokratische Partei wird als Koali-
sches Datum der Erkenntnis der Weltmächte mar- tionspartner dem Bemühen der Bundesregierung um
kiert, daß sich' auch schwerwiegende Konflikte heute die Ausweitung des Europagedankens, also auch um
nicht mehr durch atomare Kriege lösen lassen, son- den Beitritt Großbritanniens und der skandinavi-
dern im atomaren Zeitalter der Krieg aufgehört schen Staaten, ihre volle Unterstützung gewähren.
hat, eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mit- Denn Europa ist auf die Dauer ohne Großbritannien
teln zu sein. und die skandinavischen Staaten nicht lebensfähig.
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
Die Regierungserklärung widmet einen ganzen
der CDU/CSU.)
Abschnitt der europäischen Entwicklung und der
deutsch-französischen Freundschaft. Die Freie De- Wir begrüßen daher die Erklärung, daß die Bun-
mokratische Partei ist zu einer Zeit, als das noch desregierung alle Möglichkeiten der Heilung des
nicht selbstverständlich war, in diesem Hause für Brüsseler Rückschlages ausnutzen werde, und wir
die Europa-Politik der Regierung eingetreten, in sehen hier keine Differenz, wie sie Herr Ollenhauer
der sie damals auch Koalitionspartner war: Beitritt sah. Denn schließlich hat das Kabinett diese Erklä-
zum Straßburger Europarat 1950, Beitritt zur Mon- rung einstimmig verabschiedet, unter Vorsitz des
tanunion, die Bemühung um das Zustandekommen Bundeskanzlers. In den offiziellen Äußerungen mö-
einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft ge- - gen die Temperamente wohl gewisse Nuancen er-
gen den damals erbitterten Widerstand weiter Teile kennen lassen; aber die ganze Öffentlichkeit weiß
2612 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Dr. Mende
doch, meine Damen und Herren, daß diese Regie- Belastungen wieder 400 000 Soldaten kampffähig in
rung verpflichtet ist, im Sinne des Beitritts Groß- verschiedenen Verbänden des Heeres, der Marine
britanniens und anderer zu wirken, weil sie sonst und der Luftwaffe zu organisieren. Es ist hie und
nicht mehr das Vertrauen dieses Hauses besäße. Die da die Auffassung vertreten worden, wir müßten
Bundesregierung ist durch die einmütige Erklärung nunmehr, wenn wir die 500 000-Grenze erreicht hät-
dieses Hauses an diese Politik gebunden, die keine ten, uns als nächstes Ziel 750 000 Mann Effektiv-
Änderung zuläßt. stärke stellen. Eine solche Forderung ist irreal, so-
(Beifall bei der FDP.) wohl im personellen Bereich der militärischen
Kräfte, wie im materiellen Bereich und schließlich
Besonders in ausländischen Zeitungen ist die auch im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich
Frage aufgetaucht, ob die deutsche Politik nicht
unseres Volkes. Im übrigen sollte man Qualität vor
wählen müsse zwischen den Vereinigten Staaten
Quantität setzen. Die Bundeswehr braucht nach ih-
und Großbritannien einerseits und der deutsch-fran-
rem Aufbau eine Zeit der Konsolidierung, der Aus-
zösischen Freundschaft andererseits. Eine solche
bildung der Offiziere und Unteroffiziere und auch
Alternative wäre absurd, und wir sollten alles ver-
der Mobilisierung der Reserven und der Organisie-
meiden, was uns in diese Wahlpflicht drängen
rung der territorialen Verteidigung. Wir haben in
könnte. Deutsch-französische Freundschaft, europä-
der Vergangenheit unser Hauptaugenmerk primär
ische Zusammenarbeit — auch mit Großbritannien
auf den Aufbau der mobilen Verbände, die wir der
und den skandinavischen Staaten —, atlantische
NATO zur Verfügung stellten, gerichtet und dabei
Partnerschaft sind allesamt Kinder gleichen freiheit-
zu sehr die territoriale Verteidigung, auch die Orga-
lichen Geistes und keine Gegensätze. Es wäre im
übrigen leichtfertig, in unserer Lage das deutsch- nisation der Reservisten, vernachlässigt. Wir haben
amerikanische Verhältnis irgendwie in Frage zu jetzt schon etwa 400 000 junge Männer, die bereits
stellen. Denn die Vereinigten Staaten sind die Alter- die 12- oder 18monatige Wehrpflichtzeit hinter sich
native zu dem großen Block der kommunistischen haben. Es fehlt aber für diese Reservisten die Orga-
Bedrohung. Mehr denn je ist die Freiheit in Europa nisation in der Heimatverteidigung, insbesondere
von der Garantie der Vereinigten Staaten abhängig. in einem tiefgestaffelten Abwehrsystem gegen mög-
Die Vereinigten Staaten haben ausschließlich den liche, mit konventionellen Waffen geführte An-
griffe.
ersten und den zweiten Weltkrieg entschieden. Von
ihnen allein hängt die Garantie unserer Freiheit und Die Frage der strategischen Konzeption im Rah-
unseres Rechts ab. Aber auch die Vereinigten Staa- men der NATO wird ja den Verteidigungsausschuß
ten wissen, daß sie ohne Europa in eine tödliche und auch dieses Haus beschäftigen. Herr Kollege
Gefahr kämen. Denn geht Europa an den Kommu- Ollenhauer hat recht, wenn er sagt, daß es zweck-
nismus verloren, ist auch Afrika nicht mehr zu hal- mäßig ist, diese Frage heute nicht auszuweiten, um
ten. Die Vereinigten Staaten und Europa befinden dem neuen Verteidigungsminister Gelegenheit zu
sich in einer wechselseitigen Schicksalsgemeinschaft, geben, sich in diesem Ressort erst einmal einzuar-
von dem strategischen Potential ganz zu schweigen. beiten.
Während die Vereinigten Staaten über eine Atom-
schlagkraft von 50 000 Explosionskörpern verfügen, Die Bundesregierung hat sich in ihrer Regierungs-
die sie durch Raketen, Flugzeuge der strategischen erklärung auch zur Berlin- und Deutschlandfrage
Bomberflotte und auf andere Weise ins Ziel brin- und zu den Äußerungen des sowjetischen Minister-
gen können, verfügt Großbritannien über 75 und präsidenten auf dem 6. SED-Parteitag geäußert. Wer
Frankreich über 5 Sprengsätze. Allein dieses reali- von dem 6. SED-Parteitag in Ostberlin eine Ent-
stische Bild der Abschreckung zwingt uns, nichts in stalinisierung — etwa eingeleitet durch den Rück-
Frage zu stellen, nichts zu diskutieren, was sich be- tritt des Planungschefs Mewis — erhofft hatte,
währt hat: nämlich die atlantische Gemeinschaft. mußte enttäuscht werden. Auch das neue SED-
Zentralkomitee setzt sich in der Hauptsache aus
(Beifall bei der FDP.) den alten bekannten Stalinisten zusammen.
Die Freie Demokratische Partei hat, seinerzeit
Trotz der Enttäuschungen, trotz auch der harten
ebenfalls als Regierungspartner, dem Beitritt zum
Worte, die der sowjetische Ministerpräsident
Nordatlantischen Bündnis zugestimmt. Sie hat auch
Chruschtschow sowohl in Berlin wie in seiner jüng-
die Konsequenzen innerstaatlicher Art aus diesem
sten Note an uns richtete, sollten wir nicht das Be-
Bündnis gezogen und lediglich in einer Frage sich
mühen um die Einheit Deutschlands aufgeben. Wir
der Stimme enthalten, bei dem Wehrpflichtgesetz,
haben bereits am 1. Oktober 1958 in diesem Hause
weil wir glaubten, daß der Zeitpunkt für eine Wehr-
erkannt, daß auch die Wiedervereinigungspolitik
pflicht noch nicht gekommen sei und gewisse Kader-
sich den geänderten Zeitverhältnissen anpassen
vorbereitungen erst einmal anlaufen sollten, und
müsse, als wir seinerzeit feststellten, daß freie Wah-
weil wir die umfassendere allgemeine Verteidi- len nicht am Beginn der Wiedervereinigung stehen
gungspflicht aller Bürger für moderner hielten und
würden, sondern am Ende eines Wiedervereini-
noch halten als die eng begrenzte, aus der Vergan-
gungsprozesses in Phasen, gewissermaßen als Krö-
genheit übernommene Wehrpflicht, nach der heute
nung unserer Bemühungen durch Inanspruchnahme
nur jeder Zehnte zum Wehrdienst einberufen wer-
des Selbstbestimmungsrechts des ganzen deutschen
den kann, aus dem Limit heraus, das wir uns selbst
Volkes. Eine Wiedervereingiung uno acto durch die
in den Brüsseler Verträgen gesetzt haben.
freien Wahlen im ersten Stadium, wie wir sie noch
Der Bundeskanzler erwähnte, daß es aus dem in den ersten Jahren dieses Bundestages vertraten,
Nichts gelungen sei, trotz schwerer psychologischer ist heute nicht mehr möglich. Die Wiedervereini-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2613
Dr. Mende
gung Deutschlands wird ein langfristiger Prozeß des Mauer in Berlin und der Stacheldrahthindernisse an
Zusammenwachsens der getrennten Teile Deutsch- der Zonengrenze, natürlich in einem langfristigen,
lands sein, und am Beginn dieses Prozesses werden schwierigen Prozeß.
möglicherweise Klärungen im Rahmen der Abrü-
Aber das Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht
stung, Klärungen im Rahmen der Vereinbarung der
allein tut es nicht. Nostra res agitur! Wir müssen uns
Siegermächte stehen, Klärungen, die sich aus der
auch bemühen, dem Willen des deutschen Volkes
debellatio, aus der kriegerischen Niederwerfung
sichtbar vor aller Welt Ausdruck zu geben. Mir
Deutschlands, und der capitulatio der deutschen
scheint, daß die bisherige Gestaltung des Tages der
Wehrmacht ergeben, Fragen, die der Präsident die-
nationalen Einheit, des 17. Juni 1953, diesen Be-
ses Hauses in seiner Erklärung am 30. Juni 1961
mit der Billigung aller drei Fraktionen hier be- mühungen des deutschen Volkes nicht mehr ent-
kanntgab. spricht und daß dieses Haus prüfen sollte, ob es nicht
durch eine Novelle zu diesem Gesetz, das das Haus
Wir begrüßen die erneute Forderung der Regie- damals beschloß, möglich ist, diesen Tag der Einheit
rung nach dem Selbstbestimmungsrecht, und wenn es umzugestalten zu einer Demonstration des deutschen
noch so lange dauern mag. Wir sollten nicht die Volkes im freien Teil. Wir sollten nicht mehr feiern,
Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht zurück- sondern an diesem Tage arbeiten, die Veranstaltun-
stellen und uns sagen lassen, dies sei doch nur noch gen auf den nächsten Sonntag verlegen,
ein Schlagwort. Das Selbstbestimmungsrecht ist die
Grundlage für das Zusammenleben der Völker dieser (Beifall bei den Regierungsparteien)
Erde; es ist ein wesentlicher Bestandteil der Verein- und das deutsche Volk sollte freiwillig den Erlös
barungen der Vereinten Nationen. dieses Arbeitstages in eine nationale Opferspende
(Beifall bei den Regierungsparteien.) einzahlen zur Linderung der durch die Teilung
Wir fordern für Deutschland nicht mehr und nicht Deutschlands noch täglich entstehenden menschlichen
weniger als jenes Recht, das gegenwärtig jungen Not. Hier böte sich dem Kuratorium Unteilbares
Völkern in Asien und Afrika zugestanden wird, Deutschland eine neue und nach dem 13. August 1961
nämlich ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen aktuellere Aufgabe, als sie der Tag der Einheit heute
und kulturellen Verhältnisse in eigener Verantwor- am 17. Juni zu bieten pflegt.
tung frei zu regeln. Die Welt soll wissen — und (Beifall bei den Regierungsparteien.)
darin stimmen alle drei Parteien dieses Hauses über- Meine Kollegen, wer Kritik übt, muß auch bereit
ein —, daß das deutsche Volk, daß insbesondere die sein, Selbstkritik zu üben. Dieses Haus hat seit der
heranwachsende Jugend sich niemals mit der Tei- Wahl des Bundespräsidenten im Sommer 1959 dar-
lung Deutschlands und mit dem Verzicht auf das auf verzichtet, sich in Berlin zu versammeln. Es sind
Selbstbestimmungsrecht abfinden werden. zwar die Fraktionen hintereinander in Berlin ge-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) wesen, die Regierung, der Bundesrat. Dieses Haus
sollte auch wieder durch eine Sitzungswoche in Ber-
Es genügt jedoch nicht, in der Frage der Wieder- lin vor aller Welt dokumentieren, daß wir uns mit
vereinigung immer nur die materiellen Verhältnisse Berlin und seiner Not solidarisch fühlen.
der wechselseitigen Produktionen, die Lebensver-
hältnisse in der Sowjetzone darzulegen und sie zu (Beifall bei der FDP.)
beklagen. Die Frage der Wiedervereinigung wird Lassen Sie mich nun zu der Frage der Innenpolitik
im wesentlichen auch eine Angelegenheit der geisti- übergehen, die ich auch nur in den Hauptmarkie-
gen Auseinandersetzung unseres Volkes und der rungspunkten behandeln möchte, weil die Sprecher
Mobilisierung geistiger, nicht materieller Kräfte sein. des Nachmittags Gelegenheit haben sollen, in die
(Beifall bei der FDD.) Einzelheiten einzutreten.
Wir Freien Demokraten sehen es als eine neu ge- Es ist hier von der Ermittlung der Bundesanwalt-
stellte Aufgabe für den politischen Liberalismus an, schaft wegen des Verdachts des Landesverrats und
in dieser Auseinandersetzung geistige Antithese zu Geheimnisverrats gesprochen worden. Man kann
sein gegen alle Formen der Bevormundung, der nicht darauf verzichten, auf diese Frage hier einzu-
Machtanmaßung, der Unterdrückung der Freiheit gehen, weil ja an dieser Frage sich dann eine Regie-
durch den Kollektivismus in allen seinen Er- rungskrise entwickelte, die zur Regierungsumbil-
scheinungsformen bis zum Kommunismus Mos- dung führte. Die Objektivität gebietet aber, Herr
kauer oder Pekinger Prägung. Eine Möglichkeit, nach Kollege Ollenhauer, festzuhalten, daß die erste Reak-
vorn weisende Wiedervereinigungspolitik zu trei- tion — und Sie selbst waren Zeuge — am 29. Okto-
ben, hat der Deutsche Bundestag in der Entschlie- ber 1962 vormittags im Bundeskanzleramt bei einer
ßung vom 12. Oktober 1962 bekanntgegeben. Diese Sitzung des Bundeskabinetts unter Teilnahme der
Entschließung appelliert an die Vier Mächte, eine drei Fraktionsvorsitzenden aus der Regierungskoali-
ständige Deutschlandkonferenz im Range stellver- tion gekommen ist und es nicht des Anstoßes der
tretender Außenminister oder Botschafter mit dem Opposition bedurft hat, gewisse Verfahrensmängel
Sitz in Berlin einzurichten. Unter dieser ständigen aufzuklären und entsprechende Konsequenzen dar-
Deutschlandkonferenz der Vier könnten sich gesamt- aus zu ziehen.
deutsche technische Kommissionen für Wirtschaft, (Beifall bei der FDP.)
Verkehr, Handel, Sport und Kultur bilden. Es wäre Gewiß, die Opposition hat sich dann insbesondere
ein Anfang, ein Ingangsetzen des Abbaues der in der Fragestunde um die Aufklärung bemüht. Der
2614 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Dr. Mende
Abschlußbericht, den der Bundeskanzler angefordert werkschaftsbundes Regierung, Parlament und Frak-
hatte, liegt vor. tionen dieses Hauses Antrittsbesuche machte, um
Wir glauben, Herr Kollege Ollenhauer, daß die damit zu dokumentieren, daß der Souverän unserer
Bundesregierung durch diese Regierungskrise, die Demokratie das Parlament ist und ein loyales Ver-
zur Regierungsumbildung führte, gestärkt wurde. Sie trauensverhältnis zwischen dem Parlament und den
ist nicht nur heute frei von gewissen personellen auf Grund des Koalitionsrechtes entstandenen Inter-
Belastungen, sondern auch die deutsche Öffentlich- essenverbänden zustande kommen muß. Wir sind
keit hat durch die Vorlage des Berichtes erkannt, daß erfreut über aus dem Deutschen Gewerkschaftsbund
das Wesenselement einer parlamentarischen Demo- und aus der Deutschen Angestelltengewerkschaft in
kratie die Kontrolle auch .der Organe dieses Staates den letzten Wochen zu vernehmende Äußerungen,
durch die Öffentlichkeit ist. Wir wissen jetzt wohl, daß man bezüglich der Lohnkämpfe der nächsten
wo die Amtshilfe beginnen sollte und wo möglicher- Zeit auf die Wettbewerbslage der deutschen Indu-
weise die Amtsanmaßung die Konsequenz war. Aber strie, insbesondere der Exportindustrie, Rücksicht
es ist doch ein positives Element, daß wir darüber in nehmen wolle und daß man das Problem einer frei-
unserem Staate offen sprechen und nicht gewillt willigen Schlichtung diskutieren wolle.
sind, so etwas mit dem Mantel einer Koalitionskum- Die Freie Demokratische Partei bejaht die Ge-
panei zuzudecken. werkschaften. Sie muß sie auf Grund des Koali-
(Beifall bei der FDP.) tionsrechtes bejahen, denn das Koalitionsrecht ist
ein liberales Element. Sie bejaht die Tarifauto-
Die Bundesregierung hat sich sehr deutlich in nomie und denkt gar nicht daran — wie uns gele-
einer Mahnung an das Parlament um die baldige gentlich unterstellt wurde —, diese durch Zwangs-
Verabschiedung der Strafrechtsreform bemüht. Wir maßnahmen und Zwangsschlichtung einzuengen.
begrüßen die Mahnung des Bundeskanzlers, nach Aber alle legalen Interessenkämpfe in unserer De-
zehnjähriger Vorbereitung nunmehr an die Behand- mokratie müssen sich am Gemeinschaftsvorbehalt
lung der Strafrechtsreform heranzugehen, die vom unseres Grundgesetzes orientieren: die Gemein-
Kollegen Stammberger eingebracht und vom Kolle- schaft des ganzen Volkes muß den Vorrang vor dem
gen Bucher erneut dem Parlament zur baldigen Ver- Wohl einzelner Interessenverbände haben.
abschiedung anempfohlen wurde. Wir glauben, daß
es gut ist, hier entsprechende Gremien zu schaffen, (Beifall bei der FDP.)
keine Unterausschüsse, sondern vielleicht ein beson-
Wir hören die Botschaft wohl, daß im Jahre 1963
deres Gremium. Wenn wir der Auffassung folgten,
keine Steuererhöhungen beschlossen werden sollen,
die in einer Darstellung einer großen Zeitung ge-
äußert wurde, der Bundestag habe nicht genügend und uns fehlt nicht der Glaube. Wir glauben daran,
Juristen, um die Strafrechtsreform noch in dieser daß bei diner sehr klugen Finanz- und Sozialpolitik
Wahlperiode zu verabschieden, dann wäre das in der neue Steuererhöhungen in diesem Jahr nicht nötig
Tat eine peinliche Selbsteinschätzung dieses Parla- sind. Nicht mit einer Ausweitung des Steuervolu-
ments. mens, sondern mit einer Eindämmung der Ausga-
(Beifall bei der FDP.) ben des Staates fängt man eine kluge Haushaltspoli-
tik an.
Wir begrüßen auch, daß die Haushaltspolitik der (Beifall bei, der FDP.)
umgebildeten Bundesregierung auf dem gleichen
Wege fortgeführt werden soll, der das erste Jahr Allerdings geben wir die Hoffnung nicht auf, daß
markiert hat: die Eindämmung der Ausgaben der es bei der Umsatzsteuerreform gelingt, Verzerrun-
öffentlichen Hand hier im Bund, aber ebenso in gen zu beseitigen und gewisse Ungerechtigkeiten,
Ländern und Gemeinden, die Erhaltung der Kauf- die die Mittelschichten schwer belasten, auszu-
kraft unserer D-Mark und die Bildung von Eigen- räumen.
tum. Ich bin froh, daß der Herr Bundeskanzler in Die Bundesregierung hat den Dank an Bundespost
seiner eigenen Familie vor kurzer Zeit die gleiche und Bundesbahn zum Ausdruck gebracht. Diesem
Erfahrung machen konnte wie manche andere Bau- Dank können wir uns nur anschließen, und diesem
sparer schon früher. Die gegenwärtige Entwicklung Dank tun die Verluste einzelner Postsendungen die-
auf dem Baumarkt und Hand in Hand damit — ses Hauses auch keinen Abbruch. Aber ich glaube,
durch die Lohn- und Preisbewegung — die Ver- wir sollten uns in der Würdigung der Leistungen
minderung der Kaufkraft unserer D-Mark ist ein in diesem harten Winter nicht nur Bundespost und
Betrug an den Millionen Bausparern, die die Hoff- Bundesbahn zuwenden. Die Bundeswehr hat ohne
nung haben, auf dem Wege über die Bausparver- große propagandistische Trommel insbesondere im
träge eines Tages zu Eigentum zu kommen. Rhein-Main-Gebiet zur Versorgung mit Heizöl bei-
getragen. Die Lastkraftwagen und Lastkraftwagen-
(Beifall bei der FDP.) fahrer haben auf den deutschen Straßen nicht minder
Es gilt zu verhindern, daß das Bausparwesen einen der allgemeinen Güterversorgung gedient. Insbe-
so schweren Rückschlag infolge einer bedauerlichen sondere sollten wir unser Augenmerk rechtzeitig
konjunkturellen Entwicklung erfährt. den Schwierigkeiten zuwenden, die die 'deutsche
Binnenschiffahrt als Folge dieses harten Winters in
Der Appell an die Tarifpartner soll nur kurz den nächsten Monaten belasten werden.
unterstrichen werden. Es war eine noble Geste und -
eine Geste staatspolitischer Verantwortung, daß der Zur Agrarpolitik nur einige wenige Bemerkungen.
neugewählte Bundesvorstand des Deutschen Ge Es ist erschütternd, zu hören, daß die deutsche Land-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2615
Dr. Mende
wirtschaft mit 14 1 /2 Milliarden DM verschuldet ist. Volksentscheiden gegeben hat. Wir sollten uns
Die deutsche Landwirtschaft hat genauso wie jede glücklich schätzen, daß wir in der Zeit der Massen-
andere Produktion Anspruch auf kostendeckende kommunikationsmittel keine plebiszitären Entschei-
Preise. Das ist die erste Forderung, und erst in dungen kennen. Mir ist die parlamentarische Demo-
zweiter Linie sollte man dann die Frage der zins- kratie mit ihren Balancen und Sicherungen wesent-
verbilligten langfristigen Kredite prüfen. Die Erhal- lich sympathischer als die Fernsehdemokratie mit
tung eines lebensfähigen, gesunden Bauerntums ist allen sich daraus ergebenden Konsequenzen emotio-
für uns nicht nur eine Frage der Erhaltung eines neller Entscheidungen.
Teils unserer Ernährungsbasis, sondern wir wollen (Beifall bei der FDP und in der Mitte.)
ein Bauerntum auch aus gesellschaftspolitischer
Sicht erhalten, weil der freie Bauer auf freiem Grund Die Freie Demokratische Partei hat als Koalitions-
einer der besten Garanten einer freiheitlich-demo- partner in loyaler Zusammenarbeit auch manchmal
kratischen Ordnung und ein erbitterter Gegner kom- in manchem personellen und sachlichen Gegensatz
munistischer Entwicklungen ist. fast eineinhalb Jahre in dieser Regierung mitgear-
beitet. Wir haben die Absicht, Herr Kollege Ollen-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) hauer und Herr Kollege Wehner, und auch die
In ,der Sozialpolitik will ich auf das Sozialpaket Hoffnung, daß diese Zusammenarbeit der Koalition
nicht eingehen. Aber mir scheint, daß die Kriegs- auch über den Herbst 1963 hinaus in von Monat zu
opfergesetzgebung dem Augenmerk dieses Hauses Monat sich verbessernder Atmosphäre vonstatten
empfohlen werden müßte und daß wir uns die Ver- gehen wird.
abschiedung des Zweiten Neuregelungsgesetzes bal- (Beifall bei der FDP. — Zuruf von der SPD:
digst vornehmen sollten genauso wie die Verände- Wunderbar!)
rung der Stichtage, die Frage des Lastenausgleichs
Was wir Freien Demokraten dazu beitragen kön-
für die älteren Menschen und die Aufwertung pri-
nen, wollen wir tun. Eine Koalition ist eine Partner-
vater Rentenversicherungen. Personenschäden gehen
schaft guten Willens auf Gegenseitigkeit und der
für uns vor Vermögensschäden, und gerade die
wechselseitigen Bereitschaft zum Kompromiß. Koali-
Kriegsopfer haben von uns mehr zu erwarten als
tion heißt nicht Gleichschaltung und Verzicht auf
nur eine soziale oder karitative Betreuung. Ich emp-
das belebende Element geistiger Auseinanderset-
fehle dem neuen Bundesverteidigungsminister, ein-
zungen.
mal die Verzerrungen zu prüfen, die sich zwischen
der Versorgung der alten Soldaten, der Kriegsbe- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
schädigten, Witwen und Waisen und der heutigen
Versorgung der Bundeswehrsoldaten im Unglücks- Vizepräsident Dr. Schmid: Die Fraktionen
fall, im Todesfall im Vergleich mit der Unfallver- haben vereinbart, nach der Rede des Kollegen
sicherung ergeben. Die Versorgung der Hinterblie- Dr. Mende eine Pause eintreten zu lassen und heute
benen und Opfer des Krieges und in der Bundes- nachmittag um 14.30 Uhr fortzufahren. Als erster
wehr wird den Ansprüchen eines sozialen Rechts- wird dann Herr Abgeordneter Schmücker das Wort
staates gegenwärtig in keiner Weise gerecht. erhalten.
Einige Bemerkungen zur wissenschaftlichen For- Ich unterbreche die Sitzung.
schung. Es sind hier einige Kompetenzsorgen auf-
getreten bezüglich der Zuständigkeiten dieses neuen
Ministeriums. Ich glaube, wir sollten uns nicht über
die Frage der Kompetenzschwierigkeiten verbrei- (Unterbrechung von 12.52 bis 14.31 Uhr.)
tern, sondern dem neuen Minister Gelegenheit ge-
ben, Versäumtes auf dem Gebiet der wissenschaft-
lichen Forschung und auch der Koordinierung unse-
res Erziehungswesens nachzuholen, in enger Zu-
Vizepräsident Dr. Dehler: Wir fahren in der
Sitzung fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete
sammenarbeit mit der Kultusministerkonferenz der
Schmücker.
Länder.
Der französische Staatspräsident de Gaulle hat,
wenn Pressemeldungen stimmen, die deutsche Ver- Schmücker (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
fassung kritisiert. In der Tat, ich kann mir manches Damen und Herren! So will es ja wohl die Übung
vorstellen, was an unserem Grundgesetz reformbe- dieses Hauses, daß man seine Ausführugen mit ein
dürftig wäre. Aber waren es nicht gerade franzö- paar Vorbemerkungen beginnt. Vielleicht dienen
sische Einsprüche, die damals ein etwas stärkeres sie auch dazu, es denjenigen, die noch kommen wol-
Gewicht auf die unitarische Seite verhindert und len, zu ermöglichen, bei der Debatte, dann, wenn
uns einen manchmal übersteigerten Föderalismus es um das Sachliche geht, dabei zu sein. Die erste
aufgezwungen haben? Vorbemerkung ist dann meist eine Zensur des Vor-
redners. Ich versage es mir, in dieses Spiel einzu-
(Beifall bei der FDP.) steigen; denn ich weiß ja nicht, ob mir mein Referat
Aber diese Veränderung meint der französische gelingt. Im Bundestag ist es ja nicht anders als in
Staatspräsident gar nicht. Er beklagt, daß der Parla- den Versammlungen: Das, was man sachlich zu sagen
mentarische Rat kein Plebiszit eingeführt habe, son- hat, wissen die Leute sowieso, und es kommt nur
dern der parlamentarischen Demokratie den Vorzug darauf an, wie man es sagt. Das gelingt einem nicht
vor plebiszitären, vor Volksentscheidungen und jedesmal in gleicher Weise.
2616 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Schmücker
Die zweite Bemerkung, die ich machen wollte: Volk, seine Parlamente und Regierungen von den
Leider ist der Herr Bundeskanzler noch nicht da; ich Kommunen über die Länder bis zu uns, haben das
kann es ihm ja nachher erzählen. Er war so humor- rechte Maß für diese Politik noch nicht gefunden.
voll, seinen Ausführungen selbst ein Prädikat zu
geben, und Herr Kollege Ollenhauer sagte dann, In seiner Regierungserklärung hat der Herr Bun-
deskanzler gesagt, daß er angesichts des in der
der Herr Bundeskanzler habe möglicherweise mit
nächsten Woche zu erstattenden Wirtschaftsberichts
Absicht so geredet. Ich bin dieser Auffassung nicht.
keine längeren Ausführungen zur wirtschaftspoli-
Herr Bundeskanzler — ich glaube, wir können es
tischen Lage machen wolle. Meine Freunde von der
uns auch gegenseitig sagen —, ich habe den Ein- CDU/CSU-Fraktion sind damit einverstanden, daß
druck, daß wir der inneren Politik nicht immer den
wir die Fragen der engeren Wirtschaftspolitik bei
Rang zukommen lassen, den sie verdient, daß wir Vorlage des Berichts behandeln. Das gilt auch für
doch hin und wieder unter einer gewissen Überbe- die Agrarpolitik, die eine Spezialdebatte im Zu-
tonung der Außenpolitik leiden. sammenhang mit dem Grünen Bericht erfordert.
Meine Damen und Herren, ich weiß sehr wohl, Aber das in der Regierungserklärung angeschnit-
daß in keinem Bereich der Politik die Aufgabenstel- tene und von mir aufzugreifende Thema geht über
lung, und zwar die umfassende Aufgabenstellung, den Rahmen einiger Ressorts hinaus. Ich möchte
so deutlich wird wie in der Gestaltung der aus- sogar behaupten, daß bei aller Anerkennung ihrer
wärtigen Beziehungen. Aber liegt nicht in der Aner- Wichtigkeit .die Fragen der Wirtschaftspolitik in
kennung dieses Vorrangs, dieses Primats der Außen- engerem Sinn wie das Kartellrecht oder die Frage
politik auch eine gewisse Gefahr, daß man eben zu des Warentests oder sogar die Konzentrations-
leicht geneigt wird, die übrigen Probleme zu unter- enquete nicht zur ersten Dringlichkeitsstufe ge-
schätzen? hören.
Wir haben es heute morgen auch wieder erlebt, Nun verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Die
daß jeder sofort und selbstverständlich im Grundsatz genannten Dinge sind sehr wichtig, und es gibt
bereit ist, beispielsweise die Unteilbarkeit von natio- gar keinen Grund, sie zu verzögern. Aber die
naler und persönlicher Freiheit, die Unteilbarkeit lebensnotwendige Stärkung unserer Wirtschaft,
von sozialer, wirtschaftlicher und militärischer ohne die wir unsere politischen Aufgaben nicht
Sicherheit anzuerkennen; aber wenn es dann um die werden erfüllen können, ohne die auch die Wirt-
Realisierung geht, sieht das Bild leider recht oft schaftskraft selber nicht wachsen kann, geht in Auf-
anders aus. gaben hinein, die — ich sagte es schon — weit
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) über die engen Bereiche einzelner Ressorts hinaus-
reichen. Es geht hier im wesentlichen um folgende
Es ist fraglos ein großer Gewinn, daß wir in diesem vier Punkte — auch ich möchte keine Rangordnung,
Bundestag nicht mehr wie in den ersten zehn Jahren wenn ich sie in folgender Reihenfolge aufzähle —:
außen- und verteidigungspolitisch so unversöhnlich 1. die Gestaltung der öffentlichen Haushalte, 2. die
kontrovers diskutieren; aber ausreichend ist das Fortentwicklung unseres Steuer- und Finanzrechts,
nicht. Es genügt nicht, sich zur Wiedervereinigung, 3. unsere Sozialpolitik und 4. nicht zum geringsten
zu Berlin, zu einem verstärkten Verteidigungsbeitrag die Tarifpolitik. Alle diese Fragen können nicht
zu bekennen. Dieses Bekenntnis wird erst glaub- nur nach innerdeutschen Gesichtspunkten behandelt
-würdig, wenn man bereit ist, wirtschafts-, finanz werden, sie müssen auch nach der Entwicklung in
und sozialpolitisch, eben im gesamten politischen Be- der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und nach
reich, die Konsequenzen zu ziehen. den Bedürfnissen, die sich aus der übrigen Außen-
wirtschaft ergeben, behandelt werden.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Aber ich möchte noch einmal betonen: Es kommt
Wer dazu nicht bereit ist, meine Damen und Herren, mir hier nicht darauf an, eine Spezialdebatte zu ent-
dessen Worte sind hohl. fesseln, sondern den Zusammenhang herzustellen
mit der Tatsache, daß hohe Ausgaben befriedigt
Nun bin ich keineswegs der Meinung, daß die werden müssen, und der Tatsache, daß die Mittel
Abzweigung wirtschaftlichen Potentials für unsere dafür erarbeitet werden müssen. Ich glaube, wenn
nationalen Aufgaben, für die Verteidigung oder für wir die Bereitschaft zu diesen Ausgaben nicht mit
die Entwicklungshilfe oder auch für die Überwin- konkreten Vorschlägen stützen, sind wir auch in
dung der Übergangsschwierigkeiten in der Euro-
unseren Grundsatzerklärungen nicht ausreichend
päischen Wirtschaftsgemeinschaft eine selbstlose glaubwürdig.
Opferleistung der deutschen Wirtschaft darstellen
würde. Das ist nichts anderes als die Sache einer Zunächst also zur Gestaltung der öffentlichen
vernünftigen Gegenseitigkeit. Ohne eine gute Poli- Haushalte! Herr Kollege Ollenhauer hat uns davor
tik im Inneren wie im Äußeren kann auch idle Wirt- gewarnt, dieses Problem immer wieder in den Vor-
schaft nicht gedeihen, und ohne eine starke Wirt- dergrund zu stellen. Aber, meine Herren von der
schaftskraft kann die Politik ihre besten Ideen nicht SPD, die Summe der öffentlichen Haushalte hat 100
verwirklichen. Und sprechen wir es offen 'aus: Um Milliarden überschritten. Daran erkennen wir, wel-
die Verwirklichung dieser ganz einfachen Wahrheit che Bedeutung die öffentlichen Haushalte haben.
— sicher ist das ein Gemeinplatz; aber man kann Wenn ich einmal aus der anderen Kiste ein Wort
nicht ganz darauf verzichten, hin und wieder darauf herausnehmen darf, möchte ich sagen: Die öffent-
hinzuweisen — ist es in 'der Bundesrepublik noch liche Hand sind die marktbeherrschenden Unterneh-
nicht zubest bestellt. Wir alle, das ganze deutsche men schlechthin. Wenn Sie die Beziehung des Ein-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2617

