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D eutscher Bundestag

23. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Inhalt:

Aussprache über den Bericht der Bundes- Fragestunde (Drucksachen VI/222, VI/239)
regierung über. die Lage der Nation im
gespaltenen Deutschland (Drucksache Frage des Abg. Buchstaller:
VI /223)
Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) . . 851 A Pressemeldungen über Rücktrittsdro-
hungen der führenden Generale des
Mischnick (FDP) 860 C Heeres
Wehner (SPD) 866 A Schmidt, Bundesminister . 882 D, 883 C, D,
Dr. Gradl (CDU/CSU) 874 D 884 A, B, C, D, 885 C
Frau Funcke, Vizepräsident (zur GO) 877 D, Buchstaller (SPD) 883 B
882 B Dr. Althammer (CDU/CSU) 883 D, 884 A
Rasner (CDU/CSU) (zur GO) . . 878 A Schmidt (Würgendorf) (SPD) . . . 884 B
Mertes (FDP) (zur GO) 878 C Josten (CDU/CSU) 884 C, D
Wienand (SPD) (zur GO) . . . 879 D Horn (SPD) 885 A
Dr. Wörner (CDU/CSU) (zur GO) . 879 C Dr. Schmitt-Vockenhausen,
Schulte (Unna) (SPD) (zur GO) . 879 D Vizepräsident 885 A, B, C, D
Ollesch (FDP) (zur GO) 880 B Möhring (SPD) . . . . . . . 885 B
Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) Dr. Bußmann (SPD) 885 B, C
(zur GO) 880 D
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) Fragen des Abg. Hussing:
(zur GO) 880 D
Berufung Professor Grzimeks zur Bera-
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) (zur GO) 881 B tung der Bundesregierung in Fragen
Collet (SPD) (zur GO) 881 D des Tier-, Natur- und Landschafts-
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD)
schutzes
(Erklärung nach § 36 GO) . . . 882 A Dr. Ehmke, Bundesminister . . . . 886 A
II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Frage des Abg. Reddemann: Frage des Abg. Dr. Müller (München) :
Pressemeldung über den Abschluß Finanzierung des Neubaues von Stu
eines Vertrages mit der CSSR ohne dentenheimen
Berlin-Klausel
Dr. Ehmke, Bundesminister . . 886 B, C, D, Westphal, Parlamentarischer
Staatssekretär 891 B, C
887 A
Dr. Müller (München) (SPD) . 891 B, C
Reddemann (CDU/CSU) . . . . . 886 C
Dr. Schmitt-Vockenhausen,
Vizepräsident . . . . . . . . 886 C Frage des Abg. Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 886 D, Schwierigkeiten in der ärztlichen Not
887 A versorgung an Festtagen 891 C
Damm (CDU/CSU) . . . . . . . 887 A
Frage des Abg. Leicht:
Fragen der Abg. Dr. Klepsch und Damm:
Gewinnung von zahlreicherem Nach-
Veröffentlichung des Textes eines Ab- wuchs für die Pflegeberufe
kommens mit Prag über die Entschädi-
gung für Opfer nationalsozialistischer Westphal, Parlamentarischer
Menschenversuche Staatssekretär . . . . 891 D, 892 B
Dr. Ehmke, Bundesminister . , 887 B, C, D, Leicht (CDU/CSU) 892 A
888 A, B
Dr. Klepsch (CDU/CSU) . . . . 887 B, C Fragen des Abg. Köster:
Leicht (CDU/CSU) . . . 887 C, 888 A Maßnahmen der Bundesregierung zur
Wehner (SPD) . . . . . . . . 887 D Verwirklichung des Europäischen Ju-
Dr. Czaja (CDU/CSU) 888 B gendwerkes — Durchführung eines
europäischen Jugendkongresses
Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Westphal, Parlamentarischer
Entscheidung des Bundessozialgerichts Staatssekretär . . . 892 B, C, D, 893 A
zur Frage der Berufsunfähigkeitsrente Köster (CDU/CSU) . . . . . . 892 C, D
Rohde, Parlamentarischer
Staatssekretär . . . . 888 C, 889 A, B Fragen des Abg. Jung:
Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 889 A
Internationaler Erfahrungsaustausch
Dr. Götz (CDU/CSU) 889 B über die Bekämpfung von Grippeepi-
demien und Schaffung der wissenschaft-
Frage des Abg. Folger: lichen und finanziellen Voraussetzun-
gen dafür
Maßnahmen der Bundesregierung
gegen den Arbeitskräftehandel Westphal, Parlamentarischer
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär 893 A, B, C, D
Staatssekretär . . . . . . . . 889 C Jung (FDP) . . . . . . . 893 C, D
Bäuerle (SPD) . . . . . . . 893 D
Fragen des Abg. Dr. Czaja:
Fortführung der Frauen-Enquete in be-
zug auf die heimatvertriebenen und Frage des Abg. Burger:
geflüchteten Frauen Ausbildung von Bewerbern für den
Rohde, Parlamentarischer Krankenpflegeberuf nach Vollendung
Staatssekretär 890 A, B des 16. Lebensjahres
Dr. Czaja (CDU/CSU) 890 B Westphal, Parlamentarischer
Staatssekretär 894 A, C
Frage des Abg. Müller (Remscheid) : Burger (CDU/CSU) 894 B
Aufnahme des Besuchs von höheren
Wirtschaftsfachschulen in das Förde--
Frage des Abg. Burger:
rungsprogramm der Bundesanstalt für
Arbeit Neuordnung der hierarchischen Ord-
Rohde, Parlamentarischer nung in den Krankenhäusern
Staatssekretär . . . . . . . 890 C, D
Westphal, Parlamentarischer
Müller (Remscheid) (CDU/CSU) . . 890 D Staatssekretär 894 D
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Frage des Abg. Dr. Riedl (München) :

Vorwürfe gegen die Ärzteschaft im


Zusammenhang mit der letzten Grippe-
welle

Westphal, Parlamentarischer
Staatssekretär . . . . . . . 895 A, B
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) . . 895 B

Fortsetzung der Aussprache über den Be-


richt der Bundesregierung über die Lage
der Nation im gespaltenen Deutschland
(Drucksache VI/223)

Rasner (CDU/CSU)
(Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 B
Schulte (Unna) (SPD)
(Erklärung nach § 36 GO) . . . 895 C
Dr. Schmitt-Vockenhausen,
Vizepräsident (zur GO) . . . 895 C
Franke, Bundesminister 895 D
Strauß (CDU/CSU) . . . . . . 899 A
Brandt, Bundeskanzler . . . 906 D, 924 C
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) . . 909 A
Scheel, Bundesminister 914 B
Borm (FDP) 918 C
Dr. Bach (CDU/CSU) 923 A
von Hassel, Präsident (zur GO) . 924 B
Dr. Dahrendorf (FDP) 925 A

Nächste Sitzung 927 D

Anlage

Liste der beurlaubten Abgeordneten . .


Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 851

23. Sitzung

Bonn, den 15. Januar 1970

Stenographischer Bericht wußtsein und dieser Wille ist die Voraussetzung


dafür, daß wir, ich bin altmodisch genug, es so zu
Beginn: 9.00 Uhr formulieren, eine Politik der Wiedervereinigung der
Deutschen in Frieden und in Freiheit treiben können.
Vizepräsident Dr. Jaeger: Die Sitzung ist (Beifall bei der CDU/CSU.)
eröffnet. Herr Bundeskanzler, halten Sie es bitte für keine
Meine Damen und Herren, auf der Tagesordnung Beckmesserei, wenn ich erst ein Wort zu den Mate-
steht Punkt 4: rialien sage, die Sie Ihrem Bericht beigegeben haben.
Sie haben angekündigt, daß diesem Hohen Hause
Bericht der Bundesregierung über die Lage bald ein Bericht vorgelegt werden wird, der einen
der Nation im gespaltenen Deutschland umfassenden Vergleich der Verhältnisse in der Bun-
— Drucksache VI/223 — desrepublik und der DDR auf den verschiedensten
Lebensbereichen enthalten werde, etwas, was an sich
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- bereits in diesen Bericht hineingehört hätte. Ich will
geordnete Dr. Kiesinger. es daher so stehenlassen. Wir erwarten diesen Be-
richt und werden ihn dann in diesem Hause disku-
Dr. h. C. Kiesinger (CDU/CSU) : Herr Präsident! tieren.
Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie Aber ich muß ein Wort zu dem Kapitel der Mate-
haben in Ihrem gestrigen Bericht zur Lage der Nation rialien sagen, das sich mit der Entwicklung der deut-
gesagt, daß wir historische und politische Perspek- schen Frage befaßt. Es ist nun wirklich ein Ärgernis,
tiven haben müßten, wenn über die Lage der Nation Herr Bundeskanzler, zu lesen, was da steht und was
gesprochen wird. Sie haben recht. Die deutsche da nicht steht.
Frage, um die es wieder einmal, wie so oft, geht, hat (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.)
uns, dieses Volk, und andere mehr als 150 Jahre
lang in wechselnder Gestalt beschäftigt. Sie ist Diese historische Darstellung ist unzulänglich, grob,
geradezu das Leitthema des 19. Jahrhunderts gewe- unvollständig und daher irreführend. Sie wird vor
sen. An ihrem Beginn schrieben Goethe und Schiller allem den zwei Jahrzehnte langen Bemühungen der
in den Xenien: Bundesrepublik Deutschland um eine verantwor-
Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, tungsbewußte und gerechte Lösung der deutschen
vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Frage nicht gerecht.
Menschen euch aus. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
Gegenüber dieser tiefen Skepsis unserer beiden Sie sehen das völlig falsch! — Abg. Rasner:
großen Dichter, der sich andere anschlossen — Her- Das war Absicht! — Abg. Wehner: Nein,
der sprach von der „ungewordenen Nation" — Sie sehen das völlig falsch! Das hat mit Ab
wandte sich der oft überschäumende Enthusiasmus sicht gar nichts zu tun!)
der Generation der Freiheitskriege — „soweit die — Sie können ja nachher erklären,
deutsche Zunge klingt" —, und durch das ganze
(Abg. Wehner: Haben Sie keine Sorge!)
Jahrhundert hindurch wurde gerungen, über 1848
hinweg bis endlich zur Reichsgründung Bismarcks. wie dieser Bericht zu verstehen ist.
Jene kleindeutsche Lösung, die Bismarck erkämpfte,
Aber lassen Sie mich ein paar Beweisstücke lie-
ist es gewesen, jene Gründung des Reiches, die dann
- Volkes fern. Ich denke, in einen solchen Bericht gehörte
schließlich das nationale Bewußtsein unseres
wenigstens die Erwähnung der Berliner Blockade,
geformt hat und jenen staatlichen Willen, den auch
wenigstens die Erwähnung des 17. Juni 1953 hinein,
unsere Generation zu bewahren entschlossen ist.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dieser Wille, dieses gemeinsame Bewußtsein hat
— man darf sagen: erstaunlicherweise — alle Wand- wenn schon der Bau der Mauer mit Recht erwähnt
lungen und Zusammenbrüche seitdem überdauert, worden ist. In diesem Bericht fehlt z. B. auch ein
1918, die böse Zeit nach 1933, 1945, und dieses Be ganz wichtiges, ein grundlegendes Element unserer
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Dr. h. c. Kiesinger
Deutschlandpolitik, nämlich die uns durch unsere diese Entwicklung verlaufen ist, wenn wir heute die
NATO-Verbündeten gegebenen Zusicherungen, Chancen abwägen, die eine solche Entkrampfungs-
unser Bemühen um die Wiedervereinigung der offensive in der Zukunft haben wird.
Deutschen in Frieden und Freiheit zu unterstützen. Und es fehlt — das ist erstaunlich — in dieser
(Beifall bei der CDU/CSU.) Darstellung vor allem die Breschnew Doktrin, die im
-

Zusammenhang mit den Ereignissen in der Tschecho-


Sie mögen vielleicht sagen, daß Sie nur Doku- slowakei verkündet worden ist — gewiß nichts ab-
mente, juristisch-politische Versuche über die Rege- solut Neues, aber härter und deutlicher formuliert
lung der deutschen Frage aufgenommen hätten. Gut, als je zuvor —, jene brutale Forderung, daß kein
dann fehlt aber z. B. der sehr bedeutsame Besuch Staat, der einmal Mitglied der sozialistischen Ge-
Bundeskanzler Adenauers in Moskau im Jahre 1955 meinschaft, des sozialistischen Lagers oder des sozia-
und die dort vollzogene Aufnahme der diploma- listischen Commonwealth, wie immer Sie es nennen,
tischen Beziehungen. geworden sei, die Möglichkeit und das Recht habe,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von dieses Lager je wieder zu verlassen. Und doch ist
der SPD.) doch gerade diese Breschnew-Doktrin für unsere
Überlegungen zur Lösung der deutschen Frage von
Es fehlt in der Darstellung die ganze Geschichte der entscheidendster Bedeutung.
Gewaltverzichtspolitik. Man hat manchmal bei der
Darstellung den Eindruck, als ob mit dieser Gewalt- Wir haben — um mich nicht zulange bei dieser
verzichtspolitik erst jetzt mit dieser Regierung be- Kritik aufzuhalten — auch die Darstellung der sorg-
gonnen worden sei. fältigen Bemühungen der Bundesregierung, einem
wiedervereinigten Deutschland politische Hand-
(Beifall bei der CDU/CSU.)
lungsfreiheit zu verschaffen, vermißt, unsere Be-
Dabei ist es doch eine einzige Linie, die vom Grund- mühungen, die auf Abschaffung der Bindungsklau-
gesetz und seiner Verpflichtung zum Gewaltverzicht seln, die ursprünglich geplant und beschlossen wa-
über den Deutschlandvertrag, die Londoner Schluß- ren, gingen und die erfolgreich waren, so daß in der
akte, die Regierungserklärung Bundeskanzler Ade- Tat der Weg für ein wiedervereinigtes Deutschland
nauers vom 5. Oktober 1954 bis zu jenem Memo- zu einer freien politischen Entscheidung offen war.
randum der Bundesregierung an die Sowjetunion Dies wiederum hat die Wiedervereinigung nicht
vom 2. September 1956 führt, in dem schon damals prinzipiell blockiert.
zusätzlich zu den mit den Westmächten eingegan- Ich weiß, daß Sie nicht der Autor dieser Mate-
genen Verpflichtungen, die ja gerade unsere Bezie rialien sind, und deswegen richtet sich meine Kritik
hungen zum Osten, die Wiedervereinigung und die an jene Ihrer Mitarbeiter, die dieses wenig über-
Grenzen der Bundesrepublik betreffen, der Gewalt- zeugende kompilatorische Werk zusammengestellt
verzicht zusätzlich ausdrücklich der Sowjetunion und haben. Es ist ja auch nicht leicht, eine Geschichte der
dem Osten angeboten worden ist. Ich denke, Sie Bemühungen zur Lösung der deutschen Frage in
werden mir zugeben, daß dieses Glied in der Kette einer so groben Zusammenstellung zu bringen.
nicht hätte fehlen dürfen. Deswegen hätten Sie es doch lieber weggelassen;
Es fehlt z. B. auch — um noch etwas herauszu- hier wäre wahrhaftig weniger oder gar nichts mehr
greifen — jenes Angebot Konrad Adenauers über gewesen.
einen zehnjährigen Burgfrieden mit der Sowjet- (Beifall bei der CDU/CSU.)
union im Sommer 1962 gegenüber dem sowjetrussi- Meine Damen und Herren, es gibt aber auch noch
schen Botschafter. Dieses Angebot enthielt sehr ein Bedenken gegen eine prinzipielle Aussage in
weitgehende Konsequenzen. Es fehlt ferner seine diesen Materialien. Ich meine damit den Satz, der
Erklärung vom Oktober 1962, die lautete: die Bun- lautet: 25 Jahre nach dem Weltkrieg sei festzustel-
desregierung werde über vieles mit sich reden len:
lassen, wenn in der Zone humanere Verhältnisse Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutsch-
einkehrten. Sie haben, Herr Bundeskanzler, dies lands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970
dann allerdings in Ihrem Bericht ohne Zitierung des in zwei Staaten gegliedert.
Autors nachgeholt.
Sie wissen, Herr Bundeskanzler, daß dieser Satz
(Beifall 'bei der CDU/CSU. — Abg. Kiep: viele Leute besorgt gemacht hat, aber auch manche
Wie nennt man so etwas?!) dazu veranlaßt hat — und Sie kennen diese Metho-
Ich glaube, Herr Bundeskanzler, auch die Ent- den genau aus der Erinnerung an das Jahr 1967 —,
wicklung während der Zeit der Großen Koalition das dann noch ein wenig zuzuspitzen. Eine bekannte
wäre es wert gewesen, sorgfältiger dargestellt zu Zeitung, die diese Methode immer wieder versucht,
werden; denn ich glaube, es wäre bitter notwendig, hat einfach das Wörtchen „tatsächlich" weggelassen
zu vergleichen, was aus unseren hohen Vorsätzen und mit großer Schlagzeile geschrieben, daß Deutsch-
-
von der Regierungserklärung des 13. Dezember land in seinen Grenzen von 1970 in zwei Staaten
1966 an, nicht durch unsere Schuld, geworden ist gegliedert sei. Wenn das allerdings der Sinn dieser
durch die Art und Weise, wie die Sowjetunion und Aussage gewesen wäre, dann müßten wir uns auf
wie die Verantwortlichen in der DDR die Schraube das schärfste davon distanzieren. Aber ich hoffe,
ihrer Forderungen von Mal zu Mal fester gezogen Herr Bundeskanzler, Sie werden uns sagen, daß dies
haben in der Abwehr gegenüber unserer Entkramp- nicht der Sinn dieser Formulierung war.
fungsoffensive. Es kann nicht gleichgültig sein, wie (Zuruf von der SPD.)
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Dr. h. c. Kiesinger
— Doch! Es hat in diesem Zusammenhang immer Be- säßen. Aber handelt es sich denn wirklich, wie Sie
deutung, meine Damen und Herren, ob eine Aussage sagen, nur mehr um die Methoden, die nicht mehr
des Bundeskanzlers, der Bundesregierung zur deut- zweckmäßig oder richtig sind? Oder handelt es sich
schen Frage Verwirrung, Konfusion schafft. nicht vielmehr auch um die Zielsetzungen der
(Beifall bei der CDU/CSU.) Deutschlandpolitik?

