Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
12. Sitzung
Inhalt:
12. Sitzung
Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke Ihnen, Dr. Claussen, Staatssekretär im Bundesministe
Herr Staatssekretär. rium für Arbeit und Sozialordnung: Die Renten-
fibel konnte selbstverständlich nicht das ganze Ge-
Ich komme zum Geschäftsbereich dis Bundes-
setz wiederholen. Sie mußte sich darauf beschrän-
ministeriums für Arbeit und Sozialordnung, zur
ken, einzelne besonders wichtige Tatbestände her-
Frage IV — des Herrn Abgeordneten Matthöfer —:
Funk (Neuses am Sand) (CDU/CSU) : Ist der Bun- Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
desregierung bekannt, ob der Gutachter diesen Diese Zusammenarbeit ist in den letzten Jahren
Wald überhaupt jemals betreten und gesehen hat? laufend besser und enger geworden. Wir sind von
der Entwicklung durchaus befriedigt, gerade auch
Hopf, Staatssekretär im Bundesministerium der bezüglich der durch den EUROCONTROL-Vertrag
Verteidigung: Das Verteidigungsministerium hat geschaffenen weiteren Möglichkeiten dieser Ent-
ein Gutachten der zuständigen Landesstelle angefor- wicklung.
dert. Wir haben nicht die Möglichkeit, zu kontrol-
lieren, zu überwachen oder Vorschriften darüber zu Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine zweite Frage,
machen, wer und in welcher Form er das Gutachten Herr Abgeordneter Ritzel!
erstattet.
Ritzel (SPD) : Gibt es, Herr Minister, noch un-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke Ihnen, kontrollierte Sichtflüge?
Herr Staatssekretär.
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäfts- Sichtflüge sind sicherlich noch unkontrolliert bei
bereich des Bundesministers für Verkehr. Ich rufe Segelflugzeugen, bei Flugzeugen, die mehr sport-
auf die Frage VI/1 — des Abgeordneten Ritzel —: lichen Zwecken dienen, und ähnlichen Fällen, also
Kann die Bundesregierung verbindlich erklären, daß der deut-
sche Flugsicherungsdienst zur Zeit allen Anforderungen ent- im allgemeinen bei Flugzeugen, die in niedrigen
spricht, die im Interesse des immer stärker und schwieriger Höhen fliegen, weil die notwendigen Einrichtungen
werdenden Flugverkehrs notwendig und möglich sind?
für die Verbindung mit den Flugsicherungsstellen
Herr Bundesminister, bitte! in diesen Flugzeugen natürlich nicht vorhanden
sind. Ich habe das schon einmal in der Beantwortung
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: einer Anfrage im vorigen Jahr ausgeführt, indem
Der deutsche Flugsicherungsdienst entspricht weit- ich drei verschiedene Gebiete ausgegliedert habe:
gehend dem Stand in den führenden Luftfahrtlän- einmal das Gebiet der Segelflugzeuge und der
dern. Eine verbindliche Erklärung, daß er allen ge- Sportflugzeuge, dann das Gebiet der bisher nor-
genwärtigen Anforderungen, die man nach der tech- malen Verkehrsflugzeuge mit Kolbenmotorantrieb
nischen Entwicklung und der in Entwicklung befind- und endlich jenes Gebiet über 6000 m, in dem die
lichen Anlagen zu stellen vermag, vollkommen Düsenflugzeuge sowohl militärischer wie ziviler
entspricht, kann weder die Bundesregierung noch Art verkehren, jenes Gebiet, das durch den EURO-
eine andere der luftfahrttreibenden Nationen für CONTROL-Vertrag einer grundsätzlichen allgemei-
ihren Bereich abgeben, weil bei der stürmischen nen europäischen Kontrolle unterstellt wird, an der
Entwicklung der Luftfahrt Technik und Verfahren wir ja arbeiten.
der Flugsicherung laufend neuen Anforderungen und
Erkenntnissen angepaßt werden müssen. Berechtigte Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage,
Wünsche und Forderungen im Sinne einer idealen Herr Abgeordneter Börner!
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 293
Börner (SPD) : Herr Minister, wie viele Stunden einiger Finanzstellen Ihres Ministeriums den Not-
täglich sind die Radarsichenungsanlagen der großen wendigkeiten eines verantwortungsbewußt geführ-
deutschen Flugplätze mit internationalem Flugver- ten und technisch einwandfreien Flugsicherungs-
kehr besetzt? dienstes nicht entsprechen?
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Wenn ich Ihnen diese Frage exakt beantworten Ich weiß nicht, Herr Kollege, wen Sie als ,,berufe-
soll, muß ich Sie b itten, auf eine schriftliche Ant- nen Mund" bezeichnen. Ich möchte da um nähere
wort zu warten. Ich bin gerne bereit, die Antwort Angaben bitten; denn Sie wissen, daß wir natürlich
schriftlich zu erteilen. Ich habe sie voriges Jahr in dieser Angelegenheit einer gewerkschaftlich
schon einmal genau erteilt. Ich habe aber heute organisierten Gruppe von Mitarbeitern gegenüber-
diese Unterlagen nicht da. stehen, mit denen wir uns über diese Sache unter-
halten: Forderungen, die aus gewerkschaftlichen
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu- Gründen gestellt werden, entsprechen nicht immer
satzfrage des Herrn Abgeordneten Börner. unbedingt den Auffassungen, die die entsprechen-
den arbeitgebenden Stellen dazu haben. Ich b e-
Börner (SPD) : Ich möchte, wenn Sie gestatten, merke noch einmal, daß die Flugsicherung noch i m.
Herr Präsident, vorweg bemerken, daß ich mit AufbaistndßHoheausrnWü-
schriftlicher Beantwortung dieser Frage zufrieden schen auf Erfüllung bestimmter Forderungen, insbe-
sondere der Verbeamtung, seinerzeit noch nicht
bin. Ich möchte abschließend fragen: Können Sie
verbindlich erklären, daß die Flugsicherung der nachgekommen ist, weil man die Entwicklung ab-
großen deutschen Flughäfen mit internationalem warten wollte, weil man sehen wollte, ob es sich
Flugverkehr der Flugsicherung gleichartiger aus- hier tatsächlich um Beamten- oder ob es sich um
Angestelltenstellen handelt, ob hoheitliche Auf-
wärtiger Flughäfen in jedem Falle gleichwertig ist?
gaben zu erfüllen sind oder nicht. Bezüglich 'der Ein-
stufung haben sich zwischen der Gewerkschaft und
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: den diese Angelegenheit behandelnden Stellen der
Ich glaube, eine so weitgehende Erklärung kann ich Bundesregierung — Bundesinnenministerium, Bun-
nicht abgeben, weil die Entwicklung auf den ein- desfinanzministerium, Bundesverkehrsministerium
zelnen Häfen verschieden ist und weil wir auf den — naturgemäß gewisse unterschiedliche Auffassun-
verschidntHäfoeuAnlagidr gen ergeben, deren Überbrückung unser Bestreben
Montage und im Aufbau hatten. Im großen und gan- sein wird.
zen kann man sagen, daß die Flugsicherung (in der
(Zuruf des Abg. Dr. Kohut.)
Bundesrepublik, also auch auf den deutschen Flug-
häfen, wie ich gesagt habe, der Flugsicherung — Bitte sehr, aber ich mache Sie darauf aufmerk-
gleichwertiger europäischer Länder und Häfen ent- sam, daß diese fachliche Kritik, wenn sie gewerk-
spricht und besser ist als die Flugsicherung vieler schaftlich bestimmt ist, auch im Interesse der von
Flughäfen in der übrigen Welt. der Gewerkschaft vertretenen Leute vielleicht
etwas weitgehend ist.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu-
satzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Kohut. Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Frage
zur Flugsicherung? — Herr Abgeordneter Brück.
Dr. Kohut (FDP) : Herr Minister, sind Sie der
Auffassung, daß die Einstufung der Planstellen den Brück (CDU/CSU) : Herr Bundesverkehrsminister,
hohen Anforderungen an Vorbildung, geistiger Be- darf ich Sie einmal fragen, ob in den letzten Jah-
weglichkeit und Verantwortung gerecht wird? ren durch ungenügende Flugsicherung tatsächlich ein
Luftverkehrsunfall entstanden ist, nachdem Ihre
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Herren Beamten uns im Verkehrsausschuß wieder-
Wir stehen seit längerer Zeit wegen dieser Ange- holt bestätigt haben, daß das nicht der Fall sei?
legenheit in Beratungen mit idem Herrn Bundes-
minister der Finanzen und dem Herrn Bundesmini- Dr.-Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
ster des Innern. Wir können diese Verhandlungen Mir ist ein solcher Unfall nicht bekannt.
aber erst so, wie wir sie wünschen, insbesondere
im Hinblick auf die Verbeamtung einer Anzahl von Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage
Stellen, fortsetzen und abschließen, wenn der neue zur Flugsicherung? — Bitte sehr.
Haushalt genehmigt ist und wenn es uns gelungen
ist, dabei unsere Forderungen durchzusetzen. Braun (SPD) : Herr Minister, ich hätte Sie gerne
gefragt, wieviele Beinahe-Verkehrsunfälle durch
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu- mangelnde Flugsicherung entstanden sind.
satzfrage ides Herrn Abgeordneten Dr. Kohut.
Dr.-Ing. Seebohm, Bundesministerfür Verkehr:
Dr. Kohut (FDP):Ist Ihnen bekannt, daß bereits Keine —. Zur Erläuterung darf ich noch bemerken,
in aller Öffentlichkeit aus berufenem Munde ein Herr Kollege, daß die sogenannten Fast-Berührun-
Befremden darüber zum Ausdruck gebracht wurde, gen, die ja gemeldet werden müssen und über die ich
daß die Auffassung des 'Bundesrechnungshofes und schon sehr eingehend in diesem Hohen Hause be-
294 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
ist, Cuxhaven als Seenot-Heien auszubauen? Kann die Bundesregierung eine Erklärung abgeben, wann die
Sachverständigenkommission zur Untersuchung von Maßnahmen
Herr Bundesminister! zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse in den Gemeinden
entsprechend dem vom Bundestag am 29. Juni 1961 verabschie-
deten Gesetz eingesetzt wird?
Dr. - Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Ich darf annehmen, daß sich Ihre Frage auf die Herr Minister!
Hafenanlagen in Cuxhaven und nicht auf den soge-
nannten Amerikahafen bei Cuxhaven bezieht. Der Dr. - Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr:
Bund unterhält an der deutschen Küste nur auf Mit den Verhandlungen über die Bildung der Sach-
Helgoland einen besonderen Seenothafen. Er baut verständigenkommission wurde im Juli begonnen.
auch vorhandene Häfen, die in der Landesobhut Sie mußten Anfang September wegen der Wahlen
oder kommunale Häfen sind, nicht als Seenothäfen unterbrochen werden. Die Auswahl der für die Sach-
aus. Alle vorhandenen Häfen sind übrigens ver- verständigenkommission vorgesehenen Persönlich-
pflichtet, in Seenotfällen und bei schlechter Wetter- keiten ist nach der Regierungsbildung mit den be-
lage Schutz zu gewähren. Eines besonderen Aus- teiligten Bundesministerien wieder aufgenommen
baues des Landeshafens Cuxhaven für diesen Zweck worden. Die Länder, deren Zustimmung der Bundes-
bedarf es also nicht. Der sogenannte Amerikahafen rat verlangt hatte, haben in der Länderverkehrs-
wird von Hamburg betreut. Es bestehen wohl in ministerkonferenz in Goslar am 12. Januar 1962 der
Hamburg Pläne, ihn auszubauen. Daran ist auch vorgelegten Liste zugestimmt. Am 18. Januar 1962
der Bundesminister der Verteidigung interessiert. ist die Liste dem Kabinett zur Entscheidung vor-
Doch steht die Entscheidung, ob und wann dies gelegt worden. Ich hoffe, daß die Kabinettsvorlage
geschehen soll, noch aus und betrifft nicht den Bun- sehr bald verabschiedet werden kann, so daß ich
desminister für Verkehr. dann an die als Sachverständige vorgesehenen
Herren heranzutreten vermag. Die Sachverstän-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, digenkommission wird ihre Arbeit sicher im Laufe
Herr Abgeordneter Hermsdorf! des Februars 1962 aufnehmen können.
Hermsdorf (SPD) : Herr Bundesminister, sind Sie Brück (CDU/CSU) : Ich danke Ihnen im Namen
der Auffassung, daß ein Seenothafen für die Durch- meines Kollegen Müller-Hermann.
gangsschiffe und insbesondere für die Windlieger
überhaupt nicht notwendig ist? Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke Ihnen,
Herr Bundesminister. Wir kommen zu der Frage VII
Dr. - Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für
Es ist keine Frage, ob ein solcher Hafen notwendig das Post- und Fernmeldewesen — des Abgeord-
ist. Selbstverständlich sind Seenothäfen notwendig; neten Freiherr von Kühlmann-Stumm, vertreten
denn sie werden ja auch immer zum Schutz von den durch den Abgeordneten Dr. Kohut —:
Schiffen aufgesucht. Aber die Frage, die Sie gestellt Wann werden die technischen Voraussetzungen dafür geschaf-
haben, geht doch dahin, wer für die Anlage eines fen werden, daß die Bevölkerung im nordhessischen Raum das
zweite Fernsehprogramm empfangen kann?
Seenothafens zuständig ist, und ich habe Ihnen ge-
antwortet, daß dafür nach den geltenden Staats- Herr Bundesminister!
verträgen und nach dem Grundgesetz der Bund
an der Küste nicht verantwortlich ist.
Stücklen, Bundesminister für das Post- und Fern-
meldewesen: Im nordhessischen Raum wird das
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu- zweite Fernsehprogramm durch die Fernsehsender
satzfrage! Kassel und Fulda bereits jetzt ausgestrahlt. Die Lei-
stung dieser beiden Sender wird bis 1963 beträcht-
Hermsdorf (SPD) : Herr Bundesminister, steht lich erhöht werden. Ein weiterer Teil von Nord-
Ihre jetzige Erklärung nicht in Widerspruch zu den hessen wird von dem im Aufbau befindlichen Groß-
Erklärungen, die Sie zu dieser Frage in Cuxhaven sender Soiling, der voraussichtlich noch in diesem
selbst abgegeben haben? Jahr in Betrieb gehen wird, versorgt werden. Dar-
über hinaus werden Fernsehsender auf dem Hohen
Dr. - Ing. Seebohm, Bundesminister für Verkehr: Lohr bei Bad Wildungen, auf dem Rimberg und auf
Nein, Herr Kollege Hermsdorf, sie steht dazu nicht dem Hohen Meißner errichtet werden. Mit der In-
in Widerspruch. Wenn ich für eine Sache nicht zu- betriebnahme dieser Sender kann im nächsten und
ständig bin, kann ich doch an ihr interessiert sein, übernächsten Jahr gerechnet werden. Außerdem
und ich habe den Herren in Cuxhaven gesagt, daß wird wegen der schwierigen topographischen Ver-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 295
Bundespostminister Stücklen
hältnisse in Nordhessen die Errichtung von Fernseh- Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche
Frequenzumsetzern in großzügigster Weise vor- Fragen: Diese Frage, Herr Kollege, kann ich zu-
bereitet. stimmend beantworten. Die Bundesregierung be-
grüßt es, wenn sich der Wirtschafts- und Sozialrat
Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke Ihnen, der UNO mit dem Schicksal von Heinz Brandt be-
Herr Bundesminister. faßt. Ich werde den Herrn Bundesminister des Aus-
wärtigen bitten, die deutsche Beobachter-Delegation
Ich komme zu der Frage aus dem Geschäftsbereich
bei der UNO zu beauftragen, alles nur Mögliche zur
des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen —
Förderung der zweckentsprechenden Behandlung zu
des Abgeordneten Matthöfer —:
tun, was im Interesse des in der Zone Verhafteten
Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um die Freilassung
des nach Ostberlin verschleppten Bundesbürgers Heinz Brandt, dort getan werden kann.
Redakteur bei der Industriegewerkschaft Metall, wohnhaft in
Frankfurt (Main), zu erreichen?
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu-
Herr Bundesminister, bitte!
satzfrage, Herr Abgeordneter Neumann!
Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche
Neumann (Berlin) (SPD) : Herr Bundesminister
Fragen: Die Bundesregierung hat sich sofort nach
Lemmer, ist Ihnen bekannt, ob Heinz Brandt das
Bekanntwerden der Verhaftung ihres Mitbürgers,
in einem Rechtsstaat übliche Recht der freien Wahl
des Redakteurs Heinz Brandt, mit besonderem
eines Verteidigers hat?
Nachdruck des Falles angenommen und alle ihr zu
Gebote stehenden Wege beschritten, um sich für
den Verhafteten einzusetzen und ihm ihre Hilfe Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche
angedeihen zu lassen. Zu ihrem Bedauern sieht sie Fragen: Diese Frage bringt mich insofern in Ver-
sich — und ich glaube, i n. Übereinstimmung mit legenheit, als im Machtbereich des Herrn Ulbricht
diesem Hohen Hause — im Interesse .des Betroffenen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, wie wir sie ken-
sowie im Hinblick auf das gegen ihn in der Zone nen, unbekannt sind.
schwebende Verfahren im Augenblick nicht in der (Abg. Neumann [Berlin] : Danke schön!)
Lage, hierüber an dieser Stelle nähere Auskunft
zu erteilen. Die Bundesregierung bedauert das Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage,
Schicksal dieses widerrechtlich Verhafteten auf das Herr Abgeordneter Dr. Zimmer!
tiefste und wird auch weiterhin ihr besonderes
Augenmerk auf die weitere Entwicklung der Ange- Dr. Zimmer (CDU/CSU) : Herr Minister, gilt die
legenheit richten. Haltung, die Sie im Falle des Redakteurs Heinz
Brandt eingenommen haben, auch für den vor kur-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, zem in Ostberlin verhafteten Privatdozenten der
Herr Abgeordneter Matthöfer! Forstwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Göttingen Dr. Röhrig? Ist Ihre Haltung in diesem
Matthöfer (SPD) : Herr Minister, ist es der Bun- Fall die gleiche?
desregierung bekannt, daß Hunderttausende gewerk-
schaftlich organisierter Arbeitnehmer in der Bun- Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche
desrepublik und im westlichen Ausland mit Nach- Fragen: Dieser Fall findet unser gleiches Interesse.
druck die Freilassung von Heinz Brandt gefordert
haben und noch fordern und daß sich dieser For- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundesmini-
derung zahlreiche bekannte Persönlichkeiten des ster, ich danke Ihnen.
In- und Auslandes angeschlossen haben?
Wir kommen zu der Frage aus dem Geschäftsbe-
reich des Bundesministers für Familien- und Jugend-
Lemmer, Bundesminister für gesamtdeutsche fragen — es ist die Frage des Abgeordneten
Fragen: Der Bundesregierung sind diese Tatsachen Dr. Kohut—:
nicht nur bekannt, sondern sie findet sie sehr er-
Trifft es zu, daß der Herr Bundesfamilienminister der Bundes-
freulich. Sie begrüßt es, daß weite Kreise der deut- regierung eine Rechnung über 787,82 DM Reisekosten (einschließ-
schen Bevölkerung, insbesondere die Gewerkschaf- lich Übernachtungs- und Tagegeld) für seine Ehefrau, die ihn
auf seiner Reise nach Rom zum 80. Geburtstag des Papstes be-
ten, und auch des westlichen Auslandes an dem gleitet hat, vorgelegt hat?
Schicksal dieses — ich wiederhole es — widerrecht- Das Wort hat der Herr Bundesminister!
lich in der Zone festgehaltenen Mitbürgers Anteil
nehmen.
Dr. Wuermeling, Bundesminister für Familien-
und Jugendfragen: Auf Ihre Frage, Herr Kollege
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu- Kohut, muß ich erwidern, daß Ihre offenbar aus dem
satzfrage, Herr Abgeordnete Matthöfer! „Spiegel" bezogenen Informationen unrichtig sind.
Ich habe der Bundesregierung keine Rechnung des
Matthöfer (SPD) : Herr Minister, wird die Bun- angenommenen Inhalts vorgelegt. Die betreffenden
desregierung die Rechte des Mitbürgers Heinz Kosten, deren im „Spiegel" genannte Summe mir
Brandt mit Nachdruck vertreten lassen, wenn sein übrigens bis dato völlig unbekannt war, sind aus-
Fall im Frühjahr vor dem Wirtschafts- und Sozialrat schließlich aus mir persönlich zur Verfügung stehen-
der Vereinten Nationen verhandelt wird? den Mitteln gezahlt worden.
296 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Bundesminister Dr. Wuermeling
Ich habe, wie wohl bekannt, im Auftrage des Dr. Kohut (FDP) : Warum haben Sie, Herr Mini-
Herrn Bundeskanzlers den Herrn Außenminister ster, der Sie hier eine deutliche und weitgehende
bei den Feierlichkeiten in Rom vertreten. Als ich Erklärung abgegeben haben, es nicht für richtig ge-
kurzfristig zwei Tage zuvor den Auftrag dazu er- halten, die schon vor Wochen veröffentlichte Mel-
hielt, war die Mitreise der Damen der Delegations- dung des „Spiegel" in aller Öffentlichkeit richtigzu-
mitglieder den internationalen Gepflogenheiten stellen?
entsprechend bereits vorgesehen. Ich bemerke aber, (Sehr gut! bei der SPD.)
daß ich auch aus eigener Verantwortung so ent-
schieden hätte, weil die Bundesregierung bei der
Ehrung des Heiligen Vaters anläßlich seines 80. Ge- Dr. Wuermeling. Bundesminister für Familien-
burtstages auch nach meiner Auffassung nicht hinter und Jugendfragen: Für diese Frage, Herr Kollege,
anderen Völkern aller Erdteile zurückstehen sollte. habe ich Verständnis, und ich antworte Ihnen: Ich
Dies zum rein Tatsächlichen. habe dem „Spiegel" keine Berichtigung gesandt,
weil ich den „Spiegel" nicht für berichtigungswür-
Ich muß aber auch auf das antworten, was deut-
dig halte,
lich zwischen den Zeilen Ihrer Frage steht, nämlich
auf die mich vor der Öffentlichkeit diffamierende (Beifall in der Mitte — Oho-Rufe bei der
Wirkung Ihrer Frage. Wenn Ihnen aus rechtschaf- SPD)
fenen Gründen eine Aufklärung zu der „Spiegel"-
weil ich den „Spiegel" da nicht für berichtigungs-
Meldung erwünscht war, dann hätten Sie diese Auf-
würdig halte, wo er sattsam bekannte Schnüffeleien
klärung als Bundestagskollege sehr schnell von mir
aus der persönlichen Sphäre des Mitmenschen falsch
bekommen können,
publiziert. Über Geschmack, Herr Kollege, läßt sich
(Unruhe und lebhafte Zurufe von der SPD) streiten, über Takt aber nicht.
ohne eine „Spiegel"-Meldung, deren diffamierende (Abg. Dr. Kohut: Und über Familiensinn
Absicht jedem offenkundig ist, hier in öffentlicher auch nicht! — Lachen bei der SPD.)
Plenarsitzung weiter zu verbreiten. Nach einer mehr
als 40jährigen Berufsbeamten- und Ministertätigkeit,
in der ich gewiß politische Kritik erfuhr, in der mir Vizepräsident Dr. Jaeger: Keine Zusatzfrage
aber noch nicht die geringste Inkorrektheit in mehr. Ich danke Ihnen, Herr Bundesminister.
meinem Amt vorgeworfen werden konnte, darf ich Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
mich in Beantwortung Ihrer Frage ausdrücklich ministers für Atomkernenergie. Ich rufe auf die
gegen solche „Spiegel"-Fechtereien verwahren. Frage X/1 — des Abgeordneten Dr. Bechert —:
Wenn wir schon als Abgeordnete und Minister für
Trifft es zu, daß die endgültige Sammelstelle für den in der
ein Blatt wie den „Spiegel" vogelfrei sind, so sollten Bundesrepublik anfallenden Atommüll im Landkreis Karlsruhe
wir uns doch als Kollegen dieses Hauses deutlich liegen wird?
von solchen Methoden absetzen, anstatt durch solche Herr Bundesminister, ich darf bitten.