Schmücker
zelnen zu dieser Summe bei 25 Millionen Beschäf- Meine Damen und Herren, wie sähe es wohl aus,
tigten nehmen, stellen Sie fest, daß auf den Kopf wenn wir im Herbst die Nominallösung gemacht
dieser Beschäftigten eine Leistung von 4000 DM hätten und alles heute noch zusätzlich verkraften
entfällt. Wenn Sie die Lohnsumme des Haushalts müßten! Wir sollten aber nach den Verhältnissen
der öffentlichen Hand einschließlich Post und Bahn des heutigen Tages diskutieren und nicht in ver-
nehmen, dann macht sie über ein Fünftel der Ge- gangenen Dingen, die heute nur noch historische Be-
samtlohnsumme aus. deutung haben, herumkramen.
Daß diese gewaltige Macht am Markt das Markt- Wenn wir eine antizyklische Haushaltspolitik auf
geschehen sehr stark beeinflußt, kann doch niemand allen Ebenen unter dem guten Beispiel des Bundes
bestreiten. Daß wir, die wir einen Teil kontrollie- verlangen, dann wissen wir sehr wohl, daß die Bun-
ren, genauso wie die Parlamente von Ländern und desregierung keine ausreichenden Vollmachten hat,
Gemeinden dazu verpflichtet sind, gerade die Haus- um eine solche Politik durchzusetzen. Einesteils bin
halte auf das öffentliche Wohl auszurichten, daran ich sogar froh, daß sie diese Vollmachten nicht hat;
kann doch wohl kein Zweifel bestehen. Nun haben denn wenn es zu schwierig wird, weicht man ja allzu
wir es aber mit einer ganz merkwürdigen Erschei- leicht und allzu gern in dirigistische Maßnahmen aus.
nung zu tun. Wenn eine einzelne Person zum eige- Es ist besser, daß wir versuchen, uns gegenseitig zu
nen Vorteil etwas Geschäftliches tut, dann kommen überzeugen, und daß wir als politische Parteien, die
noch gewisse Bedenken, dann sind noch sehr viele nicht nur in Bonn, sondern auch in den Ländern und
Skrupel vorhanden, sich über Gebote und Gesetze Gemeinden vertreten sind, jeweils eine einheitliche
hinwegzusetzen. Aber in dem Augenblick, wo der Linie vertreten. Als wir in Niedersachsen einen sehr
einzelne für eine größere Gemeinschaft handelt, interessanten Streit mit den Rathausparteien hatten,
sind diese Skrupel viel geringer. Es kommt darauf haben wir von unserer Seite immer wieder darauf
an, daß wir mit gutem Beispiel vorangehen — das hingewiesen, daß es doch gerade der Sinn der poli-
will ich gar nicht bestreiten; ich will es sogar unter- tischen Parteien im kommunalen Bereich sei, die poli-
streichen — und verlangen, daß die öffentliche Hand tischen Vorstellungen von der obersten Ebene bis
sich auf allen ihren Ebenen den Möglichkeiten des zur kommunalen einheitlich zu verwirklichen, damit
Marktesnpß,dmigröewtschaf- sich keiner aus der Gesamtverpflichtung heraus-
lichem Verständnis an die Dinge herangeht. lösen könnte. So, meine ich, sind wir bei dieser
Frage als politische Parteien insgesamt angespro-
Nun werden Sie dazu sagen: Was hat 'das mit chen, ob es uns gegen den verständlichen Egoismus
deinem Thema zu tun? Nun, ich meine, sehr viel; des Bundes, der Länder und der Gemeinden gelingt,
denn die Kostenverteuerungen — ein anderes Wort diesen Zusammenhalt in der Haushaltspolitik her-
für die nicht ausgenutzte Wirtschaftskraft — rühren zustellen.
ja zum großen Teil daher, daß in geradezu unsin-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ganz richtig!)
niger Weise teilweise die Kapazitäten am Markt
überfordert werden. Was nützt es zum Beispiel, Ich wäre sehr begierig, von der Sozialdemokratie
wenn die Bundesregierung Bundesmittel zögerlich zu hören, wie sie dazu steht. Herr Kollege Deist, Sie
herausgibt, um einen langsameren Ablauf zu er- sind ja im Januar äußerst aktiv und produktiv ge-
reichen und die bedachten Stellen dieses Unter- wesen,
nehmen durch Zwischenfinanzierungen wieder auf- (Abg. Dr. Deist: Ich bemühe mich!)
fangen!
und ich habe, wo ich es zu Gesicht bekam, alles
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) gelesen, um festzustellen, in welchem Grade der
Oder was nützt es, wenn wir festlegen, daß Ver- Annäherung wir uns befinden und welche neuen
waltungsbauten nicht oder nur in beschränktem Aus- Liebeserklärungen Sie sogar einigen großwirtschaft-
maß errichtet werden sollen, und sehr schlaue Aus- lichen Verbänden gewidmet haben. Ich glaube Ihnen
leger dieses Gesetzes dann feststellen, daß beispiels- durchaus, daß wir hier weitgehend einer Meinung
weise ein Katasteramt ein Kartenhaus und kein sind; aber ich habe auch einige andere Zitate aus
Verwaltungshaus ist! Man baut darauf los und ver- Ihren Reihen vorliegen, aus denen hervorgeht, daß
fälscht so die Begriffe. man gar nicht der Auffassung ist, daß wir hier zu
einer einheitlichen Gestaltung des öffentlichen
Meine Damen und Herren, ich sage noch einmal,
Haushalts kommen sollten. Auf unsere Bitten hin,
daß wir mit gutem Beispiel vorangehen müssen.
hier etwas zu tun, wird uns dann entgegengehalten
Alle die Kritik, die von Ihrer Seite gekommen ist,
— Herr Möller, das waren Sie —, der Bund solle
daß der vorgelegte Bundeshaushalt geradezu ein
lieber zwei Milliarden an die Länder und Gemein-
klassisches Beispiel dafür sei, wie man nicht vor-
den geben, als zwei Milliarden von ihnen zu verlan-
gehen dürfe, trifft nicht den Kern. Ich möchte ein-
gen.
mal wissen, wie Sie reagiert hätten, wenn wir in
diesem Bundeshaushalt bereits Beträge für Gesetze (Abg. Dr. Möller: Das habe ich nie gesagt!)
eingestellt hätten, die noch gar nicht beschlossen Und Herr von Knoeringen sagte im Herbst vor den
sind. Kommunalpolitikern der SPD — so habe ich es
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) schriftlich vorliegen; wenn es nicht stimmte, wäre
Es ist 'doch eine alte Sache, daß so etwas nicht geht. ich froh. Ich habe nicht vor, Zitate vorzulesen und
Andererseits war die tage, als das Stabilisierungs- hinter Zitaten etwas zu verstecken. Es kommt mir
programm verkündet wurde, völlig anders als heute. darauf an, von Ihnen zu hören, ob Sie mit uns der
Inzwischen ist doch etwas geschehen. Auffassung sind, daß wir die Gestaltung der öffent-
2618 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Schmücker
lichen Haushalte im Sinne einer antizyklischen Po- Städte ansehen, fragen Sie sich: Mit welchem Recht
litik gemeinsam durchführen müssen, und ob Sie eigentlich? Wenn Sie sich die Liste der 20 steuer-
bereit sind, die Konsequenzen aus dieser Notwen- stärksten Kommunen in Deutschland ansehen, so
digkeit zu ziehen. Die Konsequenzen aus dieser stellen Sie fest, daß darunter erstaunlicherweise ab-
Notwendigkeit sind fraglos die, daß wir uns ver- gesehen von einer Stadt, die aber atypisch ist, keine
stärkt Sorgen und Gedanken-um die Umgestaltung Stadt aus dem Ruhrgebiet ist.
unseres Steuer- und Finanzrechts machen müssen.
Meine Damen und Herren, Nordrhein-Westfalen
Ich weiß — und ich schließe mich der Kritik voll
hat das stärkste Steueraufkommen auf dem Kommu-
und ganz an —, daß die Kommission schon längst
hätte tätig werden können. Aber was soll anderer- nalsektor, ich glaube, im Schnitt 155 DM pro Kopf
seits eine solche Kommission machen, wenn sie po- der Bevölkerung. Unter den Spitzenstädten ist Nord-
litisch im luftleeren Raum schwebt und gar nicht rhein-Westfalen jedoch kaum zu finden. Sehen wir
weiß, welche Beschlüsse eventuell von den Parteien uns einmal speziell das Ruhrgebiet an. Ich verstehe
überhaupt honoriert werden! Es muß doch von den es — die Bundesregierung hat es ja auch ange-
Parteien auch gesagt werden, wozu sie bereit sind. schnittten —, daß es im Interesse des Ruhrgebietes
notwendig ist, die Frage der Energieplanung zu
Wir haben auf dem Dortmunder Parteitag der lösen. Aber was wird hier deutlich? Das Ruhrgebiet
CDU ausdrücklich festgestellt, daß für uns die Fi- steht mit fast allen seinen Städten am unteren
nanzverfassungsreform eines der wichtigsten An- Ende, unter dem Durchschnitt des kommunalen
liegen ist. Solange wir aber nicht die allgemeine Steueraufkommens. Hier findet also eine Struktur-
Zustimmung dazu haben, also die notwendige Mehr- wandlung statt, die aus dem Bereich selbst getra-
heit dazu nicht haben, schwebt doch eine Kommis- gen wird, während in anderen Bereichen überhaupt
sion im luftleeren Raum. Sie können also diese
keine nennenswerte Eigenleistung erbracht wird.
Arbeit, die trotzdem hätte angelaufen sein können,
So ist es vielleicht zu verstehen, daß das Rhein-
jetzt ganz wesentlich dadurch erleichtern, daß Sie
Main-Becken in den letzten zehn Jahren eine Ver-
sich zu diesem Prinzip bekennen.
zwölffachung der Wirtschaftskraft erfahren hat,
Ich möchte zur Begründung der Notwendigkeit während das Ruhrgebiet im Vergleich damit stag-
dieser Reform noch ein paar weitere Hinweise ge- niert.
ben, und ich darf zwischendurch bemerken, daß ich
hier keine Spezialdebatte entfesseln und mich auch Meine Damen und Herren, ich würde viel lieber
gar nicht zu Einzelfragen dieses Themas äußern als Provinzler die Beispiele der Strukturwandlung
will. Ich möchte vielmehr den Zusammenhang her- aus den Landgemeinden als Folgen der agrarwirt-
stellen zwischen der allgemeinen inneren Politik schaftlichen Verhältnisse bringen. Aber dann würde
und den notwendigen Mehrausgaben. Ich möchte man vielleicht sagen: Du vertrittst hier eine Inter-
also dazu sprechen, wie es uns gelingen kann, die essentenmeinung, eine Wahlkreisauffassung. Ich
Wirtschaftskraft so zu fördern und zu stärken, daß möchte lieber auf dieses Beispiel des Ruhrgebiets
wir in der Lage sein werden, diese Mehrausgaben hinweisen, um darzutun, wie bitter notwendig es
zu leisten. Jede wettbewerbliche Ungleichheit, jede ist, eine Änderung im Interesse der Stärkung der
strukturelle Verschiebung, ja — ich möchte sagen — Wirtschaftskraft herbeizuführen. Damit wir alle in
jede strukturelle ungesunde Entwicklung bedeutet die Lage versetzt werden, die Mehrausgaben, die
immer gleichzeitig eine Kostenverteuerung und eine wir leisten müssen, auch ohne Minderung unseres
Verringerung des wirtschaftlichen Gesamtertrags. Lebensstandards zu leisten, kommen wir um erheb-
Sehen Sie sich beispielsweise die Verhältnisse in liche Reformen nicht herum.
den Kommunen an, dann stellen Sie fest, daß an Ich darf in diesem Zusammenhang ein Wort aus
der Spitze die beiden Autostädte Rüsselsheim und der Regierungserklärung aufgreifen, Herr Bundes-
Wolfsburg stehen. Rüsselsheim hegt bei 1153 pro kanzler, das Sie zur Raumordnung gesagt haben.
Kopf der Bevölkerung, Wolfsburg bei 805, und die Ich bin sehr für diese Raumordnung. Aber ich warne
Landgemeinden — die Landkreise eingerechnet davor, daß man eine Raumordnung mit administra-
krebsen so bei 50 bis 80 herum. Dabei weiß jeder tiven Maßnahmen beginnt, wenn man nicht die
von uns, daß die wesentliche Steuerquelle, die Ge- Grundlagen der Finanzwirtschaft geordnet hat.
werbesteuer, an sich nur in den Gemeinden anfällt,
aber nicht von den Bürgern der Gemeinden gezahlt (Beifall bei den Regierungsparteien.)
wird. Das wird von der breiten Konsumentenschicht Das nützt uns doch nichts, daß wir — ich darf hier
im Bund gemacht. Dadurch entstehen doch Struktur- auf das Beispiel des Hannoverschen Gesetzes hin-
verschlechterungen — ich sage noch einmal —, die weisen — einen Großraum schaffen, der eine Über-
Kostenverteuerungen großen Ausmaßes bedeuten. kommune darstellt, und in der Finanzwirtschaft
Wir müssen diese Dinge bereinigen. noch keine gesunden Verhältnisse haben.
Unsere Großstädte, in denen man nicht teurer (Zustimmung in der Mitte und bei der SPD.)
oder billiger lebt als auf dem Lande, werden ja
praktisch von der Gesamtheit eben über diese Ge- Die beste Raumordnung, die beste Strukturpolitik
werbesteuer finanziert. Ich habe nichts dagegen. ist eine Änderung der Finanzverfassung im Sinne
Aber wenn Sie sich das Ausmaß ansehen und bei- einer möglichst gleichmäßigen Beteiligung am
spielsweise feststellen, daß eine Stadt wie Dort- Steueraufkommen.
mund ein Steueraufkommen hat, das nur halb so (Abg. Dr. Deist: Wem sagen Sie das
groß ist wie das von Stuttgart, und sich dann die eigentlich?)
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2619
Schmücker
— Herr Dr. Deist, ich wäre Ihnen sehr dankbar, Herbstrede — immer wieder auftaucht. Wenn ich
wenn Sie nachher hierherkämen und die Bereitschaft Sie recht verstanden habe, sind Sie der Meinung,
Ihrer Partei zur Durchführung all dieser Maßnah- daß es durch die Art der deutschen Steuergesetz-
men erklärten. Dann hätten wir es nicht mehr nötig gebung, vor allen Dingen durch die degressive Ab-
— wir haben sowieso nicht so gute Leute in der schreibung, zu einer Überinvestition gekommen ist,
Dokumentation wie Sie —, das Material all der an- die letzten Endes nicht rationalisierend wirkt, son-
deren zu sammeln, die sich immer leidenschaftlich dern kostenverteuernd. Ich gebe Ihnen recht, daß
dagegen äußern. das für viele Bereiche der Fall ist, z. B. für den Be-
(Beifall bei der CDU/CSU.) reich, aus dem ich selber komme. Man kann in die-
Meine Damen und Herren, ich möchte, auch ohne sem Bereich gar nicht rationalisieren, ohne gleich-
in eine Sachdebatte einzusteigen, das zweite Steuer- zeitig zu expandieren. Wir sollten Ihnen dankbar
problem, das Problem der Umsatzsteuer, anspre- dafür sein, daß Sie diesen Hinweis gegeben haben.
chen. Hier sind die Dinge ja durch die Brüsseler Ich möchte doch davor warnen — Sie haben sicher
Direktive Gott sei Dank — ich sage das auch mit selbst gar nicht die Absicht gehabt, aber so ist es
einem gewissen Vorwurf — jetzt in Gang gekom- aufgenommen worden —, daß man diese Behaup-
men. Aber was hat sich bei den Beratungen zumin- tung generalisiert.
dest in unserer Fraktion herausgestellt? Daß die (Zuruf.)
Harmonisierung dieser Steuersätze allein gar nicht — Ich sage es aus einem anderen Grund, nicht aus
genügt, daß man das Verhältnis der direkten zu den einem polemischen Grund. Die Behauptung trifft nur
indirekten Steuern im EWG-Raum betrachten muß. einen bestimmten Bereich der deutschen Wirtschaft.
Dabei stellen wir fest, daß wir in Deutschland — Durch diesen Hinweis wird aber etwas anderes deut-
und allein auf Deutschland bezogen halte ich diese lich: daß bei der Begünstigung oder vielleicht nur
Zahl für sehr gesund — einen Anteil der direkten
bei der gerechten Behandlung — das können Sie
Steuern von etwa 56,5% haben. Ich habe die Zah-
auslegen, wie Sie wollen — der Investitionen im
len dem Finanzbericht 1963 Seite 64 entnommen.
Gegensatz dazu der Barmittelbedarf der deutschen
Frankreich liegt bei 43%, Italien bei 36%.
Wirtschaft zu kurz kommt. Der Barmittelbedarf, der
Was geht daraus hervor? Daß alle Pläne, die auf liquide Bedarf ist eigentlich nur ein anderes Wort
der Annahme beruhen, man könne noch ein bißchen für die Lagerhaltung. Wir spüren das gerade in die-
auf unsere Ertragsteuern aufstocken, uns wirtschaft- sen Wochen, in diesem Winter, daß sowohl nach dem
lich in die größten Schwierigkeiten bringen. Denn Prinzip der Marktwirtschaft als auch nach unserer
wenn wir beim grenzüberschreitenden Verkehr für Steuergesetzgebung die Lagerhaltung zu kurz
die indirekten Steuern eine Abgleichung vorneh- kommt. Das führt weiterhin zu einer Verschärfung
men, dann bleibt doch immer noch diese Differenz des Konjunkturablaufs, und die mangelhafte Lager-
der direkten Belastungen. Diese Differenz ist so er- haltung — damit bin ich wieder bei dem roten Faden
heblich, daß es unserer deutschen Wirtschaft schwer- — muß kostenverteuernd wirken.
fallen wird, sich zu behaupten.
Aber im wesentlichen mache ich diesen Hinweis, Wir müssen uns also überlegen, wie wir diese
damit die Länder einmal die Konsequenzen beden- Benachteiligung der deutschen Wirtschaft gegenüber
ken möchten. Wenn nämlich unsere Wirtschaft nicht der Wirtschaft im Ausland beseitigen können. Wir
floriert, dann werden auch sie nicht das Steuerauf- müssen uns das auch deswegen überlegen, weil wir
kommen haben, da sie ja im Steueraufkommen im darauf angewiesen sind, einen noch höheren Effekt
wesentlichen vom Ertrag abhängen. aus der deutschen Wirtschaft herauszuholen, um
unsere gewachsenen Aufgaben bestreiten zu kön-
Wenn man die internationalen Vergleiche zieht,
nen. Gleichzeitig wird aber, glaube ich, mit diesem
dann sieht das Spiel beim Kampf um die Quote
Problem der Kern des sogenannten Mittelstands-
Bund : Länder etwas anders aus. Vielleicht stehen
problems angesprochen. Denn das eigentliche Pro-
wir sogar vor der Notwendigkeit, die Aufteilung
blem im Mittelstand ist doch, wie man den sehr
der Steuerquellen auch im Hinblick auf die Euro-
gestiegenen Kapitalbedarf befriedigen kann.
päische Wirtschaftsgemeinschaft völlig neu zu über-
denken. Damit möchte ich ein paar Bemerkungen Wenn wir also über solche Fragen künftig dis-
zur Einkommen-, Körperschaft- und Lohnsteuer kutieren, dann bitten wir darum, daß wir uns im
machen. Ich sagte schon, daß es eine fast naive Interesse der Steigerung der deutschen Wirtschafts-
Überlegung ist, nun einfach aufzustocken, sowohl kraft — und zwar für alle Aufgaben, für die sozialen,
auf den Plafond wie insgesamt mit einer Ergän- die kulturellen wie für die militärpolitischen — über-
zungsabgabe aufzustocken. Das sage ich ausdrück- legen, wie wir die Steuergesetzgebung im Hinblick
lich. auf diese Notwendigkeiten verbessern können.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, ich nannte drittens ,als
Eine Aufstockung ist nur möglich, wenn wir eine
maßgebend für die wirtschaftliche Entwicklung un-
weitere Bereinigung der noch im Tarif enthaltenen
sere Sozialgesetzgebung. Befürchten Sie nun nicht,
Ungerechtigkeiten durchführen. Aber es wäre auch
daß ich hier in eine Spezialdebatte einsteige. Außer-
naiv, den Plafond zu erhöhen. Siehe England und
dem beherrsche ich die Terminologie gar nicht aus-
die Vereinigten Staaten. Dort hat man das ja auch
reichend, um das zu können. Aber so viel darf man
versucht und hat davon später Abstand genommen.
ja wohl feststellen, daß die Art der Sozialgesetz-
Nun möchte ich hier ganz kurz ein Thema an- gebung heute völlig anders ist als früher; es ist
reißen, Herr Dr. Deist, das bei Ihnen — seit der keine Fürsorgegesetzgebung mehr, sondern schon
2620 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Schmücker
mehr eine Versorgungsgesetzgebung. Hoffentlich Verständnis, daß wir angesichts der heutigen Situa-
habe ich den richtigen Ausdruck gebraucht; aber ich tion auf dem Arbeitsmarkt noch Forderungen vor-
denke, Sie wissen, was ich meine. Wir wollen nicht gesetzt bekommen, die Arbeitszeit über das durch-
darüber jammern. All dieses Gerede über den schnittliche Maß hinaus zu verkürzen. Meine Da-
Wohlfahrtsstaat: Gott, es gehört ja wohl dazu. men und Herren, diese Forderungen sind ja nicht
Aber es gehört auch ein Sicherheitsbedürfnis dazu. echt; denn die Verkürzung findet ja gar nicht statt.
Wir müssen verstärkt darauf Bedacht nehmen, daß (Sehr richtig! in der Mitte.)
man die Sozialgesetzgebung leistungsbejahend ge-
staltet, daß heißt die Eigenverantwortung stärkt, Entweder leisten diejenigen, die die verkürzte Zeit
und das heißt, Kasten sparen für die Gesamtheit. bekommen haben, Überstunden — na, das 'geht
noch —, oder sie leisten Schwarzarbeit. Auf jeden
(Beifall in der Mitte.) Fall halten wir eine weitere Verkürzung der Arbeits-
Wir haben ja die Gesetze vorliegen, und ich er- zeit, abgesehen von den Bereichen, die noch nicht
kläre ausdrücklich im Auftrage meiner Fraktion, im Mittel liegen, für nicht vertretbar. Wenn hier
daß wir nach wie vor an der geschlossenen Ver- soviel von sozialer Gesinnung geredet wird, bitte
abschiedung dieser Gesetze festhalten. ich, auch einmal 'an diejenigen zudenken, die heute
(Beifall bei der CDU/CSU.) noch 60 und mehr Stunden arbeiten müssen. Dann
sollten wir uns zunächst einmal um diese kümmern.
Meine Damen und Herren, wir sagen es gar nicht Wenn man nicht weiß, wer das ist, empfehle ich,
als Klage, sondern wir sagen es mit Stolz, daß wir einmal aufs Land und in die Bauernhöfe zu gehen
in den Sozialleistungen in Deutschland an der und nachzusehen, was die Hausfrauen arbeiten müs-
Spitze innerhalb der EWG marschieren. Wir sagen sen, und auch einmal anzusehen, wieviel Selbstän-
das mit Stolz, und wir möchten diese Leistungen dige, die nicht über eine Versorgung verfügen, heu-
aufrechterhalten. Wir weisen aber darauf hin, daß
te noch zu schuften haben.
wir diese Leistungen nur aufrechterhalten können,
sie nur geben können, wenn sie vorher genommen Meine Damen und Herren, 'darüber hinaus meinen
worden sind. wir, sollten wir gerade zur Auflockerung des Ar-
(Beifall in der Mitte.) beitsmarktes — und ich setze hinzu: zur Stärkung
Dieser Zusammenhang muß immer wieder heraus- unserer Wirtschaftskraft, damit wir unsere gewach-
gestellt werden, schon um das rechte Maß zu fin- senen Aufgaben erfüllen können — uns Gedanken
den. darüber machen, wie man immer mehr — seien Sie
nicht erschrocken — Selbständige in die Arbeit bis
Ich habe vorhin gesagt, wir stehen an der Spitze. in den öffentlichen Bereich einordnen kann; denn
Wenn m an nun die einzelnen Gruppen untersucht, der große Unterschied zwischen einem Beschäftigten
stellen wir — und hier sage ich, leider — fest, daß mit festgesetzter Arbeit und einem Selbständigen
wir in der Familienpolitik nachhinken. Daraus er- ist doch der, daß der Selbständige sich dem Arbeits-
gibt sich doch eigentlich nur, wenn wir das Beste- anfall anpassen muß und das auch gerne tut, wäh-
hende erhalten wollen, 'daß wir dann, wenn wir rend der andere aus der Organisation der Behörde
Weiteres tun, zunächst einmal familienpolitisch vor- oder des Betriebes heraus das gar nicht kann.
gehen müssen.
(Beifall in der Mitte.) Meine Damen und Herren, ich habe versucht, in
hoffentlich nicht zu langen Ausführungen über den
Wir 'wollen mehr leisten. Dann aber sollten wir
engeren Rahmen der Wirtschaftspolitik hinaus die
den Sektor zuerst nehmen, der am schlechtesten
Probleme anzusprechen, die wir meinen jetzt lösen
dran ist. Dazu gehört aber nicht nur das Fordern,
zu müssen, damit wir unsere Wirtschaft intakt hal-
sondern auch das Verzichten; denn erst dann ist
ten und sie stärken und damit wir im politischen
es wahrhaftig.
Raum unsere sozialen, unsere kulturellen, unsere
(Beifall bei der CDU/CSU.) verteidigungspolitischen, kurzum unsere politischen
Ich möchte als letzten Punkt kurz die Tarifpolitik Aufgaben erfüllen können.
ansprechen. Jeder betont, er sei für die Autonomie Wir sollten diese Überlegungen auch im Hinblick
der Tarifpartner. Man stelle sich doch bloß einmal auf den wachsenden — ich sage das bewußt: den
vor, wir hätten im Bundestag diese Zuständigkeit wachsenden — Raum der Europäischen Wirtschafts-
auch noch. Nun, vielleicht wird es dann wieder gemeinschaft anstellen; denn, meine Damen und
etwas interessanter; aber seien wir doch heilfroh,
Herren, so ist es ja nicht, daß man einfach sagen
daß wir keine unmittelbare Einwirkung haben. Das
kann: Noch ein paar dazu! Wir müssen uns ja auch
entbindet uns aber nicht von der Pflicht, die Tarif-
im Wettbewerb gegenüber der Wirtschaft 'in diesen
partner darauf hinzuweisen, in welcher Situation
wir uns befinden. Wirtschaftsbericht hin und her; Ländern behaupten.
ich halte sehr viel davon. Aber auch ohne daß . der (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Bericht da ist, wissen 'wir, daß wir maßhalten müs-
sen. Wir hören mit einiger Sorge die Forderungen, Ich las mit großer Freude, 'daß man beispiels-
die 'aufgestellt worden sind. Daß man in der Frage weise in Österreich — man hatte dort unsere Finanz-
der Lohnhöhe beweglich bleiben muß, ist selbst- verfassung — eine Finanzverfassungsreform bereits
verständlich. Wenn die Tarifpartner es nicht sind, durchgeführt hat im Hinblick auf den späteren An-
dann sorgt der Markt schon dafür, daß die Sache schluß an die EWG, 'während wir — wie war das
im Spiel bleibt. Aber für eines haben wir — das heute morgen noch? — auf Grund unseres Grund-
darf ich für meine ganze Fraktion sagen — gar kein gesetzes noch nicht zu einer 'derartigen Finanzver-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2621
Schmücker
fassungsreform gekommen sind. Die Franzosen Vizepräsident Dr. Dehler: Das Wort hat der '