Das ist ja das, worauf wir seit langem mit Sorgen (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
hinweisen: daß mit immer neuen Formeln und immer Und das, meine Damen und Herren, ist die eigent-
weniger Klarheit immer mehr Konfusion angerichtet liche Frage, die ich an Sie, Herr Bundeskanzler,
wird. richte.
(Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.)
Sie sprechen an einigen Stellen Ihres Berichtes zu
Sie haben, Herr Bundeskanzler, in Ihrem Bericht diesem Problem, aber Sie sagen nirgendwo, warum
gesagt, Sie hätten „Respekt vor jedem bei uns in der die Dinge anders geworden seien und warum sich
Bundesrepublik, der aus seiner echten Sorge Zweifel manches, was gestern und vorgestern richtig war,
anmeldet". Ich habe den Respekt vor jedem, der zur heute nicht mehr zweckmäßig oder richtig sei. Ich
Lösung der deutschen Frage aus echter Sorge andere muß sagen, bei dem Studium dieser Passagen Ihres
Vorschläge macht als diejenigen, die ich für richtig Berichtes bin ich wirklich bedenklich geworden und
halte, und ich denke nicht daran, diesen seines ande- habe nun jene Zweifel anzumelden, Herr Bundes-
ren Konzepts wegen zu verdächtigen und zu verun- kanzler, denen Sie Ihren Respekt nicht versagen
glimpfen, und schon lange nicht daran, das zu tun, wollen.
was Sie so ausgedrückt haben: daß Sie Eiferer nicht
Sie fragen an einer Stelle: Was sind die Ziele,
verstünden, die der Bundesregierung schaden woll-
an denen deutsche Politik orientiert sein soll? Und
ten, auch dann, wenn sie der Bundesrepublik scha-
dann heißt es:
den. Ich hoffe, Herr Bundeskanzler, Sie haben das
nicht in bezug auf uns gemeint. Uns kommt es einzig Die erste Antwort ist die, daß wir die Teile
und allein darauf an, das, was wir versprochen ha- Deutschlands, die heute freiheitlich geordnet
ben, zu tun: Schaden von diesem Volk abzuwenden, sind, freihalten müssen oder, wie man gesagt
wo er ihm droht. hat, daß die Bundesrepublik sich selbst aner-
(Beifall bei der CDU/CSU.) kennen muß.