Anfragen mitzumachen.
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Dr.-Ing. Balke, Bundesminister für Atomkern-
energie: Herr Kollege Bechert, Ihre Frage kann ich
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, mit Nein beantworten. Ich darf es vielleicht kurz er-
Herr Abgeordneter Dr. Kohut! läutern. Wir haben in der Bundesrepublik zur Zeit
nur geringe Mengen von radioaktivem Abfall, und
Dr. Kohut (FDP) : Herr Minister, Sie halten es zwar mit durchschnittlich sehr schwacher Aktivität.
für richtig, die Fragestunde, bei der den Sprechern, Diese 'Substanzen werden nach der Ersten Strahlen-
den Abgeordneten die Hände gebunden sind, weil schutzverordnung zunächst in privaten oder staat-
sie nur Fragen stellen dürfen, zu mißbrauchen, in- lichen Zwischensammelstellen eingelagert und auch
dem Sie mit belehrenden und polemischen Dingen dort physikalisch behandelt, zum Beispiel in ihrem
aufwarten. Volumen eingeengt. Wir rechnen damit, daß wir
(Beifall bei der SPD.) etwa in fünf Jahren dazu schreiten müssen, den so-
genannten Atommüll für längere Zeit einzulagern.
Hierzu haben wir die Bundesanstalt für Bodenfor-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Bundesmini- schung herangezogen, die zur Zeit die geologischen
ster, bitte! Voraussetzungen für eine einwandfreie — wie man
heute sagt — „säkulare" Einlagerung solcher radio-
Dr. Wuermeling, Bundesminister für Familien- aktiven Abfälle prüft. Hierfür kommen geeignete
und Jugendfragen: Herr Kollege, wenn Sie eine Erdschichten in Frage, z. B. tiefgelagerte Salzschich-
Frage stellen, die meines Erachtens nicht in die ten. Wir können heute das Ergebnis dieser Unter-
Fragestunde gehört, zwingen Sie mich zu einer Ant- suchungen noch nicht mitteilen. Aber ich möchte er-
wort, die sonst nicht in die Fragestunde gehören klären, daß der Landkreis Karlsruhe für diese end-
würde. gültige Ablagerung von radioaktiven Abfällen
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) sicher nicht in Frage kommt.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine zweite Zu- Vizepräsident Dr. Jaeger: Bine Zusatzfrage,
satzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Kohut! Herr Abgeordneter Bechert? — Bitte schön.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. J anuar 1962 297
Dr. Bechert (SPD) : Herr Bundesminister, ist be- ser Landkreis einen Lagerplatz für den chemischen
absichtigt, im Landkreis Karlsruhe eine der von und eventuell auch für den radioaktiven Abfall des
Ihnen eben genannten Zwischensammelstellen für Reaktorbetriebes im Gelände des Landkreises, also
Atommüll einzurichten? außerhalb des Reaktorgeländes, zur Verfügung
stellt?
Dr.-Ing. Balke, Bundesminister für Atomkern-
energie: Die Anlagen in Karlsruhe dienen als eigene Dr.-Ing. Balke, Bundesminister für Atomkern-
Sammelstelle. Sie könnten auch als Zwischensam- energie: Ich müßte erst feststellen, Herr Kollege
melstelle benutzt werden, weil dort alle fachlichen Bechert, ob es sich tatsächlich um die Lagerung von
und technischen Voraussetzungen dafür gegeben radioaktivem Abfall handelt. Diese Frage kann ich
sind. Das ist aber im wesentlichen eine Entschei- im Moment nicht beantworten.
dung, die das Land Baden-Württemberg als zustän-
dige Hoheitsverwaltung treffen muß.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke Ihnen,
Vizepräsident Dr. Jaeger: Wir kommen zur Herr Bundesminister.
zweiten Frage des Abgeordneten Dr. Bechert: Ich komme zu den Fragen aus dem Geschäftsbe-
Hat die Kernreaktor-Bau- und Betriebs-GmbH in Karlsruhe reich des Bundesministers für Gesundheitswesen.
vom Bundesatomministerium eine Genehmigung zur Sicherstel-
lung oder Beseitigung von Atommüll erhalten? Ich rufe die erste Frage — des Abgeordneten Dr.
Kohut — auf:
Herr Bundesminister!
Welche Ergebnisse hat die von Staatssekretär' Ritter von Lex
in der 107. Sitzung des 3. Deutschen Bundestages am 16. März
1960 angekündigte Prüfung, ob und wie die Eintragung von
Dr.-Ing. Balke, Bundesminister für Atomkern- Blutgruppen in die Personalausweise durchgeführt werden soll,
energie: Herr Kollege Bechert, die Karlsruher Be- bisher gehabt?
Dr. Kohut (FDP) : Frau Ministerin, wenn ich nich- Vizepräsident Dr. Jaeger: Wir kommen zur
tig verstanden habe, ist es doch so, daß immer noch Frage XI/2 — des Herrn Abgeordneten Dr. Be-
als höchstes Ziel die Eintragung der Blutgruppen chert —:
in den Personalausweis erwünscht wäre, damit man Warum hat das Bundesgesundheitsministerium die Zulassung
von Hexamethylentetramin als Konservierungsstoff für weitere
bei der Gefährdung der Menschen sofort weiß, 2 Jahre angeordnet, obwohl durch Versuche an der Taufliege
welche Blutgruppe in Frage kommt, und daß diese nachgewiesen ist, daß Hexamethylentetramin eine keimschädi-
gende Wirkung hat und es also grundsätzlich möglich ist, daß
wünschenswerte Möglichkeit daran scheitert, daß auch beim Menschen keimschädigende Wirkungen auftreten?
man nicht die nötigen Fachkräfte und Einrichtungen Frau Ministerin, bitte!
hat und daß man mit der Unfähigkeit der Beamten-
schaft — so habe ich Sie verstanden — rechnet, also Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge-
damit, daß die Beamten bei der Übertragung Fehler sundheitswesen: Ich beantworte die Frage von
machen? Herrn Dr. Bechert wie folgt. Hexamethylentetramin
kann bei der Haltbarmachung von bestimmten Fisch-
Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge- erzeugnissen trotz intensiver Bemühungen der Wis-
sundheitswesen: Nein, Herr Kollege Kohut, es ist senschaft zur Zeit noch nicht völlig entbehrt werden.
nicht ganz so. Es ist vielmehr eher erwünscht und Soweit heute schon auf den Stoff verzichtet werden
sicherer, einen anderen Weg zu gehen. Man hat kann — das trifft für gut 50 % der Erzeugnisse
heute andere Konserven und andere Überbrük- zu —, ist dies in der Verlängerungsverordnung
kungsmittel zur Verfügung, die man am Unfallort berücksichtigt worden. Die Verlängerung gilt also
sofort ohne Rücksicht auf die Blutgruppe anwenden nur noch für etwa 50 % derjenigen Fischkonserven,
kann, so daß der Betreffende erst im Krankenhaus die bisher mit diesem Mittel in den Verkehr ge-
sachgemäß und unter Beachtung aller notwendigen bracht werden durften. Die mit Zustimmung aller
Vorsichtsmaßnahmen auf seine Blutgruppe über Länder — außer Hessen — ergangene Entscheidung
prüft zu werden braucht. Das ist nicht deshalb der ist darauf gestützt, daß die Deutsche Forschungs-
sichere Fall, weil unsere Beamtenschaft unfähig gemeinschaft und das Bundesgesundheitsamt bei
wäre, sondern weil immer Fehlerquellen entstehen, Abgabe ihrer gutachtlichen Äußerungen über Hexa-
wenn solche komplizierten Übertragungen von methylentetramin alle widerstreitenden Gesichts-
einem ärztlichen Befund in einen polizeilichen Aus- punkte sorgfältig gegeneinander abgewogen haben.
weis notwendig sind. Der sicherere Weg ist der Die befragten Sachkenner halten die Gefahren der
andere. Deshalb wird ihm der Vorzug gegeben. Entstehung von Vergiftung durch nicht ausreichend
konservierte Fischerzeugnisse für schwerwiegender
als die gesundheitlichen Bedenken bei einer vor-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage, übergehenden weiteren Duldung des Konservie-
Herr Abgeordneter Dr. Kohut. rungsstoffes, der ja außerdem gekennzeichnet sein
muß. Sowohl die Deutsche Forschungsgemeinschaft
als auch das Bundesgesundheitsamt haben daher die
Dr. Kohut (FDP) : Haben Sie nicht auch das Ge- Verlängerung der Auslauffrist als vertretbar ange-
fühl, Frau Ministerin, daß Sie damit der Leistung sehen. Eine nochmalige Verlängerung ist nicht in
unserer Ärzteschaft gerade kein Lob ausgesprochen Erwägung gezogen.
haben?
Die durch die Versuche an der Taufliege nachge-
wiesene keimschädigende Wirkung des bei der
Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge- Spaltung von Hexamethylentetramin frei werden-
sunclheitswesen: Nein, Herr Dr. Kohut, das Gefühl den Formaldehyds berechtigt nach Auffassung des
habe ich durchaus nicht. Im Gegenteil, ich freue mich Bundesgesundheitsamtes nicht zu der Annahme der
darüber, daß die Ärzteschaft und die Wissenschaft gleichen Wirkung auch beim Menschen. Bisher hat
andere Wege gefunden haben, die eine sofortige sich keine besondere Affinität des Hexa zu den
Rettung am Unfallort ermöglichen, ohne daß man Keimzellen beweisen lassen. Die zur Spaltung des
auf eine Prüfung der Blutgruppen mit den dabei -
Stoffes in Formaldehyd erforderlichen Säuregrade
möglichen Fehlerquellen angewiesen ist. werden in den Keimzellen nicht erreicht.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage,
Herr Abgeordneter Dr. Bechert.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine Zusatzfrage,
Frau Abgeordnete Dr. Pannhoff
Dr. Bechert (SPD) : Frau Ministerin, ist Ihnen
klar, daß Ihre Argumentation, die sich auf die mög-
Frau Dr. Pannhoff (CDU/CSU) : Frau Ministerin, liche oder Ihrer Meinung nach nicht wahrscheinliche
sind für solche Fälle genügende Mengen von Blut- Keimschädigung bezieht, andersherum formuliert
plasma in den Krankenhäusern vorhanden? ist, als sie auf Grund des Lebensmittelgesetzes for-
muliert sein müßte? Es muß ja bewiesen werden,
daß keine keimschädigende Wirkung auftritt. Sie
Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge- sagen, bei der Taufliege sei zwar eine solche Schä-
sundheitswesen: Es ist vorgesehen, 'daß alle Unfall- digung nachgewiesen, erklären aber weiter: es ist
krankenwagen und alle Arztunfallkoffer damit aus- nicht nachgewiesen, daß beim Menschen eine Keim-
gerüstet werden, so daß diese Konserven sofort zur schädigung auftritt. Ich frage also danach: mit wel-
Verfügung stehen. chem Recht argumentieren Sie so? Warum verlan-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 299
Dr. Bechert
gen Sie nicht, daß die Betriebe, die solche Stoffe Das Wort zur Begründung der Großen Anfrage
verwenden, nachweisen, daß keine Keimschädigung der SPD hat Frau Abgeordnete Dr. Hubert.
auftritt?
Frau Dr. Hubert (SPD) : Herr Präsident! Meine
Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge- Damen und Herren! Unter den Umweltschädigun-
sundheitswesen: Herr Dr. Bechert, die Dinge sind gen, denen die menschliche Gesundheit heute aus-
doch so: Die Aufgabe des Lebensmittelgesetzes ist gesetzt ist, stellt die Zunahme der radioaktiven
es, den Schutz des Verbrauchers zu gewährleisten. Strahlung eines der ernstesten Probleme dar, denen
Dabei haben wir folgendes gegeneinander abzu- wir uns gegenübersehen. Sie bewirkt nicht nur die
wägen, einmal die Gefahr, daß bei nicht hinreichend Zunahme schwerer Erkrankungen — etwa der Leu-
konservierten Fischerzeugnissen Vergiftungen ent- kämie oder des Knochen- und Knochenmarkkrebses
stehen, andererseits den von der Wissenschaft in sondern schädigt durch Einwirkung auf die
keiner Weise bestätigten Verdacht, daß eine keim- Fortpflanzungsorgane des Menschen auch die zu-
schädigende Wirkung eintreten könnte. Die Ver- künftige Generation in einer Weise, deren ganzes
suche an der Taufliege allein können nicht genügen, Ausmaß wir zur Zeit noch nicht kennen, von der
um ein Verbot und damit die Hinnahme der Gefahr wir aber wissen, und zwar sowohl durch die Ergeb-
von Vergiftungen zu rechtfertigen; denn solche nisse der Forschung wie auch durch die Folgen der
mutierenden Wirkungen wie bei der Taufliege Bombenabwürfe auf Nagasaki und Hiroschima.
haben noch eine Menge anderer Stoffe, die Sie
wahrscheinlich selbst nicht alle verbieten wollen, Von der Euratombehörde sind Normen festgelegt
z. B. Alkohol, Koffein oder Nikotin. worden, wieviel die Radioaktivität, der die Gesamt-
bevölkerung oder Teile von ihr ausgesetzt werden,
betragen darf. Die Radioaktivität ging in den letz-
Vizepräsident Dr. Jaeger: Eine weitere Zu- ten Jahren zeitweise schon hart an die maximal zu-
satzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Bechert. lässige Konzentration heran. Die letzten Atom-
bombenversuche Sowjetrußlands mit einer Hundert-
Dr. Bechert (SPD) : Frau Ministerin, ich darf vor- Megatonnen-Bombe — wir wissen nicht, ob nicht
ausschicken, daß ich mich auf meinen B ri ef an Sie noch weitere Bombentests dort oder anderswo er-
vom 13. Dezember 1961 beziehe. In Ihrem- Schreiben, folgen werden — lassen für die nächste Zeit — die
das Sie an die Arbeitsgemeinschaft der Verbrau- Meteorologen meinen, vor allem für das nächste
cherverbände gerichtet haben und das im Bulletin Frühjahr — eine erhöhte atmosphärische Radio-
der Bundesregierung vom 7. Dezember 1961 abge- aktivität befürchten, die sich in einer Größenord-
druckt ist, haben Sie eine Argumentation gebracht, nung bewegen kann, daß Schädigungen zu erwarten
aus der hervorgehen soll, daß beim Menschen keine sind.
keimschädigende Wirkung auftritt. Ich habe Ihnen Die einzige Reaktion der Bundesregierung auf
diese Argumentation in meinem Brief widerlegt. eine mögliche Gesundheitsschädigung der Bevölke-
Sind Sie der Meinung, daß meine Widerlegung wis- rung war bisher, daß sie verlauten ließ, sie werde
senschaftlich falsch ist? künftig die Umweltradioaktivität bekanntgeben. Be-
züglich der Luft hat sie das auch getan. Aber mit
Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge- dieser Bekanntmachung allein kann die Bevölke-
sundheitswesen: Herr Dr. Bechert, ich hin der Mei- rung natürlich sehr wenig anfangen.
nung, daß Ihre Widerlegung falsch ist. Ich würde Es gibt allein im Lande Niedersachsen etwa
Ihnen dies aber lieber in einer schriftlichen Antwort 330 000 Menschen, die ihr Trinkwasser aus Zister-
darlegen, weil es sehr ins Fachliche geht, damit wir nen beziehen. Steigt die Radioaktivität des Regens
nicht den Kreis dieses Hauses, der aus Laien be- über die zulässige Norm, muß dieses Wasser unter
steht, mit gar zu sehr ins Fachliche gehenden Argu- Umständen als verseucht angesehen werden. Wie
menten langweilen. Das soll kein Ausweichen sein, liegen die Verhältnisse in Schleswig-Holstein, in
Herr Dr. Bechert. Ich habe die Unterlagen bei mir. Bayern oder in anderen ländlichen Gegenden der
Ich werde Ihnen gern schriftlich antworten. -
Bundesrepublik?
Dr. Bechert (SPD) : Ich darf nur noch hinzufügen, Es gibt verschiedene Möglichkeiten, um für diese
daß ich seit fünf Wochen auf diese Antwort warte. Bevölkerungsteile gegebenenfalls für einwandfreies
Trinkwasser zu sorgen: Man kann in die Brunnen
Filter einbauen; man kann die Bevölkerung auch
Vizepräsident Dr. Jaeger: Ich danke der Frau mit frischem einwandfreiem Trinkwasser beliefern.
Ministerin. Wir stehen damit am Ende der Frage- Welche Wege hat die Bundesregierung hier be-
stunde. schritten? Das ist unsere erste Frage.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Die in der Atmosphäre sich befindlichen, durch
a) Große Anfrage der Fraktion der SPD die Atomtests freigesetzten radioaktiven Elemente
betreffend Schutz der Gesundheit gegen radio- gelangen vor allem durch die Ernährung in den
aktive Strahlung (Drucksache IV/26), menschlichen Körper. So lagert sich das langlebige
und darum so gefährliche radioaktive Isotop Stron-
b) Beratung des Antrags der Fraktionen der tium-90 wegen seiner Ähnlichkeit mit Kalzium im
CDU/CSU, FDP ü menschlichen Knochengerüst ab, wenn nicht gen
betreffend Radioaktivität der Luft und des gerade Mengen Kalzium sonst angeboten werden.
Regens (Drucksache IV/15). Milch und Milchprodukte stellen nach einem Bericht
300 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Frau Dr. Hubert
— ich glaube, er stammt sogar vom Atomministe- Frau Dr. Schwarzhaupt, Bundesminister für Ge-
rium — in unserer Nahrung etwa 76 % unserer Kal- sundheitswesen: Herr Präsident! Meine Damen und
ziumzufuhr. Man kann sich denken, wie wichtig ein- Herren! Namens der Bundesregierung beantworte
wandfreie Milch ist, und zwar besonders für den ich die Große Anfrage der SPD. Sie werden daraus
wachsenden Organismus des Kleinkindes, das vor sehen, daß die Mitteilung der Meßzahlen nicht das
allen Dingen auf Kalkzufuhr angewiesen ist. Nach einzige ist, was die Bundesregierung auf diesem
Professor Hinzpeter, Hannover, wird das zulässige Gebiet bisher getan hat.
Strontium-Kalzium-Verhältnis im menschlichen Ske-
lett 1960 bei Erwachsenen im Durchschnitt mit 7 %, Allgemein ist folgendes vorauszuschicken. Als
bei Kleinkindern mit 21 % erreicht. Es kann bei ver- Ausfluß von Kernwaffenversuchen gelangten bis zum
stärktem Befall mit Radioaktivität noch schneller Jahre 1958 größere Mengen künstlicher radioak-
und höher steigen, als bisher zu erwarten war. Da- tiver Stoffe in die Atmosphäre der Erde, zu einem
her interessiert uns naturgemäß ganz besonders, in erheblichen Teil bis in die Stratosphäre. Sie verteil-
welchem Umfang und ob überhaupt die Bundes- ten sich in ungleichmäßigen, bandförmigen Zonen
regierung Vorräte an Kondens- und Trockenmilch über den gesamten Erdball und kamen aus den tro-
für Kleinkinder angelegt hat. posphärischen Schichten relativ schnell, aus der Stra-
tosphäre langsamer auf die Erdoberfläche zurück.
Wie steht es nun mit der Vorratshaltung für
Mehl und Brotgetreide? Wir wissen, daß die Ver- Der Gehalt der Luft und auch der Niederschläge
seuchung des Brotgetreides unter allen Nahrungs- an radioaktiven Stoffen schwankte dabei ziemlich
mitteln am höchsten gewesen ist. Es ist zu be- stark, abhängig von meteorologischen Faktoren. Er
fürchten, daß auch die Verseuchung des Brotgetrei- stieg 1957 und 1958 ungleichmäßig an, erreichte im
des, wenn die Radioaktivität etwa des Regens im ersten Halbjahr 1959 seinen Höhepunkt und fiel
Frühjahr die Grenze überschreitet, ein Ausmaß an- dann weiter in der zweiten Hälfte 1959, im Jahre
nehmen könnte, das zu Gesundheitsschäden führen 1960 und auch 1961 auf Werte ab, die sogar unter-
kann. Deshalb müßte man 1962, vor allem aber halb der Werte lagen, die bei Beginn der Messun-
1963 auf Getreidevorräte aus früheren, einwand- gen 1956 zu beobachten waren. Wenn dabei auch an
einigen Tagen relativ hohe Werte gemessen wurden,
freien Ernten zurückgreifen können, um Schädigun-
so lag doch der höchste Mittelwert der auftretenden
gen zu verhindern.
Aktivitäten über größere Zeiträume hinweg bei nur
Man wird überhaupt bei verstärkter radioaktiver wenigen Prozenten der natürlicherweise vorhande-
Strahlung bestimmte Vorsichtsmaßnahmen hinsicht- nen Radioaktivität und fiel 1960 auf weniger als
lich der Ernährung befolgen müssen. Kürzlich hat 1 Promille der natürlichen Aktivität ab. Die für die
sich ein Kongreß von Ernährungs- und Agrarwissen- Gesamtbevölkerung höchstzulässigen Konzentrati-
schaftlern mit dieser Frage befaßt. Wir möchten von onen des gefährlichsten Stoffes, des Strontium 90,
der Bundesregierung wissen, ob sie Vorbereitungen wurden nie erreicht. Die Summe aller radioaktiven
getroffen hat, die dabei zur Sprache gekommenen Stoffe in Luft überschritt allerdings im Jahre 1959
Erkenntnisse der Bevölkerung rechtzeitig mitzu- mit einigen Tagesspitzen die für Strontium zuläs-
teilen. Fast von selbst versteht es sich wohl, daß sigen Werte; der Strontiumgehalt dieser Gemische
man sich die Erfahrungen anderer Länder, vor allen von radioaktiven Stoffen lag aber wiederum nur
Dingen Englands, Japans, auch Dänemarks und bei rund 1 % der Gesamtradioaktivität.
Hollands, zunutze macht. Das ist der letzte Punkt Als Folge der neuerlichen Atomwaffenversuche
unserer Anfrage. Sowjetrußlands traten im Laufe des September und
Natürlich werden alle diese Maßnahmen auch Oktober 1961 Erhöhungen der Radioaktivitätswerte
organisatorische Vorbereitung erfordern. Wir hoffen, auf, die jedoch durchaus im Rahmen der Spitzen-
daß uns die Bundesregierung auch hierüber einige werte des Jahres 1959 lagen, so daß auch voraus-
Aufklärung geben wird. sichtlich im Frühjahr 1962 die Mittelwerte der künst-
lichen Radioaktivität, über größere Zeiträume be-
Manchmal hat man den Eindruck, als scheue sich rechnet, nur einen Bruchteil der natürlichen Radio-
die Bundesregierung, der Öffentlichkeit die wirklich aktivität betragen werden. Dies gilt allerdings nur
drohenden Gefahren umfassend klarzumachen. Es für den Fall, daß keine besonderen Ereignisse ein-
wäre aber unklug, ja gefährlich, die Schäden durch treten oder die neuen Versuchsexplosionen nicht in
erhöhte Radioaktivität verharmlosen zu wollen, auf noch verstärktem Maße fortgesetzt werden.
die uns die Wissenschaftler immer wieder hinwei- Infolge der jahrelangen Zuführung künstlicher
sen. Nur muß die Bevölkerung wissen, wie sie sich radioaktiver Stoffe ist der Gehalt unseres Bodens
selbst, z. B. in ihrer Ernährung, zu verhalten hat, an langlebigen radioaktiven Stoffen langsam ange-
und vor allem, ob von der Bundesregierung in ge- stiegen, damit auch die zusätzliche Strahlendosis,
nügendem Ausmaß die notwendigen Vorbereitun- die wir durch diese Stoffe aus dem Boden erhalten.
gen zum Schutze der Bevölkerung getroffen sind. Allerdings zeigt auch diese Dosis seit 1960 schon
wieder einen Rückgang. Die dem Boden insgesamt
(Beifall bei der SPD.)
zugeführten Aktivitäten brauchen deshalb noch
keine besondere Besorgnis zu erregen.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort zu der Im Jahre 1960 und im ersten Halbjahr 1961 be-
Beantwortung der Großen Anfrage hat Frau Bun- trugen die fließenden Gewässern oder Talsperren,
desministerin Dr. Schwarzhaupt. aus denen Trinkwaser gewonnen wird, zugeführten
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 301
Bundesminister Frau Dr. Schwarzhaupt
Mengen an Strontium 90 weniger als ein Zehntel wasser angewiesen ist, und wie groß ist dieser
der für die Gesamtbevölkerung zulässigen Konzen- Bevölkerungsteil?
trationen. Im Grundwasser war dieser Stoff kaum
Nach .den neuesten Erhebungen der zuständigen
nachweisbar. Auch im Zisternenwasser, das in nörd-
Landesbehörden, insbesondere in Schleswig-Hol-
lichen Teilen der Bundesrepublik teilweise noch als
stein, Niedersachsen und Bayern, sind derzeit noch
Trinkwasser benutzt wird, lagen die Mittelwerte
rund 180 000 Personen, die in etwa 35 000 Anwesen
nur etwa 3 mal so hoch wie in fließenden Gewäs-
leben, auf Regenwasser als Trink- und Brauchwas-
sern, also auch weit unterhalb der maximal zuge-
ser angewiesen. Schwerpunkte sind dabei die
lassenen Konzentrationen.