sollen schuld daran sein? Nun, mögen sie schuld Abgeordnete Erler.
daran sein, daß wir diese Einteilung haben. Wir
haben es doch selbst als Deutsche in der Hand, diese Erler (SPD) : Herr Präsident! Meine sehr ver-
Dinge nun im Rahmen der Buchstaben und des ehrten Damen und Herren! Vorhin hat Herr Kollege
Geistes des Grundgesetzes so auslegen, so zu Dr. Mende uns hier in diesem Hause seinen Alb-
gestalten, daß das Gesamte einen Vorteil hat. traum vorgetragen, den Albtraum, daß unter Um-
Herr Bundeskanzler, es hat geheißen, Ihre Regie- ständen einmal die Sozialdemokratische Partei in der
rungserklärung sei langweilig gewesen. Möglich, Regierung sitzen könnte. Er hat mit etwas — bei-
daß derjenige, der nur die Worte hörte, das als nahe — Bedauern verzeichnet, daß die Sozialdemo-
langweilig empfunden hat. Aber ich glaube, es sind kraten inzwischen die Partei der Regierungsanwärter
eine Fülle interessanter und lebenswichtiger Prob- geworden seien, was wohl einschließt, daß dann an-
leme, wenn auch nur stichwortartig, angesprochen dere — ich lasse es völlig offen, wer — gewisser-
worden. Es kommt nun für jeden von uns darauf an, maßen die Parteien der Oppositionsanwärter wären.
die direkte Verbindung von der Alltagsarbeit bis zur (Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
hohen Politik zu sehen und von diesen Zusammen-
hängen durchdrungen zu sein. Wir verkennen und Ich bin ehrlich genug, zuzugestehen, daß die Bereit-
verschweigen gar nicht die Schwierigkeiten, welche schaft, vom Anwärter zum aktiven Tun überzugehen,
natürlich verschieden entwickelt ist. Die Bereitschaft
die Regierung im ersten Jahr gehabt hat. Aber ich
der Sozialdemokratischen Partei, Regierungsverant-
nehme das Wort des Kollegen Mende auf und sage:
wortung zu übernehmen, ist sicherlich stärker ent-
Wer diese Schwierigkeiten überwunden hat, über-
wickelt als die Bereitschaft der Freien Demokraten,
windet auch den Tadel, den er bis dahin vielleicht
in die Opposition zu gehen; das kann ich vollkom-
verdiente.
men verstehen.
Ich darf in abschließender Zusammenfassung noch
einmal feststellen: jede soziale Maßnahme, über- (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der FDP.)
haupt jede fortschrittliche Leistung, gleich welcher Eines möchte ich Ihnen ganz ehrlich sagen: Eine
Art, jede Verteidigungsanstrengung ist nur möglich, Regierung mit der Sozialdemokratischen. Partei ist
wenn wir die wirtschaftlichen Voraussetzungen dafür eben einfach nicht mehr dieselbe Regierung. Eine
schaffen. Wer sich zur Stärkung der inneren und Regierung mit einer Partei, die 40 % der Sitze in die-
äußeren Sicherheit bekennt, muß immer dazu sagen, sem Hause hat, schaut nicht nur personell ein biß-
welches Geld — und das heißt letzten Endes, welche chen anders aus, sondern da kommt dann natürlich
Arbeit — notwendig ist und was er vom deutschen auch das politische und allgemeine Gewicht dieser
Volke verlangen muß, um diese Leistungen zu er- Partei in einer solchen Regierungskombination zur
bringen. Wer es unterläßt, dies zu tun, der kann Geltung; wie sollte das denn auch anders sein?
seine Ideale so leidenschaftlich vortragen, wie es ihm Vielleicht gestehe ich hier ganz offen, daß ich das
die Schule erlaubt, letzten Endes redet er hohl und Gefühl habe, daß dies der entscheidende Grund dafür
unwahrhaftig, oder — um ein Schlagwort der letzten gewesen ist, daß wir diesmal noch nicht auf die Re-
Tage zu gebrauchen — er stellt sich selber ins Zwie- gierungsbänke gekommen sind.
licht.
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)
Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/
CSU ist bereit, alle, auch die im einzelnen unpopu- Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
lären Maßnahmen zu unterstützen, um das Gesamt-
(Erneute Heiterkeit.)
ziel unserer Politik zu realisieren. Sie fordert die
Bundesregierung auf, die Arbeit in diesem Sinne Für uns jedenfalls bleibt das durchaus auf der Tages-
vérstärkt und auch beschleunigt fortzusetzen. Wir ordnung, und das ist ein heilsamer Faktor der Un-
bitten die Opposition, die sich erfreulicherweise in ruhe für alle anderen Beteiligten.
vielen Punkten der Außen- und Verteidigungspolitik
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)
nach Jahren harten Widerstandes unseren Auffas-
sungen genähert hat, nun auch die innerpolitischen Jedenfalls ist das Ansehen der Sozialdemokra-
Konsequenzen zu ziehen, also nicht nur die großen tischen Partei auch im Zuge dieser Erörterungen des
Ziele anzuerkennen, sondern auch den Weg dahin vergangenen Jahres in unserem Volk außerordent-
im Alltag mitzugehen oder aber ihrerseits andere lich gestärkt worden. In der Welt draußen war das
Vorschläge zu machen. Niemand darf unserem Volk schon längst passiert. Es geht hier nicht immer ganz
verschweigen, daß wir große Anstrengungen zu so schnell, daß man das auch bei uns einsieht.
machen haben, wenn wir gleichzeitig unseren Lebens (Sehr richtig! bei der SPD.)
standard aufrechterhalten und unsere Verteidigung
kräftigen wollen. Wir können das letztlich nur durch Ich möchte das zurückführen auf unsere Haltung —
Arbeit und durch die Bereitschaft zu persönlicher worauf denn sonst? —, aber natürlich auch auf Ihre
Verantwortung. Wir sind überzeugt, daß diese Be- Fehler. Nun muß ich sagen, über Ihre Fehler könnte
reitschaft in unserem Volk besteht. Sorgen wir in ich mich im Interesse meiner Partei freuen; im Inter-
Politik und Verwaltung in Bund, Ländern und Ge- esse des Ganzen sind sie natürlich zu bedauern. Eine
meinden dafür, daß — ausgerichtet auf das Ganze makel- und fehlerlose Regierung wäre für das Volk
die Grundlagen richtig gelegt werden. besser, auch wenn es die Opposition schwerer hätte.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei der SPD.)
2622 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Erler
Bei dieser Lage hilft es nun wirklich nichts, wenn — Ach, das ist mir interessant, daß der Herr Bun-
Herr Kollege Dr. Mende hier das schöne Bild ent- deskanzler jetzt also meint, er habe diese Zusage
rollte: Wenn etwas erreicht worden ist, dann liegt nicht gegeben. Das wird die Bauernverbände freuen.
es an der FDP; wenn nichts erreicht worden ist, hat In den Zeitungen stand das.
die Opposition die Schuld.
(Große Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD.) Nun gut; ich meine, was nun zwischen dem Bauern-
Das war so ungefähr das einleitende Kapitel seiner verband und dem Bundeskanzler und der CDU pas-
Rede. siert, das überlasse ich ganz Ihnen, meine Herren;
das ist nicht unsere Sorge.
Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir es (Beifall bei der SPD.)
wirklich mit einem verlorenen Jahr — inzwischen
ist noch mehr Zeit verflossen — zu tun hatten. Die Wir haben zu ein paar anderen großen Fragen,
Ankündigungen munterer Taten sind kein Ersatz die unser Volk gemeinsam angehen müssen, in
für das, was in dieser Zeit alles nicht geschehen ist. dieser Regierungserklärung verhältnismäßig wenig
Ich habe soeben mit großer Aufmerksamkeit und gehört. Da ist z. B. ein Problem, auf das der Herr
einer guten Portion Wohlwollen gehört, was uns Bundespräsident neulich die Aufmerksamkeit ge-
alles über Raumordnung und Finanzverfassung vom lenkt hat und von dem ich durchaus zugebe, daß es
Kollegen Schmücker vorgetragen worden ist, so un- sich der reinen Gesetzgebungsarbeit entzieht: das
gefähr, als würde er die Oppositionsrede gegen eine Problem von fünf Millionen alten Menschen, die in
Regierung halten, die seit nunmehr 14 Jahren Einsamkeit leben. Das ist aber auch nicht ein Pro-
regiert. blem, das man nur mit der karitativen Liebestätigkeit
(Beifall bei der SPD.) der Nachbarn angehen kann; hier müssen wir zu
einem Zusammenwirken aller gesellschaftlichen,
Ganz so ist das aber nicht. Er hat auf richtige, not-
religiösen, kulturellen und politischen Kräfte dieses
wendige Dinge hingewiesen, die nun angepackt
Landes kommen, von der Spitze — der Bundesprä-
werden müssen. Ich entsinne mich noch, wie wir
sident hat ein Signal gegeben — bis hin zu den
hier haben kämpfen müssen um einen Antrag, den
Gemeinden.
der Kollege Dr. Möller eingebracht hatte, den An-
trag, um z. B. an dieses Kernstück: Neuordnung der Ähnliches gilt für den dringend notwendigen
finanziellen Beziehungen zwischen Bund, Ländern Ausbau unseres Erziehungswesens. Auch da will
und Gemeinden heranzugehen, eine Sachverständi- ich jetzt nicht in eine Fachdebatte eintreten. Es
genkommission einzusetzen. Da war es der dama- wäre gut, wenn, über die reine Forschung hinaus,
lige Finanzminister, der gesagt hat: „Oh nein, das bei aller Respektierung der im Grundgesetz gezo-
braucht ihr gar nicht, die habe ich schon längst be- genen Kompetenzabgrenzungen auch hier ein Wort
rufen." Nun, wir haben inzwischen gemerkt: die über die Zusammenarbeit gefallen wäre. Wenn man
Kommission hat noch nicht ein einziges Mal getagt. das in Staatsverträgen mit fremden Ländern angeht,
Es wäre vielleicht doch besser gewesen, wenn wir dann kann man auch im Bundestag ein verbindliches
damals den Möllerschen Antrag angenommen hätten. Wort zu diesem allgemeinen nationalen Problem
sagen, meine Damen und Herren.
Ein ähnliches Kapitel wäre etwa über die derzei-
tigen doch recht torsohaften Beratungen des Haus- (Beifall bei der SPD.)
haltsauschusses über den Bundeshaushalt zu schrei- Hier ist vorhin einiges, mit Recht, glaube ich, vom
ben. Jeder weiß: was der Haushaltsausschuß dort Kollegen Schmücker vorgetragen worden über die
berät, das stimmt schon gar nicht mehr, weil inzwi- Belastung vieler Menschen unseres Landes durch
schen eine ganze Reihe von neuen Forderungen auf eine für sie noch allzu harte und allzu lange
uns zugekommen sind — wie es so schön im Neu- Arbeitslast. Das wird niemand bestreiten. Wir
deutschen heißt —, die also dort nun noch mit ver- leben — übrigens betrifft das nicht nur die Land-
kraftet werden müssen, und weil — das gestehe ich wirtschaft und die Selbständigen, sondern auch viele
hier auch ganz offen — wir bisher weder in der Re- andere — in einem Lande, in dem wir ein erstaun-
gierungserklärung noch in irgendwelchen finanziel- lich hohes Ausmaß an Frühinvalidität haben. Dar-
len Erwägungen der Bundesregierung etwas davon über ist 'bei der ersten Beratung des Sozialpakets
vernommen haben, wie sie denn die Zusage des gesprochen worden. Die wichtigste Aufgabe wäre,
Herrn Bundeskanzlers nun auch finanziell zu hono- dafür zu sorgen, daß nicht so viele Millionen Men-
rieren gedenkt, die er erst vor wenigen Tagen den schen vorzeitig verschlissen sind und gar nicht erst
Vertretern der deutschen Landwirtschaft gegeben das Alter der Altersrente erreichen, sondern we-
hat. Das ist doch auch ein Betrag von 800 bis 900
gen vorzeitiger Berufs- und Arbeitsunfähigkeit
Millionen DM, den man nicht einfach aus dem Ärmel
Invalidenrente zugebilligt bekommen müssen. Das
schütteln kann; er muß doch irgendwo also noch im
ist einmal Leid für die Betroffenen, das ist Leid für
Bundeshaushalt da sein. Wir wären gern neugierig
deren Familien; und außerdem — hier bin ich nun
zu wissen, wo dieser Haushalt nach der Meinung
bei dem Punkt —: das kostet eine Stange Geld.
des Bundeskanzlers so viel Luft aufweist, und viel-
Diese Menschen schlagen volkswirtschaftlich ganz
leicht kann man sich dann über dieses Problem
anders zu Buche, wenn sie vorzeitig Rente bekom-
relativ rasch verständigen.
men müssen, statt bei Bewahrung ihrer Arbeits-
(Bundeskanzler Dr. Adenauer: Wo habe kraft noch Beiträge und Steuern zahlen und einen
ich die Zusage gemacht?) Beitrag zum Sozialprodukt leisten zu können. Mit
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anderen Worten: Investitionen in vorausschauen- Seiten Einsicht geweckt werden kann, auf den ver-
der Gesundheitspolitik sind keine Fehlinvestitionen, schiedensten Gebieten.
sondern dienen der Erhaltung unseres kostbarsten (Beifall bei der SPD.)
Gutes, nämlich unserer Arbeitskraft.
Das Sozialpaket, das wir hier behandelt haben,
(Beifall bei der SPD.) enthält noch sehr viel schädlichen Ballast. Die Vor-
Wenn wir diesen Zusammenhang richtig sehen sorge für Notfälle — um die hier in diesem Hause
— und deswegen habe ich es eigentlich nur gesagt, in den Ausschüssen anstehende Beratung der viel-
fältigen Gesetze auf diesem Gebiet noch einmal in
Kollege Schmücker — und wenn wir dieses Problem
ein etwas anderes Licht zu bringen — war auf wei-
einmal energisch anpacken, wenn wir uns z. B.
ten Gebieten auch ohne Grundgesetzergänzung und
sagen, daß man dabei vielleicht in unserer über-
ohne neue Gesetze möglich.
beschäftigten Wirtschaft Arbeitskräfte länger erhal-
ten und damit auch die Arbeitsmarktlage entspan- (Beifall bei der SPD.)
nen kann — allein ein Jahr Arbeitszeit mehr macht Ich weiß, daß es viele Dinge gibt — darüber
schon den ganzen Bestand an ausländischen Arbeits- haben wir uns hier unterhalten —, zu denen diese
kräften in der Bundesrepublik Deutschland aus —, Gesetzgebung gehört. Aber der Bau von Ersatzbet-
dann würde auch manches andere Licht auf die ten für Krankenhäuser, die Bevorratung mit be-
Diskussion über die Arbeitszeit fallen, stimmten Dingen, die Gewinnung von noch mehr
(Sehr wahr! bei der SPD) Freiwilligen für die Tätigkeit in den Bereichen des
zivilen Bevölkerungsschutzes und anderes mehr wä-
die man nicht nur unter dem Gesichtspunkt der ren durchaus möglich gewesen, schon bevor der
Überstundenvergütung sehen darf. Wenn es uns Bundestag hier nunmehr erst weitergehende Ge-
gelingt, das in die Gesundheitspolitik einzubauen, setze beschließt. Auch da handelt es sich um eine
wo es eigentlich hingehört, dann kann eine ver- Unterlassungssünde. Darüber haben wir seit 1955
nünftige Urlaubs- und Arbeitszeitgestaltung auf jedes Jahr bei der Haushaltsberatung gesprochen
Sicht ein volkswirtschaftlicher Gewinn durch Ge- und die entsprechenden Anträge vorgelegt. Was in
sunderhaltung unserer Arbeitskraft sein. unserem Volke fehlt, ist offenbar, daß man eine
entschlossene, von Interessengruppen freie Führung
(Beifall bei der SPD.)
an der Spitze weiß.
Zu den Problemen Städtebau, Raumordnung und (Beifall bei der SPD.)
was damit zusammenhängt, kann ich Ihnen nur Meine Damen und Herren, dieser Mangel an Füh-
sagen: Wenn die Bundesregierung sich entschließen rung oder das Auseinanderklaffen der Meinungen
sollte, an diesen ganzen Komplex, der nicht nur der Führenden hat sich besonders in der Außenpoli-
ein Komplex der Gewerbesteuer, sondern doch tik bemerkbar gemacht. Ich will das, was Kollege
wohl auch ein Komplex der Strukturpolitik ist, die Dr. Mende hier behandelt hat, nicht noch einmal in
unsere Wirtschaft im ganzen betrifft, energisch her- aller Breite darstellen, daß es in der deutschen
anzugehen, so wird es an der sozialdemokratischen Frage sicher auch und gerade darauf ankommt, daß
Unterstützung daran bestimmt nicht fehlen. Bei wir immer wieder erneut mit unseren Verbündeten
allen diesen vier genannten Gebieten handelt es das Gespräch führen, damit sie wirklich wissen, daß
sich um große Gemeinschaftsaufgaben eines ganzen diejenigen, die hier in erster Linie berufen sind,
Volkes, das seine Existenzbedingungen im letzten nicht nur zu reagieren, sondern den Westen zu
Drittel des 20. Jahrhunderts allmählich der moder- einer eigenen politischen Konzeption zu bringen,
nen Industriegesellschaft anpassen muß. Das wer- die Deutschen sein müssen; denn das ist in
den wir nur in einer gemeinsamen Arbeit von Bund, erster Linie unsere Frage und weniger eine Frage
Ländern und Gemeinden schaffen. Das ist mehr als anderer, soviel Verantwortung sie weltpolitisch
ein finanzielles Problem, aber auch ein finanzielles oder auch juristisch für die deutsche Frage tragen
Problem. mögen.
Sie sehen, wie das alles zusammengehört. Das Das Thema, um das es heute vor allem ging, ist
geht von einer Energiepolitik, über deren Fehlen doch wohl die Zukunft der europäischen Gemein-
sich heute gerade auch die Sachkundigen in den be- schaft und ihre Beziehung zu den Vereinigten Staa-
troffenen Bereichen beschweren, bis zu einer Wirt- ten von Amerika. Auf diesen beiden Gebieten ist
schaftspolitik aus einem Guß, die nicht darin be- das Gewicht der Bundesrepublik Deutschland nicht
stehen kann, daß man die Dinge treiben läßt und klar und eindeutig zur Geltung gebracht worden. Es
von Zeit zu Zeit Ermahnungen an die Bevölkerung hat lange gedauert, bis sich auch die Bundesregie-
richtet, sondern die in wirtschaftspolitischer Füh- rung in Brüssel, nachdem sich dort schon Minister
rung bestehen muß. anderer Regierungen sehr lange aufgehalten haben,
nicht nur durch Verhandlungspartner im Beamten-
Jetzt gibt es einen Ansatz. Wir werden hier dem-
range, sondern auch durch die Minister selber ver-
nächst — und dieser Debatte möchte ich keineswegs
treten ließ.
vorgreifen — den Jahreswirtschaftsbericht der Bun-
desregierung vorgelegt bekommen. Ich finde, es ist Wir haben nun einen in diesem Hause von allen
ein guter Ansatz, nachdem früher einmal der Herr bedauerten Fehlschlag in Brüssel erlebt. Niemand
Bundeswirtschaftsminister gesagt hat, mit ihm von uns wird die deutschen Möglichkeiten zur sei-
könne man solche Scherze nicht machen. Man sieht, nerzeitigen Abwehr dieses Fehlschlages oder auch
daß im wechselseitigen Gespräch offenbar auf allen jetzt zur Überwindung der Folgen überschätzen
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wollen; das wäre völlig verfehlt. Wir wissen, daß Inzwischen kommt es darauf an — und hier schließe
es auch für die Bundesrepublik Deutschland sehr ich mich sehr eng an einige Gedanken an, die Herr
schwierig würde, wenn man ihr zumuten wollte, Dr. von Brentano vorhin vorgetragen hat —, die
etwas fertigzubekommen — etwa bei der französi- Abmachungen sorgsam auf ihre Auswirkungen zu
schen Regierung —, was der großen Macht der Ver- prüfen, aber nicht nur dies, sondern nach dem Er-
einigten Staaten von Amerika und dem seit Jahr- gebnis dieser Prüfungen auch etwas zu tun, um Miß-
zehnten mit Frankreich befreundeten und verbünde- deutungen und eventuell schädliche Auswirkungen
ten Großbritannien nicht gelungen ist. Von so viel zu verhindern. Dafür gibt es eine ganze Reihe von
Größenwahn ist in diesem Hause niemand erfüllt, Möglichkeiten, die nun auszuarbeiten und im diplo-
daß er diese Aufgabe etwa allein auf seine Schul- matischen Geschäft auf ihre Tragfähigkeit hin abzu-
tern nehmen wollte. Wir müssen sogar dafür sor- tasten Sache der Bundesregierung ist. Das kann nicht
gen, daß auch in unserem Lande kein falscher Ein- das Parlament machen; wir können hier nur anre-
druck entsteht, weil man uns sonst mit falschen gen. Dazu könnten z. B. in Form von Protokollen
Verantwortungen belasten würde, die uns nicht zu- oder Briefwechseln bestimmte Zusätze gehören, die
kommen. klarstellen, daß deutsch-französische Konsultation
Aber wir dürfen auch draußen in der Welt nicht nicht dazu benutzt wird, Gemeinschaftsentscheidun-
den Eindruck entstehen lassen, daß hinsichtlich des gen in den bestehenden Gemeinschaften zu präju-
Fehlschlages von Brüssel die deutsche Politik etwa dizieren und damit einen deutsch-französischen Son-
mit denen solidarisch sei, die ihn herbeigeführt ha- derbund gegen andere zu schaffen oder ihnen gar
ben. Es ist ein Unterschied, ob die Kräfte nicht aus- deutsch-französischen Sonderwillen aufzwingen zu
reichen, den Fehlschlag abwenden zu helfen, oder wollen.
ob man durch eigenes Verhalten einen falschen Ein- (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
druck aus der Welt schaffen kann. Gerade jetzt Dann bleibt immer noch ein erstaunlich hohes Maß
kommt es auf das richtige Verhalten der deutschen an Konsultation übrig.
Politik entscheidend an. Aus dieser Sicht einer So-
lidarität mit einer Politik, die nicht die unsere ist, Ich weiß, daß z. B. hier der Gedanke, ähnliche
muß der deutsch-französische Vertrag heraus. Dazu Verträge mit anderen abzuschließen — der von mir
ist sorgsame politische Arbeit nötig. Ich warne vor unterstützt wird, von Ihnen auch — begreiflicher-
der Vorstellung, daß wir, weil andere Porzellan zer- weise etwas Hemmungen bei denen auslöst, die da
schlagen haben, nun auch noch Porzellan zerschla- sagen: Aber, um Himmels willen, ein solches Netz-
gen sollten; werk bilateraler Konsultation ist doch noch kein
(Sehr richtig! bei der SPD) Ersatz für wirkliche Gemeinschaftsarbeit!
das macht das zerschlagene Porzellan auch nicht (Abg. Dr. von Brentano: Kein Ersatz!)
wieder heil. — Gut, es ist eine politische Demonstration: Keine
(Abg. Dr. von Brentano: Sehr gut!) Einseitigkeit! Es muß, führte man es durch, in den
Fragen, die die Gemeinschaft angehen, zwangs-
Deshalb darf der Leidtragende vor allem nicht die
läufig dazu führen — schon aus Zeitgründen —, daß
europäische Gemeinschaft sein. Denn ich weiß, daß
jene Kräfte in Frankreich, die jetzt den Fehlschlag man einander nicht mehr bilateral, sondern am Ge-
herbeigeführt haben, seinerzeit im französischen meinschaftstisch konsultiert und die Dinge, die die
Parlament nicht zu den glühenden Anhängern der Gemeinschaft angehen, eben nicht in zweiseitigen
europäischen Gemeinschaft gehört haben. Abmachungen regelt und vorab festlegt, sondern
dort behandelt, wohin sie gehören, am Tisch der
(Beifall bei der SPD.) Gemeinschaft, unter gleichberechtigten Freunden.
Es kommt also darauf an, daß wir die Gemein- (Lebhafter Beifall bei der SPD.)
schaft erhalten, stärken, ausbauen und schließlich
so erweitern, wie sie dieser Bundestag in der über- Da geht es mir nicht nur um das Verhältnis zu Groß-
wältigenden Mehrheit seiner Mitglieder selber er- britannien, so wichtig das auch ist. Großbritannien
weitert zu sehen wünschte. Das ist eine Arbeit der ist ein großer Staat; wenn die Briten in die euro-
Überzeugung. Zwingen kann man nach dein Mecha- päische Gemeinschaft hineinkommen, werden sie sich
nismus der Verträge nämlich niemanden. Möglicher- in bestimmten Dingen schon ihrer Haut wehren. Mir
weise dauert diese Arbeit länger, als uns allen lieb geht es um die Befürchtungen auch und gerade der
ist. kleineren Partner in der europäischen Gemeinschaft,
die nach dem jetzigen Stimmengewicht jedes Ein-
Ich bin überzeugt, daß die politische Fernhaltung flusses beraubt wären, wenn das deutsch-französi-
Großbritanniens vom europäischen Kontinent und sche Gewicht immer geschlossen in die Waagschale
die damit unvermeidliche Störung der Solidarität gelegt werden müßte.
zwischen Europa und den Vereinigten Staaten auch
nicht im wahren Interesse Frankreichs liegt und daß (Beifall bei der SPD.)
wir hier durchaus zusammen' mit unseren Freunden Darauf sollten wir achten, damit auch bei jenen Län-
geduldige Überzeugungsarbeit leisten können und dern, ob es sich nun um Luxemburg, um Belgien oder
müssen. Aber heute stehen wir noch etwas im Zwie- die Niederlande handelt und schließlich auch um Ita-
licht. Ich will gar nicht untersuchen, worauf das lien, das ja eine ähnliche Bedeutung hinsichtlich
zurückzuführen ist; das ist einfach eine Tatsache. des Stimmgewichts hat wie wir, gar nicht erst das
Was können wir nun, damit diese Überzeugungs- Gefühl aufkommt, der Gemeinschaftscharakter würde
arbeit eines Tages einmal Erfolg hat, inzwischen tun? durch Sonderabmachungen gefährdet.
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Dazu gehört auch, daß wir näher definieren, was schlag Schaden gelitten haben. Diese Fragen könnten
mit den deutsch-französischen Besprechungen auf in jenem Rahmen nach meiner Überzeugung erneut
militärischem Gebiet gemeint ist. Es gab bisher schon angegangen werden.
eine ganze Masse; die waren völlig unschädlich, im
Gegenteil, sogar nützlich, und so gibt es bestimmte Schließlich muß man, glaube ich, dafür sorgen —
Probleme der Rüstungswirtschaft, der waffentech- und das wird jetzt Aufgabe der deutschen Politik
nischen Zusammenarbeit, der Erziehung, des Trup- im weiteren Ausbau der Europäischen Wirtschafts-
penaustauschs. Das steht in völliger Übereinstim- gemeinschaft sein —, daß die Europäische Wirt-
mung mit der allgemeinen Zielsetzung der NATO. schaftsgemeinschaft weltoffen bleibt, wirklich eine
Warum soll man das nicht weiterentwickeln? Die liberale Außenhandelspolitik betreibt, sich nicht von
Sache wäre gefährlich, wenn der Versuch unter- anderen abschließt. Hier habe ich große Sorgen.
nommen würde, durch diese Konsultation die Bun- Etwas populär gesagt, hat doch der französische
desrepublik Deutschland auf eine strategische Kon- Staatspräsident in seiner Pressekonferenz ungefähr
zeption festzulegen, die in erklärtem Gegensatz zu ausgeführt: Eßt europäisch, und ihr bleibt gesund!
der strategischen Konzeption nicht nur der Führungs- Wir sollten also zunächst einmal die Erzeugnisse
macht, sondern der Mehrheit der Atlantikpakt- des eigenen europäischen Wirtschaftsgebiets ver-
staaten stände. Das wäre gefährlich und würde die dauen, bevor wir uns daran machen, auch von wo-
Allianz schwächen. Deshalb wäre es gut, wenn wir anders etwas zu beziehen.
auch zu diesem Punkt ein paar Klarstellungen von Meine Damen und Herren, Europa in Autarkie
beiden Regierungen, nicht nur von der deutschen, wäre ein verstümmeltes Europa mit einer völlig
bekommen könnten. Schließlich wäre es wichtig, künstlichen Wirtschaft, mit jener Abschnürungs-
wenn man einen neuen Anlauf nehmen könnte, um wirtschaft, die zum Schein sogar einmal auf hohen
die Besprechungen mit Großbritannien, die ja nach Touren laufen kann — wie im „Dritten Reich" vor
offizieller französischer Erklärung nicht abgebrochen, 1939 —, in der aber in Wahrheit der Wurm ist, und
sondern nur unterbrochen sind, auf geeignete Weise sei es auch nur die schleichende Inflation. Ich meine,
und in geeignetem Rahmen wieder anzufangen. Viel- daß ein Land wie unseres, +das für 50 Milliarden DM
leicht gibt der Tisch der Westeuropäischen Union Erzeugnisse pro Jahr exportiert, ein Lebensinteresse
eine Möglichkeit, wo die Sechs und Großbritannien daran hat, daß sich Europa nicht von den übrigen
zusammenkommen, nicht als einander gegenüber- Weltmärkten +abschließt; denn wer exportieren will,
stehende Fremde, bei denen der eine bei den ande- muß auch zur Einfuhr bereit sein. Das ist das kleine
ren erst eintreten soll, sondern bereits als gleich- Einmaleins der Wirtschaftspolitik.
berechtigte Teilnehmer ein und derselben Gemein-
schaft, — übrigens einer viel engeren, als man (Beifall bei der SPD.)
vielerorts zu wissen scheint. Darauf werden wir achten müssen, daß bis in sehr
Die Westeuropäische Union unterscheidet sich z. B. viele Einzelheiten hinein die Europäische Wirt-
dadurch vom Atlantikpakt, daß sie eine automa- schaftsgemeinschaft diesen dem Geist und dem
tische Beistandsklausel mit allen militärischen Hilfs- Wortlaut des Vertrages allein entsprechenden Kurs
mitteln einschließt. Durch die Westeuropäische Union auch einhält und sich von Vertretern autarker
ist Großbritannien stärker mit dem Kontinent ver- Wirtschaftsvorstellungen darin nicht im geringsten
bunden als die Vereinigten Staaten von Amerika, beirren läßt.
wenn auch die Vereinigten Staaten von Amerika Meine Damen und Herren, wenn wir das alles
physisch durch ihre Anwesenheit stärker mit dem zusammen machen, dann kann eine politische Land-
europäischen Kontinent verbunden sind. Der NATO- schaft entstehen, die die deutsch-französischen Ab-
Vertrag enthält an sich nur ein Beistandsver- machungen eines jeden schädlichen Beiklangs ent-
sprechen, hat jedoch eine weitgehende Integration kleidet. Ich verlange nicht, daß das alles durchge-
der Streitkräfte zur Folge gehabt, die faktisch eine führt wird — um Himmels willen —, bevor der
gewisse automatische Antwort der Beteiligten aus- Bundestag zu diesem Dokument Stellung genommen
löst. Es bleibt in der Hoheit des unter Umständen hat. Das ist ein ziemlich reichhaltiges Programm.
zum Beistand verpflichteten Landes, zu entscheiden, Aber einleiten muß man es, und zwar bald, gerade
mit welchen Mitteln und in welchem Umfang es ein- damit die deutsche Politik den Vertrauensverlust
greift und ob es überhaupt zu militärischen Mitteln wieder wettmacht, den Deutschland und Europa in
greift. Die Westeuropäische Union verpflichtet zum Großbritannien und den Vereinigten Staaten von
Einsatz mit allen Mitteln. Deswegen sollten wir in Amerika leider erlitten haben. Verschließen wir
dieser Verhandlungsrunde dieses Instrument einer doch nicht die Augen vor der Wirklichkeit! Deswe-
sehr engen Gemeinschaft — denn es ist eine Ge- gen müssen wir jetzt ein bißchen mehr tun als
meinschaft auf Leben und Tod — nicht unterschätzen. reden. Deshalb muß unsere Regierung auf diesen
Ein anderes geeignetes Forum wäre zum Beispiel Gebieten — wenn nicht auf allen, dann auf einigen
der Tisch der OECD. Er hat den Vorteil, daß dort — in Bälde Fortschritte vorzuweisen haben, die von
auch die Amerikaner mit von der Partie sind. Dort ihrer guten Absicht zeugen.
kann man mit den Briten natürlich nicht die engeren Das bedeutet, daß man mit anderen Regierungen
europäischen Probleme besprechen, aber die Fragen darüber spricht und versucht, von dem, was ich un-
der wirtschaftlichen und politischen Solidarität zwi- gefähr zu skizzieren versucht habe, etwas in die
schen den beiden Partnern diesseits und jenseits Wirklichkeit umzusetzen. Denn niemand in diesem
des Atlantik, die ja auch durch den Brüsseler Fehl- Hause hat doch falsche Vorstellungen von der welt-
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politischen Bedeutung des deutsch-französischen schen Charakters der Gemeinschaft unternehmen
Verhältnisses. Wir sind alle froh, daß die Zeit der wird.
deutsch-fanzösischen Bürgerkriege ein für allemal (Lebhafter Beifall bei der SPD und bei eini
der Geschichte angehört. Aber wir wissen doch gen Abgeordneten der FDP.)
alle, daß, selbst wenn Deutschland und Frankreich
zusammen mehr sind als jedes einzelne von ihnen, Der Bundestag wird sich darüber freuen und viel-
sie auch zusammen keine Weltmacht sind, auch leicht gar nicht erst einen Antrag einbringen müs-
wenn der eine oder andere vielleicht sogar schon sen, den wir dann einstimmig annehmen, sondern
den einen Partner drüben , für eine Weltmacht hält. vielleicht nachträglich eine Haltung der Regierung
Dazu gehört ein bißchen mehr als allein ein unge- in dieser Frage mit großer Mehrheit billigen. Das ist
brochenes Selbstbewußtsein, meine Damen und noch viel besser.
Herren!
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.)
(Beifall und Heiterkeit bei der SPD.)
Meine Damen und Herren, vorhin ist wieder ein-
Daher sollten wir uns hier der realen Machtvertei- mal die berühmte Frage aufgeworfen worden, die
lung in der Welt immer bewußt sein und erkennen, uns oft und oft in diesem Hause beschäftigt hat:
daß Deutschland und Frankreich gemeinsam in enger Warum wart ihr Sozialdemokraten eigentlich seiner-
Verbindung und in enger Freundschaft Teil der zeit bei der Beratung der Europäischen Verteidi-
europäischen Gemeinschaft sein müssen und gleich- gungsgemeinschaft und der Montanunion gegen die-
falls ein enges solidarisches Vertrauensverhältnis ses Unternehmen und warum setzt ihr euch heute
zu den Vereinigten Staaten von Amerika aufrecht- so warm für die weitere Festigung und den Ausbau
erhalten müssen. Das liegt im Interesse beider Län- der europäischen Gemeinschaft und die Stärkung
der, nicht nur eines von ihnen. der atlantischen Solidarität ein? — Ich will zunächst
Ich darf noch etwas zu dem Problem Großbritan- einmal den Komplex Montanunion von den anderen
nien sagen. Mir geht es dabei nicht nur um das Verträgen, die etwas mit den militärischen Proble-
Hereinholen eines wirtschaftlich wichtigen Landes, men zu tun haben, trennen.
damit der europäische Markt noch ein bißchen grö- Die Einwände gegen die Montanunion waren drei-
ßer wird, die Wachstumschancen noch größer wer- fach; davon sind zwei durch die Geschichte weit-
den, die Lebenshaltung der Bevölkerung steigt.
gehend überholt. Der erste Einwand war das ver-
Alles wichtig, aber ich finde, hier gibt es noch einen
mutete besatzungsrechtliche Relikt, die Unterwer-
politischen Grund, nämlich den: Wie soll die künf-
fung von wichtigen Teilen der deutschen Wirtschaft
tige europäische Gemeinschaft in ihrem inneren
unter fremde Interessen ohne entsprechende Gegen-
Leben beschaffen sein? Mir geht es um das Ver-
seitigkeit. Ich glaube, das ist im wesentlichen über-
hältnis des werdenden Europa zu den Prinzipien
wunden, auch wenn sich gelegentlich die Ruhrwirt-
der freiheitlich-rechtsstaatlichen parlamentarischen
Demokratie. schaft wegen des Kohlenverkaufs oder wegen der
Verbundwirtschaft, die es in Frankreich gibt und bei
(Beifall bei der SPD.) uns nicht, noch benachteiligt fühlt. Aber das ist im
Gerade deshalb sollten wir uns Mühe geben, die wesentlichen überwunden; hier haben die Vertrags-
Briten mit ihrer in Jahrhunderten gewachsenen Tra- partner im guten Geiste der Gemeinschaft diese Be-
dition, so fremd sie auch manchem Kontinental- sorgnisse aus dem Weg räumen können.
europäer sein mag, mit bei der Partie zu haben.
Wir meinen, daß ein solches volles Mitwirken der Der zweite war der allgemeine Einwand, der in
Briten eine der besten Garantien dafür ist, daß im unserem Volke sicher als Problem heute immer noch
künftigen Europa freiheitlich-demokratische rechts- diskutiert wird: Wie weit steht die Einschmelzung
staatliche Grundlagen für unser Zusammensein vor- des halben Deutschlands in westliche Organisationen
handen sind. den Chancen der Wiederherstellung des ganzen
Deutschlands im Wege? Das ist ein wirkliches Pro-
Hier könnte auch die Bundesregierung heute blem, und es hat gar keinen Sinn, den Kopf davor zu
schon einiges tun. Wir wollen ja alle — der Herr verschließen. Ich bin der Meinung, daß wir hier sorg-
Bundeskanzler hat das neulich noch einmal sehr sam trennen müssen zwischen dem Gebiet, wo ich
eindrucksvoll nach seiner Rückkehr aus Paris dar- aus Gründen, die ich nachher noch darlegen werde,
getan — keine unkontrollierten Bürokratien haben, keinen anderen Weg als die Einschmelzung sehe,
ob die nun in Brüssel oder anderwärts sitzen. Nun nämlich dem militärischen, wo man aber wahrschein-
gut, wie wäre es denn, wenn die Bundesregierung lich für die Zukunft im Zusammenhang — und wohl
bei der 'nächsten Ministerratsitzung den Vorstoß nur dann — mit Fortschritten auf dem Gebiete der
des Europäischen Parlaments unterstützte, der dahin Abrüstung und der kontrollierten Begrenzung der
ging, daß die Befugnisse dieses Parlaments gestärkt, Rüstung überhaupt wieder an die deutsche Frage
seine Mitglieder — wenn auch im Anfang zunächst heran kann und wo ein einigermaßen verständliches
nur teilweise — direkt 'gewählt und die drei Exe- legitimes Interesse der Sowjetunion erkennbar ist,
kutiven zu einer einzigen verschmolzen würden? und allen anderen Gebieten — Wirtschaft, Politik,
Nach dieser Rede des Herrn Bundeskanzlers habe soziales und kulturelles Leben —, wo ich kein legi-
ich keinen Zweifel mehr daran, daß die Bundes- times Interesse eines fremden Staates sehe, sich in
regierung nun sicher auf schnellstem Wege in der - die Gesundung der europäischen Völker einzu-
nächsten Ministerratsitzung der EWG diesen Vor- mischen; hier sehe ich allenfalls ein kommunistisches
stoß zur Stärkung ides demokratisch-parlamentari- Parteiinteresse daran, daß durch Unordnung, Elend
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und Unzufriedenheit der Weizen der kommunisti- haben sie mit Nein beantwortet, wir mit Ja —, ob
schen Propaganda blüht. man zur Überwindung der Sorge der Sowjetunion
(Abg. Dr. h. c. Dr.-Ing. E. h. Möller: sehr vor einer Kombination dieser amerikanischen ato-
richtig!) maren und Fernwaffenüberlegenheit mit dem ame-
rikanischen Rüstungspotential unter amerikanischer
Da ich aber in der Außenpolitik sagen muß: ich bin Führung, der deutschen militärischen Tüchtigkeit
bereit, mich über die Interessen fremder Staaten zu und Erfahrung — wo ja die Sowjetunion im zweiten
unterhalten, ich bin nicht bereit, die Interessen der Weltkrieg immerhin einiges erlebt hatte — und den
kommunistischen Partei zu fördern, verbitte ich mir ungelösten Problemen im Herzen Europas als Ge-
jede Intervention einer anderen Macht in diesen genleistung für eine andere Sicherheitslösung im
inneren Vorgang der Gesundung der europäischen Herzen Europas, die nicht die Waffenlosigkeit ge-
Staaten von der Kleinstaaterei zu einer modernen wesen wäre, sondern die ein europäisches Sicher-
Gemeinschaft. heitssystem mit der Höhe nach vertraglich begrenz-
(Beifall bei der SPD und vereinzelt bei der ten Beiträgen einer Reihe von Partnerstaaten außer
FPD.) den Deutschen gewesen wäre, die Sowjetunion zu
Das ist das eine. einer Lösung der Deutschlandfrage im Sinne der
Wiederherstellung der deutschen Einheit in Freiheit
Und nun, meine Damen und Herren, gibt es ein hätte bewegen können.
einfaches Rechenexempel. Wer da sagt, man müsse
mit der europäischen Einigung warten, bis die deut- Es ist heute nahezu müßig, darüber zu streiten.
sche Einheit erreicht sei, der zahlt der Sowjetunion Der Versuch ist nicht unternommen worden. Aber
eine Prämie für die Verhinderung der deutschen heute sieht die Weltlage anders aus. Diese Sorge,
Einheit, denn damit hätte sie gleichzeitig auch noch meine Damen und Herren, ist doch weitgehend nur
die europäische Einheit torpediert. Dann kommt bei- noch ein sowjetischer Propagandaschlager. Wir
des überhaupt nicht zustande. haben es doch bis vor Kuba erlebt — erst seit Kuba
ist das wieder anders —, daß die sowjetische Poli-
(Abg. Rasner: Späte Erkenntnis! — Abg.
tik sich beinahe in einer Euphorie der Macht bewegt
Majonica: Wie gut, daß Sie kein Prämien-
hat. Seit 1958 weiß man von sowjetischer Raketen-
zahler mehr sind, Herr Erler! — Weitere
Zurufe von der CDU/CSU.) technik. Der Sputnik war der erste Beweis für die
ganze Welt. Seitdem hallen die sowjetischen Atom-
— Ich habe zu diesem Thema schon einmal gespro- explosionen beinahe ununterbrochen über den Erd-
chen und habe Ihnen das gleiche schon einmal ge- ball, seitdem weiß man, daß die Sowjetunion nicht
sagt; ich rufe es nur noch einmal in Erinnerung. allein empfindlich ist, sondern sowohl die Vereinig-
1) Dieser zweite Einwand hinsichtlich der Montan- ten Staaten als auch Europa.
union, der verständlich ist und der auf dem militä-
rischen Gebiete noch eher verständlich sein müßte Sehen Sie, diese Veränderung der weltpolitischen
— auf das militärische Gebiete komme ich noch —, Machtverhältnisse hat auch zu einer brutalen Zu-
ist durch den Lauf der Geschichte überholt. spitzung der sowjetischen Deutschlandpolitik ge-
führt. Denn seitdem liegt das Berlin-Ultimatum auf
Bliebe ein dritter! Es war lebensgefährlich, auf dem Tisch. Seitdem handelt es sich nicht mehr um
die Dauer aus den lebendigen Volkswirtschaften Angebote, einen Vertrag — so schlecht er in der
zwei Scheiben herauszuschneiden — Kohle und Vorlage auch gewesen sein mag — mit einem
Stahl — und diese sozusagen zu einem autonomen Deutschland abzuschließen, sondern darum, unse-
Kuchen zu verbacken, weil das nicht funktionieren rem Volke ein Spaltungsdiktat aufzuerlegen. Seit-
kann, wenn der Rest der Volkswirtschaft draußen dem handelt es sich um den Versuch, das freie
ist, da man Wirtschaftskraft nicht so aufspalten Berlin aus den freiheitlichen Lebensformen des We-
kann. Aus dem Grunde mußte man den Sprung stens herauszubrechen. Diese Veränderung der
nach vorne wagen und die gesamten Wirtschaften Weltpolitik muß man einfach sehen.
integrieren. Aus diesem Grunde haben wir Sozial-
demokraten den Gemeinsamen Markt nicht nur ge- Ich bedauere Sie. Ich kann nicht mit Stolz sagen:
fordert, sondern mit beschlossen, im Gegensatz zu Gott sei Dank, daß es so gekommen ist. Aber bitte,
den Freien Demokraten, die sich seinerzeit diesem ist das ein Grund, daß man sich heute über jene
Vertragswerk versagt haben. erhebt, die damals versucht haben, nach einem ande-
ren im Interesse unseres Volkes liegenden Wege zu
(Beifall bei der SPD.) ringen? Sie waren anderer Meinung. Laßt die bei-
Und nun zu den offenbar bei Ihnen immer noch den Meinungen gegeneinander stehen! Aber die
schwer verständlichen Diskussionen um die militä- Veränderung der weltpolitischen Machtverhältnisse
rischen Probleme! Dazu muß man sich einfach die kann nicht dahin mißdeutet werden, daß wir politi-
Machtverteilung in der Welt ansehen, heute und sche Entscheidungen des Jahres 1952 heute für rich-
in den 50er Jahren. Damals verfügten die Vereinig- tig halten, die damals falsch waren, deren Konse-
ten Staaten von Amerika über ein beinahe vollstän- quenzen aber heute von uns allen miterlebt und
diges Monopol an Atomwaffen und als einzige über mitgetragen werden müssen, weil niemand aus der
eine strategische Luftwaffe, mit deren Hilfe sie ihre Geschichte dieses Volkes aussteigen kann,
Atomwaffen im Falle eines großen Konflikts nahezu
an jeden Punkt der Sowjetunion hätten bringen (Beifall bei der SPD)
können, ohne daheim auch nur zu verdunkeln zu weil bei der Entwicklung der Machtverhältnisse
brauchen. In jener Lage war die Frage offen — Sie unser Volk auf Gedeih und Verderb auf die engste
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Solidarität mit der westlichen Führungsmacht ange- rechnet ein Land, das zweimal durch eben jenen
wiesen ist und — was ich seit 1955 in diesem Saal stärksten Partner von einem gefährlichen Invasoren
gesagt habe — weil selbstverständlich auch eine erlöst worden ist, ein übergroßes Maß an Mißtrauen
Oppositionspartei Verträge einhalten muß, die von gegenüber der westlichen Führungsmacht ent-
der Mehrheitspartei seinerzeit gegen ihren Willen wickelt. Offenbar liegen diese geschichtlichen Er-
abgeschlossen worden sind. Ich wollte Ihnen das fahrungen schon zu lange zurück.
hier ruhig noch einmal im Zusammenhang sagen.
Ich finde, daß zur Glaubwürdigkeit des Verteidi-
Und nun ganz zum Schluß: ich sprach von der gungswillens der Allianz gegenüber der Sowjet-
Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Vorhin union auch das Vertrauen in die Entschlossenheit
klang in diese Debatte etwas die Aussprache über der westlichen Führungsmacht gehört, ohne die
die Grundprobleme der Verteidigung hinein. Ich Europa heute in diesen globalen Machtverhältnis-
freue mich darüber, daß der Verteidigungsausschuß sen sich gar nicht schützen kann.
demnächst Gelegenheit haben wird, mit dem Herrn (Beifall bei der SPD.)
Verteidigungsminister, wenn er sich einen allge-
meinen Einblick verschafft hat, über diese Dinge Wer an diesem Vertrauen nagt, der zerstört prak-
ausführlicher zu sprechen. Ich möchte hier nur mei- tisch die kriegsverhütende Wirkung des Bündnisses
nen, daß es auch im Interesse des deutschen Volkes und ermuntert andere zu Abenteuern. Das löst noch
und nicht nur der westlichen Führungsmacht liegt, nicht das Problem, daß man zur Bewahrung dieses
wenn die Glaubwürdigkeit des Verteidigungswil- Vertrauens im Mechanismus des Bündnisses seine
lens überhaupt, die manchmal erschüttert war, wie- Stimme erheben muß für eine Verteidigungspla-
derhergestellt wird. Dazu gehört, daß der Westen nung, die so angelegt ist, daß jeder mit gutem Ge-
aus der schrecklichen Alternative herausmuß, für wissen weiß: Jawohl, dies deckt die Interessen aller
den Fall eines jeden Konflikts nur wählen zu kön- Beteiligten, auch unsere. Wenn hier jene militäri-
nen zwischen einer atomaren Auseinandersetzung, sche, nach meiner Meinung gar nicht notwendige,
die mit dem eigenen Selbstmord identisch ist, und aber für diesen politischen Zweck vielleicht sinn-
der Kapitulation. Das ist eine Verführung des Geg- volle Anregung von Nassau diesem Ziele dienen
ners, auf die Kapitulation zu spekulieren. Deshalb kann, dann liegt es durchaus in unserem Interesse,
muß man über eine breitere Skala von Abwehrmög- daß wir die Hand, die uns da hingestreckt worden
lichkeiten verfügen, in die immer noch eingebaut ist ist — um ernsthaft darüber zu reden, wie dieses
— jawohl — als durchaus der Abschreckung die- Problem gemeistert werden kann —, ergreifen und
nende Möglichkeit, daß in der heutigen Welt jeder mit den anderen Beteiligten darüber sprechen, wie
Konflikt die Gefahr der Entartung bis in die letzte man diesem Problem beikommen kann.
atomare Auseinandersetzung hinein in sich trägt. Was ich aber für lebensgefährlich und geradezu
Die Ungewißheit des Risikos gehört zur Abschrek- für beleidigend halte, das ist jene unsinnige Dis-
kung, aber das Risiko ist nur dann ungewiß, wenn kussion, daß die Führungsmacht angeblich die Euro-
man zwischen mehreren Möglichkeiten wählen päer in den Rang eines Fußvolks herabdrücken
kann. wolle, um nur ja sich selber für unbegrenzte Zeit im
Dazu muß man eben mehrere haben. Und das ist Besitz der atomaren Verfügungsgewalt zu wissen.
nun heute die Sorge in der westlichen Allianz: Wie Die Vereinigten Staaten wissen einmal, was der
sollen diese Möglichkeiten beschaffen sein? Nach- Verlust Euorpas auch für sie bedeuten würde. Und
dem der Westen insgesamt über ein atomares zum zweiten — das sei hier nicht verschwiegen —:
Potential verfügt, das ausreicht, um die Menschheit das mit dem Fußvolk sieht doch wohl so aus, daß
ein paarmal auszurotten, fehlt es ganz entscheidend die Amerikaner mit 400 000 Soldaten auf dem euro-
auf dem Gebiet der konventionellen Kampfkraft. päischen Kontinent einen größeren Beitrag zu dem
Wir können uns auch hier nicht übernehmen. Wir Fußvolk leisten als die meisten europäischen Staa-
wissen um unsere Grenzen, um die Menschen, um ten.
die finanziellen, um die wirtschaftlichen Grenzen. In Damit, meine Damen und Herren, bin ich am Ende.
der Regierungserklärung heißt es daher mit Recht, Auf die Bemerkungen von Herrn von Brentano we-
daß es auf die Verstärkung der Qualität und der gen der Zusammenarbeit der Fraktionen beim Schutz
Kampfkraft ankommt, und ich freue mich darüber, von Staatsgeheimnissen brauche ich nicht ausführ-
daß endlich entgegen dem Text einer vom früheren lich zurückzukommen. Dazu liegen Vorschläge seit
Verteidigungsminister dem Hause leider schriftlich langem vor; wir sollten uns ernsthaft darüber unter-
erteilten Antwort auf eine Anfrage die territoriale halten. Nur hat dies nichts ,mit dem Fallex-Artikel
Verteidigung einen gebührenden Rang in der Ver- zu tun; das wissen Sie auch, und um den geht es
teidigungsplanung bekommt. Hier sind also Aufga-
ja heute,
ben zu erfüllen, bei denen auch wir, ohne daß wir
uns Unmögliches zumuten, die Kampfkraft unserer (Abg. Dr. von Brentano: Nicht allein!)
Bundeswehr im Rahmen des westlichen Bündnisses
stärken können. um den ging es bei den Untersuchungen. Dazu
möchte ich sagen: was wir hier erörtert haben und
Das zweite ist: Das Bündnis muß Sicherheit für
woran eine Bundesregierung zerbrochen ist, war
alle schaffen. Und da gab es natürlich die Sorge, ob
doch nicht der Inhalt des Artikels einer Zeitschrift;
der stärkste Partner in der Stunde der Gefahr auf
Leben und Tod seine Mittel auch für den schwäche- so mächtig ist die auch nicht,
ren einsetzt. Ich habe nie verstanden, warum ausge- (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2629
Erler
sondern es war das, was hinterher passierte und was Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
in der Öffentlichkeit den Eindruck hervorrief, daß der Herr Bundeskanzler.
man hier nicht nach einwandfrei rechtsstaatlichen
Prinzipien vorgegangen ist. Daß das Militärressort Dr. Adenauer, Bundeskanzler: Herr Präsident!
Zuständigkeiten der Rechtspflege an sich gezogen Meine Damen und meine Herren! Herr Kollege Erler
hat, war das Beunruhigende; spricht nach meiner Schätzung etwa 250 bis 300 Sil-
ben in der Minute.
(Beifall bei der SPD)
(Heiterkeit in der Mitte. — Zuruf von der
und zwar nicht einmal deswegen, weil die Soldaten SPD: Was soll das?)
das wollten, sondern weil der zivile Verantwortliche
des Militärressorts dies zur Bewahrung seiner poli- Ich schätze das so aus der Tätigkeit der Stenogra-
tischen Machtposition tat. Das hat Beunruhigung phen. Natürlich ist es dann sehr schwer, auf alles zu
verursacht. Dieser Punkt ist durch die Aktionen die- antworten, was er in verhältnismäßig kurzer Zeit
ses Hauses, durch die Auseinandersetzungen auch im mit größter Schnelligkeit sagt. Aber einige Sachen
Regierungslager und durch den Sturm in der öffent- habe ich mir doch notiert.
lichen Meinung in erfreulicher Weise klargestellt Sie haben gesagt, Herr Erler: Wer an dem Ver-
worden. So etwas wollen wir alle in unserem Lande trauen der Führungsmacht nagt, macht sich — ich
nicht noch einmal erleben. Ich bin überzeugt, daß weiß nicht, welchen Vergehens — schuldig. Sie
z. B. der neue Verteidigungsminister — soviel wir haben dann einige Minuten darauf gesagt: Hier
vielleicht auch in anderen Fragen gelegentlich wer- müsenaldiWhrtg.Ewasübein,
den streiten müssen; ich weiß es ja noch nicht — Herr Erler, nicht wahr? Das würden Sie doch zu-
sich in dieser Frage — davon zeugt die Regierungs- geben.
praxis in seinem Lande — anders verhalten wird. (Heiterkeit bei den Regierungsparteien. —
Das wollte ich hier doch noch einmal ausdrücklich Abg. Erler: Ein Unterschied der Lebens
gesagt haben. gewohnheiten, Herr Bundeskanzler! —
Was uns weiterhin erregt hat, war die Tatsache, Weitere Zurufe von der SPD.)
daß das Haus es ertragen mußte, von einem verant- Aber Sie haben dann gesagt: auch die Bundesregie-
wortlichen Minister so hinters Licht geführt zu wer- rung! Sehen Sie, wer an dem Vertrauen zur Bun-
den, wie wir es jetzt dokumentarisch vor uns sehen. desregierung nagt, der macht sich auch einer schwe-
Auch das war nicht gut; auch das darf sich nicht wie- ren Schuld gegenüber dem deutschen Volk schuldig.
derholen. Vor diesem Hause müssen alle die Wahr- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Erler:
heit sagen, auch und in erster Linie die Bundes- Und das nach dem ,,Spiegel"-Bericht? —
regierung. Weitere Zurufe von der SPD.)
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Sie sind heute hingewiesen worden — ich kann
der FDP.) nicht einmal sagen: angegriffen worden — auf Ihre
Im Hintergrund steht das Verhältnis von Regie- starken Veränderungen wichtigster politischer An-
rung und Parlament zu Presse und öffentlicher Mei- schauungen und Grundsätze, die Sie im Laufe dieser
nung. Die sorgsame Abgrenzung — bei der Straf- Jahre erlebt haben und die wir miterlebt haben.
rechtsreform werden wir noch darüber reden müssen Sicher, meine Herren, es muß mehr Freude sein im
— zwischen dem legitimen Bedürfnis nach Geheim- Himmel über einen Sünder, der Buße tut. Aber,
nisschutz des Staates und dem legitimen Grundrecht meine Herren, er muß auch Buße tun! Das gehört
der Informations- und Meinungsfreiheit auf der an- auch dazu.
deren Seite ist eine schwierige Aufgabe; wir müs- (Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
sen uns an sie heranmachen. Nur so erreichen wir, Meine Herren, Herr Erler ist wirklich — um seinen
daß unsere Staatsbürger, wenn sie an die Wahl- Ausdruck zu gebrauchen — ein Mann von unge-
urne gehen, auch einwandfrei informiert sind und brochenem Selbstbewußtsein. Ich habe so etwas sel-
eine Entscheidung fällen können; denn sie sind der ten erlebt wie heute Ihre Rede hier. Sie haben den
Souverän, nicht wir. Wir handeln in ihrem Auftrag, schönen Satz zur Begründung für den Wechsel in
meine Damen und Herren. Auch zwischen den Wah- Ihren Auffassungen zu lebenswichtigen Dingen des
len müssen die Staatsbürger sich regen können. deutschen Volkes gesagt: Die Veränderung der
Ohne Demokraten gibt es keine Demokratie. Das ist Weltpolitik muß man sehen. Vollkommen richtig!
ein schwieriges Erziehungswerk, zu dem dieses Aber es fragt sich, Herr Erler, wann man sie sieht.
Haus sicher schon einen Beitrag geleistet hat, aber Politik kann nur der machen, der sie rechtzeitig
auch weiterhin leisten muß. sieht und nicht post.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
(Vorsitz: Präsident D. Dr. Gerstenmaier.)
Ich meine, wenn mir nachher vorgeführt wird, daß
Denn in Stunden der Gefahr ist kein Verlaß auf Sowjetrußland eine ganz außerordentlich große
noch so gut geölte Maschinerien; da kommt es auf nukleare Macht geworden ist und daß es uns an
den Willen und die Bereitschaft der Bürger dieses den Kragen will, dann gehe ich mit, Herr Erler,
Landes an, für ihre freiheitlich rechtsstaatliche dann sehe ich die Weltgeschichte. Nein, man muß
Grundordnung auch unter Risiken einzustehen. sie eben vorher sehen.
(Anhaltender Beifall bei der SPD und bei - Sie haben zum Beispiel auch davon gesprochen,
Abgeordneten der FDP.) daß Sie überlegt hätten, ob man an Amerika, diese
2630 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Dr. Adenauer
nukleare Macht, herangehen solle, solange nicht die ob sie nun in intimer Verbindung mit Ihnen stand,
Frage der Wiedervereinigung seitens Rußlands weiß ich nicht —,
negativ beantwortet sei. Wissen Sie denn nicht, (Heiterkeit)
Herr Erler, was der amerikanische Präsident Eisen- die Bergwerksindustrie davon zu überzeugen, daß
hower ganz kurz nach seinem Regierungsantritt der sie unter keinen Umständen hier nein sagen dürfe.
Welt öffentlich angeboten hat? Richtig, damals hat- Und wir haben es getan. Die Sozialdemokratische
ten die Vereinigten Staaten allein nukleare Waffen. Partei hat damals leider nicht mitgemacht.
Aber Eisenhower hat der ganzen Welt angeboten,
sämtliche amerikanischen nuklearen Waffen, sämt- Ich würde jetzt hier nicht davon gesprochen ha-
liche Stoffe zur Herstellung, alle Vorräte einer ben — ich hatte gar nicht daran gedacht, davon zu
öffentlichen Kontrolle zu unterstellen, um sie zu sprechen —, wenn Sie sich nicht hier hingestellt
friedlichen Zwecken zu verwenden. Der einzige hätten als ein Prophet, wie seit Christi Geburt kei-
Staat, der das abgelehnt hat, war Sowjetrußland, ner mehr auf die Welt gekommen ist.
meine Damen und Herren. Ich meine, da konnte (Beifall und anhaltende allgemeine Heiter
man doch schon die Weltgeschichte in etwa sehen keit.)
und wußte, was man für Konsequenzen daraus zu Aber sehen Sie, Herr Erler, wer Begabung hat
ziehen hat.
— und Sie haben Begabung —,
Sie haben dann das mit der Montanunion wunder- ('erneute Heiterkeit)
voll dargestellt. Meine Herren, dem Herrn Kollegen
Erler waren Kohle und Eisen zu wenig; es müßte hat auch eine große Verantwortung für den Ge-
viel mehr hereinkommen. Er hat angedeutet, was brauch dieser Begabung. Ich sage Ihnen: weitere
alles hereinkommen müsse, damit wirklich was ent- solche Reden hier in diesem Hause tragen nicht
stehe. Herr Kollege Erler, es gibt ja auch noch dazu bei, daß das Vertrauen zum deutschen Volk
Zeugen der Entstehung der Montanunion. Sie kön- wächst.
nen darüber auch in den Stenographischen Berichten (Widerspruch bei der SPD.)
des Bundestages nachlesen. Wie ist denn die Mon- — Natürlich müssen Sie nein sagen; Sie dürfen doch
tanunion entstanden? nicht ja sagen, das ist doch klar.
Mir hat Herr Schumann damals geschrieben:
(Heiterkeit in der Mitte.)
Zwischen dem französischen Volk und dem deut-
schen Volk dauert das Mißtrauen an, und die Fran- Sie glauben noch immer, wie es scheint, daß man
zosen sind voll Furcht, daß sich Deutschland eines draußen in der Welt zum deutschen Volk ein unge
Tages wieder erholen wird und daß es dann an brochenes Vertrauen hat. Gar kein Gedanke daran!
Frankreich Revanche nehmen wird. Er hat dann in
dem Brief fortgefahren: Jede Aufrüstung zeigt sich (Zuruf von der SPD: Denken Sie doch mal
auf zwei Gebieten an, auf dem Gebiete der Produk- an Strauß!)
tion von Stahl und Eisen und damit zusammen- Meine Damen und Herren, im Ausland ist nicht ver-
hängend von Kohle. Darum schlug er vor, daß gessen, was von hier ausgegangen ist, von Deutsch-
zwischen den Staaten, die er angeschrieben hat -- land.
auch Großbritannien war dabei, an allererster Stelle (Zuruf von der SPD: Von dort!)
—, eine Montanunion derart gegründet wird, daß
jedes Land überschauen kann, wenn auf dem Gebiet Darum müssen wir, meine Damen und Herren — ich
der Produktion von Eisen, Stahl und Kohle irgend- spreche aus dem Gefühl einer tiefen Verantwortung
eine Unruhe entsteht. Wenn wir so etwas schaffen — und einer großen Sorge heraus — mit der größten
so fuhr er fort —, dann gewinnen wir das Vertrauen Sorgfalt alle Reden bedenken, die sich so direkt an
zueinander, das keiner den anderen überfallen wird. das Ausland wenden.
— Das war der Gesichtspunkt der Montanunion, (Lebhafte Rufe Sehr gut! und Sehr wahr!
und dem haben Sie nicht zugestimmt. bei der SPD. — Zuruf von der SPD: Ins
(Abg. Dr. Mommer: Es gab auch andere, Stammbuch!)
Herr Bundeskanzler!) Und deswegen war diese Bemerkung von dem
— Nein, es war nichts anderes! Mann mit (dem ungebrochenen Selbstvertrauen, auf
den Sie so reagiert haben, eine höchst überflüssige
(Abg. Dr. Mommer: Auch andere!) Bemerkung.
Dem haben Sie nicht zugestimmt. Und neben Ihnen
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.)
standen — ich darf da nicht Genossen sagen — als
Genossen in dem Kampf die Schwerindustrie. Meine Damen und Herren, seien wir doch froh,
daß es so ist, wie es jetzt ist mit Frankreich. Ich
(Heiterkeit.) weiß, vom Standpunkt der parlamentarischen Demo-
Das waren damals Ihre Freunde. kratie aus kann man Kritik üben.