Wir verdächtigen niemand, wir verunglimpfen nie (Abg. Wehner: Sehr richtig!)
mand. Aber freilich lassen wir uns unseres Konzep Nun, von dieser letzten verfänglichen Passage Herrn
tes wegen, das aus Sorge um diese Nation und ihren Golo Manns abgesehen, stimme ich Ihnen, Herr
Staat und dieses gsepaltene Land entworfen wurde, Bundeskanzler, zu.
auch nicht verleumden und beschimpfen.
Die zweite Antwort, so sagten Sie, Herr Bundes-
Da war von „Profiteuren des Kalten Krieges" die kanzler, ist die, daß wir alle Probleme nur in
Rede. Ich nehme nicht an, daß Sie damit uns gemeint Frieden lösen dürften. Ich stimme Ihnen ganz und
haben. Aber wieder hat eine jener bekannten Zei- gar zu, ich und meine politischen Freunde.
tungen einen Leitartikel mit dem Satz begonnen, die
Profiteure des Kalten Krieges zitterten jetzt ange- Die dritte Antwort ist, daß wir unseren Beitrag
sichts dieser neuen Politik der Bundesregierung und leisten, damit mehr Menschenrechte eingeräumt und
spielten sich schon wieder die Bälle zu. Meine Damen praktiziert werden. Wie sollte ich dem nicht
und Herren, auch das Schimpfwort von den „Kalten zustimmen, da das ja das große Bemühen meiner
Kriegern" ist wieder aus der Mottenkiste geholt Regierung während der Zeit der Großen Koalition
worden. Wo sitzen die Kalten Krieger? Hier in Bonn gewesen ist.
oder in Pankow? Sie haben dann noch an zwei anderen Stellen —
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: ich habe mich darüber gewundert, daß Sie es in so
Mit wem reden Sie denn hier? Ich habe verstreuter Weise getan haben — zu Ihrer politi-
noch keinen Satz über die Bundeskanzler schen Zielsetzung gesprochen. Nachdem Sie dan-
erklärung gehört!) kenswerterweise festgestellt haben, daß wir uns
durchaus mit Ulbricht darin einig sind, daß es zwi-
— Herr Wehner, ich muß das einfach sagen, weil ein
schen unserem System und dem, was drüben „Ord-
Satz des Bundeskanzlers wortwörtlich mit jenem
verleumderischen A rtikel der Zeitung übereinstimmt, nung" geworden sei, keine Mischung, keinen faulen
der von den „Profiteuren des Kalten Krieges" spricht. Kompromiß geben könne, sagen Sie, daß Sie in
Ihrer Regierungserklärung gesagt hätten und nun-
(Unruhe bei der SPD.) mehr unterstreichen wollten, niemand könne uns
Sie sagten, Herr Bundeskanzler, daß man eben das Recht auf Selbstbestimmung, das auch alle an-
verstehen müsse, daß es immer wieder Gebiete gebe, deren Völker hätten, ausreden.
-
auf denen heute bestimmte Methoden nicht mehr Sie sagen, daß die Fragen abschließend nur in
zweckmäßig oder gar falsch seien, die bis gestern einer europäischen Friedensordnung beantwortet
oder vorgestern richtig gewesen sein mögen. Gut, werden könnten. Ich 'stimme dem zu. Vielleicht
wer wollte daran zweifeln, daß wir lernen können, würde ich etwas vorsichtiger formuliert und nicht
ja, mitunter lernen müssen und daß es schlimm wäre, gesagt haben: n u r in einer europäischen Friedens-
wenn wir diese Fähigkeit des Lernens oder Um- ordnung. Aber auch ich bin der Meinung, daß es
lernens aus dem Prozeß der Geschichte nicht be- wahrscheinlich kaum eine andere Möglichkeit gibt,
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Dr. h. c. Kiesinger
als die deutsche Frage im Zuge einer europäischen derer drüben, durch deren Widerstand eine solche
Friedensordnung zu fördern und zu lösen. Politik , allein blockiert werden kann.
Und schließlich sagen Sie: Aufgabe der prak- (Beifall bei der CDU/CSU.)
tischen Politik in den jetzt vor uns liegenden Jahren Sie haben dann die Frage gestellt, wie diese
ist es, die Einheit der Nation, soweit möglich und Ziele durchgesetzt werden können, jene drei
soviel an uns liegt, dadurch zu wahren, daß das Ver- Ziele, die Sie genannt haben, und Sie sagten: nicht
hältnis zwischen den Teilen Deutschlands aus der mehr mit den traditionellen Mitteln des National-
gegenwärtigen Verkrampfung gelöst wird. Das ist staates. Auch hier sind wir mit Ihnen vollständig
ja einer der Kernsätze meines eigenen Regierungs- einverstanden; auch wir glauben, daß in der Zu-
programms und unserer gemeinsamen politischen kunft die Lösung der deutschen Frage isoliert durch
Bemühungen in den vergangenen drei Jahren ge- uns allein ganz unmöglich ist, daß unsere Schultern
wesen. Sie sagen weiter, man müsse über ein gere- dafür wirklich zu schmal sind.
geltes Nebeneinander zu einem Miteinander kom-
men, wobei als Vorbehalt jener Satz zu verstehen Aber dann kommt wieder eine Stelle, wo sich die
ist, daß es keine Mischung, keinen faulen Kompro- Zweifel anmelden. Sie sagten, nur im Rahmen von
miß zwischen uns und „der Ordnung" drüben geben Bündnissen oder Gemeinschaften könne diese Poli-
könne. Dem allen können wir zustimmen. tik geführt werden, die dann schrittweise zur euro-
päischen Friedensordnung führen soll. Dann fahren
Sie sprechen von der Einheit der Nation. Herr Sie abrupt mit folgender Bemerkung fort:
Bundeskanzler! Ich habe versucht, in Ihrem Bericht
einen Passus zu finden, in dem, wenn Sie schon das Es geht also darum, Wirklichkeiten, Realitäten zu
Wort Wiedervereinigung nicht mehr in den Mund erkennen und zu respektieren — dies nicht etwa
nehmen mögen, dann wenigstens gestanden hätte, _ gar, um bestehendes Unrecht resignierend hin-
daß Ihr Ziel auch die Herstellung der nationa- zunehmen, sondern um sehr realitätsbezogen .. .
len und staatlichen Einheit Deutschlands sei. den Grenzen in Europa den Charakter des Tren-
nenden zu nehmen.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, das ist wieder so eine Formu-
Aber eben dieser Satz fehlt. lierung, über die sich die Leute die Köpfe zerbrechen
können. Was heißt das: Wirklichkeiten und Realitä-
In den Zielsetzungen, so könnten Sie vielleicht
ten zu erkennen und zu respektieren? Es heißt
einwenden, sei nur eine Politik der Nahziele enthal-
wenigstens nicht mehr: zu „respektieren und anzuer-
ten. Das ist unmöglich in einem Bericht zur Lage der
Nation, und so wie damals von einem sozialdemo- kennen". Wir meinen, Herr Bundeskanzler, daß das
viel einfacher zu sagen ist, nämlich so, daß wir die
kratischen Kollegen der Antrag begründet worden
Wirklichkeit sehen müssen, wie sie ist, in ihrer gan-
ist, daß man jährlich einen Bericht zur Lage der
Nation geben solle, und womit er die Forderung zen Unerbittlichkeit, und daß wir danach unsere
Politik einrichten. Wir richten mit solchen Formu-
nach einem solchen Bericht gerechtfertigt hat, Herr
lierungen nur neue Konfusion an.
Bundeskanzler, so sollte es auch weiterhin bleiben.
Denn in jener Begründung des Herrn Abgeordneten Wie weit, Herr Bundeskanzler, ist das alles weg
Dr. Seume steht, daß dieser Bericht um der Förde- von jener gemeinsamen Resolution des Deutschen
rung der nationalen und staatlichen Einheit willen Bundestages vom 26. September 1968!
gefordert würde. Was hat sich eigentlich geändert?
Der Deutsche Bundestag wird zu keiner Zeit und
(Beifall bei der CDU/CSU.) unter keinen Umständen davon abgehen, daß
das Selbstbestimmungsrecht der Völker zentra-
Was hat sich geändert? Warum nehmen wir das ler Grundsatz der internationalen Politik sein
heute nicht mehr in den Mund? muß und durch keine militärische Macht gebeugt
Ich weiß genau, daß wir alle darin übereinstim- werden darf. Die USA, Großbritannien, Frank-
men, daß die Wiedervereinigung nicht um die näch- reich und die Bundesrepublik Deutschland haben
ste Ecke zu finden ist. Wer von uns hat in diesen sich im Deutschlandvertrag völkerrechtlich bin-
vergangenen Jahren in unserem Volk darüber Illu- dend verpflichtet, bis zum Abschluß einer frie-
sionen geweckt? Wer hat eine Augenwischerei be- densvertraglichen Regelung zusammenzuwirken,
trieben, daß es zu kurzfristigen Erfolgen kommen um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel
werde und müsse? Ich bin nicht müde geworden — zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutsch-
und meine Freunde haben das getragen und unter- land, das eine freiheitliche demokratische Ver-
stützt —, zu sagen, daß es ein unendlich langer und fassung besitzt und in die Gemeinschaft der
mühseliger Weg sein würde, den wir da beschrit- europäischen Völker eingebettet ist. Die Völker
ten, und ich habe, wie Sie, Herr Bundeskanzler, jetzt Europas werden einen dauerhaften und gerech-
von der Gefahr des Scheiterns gesprochen haben, ten Frieden nicht finden, solange unserem Volk
in meiner Rede zum 17. Juni damals gesagt: Jawohl, die Teilung aufgezwungen bleibt.
diese Politik verlangt Mut, sie hat utopische Züge;
aber welche große Politik hätte anders als so be- Und dann jene Ziffer, die die FDP nicht unterstützte:
gonnen? Ich habe hinzugesetzt, daß diese Politik das Unsere Verbündeten und die ganz überwie-
Risiko des Scheiterns in sich trage. Das ist wahr. gende Mehrheit der Völker haben bekundet,
Aber dann muß dieses Scheitern nicht unser Schei- daß sie die Bundesregierung als die einzige
tern sein, meine Damen und Herren, sondern das deutsche Regierung ansehen, die frei und recht-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 855
Dr. h. c. Kiesinger
mäßig gebildet ist. Sie spricht auch für jene, Sie sprachen auch von jenem Gebilde, das sich zu
denen mitzuwirken bisher versagt ist. Die An- Unrecht die Deutsche Demokratische Republik
erkennung des anderen Teils Deutschlands als nenne. Ich will es mir versagen, all die guten, zu-
Ausland oder als zweiter souveräner Staat stimmungswürdigen, beherzigenswerten Ausführun-
deutscher Nation kommt nicht in Betracht. gen in Ihrem Buch jetzt hier in aller Breite zu wie-
(Beifall bei der CDU/CSU.) derholen; denn ich weiß, Sie werden mir entgegen-
halten: Ich habe gelernt, auch ich unterwerfe mich
Herr Bundeskanzler, was hat sich geändert? Wo? der Einsicht, daß das, was gestern oder vorgestern
Warum glauben Sie, daß es notwendig war, diese richtig gewesen sein mag, heute .nicht mehr richtig
gemeinsame Resolution, ihre Zielsetzung zu verlas- ist. Aber dann, Herr Bundeskanzler, erwarten wir
sen und zu jenen Formulierungen die Zuflucht zu eine Begründung dafür!
nehmen, die Sie in Ihrem gestrigen Bericht ge- (Anhaltender lebhafter Beifall bei der
braucht haben? Nein, wir sind und bleiben der CDU/CSU.)
Überzeugung, daß die Bewahrung und Herstellung
der nationalen und staatlichen Einheit Deutschlands Diese Begründung sind Sie uns schuldig geblieben.
unser Ziel bleiben muß und daß wir davon nicht Auch wenn Ihr Buch aus dem Jahre 1963 stammt,