Marschgebiete Norddeutschlands sowie die kleine-
Das Auftreten künstlicher radioaktiver Stoffe ren Inseln und die Halligen. Bund und Länder sind
wurde und wird auch in allen anderen wichtigen bemüht, in etwa zwei Jahren den Ausbau der zen-
Lebensmitteln, wie Milch, Käse, Korn, Gemüse usw. tralen Wasserversorgung in diesem Gebiet so weit
sowie in Tierprodukten aufmerksam verfolgt. Auch zu fördern, daß die Bevölkerung für Notfälle aller
hier zeigten sich die höchsten Werte im Jahre 1959 Art ohne große und aufwendige Maßnahmen mit
und ein Abfallen des Gehalts in der darauffolgenden Wasser aus öffentlichen Wasserwerken versorgt
Zeit. Gegenüber dem Auftreten der Spaltprodukte werden kann.
in Luft und Wasser ist ihr Auftreten in Lebens- Bis heute war es bereits möglich, mindestens
mitteln zeitlich etwas verschoben. Bedenkliche Men- 40 000 Zisternen außer Betrieb zu setzen und dabei
gen radioaktiver Svffe konnten ebenfalls in Lebens-
rund 200 000 Menschen hinsichtlich ihrer Wasser-
mitteln nicht festgestellt werden. Entgegen manchen
versorgung vom Regenwasser unabhängig zu ma-
früheren Annahmen steigt die in Pflanzen enthaltene chen. Für ,den Fall einer gefährlichen Kontaminie-
Radioaktivität im wesentlichen nicht mit der dem
rung von Wasser in den jetzt noch bestehenden
Boden insgesamt zugeführten, sondern hängt weit-
Zisternen wird man weitgehend durch Ausfahren
gehend von der aktuellen Zufuhr durch Staub und
von gutem Trinkwasser und Abgabe an die Bevöl-
Regen ab.
kerung in Eimern oder ähnlichem, wie dies bereits
Zusammenfassend kann somit gesagt werden, daß in Trockenzeiten geübt wird, Abhilfe zu schaffen
die Atomwaffenversuche von 1954 bis 1958 einen suchen. Dies wird bei rund zwei Dritteln der ge-
Anstieg der Umgebungsradioaktivität mit einem nannten Anwesen möglich sein.
Maximum im Jahre 1959 ergeben haben und daß
Soweit eine Abhilfe aber nicht möglich ist, müs-
die neuerlichen Atomwaffenversuche Sowjetruß sen entsprechende Filtergeräte bei den Zisternen
andseitSpmbr196wdueinAstg
eingesetzt werden. Die Bundesregierung hat, um
der Radioaktivität bedingen. Die Gesamtmengen
den Ländern ein einheitliches Vorgehen zu erleich-
der künstlichen Radioaktivität, die sich durch diese
tern, bereits 1959 Verbindungen mit den Herstel-
Versuche in der Umgebung des Menschen, in Luft
lern aufgenommen. Sie hat aus der Vielzahl der an-
und Wasser, befanden und befinden oder in näch-
gebotenen Geräte eine Auswahl von geeignet er-
ster Zukunft zu erwarten sind, ebenso die Mengen scheinenden Typen getroffen und diese vom Bun-
an Radioaktivität in Nahrungsmitteln und im Men-
desgesundheitsamt auf ihre Brauchbarkeit prüfen
schen selbst betragen bisher nur einen Bruchteil der
lassen. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse las-
in der Umwelt vorhandenen natürlichen Radioakti-
sen erkennen, daß die Geräte für diesen Zweck nur
vität.
bedingt den an sie zu stellenden Anforderungen
Im Hinblick auf .die in der letzten Zeit von ver genügen. Es ist aber damit zu rechnen, daß in ab-
schiedenen Seiten veröffentlichten Angaben über sehbarer Zeit brauchbarere Geräte geliefert werden
die gemessene Radioaktivität erscheint es notwen- können. Die Landesbehörden werden über diese
dig, darauf hinzuweisen, daß die zum Teil sehr ver- Entwicklung ständig auf dem laufenden gehalten.
schiedenen Meßwerte nur bei Kenntnis der physi- Es ist noch zu bemerken, daß das Zisternenwasser
kalischen und technischen Unterlagen wirklich be- von den Landesbehörden, die ohnedies für dieses
urteilt werden können. Die von den Wissenschaft- Gebiet der Wasserwirtschaft zuständig sind,--l laufend
lern erarbeiteten und festgestellten maximal zuläs- auf Radioaktivität untersucht wird und daß die bis-
sigen Konzentrationen einzelner Nuklide oder be- her ermittelte Kontamination des Zisternenwassers
kannter bzw. unbekannter Gemische von Nukliden noch nicht gefährlich ist.
sind so berechnet, daß eine Dauerzufuhr in Höhe
des maximalen Schwellenwertes für die Dauer von Zu Frage 1 b:
einem Jahr auch für Kinder noch vertretbar ist. Eine Hat die Bundesregierung Vorräte von Trocken-
kurzfristige, sogar eine mehrmonatige gering über und Kondensmilch zur Versorgung von Klein-
diesem Schwellenwert liegende Zufuhr bedeutet kindern im Gefahrenfalle angelegt?
daher, von dieser Basis ausgehend, keine akute Ge-
fahr. Für die Versorgung von Säuglingen und Kleinkin
dern bis zu 6 Jahren zu Zeiten erhöhter Radioakti-
Auf die Fragen der sozialdemokratischen Frak- vität der Atmosphäre kommen Milchdauerwaren
tion ist im einzelnen folgendes zu antworten. Die (Vollmilchpulver, Kondensmilch, Magermilchpulver
erste Frage lautet: und Sauermilchnahrung) in Frage, die bereits vor
Was hat die Bundesregierung getan, um ein Eintritt der Gefahrenzeit hergestellt wurden. Von
wandfreies Trinkwasser für den Bevölkerungs diesen Erzeugnissen sind bei normalem Wirtschafts-
teil zu sichern, der auf Regenwasser als Trink ablauf beim Handel und den Herstellern Bestände
302 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der November 1961 abgewickelten Atomwaffenversuche
Abgeordnete Dittrich. ist die Radioaktivität der Luft schnell angestiegen. Es
hatte den Anschein, als ob die UdSSR die Atmosphäre
Dr. Dittrich (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine so stark wie möglich mit Radioaktivität belasten
Damen und Herren! Die Große Anfrage der SPD- wollte, um wenigstens für einige Zeit den anderen
Fraktion vom 21. November 1961 und der Antrag Atommächten keinen Raum mehr für Atomwaffen-
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP vom versuche zu lassen. Der höchste Monatsmittelwert
14. November 1961 sind ohne Zweifel verursacht betrug in der Zeit nach den russischen Atomexplo-
durch die Drohungen Moskaus, neue Monsterbom- sionen etwa 10 Pikocurie pro cbm, wie aus den
ben in die Luft zu jagen. Der unmittelbare Anlaß wöchentlichen Mitteilungen des Bundesatomministe-
mag die Explosion der 50-Megatonnen-Bombe — riums hervorgeht. Hier darf ich anmerken, Frau
oder mag sie größer gewesen sein — über den ark- Kollegin Hubert, — und Sie, wenn ich Sie nicht
tischen Gewässern gewesen sein. Das hat die sozial- falsch verstanden habe, auch berichtigen — daß
demokratische Fraktion, das hat die Fraktionen der die Radioaktivität sowohl in der Luft als auch im
CDU/CSU und der FDP dazu geführt, an die Bun- Wasser als auch in den Lebensmitteln in der Bun-
desregierung Anfragen zu stellen oder — wie es desrepublik gemessen wird und die Meßergebnisse
aus der Drucksache IV/15 zu entnehmen ist — Er- auch veröffentlicht werden.
suchen an die Bundesregierung zu richten.
Es hat sich gezeigt, daß diese Veröffentlichung im
Meine Damen und Herren! Die radikalste Ände- Fernsehen und in den Tageszeitungen, soweit sie sie
rung einer künstlichen Verseuchung der Luft mit aufgenommen haben und noch aufnehmen — hier
radioaktiven Strahlen wäre ohne Zweifel das Ein- ist eine Verminderung festzustellen —, auf die Be-
stellen der Atomwaffenversuche. In den Tageszei- völkerung außerordentlich beruhigend gewirkt hat,
tungen des In- und Auslandes ist wiederholt disku- weil die Gefahren, die von den Wissenschaftlern
tiert worden, ob die Versuche der Sowjets über- vermutet wurden, Gott sei Dank nicht in dem an-
haupt noch Tests darstellen oder ob sie nicht als genommenen Ausmaß eingetreten sind.
Schreckmittel aus machtpolitischen Gründen betrach-
tet werden müssen, ob sie nicht dazu bestimmt sind, Die Tageseinzelwerte schwanken natürlich. Als
Angst zu verbreiten oder die Luft so mit radio- höchster Tageseinzelwert wurde ein Wert von ca.
aktiven Strahlen zu versehen, daß andere Mächte 50 Einheiten gemessen. Diese Werte müssen mit
gar nicht mehr oder nur noch schwerlich in der Lage den maximal zulässigen Werten in eine vernünftige
sind, weitere Versuche zu starten. Ist es nicht be- Beziehung gesetzt werden. Die maximal zulässigen
zeichnend, daß Chruschtschow, als die Kritik aus Werte sind nun aber keine Festwerte, sondern ver-
der ganzen Welt an ihn herangetragen wurde, weil änderliche Werte, da sie von der Zeitspanne nach
diese neuen Atomwaffenversuche gestartet wurden, der Explosion abhängen. In der letzten Zeit konnte
erklärte, er wäre ein blöder und fauler Minister- ein zulässiger Wert von 200 bis 400 Einheiten zu-
präsident, wenn er die letzten sowjetischen Kern- grunde gelegt werden. Man kann also sagen, die
waffenversuche nicht angeordnet hätte? Luftradioaktivität hat diese Werte nicht überschrit-
ten.
Meine Damen und Herren! Wir ersehen daraus
ein Auseinanderklaffen der Einstellung, der Gesin- Durch die russischen Atomwaffenversuche stieg
nung der beiden Welten, und wir ersehen daraus auch die Rädioaktivität des Regenwassers an. Der
eine Mißachtung des Menschen und seiner Gesund- höchste Monatsmittelwert betrug etwa 1500 Einhei-
heit, von denen aus wir ja heute die Große Anfrage ten. Er kann wiederum aus den Informationen des
und das Ersuchen der Fraktionen der CDU/CSU und Atomministeriums entnommen werden. Eine Einheit
der FDP zu beurteilen haben. Es ist ein Erzeugen ist gleich 1 Picocurie pro Liter. Die Meßwerte hin-
einer Atomangst, die ohne Zweifel beabsichtigt ist, sichtlich der Radioaktivität schwanken für einzelne
und wir sollten dem Kreml, wir sollten Chru- Regenfälle sehr stark. Insbesondere ist zu beachten,
schtschow nicht den Gefallen tun, diese Angst in daß bei sehr geringen Regenmengen oder bei Be-
unserem deutschen Volke noch zu vertiefen. ginn eines Regens die Radioaktivität unverhältnis-
mäßig hoch ist. Die Physiker wissen diese Erschei-
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) nung gut zu erklären. Sie hängt mit dem Prozeß des
Die Tageszeitungen und Wochenzeitschriften haben, starken Auswaschens der Atmosphäre zusammen.
zum Teil in Schlagzeilen, von einer Atomangst ge- Es ist daher nicht verwunderlich, daß kurzzeitige
sprochen. Die Gefahr für Neugeborene wächst, hieß Einzelwerte der Regenaktivität von bis zu 50 000
es. Ein Teil der Presse hat objektiv berichtet und Einheiten gemessen worden sind. Dies bedeutet
hat die Dinge so gesehen, wie sie gesehen werden aber gesundheitlich für den Menschen gar nichts,
müssen. wenn es sich, wie dies tatsächlich der Fall war, da-
bei nicht um eine Dauererscheinung handelt.
Meine Damen und Herren! Die Besorgnis nicht
nur in der Bevölkerung der Bundesrepublik, son- Die für Trinkwasser zulässigen, zeitlich veränder-
dern darüber hinaus, ist nicht unbegründet. Nach lichen Werte betragen zur Zeit etwa 4000 bis 7500
dem Ansteigen der Radioaktivität der Luft in den Einheiten. Das sind Durchschnittswerte, meine Da-
Jahren 1957 und 1958 bis Mitte 1959 kam einmal men und Herren! Einige wenige kurzzeitige Spitzen-
eine Zeit der Beruhigung. Durch die in sehr schnel- werte des Regenwassers überschreiten diese für das
ler Folge in den Monaten September, Oktober und Trinkwasser gültige Grenze. Das darf aber aus den
304 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Dr. Dittrich
dargelegten Gründen nicht zu einer Panik führen. Angelegenheit beschäftigt haben. Wir wissen, daß
Das Regenwasser wird ja im allgemeinen nicht ge- dort die zuständigen Minister Antworten auf An-
trunken. In das Grundwasser oder in das Fluß- fragen gegeben haben, die etwa in derselben Rich-
wasser aber wird nachweislich wegen der Selbst- tung liegen, wie sie heute in den Ausführungen der
reinigung keine nennenswerte Radioaktivität ein- Gesundheitsministerin deutlich geworden ist. In
geführt. Selbst bei Trinkwasserzisternen sind die Holland hat zum Beispiel Minister Dr. Veldkamp
Radioaktivitätswerte in der Vergangenheit noch zum Ausdruck gebracht, daß im gegenwärtigen Zeit-
unter der Schädigungsgrenze geblieben, weil die punkt besondere Maßnahmen für die Lebensmittel-
Selbstreinigung die Radioaktivität des Zisternen versorgung nicht notwendig sind. Nach einer hoch
wassers auf etwa den fünften Teil der durchschnitt- gegriffenen Schätzung, so sagt er, soll achtmal so-
lichen Radioaktivität des Regenwassers herabdrückt. viel radioaktives Strontium auf die Erde nieder-
Trotzdem ist es vernünftig, daß die öffentliche Hand kommen als 1958 und 1959 nach den russischen Ver-
Filtergeräte für die Zisternen-Wasserversorgungs- suchen auf den gleichen Strecken. Das Strontium,
anlagen bereitstellt, damit notfalls die Selbstreini- das sich im Knochenmark festsetzt, soll bei den
gung durch technische Reinigungsmittel unterstützt gebräuchlichen niederländischen Nahrungsmitteln
werden kann. dann noch nicht höher als auf ungefähr 10 % der
Wenn zum Vergleich maximal zulässige Werte für zulässigen Menge kommen.
die Radioaktivität der Luft und des Wassers ge- Aus Belgien wird uns berichtet, daß dort auf die
nannt worden sind, so muß hinzugefügt werden, Diskussion geantwortet wurde, daß sich infolge der
daß diese Werte von Radiologen und Medizinern Wiederaufnahme der Atombombenversuche der
unter Anwendung eines sehr strengen Maßstabs Grad der Radioaktivität im Lande Belgien im Ver-
und eines sehr großen Sicherheitsfaktors in inter- gleich zu den früheren Werten, die praktisch dem
nationalen Vereinbarungen festgelegt worden sind. naturgegebenen Zustand entsprechen, erhöht habe;
Weiterhin muß mit Nachdruck festgestellt werden, es sei jedoch noch nicht so weit, daß ein beunruhi-
daß diese zulässigen Werte unter der Vorausset- gendes Ausmaß erreicht worden sei, selbst wenn
zung gelten, daß die Luft und das Trinkwasser diese sich dieser höhere Grad auf ein ganzes menschliches
Radioaktivität dauernd aufweisen, es sich also um Leben erstrecke.
eine Dauerzufuhr handelt, die praktisch das ganze
Leben hindurch fortgesetzt wird. Die kurzzeitigen Wir sehen daraus, daß nicht allein in der Bundes-
Erhöhungen wirken sich sehr viel weniger oder gar republik Besorgnisse hochkommen, sondern auch in
nicht aus. den anderen Ländern, und daß man sich mit diesen
Angesichts dieser Situation fasse ich die Große Fragen beschäftigt.
Anfrage der sozialdemokratischen Fraktion so auf, Nun kurz noch einiges, was in diesem Zusammen-
daß die SPD von der Bundesregierung wissen will, hang auszuführen ist. Die Frau Gesundheitsministe-
was sie angesichts der möglichen Gefahren zu ver- rin hat bereits dargelegt, daß in der Bundesrepublik
anlassen gedenkt. Das hat letztlich — eine Woche ein umfangreiches Meßnetz vorhanden ist — und
vor Einbringen der Großen Anfrage der sozial- das ist zunächst einmal die Grundlage, die wir be-
demokratischen Fraktion — die Fraktionen der nötigen — und daß die Meßergebnisse für die ge-
CDU/CSU und FDP veranlaßt, einen Antrag auf samte Bevölkerung publiziert werden, so daß jeder
Drucksache IV/15 zu stellen, nämlich: Wissenschaftler und auch der Laie daraus das ent-
Der Bundestag wolle beschließen: nehmen kann, was erforderlich ist, sofern er die
Die Bundesregierung wird ersucht, Werte zu lesen versteht. Kommentationen erschei-
nen ja ohnedies in Zeitungen und Zeitschriften, was
angesichts des Ansteigens der Radioaktivität ich für notwendig halte; denn die Werte allein
der Luft und des Regens unverzüglich alle genügen natürlich dem Laien nicht; es ist erforder-
Maßnahmen zu ergreifen, die zur Abwendung lich, sie in einer allgemein verständlichen Weise
von Gefahren für die Bevölkerung erforderlich zu interpretieren. Es kann aber festgestellt werden,
sind. daß der Deutsche Wetterdienst an elf über -die Bun-
Verstehen Sie mich deshalb richtig, meine Damen desrepublik verteilten Stationen regelmäßig die Ge-
und Herren: Eine unmittelbare Gefahr ist nicht zu samt-Radioaktivität der Luft und an 16 Stationen
erkennen. Aber die Bundesregierung und nicht sie die der Niederschläge mißt und untersucht, welchen
allein, sondern darüber hinaus auch die Länder, die Anteil elf besonders gefährliche radioaktive Stoffe
Kommunen und der einzelne sind aufgerufen, Vor- an der Gesamtaktivität haben. Der Deutsche Wetter-
sorge für einen Ernstfall zu treffen. Denn wir wis- dienst veröffentlicht die Meßergebnisse und warnt
sen ja nicht, in welcher Weise die UdSSR diese nach einem festgelegten Plan die zuständigen Bun-
Versuche über der Erde fortsetzt, so daß vermehrte des- und Landesbehörden, wenn die Toleranzwerte
Gefahren auf uns zukommen können. Wir sind auch erreicht werden. Es darf weiterhin ausgeführt wer-
bei der Obsorge nicht allein. Die umliegenden Staa- den, daß die Wasser- und Schiffahrtsverwaltung in
ten machen sich in ebenderselben Weise Gedanken Zusammenarbeit mit den Landesbehörden die Radio-
darüber, was geschehen soll, wenn die Radioaktivi- aktivität des Oberflächenwassers der Bundeswasser-
tät der Luft so zunimmt, daß eine gesundheitliche straßen mißt. Das Deutsche Hydrographische Institut
Gefahr unmittelbar bevorsteht. bereitet die systematische Untersuchung des See-
Wir wissen beispielsweise aus Belgien und aus wassers, insbesondere die Feststellung der Brutto-
Holland, daß sich dort die zuständigen Gremien, ins- tamma-Aktivität der deutschen Küste und Stich-
besondere die Kabinette und die Parlamente mit der probenmessungen in Seegebieten, die für die Deut-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 305
Dr. Dittrich
sehe Hochseefischerei und Seeschiffahrt von beson- auch von seiten der Bundesregierung. Frau Bundes-
derer Bedeutung sind, vor. Einzeluntersuchungen ministerin, wäre nicht einmal die Veranlassung ge-
werden bereits durchgeführt. Auch die Radioaktivi- geben, die Öffentlichkeit in einer Broschüre darauf
tät unserer Nahrung wird untersucht. Damit hat die aufmerksam zu machen, wie die einzelne Familie
Bundesregierung in Verbindung mit den Landes- durch eine gewisse Bevorratung — der Gedanke
regierungen, die bekanntlich in Friedenszeiten die daran ist leider bei uns in der Bundesrepublik noch
Sorge für die Gesundheit der Bevölkerung haben, nicht allzusehr heimisch geworden — selbst 'dafür
ein Meßnetz über das ganze Bundesgebiet ausge- Sorge tragen kann, daß sie für den Ernstfall ge-
dehnt, das genügend Möglichkeiten zum Erkennen wappnet ist?
radioaktiver Gefahren in sich birgt.
Alles in allem glauben wir, daß wir mit diesem
Wenn auch die Gefahr nicht eingetreten ist, die Ersuchen an die Bundesregierung, alles zu tun, was
wir in der zweiten Hälfe des vergangenen Jahres in ihren Kräften steht, um solchen Gefahren zu be-
glaubten befürchten zu müssen, s o stehen wir doch gegnen, das getan haben, was notwendig ist. Die
vor der Notwendigkeit, Vorsorge zu treffen. Ich Große Anfrage der SPD, die eine Woche später
glaube, die SPD-Fraktion hat aus dem Mund der eingebracht wurde, ergänzt das. Wir sind der Mei-
BundesmitrfüGheswntom- nung, daß die Bundesregierung in Verbindung mit
men, daß sich d i e Bundesregierung in Verbindung den Ländern auf dem besten Weg ist, ihre Pflicht
mit den Ländern — das sei immer wieder zum Aus- für 'den Fall zu tun, daß eine solche Gefahr drohen
druck gebracht — Gedanken darüber gemacht hat, sollte.
wie diesen Gefahren begegnet werden kann, daß (Beifall bei den Regierungsparteien.)
die Bundesregierung hier aber nicht allein die Ver-
antwortung trägt, sondern daß darüber hinaus auch
die Länder das Ihre tun müssen. Ich erinnere nur an Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
mein Heimatland Bayern, wo sich der Innenminister Abgeordnete Dr. Bechert.