(Fortgesetzte Heiterkeit und Zurufe von der (Zuruf von der SPD: Muß man!)
SPD.) Aber, meine Damen und Herren — ich sage das
-
Ich erinnere mich noch sehr, welche Mühe es auch sehr offen —: der Zustand, wie er in Frankreich die
mich persönlich gekostet hat, die Schwerindustrie — Jahre vorher gewesen ist, wo die Regierungen stän-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2631
Dr. Adenauer
dig gewechselt haben, war für Frankreich schlecht, der erste Gegenstand der Konsultation der Beitritt
war für uns schlecht, war für Europa schlecht. Englands zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
sein. Das war sehr korrekt, und das wird auch nach
(Hört! Hört! und Zurufe von der SPD.) menschlischem Ermessen der erste Gegenstand der
Und ich will Ihnen nur folgendes sagen — gerade Konsultation sein.
den Herren, die von da hinten die Zwischenrufe Ich will Ihnen aber noch weiter wiedergeben, was
machen —: mir hat der verstorbene Foster Dulles
ich Herrn de Gaulle, als der Antrag der Briten, in
zweimal gesagt: „Wenn Sie nicht zu uns halten,
die EWG aufgenommen zu werden, ernst wurde —
dann werden wir Europa verlassen." So sah es doch
er war nicht immer so ernst —, über die deutsche
damals in Europa aus! Die Amerikaner glaubten
Stellungnahme und über meine persönliche Stellung-
nicht an die Festigkeit. Wir haben uns konsolidiert,
nahme gesagt habe. Ich habe ihm erklärt: Wir Deut-
und wir haben dafür gesorgt, daß man doch wieder
schen sind auf ein gutes Einvernehmen mit Groß-
Vertrauen zum deutschen Volke bekommen hat. britannien wegen Berlin und der Wiedervereinigung
Und seien wir froh, Herr Erler, über jede Freund-
angewiesen, und deswegen bin ich ohne Rücksicht
schaft, die wir uns noch erwerben in irgendeinem
auf alles andere für die Aufnahme 'Großbritanniens
Volke. Wir können sie bei Gott gebrauchen. in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Ich habe
(Beifall bei der CDU/CSU und Abgeordne- gesagt: Natürlich muß über Einzelheiten gesprochen
ten der FDP.) werden.
Und überlassen wir jedem Volke, sich eine Regie- Am 11. Oktober des Jahres 1962 habe ich Ihnen,
rungsreform zu bauen, die es will. Das ist seine Herr Kollege Ollenhauer, desselbe geantwortet. Sie
Sache, meine Damen und Herren, solange es damit können das nachlesen. Ich habe Ihnen ganz klar er-
keine anderen bedroht; das ist seine Sache, und klärt, daß ich dafür sei und daß natürlich über dieses
wir sollten uns hüten vor an Spott grenzender Kri- und jenes gehandelt werden müsse. Damals habe ich
tik. gesagt — und gerade das hat Anerkennung in der
Im übrigen möchte ich Ihnen nur das eine sagen: britischen Presse gefunden —: Die britischen Ver-
Nach den letzten Zählungen in Frankreich haben treter sind dazu da, bei den Verhandlungen die bri-
67 Prozent der Befragten sich für dieses Regime tischen Interessen wahrzunehmen, und die deutschen
ausgesprochen. Ich möchte Ihnen noch ,ein weiteres Vertreter sind dafür da, die deutschen Interessen
sagen. Als ich jetzt in Paris war, hat Herr Blanken- wahrzunehmen, und dann muß man eben sehen, daß
horn 150 Abgeordnete für mich eingeladen zu einem man übereinkommt. Das ist bei jedem politischen
Zusammenkommen. Natürlich, der größte Teil da- Verhandeln so selbstverständlich wie nur denkbar.
von waren Gaullisten. Es waren aber auch Nicht- Aber ich wiederhole nochmals, Herr Kollege Ollen-
gaullisten dabei, und ich habe sehr freimütig mit hauer: ich habe damals, als zuerst im Ernst darüber
den Herren über alles gesprochen. Und im Grunde gesprochen wurde, Herrn de Gaulle gesagt, daß ich
genommen sind die Herren alle ganz zufrieden. aus diesen politischen Gründen dafür sei, und ich
habe es später hier vor dem Bundestag auch wieder-
(Lachen bei der SPD.) holt.
Und das 'ist doch schließlich die Hauptsache! Ich meine, das ist keine gute Außenpolitik: Da-
(Heiterkeit bei der SPD.) durch, daß man einem Regierungschef immer wieder
die Frage stellt, daß man glaubt, verschiedene
Aber vor allem, meine Damen und Herren: ich
Schattierungen der Meinungen innerhalb der Bun-
habe mich gestern absichtlich so vorsichtig ausge-
desregierung herauszufinden, dadurch, daß man vom
drückt und habe gebeten, wir möchten über das
Zwielicht spricht, fördert man die Sache nicht. Ich
deutschfranzösische Abkommen diskutieren, wenn
wünsche, daß die Briten an mein Wort glauben:
es hier zur Vorlage kommt. Wir können jetzt nicht
ausgiebig darüber diskutieren; auch 'deswegen nicht, (Lebhafter Beifall bei den Regierungs
weil dadurch nun im Zusammenhang mit dem, was parteien.)
mit Großbritanniens Beitritt geschehen ist, dann Dadurch werden wir in den ganzen Verhandlungen
dieses Abkommen eine viel zu große Bedeutung einen guten Schritt vorankommen. Aber wir werden
in der außenpolitischen Bewertung erlangt. Man nicht vorankommen, wenn hier in diesem Hause an
soll doch alle Dinge 'in ihrem Rahmen lassen und meinen Worten Zweifel geäußert werden.
nicht darüber hinausgehen.
(Anhaltender Beifall bei den Regierungs
Da ich nun einmal das Wort genommen habe und parteien.)
da Herr Kollege Ollenhauer, der ganz spezielle Fra-
gen an mich gestellt hat, inzwischen wieder anwe-
send ist, möchte ich ihm diese Fragen jetzt beant- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
worten. Herr Kollege Ollenhauer, Sie haben zwei der Abgeordnete Erler.
spezielle Fragen an mich gerichtet. Die erste betraf
die Konsultation mit Frankreich und ging dahin, ob Erler (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver-
ich auch konsultiert worden sei über die Rede, die ehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich mit
de Gaulle auf der Pressekonferenz gehalten hat. Befriedigung die Sätze registrieren, die der Herr
Dazu sage ich Ihnen folgendes. Bei der Schlußsit- Bundeskanzler soeben in unmißverständlicher Weise
zung, die wir in Paris hatten, hat de Gaulle gesagt: - dem deutsch britischen Verhältnis und der Haltung
-