abgehen dürfen. so ist doch unsere gemeinsame Resolution von 1968
in der Sache von dieser Ihrer frischeren Aussage vor
(Beifall bei der CDU/CSU.) den Hörern der Harvard-Universität nicht verschie-
Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, ob Sie den.
es mit Absicht so formuliert haben: seit mehr als Aber, Herr Bundeskanzler, wenn Sie schon von
20 Jahren — seit mehr als 20 Jahren! — bestünden der Existenz zweier deutscher Staaten in Deutsch-
auf deutschem Boden zwei staatliche und gesell- land, auf deutschem Boden ausgehen — Sie wissen,
schaftliche Ordnungen. Herr Bundeskanzler, haben daß wir diese These ablehnen —, wenn Sie schon
Sie das wirklich ernst gemeint? Denn an einer ande- davon ausgehen, daß es zwei solche deutsche Staa-
ren Stelle haben Sie ja dargelegt, wie aus den west- ten gibt, die unter sich nicht Ausland seien — jene
lichen Besatzungsgebieten die Bundesrepublik als merkwürdige magische Formel —, und daß daher
staatliche Identität hervorgewachsen sei und daß von uns auch keine völkerrechtliche Anerkennung
sich drüben im Osten ein paralleler Prozeß voll- der DDR zu erwarten sei, warum fehlt dann in Ihrem
zogen habe. gestrigen Bericht zur Lage der Nation wieder wie in
Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich der der Regierungserklärung der Hinweis auf die Ab-
Versuchung nicht widerstehen kann, in diesem Zu- wehr der Anerkennung der DDR durch dritte Staa-
sammenhang so, wie Sie es selbst gestern getan ten? Ich frage Sie: ist das ein Zufall, ist es Absicht,
haben, aus Ihrer Rede an der Harvard-Universität oder bleibt es bei Ihrer Schlußbemerkung, die Sie
zu zitieren. Nebenbei: mir war die Lektüre dieses nach unserer Intervention in der Debatte zur Regie-
Buches — Sie können es sich denken — ein Genuß, rungserklärung abgegeben hatten, daß Sie sich
denn ich fand mich auf weiten Gebieten in voller nach wie vor zu der Resolution der Regierung der
Übereinstimmung mit Ihnen. Ich bedauere nur, daß Großen Koalition vom 30. Mai 1969 bekennen, die
Sie dieses Eiland längst wieder verlassen zu haben den Versuch unternommen hat, derartige Anerken-
scheinen, um nach neuen Ufern zu streben, wo Sie, nungen durch Drittstaaten als unfreundliche Akte
wie ich fürchte, von dichten Dschungeln empfangen abzuwehren? Gerade wenn Sie von der Existenz
werden. zweier deutscher Staaten ausgehen, die für uns
nicht Ausland seien, müssen Sie doch diesen Schutz-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) wall errichten; sonst stehen Sie eines Tages vor dem
Nein, ich habe mich über die Übereinstimmung in Tatbestand, daß die DDR von den übrigen Staaten
vielen Formulierungen wirklich gefreut. Sie spra- der Welt anerkannt ist und daß Sie allein der DDR
chen vom „Zwang zum Wagnis". Das ist wahr. Ich gegenüber die Forderung erheben: du bist für uns
habe in den letzten drei Jahren auf meine Weise nicht Ausland, wir müssen besondere Beziehungen
auch davon gesprochen. Aber dann sagten Sie dort untereinander vereinbaren, und daß die DDR Ihnen
Ihren amerikanischen Zuhörern: schnöde die Tür vor der Nase zuschlagen wird. Und
dann ist der Scherbenhaufen vollständig.
Inzwischen steht die Politik des freien Deutsch-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
land vor der Notwendigkeit, sich jeder Anma-
ßung und Aufwertung des Ulbrichtschen quasi- Herr Bundeskanzler, Sie wollen Gespräche mit der
staatlichen Gebildes DDR führen. Gut, wir selber — ich selber — haben
(Hört! Hört und Beifall bei der CDU/CSU) ja solche Gespräche angeboten. Der Vorsitzende der
CDU/CSU-Fraktion hat Sie noch jüngst aufgefordert,
— meine Herren von der FDP — Vorschläge an die Adresse der Machthaber in der
zu widersetzen. Deutschen Demokratischen Republik zu machen.
Was soll aber Gegenstand dieser Gespräche sein?
Welch schöne Rechtfertigung meiner eigenen Formu- Ich will jetzt nicht von den Ebenen sprechen, auch
lierungen in diesem Hohen Hause, meine Damen nicht von der Gefahr, die sich ergibt, wenn man mit
und Herren! demjenigen spricht und verhandelt und gar zu Ab-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — schlüssen kommt, der durch die Verfassung der DDR
Zurufe von der SPD.) zur Ratifizierung solcher Verträge legitimiert ist. Es
856 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. h. c. Kiesinger
ist immerhin ein Unterschied, ob man mit Herrn — Sie erinnern sich an manche Auseinandersetzun
Stoph oder Herrn Ulbricht spricht. Jedenfalls besteht gen — unter meiner Regierung eingenommen wird,
hier ein Problem, das einem bewußt sein muß. d. h. daß der Forderung der Sowjetunion auf das
nachdrücklichste widerstanden wird, mit den Ver-
Wie sollen diese Gespräche nun aussehen? An handlungen über den Gewaltverzicht andere poli-
einer Stelle Ihres Berichtes, nachdem Sie ausgeführt tische Fragen, nämlich jene großen Streitfragen, die
hatten: nicht Ausland, also keine völkerrechtliche zwischen uns stehen, verbunden werden? Denn das
Anerkennung, haben Sie gesagt, daß Sie sich bei ist ja die Absicht der Sowjetunion; ihr kommt es
diesen Gesprächen von folgendem Grundsatz leiten nicht auf Gewaltverzicht an, sondern ihr kommt es
lassen: darauf an, uns in die Zange zu nehmen, um ihren
Im übrigen müssen die allgemein anerkannten politischen Willen in der deutschen Frage durchzu-
Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts gel- setzen.
ten, insbesondere der Ausschluß jeglicher Dis- (Beifall bei der CDU/CSU.)
kriminierung, die Respektierung der territor- Sie selbst haben während der Regierung der Großen
rialen Integrität, die Verpflichtung zur fried- Koalition dieses Prinzip klar und eindeutig dar-
lichen Lösung aller Streitfragen und zur Respek- gelegt. Ich habe es selbst zu mehreren Malen getan.
tierung der beiderseitigen Grenzen. Ich bitte Sie, Herr Bundeskanzler, bei allem Ver-
Herr Bundeskanzler, ich frage Sie — und das ist ständnis für die Notwendigkeit der Vertraulichkeit
eine sehr ernste Frage —: Was verstehen Sie unter der Verhandlungen, uns doch wenigtens diese Ge-
den „allgemein anerkannten Prinzipien des zwi- wißheit zu geben, daß Sie von dieser gemeinsamen
schenstaatlichen Rechtes"? Wenn die DDR für uns Basis nicht abgehen werden und daß Sie dabei
kein Völkerrechtssubjekt ist, kann es in unseren bleiben, daß es unzweckmäßig und — das setzen wir
Beziehungen untereinander kein zwischenstaatliches hinzu — gefährlich wäre, wenn die Verhandlungen
Recht geben. über den Gewaltverzicht mit jenem unglaublichen
(Beifall bei der CDU/CSU.) Katalog von Zumutungen und Forderungen belastet
würden, die die Sowjetunion in ihren Papieren an
Wiederum stehen wir vor der gefährlichen Tatsache,
uns gestellt hat. Ich hoffe, daß Sie uns wenigstens
daß eine neue Formel neue Verwirrung, neue Miß-
insofern eine beruhigende Antwort geben können.
verständnisse, neue Fehlinterpretationen und neue
Gefahren für die deutsche Sache heraufbeschwören Und weiter, Herr Bundeskanzler: Bleibt es bei der
kann. Wir bleiben dabei, es einfacher, klipp und klaren Haltung, die die Bundesregierung eingenom-
klar zu sagen, daß es — Gott sei es geklagt — in der men hat im Zusammenhang mit dem Gewaltverzicht
deutschen Frage unvereinbare, gegensätzliche Auf und den bekannten Art. 53 und 107 der Charta der
fassungen hüben und drüben gibt und daß gerade Vereinten Nationen? Wir haben damals in unserer
deshalb, weil es sie gibt, die Politik des Gewaltver- Antwort gesagt:
zichts für uns in der Tat der Kern unserer Friedens- Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland
politik sein muß. fragt sich, , was die sowjetische Seite mit dem
(Beifall bei der CDU/CSU.) Hinweis bezweckt, daß nach sowjetischer Auf-
fassung die Art. 53 Ziffern 1 und 107 der Charta
Hier sind wir uns einig. Ich erwähnte, daß diese der Vereinten Nationen noch heute Zwangs-
Politik des Gewaltverzichts seit langem angelegt ist, maßnahmen gegen einen ehemaligen Feindstaat
seit langem von den Regierungen der Bundesrepu- zur Durchsetzung der gemeinsamen Kriegsziele
blik geübt worden ist und auch dem Osten ausdrück- sanktionieren sollen.
lich angeboten ist, z. B. auch in jener Friedensnote
der Regierung Erhard, die in der historischen Dar- Und wir haben sehr entschieden gesagt:
stellung der Materialien leider auch fehlt. Diese Wenn die Regierung der UdSSR mit der Bun-
Politik des Gewaltverzichts — wir stimmen über- desregierung in dem Wunsche übereinstimmt,
ein — soll die Grundlage für eine Verbesserung der die Anwendung von Gewalt oder die Drohung
Beziehungen zu allen osteuropäischen Staaten sein. mit Gewalt aus den gegenseitigen Beziehungen
Schon wieder aber kommt der Zweifel, ein sehr auszuschließen, dann würde es dem Sinn und
schwerer Zweifel, eine sehr schwere Sorge. Darf ich Zweck einer solchen Vereinbarung wider-
in Ihre Erinnerung rufen, was Sie dazu gesagt sprechen, wenn sich die sowjetische Regierung
haben: durch Hinweis auf Bestimmungen der Satzung
der Vereinten Nationen die Anwendung von
Da das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in Gewalt gegenüber zahlreichen friedlichen euro-
absehbarer Zeit nicht auf einen Friedensvertrag päischen Staaten einschließlich der Bundesrepu-
hoffen kann, wird der Gewaltverzicht — er kann blik Deutschland dennoch ausdrücklich vor-
es zumindest werden — die Basis für die Rege- behält. Ein solcher Vorbehalt würde den Ge-
lung der einzelnen heute lösbaren politischen waltverzicht einseitig jeder praktischen Bedeu-
Fragen mit den verschiedenen Staaten - Ost- tung entkleiden.
europas.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Herr Bundeskanzler, gut: der Gewaltverzicht als
Herr Bundeskanzler, der Zweifel, die Sorge, die
Basis.
Frage: Bleibt es bei dieser Auffassung? Werden Sie
Erste Frage: Bleibt es dabei, daß in den Verhand- sie in den Verhandlungen mit , der Sowjetunion mit
lungen mit der Sowjetunion dieselbe Haltung wie demselben Nachdruck vertreten?
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 857
Dr. h. c. Kiesinger
Sie haben in Ihrem Bericht zur Lage der Nation Denn hier würde die tiefste Kluft zwischen uns auf-
eine Darstellung des angeblichen Parallelismus der reißen müssen, die wir doch eine gemeinsame
Entwicklung der, wie Sie sagen, beiden deutschen Deutschlandpolitik wollen, die wir doch wollen
Staaten gegeben. Ich glaube, das ist schlechthin un- (Zuruf des Abg. Wehner)
zulässig. Sie sprechen davon, daß beide „Partner"
seien, Partner der ihnen zugeordneten Supermacht. — jawohl, Herr Wehner —,