Goppel bemüht, den Gefahrenmöglichkeiten zu be-
gegnen. Ich erinnere an Baden-Wüttemberg und an
Nordrhein-Westfalen, die zum Teil schon nicht un- Dr. Bechert (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen
erhebliche Mittel für die Bevorratung von radioak- und Herren! Mein verehrter Vorredner, Herr Dr.
tivverseuchten Lebensmitteln eingesetzt und ausge- Dittrich, sagte eben: Wer so verfährt, der handelt
geben haben. nicht pflichtgemäß. Wer also die Öffentlichkeit vor
diesen Gefahren warnt, der handelt nicht pflichtge-
Es wäre mir ein leichtes, auch noch auszuführen, mäß.
daß Überwachungen der Radioaktivität der Seefisch-
anlandungen vorgenommen werden. Man kann dar- (Abg. Dr. Dittrich: „Wer vor den Gefah
aus ersehen, daß die Bundesregierung alles tut, um ren warnt", Herr Professor, habe ich nicht
Gefahrenquellen rechtzeitig zu erkennen. Es ist gesagt!)
nicht meine Aufgabe, die besonderen Gefahren des — Das war aber der Sinn der Aussage.
Trinkwassers, der Milch und des Brotgetreides hier
zu dramatisieren. Aus all den Messungen, die uns (Abg. Dr. Dittrich: Nein, das war er nicht!)
zugänglich gemacht worden sind, geht hervor, daß Das bedeutet also: Albert Schweitzer hat unrecht.
unmittelbare , Gefahrenquellen in dieser Hinsicht Das bedeutet: die 9000 Wissenschaftler, die vor der
nicht vorhanden sind. Fortsetzung der Atomwaffenversuche gewarnt ha-
Wenn man die Arbeiten kompetenter Wissen- ben, sind Idioten und Narren und haben zu Unrecht
schaftler und die offiziellen Äußerungen und Be- gewarnt. Ich verbitte mir eine solche Äußerung im
richte wie die Vierteljahresberichte des Bundesmi- Namen der Wissenschaftler,
nisteriums für Atomenergie und Wasserwirtschaft, (Abg. Dr. Dittrich: Verzeihung, Herr Pro
den zweiten Report des Britischen Medizinischen fessor, das habe ich nicht gesagt!)
Forschungsrates 1960 sowie unter acht anderen die
Messungen der Leitstellen für Radioaktivität in der - kom-
die angesichts ihres Wissens über das, was
Bundesrepublik, die Beurteilung von Einlagerungen men kann, die Verantwortung fühlen, darüber zu
radioaktiver Stoffe im menschlichen Knochen und reden.
die Messungen von Privatdozent Dr. Pribilla aus Das ist auch der Sinn unserer Großen Anfrage. Es
dem Gerichtmedizinischen Institut der Universität heißt ja im ersten Satz:
Kiel usw. zugrunde legt, so ist es nach unserer Mei-
nung falsch und gefährlich, draußen in der Öffent- Angesichts der Wiederaufnahme von Atom-
bombenversuchen in der Atmosphäre durch die
lichkeit eine Panik zu erzeugen und das zu tun, was
d er Kreml so gern bei uns tun möchte, nämlich eine
Sowjetunion ist im Frühjahr 1962 mit einem
Angst zu verbreiten, die mindestens im gegenwär- verstärkten Befall durch radioaktive Stoffe zu
tigen Zeitpunkt und für die nächste Zeit nicht ver- rechnen.
anlaßt ist Wer im Hinblick auf Dinge, von denen Das ist die Meinung aller sachverständigen Me-
die Allgemeinheit im großen und ganzen nicht all- teorologen, aller führenden Wissenschaftler auf die-
zuviel weiß und nicht allzuviel informiert ist, so sem Gebiet, die sich zu dieser Frage geäußert
verfährt, der handelt nicht pflichtgemäß. haben. Es ist weiter die Meinung der führenden
Freilich müssen wir der Öffentlichkeit sagen, was Wissenschaftler, daß eine sehr viel größere radio-
sie in einem solchen Fall zu tun hat. Das geschieht aktive Bedrohung infolge der neuen Atomwaffen-
306 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Dr. Bechert
versuche auf uns zukommt, als das bisher der Fall obwohl die Aufklärungsaktion der Bundesregierung
war. angeblich den Zweck hatte, die Bevölkerung über
Es ist jetzt etwa sechs Jahre her, daß ich in der das zu unterrichten, was an radioaktiver Gefähr-
deutschen Öffentlichkeit als erster auf diese Gefah- dung zur Zeit gegeben ist. Wir haben nichts darüber
ren, die kommen können, hingewiesen habe. Ich erfahren, wie hoch die Radioaktivität des Regens
hatte darauf hingewiesen, .daß die Radioaktivität des war.
Regens damals — 1956 — und schon einige Zeit Wie steht es überhaupt mit der Zuständigkeit? Es
vorher — 1955 und 1954 — bedenklich hoch gewe- ist uns heute versichert worden, zuständig sei das
sen war. Seinerzeit hat die Bundesregierung wesent- Bundesministerium für Gesundheitswesen.
lich anders geantwortet, als sie es heute tut. Ich Am 27. November vorigen Jahres hat der
hatte damals darauf aufmerksam gemacht, daß die Deutsche Wetterdienst auf Anweisung des Bundes-
radioaktive Verseuchung des Regens für die Men- verkehrsministeriums damit begonnen, die Radioak-
schen, die Regenwasser als Trinkwasser verwen- tivität der Luft in den Wetterberichten bekanntzu-
den müssen, weil sie keine anderen Wasserquellen geben. Das geschah dann einige Wochen lang, von
zur Verfügung haben, eine Gefährdung bedeuten Ende November bis Mitte Dezember. Schon lange
könne. Damals hatte die Bundesregierung die Kühn- steht nichts mehr darüber in der Zeitung.
heit, durch ihren Sprecher antworten zu lassen, es
seien ja nur einige wenige Höfe im Hochschwarz- (Zuruf von der Mitte: Lesen Sie mal „Die
wald, auf denen Regenwasser als Trinkwasser ver- Welt" !)
wendet werde. Damals war Atomminister der jet- Aber das Wesentliche ist — alle Sachverständi-
zige Verteidigungsminister Strauß. Heute hat man gen haben es als wahrscheinlich vorausgesagt —:
etwas anderes gehört. nicht die Radioaktivität der Luft ist das Bedenkliche.
Von der Sprecherin unserer Fraktion, der Kollegin Professor Hinzpeter hat z. B. vor vielen Monaten
Dr. Hubert, ist darauf hingewiesen worden, daß darauf hingewiesen, daß es nicht um die Radio-
aktivität der Luft, sondern um die der Niederschläge
Professor Hinzpeter von der Technischen Hochschule
geht. Über die Stärke der Radioaktivität der Nie-
Hannover, der im Auftrage der niedersächsischen
derschläge ist uns aber nichts berichtet worden. Daß
Regierung diese Probleme zu bearbeiten hat, im Ok-
es darum geht, konnte der Herr Bundesverkehrs-
tober vorigen Jahres betont hat, daß allein in Nie-
minister natürlich nicht wissen. Das Bundesatom
dersachsen etwa 300 000 Menschen auf Regenwasser
ministerium hätte ihn aber darauf aufmerksam ma-
als Trinkwasser angewiesen sind. Vorhin hat uns
chen können, daß nicht die Veröffentlichung der
die Frau Bundesministerin für das Gesundheits-
Radioaktivität der Luft, sondern die der Nieder-
wesen versichert, daß sich diese Zahl unterdessen
schläge notwendig gewesen wäre. Ich werde später
verringert habe. Worauf geht das zurück? — Dar-
die Zahlen nennen. Ich habe sie vom Präsidenten
auf, daß die Warner — ich gehöre zu denen, die des Deutschen Wetterdienstes auf meine Bitte zu-
zuerst gewarnt haben — verlangt haben, daß das geschickt bekommen. Ich werde dann auch von den
geändert wird, daß für diese Menschen die Wasser- Mittelwerten sprechen, die Herr Dr. Dittrich als weit
versorgung auf Grundwasser umgestellt wird! unter der höchstzulässigen Grenze liegend bezeich-
Nebenbei gesagt: wie notwendig es ist, in dieser net hat. Ich werde Ihnen deutlich machen, ob das
Frage aufklärend zu wirken, das haben die Äußerun- richtig ist oder nicht.
gen, die hier im Bundestag getan worden sind —
auch die Antwort des Bundesministeriums für Ge- Ich wiederhole: man hat der Öffentlichkeit nur
sundheitswesen — ganz deutlich gemacht.. Das hat mitgeteilt — was die Fachleute von vornherein als
auch die Äußerung gezeigt, die sich der Herr Bun- wahrscheinlich angenommen haben; auch das Atom-
desinnenminister Höcherl vor kurzem im Fernsehen ministerium hat das gewußt —, daß es nicht zu
geleistet hat, nämlich, daß nach einem Atomwaffen- einer Überschreitung der höchstzulässigen Menge in
angriff, nach einer Atomwaffenexplosion der radio- der Luft kommen könne. Man hat aber nur von der
aktive Befall auf den Boden nur einige Wochen Radioaktivität der Luft und nicht von der -der Nie-
dauere und die Gefahr dann vorbei sei. Das zeigt, wie derschläge berichtet.
notwendig die Aufklärung ist. Die Wissenschaftler
wissen, daß es Jahre dauert, bis die radioaktiven Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter
Stoffe einigermaßen vollständig wieder auf der Erde Dr. Bechert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
gelandet sind. Abgeordneten Frau Geisendörfer?
Es sind einige Gebiete in der Bundesrepublik ge-
nannt worden, in denen Regenwasser als Trinkwas- Dr. Bechert (SPD) : Bitte !
ser verwendet wird. Es ist aber nicht davon gespro-
chen worden, daß das nicht nur in Schleswig-Hol- Frau Geisendörfer (CDU/CSU) : Herr Kollege,
stein und in Niedersachsen der Fall ist. Es gibt sind Sie nicht darüber im Bilde, daß in der Presse
Landgemeinden am Rand des Neckartals, in der tatsächlich noch immer über die Radioaktivität be-
Rauhen Alb, im Hochschwarzwald, in denen Regen- richtet wird? Sie haben vorhin festgestellt, daß Be-
wasser als Trinkwasser verwendet wird. richte über die Radioaktivität nicht mehr erscheinen.
Die Öffentlichkeit hat nicht erfahren, daß der Bo-
den durch die Niederschläge der letzten Monate Dr. Bechert (SPD) : Ich darf gleich antworten. In
sehr viel stärker radioaktiv verseucht worden ist, den großen Tageszeitungen, z. B. in der „Frankfur-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 307
Dr. Bechert
ter Allgemeinen" und in der „Welt", wird die Radio- Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter,
aktivität der Luft nicht mehr angegeben. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abge-
(Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie nicht ordneten Geisendörfer?
den Bericht heute in der „Welt" gelesen?)
— Heute habe ich die Zeitung noch nicht gesehen. Dr. Bechert (SPD) : Ja, bitte!
(Lachen und Zurufe von der Mitte.)
Vizepräsident Dr. Jaeger: Frau Abgeordnete
Bis Mitte Dezember wurde sie angegeben und dann Geisendörfer!
nicht mehr. Aber viel wesentlicher ist doch dies:
es wurde nur die Radioaktivität der Luft und nicht
die der Niederschläge angegeben; d. h. das, was Frau Geisendörfer (CDU/CSU) : Herr Kollege,
harmlos ist, ist berichtet worden, und nicht das, was sind Sie sich darüber im klaren, daß diese Infor-
bedenklich ist. mationen des Bundesatomministeriums allen Tages-
zeitungen zugänglich sind und daß das dazu anre-
(Zurufe von der Mitte.)
gen soll, sie der Offentlichkeit zugänglich zu ma-
— Lassen Sie mich dies zunächst darstellen, bevor chen? Darf ich Sie fragen, ob Sie nicht gelesen ha-
Sie mit weiteren Fragen kommen, auf die zu ant- ben, daß einige Zeitungen festgestellt haben: Die
worten ich dann gern bereit bin. Meldungen des Atomministeriums zeigen uns, daß
Lassen Sie mich zunächst darstellen, wie es mit wir hinsichtlich des Grades der Überwachung durch
der Radioaktivität der Niederschläge wirklich be- die zuständigen Stellen beruhigt sein können und
stellt war. daß es deswegen nicht mehr nötig ist, diese Berichte
laufend zu veröffentlichen? Im übrigen möchte ich
Sie aber fragen, ob es nicht möglich ist, daß Sie
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter nicht regelmäßig die Veröffentlichungen in den gro
Bechert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn
ßen Tageszeitungen verfolgt haben, von denen
Abgeordneten Dittrich?
einige trotzdem immer noch weiter laufend diese
Meldungen abgedruckt haben.
Dr. Bechert (SPD) : Wenn sie sich auf den Zu-
sammenhang bezieht, ja.
Dr. Bechert (SPD) : Ich wiederhole, weil ich offen-
bar nicht richtig verstanden worden bin: In den
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter großen Tageszeitungen ist die Radioaktivität der
Dittrich! Luft, niemals die der Niederschläge bekanntgegeben
worden. Widerlegen Sie es, wenn Sie es können.
Dr. Dittrich (CDU/CSU) : Herr Professor Bechert, Sie haben es nicht widerlegt.
wissen Sie nicht, daß sämtliche Tageszeitungen so-
wohl die Messungen der Radioaktivität des Was- (Abg. Dr. Dittrich: Das ist objektiv un
sers als auch der Luft ständig erhalten können und richtig!)
daß die Tageszeitungen, die sich anfänglich bemüht Ich möchte nun von der Radioaktivität der Nie-
haben, die Meßwerte abzudrucken, allmählich dazu derschläge sprechen. Wenn nicht im einzelnen nach-
übergegangen sind, sie nicht mehr abzudrucken, daß gemessen ist, um welche radioaktive Stoffe es sich
nur einzelne Tageszeitungen der Bundesrepublik sie handelt, insbesondere wenn zum Beispiel nicht
noch aufnehmen, beispielsweise „Die Welt", die nachgemessen ist, wieviel Strontium 90 in dem
fortlaufend Angaben über die Radioaktivität des radioaktiven Niederschlag enthalten ist, dann gilt
Wassers und der Luft bringt? nach den Euratom-Grundnormen, nach der Ersten
Strahlenschutzverordnung Anlage II — Sie können
Dr. Bechert (SPD): Das ist einfach nicht nichtig. sie nachlesen, ich habe sie hier und kann Ihnen die
Die Radioaktivität der Niederschläge ist in keiner Seitenzahl zitieren — und im Zusammenhang damit
mir bekannten großen Tageszeitung bekanntgege- nach § 42 dieser Strahlenschutzverordnung als
-
höchstzulässige Menge 100 Picocurie pro Liter Nie-
ben worden. Nie, an keinem einzigen Tag! Nennen
Sie mir einen Tag! derschlag. Das steht gedruckt und hat für uns in der
Bundesrepublik Gesetzeskraft.
(Abg. Dr. Dittrich: Kennen Sie denn diese
Meldungen, die Sie da in meiner Hand Sehen Sie sich bitte einmal die Messungen des
sehen, nicht?) Deutschen Wetteramtes an. Im November lagen die
Mittelwerte — also die Durchschnittswerte, nicht
— Doch, aber das ist keine Tageszeitung — davon
die Einzelwerte, Herr Dr. Dittrich — bei 15 von den
will ich gleich sprechen —, sondern das ist eine In-
16 Stationen des Deutschen Wetterdienstes nicht in
formation, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit
der Gegend von 100 Picocurie pro Liter und dar-
erscheint. Ich will sie Ihnen gleich beschreiben. Ich
unter, sondern über 1000, in Hannover über 7000.
sprach davon, daß in den Tageszeitungen, die für
Ich habe die Meßwerte von dem Präsidenten; ich
die Öffentlichkeit bestimmt sind, die Radioaktivität
kann sie Ihnen runterreichen. Einzelwerte lagen —
der Luft, von der jeder Fachmann voraussehen das hat Herr Dr. Dittrich mit einem einzigen Wert
konnte, daß sie mit großer Wahrscheinlichkeit harm- belegt — in der Größenordnung von 52 000. In der
los bleiben würde, veröffentlicht worden ist, nicht Station Hannover sind an aufeinanderfolgenden
aber die Radioaktivität der Niederschläge. Tagen Meßwerte von 12 000, 21 000 und 42 000 ge-
(Abg. Dr. Dittrich: Das ist nach Ansicht des funden worden. Diese Werte liegen über der höchst-
Atomministeriums absolut falsch!) zulässigen Grenze von 100 Picocurie pro Liter, und
308 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Dr. Bechert
die Durchschnittswerte liegen ebenfalls weit über dann durch 12 dividieren, erhalten Sie natürlich
dieser Grenze. Sie liegen sogar weit über 1000. Im einen kleinen Wert.
Oktober waren die Werte geringer. Aber bei einer
(Beifall bei der SPD.)
ganzen Reihe von Stationen lagen sie über 1000
und bei allen erheblich über 100.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter,
gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter
Bechert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau
Abgeordneten Pannhoff?
Frau Dr. Pannhoff (CDU/CSU) : Aber Herr Pro-
fessor Bechert, sind die international festgelegten
Höchstgrenzen nicht doch
Dr. Bechert (SPD) : Einen Augenblick! Ich möchte (Zuruf von der SPD: Es ist keine Große An
den Gedanken noch zu Ende führen. — Im Dezem- frage an Herrn Bechert! — Weitere Zurufe
ber — ich habe die Meßwerte bis 16. Dezember von der SPD)
einschließlich — gingen die Meßwerte herunter.
auf das ganze Jahr und nicht auf den Monat zu be-
Die Meßwerte von Oktober bis Dezember zeigten,
ziehen?
da ja die Hauptmenge der Radioaktivität nach der
Meinung aller Wettersachverständigen erst in die-
sem Frühjahr zu erwarten ist, d. h. da wir von Dr. Bechert (SPD): Sie sollen im Durchschnitt
Februar bis etwa Mai mit noch sehr viel höheren nicht überschritten werden. Wenn Sie den Durch-
Mengen zu rechnen haben, wie notwendig es ge- schnitt für ein Jahr errechnen, in dem nichts ge-
wesen wäre, darauf hinzuweisen, daß es mit der schehen ist, bekommen Sie natürlich einen niedrigen
Radioaktivität durchaus nicht so harmlos bestellt Wert. Wir haben deswegen gewarnt, weil die Ra-
ist, wie uns das auf Grund der Messungen über die dioaktivität in den Monaten seit dem Wiederbe-
Radioaktivität der Luft gesagt wurde. Dabei wurde ginn der russischen Atomwaffenversuche bedrohlich
immer wieder beruhigend hinzugefügt, daß sie ja gestiegen war.
noch weit unter dem höchstzulässigen Wert liege. (Beifall bei der SPD.)
Die Meßwerte zeigen vielmehr, daß es notwendig Da beziehen wir uns selbstverständlich auf das, was
gewesen wäre, auch die Radioaktivität der Nieder- passiert ist, und nicht auf das, was vorher war, wo
schläge in der Presse bekanntzugeben. keine Atomwaffenversuche stattgefunden hatten.
Ich wiederhole: Der Bundesverkehrsminister hat (Sehr richtig! bei der SPD. — Abg. Dr.
nur Anweisung gegeben, die Radioaktivität der Luft Mommer: Tücken der Statistik!)
bekanntzugeben. Der Herr Bundesatomminister hat
es im deutschen Rundfunk am 26. November so ge- Ich sprach eben von der Höchstgrenze, die nicht
sagt. Im Bulletin der Bundesregierung können Sie überschritten werden soll und die für uns gesetzlich
beim Nachlesen feststellen, daß er es so gesagt hat. bindend ist. Sie können nicht darüber hinweg. Der
— Bitte! Bundestag hat es so beschlossen, und in den Eura-
tom-Grundnormen steht es, daß die Zahl 100 Pico
curie nicht überschritten werden darf. Der Herr
Frau Dr. Pannhoff (CDU/CSU) : Herr Professor Vizekanzler hat in dem Schreiben, mit dem er diese
Bechert, Sie haben vorhin bei der Angabe der Zah- Grundnorm dem Bundestag zur Beschlußfassung zu-
len, der Einzelwerte und der Mittelwerte, erschrek- geleitet hat, darauf hingewiesen, daß es sich um
kend hohe Zahlen für die Zeit im Anschluß an die Mindestanforderungen handelt.
Detonation der Superbomben angegeben, wie sie
auch tatsächlich festgestellt sind, und haben daraus (Abg. Dr. Dittrich: Aber doch nicht bei
abgeleitet, daß die in der Strahlenschutzverordnung einzelnen Niederschlägen, Herr Professor!)
angegebenen Höchstgrenzen überschritten sind. — Ich habe ja nicht von einzelnen Niederschlägen
-
gesprochen, sondern von Monatsdurchschnitten, und
(Zurufe von der SPD: Frage!)
deren Werte lagen weit über hundert, ja weit über
Ich frage Sie: Wissen Sie oder wissen Sie nicht, daß tausend Picocurie pro Liter.
Mittelwerte für das ganze Jahr und nicht für den
einzelnen Monat zu berechnen sind? Wir müssen Nun möchte ich von dem sprechen, was zu beach-
die Mittelwerte doch auf das ganze Jahr beziehen. ten ist, wenn man weiß, welche gefährlichen Stoffe
Das wissen Sie doch! im Niederschlag vorhanden sind, wenn man festge-
stellt hat, wieviel von dem Element Strontium 90,
das ja zur Zeit der gefährlichste dieser Stoffe ist —
Dr. Bechert (SPD) : Sie irren sich, Frau Kollegin. nicht in der Nähe des Ortes der Atomwaffenver-
In den Berichten des Atomministeriums werden ja suche, da sind noch andere Stoffe mit gefährlich —,
auch jeweils die Mittelwerte für den einzelnen Mo- im Niederschlag oder im Trinkwasser, insbesondere
nat angegeben. Das ist durchaus üblich. Man kann im Zisternenwasser, vorhanden ist. Wie Sie in
natürlich die Zahlen auch auf das Jahr beziehen. einem physikalischen Nachrichtenorgan vom Okto-
Wenn man verharmlosen will, kann man es für das ber vorigen Jahres nachlesen können, hat das Ge-
vorige Jahr so machen, obwohl im ersten Teil des sundheitsamt der Vereinigten Staaten als Maßzahl
Jahres die Atomwaffenversuche seit 2 1/2 Jahren für die höchstzulässige Menge von Strontium 90 in
eingestellt waren und die Radioaktivität erst in den Trinkwasser die Menge von 10 Picocurie pro Liter
letzten Monaten in Massen herunterkam. Wenn Sie festgesetzt.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 309
Dr. Bechert
Wenn Sie sich ansehen, was das Bundesatom Die Radioaktivität des Bodens ist ebenfalls stark
ministerium im Frühjahr 1961, d. h. zu einer Zeit, gestiegen. Wir haben in dem Bericht des Atom-
wo seit mehr als zwei Jahren keine Atomwaffen- ministeriums „Umweltradioaktivität und Strahlen-
versuche stattgefunden hatten, über die Zisternen- belastung" vom ersten Vierteljahr 1961 den Zahlen-
wasserverseuchung in Niedersachsen und Schles- wert — als Mittelwert vom März 1961 — genannt
wig-Holstein veröffentlicht hat, dann werden Sie bekommen; das war zu einer Zeit, als sich die kleinen
als Vierteljahres-Mittelwert zwei Picocurie pro Li- französischen Atomwaffenversuche in dem Grad der
ter finden. Das ist ein Fünftel der höchstzulässigen Verseuchung auswirkten, und zwar mit 0,8 Milli-
Menge, und zwar zu einer Zeit, ich wiederhole es, curie, also mit rund 1/1000 Curie, pro qkm. Es ist
wo seit zwei Jahren keine Atomwaffenversuche der deutschen Öffentlichkeit nicht bekanntgegeben
mehr stattgefunden hatten. Es war also sehr nötig, worden — auch nicht in den Informationen „Atom
daß wir diese Große Anfrage eingebracht und ver- und Wasser" —, daß z. B. an der Station Essen die
langt haben, daß für die Menschen etwas geschieht. Radioaktivität, die im Monat November dem Boden
zugeführt worden ist, rund das 300fache der Radio-
Ich habe vorhin gesagt, es sei etwa sechs Jahre
aktivität betragen hat, die ich gerade genannt habe
her, daß ich angefangen hätte, in der deutschen
und die mit durch die französischen Atomwaffen-
Öffentlichkeit auf diese Gefahren hinzuweisen. Ein
versuche hervorgerufen war. In Essen hat man im
Angehöriger der CDU/CSU-Fraktion hat mir vor
November vorigen Jahres 250 Millicurie pro qkm
einigen Jahren gesagt, weshalb ihre Fraktion da-
gemessen.
mals gegen diese Warnungen gewesen sei. Er hat
mir gesagt: Unsere Fraktion steuerte damals auf Der Verseuchungsgrad unserer Durchschnittsnah-
die Atombewaffnung zu. rung im Bundesgebiet hängt davon ab, von welchen
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Sehr Lebensmitteln wir hauptsächlich das Kalzium — den
interessant!) Kalk — beziehen. Bei der Ernährung des Bundes-
bürgers sind die Hauptkalklieferanten im allgemei-
Am 1. September vorigen Jahres, an dem Tag, an nen Milch und Milchprodukte, Käse, Quark usw.
dem die deutschen Zeitungen von der bevorstehen- Die Milch war, im Vergleich zu anderen Lebens-
den Wiederaufnahme der russischen Atomwaffen- mitteln, verhältnismäßig wenig verseucht, nämlich
versuche berichteten, habe ich den Bundesatom nur mit etwa 1/10 der Verseuchung, die die Ge-
minister in einem Brief darum gebeten, die deut- treideerzeugnisse der verschiedensten Arten auf-
sche Öffentlichkeit über den Stand der Radioaktivi- wiesen. Wie ich schon sagte, ist die Milchverseu-
tät aufzuklären. Was geschehen ist, habe ich schon chung für die Durchschnittsverseuchung der Nahrung,
berichtet. Der Atomminister hat selber gesagt, daß die wir zu uns nehmen, maßgebend. Sie lag in den
der Bundesverkehrsminister das Bundeswetteramt letzten Jahren in der Größenordnung von 10 bis 15
angewiesen habe, die Radioaktivität der Luft, also Strontiumeinheiten. Was das Strontium 90 in den
nicht die der Niederschläge, bekanntzugeben. Ich Knochen anlangt, gelten 100 Strontiumeinheiten als
frage: Was soll man daraus schließen, daß diejenige höchstzulässig.