Wenn das Abkommen Rechtens geworden ist, wird der Bundesregierung gegenüber dem Eintritt Groß-
2632 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Erler
Britanniens in die Europäische Wirtschaftsgemein- Koalitionspartei im Wartestand wirklich bleiben
schaft gewidmet hat. Dieser Standpunkt, ehern wollen und sich jederzeit bereit halten, in die Re-
durchgehalten, wird die Unterstützung des ganzen gierung einzutreten.
Hauses haben.
(Allseitiger Beifall.) Sie wissen, es gibt in Berlin einen Mann, der
einmal die Bemerkung gemacht hat: Wer nicht so
Ich möchte nicht auf die Geschichtsbetrachtungen denkt wie die CDU, der fliegt aus der SPD. Ich halte
zurückkommen, Herr Bundeskanzler. Da sind wir diese Bemerkung natürlich nicht für richtig. Aber sie
nun einmal verschiedener Meinung. Ich sehe beäng- ist gemacht worden. Auf der anderen Seite wird
stigende Perspektiven vor mir. Wenn ich heute man nach den Darlegungen des Herrn Bundeskanz-
schon ein Prophet mit ungebrochenem Selbstbewußt- lers zugeben müssen, daß die andere These: „Wer
sein sein sollte, was wird dann erst einmal in spä- nicht 'so denkt wie die SPD, der fliegt aus der CDU"
teren Lebensjahren aus mir werden? vorläufig noch nicht gilt, wenngleich wir vor einiger
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) Zeit so gewisse Tendenzen glaubten feststellen zu
können.
Hoffentlich passen dann andere auf mich auf.
Ein letztes. Ich würde mich freuen, wenn vielleicht Herr Erler, Sie haben dann von dem verlorenen
der Herr Außenminister sich zu einigen Anregun- Jahr gesprochen. Stellen wir doch auch das ver-
gen äußerte — denn das ging sehr ins Fachliche, nünftigerweise richtig! Herr Kollege Ollenhauer,
und das möchte ich dem Herrn Bundeskanzler gar ein Jahr, in dem es gelungen ist, den Frieden zu
nicht zumuten —, die hier für den Fortgang der erhalten und noch eine Steigerung des Sozialpro-
Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens dukts zu erzielen, ist wirklich kein verlorenes Jahr.
gegeben worden sind, und zwar sowohl vom Frak-
Nun hat die Frage des deutsch-französischen Ver-
tionsvorsitzenden der CDU/CSU als auch von mir.
trages einen großen Raum in den Darlegungen von
Ich behaupte gar nicht unbedingt, daß das alles
Herrn Erler eingenommen. Wir sind uns jedoch
Perlen aus dem Sack unerschöpflicher Weisheit sind,
einig, daß wir uns heute noch nicht in der Ratifizie-
aber man muß das Gespräch doch wenigstens ein-
rungsdebatte befinden, und ich möchte mich auch
mal beginnen. Vielleicht können wir da vom Herrn
daran halten.
Bundesaußenminister einiges erfahren. Ich glaube,
das würde auch im Interesse aller liegen. Fest steht jedenfalls, daß eine völlige Einigkeit in
Denn — und damit rasch noch ein Wort zur Kon- diesem Hause über die unverrückbare Notwendig-
sultation — wenn wir von dem deutsch-französi- keit einer deutschfranzösischen Feundschaft besteht.
schen Vertrag und seinen Konsultationspflichten, Das hat der Bundestag in seiner letzten außenpoli-
tischen Debatte bekräftigt, und das ist, sehr verehr-
(Bundeskanzler Dr. Adenauer: Verzeihen ter Herr Bundeskanzler, auch immer unsere Meinung
Sie : Konsultierungspflichten!) gewesen. Es hat in der Vergangenheit Dinge gege-
— seinen Konsultierungspflichten ausgehen, dann ben, bei denen wir nicht derselben Meinung waren;
ist es sicher richtig, daß jeder Partner auf die Ge- in diesem Punkt jedoch habe ich immer mit Freude
genstände eingehen muß, die der andere vorschlägt. und mit Bewunderung festgestellt, mit welcher
Gut, wir haben aber doch heute schon durchaus die Zähigkeit Sie an diesem Gedanken festgehalten
Möglichkeit, ohne von einer solchen Rechtspflicht haben. Ich selbst hatte ihn schon von jemandem, der
Gebrauch zu machen, mit dem Partner darüber zu noch älter war als Sie, nämlich von jemandem, der
sprechen. Es hat ja auch schon bisher, ohne einen im Siegerland auf dem Kartoffelfeld die Mobilma-
solchen Vertrag, Konsultationen gegeben. Warum chung von 1870 noch miterlebt hat und der mir, wenn
also sollen wir so sehr lange warten? Vielleicht ich von Paris zurückkam, wo ich studierte, immer
bestünde die Möglichkeit, im Zusammenhang mit sagte: Na, was machen denn die Franzosen? Das
dem ganzen Bukett, das hier vorzutragen ich vor- sind doch auch Menschen wie wir! — So ist es in der
hin die Ehre hatte, das Gespräch mit unserem fran- Tat und infolgedessen muß der alte deutsch-franzö-
zösischen Freund — ich wiederhole: Freund — doch sische Gegensatz überwunden werden! Ich bin auch
schon etwas eher aufzunehmen, damit nicht allzu- der Meinung, die ganze Welt sollte sich darüber
viel Zeit verlorengeht. freuen, daß wir diesen Gegensatz überwunden
haben.
(Beifall bei der SPD.)
Natürlich gilt das gleiche auch für unser Verhält-
nis zu den Engländern. Auch mit den Engländern
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat wollen wir gute, ja ausgezeichnete Beziehungen
der Herr Abgeordnete Achenbach. haben. Aber lassen Sie mich hier ganz kurz noch
eine Bemerkung machen; sie schlägt ein bißchen in
Dr. Achenbach (FDP) : Herr Präsident! Meine die Kerbe, in die vorhin der Herr Bundeskanzler ge-
sehr verehrten Damen und Herren! Der verehrte schlagen hat. Ich meine — der Bundestag hat es zum
Kollege Erler hat seine Darlegungen mit einigen Ausdruck gebracht, und der Herr Bundeskanzler hat
spaßigen Bemerkungen über die Koalition begon- es jetzt sehr stark unterstrichen —, wir sind nun
nen, 'sicher provoziert durch meinen Freund Erich einmal für ausgezeichnete Beziehungen zu Großbri-
Mende. Aber, Herr Erler, ich habe Sie doch richtig tannien, und wir wollen, daß Großbritannien nach
verstanden, daß Sie 'die These von Erich Mende Europa und in die EWG hineinkommt. Das haben
eigentlich bestätigt haben, daß Sie nämlich eine wir erklärt.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2633
Dr. Achenbach
Nun vielleicht ist es ganz natürlich im Hinblick auch gut, wenn wir gerade heute noch einmal die
auf gewisse Pressestimmen, auch drüben, bei un- Entschließung des Bundestages vom 12. Oktober
seren Freunden, den Amerikanern, wenn ich sie ein- 1962 zitieren. Ziffer 4 lautet:
mal ein bißchen aufkläre auch über gewisse Gefühls- Der Fortschritt der Menschheit, von der ein
regungen bei uns. Sehen Sie, wenn mich jemand großer Teil noch von Hunger und Elend ge-
fragt: Sind Sie für den Eintritt der Engländer in Eu- plagt ist, hat als erste und unerläßliche Vor-
ropa?, sage ich ja, und wenn er dann zu mir sagt: aussetzung die Erhaltung des Weltfriedens.
Sind Sie wirklich dafür?, dann sage ich ja. Wenn er
dann aber sagt: Sind Sie auch ganz wirklich dafür Der Bundestag ist der Auffassung, daß, nach-
und haben Sie auch gar keine Vorbehalte, und ist es dem in Westeuropa eine dauerhafte Friedens-
wirklich so?, ja dann, muß ich sagen, fällt mir das ordnung gefunden worden ist, erneut versucht
langsam doch etwas lästig, und dann würde ich fast werden muß, auch mit Deutschlands östlichen
reagieren mit dem Wort: Was denken denn die Nachbarn zu einem wahren Frieden zu gelan-
Leute eigentlich, was wir für Leute sind! Das ist gen.
übrigens der Titel eines Artikels, der kürzlich drü- Das Recht auf Selbstbestimmung, auf nationale
ben in Amerika ein gewisses Aufsehen erregt hat. Einheit und Freiheit muß dabei für das deutsche
Wir wollen das einmal richtig verstehen. Es hat Volk ebenso respektiert werden wie für alle
ja auch bei uns Leute gegeben, die in früheren Zeiten anderen Völker.
das Bedürfnis hatten, an jedem Tag morgens, mittags Nun kann man natürlich über den Zeitpunkt von
und abends von den Amerikanern bestätigt zu be- Verhandlungen geteilter Meinung sein; aber ich
kommen, daß sie zu uns stehen würden. Das ist möchte doch von mir aus auf die Tatsache hinwei-
natürlich auch nicht richtig. Wir haben Vertrauen sen, Herr Bundeskanzler, daß gerade die Westeuro-
dazu, daß die Amerikaner zu uns stehen; aber da päische Union in einer einmütigen Entschließung im
wir ihre Verbündeten sind, haben auch wir schließ- Dezember vorigen Jahres darauf hingewiesen hat,
lich ein Recht darauf, daß man zu unserem Wort daß nach ihrer Auffassung, also nach Auffassung
Vertrauen hat. Dabei sollten wir es belassen und der Beratenden Versammlung .der Westeuropäischen
diese Tatsache nicht zerreden. Union, der Moment gekommen sei, im Hinblick auf
die Beendigung der Kuba-Krise nunmehr beschleu-
Herr Kollege Erler, wie immer haben sich in Ihren
nigt und dringend Gespräche zu eröffnen mit dem
Ausführungen auch Gedankengänge befunden, die
Ziel, zum Abschluß eines Friedensvertrages mit dem
unsere Billigung finden können. Ich meine, daß das
Osten zu kommen, der naturgemäß die Wiederver-
auch bei unseren Koalitionsfreunden der Fall ist.
einigung Deutschlands in sich schließen muß und
Ihre Anregung, aus der WEU ein Instrument zu der natürlich auch — und insofern, Herr Kollege
machen, das mithilft, das europäische Vertrauen Erler, sind wir uns auch völlig einig — das Recht
wieder zu stärken, scheint mir richtig zu sein. Auch der Deutschen, sich in eine vernünftigere euro-
ihr Hinweis auf die Verpflichtungen der WEU sind päische Organisation einzugliedern, in sich schließt.
sicher richtig. Nun, die Politische Kommission der Das lassen wir uns selbstverständlich von nieman-
WEU, Herr Bundeskanzler, die neulich in Paris ge- dem bestreiten. Ich bin sehr froh, daß auch Sie das
tagt hat, hat ja schon den Wunsch geäußert, der hier gesagt haben. Wir sind sicher alle dieser Mei-
Ministerrat der WEU möge es doch als eine vor- nung.
dringliche Aufgabe ansehen, eben im Rahmen der
Sieben — der Sechs plus England — wieder einen Aber ich glaube, Herr Bundeskanzler, wir sollten
guten neuen Anfang zu machen und in absehbarer an dieser Entschließung der Westeuropäischen Union
Zeit die Krise zu überwinden. Sie haben gesagt, die nicht achtlos vorbeigehen, weil sie die falsche Argu-
Krise sei heilbar. Das ist auch unsere Auffassung, mentation der russischen Note geradezu demon-
und ich meine, es ist gut, wenn niemand bei uns striert. Nein, es ist nicht so, daß wir gegen fried-
und auch niemand draußen diesen unseren Willen liche Koexistenz seien. Das stimmt ja nicht. Der
in Zukunft in Zweifel zieht. Bundestag und die Westeuropäische Union haben
eindeutig erklärt, daß sie einen gerechten Frieden
Nun, ich habe mich eigentlich gemeldet, weil ich im Osten wollen.
auch noch auf eine andere Tatsache hinweisen
möchte. Nicht nur im Westen nämlich, Herr Bundes- Nun, wenn man zu einem Frieden kommen will,
kanzler, werden die Motive des deutsch-fran- Herr Bundeskanzler, dann gibt es zwei Dinge, die
zösischen Vertrags oder gewisse Möglichkeiten man berücksichtigen muß, erstens die Methode und
falsch interpretiert, sondern die Sowjetunion hat zweitens die Substanz. Sicherlich haben alle die
uns ja gerade jetzt eine Note übersandt, in dem recht, die darauf hingewiesen haben, daß es nicht
auch sie diesem Vertrag völlig falsche Motive so aussieht, als ob es in der Substanz jetzt oder
unterschiebt. Auch die Sowjetunion sagt, sie habe ganz schnell eine Einigung zwischen den Auffassun-
nichts gegen gute deutsch-französische Beziehungen gen der Russen und den unseren geben könne. Die
— und das ist sehr erfreulich —, aber sie meint, russischen Vorschläge vom Jahre 1959 waren sicher
daß dieser Vertrag zwischen uns und den Fran- nicht geeignet, eine Einigung herbeizuführen.
zosen den Zweck verfolge, einen Sturmbock gegen Aber man muß ja, Herr Bundeskanzler, selbst
sie 'zu bilden.
wenn der Gegner — wenn Sie so wollen — einen
Ich glaube, es ist gut, wenn man hier feststellt, Balken im Auge hat, als besonders anständiger
daß diese Auffassung abwegig ist. In diesem Zu- Mensch auch den geringsten Splitter bei sich selbst
sammenhang, Herr Bundeskanzler, ist es sicher vermeiden. Es ist nun nicht ganz zu bestreiten, daß
2634 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Dr. Achenbach
Ï auch wir noch ein bißchen insofern in Verzug sind, die Bundesrepublik und die Bundesregierung bereit
als eine Note der Russen, die in höflichem Ton ge- sind, das Notwendige zu tun.
halten war, von uns jedenfalls nicht beantwortet
worden ist. Das ist die Note vom 3. August 1961, in (Beifall bei der FDP.)
der die Russen sagen, ihre Vorschläge seien kein
Ultimatum, wir sollten Vorschläge machen, und sie
wollten sie prüfen. Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
der Herr Abgeordnete Dr. Jaeger. — Verzeihung,
Die Frage, was dabei herauskommt, ist, glaube Herr Abgeordneter, der Herr Außenminister hat
ich, eine Frage, die man in der Außenpolitik nie sich inzwischen zu Wort gemeldet. Das Wort hat der
stellen sollte, Herr Bundeskanzler. Wenn man zu Herr Außenminister.
mir sagt: Mach' Vorschläge!, dann mach' ich welche.
Dann wird sich herausstellen, wer zu was steht und
was bei der Sache herauskommt. Dr. Schröder, Bundesminister des Auswärtigen:
Die Erhaltung des Weltfriedens und ständige Be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es tut
mühungen um den Weltfrieden sind unsere vor- mir sehr leid, daß ich mich vor dem Kollegen Jaeger
nehmste Aufgabe. Vor aller Welt und auch vor der gemeldet hatte. Aber er wird nach mir noch lange
Sowjetunion sollten wir deutlich machen: Wir sind Zeit haben, um sprechen zu können. Ich halte diesen
eindeutig bereit, über alles zu sprechen, was an Augenblick jetzt doch für ganz geeignet, einige Aus-
politischen Problemen zwischen Ost und West noch führungen zu machen.
offensteht. Wir möchten nicht, daß es aus der deut- Ich möchte mich zunächst, um es anschließend
schen Frage zu einer Bedrohung des Weltfriedens etwas einfacher zu haben, mit einigem beschäftigen,
kommt. Es heißt in der russischen Note, daß, wenn
das Herr Kollege Erler gesagt hat. Herr Kollege
wir uns atomare Waffen zulegten, sie das als eine
Erler hat manches gesagt, dem ich unbedingt zu-
unmittelbare Bedrohung ihrer lebenswichtigen In-
stimmen kann — und das weiß er auch —, und er hat
teressen betrachten müßten und sie dann gezwun-
einiges gesagt, dem ich keineswegs zustimmen kann.
gen wären, gewisse Maßnahmen zu ergreifen. Darin
Die Dinge, denen ich keineswegs zustimmen kann,
liegt natürlich eine gewisse Parallelität zu Kuba.
liegen ein bißchen in seiner Analyse der Vergangen-
Alle diese Dinge, Herr Bundeskanzler, würden heit. Darauf ist der Herr Bundeskanzler zu einem
dann entschärft, wenn wir uns zumindest in der Me- Teil schon eingegangen. Ich gestehe ganz offen, daß
thode dazu entschließen würden, für eine Friedens- ich etwas unterstreichen muß, was der Herr Bundes-
konferenz einzutreten. Selbstverständlich soll das in kanzler gesagt hat: Sosehr wir nach dem geschicht-
fester Absprache mit unseren Verbündeten gesche- lichen Ablauf gewisse Motivationen von früher unter
hen; denn das Bündnis mit den Vereinigten Staaten Umständen in ein neues Licht rücken können und
ist nach wie vor der Eckpfeiler und die Grundlage damit zu Änderungen unseres heutigen Verhaltens
unserer Außenpolitik. Wer wollte das bezweifeln! kommen, so bedeutet doch natürlich für politische
Jeder Zweifel daran ist absolut abwegig. Aber zu- Wirksamkeit und politische Entscheidung die Stunde
sammen mit unseren Verbündeten sollten wir jetzt sehr, sehr viel. Ich möchte jetzt nicht wieder ganz so
sagen: 18 Jahre nach Beendigung der Feindselig- weit zurückgehen, und deswegen will ich das nur
keiten ist es an der Zeit, sich zusammenzusetzen eingangs meiner Ausführungen tun.
und die Probleme zu erörtern, die noch offenstehen.
In diese Verhandlungen sollten wir durchaus selbst- Ich bin der Überzeugung, daß wir damals in die-
bewußt hineingehen, gestützt auf unsere Verbünde- sem Hohen Hause — das ist eine Entwicklung von
ten und mit dem festen Willen, dann nein zu sagen, 1949 an gewesen — einen Kurs eingeschlagen ha-
wenn uns etwas zugemutet wird, was mit unseren ben, der sich eben als richtig erwiesen hat — ich
Lebensinteressen und unserer Selbstachtung nicht lasse einmal den Verteidigungsbereich weg, das ist
vereinbar ist. Zumindest ist dann der sowjetischen der etwas empfindlichere Bereich —, einen Kurs,
Propaganda sehr viel Wind aus den Segeln genom- der sich in dem Anstreben europäischer Integra-
men. tion als Weg wieder zurück in die Gemeinschaft der
freien Völker darstellt. Das ist in den Zeiten Ihres
Herr Bundeskanzler, ich glaube, gerade Sie wer-
Parteivorsitzenden Schumacher leidenschaftlich um-
den die Bedeutung dieser Forderung ermessen. In stritten gewesen. Die Zeit ist darüber hinweggegan-
diesem Jahrhundert ist das deutsche Volk zweimal gen. Ich glaube, Herr Kollege Erler, Sie werden fair
durch das Fegefeuer von großen Kriegen gegangen genug sein, einzuräumen, daß wir in dieser Sache
mit all dem Leid, das Kriege nun einmal mit sich recht behalten haben. Ich sage das nicht der Recht-
bringen. Es ist unser aller Pflicht, alles zu tun, die- haberei wegen, sondern ich sage es, weil heute diese
sem Volk einen neuen Weltkrieg zu ersparen, so- Kontroverse aufgekommen ist.
weit es in unseren Kräften steht. Kein zukünftiger
Historiker soll sagen dürfen — Herr Bundeskanzler, Nachdem ich nun das beschrieben habe, worin
Sie werden mir da wohl zustimmen —, an den ich mit dem Kollegen Erler nicht übereinstimme,
Deutschen sei der Friede mit dem Osten gescheitert. möchte ich ein zweites hinzufügen; denn das ist not-
Wir wollen den Frieden. Überall dort, wo es eine wendig, weil wir sonst immer wieder an diese Stelle
Möglichkeit gibt, den Weltfrieden zu erhalten, über- kommen, aus der sich per Saldo vielleicht doch ein-
all dort, wo es darum geht, offenstehende politische mal eine sich sehr festfressende Legende ergeben
Probleme in gerechter Weise zu lösen oder einer könnte. Es ist die Auffassung, die Deutschen hätten
Lösung näherzubringen, sollte die Welt wissen, daß in irgendeinem Augenblick seit 1945 die Chance ge-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den . 7. Februar 1963 2635
Bundesminister Dr. Schröder
habt, mit sowjetischer Zustimmung ein freies daß über die Position, die wir in dieser Frage des
Deutschl and zu bekommen. Beitritts Großbritanniens einnehmen, überhaupt
kein Zweifel aufkommen konnte. Ich habe das viel-
(Beifall bei der CDU/CSU.) leicht sogar ein bißchen nachdrücklicher getan, als
Das ist in meinen Augen eine Legende, der wir es dem einen oder anderen in dem Augenblick rich-
widerstehen müssen, wo immer sie aufkommt. Wir tig erschienen sein mag. Ich habe es getan im ganz
dürfen auch nicht zulassen, daß sie sich in eine De- klaren Bewußtsein unseres Zeitplanes und unseres
batte wie die heutige einschleicht. Fahrplanes.