Wir sind Partner, freie Partner im Atlantischen (Abg. Wehner: Bedauerlich!)


Bündnis, und Sie selbst haben dafür zu verschie-
denen Zeiten überzeugende Formulierungen ge- daß Ihre Bemühungen um die Lösung der deutschen
funden. Frage gelingen mögen. Aber dann müssen Sie mit
uns als Ziel setzen
Die DDR — ich sage das nicht, um zu hetzen, ( Abg. Wehner: „Dann müssen Sie", jawohl!)
.

meine Damen und Herren — ist kein Partner ihrer


Supermacht. Die DDR ist der Hegemonialgewalt, - dann müssen Sie, jawohl, wenn Sie diese
wenn nicht der Herrschaftsgewalt der Sowjetunion Kluft — —
unterworfen und hat sie angenommen. Sie ist — ich (Abg. Wehner: Zu Befehl!)
muß das Wort in den Mund nehmen — kein Partner,
— Was heißt „Auf Befehl" ?
sondern ein Satellit.
(Abg. Wehner: „Zu Befehl" habe ich gesagt!)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
— Nein, nicht „Zu Befehl", sondern wenn Sie un-
Was anders sollte denn die Annahme der Breschnew sere — Herr Wehner, je unsicherer Sie sich zu
Doktrin durch die DDR bedeuten, wenn sie selbst fühlen pflegen, desto mehr fangen Sie an zu
den Hegemonial- oder Herrschaftsanspruch der schreien. Bitte, legen Sie diese ungute Manier ab.
Sowjetunion dazu nutzt, um nicht nur zuzustimmen, (Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe
daß kein sozialistisches Land, das einmal im kom- bei der SPD.)
munistischen Lager gewesen sei, dieses mehr ver-
lassen dürfe? Wie will sie eigenständige Politik Ich schreie Sie auch nicht an, und es bleibt dabei,
machen, wie will sie uns glaubhaft machen, daß es was ich gesagt habe — —
ihr wirklich möglich sei, eine eigene Politik der (Lachen bei der SPD.)
Wiedervereinigung zu treiben, es sei denn, eine
Politik der Wiedervereinigung, so wie sie sie ja - Ja, ich schreie Sie auch nicht an, und ich habe
auch immer wieder verkündet hat, die darauf hin- Sie nie angeschrien, — Sie desto öfter in tempera-
ausläuft, ganz Deutschland zu einem kommunisti- mentvollen Augenblicken.
schen Staatswesen zu machen? Dann allerdings wäre (Heiterkeit und Unruhe.)
sie trotz der Breschnew-Doktrin oder eben wegen
der Breschnew-Doktrin dazu imstande. Ich wiederhole: so wie ich Respekt fordere für
unsere Konzeption, so habe ich auch Respekt für
Sie hat diese Doktrin ja nicht nur anerkannt, eine andere. Aber Sie müssen mir schon erlauben,
sondern sie hat sie — und wir alle haben uns als unsere Sorge anzumelden und zu sagen — und ich
Deutsche deswegen geschämt — bei den Vorgängen bin überzeugt, daß alle meine politischen Freunde
in der Tschechoslowakei praktiziert. Sie hat trotz mir zustimmen; ich sage es als Vorsitzender der
des Verbots, ihre Truppen gegen den Frieden eines CDU, ich sage es als Mitglied dieser größten Frak-
anderen Volkes einzusetzen — Art. 8 der DDR- tion des Deutschen Bundestages —: wenn Sie wol-
Verfassung —, daran teilgenommen. Das „Neue len, daß es in Zukunft eine gemeinsame Deutsch-
Deutschland" hatte den traurigen Ruhm, in diesem landpolitik gibt, dann müssen Sie als Ihr Ziel nicht
Zusammenhang von „fortschrittlicher Gewaltanwen- nur die Bewahrung der nationalen, sondern die Er-
dung" zu sprechen. reichung der staatlichen Einheit der deutschen Na-
tion setzen.
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Meine Damen und Herren, dies ist eine schlimme Es ist, Herr Bundeskanzler — um auf den Gewalt-
Sache, und ich finde, wir sollten eine solche Paral- verzicht zurückzukommen —, noch eine Frage zu
lele nicht zu ziehen versuchen. Wir kommen sonst stellen. Die eine galt der Sorge: bleibt es dabei,
aufs neue in das Gestrüpp schwerer Mißverständ- daß nur über den Gewaltverzicht verhandelt wird
nisse hinein und erwecken bei unseren Freunden und daß die Auffassung der Sowjetunion zur Charta
nur die Vorstellung, daß wir uns nun mit der Exi- der Vereinten Nationen abgewiesen wird? Das an-
stenz zweier deutscher Staaten abgefunden haben dere bezieht sich auf jene Bemerkung in Ihrem Be-
und daß sich in dieser Wirklichkeit nur -noch die richt zur Lage der Nation, die im Zusammenhang
Einheit der Nation, aber nicht mehr die staatliche mit Ihrer Bemerkung — die ja richtig ist — steht,
Einheit erreichen läßt. daß , das deutsche Volk in seiner Gesamtheit in ab-
sehbarer Zeit nicht auf einen Friedensvertrag hof-
Herr Bundeskanzler, sagen Sie uns klar, was Sie fen dürfe.
zu diesem Punkt meinen!
Nun kommt wieder der Zweifel, die Sorge, die
(Beifall bei der CDU/CSU.) Frage. Sie fahren fort: Deswegen, weil das so ist,
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Dr. h. c. Kiesinger
wird der Gewaltverzicht, kann er zumindest „die geben. Und erlauben Sie mir, daß ich sage: ich
Basis für die Regelung der einzelnen heute lösbaren nehme Sie in Schutz gegen dieses törichte und ge-
politischen Fragen mit verschiedenen Staaten Ost- fährliche Wort von einem „neuen Rapallo", das da
europas" abgeben. — Herr Bundeskanzler, zum Bei- und dort aufgekommen ist.
spiel die Frage der Oder-Neiße-Linie? Herr Bundes- (Abg. Wehner: Aber nicht gegen das Wort
kanzler, der Gewaltverzicht kann nicht eine Basis „Ausverkauf"! Davon habe ich noch nichts
für die Lösung der Frage der Oder-Neiße-Linie sein. gehört!)
Diese Frage kann nur in einem Friedensvertrag ge-
löst werden. — Ich habe, Herr Kollege Wehner, das Wort „Aus-
(Beifall bei der CDU/CSU.) verkauf" nie in den Mund genommen.
(Abg. Wehner: Nein, nein, von Inschutz
Das ist auch eine Frage an Sie, und wir hoffen, daß
nehmen war die Rede!)
Sie sie zu unserer Beruhigung beantworten werden.
— Ja; an dieser Stelle ist es am Platz — und warum
Nur einmal noch lassen Sie mich Sie aus Ihrer widersprechen Sie mir? —, diese Regierung, diesen
Harvard-Rede zitieren, wo Sie über unser Verhältnis Bundeskanzler in Schutz zu nehmen gegen die Be-
zu Polen sprechen. Darüber ist viel Gutes gesagt, hauptung, daß er eine Rapallo-Politik, einen Allein-
auch vieles von dem, was wir in der Regierungs- gang mit der Sowjetunion betreibe in einer Zeit, wo
erklärung und später gemeinsam getragen haben. es fast gespenstisch anmutet angesichts der inzwi-
Aber dann sagen Sie auch: „Zunächst ist nicht ein- schen vollzogenen geschichtlichen Veränderungen.
zusehen, warum die Bundesrepublik hinter den Damals waren die Sowjetunion und das Deutsche
Standpunkt der Siegermächte aus dem Jahre 1945 Reich beide Parias, schwache Staaten, die sich zu-
zurückgehen soll, sammenfanden; zwar falsch genug, aber trotzdem ist
(Beifall bei der CDU/CSU) es geschehen.
Herr Bundeskanzler, Sie dürfen unserer Unter-
der die Grenzziehung einem Friedensvertrag vor- stützung in dieser Sache gewiß sein. Nur auch hier
behalten hat." die Bitte: Vermeiden Sie es, den Böswilligen — es
(Sehr gut! bei der CDU/CSU.) sind meist Böswillige, die das behauptet haben — in
der Welt einen Vorwand, ein Stichwort zu geben
Nun, wir haben uns gemeinsam vorgetastet, schon dadurch, daß auch zu diesem Punkt keine klaren
in der Regierungserklärung und später, und ich Aussagen gemacht werden. Sie haben es nunmehr
nehme nichts, gar nichts von dem zurück, was wir getan, Sie haben gesagt: Es gibt keinen Gegensatz
gemeinsam, was ich selbst zum Verhältnis mit Polen zwischen West- und Ostpolitik. Helmut Schmidt hat
gesagt habe: daß wir Verständnis dafür haben, daß es, ich glaube in Paris oder in Brüssel, mit aller
dieses Land in gesicherten Grenzen leben will, daß wünschenswerten Klarheit gesagt, daß wir unsere
nicht ein neues Vertreibungsunrecht als Plan in un- Ostpolitik nur von der Basis eines gesicherten und
seren Köpfen spukt, daß zwar die Frage der Oder sichernden Bündnisses aus machen dürfen und kön-
Neiße-Linie erst in einem Friedensvertrag gelöst nen; und Sie sagen: „Wir sind keine Wanderer zwi-
werden kann, daß man aber sehr wohl versuchen schen beiden Welten." Hier finden Sie uns mit sich
kann, sich vorher gemeinsam an einen Tisch zu ganz und gar einig.
setzen, um miteinander das zu besprechen, was ich
als Ziel formuliert habe, nämlich eine Lösung zu (Abg. Dr. Schäfer: Es wäre gut, wenn Sie
finden, die von beiden Völkern angenommen wer- noch auf den Zwischenruf eingingen!)
den kann und die auch von späteren Generationen — Zu dem Wort „Ausverkauf"? Herr Kollege Schä-
— denn unser Vaterland ist auch das Land unserer fer, wir alle haben in unseren Reihen verschiedene
Söhne — akzeptiert werden kann. Temperamente.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Zurufe von der SPD.)
Ich weiß nicht, wer das Wort vom „Ausverkauf"
Ich habe mich zu Gesprächen mit der polnischen Re- gesagt hat.
gierung bereit erklärt, auch zu Gesprächen über
andere Fragen, wirtschaftliche Beziehungen usw. Ich (Lachen bei der SPD. — Zuruf von der SPD:
will, wenn ich auf diesen Punkt zu sprechen komme, Da brauchen Sie nur den „Bayernkurier" zu
nicht in den Geruch eines Kalten Kriegers Polen lesen!)
gegenüber kommen. Aber ich muß darauf beste-
Ich pflege nicht einmal den „Bayernkurier" regel-
hen — aus vielen Gründen darauf bestehen —, daß
mäßig zu lesen,
es keinen Ersatz gibt für die endgültige Lösung
dieser Frage in einem Friedensvertrag, der dann (Beifall und Zuruf: „Bravo" ! von der SPD)
von den Repräsentanten des wahren Souveräns,
Herr Kollege Wehner, des ganzen deutschen - Vol- was mir mein Freund Franz Josef Strauß gewiß nicht
kes, abgeschlossen werden wird. übelnehmen wird.
(Abg. Dr. Schmid [Frankfurt] meldet sich zu
Herr Bundeskanzler, Sie sprachen davon, daß die einer Zwischenfrage.)
Außenpolitik in sich geschlossen sein müsse. Natür-
lich; dem ist ganz und gar zuzustimmen. Es darf — Herr Kollege Schmid, ich beantworte gleich Ihre
keinen Gegensatz zwischen West- und Ostpolitik Frage. — Wenn hier von „Ausverkauf" die Rede ist,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 859
Dr. h. c. Kiesinger
dann braucht das durchaus keine böswillige Unter- diese Art von Formulierungen gibt es —, die nur
stellung zu sein. Störungen, Verwirrungen und Schwierigkeiten an-
(Lebhafter Widerspruch bei der SPD. — richten können. Aber das ist, ohne daß ich jeman-
Abg. Wehner: Unglaublich ist das! Das ist den besonderen im Auge habe, an uns alle als
gelernter Propagandastil!) Mahnung gerichtet.
Es kann auch bedeuten, Herr Kollege Wehner: Herr Bundeskanzler, Sie haben wohl selber ein
bißchen das Gefühl gehabt — denken Sie an Artikel,
(Abg. Wehner: Nein, das ist ja unglaublich!) die in gewissen ausländischen Zeitungen erschienen
wenn eine Regierung darauf verzichtete, die natio- sind, an gewisse Reaktionen in der französischen
nale und staatliche Einheit zu erstreben, was wäre Presse —, daß eben doch diese Regierung durch
es anderes als eine schreckliche Preisgabe unserer einen — sagen wir es milde — zu großen Schwung
bisherigen Positionen?! den Eindruck erweckt hat, als ob nun neue, unge-
heuer revolutionäre Dinge auf dem Gebiet der
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Beziehungen zum Osten zu erwarten seien, und des-
wegen haben Sie sich vielleicht bewogen gesehen,
Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Abgeordneter zu sagen, wer die Aktivitäten dieser Regierung in
Dr. Schmid zu einer Zwischenfrage. ihren ersten Wochen und Monaten beobachtet habe,
habe doch bemerken müssen, daß sie viel aktiver
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Herr Bundes- nach Westen als nach Osten gewesen sei. Herr
kanzler, — — Bundeskanzler, das ist, soweit es sich um politische
(Heiterkeit) Aktionen und um die Mühsal der täglichen Arbeit
handelt, wahr, und ich finde, so sollte es auch
Herr Kollege Kiesinger, — entschuldigen Sie bitte.
bleiben. Ich bin wahrhaftig nicht der Meinung, daß
wir nach Osten nun nichts mehr tun sollten. Säße
Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Ich freue mich, ich heute wieder an Ihrer Stelle,
daß noch — —
(Zurufe von der SPD)
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Es war nicht ein- hätte die FDP nicht vorgezogen, statt sich mit der
mal ironisch gemeint. stärksten politischen Gruppe dieses Landes mit der
Herr Kollege Kiesinger, Sie sprachen vorhin mit zweitstärksten zu verbinden nach ihrer vernich-
Recht davon — es hat mich gefreut, daß Sie dieser tenden Niederlage — —
Meinung sind —, daß es in den verschiedenen Par- (Abg. Wehner: Schnickschnack!)
teien verschiedene Temperamente gebe. Wir können
— Das ist kein Schnickschnack, Herr Wehner; das
annehmen, sie seien etwa zu gleichen Teilen ge-
ist die geschichtliche Wahrheit,
streut. Zum Problem Temperament möchte ich Sie
in aller Kürze fragen: Halten Sie den Unterschied (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des
von Leidenschaft und Niedertracht für eine Frage Abg. Wehner)
des Temperaments? und dieser „Schnickschnack" wird Ihnen im Laufe
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu der kommenden Jahre noch viel zu schaffen machen.
rufe von der Mitte.) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Ich sage es Ihnen voraus.
Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Verehrter Herr
Kollege Carlo Schmid, ich freue mich, daß der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU. — Erneuter
deskanzler bei Ihnen noch nachwirkt. Zuruf des Abg. Wehner.)
(Heiterkeit.) Es sollte so bleiben, meine Damen und Herren. Das
heißt, im Westen haben wir große reale Chancen.
So hätten Sie nicht fragen sollen. Ich habe soeben Wir haben sie immer gemeinsam wahrgenommen, wir
darzulegen versucht, worum es dabei geht, und ich
standen in der Politik zum Westen hin Schulter an
glaube, daß ich nunmehr denjenigen, der dieses
Schulter, und Sie können das auch mit uns, mit der
Wort gebraucht hat, gegen den Vorwurf in Schutz
Opposition, in Zukunft so erwarten. Wir werden —
nehmen muß, daß seine Äußerung in niederträch-
und ich hätte es getan, säße ich an Ihrer Stelle —
tiger Gesinnung erfolgt sei. Sie selbstverständlich ermutigen, eine weitere
(Beifall bei der CDU/CSU.) Offensive der Entkrampfung nach Osten, eine wei-
Mir selber — Sie wissen es — liegt es nicht, hemds- tere Offensive zur Herbeiführung einer euro-
ärmelig zu debattieren. päischen Friedensordnung zu unternehmen. Wir
werden Sie dazu ermutigen, einer europäischen
(Abg. Dr. Stoltenberg: Im Gegensatz zu Friedensordnung, in der aber nicht nur die natio-
-
Herrn Wehner!) nale Einheit, sondern die nationale und staatliche
Aber es gibt ja auch in Ihren Bänken einige, die Einheit der Deutschen gewonnen werden soll, wenn
einen anderen Stil vorziehen, und ich sage Ihnen auch nicht mehr im traditionellen Sinne. Wir sehen
ganz offen: ich würde es auch um der gemeinsamen ja unsere Zukunft als Staat eingegliedert in über-
deutschen Politik willen begrüßen, wenn wir uns greifende gemeinschaftliche Zusammenhänge, vor
hüben wie drüben möglichst von Emotionen frei- allem in den Zusammenhang der Europäischen Ge-
hielten ebenso wie von Formulierungen — auch meinschaft.
860 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. h. c. Kiesinger
Wir haben Sie aufgefordert, sich mit Vorschlägen närer Bestrebungen oder wie immer sie in den wech-
an Herrn Ulbricht zu wenden. Wir sind bereit, Sie selnden Taktiken in der Verfolgung dieses Ziels es
zu unterstützen. Welche Vorschläge können es sein? auch nennen mögen.
Vorschläge, auf die jene Formel Konrad Adenauers Geben wir diesen Stimmen nicht nach! Wir
zielt, daß wir über vieles mit uns reden lassen wer- haben diese Frage auf unserem Gewissen, wir
den, wenn die Verhältnisse in der Zone humaner müssen sie beantworten, und zwar mit Hilfe unserer
werden. Zu diesem Wort bekennen auch wir uns; Freunde und Verbündeten und mit dem Vertrauen
denn wir gestehen auch, daß uns die Freiheit unse- der übrigen Welt. Eben deswegen bleiben wir dabei,
rer Landsleute in der Zone und ihr menschenwürdi- daß wir kein I-Tüpfelchen von der Politik zurück-
ges Leben wichtiger sind als die bloße mechanische nehmen, die wir in den letzten drei Jahren geführt
Zusammenfügung der beiden getrennten . Teile haben, von der offensiven Friedenspolitik nach
Deutschlands. Osten, aber einer Politik, die weiß, welche Gefahren
(Beifall bei der CDU/CSU.) auf diesem Wege liegen, und die versucht, diese
Im übrigen handelt es sich auch um gar keine Alter- Gefahren zu vermeiden.
native; denn wir wissen ja, wenn unsere Landsleute Goethe und Schiller haben unrecht gehabt. Wir
drüben die Freiheit hätten, würden sie, soweit die haben uns zur Nation gebildet. Wir bewahren diese
politische Weltlage dies zuläßt, ihren Weg zu uns Nation, indem wir künftig die Einheit des Staates
finden. Ich muß immer wieder mit Bedauern fest- dieser Nation wiederherstellen wollen. Und wir hof-
stellen, daß es Leute gibt, die ,dies bezweifeln. Ich fen und wollen, daß wir, im Sinne der Dichter, uns
hoffe, daß unter uns über diese Analyse der Hal- immer freier zu Menschen hüben wie drüben und
tung unserer Landsleute in der DDR kein Zweifel einmal unter einem gemeinsamen Dache entwickeln
besteht, auch wenn sie sich nach dem Bau der werden.
Mauer, während vorher Tausende jeden Monat aus
(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU.)
dem Gefängnis geflohen sind, mit dem Regime drü-
ben arrangieren mußten, wofür wir selbstverständ-
lich Verständnis haben. Dieses Arrangement ist aber Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der
ein erzwungenes Arrangement und entspricht kei- Abgeordnete Mischnick.