Stelle, die gewußt hat, daß wahrscheinlich nicht die
Radioaktivität der Luft, sondern die der Nieder- Wir halten es für notwendig, daß die Bundes-
schläge bedrohlich werden würde, mindestens ge- regierung dann, wenn die Radioaktivität im Früh-
wußt haben muß, daß der Bundesverkehrsminister jahr dieses Jahres wesentlich steigen sollte, der Be-
nur die Radioaktivität der Luft bekanntgeben las- völkerung den Rat gibt, die Ernährung nicht zu sehr
sen wollte? auf Brotgetreide und Getreideerzeugnisse abzustel-
(Abg. Dr. Dittrich: Darauf wird Ihnen der len, weil das Getreide erheblich höher verseucht ist.
Herr Atomminister Antwort geben!) Das war in den letzten Jahren schon immer der Fall.
Da lag die Getreide-Verseuchung in der Größen-
Ich sprach vorhin von den wirklichen Meßwerten. ordnung von 100 bis 150 Strontiumeinheiten. Nord-
Sie nannten das Informationsblatt des Bundesatom- amerikanisches Getreide zu kaufen und einzulagern,
ministeriums „Atom und Wasser", das Blatt mit dem liegt, wenn ich recht verstanden habe, nicht- in der
blauen Rand; Sie haben es vorhin vorgezeigt. Es er- Absicht der Bundesregierung. Das würde ich auch
scheint, wie ich sagte, mehr oder weniger unter nicht anraten. Denn amerikanisches Getreide war in
Ausschluß der Öffentlichkeit, d. h. es wird an die den letzten Jahren mit bis zu 660 Strontiumeinheiten
Interessenten verschickt, und die Art seiner Dar- verseucht. Das hängt damit zusammen, daß die
stellung der Radioaktivitätsmenge kann man nicht Amerikaner den Blödsinn der Atomwaffenversuche
als gemeinverständlich bezeichnen. Vor allen Din- in ihrem eigenen Land machen.
gen möchte ich darauf hinweisen, daß in diesem
Informationsblatt zwar gelegentlich auch die Radio- Die Völker, bei denen die Ernährung wesentlich
aktivität der Niederschläge angegeben war, nicht auf Getreide und Getreideerzeugnissen beruht, die
aber die Radioaktivität der Niederschläge an den Inder und die Japaner, sind sehr viel schlechter
Meßstationen, wo sie am höchsten war. Die Werte daran als wir. Bei ihnen betrug die Strontiumver-
von Schleswig und München sind angegeben wor- seuchung in der Nahrung bereits 1959 rund 88 Stron-
den, nicht aber der Wert von Nürnberg, der beson- tiumeinheiten. Wenn also bei uns jemand seine
ders hoch war, nicht der Wert von Hannover, wo Ernährung von Milch auf Getreide umstellen würde,
im November eine außerordentlich hohe Radio- wäre er ebenfalls etwa so schlecht daran wie die
aktivität zu verzeichnen war, nicht die Werte von japanische und die indische Bevölkerung.
Oberstdorf und von Norderney, wo die Zahl von Es kann notwendig werden, der Bevölkerung zu
53 000 Picocurie pro Liter erreicht worden ist! empfehlen, wenn stark radioaktiver Regen gefallen
310 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Dr. Bechert
ist, die Dinge, die draußen im Garten wachsen und von den Großmächten verlangen, daß die Atomwaf-
auf dem Felde stehen, nicht ungewaschen zu ver- fenversuche eingestellt werden.
wenden oder überhaupt nicht zu verwenden. So hat (Beifall bei der SPD.)
die schwedische Regierung dem schwedischen In-
nenminister Vollmacht gegeben, anzuordnen, dann, Das gilt für alle.
wenn die Radioaktivität sehr hoch steigen sollte, (Zuruf von der CDU/CSU: Und wer sagt
Lebensmittel aus dem nördlichen Teil des Landes es den Russen?)
nicht ausführen zu lassen und zu verbieten, daß
solche Lebensmittel überhaupt verwendet werden. — Wir sollen es den Russen sagen, der Deutsche
Solche Anordnungen können auch bei uns not- Bundestag!
wendig werden. Ich erinnere daran, daß die japa-
nische Regierung vor einigen Jahren ihre Bevölke- Herr Dr. Dittrich hat gesagt, die Angst solle man
rung hat warnen müssen, Obst und Gemüse aus nicht vertiefen und man solle keine Atomangst er-
gewissen Teilen Japans zu verwenden, weil sie zu zeugen. Ich habe vorhin schon einige Kronzeugen
hoch radioaktiv verseucht waren. der Warnung genannt. Ich möchte hinzufügen, daß
jeder Bericht der Vereinten Nationen immer wieder
Da entsteht eine Frage, die heute noch nicht an- die Forderung enthält, die Atomwaffenversuche ein-
gesprochen worden ist: Wer ersetzt dann den Er- zustellen.
zeugern und den Händlern den Schaden, wenn sie
Herr Dr. Dittrich hat weiter gesagt, es bestehe
ihre Erzeugnisse nicht absetzen? Wen will die
keine unmittelbare Gefahr. Wenn eine unmittelbare
Bundesregierung dann zur Zahlung anhalten? Die
Gefahr gegeben ist, dann ist es zu spät. Wir müs-
die inBundesrgi t Rerung,
sen vorher handeln.
Moskau nicht gegen die Atomwaffenversuche pro-
testiert haken. (Beifall bei der SPD.)
Es kann dann nötig werden — das hat Frau Bun- Das ist der Sinn unserer Anfrage, und das ist sicher
desministerin schon gesagt —, der Bevölkerung zu auch der Sinn Ihres Antrages.
empfehlen, das Milchvieh nicht auf die Weide zu (Abg. Dr. Dittrich: Das habe ich aber ausge
treiben oder frisches Gras, das hochradioaktiv sein führt, Herr Bechert!)
kann, nicht zur Fütterung zu verwenden. Ich frage:
Hat die Regierung vor, die Bevölkerung zu warnen, Ein Mittel ist nicht genannt worden, ich möchte es
wenn es stark radioaktiv regnet? Hat sie vor, der hier kurz erwähnen. Man kann es für notwendig
Bevölkerung zu raten, wie sie sich dann zweckmäßi- halten, der Bevölkerung zu empfehlen, dann, wenn
gerweise verhält? Oder will sie das Verfahren fort- es stärker radioaktiv regnen wird, wie es in diesem
setzen, daß wir nur das Harmlose in den Zeitungen Jahr wahrscheinlich der Fall sein wird, mit Kalk zu
erfahren? düngen, weil das Kalzium das Strontium im Boden
und in den Pflanzen, also in unserer Nahrung, ver-
Herr Dr. Dittrich hat betont, daß die Körperver- drängt. Der Nobelpreisträger Pauling hat empfoh-
seuchung gering sei. Das ist nicht nichtig. Ich beziehe
len, daß Erwachsene und vor allem Jugendliche und
mich gerade auf einen Forscher, den er selbst als
schwangere Frauen mehr Kalk zu sich nehmen, um
Autorität genannt hat, auf Dr. Pribilla vom Milch-
die Aufnahme des gefährlichen Strontium herabzu-
forschungsinstitut des Bundes in Kiel. Es gibt einen
setzen. Auch das sind Fragen, die bearbeitet werden
Bericht, den das Bundesatomministerium selbst ver-
müssen.
öffentlicht hat — es ist der vierte Vierteljahres-
bericht von 1960 — und in dem dargestellt ist, wie (Abg. Frau Dr. Pannhoff: Sie sind in Be
die Strontium-90-Verseuchung in menschlichen Fort- arbeitung!)
pflanzungsorganen im Jahre 1960 war. Sie lag im
Durchschnitt bei 15 Strontiumeinheiten. Bedenken — Die Bundesregierung hätte längst handeln müs-
Sie, daß in Knochen 100 Strontiumeinheiten als sen. Ich will Ihnen gleich die Daten nennen, die zei-
gen, wie es mit der Bearbeitung steht. -
höchstzulässig gelten, und bedenken Sie, daß es sich
um Fortpflanzungsorgane handelt, wo schon ge- Nachdem ich am 1. September an den Bundes
ringste Strahlungsmengen Erbschäden verursachen atomminister geschrieben und gebeten hatte, ent-
können, wo Sie also die höchstzulässige Menge von sprechende Maßnahmen zu ergreifen, und nachdem
100 Strontiumeinheiten gar nicht zum Vergleich die CDU-Fraktion am 14. November den Antrag und
heranziehen können. Solche Verseuchung kann man wir, wenn ich mich recht erinnere, am 21. November
nicht als unbedenklich bezeichnen. Es ist zu erwar- die Anfrage eingebracht hatten, wurde am 21. De-
ten, daß diese Verseuchung durch die Radioaktivität, zember 1961 von den Innenministern der Länder
die jetzt herunterkommt, anwächst, wenn man sich unter Vorsitz von Frau Bundesministerin Schwarz-
unzweckmäßig ernährt und verhältnismäßig viel haupt beschlossen, einen Ständigen Ausschuß zu
Strontium in den Körper bekommt. Nachfolgende bilden, der die Sache zunächst einmal beraten soll.
Generationen in kommenden Jahrhunderten werden Geschehen war da also noch nichts. Der Ausschuß soll
dann den Schaden zu tragen haben, wenn wir heute Vorschläge für Maßnahmen zur Sicherung einwand-
nicht verantwortungsbewußt handeln. freier Lebensmittel in Zeiten erhöhter Radioaktivi-
Herr Dr. Dittrich hat mit Recht gesagt, die Einstel- tät erarbeiten. Er soll außerdem Vorschläge für ein
lung der Atomwaffenversuche sei das einzig wirk- einheitliches Warnsystem machen. Am 12. Januar
same Heilmittel für diesen Schaden. Ich meine, der dieses Jahres ist dieser Ausschuß zum ersten Mal
Bundestag sollte eine Entschließung fassen und zusammengekommen.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 311
Dr. Bechert
Es sind weiterhin im Bundesatomministerium drei schieht, und wir können heute, ohne überheblich zu
Unterausschüsse gebildet worden. Das ist am 30. No- werden, sagen, daß technische Anlagen auf der Welt
vember 1961 beschlossen worden. Einer dieser Un- relativ, im Rahmen des menschlich Möglichen, strah-
terausschüsse wird am 5. Februar, ein anderer am lungsfrei gehalten werden können. Das ist teuer und
20. März dieses Jahres tätig. Das kann man nicht als umständlich, aber es ist technisch möglich.
sehr eiliges Handeln bezeichnen.
Schwieriger wird .das natürlich in einem Bereich,
In der Regierungserklärung hat die Bundesregie- auf den ich heute nicht einzugehen habe, nämlich
rung den Schutz der Gesundheit vor Strahlengefah- auf dem Gebiete der medizinischen Verwendung ra-
ren als dringliche Aufgabe bezeichnet. Es ist wirk- dioaktiver Präparate. Dieses Problem betrifft das
lich hohe Zeit, daß etwas geschieht. Auf mein Verhältnis zwischen Arzt und Patienten, in das der
Schreiben vom 1. September 1961 hat mir der Herr Gesetzgeber im allgemeinen nicht eingreift und das
Bundesatomminister Mitte Oktober geantwortet. Er vom ärztlichen Verantwortungsbewußtsein bestimmt
hat mir geschrieben, daß mit den Ländern Nieder- werden muß.
sachsen und Schleswig-Holstein Verhandlungen we-
gen der Anschaffung von Filtergeräten geführt wür- Bei der radioaktiven Gefährdung durch den soge-
den. Die Verhandlungen hätten das Ziel, daß solche nannten Fall out, dem radioaktiven Ausfall aus An-
Filtergeräte sowie entstrahltes Wasser der Be- laß von Atombombenversuchen, handelt es sich um
völkerung zur Verfügung gestellt werden könnten, eine Gefährdung, bei der man die Schutzmaßnahmen
wenn öffentliche Mittel dafür vorhanden seien. nicht an der Quelle ansetzen kann. Praktisch ist die
Mitte Oktober waren also noch keine da. Ich frage: gesamte Lebewelt auf der Erde — nicht nur der
sind jetzt solche Mittel vorhanden, und unter Mensch — dieser Gefahr ausgesetzt. Sie addiert sich
welchem Haushaltstitel und in welcher Höhe wer- zu einer anderen radioaktiven Gefahr, an die wir
den sie geführt? Darüber haben wir heute nichts ge- uns längst gewöhnt haben, nämlich der natürlichen
hört. Radioaktivität, die aus der Entstehung der Erde
(Vorsitz: Präsident D. Dr. Gerstenmaier.) stammt.
Zum Schluß möchten wir an die Bundesregierung Es hat gar keinen Sinn, meine Damen und Her-
die Auforderung richten, das zu tun, was getan ren, daß wir hier durch die Diskussion von Meß-
werden kann und zum Schutz der Gesundheit unse- werten, Durchschnittswerten und Zahlen den Ein-
rer Bevölkerung getan werden muß. Sie können druck erwecken, als ob die Gefahr beseitigt werden
unserer Unterstützung dabei sicher sein. könnte, wenn wir die Zahlen genauer ermittelten
oder wenn wir sie besser mitteilten oder häufiger
(Beifall bei der SPD.) veröffentlichten. Die Gefahr liegt in der Radioaktivi-
tät und nicht in den Mitteilungen darüber.
Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Das Wort hat
der Herr Bundesminister für Atomkernenergie. Nun wird behauptet, wir teilten nicht genug mit,
was geschieht. Herr Kollege Bechert hat unsere Mit-
teilungen fleißig zitiert; also muß es sie doch wohl
Dr.-Ing. Balke, Bundesminister für Atomkern- geben. Wir veröffentlichen das, was die Tagespresse
energie: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! nach ihrer Struktur aufnehmen kann, in Informatio-
Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Kollege nen, die in einer Auflage von 1800 Stück wöchent-
Bechert zum Schluß gesagt hat. Ich glaube, wir sind lich an die Presse und sonstige Interessenten hin-
in diesem Hause alle daran interessiert, die Gefah- ausgehen.
ren, die aus der radioaktiven Verseuchung kommen, (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)
richtig zu beurteilen und zweckmäßige Maßnahmen
zu ergreifen. Ich möchte aber dabei auf folgendes Wir haben natürlich kein Mittel, die Presse zu
hinweisen. Es wird doch wohl keinen Zweck haben, zwingen, diese Mitteilungen abzudrucken.
diese Frage durch das Aufwerfen einer Schuldfrage Ich möchte hier auf eine Kuriosität hinweisen:
beantworten zu wollen. Das Interesse der Presse und des Rundfunks an der
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) Radioaktivität war sehr groß nach den russischen
Atombombenversuchen, und wir hatten in unserem
Wir haben heute über zwei Fragenkomplexe der Ministerium durchschnittlich täglich sieben bis zehn
Radioaktivität gesprochen. Das eine ist die Gefahr, Anfragen von Presse und ähnlichen Einrichtungen
die aus technischen Anlagen herrührt, das andere ist nach der Radioaktivität. Als die Sache mit dem
die Gefahr, die aus Atombombenversuchen oder aus Contergan bekannt wurde, hörten diese Nachfragen
ernsthaften Angriffen entsteht oder entstehen kann. schlagartig auf, und heute interessiert sich bei der
Es handelt sich um zwei grundsätzlich verschiedene PresanchidkMsmehrfüiRa-
Gebiete des Strahlenschutzes. dioaktivität.
Gegen die Gefährdung durch radioaktive Anla- Andererseits, Herr Kollege Bechert, glaube ich,
gen können die Schutzmaßnahmen am Orte der Ge- Sie tun der verantwortungsbewußten Presse Un-
fahr getroffen werden. Wir können also technische recht, wenn Sie sagen, sie berichte nicht mehr. Ich
Anlagen und die Verwendung radioaktiven Mate- habe leider die Presseausschnitte nicht da; aber
rials und radioaktiver Strahlen dadurch ungefähr- bei meinen Papieren habe ich etwas gefunden: Am
lich machen, daß wir Schutzvorrichtungen am Gerät 6. Januar dieses Jahres hat Professor Glubrecht, der
anbringen und Schutzmaßnahmen an den Verwen- Ihnen ja bekannt ist, in der „Hannoverschen Rund-
dungs- und Erzeugungsstellen treffen. Das ge- schau" einen sehr großen Artikel veröffentlicht; er
312 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Dr. Bechert (SPD) : Ich möchte zweierlei darauf Schwarz, Bundesminister für Ernährung, Land-
antworten. Erstens: Ich habe schon vorhin gesagt, wirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine Da-
in diesem Informationsblatt sind nicht einmal die men und Herren! Die Bundesregierung erachtet es
Höchstwerte d e r Stationen, die den höchsten Grad als ihre Pflicht, das Hohe Haus mit den in Brüssel
an Radioaktivität gemessen haben, veröffentlicht getroffenen Beschlüssen über eine gemeinsame
worden, sondern nur die anderer Stationen. Zwei- Agrarpolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemein-
tens, ich wiederhole mit etwas anderen Worten: In schaft bekannt zu machen.
den großen deutschen Tageszeitungen steht der
tägliche Wetterbericht. Aus ihm erfährt man, was Diese Beschlüsse haben schon allein dadurch eine
mit dem Wetter los ist. Da der Bundesverkehrs- außerordentliche Bedeutung erlangt, daß sie die poli-
minister dem Bundeswetteramt den Auftrag gege- tische Voraussetzung für den Schritt in die zweite
ben hat, bei den täglichen Wettermeldungen die Stufe der Übergangszeit zum Gemeinsamen Markt
Werte über die Radioaktivität der Luft — ich setze gewesen sind. Sie haben außerdem bewiesen, daß
hinzu: nur der Luft! — bekanntzugeben, haben also die in der EWG bisher schon festgestellte starke
die großen Tageszeitungen an der Stelle, wo sie wirtschaftliche Dynamik sich fortsetzen konnte.
etwas über die Radioaktivität brachten, nur die
Werte über die Radioaktivität der Luft gebracht. Sie Die übrige freie Welt hat die Verhandlungen in
haben das offenbar für ausreichend gehalten, weil Brüssel mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Sie
das Bundesverkehrsministerium im Namen der Bun- sah in ihnen einen Prüfstein für die Fähigkeit der
desregierung angeordnet hatte, daß nur die Werte Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, mehr als nur
über die Radioaktivität der Luft veröffentlicht wer- Erklärungen abzugeben — nämlich echt und über-
den. Das ist der Grund, weshalb die Presse nach national, unter Hintanstellung der nationalen Son-
meiner Ansicht so reagiert hat. Jedenfalls hat sie so derinteressen zusammenzuarbeiten. Damit wird der
316 Deutscher Bundestag 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Bundesminister Schwarz
Weg frei für die laufenden Verhandlungen über den möglichkeiten ein Gleichgewicht hergestellt werden
Beitritt weiterer europäischer Staaten. muß, daß die Subventionen, die dem Geist des Ver-
trages widersprechen, zu beseitigen sind und daß
Die Bewertung des jetzt vollzogenen Schrittes alle Mittel eingesetzt werden müßten, um die Lei-
kann nicht auf die. Landwirtschaft selbst beschränkt stungskraft und die Wettbewerbsfähigkeit der Fa-
bleiben. Er stellt ein Politikum ersten Ranges dar. milienbetriebe angesichts ihrer Bedeutung für die
Der Welt ist damit bewiesen worden, daß die kom- Struktur der europäischen Landwirtschaft zu heben.
munistische These vom sterbenden und sich selbst
zerfleischenden Kapitalismus nicht zutrifft. Vielmehr Die Europäische Kommission wurde ersucht, nach
ist gerade die freie Welt imstande, neue Formen diesen Prinzipien ihre Vorschläge zur gemeinsamen
des Zusammenlebens der Völker zu finden, zum Agrarpolitik zu unterbreiten.. Sie tat dies in einem
Wohle ihrer Bürger und im Geiste der Freiheit und Vorentwurf vom November 1959. Auf der Grund-
der Würde des Menschen. lage der hier entwickelten Ideen fand bald ein leb-
hafter Gedankenaustausch zwischen den Regierun-
Während das selbständige Bauerntum in einem gen, der Wirtschaft, den Verbänden und allen son-
fortschreitenden Prozeß mit ungeheurer Grausamkeit stigen interessierten Stellen statt, der dazu führte,
in der kommunistisch beherrschten Welt vernichtet daß am 30. Juni 1960 die Kommission neue, über-
wird, - räumt die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft arbeitete Vorschläge vorlegte, zu denen der Wirt-
dem Bauerntum und damit der Landwirtschaft einen schafts- und Sozialausschuß der Gemeinschaft sowie
besonderen Platz ein; einen Platz, - der die speziel- das Europäische Parlament Stellung nahmen.