Nun aber kommen wir zu dem eigentlichen Ge- Ich darf Sie vielleicht noch einmal an die weiteren
genstand! Welches ist, der eigentliche Gegen- Stadien dieses Fahrplanes erinnern. Der Herr Bun-
stand? — Ich verhehle mir keinen Augenblick, daß deskanzler hat die verantwortlichen Spitzen der
eine große Beunruhigung sowohl in Europa als auch Fraktionen ein paar Tage später, nämlich am 18. Ja-
in den Vereinigten Staaten vorhanden ist. Das ist nuar, bei sich gehabt. Wir haben an diesem 18. Ja-
eine Tatsache, mit der wir uns auseinanderzusetzen nuar über diese Fragen ganz offen gesprochen. Die-
haben. Wenn ich diese Tatsache einmal ganz ein- ses Zusammensein bei dem Herrn Bundeskanzler
fach in ein paar Daten kleiden darf, so sehen — diente der Vorbereitung unserer Reise nach Paris.
zunächst nur so für den landläufigen Verstand, aber Ich habe aus diesem Anlaß das, was wir in Paris
manchmal auch für besorgtere Betrachter — drei unterzeichnen wollten, sehr ausführlich, ich möchte
Daten in folgender Kette so aus, als ob sie zusam- sagen, beinahe wörtlich vorgetragen, und die An-
mengehörten. Das eine ist die Pressekonferenz des wesenden werden sich daran erinnern: das hat da-
französischen Staatspräsidenten de Gaulle am mals eine einhellige Zustimmung gefunden, so daß
14. Januar, eine Pressekonferenz, wohlvorbereitet, wir hinsichtlich dieser vorgesehenen Reise eine
offensichtlich eine Pressekonferenz mit einem welt- ganz klare Linie hatten.
weiten Echo. Das zweite Datum liegt ein bißchen (Abg. Dr. Mommer: Eine Reise, von der wir
mehr als eine Woche später: die Unterzeichnung Sozialdemokraten abgeraten haben!)
des deutsch französischen Vertrags in Paris am
-

22. Januar. Ein drittes Datum liegt eine Woche spä- — Herr Kollege Mommer, ich schildere die Sache
ter: der 29. Januar in Brüssel, das — wie ich sagen ganz vollständig, Sie werden es gleich hören.
möchte und hoffentlich sagen kann — einstweilige Wir waren uns also in dem Vorhaben, das für
Scheitern der Bemühungen um den Beitritt Groß- Paris bestand, völlig einig. Im übrigen handelte es
britanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemein- sich nicht um ein neu angekündigtes Vorhaben, son-
schaft. dern um ein Vorhaben, von dem jedermann seit'
Meine Damen und Herren, je weiter man manch- dem Spätherbst wußte, daß es vorbereitet war, und
mal von den Dingen weg ist, desto eher ist man ge- der sorgfältige Zeitungsleser oder jemand, der an
neigt, sozusagen Kausalität zwischen diesen drei anderen Informationen teilnahm, kannte den Inhalt
Daten herzustellen oder jedenfalls eine Art inneren dessen, was vereinbart werden sollte, je sehr ge-
Zusammenhangs darzustellen. Das entspricht nicht nau.
den Tatsachen. Ich bin mir aber darüber klar — und Wir haben dann die Zustimmung zu unserem Vor-
ich bin mir gleich nach der Pressekonferenz des Ge- haben auf der Basis, sagen wir einmal, einer Ver-
nerals de Gaulle darüber klar gewesen —, daß wir ständigung, etwa in folgendem Sinne bekommen:
einiges tun müssen und einiges tun mußten und
Wir stimmen dem, was ihr hier beabsichtigt, völlig
einiges getan haben, um zu vermeiden, daß wir
zu. Derselbe Eindruck, wie er sich auch aus der De-
irgendwie in ein falsches Licht geraten könnten;
batte erigbt! Der eine oder andere hat sogar gesagt,
denn es gibt viele Länder in der Welt, die sich viel-
man könne eigentlich noch etwas weitergehen in
leicht dann und wann etwas Zwielicht erlauben
den beabsichtigten Vereinbarungen. Es wurde ge-
können. Wenn es aber ein Land gibt, das sich unter
sagt, die Zustimmung geschehe auf der Basis un-
gar keinen Umständen Zwielicht erlauben kann,
serer Erklärung, daß wir uns so, wie wir uns vor
dann ist es unser Vaterland,
Paris eindeutig für den Beitritt Großbritanniens ein-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU) gesetzt hätten, auch in Paris bei dieser Sache ein-
deutig in dieser Richtung einsetzen würden.
weil es, sobald etwas wie ein Zwielicht aussieht,
noch so viele alte Erinnerungen und so viele noch Meine Damen und Herren, so sind wir am 18. Ja-
unaufgelöste Vorbehalte gegenüber den Deutschen nuar verblieben, und so haben wir uns in Paris
gibt, daß man unter Umständen sehr schnell in einer verhalten, ganz klar entsprechend dem, was wir vor-
sehr schwierigen Situation dastände. her von uns aus erklärt hatten, und entsprechend
dem, was uns sozusagen als eine Art Mandat mit-
Was ist nun geschehen? Ich sage das hier mit sol- gegeben wurde.
cher Deutlichkeit, um auch hier wieder einer sich
möglicherweise weiter entfaltenden Legende entge- Ich habe noch wenige Stunden, bevor dieser Ver-
genzutreten. Am 14. Januar war jene Pressekonfe- trag im Elysée unterzeichnet wurde, in einer für
renz in Paris. Ich habe am 15. Januar, also an dem das Deutsche Fernsehen veranstalteten' Sendung
Tage darauf, in Brüssel eine ganz klare und ganz dem Sinne nach etwa folgendes gesagt: Das, was
eindeutige Stellungnahme zu diesen das Thema be- wir hier zu tun vorhaben, ist eine gewisse Bestäti-
treffenden Ausführungen des französischen Staats- gung der heutigen Entwicklung der deutsch-
präsidenten abgegeben, so klar und so eindeutig, französischen Freundschaft, ist die Vereinbarung
2636 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963
Bundesminister Dr. Schröder
einer bestimmten Art von künftiger Zusammen- det haben. Das bedeutet — ich neige gar nicht dazu,
arbeit, deren Kernstück das Konsultieren ist. Ich die Bedeutung dieses Vorgangs irgendwie zu ver-
komme darauf gleich noch einmal zurück. Das ist kleinern —, daß große Hoffnungen zunächst einmal
eine Methode der Zusammenarbeit, die hier unter zerstört worden sind; denn man sah dem Beitritt
Freunden vereinbart wird. Und ich habe ganz klar Großbritanniens etwa Anfang des nächsten Jahres
gesagt: Dies bedeutet nicht, daß wir hier sozusagen mit großen Hoffnungen entgegen. Das haben wir
einen Blankoscheck für die französische Politik aus- eigentlich alle hier überall so dargestellt. Ich erin-
stellen — davon kann doch überhaupt keine Rede nere mich an das, was ich zuletzt gerade den Ber-
sein —, sondern wir haben eine Methode verein- linern über diese Frage Großbritannien gesagt habe:
bart, nach der wir in Zukunft miteinander umgehen daß nämlich für uns die Vergrößerung der Europäi-
wollen und nach der wir uns unter Freunden unter- schen Wirtschaftsgemeinschaft um die Kraft Groß-
halten wollen. Ich habe hinzugefügt: Es kann Mei- britanniens sozusagen eine gewisse Krönung dessen
nungsverschiedenheiten unter Freunden geben; ja, zu sein scheine, was wir seit vielen Jahren betrieben
es kann unter Umständen sogar schwerwiegende haben, wovon wir uns versprächen, daß daraus die
Meinungsverschiedenheiten unter Freunden geben. Wirkung der Bildung neuer Kräftefelder hervor-
Und hier gibt es ein paar Punkte, von denen alle gehen würde, die auch im Verhältnis zum Osten be-
Welt weiß, daß wir in ihnen nicht einig sind. Aber deutende Veränderungen hervorrufen könnten. Nun,
es ist eben eine Frage, wie man mit seinen Freun- dies war eine große Konzeption, dies bleibt eine
den umgeht und was man für den Umgang mit ih- große Konzeption, dies bleibt eine notwendige Kon-
nen vereinbart; und das haben wir hier getan. zeption, so tief die Enttäuschung heute auch sein
Nun, meine Damen und Herren, eine Woche mag.
später waren wir in Brüssel, und niemand wird auch Das ist die Einleitung zur Beantwortung der Fra-
nur den Schatten eines Zweifels auf dem Verhalten gen, die nun hier gestellt worden sind.
der deutschen Delegation in Brüssel sehen wollen.
Wir haben in Brüssel haargenau das getan und Herr Kollege Ollenhauer hat die Frage gestellt:
durchgehalten, was wir vor Paris getan haben, was Bringt uns das etwa zurück in das 19. Jahrhundert?
wir in dieser Frage in Paris getan haben, was wir Stellt dieser deutsch-französische Vertrag etwa eine
nach Paris getan haben und, wie ja jeder sehen Wende unserer Politik dar? Er hat die Frage ge-
und hören kann, heute in derselben klaren Weise stellt: Hat dieser Vertrag etwa eine auflösende Wir-
zum Ausdruck bringen. kung für das bisher Geschaffene? Und er hat die
In Brüssel hatte sich eine Situation ergeben, die Frage gestellt: Ist diese heutige Entwicklung nicht
sicherlich keineswegs angenehm war, vom Stand- etwa das Gegenteil von dem, was wir als supra-
punkt der deutschen Delegation aus betrachtet; national bezeichnen und was wir lange angestrebt
denn es wäre uns sehr, sehr, sehr viel lieber ,ge- haben?
wesen, wenn es uns gelungen wäre, in Brüssel eine Ich glaube, daß sich einige dieser Fragen leicht be-
Formel zu finden, die nicht zu diesem doch recht antworten lassen und im Grunde durch die gestern
massiven einstweiligen Stopp der Verhandlungen abgegebene Regierungserklärung auch beantwortet
geführt hätte, sondern die die Möglichkeit gegeben sind. Niemand hat die Absicht, hier eine Wende zu
hätte — nachdem man eine gewisse Zeit 'gewonnen vollziehen, niemand hat die Absicht, in das 19. Jahr-
hätte —, in diesen Verhandlungen fortzufahren. hundert zurückzugehen, und niemand hat die Ab-
Wir haben in Brüssel die Überzeugung ausgespro- sicht, hier etwas Auflösendes zu tun. Aber, meine
chen — und diese Überzeugung ist völlig unverän- verehrten Damen und Herren, eine Klarstellung
dert geblieben —, daß diese an sich sehr schwieri- würde ich doch sehr gern vornehmen. Ganz sicher
gen Fragen, die es zu lösen galt, doch ganz offen- ist nicht alles, was etwa in den letzten anderthalb
sichtlich nicht Fragen seien, die eine lange Dauer Jahren auf dem Gebiet politischer Einigung in
beinhalteten, die die eigentliche Dauer des Beitritts Europa betrieben worden ist, unter dem Stichwort
Großbritanniens beinhalteten, sondern Fragen, bei „supranational" zusammenzufassen. Davon kann
denen es sich um eine Übergangszeit drehte. Nie- keine Rede sein. Denken Sie daran, wie die poli-
mand wird daran zweifeln, daß es natürlich einer tische Union geschaffen werden sollte. Sie sollte zu-
gewissen Einplanungs- und Anlaufzeit bedarf, wenn nächst einmal als ein Zusammenschluß geschaffen
ein so großer und bedeutender Wirtschaftskörper werden, dem offensichtlich jenes Kriterium des
— ich spreche jetzt einmal von Großbritannien als „Supranationalen" fehlte und womöglich noch sehr
von einem Wirtschaftskörper — sich in die euro- lange gefehlt hätte. Ich glaube, man darf also nun
päische Gemeinschaft einfügen will. nicht in einen Gegensatz zueinander bringen: supra-
Das war nach Meinung der Fünf ziemlich dicht nationale Konzeption damals und kleinere — um den
vor dem Abschluß. Wenn Sie jetzt die Ausführun- Ausdruck zu gebrauchen — Konzeption heute.
gen lesen, die Präsident Hallstein darüber in Straß- Wir haben heute vielleicht ein 'bißchen besser
burg gemacht hat, wenn Sie die Reden lesen, die erkannt, als man es vor vielen Jahren sehen konnte,
Herr Mansholt gerade über den schwierigen Agrar- daß der Weg bis zu einem wirklich integrierten
sektor gehalten hat, dann hat die Grundposition, Europa doch offensichtlich noch ein gutes Stück län-
die wir Fünf dort bezogen haben, doch offensicht- ger und langwieriger ist, als wir es manchmal ange-
lich sehr viel sachlich Richtiges in sich getragen. nommen hatten. Wir sind zu der Überzeugung ge-
Es ist uns nicht gelungen, die andere Seite zu kommen — und das ist eine Überzeugung, die ja
überzeugen, soviel Mühe wir auch darauf verwen- auch hier in mehreren Debatten eine Rolle gespielt
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2637
Bundesminister Dr. Schröder
hat —, daß wir nicht das Integrierungsziel aufgeben Diese bilateralen Kontakte gehören sowieso zu un
dürften, daß wir uns aber auf dem Wege dorthin der seren täglichen Vorgängen. Deswegen — und das
jeweils möglichen und nach unserer Meinung brauch- ist ein Bemühen, bei dem wir augenblicklich sind —
baren Methoden bedienen müßten. werden wir zunächst alles, was wir tun können, ver-
Sosehr es also richtig ist, daß hier 'derzeit keine suchen im Rahmen dieser bilateralen Kontakte. Ich
supranationale Entwicklung stark gefördert worden glaube aber auch, daß die Hinweise auf andere Gre-
ist und auch nicht stark gefördert werden kann, mien — auch auf die NATO ist als ein Konsultations-
bleibt das Ziel des vereinigten Europas ein Ziel gremium verwiesen worden, ebenso auf die OECD
auch dieses deutsch-französischen Vertrages, wie in — sehr wertvoll und wichtig waren. Solche Hin-
der ,gemeinsamen Erklärung festgehalten ist. Des- weise bedeuten aber immer erst dann etwas, wenn
wegen ist der Vertrag nicht etwa eine Wende und man vorher jene Schritte etwas klarer ins Auge ge-
er ist auch nicht etwa — und ich beziehe mich hier faßt hat, die dem Ziel dienen können, nämlich zu-
auf Herrn von Brentano, der diesen Ausdruck ge- nächst einmal unter den Sechs zu einer Überein-
braucht hat — eine bilaterale Allianz. Er ist keines- stimmung über die Modalitäten des britischen Bei-
wegs als solche gedacht. Ich sage noch einmal: Er tritts zu kommen.
ist nicht etwa die Unterschrift schlechthin unter eine In diesem Zusammenhang ist es durchaus möglich,
französische Politik, sondern er ist ein Abkommen daß man auf einen Gedanken zurückgreift, den m an
zur Entwicklung und Vereinbarung und — lassen früheinmalgbt,Gednkrauch
Sie 'mich sagen — zur Förderung einer gemein- heute erwogen wird: ob nicht unter Umständen eine
samen Politik mit einem ganz klaren Ziel, nämlich Zwischenlösung im Bereich der Assoziierung ange-
dem eines vereinten Europas. strebt werden kann, die eines Tages in eine volle
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Lösung hineinwachsen könnte. Daß es dagegen auch
viele Bedenken gibt, liegt auf der Hand. Aber ich
Meine Damen und Herren, nun bleiben mir nur möchte die Möglichkeit dieses Weges nicht ausge-
noch .ein paar Worte an die Adresse all derjenigen, schlossen haben. Wenn man sich innerlich für einen
mit denen wir es dabei in der Zukunft zu tun haben bestimmten Zeitpunkt zu einer vollen Lösung ent-
werden. Das eine ist ein Wort an Großbritannien. schließen kann, dann mag eine Zwischenlösung eine
Das Wort an Großbritannien bedeutet zunächst ein- Möglichkeit darstellen.
mal die Anerkennung und ,die Bekräftigung der Tat-
sache, daß Großbritannien nun nicht etwa das Brüs- Ich habe also die Hoffnung, wenn auf dieser Seite,
seler Ereignis dahin deutet, daß die Folge ein neuer d. h. auf der Seite der Fünf und des Einen, also auf
Kurs Großbritanniens wäre. Wir erkennen die Be der Seite der Sechs, derselbe Wille lebendig bleibt
deutung der Tatsache an, daß sich die britische Re- bzw. aktiver wird, als das in Brüssel der Fall gewe-
gierung entschlossen hat, an ihrem Europa-Kurs sen ist, und sich mit dem unveränderten Willen
festzuhalten. Dieses Festhalten a m Europakurs ist Großbritanniens trifft, daß wir dann dieses Ziel er-
die entscheidende Voraussetzung für 'alles Weitere, reichen können.
was sich entwickeln wird. Mir liegt aber daran, noch ein Wort an die
Nun ist hier die Frage gestellt worden, in wel- Adresse der Vereinigten Staaten von Amerika zu
cher Weise sich dieses Ziel bei der gegebenen sagen. Sie wissen, daß augenblicklich Staatssekretär
Grundeinstellung Großbritanniens weiter fördern Carstens drüben zu Besprechungen ist, die dem Ziel
lassen werde. Es ist in der Tat zu früh, schon dienen, unsere Haltung sowohl in der europäischen
irgendeine Art von Festlegung vorzunehmen, wel- Politik wie in der atlantischen Politik darzulegen.
cher mögliche Weg beschritten werden wird. Hier Ich habe die Hoffnung, daß es ihm gelingen wird
sind darüber einige Andeutungen gemacht worden. und gelungen ist, Verständnis für die Gesichtspunkte
Wir sind dabei, zu prüfen, ob die Westeuropäische zu gewinnen, die wir hier auch in der Regierungs-
Union, die, ja ein Siebener-Gremium ist, ein geeig- erklärung und heute in der Debatte vertreten haben.
netes Gremium ist, um durch Konsultation dort das Wir haben uns mit einer solchen Eindeutigkeit, wenn
Beitrittsproblem ein Stück voranzubringen. Da das überhaupt noch nötig gewesen wäre, für das
Deutschland im Augenblick den Vorsitz im Mini- atlantische Bündnis ausgesprochen, wir haben mit
sterrat der Westeuropäischen Union führt, liegt es einer solchen Klarheit die auch deutscherseits gege-
nahe, :daß wir uns um diese Frage besonders be- bene Interessenlage gekennzeichnet, daß es eigent-
mühen. Wir glauben aber, daß die Einberufung lich keinen Zweifel an unserer Grundeinstellung
einer Ministerkonferenz in diesem Rahmen erst geben sollte. Für uns, meine Damen und Herren, ist
dann sinnvoll ist, wenn m an vorher doch durch der Kanal nicht, was er früher vielleicht einmal war,
mehr bilaterale Berührungen ein Stück Fortschritt eine wirksame Wassergrenze zwischen dem Konti-
als einigermaßen gesichert ansieht; denn es hat nent und Großbritannien, für uns ist auch der Atlan-
keinen Zweck, daß wir in jenem Siebener-Gremium tik nicht mehr eine unübersehbare Wasserfläche,
zusammenkommen, um nur noch einmal Klagen hinter der irgend etwas liegen mag, was sich die
über das Brüsseler Ereignis zu äußern. Zweck hat Neue Welt nennt, sondern für uns sind dies alles
es nur, wenn wir konkret ein Stück weiter voran- Wirklichkeiten, die mit den Augen der modernen
gehen können. Technik gesehen und gewertet werden müssen.
Deswegen bleibt die Frage: Welche anderen Mög- Meine Damen und Herren, wenn es möglich ist —
lichkeiten gibt es dafür? Wir haben die Frage ge- -ich sehe das jetzt nur einen Augenblick einmal unter
prüft und prüfen die Frage weiter, was geschehen einem militärischen Gesichtspunkt —, daß man im
kann, um weitere bilaterale Kontakte zu pflegen. Grunde binnen weniger Tage zwei ganze amerika-
2638 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Bundesminister Dr. Schröder


nische Devisionen durch die Luft nach Europa ver- Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat ('
legen kann, dann kann man, glaube ich, nicht mehr derHAbgontD.Jaer
davon sprechen, daß der Atlantik eine Trennung
bedeutet, die in Augenblicken der Gefahr unüber-
windliche Hindernisse aufwürfe. Ich glaube, wir
Dr. Jaeger (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich habe natürlich nicht die Ab-
brauchen hier ein etwas moderneres Anschauungs-
sicht, dem Herrn Bundesminister des Auswär-
bild davon, daß diese Welt in einer ganz anderen
tigen zu anworten, mit dessen Ausführungen meine
Weise zusammengewachsen ist, als man das viel-
politischen Freunde aus -der Christlich Demokrati-
leicht vor 30, 40, 50 Jahren für möglich gehalten
schen und Christlich Sozialen Union einig gehen,
hätte.
sondern ich habe die Absicht, in erster Linie — wie
Nun noch ein einziges Wort zum Schluß. In diesen schon des öfteren — Herrn Kollegen Erler zu ant-
Tagen, in denen es wirklich sehr viele Sorgen und worten, nicht deswegen, weil ich ihn für einen Pro-
Bewegungen in der Welt gegeben hat, gibt es ganz pheten halten würde — seine Ankündigungen in
bestimmt eine Stelle in der Welt, in der man aufs diesem Hause in den letzten zehn Jahren sind, weiß
äußerste angenehm berührt ist, und das ist der Gott, nicht immer eingetreten —,
Kreml in Moskau. Man braucht sich nicht sehr viel (Heiterkeit bei der CDU/CSU)
Mühe beim Nachdenken zu geben, man braucht nur
einen Blick in die sowjetischen Publikationen zu sondern deshalb, weil s eine Person und seine Worte
werfen, dann wird man sehen, was dieser Rückschlag so bedeutend sind, daß sie nicht in allem unwider-
in Brüssel tatsächlich für Wirkungen ausgelöst hat. sprochen bleiben dürfen.
Denn wie war die Lage? Ein ganz klares Bild: Kuba Herr Kollege Erler hat den deutsch-französischen
war von der sowjetischen Entwicklung aus gesehen Vertrag von Paris in den nun einmal — leider Got-
ein Punkt, der nicht so ganz leicht überwunden wer- tes — gegebenen zeitlichen Zusammenhang mit dem
den konnte. Was es für eine Weltmacht heißt, Scheitern der Verhandlungen in Brüssel gebracht.
irgendwo einen großen Teil ihres Raketenpotentials Ich möchte meinen, daß es eigentlich eine tragische
zu placieren und es dann auf denselben Schiffen, Sache ist, daß der deutsch-französische Vertrag in
mit denen es hintransportiert worden ist, unfrei- jenem Zeitpunkt das Licht der Welt erblickte, in
willig wieder abzutransportieren, das will ich hier dem die Verhandlungen über den Beitritt Groß-
im einzelnen gar nicht weiter beschreiben. Das muß britanniens zum vereinten Europa gescheitert sind.
man sich nur ein bißchen plastisch vorstellen, um Dadurch ist der deutsch-französische Vertrag in
einen geringen Begriff davon zu bekommen, was seiner Bedeutung verdunkelt; das heißt, er ist sehr
sich in Wirklichkeit in den Köpfen der Herren des rasch von den ersten Seiten unserer Zeitungen ver-
Kreml seit Kuba abspielt. Und nun kommt ihnen schwunden. Nun, ob ein politisches Ereignis ge-
etwas entgegen, was von ihnen aus gesehen wie ein schichtliche Bedeutung erlangt, richtet sich nicht
großes Geschenk wirken muß. nach den Zeitungsüberschriften; das hängt von der
(Sehr richtig! bei der SPD.) Zukunft ab.

Gerade hatte man einen Augenblick geglaubt, daß Aber viel schlimmer, so meine ich, ist, daß der
die freie Welt zu etwas fähig schiene, was in die Sinn dieses Abkommens vernebelt und verschoben
sowjetische Theorie nie hineingepaßt hätte: einen worden ist, weil ihm eine Tendenz gegen irgend
Zusammenhang und einen Zusammenhalt darzu- jemand anderen unterschoben worden ist, die gar
stellen, der eine unüberwindliche Kraft bedeuten nicht in diesem Vertrag vorhanden ist. Meine Da-
würde. Und nun glauben sie plötzlich, Spaltungs- men und Herren, der Herr Bundesaußenminister hat
erscheinungen, jedenfalls große Schwierigkeiten im schon mit Recht gesagt, daß dieser Vertrag gar
westlichen Lager zu sehen. Das muß man klar er- keine Wende darstellt; er ist nur die Krönung einer
kennen. Politik, an der die Bundesregierung und an der
auch dieses Parlament nun schon seit mehr als
.Deswegen glaube ich, daß dieselbe Klarheit und einem Jahrzehnt arbeiten.
Einschätzung der Interessenlage in dem West-Ost-
Herr Kollege Ollenhauer hat heute vormittag auf
Verhältnis, die uns bis an diese Stelle positiv ge-
die Verdienste deutscher und französischer Sozial-
bracht hatte, es uns auch morgen ermöglichen muß,
demokraten um die deutsch-französische Verständi-
dieses Werk wirklich zu vollenden. Wenn wir in
diesem Sinne sowohl - an das Konsultieren mit unse- gung, insonderheit in der Zeit vor dem ersten Welt-
krieg, hingewiesen. Meine Damen und Herren,
ren französischen Freunden herangehen als auch an
das Tragische ist doch, daß die Bemühungen, die zu
die weitere Zusammenarbeit im europäischen Rah-
dieser Zeit Sozialdemokraten, die zwischen den
men, dann wird dies nicht ein definitiver Rückschlag,
nicht ein definitiver Stopp sein, sondern es wird nur Kriegen vor allem damals sogenannte bürgerliche
eine Verzögerung bedeuten. Und — das sage ich Politiker versucht haben, alle gescheitert sind und
ganz offen — es liegt zu einem ganz großen Teil an daß sie uns vor dem ersten und vor dem zweiten
uns allen, wie kurz die Verzögerung sein mag. Ich Weltkrieg nicht bewahrt haben, daß über unser
habe' die Hoffnung, daß das Ergebnis der heutigen Volk und über das französische Volk und über die
Debatte in seiner Auswirkung dazu beiträgt, die ganze Welt Not und Tränen und Blut gekommen
Verzögerung so kurz wie nur möglich zu halten. sind und daß es nun erst nach der zweiten Kata-
strophe endlich gelungen ist, das, was man in den
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Schulen beider Nationen fälschlicherweise eine Erb-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2639
Dr. Jaeger
feindschaft genannt hat, zu bannen und daraus Ver- Frankreich nicht wollten; und das Scheitern dieser
ständigung, Versöhnung und dauerhafte Freund- Freundschaft — das wäre wahrhaftig kein Unglück
schaft zu formen. mehr, das wäre eine Katastrophe, die man nicht
Wenn Sie den geschichtlichen Ablauf des Verhält- mehr reparieren könnte.
nisses zwischen Deutschland und Frankreich in der (Beifall bei der CDU/CSU.)
Zeit der Gegnerschaft und in der Zeit der wachsen- Man hat im Zusammenhang mit diesen Dingen
den Freundschaft sehen, dann wissen Sie, daß die- gesagt, der Herr Bundeskanzler hätte energischer,
ses Verhältnis immer eingebettet ist 'in die gesamte oder, was vielleicht richtiger ist: erfolgreicher auf
europäische Politik; ja ich glaube sagen zu müssen: den General de Gaulle, mit dem er so gut steht und
die Versöhnung zwischen Deutschland und Frank- auf den er, wie man sagt, einen gewissen Einfluß
reich ist überhaupt die Voraussetzung dafür, daß hat, einwirken sollen, um das Scheitern der Ver-
europäische Politik als gestaltende Kraft möglich handlungen in Brüssel zu verhindern. Meine Damen
ist. und Herren, ganz abgesehen davon, daß dazu der
(Beifall bei der CDU/CSU.) Besuch des Bundeskanzlers in Paris bereits zu spät
erfolgt ist, darf ich doch meinen, daß man hier auf
Darum begrüßen wir diesen Vertrag als die For- seiten der Opposition den Bundeskanzler überfor-
mulierung all dessen, was in ungezählten Gesprä- dert, was man sonst in der Einschätzung seiner Per-
chen und Konferenzen und nicht zuletzt in den Staats- sönlichkeit nicht unter allen Umständen immer ge-
besuchen unseres Bundespräsidenten und unseres tan hat. Denn Sie erwarten sich vom Herrn Bundes-
Bundeskanzlers wie in dem Staatsbesuch des Gene- kanzler das, was einem Roosevelt, was einem
rals de Gaulle bei uns in Deutschland schon zum Churchill, was einem Kennedy und was einem
Ausdruck gekommen ist; zum Ausdruck gekommen Macmillan nicht .gelungen ist. Wenn Sie einmal die
ist vor allem in den Äußerungen beider Völker. Memoiren des Generals de Gaulle lesen sollten, die
Deshalb halten wir es auch nicht für möglich, daß inhaltlich und formal zu lesen außerordentlich in-
zwischen diesem Vertrag und irgendwelchen ande- teressant ist, werden Sie sehen, daß es gar nicht so
ren gegenwärtigen oder künftigen Verträgen ein einfach ist, diesen Mann dann zu beeinflussen, wenn
Junktim geschaffen werden kann. Eine Freundschaft er bereits eine feste Entscheidung getroffen hat.
ist, privat und zwischen den Völkern, etwas Abso- Dann muß man wohl einige Zeit vorübergehen las-
lutes, und man kann sie nicht an Bindungen knüp- sen, bis man zu einer Änderung seiner Politik kom-
fen, sonst sät man Mißtrauen. Andererseits ist eine men, bis man auf diese hoffen kann. Falls es wahr
Freundschaft im privaten wie im öffentlichen Leben sein sollte, was man immer wieder hört, nämlich
B) eine Angelegenheit, die nur 'im Geiste der Offen- daß der letzte Grund — ob der bestimmende oder
heit und Ehrlichkeit gepflegt werden kann; das nur der auslösende, weiß ich nicht — für das Ver-
heißt, auf dem Boden dieser Freundschaft ist es uns halten der französischen Regierung in Brüssel das
möglich, unsere Auffassungen von dem Bau des Abkommen von Nassau gewesen ist, würde ich
gemeinsamen Europa unseren französischen Freun- überhaupt glauben, daß der Schlüssel zum französi-
den und auch dem französischen Staatspräsidenten schen Verhalten nicht in Bonn liegt, sondern einzig
in aller Deutlichkeit viel besser darzulegen, als und allein in Washington.
wenn diese Freundschaft nicht geschlossen oder (Sehr richtig! in der Mitte.)
nicht formuliert wäre. Wie man in Washington diesen Schlüssel gebrau-
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) chen wird und wann man ihn gebrauchen wird,
weiß ich nicht; aber jedenfalls' haben wir diesen
Schließlich enthält dieser Vertrag die Pflicht zur Schlüssel nicht in der Hand.
Konsultation, und das, meine Damen und Herren, Man sagt, es sei zu wählen zwischen der Freund-
was uns diesmal alle unangenehm überrascht hat — schaft mit Frankreich und der mit Amerika. Mir
daß die Erklärung des französischen Staatspräsiden- scheint das ein sehr kurzsichtiges, ein sehr dummes
ten in seiner Pressekonferenz ohne jede vorherige Wort zu sein. Im „Sonntagsblatt" in Hamburg ist
Kenntnisnahme bei uns so plötzlich in die Welt am 2. Februar eine sehr hübsche Karikatur erschie-
gesetzt wurde —, das wird eben nach der Ratifizie- nen. Auf der ersten Seite finden Sie unseren Bun-
rung dieses Vertrages nicht mehr möglich sein. Wir deskanzler in Unterwäsche und rechts von ihm ei-
werden also mit einer baldigen, nicht übereilten, nen Mann — er stellt offensichtlich den französi-
aber doch zügigen Verabschiedung dieses Vertrages schen Staatspräsidenten dar —, der eine Hose über
auch der Sache Gesamteuropas dienen. dem Arm trägt, auf der die Worte stehen: „Fran-
Dazu kommt ein anderes. Das Scheitern der Ver- zösisch-deutsche Freundschaft". Auf der anderen
handlungen in Brüssel ist ein großes Unglück für Seite finden Sie den amerikanischen Präsidenten,
Europa und damit auch für unser Volk. Aber es der eine Joppe trägt, auf der zu lesen steht: „Ame-
ist keine Katastrophe. Ich brauche nur auf das zu rikanisch-deutsche Freundschaft", und darunter
verweisen, was am 'Ende seiner Ausführungen der steht: „Wollen Sie nun Jacke oder Hose?"
Herr Bundesaußenminister gesagt hat, der von einer Meine Damen und Herren, ein Mann, der in die-
Verzögerung sprach, die überwunden werden kann ser Situation ist wie der Herr Bundeskanzler auf
und die, wie 'wir alle wissen, hoffen und gestalten dem Bild, braucht, nicht nur, wenn es so kalt ist
wollen, auch überwunden werden wird. Wenn aber wie in diesen Tagen, unbedingt sowohl die Jacke
dieser Vertrag nicht ratifiziert würde, wäre das ,ein wie 'die Hose.
Anzeichen dafür, daß wir die Freundschaft mit (Heiterkeit und Beifall.)
2640 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963

Dr. Jaeger
Da die Kälte in der Politik wohl etwas länger dau- Außerdem sind wir der Meinung, daß es falsch
ern wird — ich meine hier den Kalten Krieg — als wäre, die Isolierung Großbritanniens, die in diesem
die Kälte, die zur Zeit in Mitteleuropa herrscht, Augenblick eingetreten zu sein scheint, die wir
brauchen wir eben politisch sowohl die Freundschaft bedauern und die wir verhindern wollen, durch eine
mit Amerika als auch die Freundschaft mit Frank- Isolierung Frankreichs zu beantworten. Wir wollen
reich. Wir können ohne beide nicht leben. kein Land in Europa isolieren, so wie wir auch selbst
Das deutsch-französische Abkommen ist keine Ver- nicht isoliert werden möchten, sondern wir möchten,
schwörung, wie die Sowjetunion in ihrer jüngsten daß alle zusammenwirken.
Note meint; denn es richtet sich gegen niemand. Es Meine Damen und Herren, es sind besondere
handelt sich aber auch nicht um irgendeinen Son- Bedenken gegen jenen Teil des deutsch-franzö-
derbund innerhalb der NATO oder innerhalb Euro- sischen Vertrages erhoben worden, der mir nach
pas. Ich kann gar nicht verstehen, was Herr Erler meiner Tätigkeit in diesem Hause — ich meine den
hier für Sorgen hat 'hinsichtlich des Stimmen- militärischen Teil dieses Vertrages — besonders
gewichts, das sich ergeben würde, wenn die deut- naheliegt. Der Verteidigungsausschuß des Deutschen
schen und die französischen Stimmen immer gemein- Bundestages, dessen Vorsitzender ich bin, wird die-
sam abgegeben würden. Ich meine, daß das nicht ein- sen Vertrag sicherlich zur Mitberatung überwiesen
mal eine Gefahr für andere wäre in den europäi- bekommen. Sie können sicher sein, daß er diese
schen Parlamenten, deren Bedeutung, wie Sie wis- Passagen gründlich beraten und daraufhin prüfen
sen, nur sehr begrenzt ist. wird, ob irgendwelche Verstrickungen mit dem
(Abg. Erler: Im Ministerrat!) NATO-Vertrag eintreten könnten. Meine persön-
liche Prüfung des Vertrages hat ergeben, daß solche
— Das entscheidende Gremium ist ja wohl der Mini- Schwierigkeiten nicht vorhanden sind. Ich entnehme
sterrat, in dem jedes Land eine Stimme hat. dem Sinn und dem Wortlaut des Vertrages, daß er
(Abg. Erler: Nein! Stimmengewicht! Sie sich im Rahmen der NATO hält. Im Rahmen der
müssen den Vertrag lesen!) NATO sollen solche Probleme gemeinsam erörtert
— Verzeihen Sie, Herr Erler, aber in verschiedenen werden, die man als nachbarschaftliche Probleme
europäischen Verträgen ist es so geregelt, daß nach ansprechen muß. Es sind Verhältnisse, die bei der
der Bevölkerungszahl die Abgeordneten für das militärischen und vielleicht noch mehr bei der zivilen
Parlament gewählt werden, so daß Deutschland und Verteidigung eintreten können, Verhältnisse, die in
Frankreich mehr Abgeordnete haben als etwa die gleicher Weise nur noch zwischen Deutschland und
Beneluxländer. Andererseits ist es im Ministerrat den Benelux-Staaten, sonst aber kaum zwischen
B) so, daß bei der Montanunion oder bei der WEU die anderen NATO-Staaten eintreten könnten. Ich
Länder jeweils mit einem vertreten sind. — Bitte glaube, hier sind die Bedenken 'unbegründet.
sehr! Da ich nun schon bei den militärischen Fragen bin,
muß ich auf das eingehen, was Herr Kollege Erler
Erler (SPD) : Dort sitzt ein Minister. Aber, Herr hier zur strategischen Situation der Gegenwart ge-
Kollege, wollen Sie nicht vielleicht doch den Ver- sagt hat. Er hat gesagt, der „new look" der ameri-
tragstext lieber noch einmal daraufhin überprüfen, kanischen Politik solle dazu führen, daß der Westen
daß es im Ministerrat tatsächlich ein abgewogenes in Zukunft nicht mehr die Wahl allein zwischen der
Stimmenverhältnis gibt, das immer dann in Frage Kapitulation und dem totalen, alles mehr oder min-
kommt, wenn Mehrheitsentscheidungen nach dem der zertrümmernden Atomkrieg habe. Das ist durch-
Vertrag gefällt werden können, und nur dann nicht, aus ein beachtenswerter Gesichtspunkt. Die Politik
wenn Einstimmigkeit erforderlich ist. der abgestuften Abschreckung ist ja schon immer
unser strategisches Konzept gewesen, das Konzept
Dr. Jaeger (CDU/CSU) : Jedenfalls, Herr Kollege der NATO und das Konzept der Bundesregierung
Erler, ist in jedem dieser — — und der Mehrheit dieses Hauses.
(Zurufe von der Mitte. — Gegenruf des Ich glaube aber, es wäre doch falsch, aus dem
Abg. Erler: Nein, Sperrminderheit!) großen Erfolg von Kuba allzu viele strategische
— Ja, Sie wollen jetzt auf das Vetorecht hinaus, auf Konsequenzen zu ziehen. Denn ich kann mir nicht
die Sperrminderheit. Das will ich Ihnen nicht be- vorstellen, daß jene Überlegenheit der Vereinigten
streiten. Aber bei der Abstimmung selbst hat jedes Staaten in konventionellen Waffen, die dazu geführt
Land eine Stimme. Darauf wollte ich hinaus. Infolge- hat, daß sie in Kuba Erfolge erzielen konnten, ohne
dessen stehen immer, wenn der Fall jemals eintre- Atomwaffen einzusetzen, für Deutschland oder für
ten oder gar zur Regel werden sollte, nur zwei ge- die NATO überhaupt in Mitteleuropa je geschaffen
gen vier, und die zwei können den anderen nicht werden könnte. Das ist bei den Zahlenverhältnissen,
ihren Willen aufzwingen, weil sie eben nicht die die hier maßgebend sind, überhaupt nicht möglich;
Mehrheit haben. Aber abgesehen davon ist es ja das weiß jeder, der sich mit diesen Fragen jemals
gar nicht im Sinn des Vertrages. Wenn Sie den Ver- befaßt hat.
trag, von dem wir jetzt gerade sprechen, nämlich (Abg. Erler: Das verlangt auch keiner!)
den deutsch-französischen Vertrag, noch einmal
lesen, Herr Kollege Erler, werden Sie daraus erse- Daraus ist aber zu folgern, daß die Bedeutung der
hen, daß das in diesem Vertrag auch gar nicht be- atomaren Waffen für Europa unmittelbar viel größer
absichtigt ist. Sicher ist Ihnen das auch bekannt. ist, als sie es in manchen anderen Teilen der Welt,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2641
Dr. Jaeger
etwa in Kuba oder im Nahen Osten, in den jüngsten diejenigen Fehler unterschiebt, die die deutschen
Jahren gewesen ist. Sozialdemokraten in den vergangenen zehn Jahren
begangen haben.
Daraus folgt nach unserer Überzeugung doch, daß
der wichtigste Gesichtspunkt der Politik nicht der ist, (Sehr richtig! — Beifall und Heiterkeit bei
ob man nun die Wahl zwischen Kapitulation und der CDU/CSU.)
totalem Atomkrieg hat. Der wichtigste Gesichtspunkt — Nicht mehr heute begehen, o nein, begangen
ist vielmehr der, überhaupt zu verhindern, daß der haben!
Krieg je wieder zu einem Mittel der internationalen
(Erneute Zurufe. — Lachen bei der SPD.)
Politik wird; denn wenn man den Krieg allzusehr
verharmlost, indem man sagt, daß konventionelle Wenn ich aber schon von der Vergangenheit
Kriege ja ruhig geführt werden könnten, dann wird rede, nachdem hier die Montanunion — —
man zu unserem Nachteil handeln; wir sind es näm-
(Abg. Blachstein: Jägerlatein!)
lich, auf deren Rücken ein konventioneller Krieg
geführt würde. Wenn wir den Krieg überhaupt wie- — Der Zwischenruf wurde hier schon oft gemacht,
der salonfähig machen, so führen wir ihn wieder Herr Blachstein, er ist gar nicht mehr originell.
in die Politik ein. Und das ist es, was wir in den
(Abg. Erler: Aber richtig in dem Zusam
vergangenen Jahren in der NATO mit unserer ge- menhang!)
meinsamen Politik verhindert haben und was wir
auch in Zukunft verhindern wollen. — Nein, nein, es war deutsch, Herr Erler.

(Beifall bei den Regierungsparteien.) Aber wenn ich nun schon von der jüngsten Ver-
gangenheit rede, und wenn Herr Erler so ausführ-
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu lich von der Montanunion gesprochen hat und er
den Ereignissen in Brüssel zurückkehren, die ich seine damalige Haltung für richtig und die unsere
weiß Gott nicht verniedlichen will. Ich will sie vor für falsch gehalten hat, habe ich folgenden Eindruck:
allem deswegen nicht verkleinern, weil ein Wort Nach der Meinung des Herrn Erler war die Politik
von Chruschtschow überliefert wird, der gesagt der Christlich-Demokratischen und der Christlich
haben soll, das Ereignis von Brüssel, der Streit zwi- Sozialen Union falsch; aber sie hat zu richtigen
schen den Europäern sei ein Geschenk des Him- Ergebnissen geführt,
mels. Ob der russische Diktator dieses Wort ge-
braucht hat oder nicht, — es ist auf jeden Fall tief- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU
traurig, daß innerwestliche Gegensätze genau in — Zuruf des Abg. Könen [Düsseldorf])
einem Augenblick auftreten, in dem inneröstliche
während die Politik der Sozialdemokraten richtig
Gegensätze weltbekannt geworden sind und natür-
war, aber zu falschen Ergebnissen geführt hätte,
lich zu einer gewissen Erleichterung der Weltsitua-
wären sie in der Regierung gesessen, und 'deshalb
tion geführt haben. Man mag es vielleicht beruhi-
gend finden, daß die Situation im Augenblick nicht jetzt hat revidiert werden müssen.
so bedrohlich ist, wie sie es vor wenigen Jahren (Beifall und Heiterkeit bei der CDU/CSU.)
war. Aber, meine Damen und Herren, man muß es
doch als traurig empfinden, daß der Westen nicht Hier scheinen mir die Begriffe von Ursache und
auch in diesem Augenblick jene volle Einigkeit be- Wirkung und von richtig und falsch völlig durch-
weist, die notwendig ist, wenn er sich behaupten einandergebracht zu sein.
und die Gunst der Stunde zur Erhaltung des Frie-
dens und der Freiheit nutzen will. Wenn Herr Erler in diesem Zusammenhang wie-
der einmal von dem verlorenen Jahr gesprochen
Dazu aber kommt etwas anderes. Der Entscheid hat, dann kann ich ihm nur antworten: Wir waren
von Brüssel ist nach meiner Überzeugung ein Ent- von der vierten Regierung Adenauer selbst etwas
scheid gegen die geschichtliche Entwicklung; denn enttäuscht, und deshalb haben unsere Minister
der Sinn der Politik dieses Jahrhunderts liegt doch durch ihren gemeinsamen Rücktritt dafür gesorgt,
in der Einigung unseres Erdteils. Dieser Sinn darf daß eine fünfte Regierung Adenauer gebildet wurde,
nicht verfälscht werden. Die Einigung kann auch von der wir hoffen, daß sie auf einer festeren
nur kurzfristig aufgehalten werden. Herr Erler war Grundlage steht.
der Meinung, das Ereignis von Brüssel sei die
Schuld eines einzigen Mannes. Nun, wenn dem (Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD:
wirklich so ist, dann brauchen wir ja nicht allzu Das gibt ja einen edlen Wettstreit!)
besorgt zu sein; denn daß ein einzelner Mann,
Meine Damen und Herren, wir werden die Regie-
selbst wenn er eine so achtenswerte Persönlichkeit
rung nach ihren Taten beurteilen und hoffen, daß
und ein so großer Staatsmann ist wie der franzö-
sie Sie wieder dazu bringen wird, hinter der Ent-
sische Staatspräsident, den Gang der Weltgeschichte
auf die Dauer aufhalten kann, das glaubt ja wohl wicklung einherzumarschieren.
nicht einmal Herr Erler. Wenn Herr Erler sich mit (Beifall bei der CDU/CSU.)
Herrn Präsidenten de Gaulle befaßt, und wenn er
Bedenken hat, daß de Gaulle die europäische Ein- Aber abgesehen von den Dingen, die Herr Kollege
heit verhindert, desintegrierend wirkt und all das Achenbach vorhin schon erwähnt hat, darf ich doch
verlangsamt, was wir hier erstreben, wenn er das - bemerken, daß das Jahr allein schon deshalb nicht
so darlegt — es ist seine Darlegung — , habe ich verloren war, weil die deutsche Opposition offen-
den Eindruck, daß Herr Erler Herrn de Gaulle alle bar dieses Jahr gebraucht hat, um in der Außen-
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Dr. Jaeger
politik voll und ganz auf unsere Linie aufzuschlie- rakters, den ich achte, wenn ich auch persönlich der
ßen. Auffassung bin — —
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Schmitt-Vockenhausen: Wenn die
Minister schon nicht zurücktreten, gibt es
Wären wir zu rasch weitermarschiert, hätten Sie wenigstens Staatssekretäre, die das tun!
wieder den Atem verloren. — Weitere Zurufe von der SPD.)
(Heiterkeit.) — Freut mich, daß ein Staatssekretär unserer Re-
gierung so Ihre Sympathie genießt. Aber ich habe
Wir werden jetzt weitermarschieren und hoffen,
den Eindruck, Herr Schmitt-Vockenhausen, daß un-
daß Sie diesmal den Atem behalten.
sere Staatssekretäre bei Ihnen nur dann Sympa-
(Zuruf von der SPD: Bis alles in Scherben thien genießen, wenn sie gehen, nicht wenn sie
fällt!) arbeiten.

— Der Zuruf, Herr Kollege, erinnert mich an eine (Große Heiterkeit und lebhafter Beifall bei
Zeit, die uns beiden fernliegen sollte. der CDU/CSU.)
Um aber Ihre Frage nun noch völlig eindeutig zu
Wenn hier aber von Zwielicht gesprochen wird, Ende zu beantworten, möchte ich sagen, daß nach
möchte ich sagen: in den 13 Jahren, in denen die meiner persönlichen Auffassung eine Rücktrittsnot-
Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale wendigkeit überhaupt nicht besteht, da ja zwischen
Union, teils allein, teils im Bunde mit den Freien dem Herrn Staatssekretär, seinem Minister, der
Demokraten, die Außenpolitik gestaltet haben, war Bundesregierung und uns, wie ich hinzufügen darf,
es die deutsche Bundesregierung, die eine eindeu- überhaupt keine Meinungsverschiedenheiten be-
tige Haltung an den Tage gelegt hat. stehen.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU. — Anhaltende
Gegenrufe von der SPD. — Abg. Dr. Schä
In nahezu 12 Jahren war es einzig die Opposition, fer: Also treten Sie alle zurück, da Sie alle
die den deutschen Namen in der Welt gelegentlich einmütig gleicher Meinung sind?)
ins Zwielicht gebracht hat. Wir sind erfreut. daß
dieses Zwielicht nun verschwindet, weil die Oppo- — Wir pflegen meist einmütig zu sein, zumindest
sition diese ihre Bemühungen eingestellt hat. Aber in Fragen der Außenpolitik. Gerade in diesen Fra-
ich muß, wenn hier immer unterstellt oder behaup- gen sind wir viel einmütiger, als Sie es sind, ver-
tet wird, die Bundesregierung und damit der Bun- ehrter Herr Kollege.
destag und damit Deutschland ständen im inter- (Zuruf von der SPD: Dann möchte ich wis
nationalen Zwielicht, sagen: Es ist die Opposition, sen, was uneinig ist! — Abg. Schmitt
die dieses Zwielicht postuliert, und es wäre gut, Vockenhausen: Ich möchte wissen, wie Sie
wenn die Opposition in der Außenpolitik die Re- vom Herrn Bundeskanzler nach Ihrer Rede
gierung noch stärker unterstützte, damit man nicht in der Reihe der Propheten eingestuft
mehr von einem Zwielicht sprechen kann. werden!)