len Bedingungen dieses Berufsstandes berücksichtigt
und ihm zugleich die volle Integration in Wirtschaft Am 20. Dezember 1960 entschied der Ministerrat
und Gesellschaft im gleichen Maße sichern soll, wie der Gemeinschaft, daß als ein Mittel der gemein-
es bisher schon das Ziel der Bundesregierung war. samen Agrarpolitik ein Abschöpfungssystem einge-
führt und in zunehmendem Maße eine gemeinsame
Der 2. Deutsche Bundestag hat in Erkenntnis des- finanzielle Verantwortung für die Agrarpolitik der
sen das Landwirtschaftsgesetz im Jahre 1955 verab- Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten übernom-
schiedet. In den Spezialbestimmungen des EWG- men werden könnte. Nachdem somit eine Grundlage
Vertrages ist für die Landwirtschaft nicht nur fast und eine Übereinstimmung der Absichten der Mit-
der gleiche Wortlaut, sondern auch der gleiche Geist gliedstaaten über die gemeinsame Politik geschaffen
wie in unserem Landwirtschaftsgesetz enthalten. war, konnte die Kommission ihre endgültigen Vor-
Es gibt keinen Wirtschaftszweig, der in allen schläge im Laufe des Jahres 1961 gemäß Art. 43 des
Ländern so durch staatliche Maßnahmen beeinflußt Vertrages vorlegen. Sie waren die Grundlage für
wird wie gerade die Landwirtschaft. Angesichts der die Verhandlungen im Ministerrat vom November
-unterschiedlichen nationalen Politiken sowie der 1961 bis Januar 1962. Aufbauend auf den Erfahrun-
historisch gewachsenen Strukturen ergibt sich ein gen der sechs Länder ist nun das Konzept für
völlig verschiedenartiges Bild der Landwirtschaft in eine in die Zukunft weisende Agrarpolitik ge-
den sechs Staaten der Gemeinschaft. Dem muß die schaffen worden. Zur Entscheidung standen Vor-
landwirtschaftliche Integration besonders Rechnung schläge über gemeinsame Marktregelungen für
tragen. Hier wird eine Integrationsform geschaffen, Getreide, Schweinefleisch, Eier, Geflügel, Obst und
deren besonderes Kennzeichen eine gemeinsame Gemüse sowie für Wein. Sie wurden ergänzt durch
Agrarpolitik ist. Andererseits sollen die in den Arti- Entwürfe über die Festlegung von objektiven Grund-
keln 38 bis 47 des Römischen Vertrages niederge- sätzen für die Anwendung von Mindestpreissyste-
legten Spezialbestimmungen bewirken, daß dieser men nach Art. 44 des Vertrages, für die Erhebung
Integrationsprozeß besonders behutsam und unter von Ausgleichsabgaben bei gewissen Erzeugnissen,
Berücksichtigung der besonderen Belange der Land- die aus landwirtschaftlichen Rohstoffen hergestellt
wirtschaft vorgenommen wird. werden, nach Art. 235 des Vertrages, für die An-
wendung der allgemeinen Wettbewerbsregeln im
Um der Landwirtschaft der sechs Staaten eine ge- Bereich der Landwirtschaft nach Art. 42 des Ver-
meinsame Orientierung geben zu können, mußte zu- trages sowie für die Festlegung von Einfuhrkontin-
nächst einmal eine Bestandsaufnahme erfolgen. Sie genten für Weine in die Bundesrepublik Deutsch-
geschah — gemäß Art. 43 des Vertrages — in einer land sowie in die Republiken Frankreich und Ita-
Landwirtschaftskonferenz der Mitgliedstaaten, wo- lien.
bei zugleich die Grundlagen für die zukünftige ge-
Die Bundesregierung sah sich bei ihrer Stellung-
meinsame Politik gelegt wurden.
nahme zu den Vorschlägen in einer besonderen Si-
Diese Konferenz, fand vom 3. bis 12. Juli 1958 in tuation. Die Bundesrepublik i st das größte Import-
Stresa statt. Sie endete mit einer Entschließung der land für Agrarerzeugnisse der Gemeinschaft; über
Mitgliedstaaten, die in einem Neun-Punkte-Pro- 50 % der Agrarausfuhren der Partnerstaaten nimmt
gramm Grundsätze für die gemeinsame Agrarpolitik sie auf. Dazu kommt, daß die Bundesrepublik auch
geschaffen hat. Hierbei wurde unter anderem bestä- hinsichtlich der Preise für Agrarerzeugnisse ein be-
tigt, daß die Landwirtschaft als integrierender Be- sonders anziehender Markt ist. Das hatte zur Folge,
standteil der Wirtschaft und als wesentlicher Faktor daß sich die Wünsche der Partnerstaaten, die alle
des sozialen Lebens anzusehen ist, daß zwischen der auf irgendeinem Gebiet Exportinteressen haben,
Politik zur Strukturverbesserung und der Markt- sehr stark auf die Möglichkeit des Zuganges zum
politik eine enge Wechselbeziehung hergestellt wer- deutschen Markt ausrichteten. Die Bundesregierung
den muß, daß zwischen Produktions- und Absatz- mußte aber bei allem Verständnis für diese Wünsche
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 317
Bundesminister Schwarz
die Lage der deutschen Landwirtschaft berücksich- treide denjenigen vorzusehen, den das Hauptein-
tigen und die Ziele des Landwirtschaftsgesetzes be- fuhrland — also die Bundesrepublik - bisher
achten. festgelegt und angewandt hat. Die Bundesregierung
hat ihrerseits auch stets erklärt, daß sie einer Ge-
Aber nicht nur im Raume der Wirtschaftsgemein-
schaft, sondern im weltweiten Maße ist die Bundes- treidepreissenkung nicht zustimmen könne, wenn
damit Einkommenseinbußen für die Landwirtschaft
republik am stärksten von allen Mitgliedstaaten in
den internationalen Handel verflochten. Ihre poli- verbunden wären.
tische, insbesondere ihre handelspolitische Interes- Im Laufe der Brüsseler Verhandlungen legte die
senlage gebot ihr, hierauf Rücksicht zu nehmen, um niederländische Regierung dem Ministerrat einen
den internatiolen Handelsaustausch nicht zu gefähr- Vorschlag vor, der neben der Beibehaltung der
den, was im übrigen auch einen Grundsatz des Ver- jetzigen Preise auch schon die Modalitäten einer
trages darstellt. Sie war demzufolge bestrebt, den sofort nach dem 1. Juli 1962 zu beginnenden jähr-
gemeinsamen Agrarmarkt nicht von den übrigen lichen Annäherung an den gemeinsamen Richtpreis
Märkten abschließen zu lassen, so daß auch weiter- während der Übergangszeit zwingend festlegen
hin ein vernünftiger Wettbewerb aufrechterhalten wollte. Die Bundesregierung erklärte sich damit ein-
bleiben kann. verstanden, daß in der Endphase ein einheitlicher
Richtpreis für Getreide in der Gemeinschaft vorhan-
Im übrigen hat sich die Bundesregierung wahrend
den sein muß. Sie lehnte jedoch niederländische
der Verhandlungen weitaus am stärksten dafür ein- Wünsche, vom Erntejahr 1962 an für die Hochpreis
gesetzt, bei der Regelung der Agrarmärkte auch auf
länder mit einer Preisermäßigung und für die
die Belange der Verbraucher Rücksicht zu nehmen. Niedrigpreisländer mit einer Preiserhöhung zu be-
In dem nunmehr sich abzeichnenden größeren Markt
ginnen, ab und behielt sich die volle Entscheidungs-
wird sich die bereits begonnene Arbeitsteilung in
freiheit für das zukünftige Getreidepreisniveau vor.
der Landwirtschaft aller EWG-Länder weiter fort- Sie wies insbesondere darauf hin, daß in der Bun-
setzen und im größeren Raum verstärken, so daß desrepublik erst einmal die Erfahrungen aus der
die Verbraucher auf lange Sicht zu günstigeren Be- Anwendung des ab 1. Juli 1962 geltenden Richt-
dingungen versorgt werden können. Damit wird preissystems abgewartet werden müssen.
auch der gemeinsame Agrarmarkt zur Hebung des
Wohlstandes, der eines der Ziele der Europäischen Der Rat wird erstmalig im Frühjahr 1963 über die
Wirtschaftsgemeinschaft ist, mit beitragen können. Getreidepreisannäherung während der Übergangs-
zeit beschließen. Die Frage, in welcher Weise die
Zu den gemeinsamen Marktordnungen in der EWG Preisannäherung erfolgen soll, ist ausdrücklich bis-
ist grundsätzlich folgendes zu sagen. Auf Grund her offengelassen worden.
des Ergebnisses , der Brüsseler Beratungen werden
die einzelstaatlichen Marktordnungen durch gemein- Das wesentliche Schutzinstrument gegenüber
same Marktregelungen abgelöst, soweit hierüber marktstörenden Einfuhren aus anderen Ländern, die
Beschlüsse vorliegen oder noch gefaßt werden. Ob- andere Preise und andere Wettbewerbsbedingungen
wohl noch ,einige wesentliche Regelungen für andere haben, war bisher für die Bundesrepublik die men-
Erzeugnisse fehlen — z. B . für Rindfleisch, Zucker, genmäßige Beschränkung der Einfuhren, bei Ge-
Milch und Milcherzeugnisse, Reis und Fettroh- treide und Zucker auch die Abschöpfung der Preis-
stoffe —, muß man das nunmehr beschlossene Sy- unterschiede. Durch das nunmehr angenommene
stem als , ein Ganzes ansehen. Das erkennt man dar- System wird die Schutzwirkung in erster Linie auf
aus, daß wesentliche Grundgedanken in fast allen die Preisangleichung an der Grenze abgestellt. Diese
Regelungen wiederkehren. Preisangleichung erfolgt im Wege der Abschöpfun-
gen. Mit ihnen allein wird jedoch nach den lang-
Lassen Sie mich nun zu den allgemeinen Proble- jährigen deutschen Erfahrungen unter gegebenen
men der Marktregelungen kommen. Umständen nicht jede Marktlage gemeistert werden
Entgegen den Vorschlägen der Kommission und können. Sollten daher ernsthafte Schwierigkeiten
den ursprünglichen Wünschen aller anderen Mit- auftreten, die durch Einfuhren hervorgerufen
- wer-
gliedstaaten wurde eine Verkürzung der vertrag- den, so wird auch in Zukunft die Anwendung zu-
lichen Übergangszeit nicht beschlossen, weil die sätzlicher Schutzmaßnahmen durch die Mitglied-
Bundesregierung — in Übereinstimmung mit den staaten möglich sein. Diese zusätzlichen Maßnah-
Erklärungen des Bundestages — die volle Über- men können in vorübergehender Einstellung der
gangsfrist für notwendig erachtete, um zusätzliche Einfuhren oder darin bestehen, daß vorübergehend
soziale und wirtschaftliche Spannungen zu vermei- die Einfuhrabgaben erhöht werden. Der Mitglied-
den. Dies schließt nicht aus, daß, wenn die Ent- staat kann zunächst von den Schutzmaßnahmen
wicklung günstig verläuft, diese Frage später noch autonom Gebrauch machen, muß diese aber der
einmal überprüft werden kann. Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten sofort
mitteilen. Die Kommission hat innerhalb von vier
Ein wesentliches Element des Gemeinsamen Mark- Werktagen in Zusammenarbeit mit dem zu bilden-
tes wird ein einheitliches Preisniveau für landwirt- den Verwaltungsausschuß eine Entscheidung zu tref-
schaftliche Erzeugnisse Isein. Über die, Frage der fen, ob diese Maßnahmen aufrechterhalten, geändert
Preisannäherung und insbesondere das zukünftige oder beseitigt werden sollen. Die Entscheidung der
Preisniveau für Getreide ist bereits viel diskutiert Kommission ist unverzüglich vom Mitgliedstaat
worden. Das Europäische Parlament hat in seiner durchzuführen; dieser kann jedoch binnen einer
Stellungnahme zur Getreidemarktordnung vorge- Frist von höchstens drei Werktagen den Ministerrat
schlagen, als zukünftigen EWG-Preis für Brotge- anrufen, der unverzüglich zusammentritt und den
318 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Bundesminister Schwarz
Beschluß der Kommission mit qualifizierter Mehrheit in begrenztem Umfang Ausgaben für die Struktur-
ändern oder für nichtig erklären kann. Bei Getreide änderungen, die durch die Entwicklung des Gemein-
wird der Kommissionsentscheid jedoch für 10 Tage samen Marktes erforderlich werden, zu finanzieren.
ausgesetzt, wenn der Mitgliedstaat, der von der Der von der Gemeinschaft zu übernehmende Teil
Schutzklausel Gebrauch gemacht hat, den Minister- der Finanzierung dieser Maßnahmen beginnt mit 1/6
rat anruft. und steigt während der ersten drei Jahre jährlich
Bei Obst und Gemüse hat die Kommission ver- um 1/6.
bindlich erklärt, daß ein Absinken des Preisniveaus Diese Ausgaben werden durch Finanzbeiträge
unter 82 % des Durchschnittspreisniveaus der ver-
der Mitgliedstaaten gedeckt, wobei die Bundesrepu-
gangenen drei Jahre eine ernsthafte Marktstörung
blik ihren Beitrag auf 31 % im Höchstfall beschränkt
darstellt und als ein wesentliches Kriterium in je-
dem Falle die Anwendung der Schutzklausel er- hat. Auch die Benelux-Staaten haben sich zu einem
laubt. Bezüglich der Handelsklasse „Extra" kann je- höheren Beitrag, als ihrem Anteil nach dem Haus-
doch der Mitgliedstaat selbst nicht Maßnahmen er- haltsschlüssel entsprochen hätte, bereit erklärt.
greifen, sondern muß diese bei der Kommission be- Frankreich und Italien dagegen werden weniger zu
antragen. zahlen haben, als ihrem Anteil nach diesem Schlüs-
sel — nämlich 28 % — entsprochen haben würde.
In jedem Falle müssen gleiche Maßnahmen gleich-
zeitig oder vorher auch gegenüber Drittländern ge- An den Entscheidungen und der Durchführung der
troffen werden. gemeinsamen Marktordnungen werden sich der
Da das Preisniveau für Agrarerzeugnisse in den MinsteradGmchf,ieEuropäsn
Mitgliedstaaten in der Regel höher ist als das Welt- Kommission und die Mitgliedstaaten in enger Zu-
marktpreisniveau und zwischen den Mitgliedstaaten sammenarbeit beteiligen müssen. Die Bundesregie-
auch noch unterschiedliche Preishöhen bestehen, rung hat sich von der Überlegung leiten lassen, daß
muß in gleichem Maße, wie bei der Einfuhr eine einmal die Mitgliedstaaten selbst noch die Verant-
Abschöpfung vorgesehen ist, bei der Ausfuhr eine wortung gegenüber ihren Staatsbürgern tragen und
Rückerstattung gewährt werden können. Mit dieser daß daher sie und der Ministerrat die berufenen
Rückerstattung soll erreicht werden, daß der Aus- Stellen sind, die die wesentlichen Entscheidungen
führer das jeweilige Preisniveau auf dem Markt er- oder die sachliche Durchführung zu vertreten haben.
reichen kann, den er beliefern will. Deshalb werden Um den Ministerrat zu entlasten und die Marktord-
bei Getreide und Veredlungserzeugnissen bei Aus- nungen elastisch zu handhaben, sind für die einzel-
fuhren in Drittländern Rückerstattungen gewährt nen Warenbereiche Verwaltungsausschüsse geschaf-
werden können, die etwa der Höhe der Abschöp- fen worden, die bei der Durchführung der Markt-
fung bei der Einfuhr entsprechen. Ein besonderes ordnungen, bei der Vorbereitung von grundlegen-
Problem stellt dabei die Rückerstattung bei der Aus- den Beschlüssen durch den Rat mit der Kommission
fuhr von Hochpreisländern der EWG nach Niedrig- zusammen tätig werden. Diese Verwaltungsaus-
preisländern der EWG dar. Um diesen Hochpreis- schüsse, in denen die Mitgliedstaaten vertreten
ländern den Zutritt zu den Märkten der anderen sind, haben jedoch keine Entscheidungsbefugnis, so
Länder zu gewährleisten, dürfen sie Rückerstattun- daß sie keine neuen Organe der Gemeinschaft dar-
gen bis auf das Weltmarktpreisniveau gewähren, stellen, die das auch im Vertrag wohlabgewogene
während der einführende Mitgliedstaat dann wieder Gefüge der Regelung von Zuständigkeiten zwischen
eine Abschöpfung erheben darf, wobei jedoch eine Rat, Kommission und Mitgliedstaaten verzerren
Präferenz gegenüber den einführenden Drittländern könnten. Wird der Verwaltungsausschuß von der
zu gewähren ist. Kommission befaßt, so gibt er mit qualifizierter
Bezüglich weiterer Marktregelungen hat der Rat Mehrheit seine Stellungnahme zu den Vorschlägen
auf Wunsch der niederländischen, französischen und der Kommission ab. Diese kann zunächst ihre Ent-
italienischen Delegationen beschlossen, die Kommis- scheidungen sofort durchführen. Ist der Verwal-
sion aufzufordern, Vorschläge für eine gemeinsame tungsausschuß zu einem anderen Ergebnis gekom-
Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse, men, als es dem Kommissionsvorschlag entspricht,
Zucker, Rindfleisch und Reis vorzulegen; der Rat so muß die Kommission ihren Vorschlag dem Mini-
will sie dann so rechtzeitig verabschieden, daß sie sterrat vorlegen. Dieser entscheidet mit qualifizier-
zum 1. November 1962 bzw. für Zucker zum 1. Ja- ter Mehrheit. Die Kommission kann ihre Entschei-
nuar 1963 in Kraft treten können. dungen in bestimmten Fällen bis höchstens einen
Monat nach der Mitteilung an den Rat aussetzen.
Nun, meine Damen und Herren, ein Wort zur Mit diesem Verfahren übernimmt die Kommission
Frage der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpoli- eine weitgehende Verantwortung. Ich bin davon
tik. Im Geiste der gemeinsamen Verantwortung, der überzeugt, daß sie alles daran setzen wird, sich das
sich auch die Bundesregierung nicht entziehen will, Vertrauen der Mitgliedstaaten zu erwerben.
hat sie erklärt, daß sie sich an den finanziellen An-
forderungen, die die gemeinsame Agrarpolitik stel- Für die Regelungen der Einzelmärkte ist folgen-
len wird, in einem zumutbaren Ausmaß beteiligen des beschlossen worden, zunächst für Getreide: Bei
werde. Zur Durchführung der gemeinsamen Finan- der Interessenlage der Mitgliedsländer der Gemein-
zierungsaufgaben ist ein Agrarfonds geschaffen wor- schaft und der besonderen Bedeutung des Getreide-
den. Dieser Fonds wird die Aufgabe haben, die Er- preises und der Getreidemarktordnung für das ge-
stattungen bei der Ausfuhr nach dritten Ländern, samt Preis- und Einkommensgefüge der Landwirt-
die Interventionen auf den inneren Markt sowie schaft ist es verständlich, daß sich ein großer Teil
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 319
Bundesminister Schwarz
der Brüsseler Verhandlungen auf den Getreidebe- Landwirtschaft, insbesondere in den marktfernen
reich konzentrierte. Bei dieser Sachlage ist es auch Gebieten, davon abhängt. Die nach einer solchen
erklärlich, daß wir nicht alle unsere Forderungen wirksamen Milderung noch verbleibenden Auswir-
auf diesem Gebiet durchsetzen konnten. Es ist uns kungen des regionalen Preisgefälles sind relativ
jedoch gelungen, im wesentlichen die Forderung gering. Die Bundesregierung hat in Aussicht genom-
durchzusetzen, daß das gegenwärtige Preisniveau men, den betroffenen Gebieten in geeigneter Weise
vorläufig erhalten bleibt. Auf Grund der vom Mini- einen Ausgleich zu bieten.
sterrat beschlossenen Verordnung, die am 1. Juli Des weiteren muß der Vollständigkeit halber noch
dieses Jahres wirksam werden soll, ergeben sich er- darauf hingewiesen werden, daß die Festsetzung
hebliche Änderungen unseres Getreidepreissystems. von Interventions- und Richtpreisen und damit die
Zur Regelung des Inlandmarktes werden zukünftig Preisgarantie nicht für alle Getreidearten vorgese-
an Stelle unserer Erzeugermindest- und -höchst hen ist. Auch für Roggen hatte die Kommission
preise Interventions- und Richtpreise auf 'der Groß- zunächst keine garantierten Preise vorgesehen. Im
handelsstufe festgesetzt. Somit wird ,den Erzeugern Hinblick auf die besondere Bedeutung des Roggen-
zukünftig nicht mehr der Preis ab Hof oder frei anbaues, insbesondere für die von der Natur weni-
Verladestelle unmittelbar, sondern nur mittelbar da- ger begünstigten Gebiete, habe ich jedoch die Auf-
durch garantiert, daß ein Interventionspreis auf der nahme des Roggens in das Preissystem gefordert
Großhandelsstufe festgesetzt und durch Interven- und auch durchsetzen können,
tion gesichert wird. Aus dieser Änderung der Preis-
(Beifall bei der CDU/CSU)
parität werden sich jedoch wirksame Einkommens-
verluste der Landwirtschaft nicht ergeben, weil es so daß die Preisgarantie für Roggen der Landwirt-
uns gelungen ist, die Preisgrenzen, innerhalb wel- schaft auch zukünftig erhalten bleibt.
cher die Mitgliedstaaten ihre Getreidepreise ab Im übrigen ist bei den Getreidearten, für die
1. Juli dieses Jahres festzusetzen haben, so abzu- Richtpreise festgesetzt werden, auch ein saisonales
stecken, daß die Erzeuger im Hauptzuschußgebiet Preisgefälle mit 5 bis 10 Monatsreports vorgesehen,
dieselbe Preishöhe garantiert bekommen, die ihnen wie wir es bei Brotgetreide seit Bestehen unseres
bisher in Form unseres Mindestpreises gesichert Marktordnungsgesetzes bereits kennen.
wurde. Das heißt, daß der zukünftige Interven-
tionspreis auf der Großhandelsstufe um den Wert Neben den Änderungen des Preissystems auf dem
der Paritätsverschiebung höher als unser bisheriger Inlandsmarkt erfahren auch die Maßnahmen auf
Erzeugermindestpreis festgesetzt werden darf. dem Gebiet der Einfuhr eine gewisse Änderung.