(Beifall bei der CDU/CSU.) — Ich würde doch sehr bitten, Herr Schmitt-Vocken-
hausen, bei einer Zwischenfrage ans Mikrophon zu
treten, weil es mir sonst nicht möglich ist, Sie zu
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Herr Abge- verstehen, selbst Sie nicht mit Ihrer weittragenden
ordneter Erler, eine Zwischenfrage! Stimme.
(Heiterkeit.)
Dr. Jaeger (CDU/CSU) : Gern!
Schmitt-Vockenhausen (SPD) : Herr Kollege,
ich wollte Sie nur fragen: In welche Reihe von Pro-
Erler (SPD) : Ich hätte gern im Licht dieser letz- pheten werden Sie denn vom Bundeskanzler nach
ten Ausführungen von Ihnen gewußt, weshalb Herr Ihren jetzigen Ausführungen eingereiht werden?
Staatssekretär Müller-Armack eigentlich zurückge-
treten ist. Dr. Jaeger (CDU/CSU) : Ach, verehrter Herr Kol-
lege, in welche Kategorie einen der Herr Bundes-
(Beifall bei der SPD. — Zuruf von der kanzler einteilt, kann man nie vorher wissen.
Mitte: Das ist aber schwach!)
(Schallende Heiterkeit.)
Das wechselt gelegentlich auch.
Dr. Jaeger (CDU/CSU) : Im Zwielicht Ihrer Aus-
führungen müßte ich darauf antworten, Herr Kol- (Zurufe von der SPD: Erhard! Erhard!)
lege Erler, daß ich noch nicht die Gelegenheit hatte, Um aber nun zum Thema, dem Scheitern der Ver-
mich mit Herrn Staatssekretär Müller Armack dar-
-
handlungen in Brüssel, zurückzukehren: wir be-
über zu unterhalten, dauern doch gemeinsam dieses Scheitern. Als einen
(Oh! Oh! bei der SPD) besonderen Grund meines Bedauerns möchte ich
- den aussprechen, daß ich mir vom Beitritt Großbri-
und auch nicht weiß, ob sein Entschluß endgültig tanniens zu den europäischen Gemeinschaften eine
ist. Immerhin ist es ein Zeichen persönlichen Cha- Stärkung der demokratischen und parlamentarischen
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2643
Dr. Jaeger
Institutionen, die auf Grund der Verträge gebildet künden. Ich habe schon nationale Autarkien für eine
worden sind, erhofft hätte. Als ein europäischer überholte Angelegenheit gehalten, und ich halte
Parlamentarier wünsche ich dies ebenso sehr, wie auch eine kontinentale Autarkie, ob ich sie wirt-
es vermutlich die Kollegen aus den anderen Frak- schaftlich oder politisch oder gar militärisch betrach-
tionen, links und rechts von uns, wünschen. te, für einen Unsinn.
Aber mir scheint das Scheitern in Brüssel auch aus Außerdem wäre die Antwort auf ein europäisches
einem besonderen Grund sinnlos zu sein, und das Europa, die Antwort auf ein 'isoliertes, auf ein
ist folgender: Es gibt seit alten Tagen den Streit autarkes Europa ja dann ein isolationistisches Ame-
darüber, wie groß und wie fest dieses Europa sein rika. Und das ist das, was wir wirtschaftlich, poli-
soll. Es hat Jahre gegeben, in denen nur die Mög- tisch und militärisch unter keinen Umständen wün-
lichkeit gegeben schien, ein größeres Europa, das schen können.
locker organisiert ist, zu schaffen, oder ein kleineres, (Beifall bei der CDU/CSU.)
ein Kerneuropa, das fest organisiert ist, das supra-
national, das integriert ist. Wir wollen ein Europa, das atlantisch denkt, weil
wir auch ein Amerika wollen, das atlantisch denkt.
Wenn diese Wahl zur Entscheidung stand, haben Wir wollen, daß der ganze Okzident oder, um das
sich meine politischen Freunde immer für das klei- deutsche Wort, das manchen von Ihnen so wenig
nere Europa entschieden, weil sie im festintegrierten paßt, zu gebrauchen, daß das ganze Abendland in
Europa den Kern eines großen Europa gesehen ha- einer Einheit, in der Klammer der atlantischen Ge-
ben. Wir haben damit ja auch Recht bekommen, weil meinschaft zusammenfindet.
nicht nur Großbritannien, sondern auch eine ganze
Reihe anderer europäischer Nationen schon bald Wir glauben nicht, daß dieses Europa eine dritte
den Anschluß an dieses Kerneuropa der Sechs ge- Kraft sein kann, sei es militärisch, sei es wirtschaft-
wünscht haben und noch in dieser Stunde wünschen. lich. Wir wissen, daß dieses Europa nur in der Part-
nerschaft mit den Vereinigten Staaten und Kanada
Dieser Streit war also diesmal gar nicht zu ent- gedeihen kann. Außerdem scheinen mir doch alle
scheiden, sondern was nun geschehen ist, ist die Erörterungen über eine dritte Kraft — ganz abge-
Tatsache, daß weder die Integration gefördert wor- sehen von den nicht vorhandenen politischen, mili-
den noch eine Erweiterung Europas eingetreten ist. tärischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen —
Das müssen wir in besonderer Weise bedauern. Wir aus einem ganz anderen Grunde völliger Unsinn
meinen aber gerade deshalb, daß wir an dem Begriff zu sein: Der Erdball ist geteilt in eine Welt der
Europas, wie er von uns immer vertreten wurde, Sklaverei und 'in die Sphäre der Freiheit. Die eine
festhalten müssen, an dem Begriff also der Integra Seite hat das Banner der Sklaverei aufgerichtet, und
tion, an dem Begriff einer supranationalen Einheit,
die Amerikaner haben, wie so oft in ihrer Geschich-
an einem Europa, dessen Begrenzung nur durch
te, die Fahne der Freiheit entfaltet. Zwischen diesen
die Grenzen zwischen der Welt der Freiheit und der
beiden gibt es keine dritte Kraft, da gibt es nur
Welt der Gewalt gegeben ist, die nun leider in der
die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Deutschland
Mitte unseres Erdteils verläuft. Eine Grenze ist auch
und Europa haben sich längst entschieden: Wir sind
noch dadurch gegeben, welches Land beitreten will
immer auf der Seite der Freiheit!
und welches diese Absicht nicht hat.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Der von mir persönlich sehr geschätzte frühere
Ministerpräsident Debré hat einmal mit der Formu- Deshalb bejahen wir die atlantische Gemeinschaft,
lierungsgabe, die im eigen ist, vom Europe des pa- die sich noch über den Rahmen des NATO-Paktes
tries, vom Europa der Vaterländer, gesprochen. hinaus entfalten soll. Wir wollen, daß im Rahmen
Sicherlich eine elegante Formulierung; aber ich dieser atlantischen Gemeinschaft zwei Pfeiler einer
meine, meine Damen und Herren, wir dürfen uns festen atlantischen Brücke bestehen: der eine Pfei-
nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Europa der ler ist jenseits des Ozeans, der andere Pfeiler ist
Vaterländer das Europa des 19. Jahrhunderts ist und hier. Diesen Pfeiler wollen wir so einig, so fest
daß die Parole, unter der wie alle, die wir für Eu- und so geschlossen machen, wie das möglich ist.
ropa kämpfen und weiterhin wirken müssen, immer Das ist nicht zuletzt der Sinn unserer Europapolitik.
noch „Vaterland Europa" heißt. (Lebhafter langanhaltender Beifall bei 'der
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) CDU/CSU.)
Ich meine, daß das die Parole ist für das Europa
der zweiten Hälfte des 20. und das Europa des Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Keine weite-
ren Wortmeldungen! Die Aussprache ist geschlos-
21. Jahrhunderts, auf das hin wir wirken müssen.
sen. Schriftliche Ausführungen des Abgeordneten
Ich halte es für ein Unglück, wenn man glaubt, Dr. Wuermeling werden zu Protokoll genommen *).
zwischen Europa und (der atlantischen Gemeinschaft
Meine Damen und Herren, damit sind wir für
Gegensätze aufreißen, vor der Gefahr eines Atlan-
heute am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe
tismus warnen zu müssen und dergleichen. Meine
Damen und Herren, ich kann mir unter der Parole die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf
eines europäischen Europas im Gegensatz zu einem Freitag, den 8. Februar 1963, 9 Uhr, ein.
atlantischen Europa überhaupt nichts Vernünftiges Die Sitzung ist geschlossen.
vorstellen. Entweder ist es eine Tautologie, dann - (Schluß der Sitzung: 17.44 Uhr.)
brauche ich es nicht auszusprechen; oder aber es
soll so etwas wie eine kontinentale Autarkie ver- *) Siehe Anlage 2
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2645

Anlagen zum Stenographischen Bericht


Anlage 1 Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich
Michels 7. 2.
Liste der beurlaubten Abgeordneten
Müller (Berlin) 28.2.
Abgeordneter) beurlaubt bis einschließlich Müller (Nordenham) 2. 3.
Müser 8. 2.
Dr. Aigner * 9. 2. Neubauer 17. 2.
Arendt (Wattenscheid) * 9. 2. Nieberg 8. 2.
Dr. Arndt (Berlin) 16.2., Oetzel 28. 2.
Dr. Dr. h. c. Baade 8.2. Frau Dr. Pannhoff 8.2.
Bals 8. 2. Dr.-Ing. Philipp * 9.2.
Bergmann * 9. 2. Pöhler 8. 2.
Birkelbach * 9. 2. Frau Dr. Probst * 9.2.
Fürst von Bismarck 22. 2. Rademacher 8. 2.
Dr. Bleiß 8. 2. Richarts * 9. 2.
Frau Brauksiepe 8. 2. Dr. Rieger (Köln) 8. 2.
Dr. Burgbacher * 9.2. Ritzel 8. 2.
Cramer 8.2. Ruf 8.2.
Dr. Deist * 9. 2. Seither 11.3.
Deringer * 9. 2. Steinhoff 15. 2.
Dr. Dichgans * 9. 2. Dr. Steinmetz 8. 2.
Dopatka 21.2. Storch * 9. 2.
Dr. Dörinkel 8. 2. Strauß 18. 3.
Drachsler 8. 2. Frau Strobel * 9. 2.
Dr. Dr. h. c. Dresbach 31. 3. Sühler 8.2.
Frau Dr. Elsner * 9.2. Frau Vietje 15. 2.
Faller * 9.2. Wacher 8. 2.
Felder 8. 2. Dr. Wahl 28.2.
Figgen 20.4. Weinkamm * 9.2.
Dr. Dr. h. c. Friedensburg * 9. 2. Werner 24.2.
Funk (Neuses am Sand) 16.2. Wischnewski * 9. 2.
Dr. Furler * 9. 2. Wittmer-Eigenbrodt 16. 2.
Gaßmann 8.2. Dr. Zimmermann (München) 8. 2.
Gedat 15.2.
Dr. Gleissner 8. 2. * Für die Teilnahme an einer Tagung des Europäischen
Gscheidle 7. 2. Parlaments
Hahn (Bielefeld) * 9. 2.
Hammersen 8.2.
Dr. von Haniel-Niethammer 8. 2.
Harnischfeger 15. 2. Anlage 2
Hauffe 28.2.
Herold 8. 2. Schriftliche Ausführungen
Hilbert 8.2.
des Abgeordneten Dr. Wuermeling zu der Aus-
Illerhaus * 9. 2. sprache über die Regierungserklärung.
Kalbitzer * 9. 2.
Katzer 28. 2. Wir haben heute nach Neubildung der Bundes-
Frau Kipp-Kaule 8.2. regierung die erste allgemeine politische Ausspra-
Dr. Klein (Berlin) 8. 2. che. Bei einer solchen Aussprache sollen die Grund-
Klein (Saarbrücken) 15.2. linien unserer Politik erörtert werden. Sie verstehen
Klinker * 9. 2. es gewiß, wenn ich meinerseits dabei das Thema
Kohlberger 8.2. anspreche, mit dem ich durch mein bisheriges Amt
Frau Korspeter 8. 2. als Familienminister engstens verbunden bin und
Dr. Kreyssig * 9. 2. dem ich künftig auch als Abgeordneter mit Leib
Kriedemann * 9. 2. und Seele verbunden bleiben werde, die Familien-
Kühn (Hildesheim) 8. 2. politik.
Kurlbaum 8.2. Dieses Thema gehört in die Generalaussprache
Lemmer 28. 2. über die Gesamtpolitik, weil es ein Thema ist, das
Lenz (Brühl) * 9. 2. in alle politischen Sachbereiche hineinstrahlt und
Dr. Löhr * 9.2. hineinstrahlen muß und weil es bei allen einzelnen
Lücker (München) * 9.2. Fachgesetzen leider immer nur irgendwie am Rande
Margulies * 9. 2. erscheint. Es pflegt aber dort jeweils im Schatten
Mauk * 9.2. der Fülle der Fachprobleme zu stehen, die etwa
Menke 8.2. bei jedem Sozialgesetz, bei jedem Steuergesetz,
Metzger * 9. 2. beim Wohnungsbau usw. zu erörtern sind. Ist es
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nicht wirklich so, daß wir sowohl in der Gesetz- Augen halten sollten, möchte ich Ihnen diese Fest-
gebung als auch in der Verwaltung immer wieder stellung kurz begründen.
der Gefahr erliegen, nur in den vertikalen Fach-
bereichen etwa der Sozialversicherungszweige, der Dazu zunächst folgendes: Wenn Löhne und Ge-
Kriegsopferversorgung, des Lastenausgleichs, des hälter steigen — und sie sind in den letzten Jah-
Steuerrechts usw. zu denken und den horizontal ren erheblich, mehr als die Preise gestiegen —, dann
quer durch alle vertikalen Fachbereiche gehenden hat ,der Alleinstehende die meinetwegen 20 bis
so wichtigen Bereich Familie darüber in den Hinter- 30 DM monatlicher Erhöhung nach Abzug der
grund treten zu lassen? Und das, obwohl es doch Steuern und Sozialabgaben für sich allein und ver-
ein immer wieder gerade von den beiden großen bessert sich entsprechend um das volle Mehr an
Fraktionen des Hauses betontes Hauptanliegen ist, Kaufkraft. Wo aber auch Frau und Kinder mitver-
die Familie als die wichtigste Institution für Staat sorgt werden müssen, , dividiert sich die monatliche
und Gesellschaft zu schützen und unseren Familien Erhöhung durch 4 oder 5 oder noch mehr Köpfe,
mit Kindern auch wirtschaftlich wenigstens einiger- so daß der Kaufkraftrückstand unserer Kinderfami-
maßen gleichberechtigte Existenzvoraussetzungen lien gegenüber den Alleinstehenden schon von da-
zu ermöglichen. Auch die gestrige Regierungserklä- her mit jeder linearen Lohn- und Gehaltserhöhung
rung hat das ja erneut in zwei markanten program- immer größer wird.
matischen Sätzen unterstrichen. Dazu kommt aber noch, daß .die Preiserhöhungen
Lassen Sie mich zu letzterem Punkt hier heute für den lebensnotwendigen Bedarf, mit dem die
etwas sagen, aber mit der betonten Vorbemerkung, Lohnerhöhungen ja weithin begründet werden, die-
selben Familien mit Kindern, die ohnehin mit den
daß diese Fragen des Familienausgleichs gewiß
linearen Lohnerhöhungen immer weiter hinter , die
nicht der einzige — und nicht einmal der wichtig-
Alleinstehenden zurückfallen, multipliziert mit der
ste — Bereich der Familienpolitik sind, aber doch
Zahl der Familienmitglieder, treffen, daß hier also
der Bereich, auf dem gerade wir hier auf der Bun-
einer dividierten Lohn- oder Gehaltserhöhung eine
desebene die größten Möglichkeiten und Aufgaben
multiplizierte Verteuerung des lebensnotwendigen
haben, mit deren Erfüllung wir uns -- trotz all des-
Bedarfs gegenübersteht, dem die Eltern gerade für
sen, was bisher erreicht wurde — in der Bundes-
ihre Kinder nicht ausweichen können. Durch diese
republik in einem schmerzlichen Rückstand gegen-
Entwicklung kommen die Familien mit Kindern auf
über unseren westlichen Nachbarländern befinden.
doppelte Weise immer weiter in Rückstand.
Ich bekenne das in aller Offenheit nach neun Jah-
ren unaufhörlichen und leider nicht genügend er- Ich sage das jetzt nicht, um nach irgendeiner
folgreichen Ringens als Familienminister. Seite hin Vorwürfe zu erheben, sondern ausschließ-
lich, weil ich meine, daß wir uns, da wir unsere
Ich will hier nicht im einzelnen auf die Ergebnisse
der Godesberger Konferenz von acht europäischen öffentlichen Erklärungen zugunsten unserer Kinder-
Familienministern vom Mai vorigen Jahres, die familien doch ernst nehmen, über diesen Tatbestand
klar werden müssen. Denn im Anfange allen Fort-
das gezeigt haben, eingehen. Sie sind Ihnen und
der Öffentlichkeit ja aus dem amtlichen Bulletin be- schritts steht immer die klare Erkenntnis der Sach-
kannt. Ich gebe auch zu, daß Vergleiche mit an- lage. Ich habe das Gefühl, daß aus dieser Sachlage
deren Ländern allein nicht zwingend sind, wenn bisher deshalb nicht die gebotenen Konsequenzen
man Entschlüsse für sein eigenes Land zu fassen einer entsprechenden Anpassung der Familienlei-
hat, zumal da solche Vergleiche ja nicht immer auf stungen gezogen worden sind, weil diese Erkenntnis
absolut gleichartigen Komponenten aufgebaut sind. vielen von uns bisher einfach nicht tief genug ins
Wir haben uns allerdings bemüht, in der Familien- ist. Ich darf das deshalb mit Bewußtsingla
ministerkonferenz eine weitgehende Vergleichbar- einigen wenigen Tatsachen erläutern, die meines
keit sicherzustellen. Erachtens jeden geradezu erschrecken müssen, der
sich den besonderen Sorgen unserer Väter und Müt-
Wichtiger als diese internationalen Vergleiche ter verbunden weiß.
scheint mir vielmehr die Kenntnis der Situation der
Familien in unserem eigenen Lande, insbesondere Zunächst das Bild im großen Bereich der freien
der Entwicklung der wirtschaftlichen Situation un- Wirtschaft. Seit der letzten Erhöhung des Kinder-
serer Familien mit Kindern angesichts der Lohn- geldes von 30 auf 40 DM monatlich per 1. März 1959
und Preisentwicklung in einer Zeit, in der wir alle haben sich die durchschnittlichen Monatslöhne
immer wieder die Notwendigkeit des Schutzes und männlicher Industriearbeiter nach den Feststellun-
der Gerechtigkeit für sie betont haben. Hier muß gen des Statistischen Bundesamtes schon bis August
leider .die betrübliche Feststellung getroffen wer- 1962 um 42 % — inzwischen noch weiter — erhöht.
den, daß für die Angehörigen aller Bereiche des so- Da das Kindergeld seitdem unverändert blieb, er-
zialen Lebens in den letzten Jahren Verbesserun- höhte sich hier das Monatseinkommen — schon bis
gen ihrer wirtschaftlichen Lebensbedingungen — August 1962 — bei Ledigen und kinderlos Verhei-
gewiß unterschiedlichen Ausmaßes, aber jedenfalls rateten um die genannten 42 %, bei Familien mit
sichtbare reale Verbesserungen — eingetreten sind, 3 Kindern nur um 39 %, bei Familien mit 5 Kindern
weithin durch •gesetzliche Maßnahmen, daß aber un- nur um 34 %, und das, obschon gerade die Familien
sere Familien mit Kindern — und ich wage zu be- mit Kindern, wie gesagt, durch die Preisentwicklung
haupten: allein diese! — hinter der für alle anderen viel stärker betroffen sind als andere. Die Zahlen-
eingetretenen Aufwärtsentwicklung sichtbar zurück- reihe müßte gerechterweise genau die umgekehrte
geblieben sind. Weil wir uns das alle täglich vor Tendenz aufweisen.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 58. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 7. Februar 1963 2647

Hierbei habe ich noch nicht einmal berücksichtigt, Erwachsenenhaushalte, in einer eindeutig rückläufi-
daß nach den Feststellungen des Statistischen Bun- gen Entwicklung.
desamtes von 1959/62 die Lebenshaltungskosten für
den Unterhalt von Kindern mit rund 10% erheb- Bei dieser Sachlage sollen ihnen nun durch die
lich stärker angestiegen sind als die allgemeinen Krankenversicherungsreform noch mehr neue Lasten
Lebenshaltungskosten eines Erwachsenen (7,6 %). auferlegt werden als den kinderlosen Haushalten,
Es steht aber ohnedies eindeutig fest, daß in dem insbesondere durch die Handhabung des 2%igen
großen Bereich der privaten Wirtschaft der Anteil Individualbeitrages mit der Selbstbeteiligung auch
am Sozialprodukt für die Familien mit Kindern für Kinder. Ich hoffe zuversichtlich, daß das Hohe
sichtbar abgesunken ist, während der Anteil der Haus den Familien wenigstens solche Sonderbe-
Kinderlosen am Sozialprodukt zu Lasten der Kin- lastungen erspart, wenn schon die vorgesehene Kin-
derlosen sich ebenso sichtbar erhöht hat. Das ist dergeldaufbesserung nicht einmal das notwendige
aber doch wohl genau das Gegenteil von dem, was Mindestausmaß erreicht.
wir alle anstreben.
Es lag mir sehr daran, diese ernsten und unser
Betrachten wir die Entwicklung bei den 835 000 aller Wollen eideutig widersprechenden Tatbestän-
Arbeitern des öffentlichen Dienstes — Bund, Länder den hier und heute einmal in aller Offenheit darzu-
und Gemeinden —, von denen über 500 000 allein legen, damit wir uns demnächst bei allen einschlägi-
auf Bundesbahn und Bundespost entfallen, uns also gen Gesetzen daran erinnern und alle gemeinsam
im Bundestag besonders interessieren. Hier ergibt auf Abstellung dieser eindeutig für die Familien
sich, daß, weil die Kinderzuschläge seit 1956 über- rückläufigen Entwicklung nach besten Kräften be-
haupt nicht mehr erhöht wurden, die Entwicklung dacht sind, die Wohlstandsentwicklung in den letzten
noch wesentlich ungünstiger für die Familien ist. Jahren ist eindeutig auf den Rücken der Familie vor
Bei einem Arbeiter der Lohngruppe IV (Orts- sich gegangen. Das aber kann kein Staat zulassen,
klasse 1) und einem mittleren Kinderzuschlag von der auf seine Zukunft bedacht ist und dessen verant-
35 DM monatlich erhöhten sich von 1956 auf 1962 wortliche Träger wissen um die Bedeutung der Fa-
die Monatsbezüge der Kinderlosen um 53 %, bei milien und ihrer Kinder für den Einzelnen wie für
3 Kindern um 41%, bei 5 Kindern nur um 35 %. die Gesamtheit.
Hier erhöhte sich also der Anteil der Alleinstehen-
den am Sozialprodukt um 53%, der des Familien- Lassen Sie mich zum Schluß noch die sich natürlich
vaters mit 5 Kindern aber nur um 35%, beim Allein- aufdrängende Frage beantworten, wie eine solche
stehenden also um rund 50 % mehr, als bei der Fa- Entwicklung im Zeitalter der Familienpolitik und im
milie mit 5 Kindern. Ich glaube, daß das Tatbestände Jahrhundert des Kindes überhaupt möglich war. Ich
sind, an denen schlechthin niemand von uns vorbei- möchte das tun ohne jede Polemik nach irgendeiner
gehen kann und die stärker nach Abhilfe geradezu Seite hin, ich möchte nur erkennbar machen, wo
schreien als jede andere noch so dringlich erschei- meines Erachtens die Wurzel des Übels liegt. Die
nende gesellschaftspolitische Maßnahme. Ursache für diese, wie gesagt von niemandem wirk-
lich gewollte Entwicklung liegt in dem individuali-
Für die Bundesbeamten hat die dem Hause vor- stischen Denken unserer Zeit, das immer nur allein
liegende Regierungsvorlage, wie wir gern als er- das Individuum sieht, das im Gesellschaftsleben
freulich anerkennen, vorgesehen, daß die familien- pair das „do ut des", die Leistung gegen die
bezogenen Gehaltsteile ab 1. April 1963 ebenso um Gegenleistung kennt und darüber vergißt, daß
6 % erhöht werden wie die Grundgehälter. Die Bun- die für Staat und Gesellschaft lebenswichtige Insti-
desregierung hat also die mir heute noch absolut tution Familie in der modernen Industriegesellschaft
unverständlich erscheinende Länderregelung, die dabei zu kurz kommt, gewissermaßen „erdrückt"
ausgerechnet die familienbezogenen Gehaltsteile wird, obschon sie doch mit die wichtigste Leistung
von der Erhöhung ausschloß, bewußt nicht mitge- auch für Staat und Gesellschaft erbringt. Wir müssen
macht, so daß hier, wenn man die Dinge rein rech- in allen Bereichen unseres sozialen Lebens — jeder
nerisch prozentual sieht — wogegen manches ge- an seiner Stelle — darauf bedacht sein und bleiben,
sagt werden könnte —, die Familien anteilig be- daß dieser Entwicklung Einhalt geboten wird, nicht
rücksichtigt sind. nur vom Gesetzgeber, sondern auch von den Tarif-
Ich glaube, daß dieser familienpolitische Quer- vertragspartnern, auch von Ländern und Gemeinden
schnitt durch die verschiedenen Bereiche der Berufs- und überall, wo man etwas dazu tun kann. Niemand
tätigen in die allgemeine politische Aussprache ge- darf hier sagen: Familienausgleich natürlich, aber
hört, weil man die Lage der Familie einmal quer was geht mich das an? Das kann nicht alles allein
durch alle Bereiche sehen muß, um ein klares Ge- der Bundesgesetzgeber machen, was hier notwendig
samtbild zu bekommen. ist. Denn das Sozialprodukt ist nur einmal da, und
alles, über das etwa die Sozialpartner in tarifvertrag-
Aus dem Gesagten ergibt sich, daß in allen Berei- lichen Vereinbarungen verfügen, ist für den
chen der Lohn- und Gehaltsempfänger — Entspre- Familienausgleich nicht mehr greifbar. Und alle
chendes gilt natürlich auch für die freien Berufe -- Mittel des Bundeshaushalts, über die wir für andere
der Anteil der Familien am Sozialprodukt in den Zwecke verfügen, sind damit der Verwendung für
letzten Jahren erheblich geschmälert wurde zugun- den so zurückgebliebenen Familienausgleich ent-
sten des Anteils der Ledigen und kinderlosen Ver- zogen. Sollten wir alle uns nicht einmal ganz nüch-
heirateten. Die Familien mit Kindern befinden sich tern fragen, ob wir daran in den letzten Jahren nicht
wirtschaftlich, gemessen an der Entwicklung der zu wenig gedacht haben? Ziehen wir aus der ge-
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wonnenen Erkenntnis die sich zwangsläufig ergeben- sehen, sondern auch zu gemeinsamem Tun über alle
den Konsequenzen! Parteigrenzen hinweg bereit zu sein. Meinerseits
In unseren Nachbarländern ist es weithin so, daß möchte ich jedenfalls in diesem Sinne meinem Nach-
alle politischen Parteien ebenso wie Wirtschaft und folger im Amt des Familienministers jede mögliche
Gewerkschaften die Familienausgleichsmaßnahmen Unterstützung zuteil werden lassen, auf daß er es
für absolut vordringlich halten gegenüber anderen leichter hat als ich in den Jahren, in denen die
gesellschaftspolitischen Anliegen. Mit dieser ge- Familienpolitik erst aufgebaut und ihre Idee und
meinsamen Haltung haben sie alle einen wirklichen Aufgabe erst einmal durchgesetzt werden mußte.
und einigermaßen gerechten Familienausgleich Und hierzu erbitte ich die Mitarbeit aller Fraktio-
durchgeführt, auch die Länder, deren wirtschaft- nen und auch der Presse, eben weil Schutz und Ge-
licher Aufstieg nicht das Ausmaß des unseren in der rechtigkeit für die Familien ein Anliegen unseres
Bundesrepublik erreichte. ganzen Volkes in allen gesellschaftlichen Bereichen
Ich möchte heute darum werben, daß alle betei- ist. „Die Rettung des Menschengeschlechtes beginnt
ligten Kreise sich zu dem Entschluß durchringen, bei der Familie" ! Dessen mögen wir alle — jeder
künftig auch bei uns gemeinsam dieses große und in seinem Bereich — stets eingedenk sein und blei-
unausweichlich wichtige Anliegen nicht nur zu ben und danach handeln!

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