Während die Sicherung des Inlandsmarktes gegen
Als weiteres wesentliches Element ist zu vermer- störende Wirkungen der Einfuhren bei uns durch
ken, daß im Rahmen des neuen Richtpreissystems Abschöpfungen und mengenmäßige Regelungen
an Stelle unserer in allen Gebieten etwa gleich erfolgt, soll diese Aufgabe zukünftig in der Regel
hohen Getreidepreise ein ausgeprägtes regionales nur von der Abschöpfung erfüllt werden. Das ist
Preisgefälle treten soll. Demgemäß soll für das jedoch nur möglich, wenn die Abschöpfungen ent-
Hauptzuschußgebiet, also in unserem Falle das sprechend wirksam gestaltet werden. Das von der
Ruhrgebiet mit dem Vermarktungszentrum Duis- Kommission vorgeschlagene und vom Rat nunmehr
burg, ein Grundrichtpreis festgesetzt werden, der beschlossene Verfahren der Festsetzung von Schwel-
dem bisherigen Niveau entspricht. Von diesem lenpreisen für eingeführtes Getreide und der Ermitt-
Grundrichtpreis sollen regionale Richt- und Inter- lung der frei-Grenz-Preise bzw. cif-Preise entspricht
ventionspreise abgeleitet werden, die dem natür- unserer bisherigen Verfahrenstechnik der Festset-
lichen Preisgefälle, d. h. dem Frachtkostengefälle zung von Abgabe- und Übernahmepreisen; in der
entsprechen. Die absolute Anwendung eines solchen Wirksamkeit dürfte es jedoch unsere Abschöpfungs-
Preisgefälles hätte für die deutsche Landwirtschaft regelung so verbessern, daß eine ausreichende
erhebliche Einnahmeausfälle zur Folge gehabt. In Sicherung unseres Inlandsmarktes gewährleistet
den marktfernen Gebieten, z. B. im östlichen Bayern, sein dürfte. Darüber hinaus ist — wie ich schon ein-
hätte sich eine Getreidepreissenkung um etwa gangs erwähnte — die Anwendung einer -Schutz-
50 DM je Tonne ergeben. klausel vorgesehen, wonach die Einfuhren vorüber-
gehend gesperrt werden können, wenn es die
In sehr zähen Verhandlungen ist es jedoch gelun-
Marktlage erfordert.
gen, eine Möglichkeit zu schaffen, im Rahmen einer
größeren Zahl von Paritäts- und Interventionspunk- Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden,
ten das regionale Preisgefälle so zu mildern, daß daß die Abschöpfungsregelung auch für die meisten
die genannten Preisminderungen nur zu etwa einem industriellen Veredelungserzeugnisse aus Getreide
Viertel wirksam werden. Die Milderung wird aller- — soweit sie zu den landwirtschaftlichen Erzeugnis-
dings in diesem Umfang nach dem Wortlaut der sen gemäß dem Vertrag von Rom zählen — ange-
Verordnung nur insoweit möglich sein, als eine wendet wird. Dadurch ist es möglich, ein ausgewo-
ausreichende Senkung unserer Frachtkosten für genes Verhältnis zwischen den Einfuhrabgaben für
Getreide vorausgeht. Da die Frachtsätze unseres den Rohstoff Getreide und denen für die daraus
Eisenbahntarifs ganz erheblich höher liegen als die hergestellten Erzeugnisse herbeizuführen. Das
Frachtsätze in den anderen Mitgliedstaaten, dürfte dürfte für die Ernährungsindustrie von besonderem
auch eine Berechtigung bestehen, eine erhebliche Interesse und besonderer Bedeutung sein. Im
Senkung der Frachtkosten durchzuführen, wenn — übrigen ist nicht ausgeschlossen, daß Sonderrege-
wie im vorliegenden Falle — das Einkommen der lungen, die es bezüglich der Abschöpfung für
320 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Bundesminister S chwarz
bestimmte Getreidearten und bestimmte Verwen- dukten ein Abschöpfungssystem an Stelle von men-
dungszwecke des Getreides bei uns in großer Zahl genmäßigen Regelungen und Zöllen vor. Die Bun-
gibt, nicht mehr oder nicht mehr im bisherigen desregierung hat sich entschlossen, einem solchen
Umfang angewendet werden können, um die Ge- System zuzustimmen. Sie ist jedoch von Anfang an
schlossenheit und Wirksamkeit des Systems nicht dafür eingetreten, daß für alle drei Warengebiete
zu beeinträchtigen. die Methode gleich sein sollte. Die Abschöpfung
Schließlich enthält die beschlossene Verordnung sollte nach ihrer Auffassung umfassen einen Teil-
eine Unzahl von Einzelheiten, auf die ich in diesem betrag, der den. Unterschied in den Futterkosten aus-
Zusammenhang nicht näher eingehen kann. gleicht, einen weiteren, gegenüber allen Mitglieds-
ländern und Drittländern gleichen Betrag, welcher
Wenn ich nun eine kurze Würdigung der Be- die nicht futterbedingten Kosten ausgleichen sollte,
schlüsse deis Ministerrates — soweit sie sich auf und gegenüber Drittländern einen mäßigen Prä-
Getreide beziehen — anschließen darf, so möchte ferenzzoll, der sich allmählich bis zum Ende der
ich feststellen, daß sich die Auswirkungen sowohl Übergangszeit erhöhen sollte. Frankreich forderte
für die Landwirtschaft als auch für die Verbraucher für alle drei Warengebieteeine Abschöpfung auf
in relativ engen Grenzen halten werden. Es werden der Basis von Referenzpreisen, d. h. es sollte von
jedoch schon im Rahmen des neuen Richtpreis- den durchschnittlichen Marktpreisen während der
systems Tendenzen sichtbar, die zu einer gewissen letzten drei Jahre ausgegangen und der Unterschied
Neuorientierung der landwirtschaftlichen Produktion dieser Marktpreise abgeschöpft werden. Es liegt auf
Anlaß geben können. Gewisse Milderungen bei der der Hand, wie schwierig es ist, wirklich vergleich-
Durchführung dieses Systems sind zwar für die bare Preise zu finden. Unterschiede bei der Fest-
nächsten Jahre gesichert. Es muß aber damit ge- stellung der Preise in den zum Vergleich heranzu-
rechnet werden, daß spätestens am Ende der Über- ziehenden Qualitäten und Handelsklassen, Ver-
gangszeit, also nach annähernd acht Jahren, die schiedenheiten in den Marktorganisationen, in den
jetzt nur in gemilderter Form hervortretenden Ten- Handelsspannen und anderes mehr machen echte
denzen voll wirksam werden. Darauf sollten sich Vergleiche außerordentlich schwer. In längeren Be-
die deutsche Landwirtschaft sowie alle übrigen be- ratungen ist es zu einem Kompromiß gekommen.
teiligten Wirtschaftskreise schon heute einstellen. Zwar wird bei allen drei Warengebieten entspre-
Allerdings kann damit gerechnet werden, daß die chend den deutschen Wünschen und in Konsequenz
Wettbewerbsverhältnisse zu diesem Zeitpunkt weit- des bei Getreide angewandten Systems der soge-
gehend angeglichen sein werden. Die Bundesregie- nannte Futterkostenanteil bei der Abschöpfung
rung wird jedenfalls ihre Bemühungen in dieser gesondert berücksichtigt; bei Eiern wird auch hin-
Richtung mit allem Nachdruck fortsetzen. sichtlich des zweiten Abschöpfungsbetrages nach
deutscher Vorstellung verfahren. Bei Geflügel ist
Für einige wichtige Erzeugnisse der Veredelungs-
aber wahlweise für solche Länder, die mengen-
wirtschaft sind in Brüssel ebenfalls Verordnungen mäßige Beschränkungen zur Zeit anwenden, eine
über eine schrittweise Errichtung einer gemeinsamen
Abschöpfung auf der Basis von Referenzpreisen
Marktordnung beschlossen worden. Ihnen kommi. zugestanden worden. Und bei Schweinen ist für
bei der Bedeutung der Veredelungswirtschaft eine
alle Länder der Gemeinschaft die Abschöpfungs-
besondere Rolle zu. Rund 28 % der Verkaufserlöse regelung nach dem Referenzpreissystem unter
der Landwirtschaft stammen aus der Vermarktung
Wahrung der Futterkostendifferenz beschlossen
von Schweinen, Eiern und Geflügel. In den anderen
worden. Wir haben den Kompromiß angenommen,
Mitgliedstaaten der EWG liegen die Verhältnisse
jedoch durchgesetzt, daß die Abschöpfungsbeträge,
ähnlich. Das System der Brüsseler Marktordnung
die für die Anwendung der Verordnung entschei-
weicht erheblich von dem ab, was zur Zeit in der
dend sind, einstimmig vom Rat festgelegt werden.
Bundesrepublik gilt. Bei Schweinefleisch ist durch
Dadurch besteht eine genügend starke Möglichkeit,
das Vieh- und Fleischgesetz und die bestehenden Einfluß auf die Errechnung der Referenzpreise zu
bilateralen handelsvertraglichen Vereinbarungen
nehmen.
mengenmäßiger Regelungen bisher ein verhältnis-
mäßig ausreichender Schutz gegeben; dagegen risst Um zu verhindern, daß zu anomal niedrigen Prei-
die Einfuhr von Geflügel und Eiern gegenüber allen sen eingeführt wird, die unter den Produktions-
Ländern — mit Ausnahme der Ostblockstaaten — kosten der Lieferländer liegen, ist für alle drei Wa-
rechtlich oder de facto liberalisiert. Für Geflügel rengebiete — Schweinefleisch, Eier und Geflügel —
und Eier, die für die bäuerliche Veredelungswirt- die Festsetzung eines Einschleusungspreises gegen-
schaft immer mehr an Bedeutung gewinnen, wurde über Drittländern beschlossen worden. Es wird für
für Eier schon 1956, für Geflügel 1961 durch das Ge- alle Drittländer einheitlich in fairer Weise ein Preis
setz zur Förderung der Bier- und Geflügelwirtschaft berechnet, zu dem diese Länder in der Lage sind,
ein System von Ausgleichsbeträgen in der Bundes- Schweine, Eier und Geflügel zu produzieren und an-
republik zu dem Zweckeingeführt, der Landwirt- zubieten. Sofern die tatsächlichen Angebote aus
schaft einen Teil der Futtermittelkostendifferenzen Drittländern unter diesen Preis fallen, kann das
in Form von Ausgleichsbeträgen zu erstatten. Der importierende Land die Abschöpfung um den Betrag
Verbraucher konnte bei diesem System die Eier und erhöhen, um den der Einschleusungspreis unter-
das Geflügel aus dem Ausland, abgesehen von schritten ist. Der sogenannte Einschleusungspreis
einem mäßigen Zoll, zu Weltmarktpreisen kaufen. ist also praktisch ein Mindestangebotspreis.
Die Vorschläge der Kommission sehen wie bei Für Schweinefleisch ist eine entsprechende Rege-
Getreide auch bei auf Getreidebasis veredelten Pro- lung auch gegenüber Mitgliedstaaten vorgesehen,
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 321
Bundesminister Schwarz
nicht aber bei Geflügel und Eiern. Außerdem ist zu treffen, wobei je nach den gegebenen Verhältnis-
für alle drei Warengebiete die Anwendung der sen Einfuhren unterbunden oder Ausgleichsabgaben
Schutzklausel vorgesehen, über die ich bereits ge- erhoben werden können.
sprochen habe.
Die vom Rat beschlossene Weinmarktordnung
Ich bin überzeugt, daß dieses Marktordnungs- sieht neben einigen Bestimmungen zur Errichtung
system der Landwirtschaft die Möglichkeit gibt, eines Weinbaukatasters sowie über Ertrags- und
auch auf dem Gebiet der Veredelungswirtschaft zu Bestandsmeldungen den Erlaß einer Gemeinschafts-
konkurrieren. Für Eier und Geflügel dürfte eine regelung für Qualitätsweine bestimmter Anbauge-
wesentliche Verbesserung gegenüber dem bisheri- biete vor, wie es auch im deutschen Weinbaugesetz
gen Zustand der vollen Liberalisierung mit oft un- enthalten ist. Bis zuletzt war umstritten, ob die
genügendem Futterkostenausgleich und wenig wirk- französische Vorstellung von Qualitätsweinen im
samem Schutz gegen Niedrigpreiseinfuhren ver- Sinne einer Ursprungsbezeichnung oder der deut-
wirklicht worden sein. Die deutsche Delegation hat sche Wunsch, sich an die in der Bundesrepublik gel-
der Bundesregierung die Möglichkeit offengehalten, tenden Herkunftsbezeichnungen anzuschließen, maß-
die Zahlung von Ausgleichsbeträgen bei Eiern für gebend sein sollte. Schließlich wurde beiden Ge-
einige Zeit fortzusetzen. Die Auswirkungen des Ab- sichtspunkten Rechnung getragen. Der Rat wird eine
schöpfungssystems auf den innerdeutschen Markt solche Gemeinschaftsregelung für Qualitätsweine
können somit zunächst beobachtet werden. bis zum 1. Januar 1963 erlassen.
Für Obst und Gemüse sollten nach dem Vorschlag Im Rahmen des Beschlusses über die Eröffnung
der Kommission sämtliche mengenmäßigen Einfuhr- von Weinkontingenten durch Frankreich und Italien
beschränkungen und die Anwendung von Mindest- wurde dem Wunsche der Bundesregierung Rech-
preisen für die Handelsklasse EXTRA bis zum nung getragen, auch die deutsche Einfuhr von der
1. Juli 1962, für die Klasse I bis zum 1. Januar 1964 Automatik einer jährlichen Kontingentserhöhung zu
und für die Klasse II bis zum 1. Juli 1965 aufgeho- lösen. Es wurde vielmehr anerkannt, daß sich auch
ben werden. Die Kommission meinte, daß schon die die Weineinfuhr in die Bundesrepublik nach den-
Einführung gemeinsamer Qualitätsnormen für diese selben Grundsätzen richten soll wie die Einfuhr
Klassen die Verhältnisse auf dem Obst- und Ge- nach Frankreich und Italien. Das deutsche Weinein-
müsemarkt so grundlegend bessern würde, daß auf fuhrkontingent wurde für 1962 noch um 10 % gegen-
die Anwendung von Mindestpreisen verzichtet wer- über 1961 erhöht, wobei ein bestimmter Teil für
den könne. Demgegenüber stand Frankreich auf Qualitätsweine vorgesehen ist. Ab 1963 findet diese
dem Standpunkt, daß nur eine ins einzelne gehende automatische Aufstockung nicht mehr statt.
Marktordnung die Möglichkeit geben könnte, auf Die Bundesregierung hat immer wieder entschei-
die Schutzwirkung der Anwendung von Mindest- denden Wert darauf gelegt, daß gleichzeitig mit der
preisen zu verzichten. Im Hinblick auf die Erfahrun- Annahme gemeinschaftlicher Marktordnungsgrund-
gen, die die Bundesregierung vor geraumer Zeit
sätze die Wettbewerbsunterschiede innerhalb der
mit der Behandlung eines Gesetzentwurfes über die einzelnen Wirtschaftszweige und die wettbewerbs-
Schaffung einer Marktordnung für Obst und Ge- verzerrenden Exportsubventionen und ähnliche
müse gemacht hatte, konnte sie sich diesem fran- Maßnahmen abgebaut werden. \Die jetzt auch ver-
zösischen Verlangen nicht anschließen. Die jetzt abschiedete Verordnung zu Art. 42 des EWG-Ver-
verabschiedete Verordnung für Obst und Gemüse trages ist ein wesentlicher Beitrag dazu.
sieht jedoch immerhin vor, ,daß der Rat bis zum
1. Juli 1964 gemeinschaftliche Vorschriften für das Mit Wirkung vom 1. Februar 1962 hat die Kam-
Funktionieren der Märkte und der Handelsge- mission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaten
schäfte erläßt. Im übrigen tritt an Stelle der Vor- fortlaufend ein Inventar aller Beihilferegelungen
schriften über die Anwendung von Mindestpreisen zu erstellen und die geltenden Regelungen im
zu den vorher genannten Zeitpunkten die Schutz- Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Vertrage
klausel. Auf die von der. Kommission zu Protokoll zu prüfen. Mit Wirkung vom 1. Juli 1962 — also
gegebene Zusage, daß sie eine ernstliche Markt- gleichzeitig mit dem Inkrafttreten der einzelnen
störung normalerweise als gegeben ansehen werde, Warenverordnungen — hat die Kommission gegen
wenn der Preis für ein Erzeugnis unter 82 % der Dumping-Praktiken einzuschreiten. Außerdem ist in
Durchschnittspreise der voraufgegangenen Jahre ab- denWarvougfüSchweinls,Er
sinkt, möchte ich hier noch einmal hinweisen. und Geflügel sowie Obst und Gemüse die Anwen-
dung von staatlichen Beihilfen, soweit sie den
Für die Klasse EXTRA kommt eine autonome An- Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten verfäl-
wendung der Schutzklausel nicht in Betracht. Ent- schen oder zu verfälschen drohen, verboten.
gegen den Wünschen verschiedener anderer Dele-
Ferner konnte schließlich erreicht werden, daß die
gationen hat jedoch die Kommission die Möglich-
Bestimmungen über das Verhalten der landwirt-
keit, auf Antrag auch hier Schutzmaßnahmen des
schaftlichen Erzeuger und Erzeugerverbände im
Importlandes zu genehmigen. Im übrigen werden
Rahmen des deutschen Kartellrechts auch im Ge-
gemeinsame verbindliche Qualitätsnormen für jedes
meinsamen Markt ihre Gültigkeit behalten.
Erzeugnis durch Übernahme von Genfer Standards
ab 1. Juli 1962 eingeführt. Gleichzeitig wird eine In der Entscheidung nach Art. 44 des Vertrages
entsprechende Qualitätskontrolle verbindlich ange- sind objektive Grundsätze für die Festsetzung von
ordnet. Schließlich hat der Rat die Möglichkeit, ein- Mindestpreisen aufgestellt worden, die die Mit-
heitliche Einfuhrregelungen gegenüber Drittländern gliedstaaten autonom anwenden können. Diese Ent-
322 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Bundesminister Schwarz
scheidung hat jedoch nur dort Bedeutung, wo ein chen soll, entsprechende Rechtsverordnungen zu
gemeinsames Marktordnungssystem noch nicht exi- erlassen.
stiert oder noch nicht voll in Kraft getreten i st. Im Die Frage ist aufgeworfen worden, ob die Brüs-
Falle derartiger Systeme haben die Mitgliedstaaten seler Beschlüsse nicht vertragsändernd seien und
auf die Anwendung .dieses autonomen Rechts ver- damit vom Parlament ratifiziert werden müßten. Ins-
zichtet. Nach der genannten Entscheidung halben die besondere ist dabei darauf hingewiesen worden, daß
einzelnen Mitglieder die Möglichkeit, verschiedene im Rahmen .der Marktregelungen die Anwendung
Mindestpreissysteme zu wählen. Es geht insbeson-
von Mindestpreisen nach Art. 44 des Vertrages nicht
dere um die Frage, ob Mindestausfuhrpreise oder
mehr möglich sei. Nach Ansicht der Bundesregie-
Mindesteinfuhrpreise eingeführt werden sollen. Die
rung stellt dies keine Vertragsänderung dar; es han-
Bundesrepublik hat bisher beide Systeme im Ein-
delt sich vielmehr um eine einstimmige Willenser-
vernehmen mit den beteiligten Exportländern er-
klärung der Mitgliedstaaten, von einem nach dem
folgreich angewandt. Bei der Bestimmung der Höhe
Vertrag zustehenden Recht in bestimmten Fällen
der Mindestpreise wird zwischen Marktordnungs-
keinen Gebrauch mehr zu machen.
waren mit feststehenden Interventionspreisen und
anderen Erzeugnissen unterschieden. Bei den letzte- Die Bundesregierung ist der Ansicht, daß zu-
ren werden die Mindestpreise an Hand von be- folge der Geschlossenheit des jetzt gefundenen
stimmten Referenzpreisen der letzten drei Jahre er- Systems die Grundlagen der Wettbewerbsgleich-
rechnet. Dabei können auch die Gestehungskosten heit auch für die deutsche Landwirtschaft gegeben
berücksichtigt werden. sind. Sie wird die gleichen Chancen auf dem Markt
Ernährungsindustrie und Ernährungshandwerk haben wie die Landwirtschaften der anderen Mit-
hatten bisher darunter zu leiden, daß sie im Zuge gliedstaaten auch. Sie hat dabei den Vorteil, daß sie
der fortschreitenden Liberalisierung der Warenein- sich mit einem großen Teil ihrer Produktion in der
fuhr und der Zollsenkung mit Auslandsange- Nähe großer Verbrauchszentren befindet. Diese
boten zu rechnen hatten, die auf der Grundlage Chance wird sie in dem Maße ausnützen können,
niedriger Rohstoffkosten zustande gekommen waren. wie sie imstande ist, gleichbleibende, hochwertige,
Die Bundesregierung hat hier nach hartnäckigen vom Verbraucher gewünschte Qualitäten in notwen-
Verhandlungen erreicht, daß nunmehr die Möglich- digem Umfang liefern zu können.
keit gegeben ist, diese Wettbewerbsunterschiede Aber auch die Exportmöglichkeiten sind für sie
durch di e Erhebung von Ausgleichsabgaben an .der verbessert worden. Die Märkte der Mitgliedstaaten
Grenze so lange auszugleichen, bis die Rohstoff- werden ihr nicht mehr durch Maßnahmen verschlos-
preise im Gemeinsamen Markt einander angegli- sen sein, die einen echten, fairen Wettbewerb bis-
chen sind. Darüber hinaus sieht die Verordnung her ausgeschlossen haben.
nach Art. 235 vor, daß die dann noch vorhandenen
Insbesondere sieht aber die Bundesregierung
Kostenunterschiede in der Verarbeitungstätigkeit
durch die zusätzliche Erhebung eines zollähnlichen verstärkte Absatzchancen für die Landwirtschaft bei
Betrages 'bis zu 5% ausgeglichen werden können. .den Veredelungserzeugnissen und hier insbeson-
dere bei Eiern und Geflügel. Auf diesen Märkten
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen gibt es nicht nur Ausdehnungsmöglichkeiten im
Sie sich nun noch ein paar Worte über die Auswir- Hinblick auf noch mögliche Verbrauchssteigerungen.
kungen der Brüsseler Beschlüsse sagen. Diese Be- Die deutsche Landwirtschaft ist vielmehr in die Lage
schlüsse werden weitreichende Auswirkungen auf versetzt, ihren eigenen Anteil an der Gesamtversor-
das wirtschaftliche und staatliche Leben in der gung zu steigern.
Bundesrepublik haben, di e naturgemäß noch nicht Gewisse Veränderungen werden sich für die
bis in alle Einzelheiten zu übersehen sind und daher marktfernen Gebiete in der Bundesrepublik ergeben.
im jetzigen Augenblick nur angedeutet werden Als Folge der sich schrittweise anbahnenden Regio-
können. nalisierung der Preise wird hier die Landwirtschaft
Die Verordnungen des Ministerrats sind euro- prüfen müssen, inwieweit sie ihre Produktionsstruk-
-
päisches Recht und gelten unmittelbar in jedem tur , den neuen Bedingungen anpassen muß.
Mitgliedstaat. Sie setzen Idas nationale Recht außer Da die beschlossenen Verordnungen erhebliche
Kraft, soweit es mit ihnen nicht vereinbar ist. Wenn Änderungen in den nationalen Agrarsystemen mit
also z. B. am 1. Juli 1962 die neue Getreidemarkt- sich bringen und da auch Erfahrungen über die
ordnung in Kraft tritt, dann sind mit ihr wesent- neuen agrarpolitischen Instrumente noch nicht vor-
liche Bestimmungen des Getreidegesetzes sowie des liegen, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob
Getreidepreisgesetzes nicht mehr vereinbar. Es wird das vom Ministerrat beschlossene System durch die
noch geprüft, ob und wie bekanntgemacht werden Praxis noch gewissen Anpassungen oder Änderun-
soll, um welche Bestimmungen der einzelnen deut- gen unterworfen werden muß. Die Bundesregierung
schen Gesetze es sich handelt, die als aufgehoben wird darauf achten, daß die Vorteile des Gemein-
betrachtet werden müssen. Darüber hinaus haben samen Marktes der Landwirtschaft und den Ver-
die Mitgliedstaaten die Pflicht, die Verordnungen brauchern gleichermaßen zugute kommen.
des Ministerrats durch nationale Durchführungsver-
ordnungen auszufüllen. Dazu werden Rechtsvor- (Beifall.)
schriften erforderlich sein. Es wird noch geprüft, ob
die Bundesregierung beim Deutschen Bundestag um Präsident D. Dr. Gerstenmaier: Meine Damen
eine allgemeine gesetzliche Ermächtigung nachsu und Herren, Sie haben die Regierungserklärung ge-
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 323
Präsident D. Dr. Gerstenmaier
hört. Die Aussprache soll vereinbarungsgemäß am Abgeordnete, Fachausschüsse, Fraktionen und an-
31. Januar stattfinden. dere Stellen schreiben. Zur Gewährleistung einer
einheitlichen Behandlung der Eingaben, einer leich-
Ich rufe auf den Punkt 4 der Tagesordnung: teren Scheidung der Querulanten von echten Bitt-
a) Mündlicher Bericht des Ausschusses für Peti- stellern, zur Vermeidung überflüssiger Behörden-
tionen (2. Ausschuß) über seine Tätigkeit ge- arbeit und möglicherweise unterschiedlicher Be-
mäß § 113 Abs. 1 der Geschäftsordnung, scheide durch Rückfragen bei mehreren Stellen und
zwecks Erfassung der Gesamtzahl der Petitionen
b) Beratung der Sammelübersicht 2 des Aus-
wäre es allerdings angebracht, alle Bitten und Be-
schusses für Petitionen (2. Ausschuß) über
schwerden möglichst über den Ausschuß für Peti-
Anträge von Ausschüssen des Deutschen Bun-
tionen an das Büro des Bundestages zu richten. Den-
destages zu Petitionen und systematische
noch weisen die genannten Zahlen einen stetigen,
Übersicht über die beim Deutschen Bundestag
nicht unerheblichen Anstieg — vor allen Dingen in
in der Zeit vom 17. Oktober 1961 bis 31. De-
der dritten Wahlperiode — auf, der meines Erach-
zember 1961 eingegangenen Petitionen
tens zeigt, daß sich das Petitionsrecht und die In-
(Drucksache IV/114).
stitution ,des Petitionsausschusses als Hilfe in man-
Das Wort als Berichterstatterin hat Frau Abgeord- cherlei Not und Sorge immer mehr im Bewußtsein
nete Wessel. der Öffentlichkeit verankern. Er offenbart aber auch,
daß die 29 Ausschußmitglieder — in dieser Wahl-
periode sind es allerdings 27 — und die Verwal-
Frau Wessel (SPD) : Herr Präsident! Meine Da- tungsangehörigen niemals so viel Arbeit hatten wie
men und Herren! Ich habe die Ehre, Ihnen den in den vergangenen vier Jahren.
ersten Mündlichen Bericht des Ausschusses für Pe-
titionen in dieser Wahlperiode zu erstatten. Er soll Alle Eingaben werden im Büro für Petitionen
ihnen einen Einblick in Art und Umfang der Tätig- registriert und auf die Formerfordernisse vorge-
keit des Ausschusses, vornehmlich in der vergan- prüft. 735 beleidigende, erpresserische, absolut
genen dritten Legislaturperiode, vermitteln, gleich- unklare oder anonyme Zuschriften — selbstverständ-
zeitig aber auch dessen Aufgabe und Bedeutung den lich gibt es bei den Petitionen auch solche —, die
zahlreichen neuen Mitgliedern des Hohen Hauses etwa 2 % aller Einsendungen betrafen, wurden in
aufzeigen. der dritten Wahlperiode nicht behandelt oder nicht
Der Petitionsausschuß leitet seine Tätigkeit aus beantwortet. 12 317 Eingaben, also 30 % aller Zu-
Artikel 17 des Grundgesetzes der Bundesrepublik schriften, waren zur Beratung im Bundestag entwe-
ab, in dem die Ausübung des Petitionsrechts ver- der aus Zuständigkeitsgründen nicht geeignet oder
fassungsrechtlich festgelegt ist. Nach dieser Bestim- weil sie Gerichtsverfahren betrafen, weil der
mung darf sich jeder, der imstande ist, seine Ge- Rechtsweg oder der Instanzenweg nichterschöpft
danken vernünftig und in verständlicher Form zu war oder weil sie keine neuen Tatsachen oder
äußern, ohne Rücksicht auf Alter, Geschlecht, Beruf, Beweismittel gegenüber früheren Eingaben enthiel-
Konfession oder Nationalität einzeln oder in Ge- ten. Den Einsendern gingen entsprechende Mittei-
meinschaft mit anderen bittend und beschwerdefüh- lungen zu. Eingaben, die wegen Unzuständigkeit
rend an den Deutschen Bundestag wenden. Die Bit- des Bundestages zur Beratung nicht geeignet waren
ten und Beschwerden müssen möglichst in deutscher — sie machten etwa 1/5 % aus —, wurden den
Sprache vorgebracht werden und eigenhändig unter- Volksvertretungen der Länder, die dafür in Frage
schrieben sein. Sie sollen an den Deutschen Bundes- kamen, übersandt. Es handelte sich dabei im we-
tag, seinen Präsidenten oder unmittelbar an den sentlichen um Beschwerden wegen Handlungen oder
Ausschuß für Petitionen gerichtet werden. Schreiben Unterlassungen von Länderbehörden auf den Gebie-
mit anderen, oft den seltsamsten und phantasie- ten der Kriegsopferversorgung, des Kriegsgefan-
vollsten Adressen erreichten aber ebenfalls durch- genenentschädigungs- und des Heimkehrerrechts,
weg die richtige Stelle. der Rentenversicherung der Arbeiter, der Wieder-
gutmachung, der Kultur, des Gesundheitswesens,
In den vier Jahren der dritten Legislaturperiode des Sozialrechts, des Flüchtlingswesens, des Woh-
wurden 44 499 Petitionen an den Ausschuß heran- nungsbaus, des Siedlungswesens, der Wohnraum-
getragen, abgesehen von 288 858 Massenpetitionen bewirtschaftung oder des Justizwesens. Alle diese
zur Rot-Kreuz-Konvention gegen Atomwaffen, bei Gebiete liegen nicht im Zuständigkeitsbereich des
denen es sich um Petitionen handelte, die nicht auf Bundes, sondern sind den Ländern übertragen wor-
die Initiative von einzelnen, sondern auf eine Ak- den.
tion des Arbeitsausschusses „Kampf dem Atomtod",
zurückgingen, die alle das gleiche, und zwar das Bei allen übrigen Petitionen, für deren Behand-
politische Anliegen enthielten, die Bundesregierung lung der Bundestag zuständig ist, werden den Ein-
gemeinsam mit anderen Staaten zur Ächtung der sendern Eingangsbestätigungen erteilt und schrift-
nuklearen Massenvernichtungswaffen aufzufordern. liche oder, falls notwendig, auch mündliche Stellung-
nahmen der zuständigen Bundesminister eingeholt;
Im 1. Bundestag, also von 1949 bis 1953, gelang- das ist vor allem bei Beschwerden aus dem Bereich
ten 27 200 Petitionen an den Ausschuß; in der der Verwaltung der Fall, insbesondere bei Fragen
2. Legislaturperiode, von 1953 bis 1957, waren es des auswärtigen Dienstes, des Verkehrs, der Bun-
schon 33 000 Eingaben. Diese Zahlen geben aller- desbahn, der Bundespost, der Verteidigung, der
dings nicht alle an den Bundestag gerichteten Peti- Zoll- und Arbeitsverwaltung, des Rechts der bei den
tionen wieder, weil viele Petenten unmittelbar an Bundesbehörden beschäftigten Personen sowie der
324 Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962
Frau Wessel
Rentenversicherung der Angestellten und des hatte und daher eine erneute Beratung des Begeh-
Lastenausgleichs. rens überflüssig erschien.
Die Stellungnahmen der Bundesregierung werden Meine Damen und Herren, weit gespannt ist der
zusammen mit der Eingabe zwei nach ihrem Beruf Bogen der Inhalte dieser Petitionen. Er umfaßt prak-
und ihrer fachlichen Eignung ausgewählten Bericht- tisch alle Sachgebiete des täglichen Lebens und der
erstattern, die Mitglieder des Petitionsausschusses öffentlichen und hoheitlichen Betätigung des Staates.
sind, zur Überprüfung und Bearbeitung vorgelegt. Der Petitionsausschuß ist daher ein instruktives und
Diese haben dem Ausschuß zu berichten und die dankbares Arbeitsfeld für junge Abgeordnete, ich
Art der Erledigung jeder einzelnen Petition vorzu- möchte sagen: für parlamentarische Neulinge. Nir-
schlagen. Der Ausschuß berät jede Petition und gends lernt man so viel echte Demokratie, die Sor-
beschließt die Art ihrer Erledigung. Er legt seine gen der Wähler und den Gang der Verwaltungs-
Beschlußfassung und die Empfehlung für eine maschinerie kennen wie hier.
Beschlußfassung .des Plenums dem Hohen Hause
durchschnittlich mindestens einmal im Monat — wie Die größte Zahl der Einsender — etwa 35 % —
heute — in einer Sammelübersicht vor. Heute liegt befaßte sich in der dritten Wahlperiode mit Fragen
diese Sammelübersicht als Drucksache IV/114 in der Verteidigung, was seinen Grund in dem Für
Ihrer Mappe. Erst nach der Annahme dieser Sam- und Wider um die Ausrüstung der Bundeswehr mit
melübersicht durch das Plenum kann das Büro den Atomwaffen hatte. In diesem Prozentsatz ist selbst-
Einsendern die Erledigung ihrer Petition in Form verständlich nicht die hohe Zahl von rund 288 000
eines mit Gründen vorsehenen Bescheides des Bun- Massenpetitionen einbegriffen, die ich schon
destagspräsidenten mitteilen. erwähnt habe; diese Petitionen wendeten sich ganz
speziell gegen die atomare Aufrüstung.
Die gesamte Bearbeitung von der Registrierung
bis zur Bescheiderteilung nimmt durchschnittlich Die nächstgrößere Gruppe der Petenten wünschte
etwa 4 bis 5 Monate in Anspruch, weil die Ermitt- höhere Sozialversicherungsrenten — sie macht etwa
lungen der Bundesregierung zu den erbetenen Stel- 11 % aus — , Lastenausgleichsleistungen — etwa 8 %
lungnahmen in den meisten Fällen bis hinunter in — oder Kriegsopferversorgungsrenten — etwa
die untersten Instanzen beim Bund und bei den 6% —.
Gemeinden erstreckt werden müssen. Ich erwähne Einem großen Teil der Einsender — auch das zu
diese Tatsache deshalb, weil es Damen und Herren erfahren ist ganz interessant — ging es jedoch nicht
dieses Hohen Hauses gibt, die sich für Petitionen nur um die Verwirklichung persönlicher Anliegen.
interessieren, bei denen die Petenten aus ihrem Ihre Zuschriften hatten Vorschläge zu Gesetzesände-
Wahlkreis stammen. Ich wiederhole, daß die Bear- rungen und -verbesserungen zum Inhalt und betra-
beitung durchschnittlich eine Zeit von 4 bis 5 Mona- fen z. B. das Notdienstgesetz, die Ladenschlußrege-
ten erfordert. lung, das Jugendarbeitsschutzgesetz, das Lebens-
Aus der Dauer des Petitionsverfahrens erklärt mittelgesetz, die Kriegsopferversorgung, die Kran-
sich, daß am Ende der dritten Wahlperiode noch kenversicherung, den Lastenausgleich und das Ge-
2373 Petitionen nicht erledigt waren. Ihre Zahl wird setz zu Art. 131 des Grundgesetzes.
sich — nachdem der neue Bundestag und der Peti-
Interessant ist vielleicht noch, daß ein Drittel der
tionsausschuß wieder konstituiert sind — schnell
Bittsteller, die sich an den 3. Bundestag — mit nicht
verringern.
nur persönlichen, sondern zum Teil auch durchaus
In 1466 Fällen konnte in der dritten Wahlperiode berechtigten allgemeinen Anliegen — wandten,
dem Anliegen der Einsender voll entsprochen und Frauen waren. Das ist meines Erachtens ein Anzei-
ein positiver Bescheid erteilt werden; das sind zwar chen dafür, daß das Interesse der Frauen nicht nur
nur etwa 3 % aller erledigten Petitionen, aber doch an der Tagespolitik, sondern auch an der Mitgestal-
immerhin etwa 16 % aller im Bundestag sachlich be- tung und Einflußnahme bei der Beratung von Geset-
handelten Eingaben um Abhilfe persönlicher Be- zesvorlagen wächst. -
schwerden, wenn man die zur Beratung im Bundes-
tag nicht geeigneten und die im Interesse der All- Am meisten wurde vom Petitionsrecht — auf je
gemeinheit — zwecks Annahme, Ablehnung oder 1 Million der Bevölkerung berechnet — in den Län-
Abänderung von Gesetzen — eingebrachten Peti- dern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Ham-
tionen ausnimmt. burg, Schleswig-Holstein und Berlin — in dieser
Reihenfolge — Gebrauch gemacht. Es ist ganz inter-
Etwa ebenso viele Petitionen wurden der Bundes- essant, zu erwähnen, daß fast die Hälfte der Einzel-
regierung zur Berücksichtigung, zur Erwägung, als petitionen von Petenten kamen, die in Nordrhein
Material oder zur Kenntnisnahme überwiesen, wäh- Westfalen wohnen. Ob das damit zusammenhängt,
rend etwa 7 % den zuständigen Fachausschüssen zu- daß der Bundestag in Nordrhein-Westfalen tagt,
geleitet wurden, weil sich dort bereits entspre- kann ich natürlich nicht sagen. Aber immerhin sind
chende Gesetzesvorlagen befanden. auch solche Aufstellungen, die jetzt immer regel-
Ungefähr 17 % der Eingaben wurden durch über- mäßig in den Sammelübersichten erscheinen, für das
zeugende Stellungnahmen der Bundesregierung ge- Interesse an der Arbeit des Petitionsausschusses des
genstandslos, und weitere rund 37 % erledigten sich Bundestages nicht unwichtig.
durch Beschlüsse über andere Gegenstände, weil der Meine Damen und Herren, schenken Sie mir nun
Bundestag bereits in anderem Zusammenhang der noch kurz Gehör für einige praktische Fälle aus
Sache nach das Anliegen des Einsenders geprüft unserer Arbeit, die Ihnen zeigen mögen, daß der
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 325
Frau Wessel
Ausschuß nicht überflüssig ist und daß seine Tätig- Zusammenhanges zwischen einer Behandlung und
keit beachtet und gewürdigt wird. den eingetretenen schädlichen Folgen, schadens-
ersatzpflichtig gemacht werden sollten. Außerdem
Viele Petitionen gingen und gehen von Repa-
sollte eine Operationsrisikoversicherung zur Hilfe
rations und Restitutionsgeschädigten ein. Einem
in den Fällen eingeführt werden, in denen eine
-
Werktagen für alle Arbeitnehmer festzulegen und Mindestnormen ist dem Gesetzgeber bisher nie
zweitens eine einheitliche Regelung der grundsätz- ernsthaft bestritten worden. Folglich haben die ein-
lichen Bestimmungen des Urlaubsrechts auf Bundes- zelnen Länder der Bundesrepublik nach 1945 Ur-
ebene zu schaffen. laubsgesetze verabschiedet. Die Länder haben da-
mit die Tarifautonomie der Sozialpartner dort
Zur allgemeinen Begründung des Gesetzentwurfes
ergänzt, wo das Schutzerfordernis von den Tarif-
ist anzuführen, daß ein längerer Urlaub als 12 Tage
partnern nicht wahrgenommen werden konnte. Da-
heute als notwendig betrachtet wird. Für die Arbeits-
bei darf weiter nicht übersehen werden, daß nicht
mediziner sind drei Wochen Urlaub sogar das Mini-
alle Arbeitnehmer an Tarife gebunden sind und
mum dessen, was ohne Zweifel erwünscht ist. Die
auch nicht alle durch Tarifbestimmungen erfaßt wer-
Verdichtung des Arbeitsprozesses mit seiner stärke-
den können. Und für die Allgemeinverbindlichkeits-
ren arbeitsphysiologischen Belastung, die tägliche
erklärung von Tarifverträgen ist neben bestimmten
Arbeitszeit und die mit ihr gebundenen Zeiten der zu erfüllenden Bedingungen vor allem ein Tarifver-
Wegstrecken — sie betragen nach Professor Dr. med. trag Voraussetzung. Das ist aber, wie bereits er-
Graf insgesamt täglich zwischen 10 und 11 Stun- wähnt, für mehr als drei Millionen Arbeitnehmer
den —, aber auch die erschreckenden Belastungen nicht möglich.
bei den berufstätigen Frauen lassen einen Mindest-
urlaub von 18 Werktagen für die Wiederherstellung Durch Gebots- und Verbotsgesetze ist weitgehend
und Erhaltung der Leistungsfähigkeit unserer Ar- in die Gestaltung der Arbeitsbedingungen einge-
beitskraft nunmehr unbedingt notwendig werden. griffen worden. Hier sei nur an die vielen gesetz-
Der hohe Grad der Frühinvalidität ist ein nicht zu lichen Arbeitszeitschutzbestimmungen erinnert.
übersehendes Alarmzeichen und ein weiterer Be- Noch nie wurde bisher geltend gemacht, daß da-
weis für die Berechtigung der Forderung auf einen durch die Tarifautonomie eingeschränkt wird. So
Mindesturlaub von drei Wochen. Diese Forderung wurden auch bisher von seiten der Arbeitgeber-
wird auch von denen nicht bestritten, die noch Be- verbände keine Einwendungen gegen die Regelung
denken hinsichtlich einzelner Wirtschafts- und Be- eines Mindesturlaubs von 12 Tagen in den Länder-
rufszweige vorbringen. Diese Bedenken und jene gesetzen erhoben. Wer also von einem Eingriff in
Einwände betreffend Kostenlage und Wettbewerbs- die Tarifautonomie spricht, will keine bundesein-
möglichkeiten können bei dem heutigen Stand un- heitliche Regelung von 18 Werktagen Mindest-
serer Erkenntnisse vom Gesundheitszustand unserer urlaub für alle Arbeitnehmer. Eine gesetzliche Min-
arbeitenden Bevölkerung nicht mehr als ernsthaft destregelung auf Teilgebieten der Arbeitsbedingun-
berücksichtigt werden. Wir sind an dem Punkt ange- gen schaltet die Wirksamkeit der Tarifautonomie
langt, an dem der Erhaltung der Arbeitskraft alle nicht aus. Durch den vorliegenden Gesetzentwurf,
anderen Gesichtspunkte unterzuordnen sind. durch den ein Mindesturlaub von drei Wochen er-
strebt wird, ist die Tarifautonomie der Tarifpartner
In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen,
in der Urlaubsfrage unangetastet; denn weiterer
daß die Beratende Versammlung des Europarates
und ausreichender Spielraum ist vorhanden, zusätz-
in der Europäischen Sozialcharta einen dreiwöchi-
liche Urlaubsvereinbarungen und -vergünstigungen
gen Mindesturlaub festgelegt hat. Des weiteren zu gewähren.
erscheint es uns nur folgerichtig, daß wir nach der
einmütigen Festlegung eines Urlaubs von vier Wo- Zum Gesetz selbst ist zu sagen, daß es von einem
chen in dem verabschiedeten Jugendarbeitsschutz- unabdingbaren Anspruch auf einen bezahlten jähr-
gesetz gerade bei den jungen Menschen vom 18. lichen Erholungsurlaub von mindestens 18 Werk-
Lebensjahr ab den Urlaub nicht wieder von vier tagen für alle Arbeitnehmer ausgeht. Durch die Be-
auf zwei Wochen herabsetzen dürfen. zeichnung Werktage ist klargestellt, daß der Sams-
Dieses Mindesturlaubsgesetz ist zugleich ein tag als Urlaubstag anzurechnen ist. Durch das
Schutzgesetz für mehr als drei Millionen Arbeit- Gesetz werden alle Arbeitnehmer erfaßt, also auch
nehmer, für die es in der Bundesrepublik keine diejenigen in Heimarbeit und diejenigen, die in
tarifvertraglichen Regelungen für den Urlaub gibt. einem arbeitnehmerähnlichen Abhängigkeitsver-
Die tarifvertraglichen Regelungen bestehen deshalb hältnis beschäftigt sind. Für den letztgenannten
nicht, weil ein Tarifpartner fehlt, und zwar in den Personenkreis ergibt sich lein besonderes Schutz-
weitaus meisten Fällen auf der Arbeitgeberseite. bedürfnis.
Um so dringender bedarf dieser Personenkreis einer
vernünftigen und einwandfreien gesetzlichen Ur- Einen Zusatzurlaub von 6 Werktagen sollen die-
laubsregelung. jenigen Arbeinehmer erhalten, die untererheblichen
Gefahren für Leben und Gesundheit arbeiten. Ins-
Zum Abschluß .der allgemeinen Begründung sei besondere ist hier gedacht an die Arbeitnehmer im
auch noch. die Frage der Tarifautonomie angespro- Bergbau sowie an solche, die in außergewöhnlichem
chen. Seit der Entstehung des modernen Arbeits- Grade der Einwirkung von Kälte, Lärm, Hitze,
rechts sind auch solche zum Bereich der Arbeitsbe- Nässe, Druckluft, giftigen Stoffen, Staub, Röntgen-
dingungen gehörenden Gebiete gesetzlich geregelt strahlen, radioaktiven Strahlen oder Infektionser-
worden, die zur eigentlichen Zuständigkeit der So- regern ausgesetzt sind. Die Festlegung eines der-
zialpartner gehören. Gesetzliche Regelungen be- artigen Zusatzurlaubs soll nach Anhören der Tarif-
stimmen also lediglich das Mindestniveau, und a n partner durch Rechtsverordnung mit Zustimmung
dieser untersten Grenze beginnt das Wirken der des Bundesrates vom Bundesminister für Arbeit
Tarifpartner. Ein solches Recht zur Schaffung von und Sozialordnung erfolgen.
Deutscher Bundestag — 4. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 24. Januar 1962 333
Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr. Grundsätzlich wurf, — aber in der Praxis zumeist schon so wie
soll der Urlaub im Urlaubsjahr gewährt und genom- vorgesehen behandelt —, daß Zeiten einer Kur oder
m en werden. Nur aus zwingenden betrieblichen eines Heilverfahrens, die von den Trägern der Ren-
oderzwing PsodeArbitnhm tenversicherung oder nach gleichen Maßstäben von
liegenden Gründen ist eine Übertragung in den anderen Stellen gewährt werden, auf den Urlaub
ersten drei Monaten des folgenden Jahres gestattet. nicht angerechnet werden dürfen. Der Zweck des
Urlaubs ist die Erhaltung und Wiederherstellung
Urlaubsanspruch entsteht erstmalig sechs Monate
der Arbeitskraft. Kuren und Heilverfahren sind auf
nach Beginn des Arbeitsverhältnisses. Derjenige, der
die Erhaltung, Wiederherstellung oder Besserung
kein volles Jahr beschäftigt war, soll für jeden
der durch Krankheit oder Gebrechen beeinträchtig-
vollen Monat der Beschäftigung ein Zwölftel des
ten Erwerbsfähigkeit gerichtet. Es ist dem Arbeit-
ihm zustehenden Urlaubs erhalten, wobei eine Be-
nehmer nicht zuzumuten, auf diese Kur oder ein
schäftigung von mindestens 12 Tagen als voller
Heilverfahren zu verzichten, zumal es ein Fall nicht
Monat zu zählen ist. Erhaltener Urlaub kann beim
zu vertretender Unmöglichkeit der Arbeitsleistung
Wechsel des Arbeitsverhältnisses nicht noch einmal
ist. Eine Anrechnung auf den Jahresurlaub wird
geltend gemacht werden.
auch dadurch ausgeschlossen, daß für solche Zeiten
Die Festlegung des Urlaubs soll vom Arbeitgeber eines Kur- oder Heilverfahrens seitens des Arbeit-
und Betriebsrat nach § 56 Abs. 1 c BVG unter Be- nehmers kein Anspruch auf Weiterzahlung des Ar-
rücksichtigung , der Wünsche des Arbeitnehmers er- beitsentgelts besteht.
folgen. Der Urlaub soll zusammenhängend gewährt
Selbstverständlich sollen bestehende und zu-
werden, und seine Abgeltung ist nur statthaft, wenn
künftige günstigere Regelungen diesem Gesetz vor-
der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhält-
gehen.
nisses nicht mehr als Freizeit gewährt werden kann.
Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion legt
Urlaubsentgelt soll nach dem Durchschnittsver- entscheidenden Wert darauf, daß das Gesetz mit
dienst der letzten drei Monate berechnet werden. Wirkung vom 1. Januar 1962 in Kraft tritt. Eine vor-
Mögliche Ausfallzeiten durch Freistellung, Krank- dringliche Behandlung durch den Ausschuß für Ar-
heit, Arbeitsmangel oder andere Umstände sind bei beit ist daher erforderlich. Die ständige Zunahme
der Berechnung des Arbeitsverdienstes so zu behan- der Arbeitsintensität bei gleichzeitiger Steigerung
deln, als hätte der betreffende Arbeitnehmer in die- der physischen oder nervlichen Beanspruchung der
ser Zeit voll gearbeitet. Urlaubsentgelt ist vor Ur- Arbeitnehmer macht das Inkrafttreten dieses Gesetz-
laubsantritt auszuzahlen. entwurfes zum 1. Januar 1962 besonders notwendig.
Im Falle der Krankheit dürfen die durch ärztliches Die deutsche Arbeitnehmerschaft erwartet, nicht zu-
Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähig- letzt durch maßgebliche Äußerungen von Vertretern
keit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet wer- der Bundesregierung bestärkt, die baldige Verab-
den. Neu aufgenommen wurde in den Gesetzent- schiedung eines Mindesturlaubsgesetzes.