neswegs einer Zustimmung zu dem ihnen aufge-
zwungenen Regime und dazu, daß sie sich als Staats- Mischnick (FDP) : Herr Präsident! Meine sehr
volk in einem zweiten deutschen Staat begreifen verehrten Damen und Herren! Kurz vor Schluß
sollen. seiner Ausführungen hat Kollege Kiesinger davon
Zum Schluß, Herr Bundeskanzler. Sie haben ge- gesprochen: ..., hätte es die FDP nicht vorgezogen,
sagt, daß nicht viele Menschen in der Welt seien, mit der SPD zu koalieren. Meine Damen und Herren,
die die Vorstellung 60 plus 17 Millionen und ihre wir haben es vorgezogen, mit der SPD zu koalieren,
vereinigte Wirtschaftskraft als angenehm empfin- weil wir diese Regierungserklärung wollten und
den. Das ist wahr. Es ist wahr, daß dies ein großes diese Politik wollten und nicht die Politik, die die
Problem ist. Ich habe ja selber einmal das Wort CDU vertritt. Das war der Grund, nichts anderes.
von der kritischen Größe eines wiedervereinigten (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Deutschlands geprägt, in meiner Rede zum 17. Juni.
Da liegt ein Problem. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist
verständlich, daß nach dem wiederaufgenommenen
Ich habe mit der Bismarckschen Reichsgründung innerdeutschen Dialog im Rahmen der Debatte über
begonnen. Lassen Sie mich daran erinnern, wie müh- die Lage in der geteilten Nation die Beziehungen
selig dieser Mann die Gründung des kleindeutschen zwischen den beiden deutschen Staaten im Vorder-
Reiches den europäischen Mächten hat abringen grund stehen. Herr Kollege Kiesinger hat davon ge-
müssen. Er wußte besser als die Achtundvierziger, sprochen, daß die Materialien, die uns dafür zur Ver-
daß ein großdeutsches Reich im Rahmen des euro- fügung gestellt worden sind, nicht vollständig seien.
päischen Mächtekonzerts eine politische Unmöglich- Es ist zum Ausdruck gebracht worden, daß uns hier
keit gewesen wäre. Es ist ihm nur gelungen, durch in absehbarer Zeit eine umfassende Darstellung zu-
eine weise und behutsame Politik, die so gar nicht gehen wird.
dem Bild des Mannes von „Blut und Eisen" ent-
sprach. (Abg. Dr. Müller-Hermann: Ohne Geschichts
klitterung!)
Es ist wahr: Viele Menschen in der Welt wollen
uns zureden, die deutsche Sache durch Anerkennung Für die in Gang befindlichen Arbeiten zu dieser
vom Tisch zu bringen. Es ist ja so bequem für sie. ausführlichen vergleichenden Darstellung möchte ich
Sie sind kurzsichtig genug, nicht zu sehen, daß die die Anregung geben, daß auch der Versuch unter-
DDR, daß die Staaten des Ostens — die Vorgänge nommen wird, eine Übersicht über die Unterschiede
in den Lebensverhältnissen, in den Einkommens-
in der Tschechoslowakei haben es gezeigt — nicht
aus Eigenem handeln können, sondern daß- .das alles situationen und in den allgemeinen Entwicklungen
der Bundesrepublik und der DDR zu geben, wobei
von Moskau aus gesteuert wird und daß diese DDR
uns bewußt ist, daß das eine sehr schwierige Arbeit
für Moskau der vorgeschobenste Posten in Europa,
sein wird, da die Voraussetzungen für eine solche
im Herzen Europas ist, wie es ein sowjetrussischer
vergleichende Darstellung sehr schwierig sind.
Führer einmal gesagt hat, und daß ihr Bild vom Sta-
tus quo, den sie aufrechterhalten wollen, ein dyna- Wir bitten außerdem darum, daß die bereits vor-
misches Element enthält, das Element weltrevolutio- liegenden vergleichenden Darstellungen über das
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 861
Mischnick
Bildungswesen und die Wissenschaft und Forschung In diesem Zusammenhang ein weiteres Wort zur
ergänzt werden, soweit das zu diesem Zeitpunkt Taktik der Opposition in der Deutschlandpolitik. Ich
schon notwendig ist. habe manchmal den Eindruck, sie ist von dem Bestre-
ben getragen, eine Art Alibi für alles zu haben, und
Aber nun zu den Fragen, die uns in erster Linie
bei dieser Debatte bewegen. Worum geht es uns da- es ist deshalb ausgesprochen vielzüngig, was wir
aus den Reihen der CDU/CSU hören. Der Herr Kol-
bei? Wir wollen die Herstellung vernünftiger, nor-
maler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik lege Strauß scheint in seinem Interview, das er am
Deutschland und der DDR, die im Interesse des ge- 8 . Januar dem Bayerischen Rundfunk gegeben hat,
samten Volkes und der Erhaltung des Friedens in von Verhandlungen mit dem Osten v o r einer
Europa liegen. Wir sind zu einer solchen Politik be- europäischen Einigung — gemeint ist offenbar die
reit, ungeachtet — und das ist der entscheidende westeuropäische Einigung — nichts zu halten. Den
Kollegen Marx stört im Gegensatz zu seinem Partei-
Punkt — der grundverschiedenen gesellschaftlichen
vorsitzenden sogar noch, wenn man DDR ausspricht.
Systeme der beiden Staaten und der besonderen
Verhältnisse dieser Staaten zueinander. Man muß Dagegen sind die Kollegen Barzel und Heck in
vielen Dingen schon viel weiter; sie halten offenbar
doch endlich einmal sehen, daß man nicht beides tun
doch etwas von Gesprächen und fordern die Bundes-
kann: versuchen, die Verhältnisse zu normalisieren,
regierung immer wieder auf, ein konkretes Angebot
und nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß es eben
zu machen,
zwei deutsche Staaten mit unterschiedlichen Ver-
hältnissen gibt. (Abg. Dr, h.-c. Kiesinger: Ich selbst fordere
Die Hindernisse auf dem Wege zu dieser Zu- auf!)
sammenarbeit sind bekannt. Sie liegen, was die wie es auch wieder der Kollege Kiesinger getan hat.
DDR betrifft — und das sollten wir uns auch in die Jüngster Höhepunkt dieser durchaus künstlichen
Erinnerung zurückrufen —, darin, daß die Verant- Aufregung bei der CDU/CSU war der Vorwurf, daß
wortlichen im anderen Teil Deutschlands sich noch diese Bundesregierung von zwei deutschen Staaten
immer ausschließlich von reinem Prestigedenken gesprochen hat. Auch hier zeigt sich wieder einmal
leiten lassen und im Gegensatz zu anderen Staaten die typische Überbewertung von Formalismen und
des Warschauer Paktes — das ist doch die inter- der Verzicht auf reale politische Schritte.
essante Entwicklung der letzten Monate — gegen-
über der Bundesrepublik in erstarrten Positionen (Beifall bei den Regierungsparteien. —
verharren. Sie liegen, was die Bundesrepublik an- Widerspruch bei der CDU/CSU.)
geht — und auch darüber kann nicht hinwegtäu- Sie betonen auf der einen Seite zwar immer wie-
schen, was Kollege Kiesinger gesagt hat —, darin, der verbal, daß Sie dafür sind, es müsse etwas
daß gewisse politische Kräfte hier in der Bundes- geschehen; wenn es aber darum geht, realistisch
republik Anklagen oder gar Selbstmitleid für Politik etwas zu tun, kommen sofort wieder die Vorbehalte,
halten, daß sie eben nicht bereit sind, aktiv tätig zu die Bedenken und damit die Blockierung einer ver-
werden. Das ist der Unterschied in den Auffassun- nünftigen Politik.
gen zwischen uns!
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Köppler: Herr Mischnick, haben Sie gar
keine Bedenken?)
Was an der gegenwärtigen Diskussion über die
Deutschlandpolitik nach unserer Auffassung schlimm Meine sehr verehrten Damen und Herren, trau-
ist, ist doch folgendes. Nachdem Ulbricht seinen rig ist nur — und das ist nicht hinwegzuwischen —,
Vertragsentwurf vorgelegt hatte, klang aus vielen daß diese Einstellung im Ergebnis natürlich die
Stellungnahmen der Opposition unterschwellig her- orthodoxen Kräfte in der DDR stärkt und damit
vor, die Bundesregierung wäre bereit, Ulbrichts mögliche Erfolge erschwert. Natürlich weiß ich, daß
Vorschläge zu akzeptieren oder teilweise zu akzep- das nicht bewußt geschieht. Ich möchte sagen, daß
tieren. ist eine Art unheilige Allianz, die hier zwischen
(Abg. Wehner: Leider wahr, ja!) den orthodoxen Kräften diesseits und jenseits un-
serer heutigen Demarkationsgrenze zustande ge-
Und mit dieser Art — —
kommen ist.
(Zuruf des Abg. Freiherr von und zu (Widerspruch bei der CDU/CSU.)
Guttenberg.)
— Wenn Sie meinen, das sei keine unheilige Allianz,
— Sie sagen, das ist Unterstellung, Herr Kollege dann ist es vielleicht eine scheinheilige Allianz
Guttenberg. Wenn Sie einmal nachlesen, was in den oder gar unheimliche Allianz. Ich weiß es nicht.
letzten 14 Tagen von Kollegen dieses Hauses, Ihrer
(Beifall bei den Regierungsparteien. Abg.
Fraktion, im einzelnen gesagt worden ist, dann wird
Dr. Stoltenberg: Sie wissen gar nicht, was
klar, daß eben mit dieser Art von Politik suggeriert
Sie reden!)
wird — oder man versucht wenigstens, es der
Öffentlichkeit zu suggerieren —, die Bundesregie- — Sehr geehrter Herr Stoltenberg, ich weiß sehr
rung wollte deutsche Interessen aufgeben. Und da- wohl, wovon ich rede; denn der Herr Bundeskanzler
gegen verwahren wir uns, daß diese Unterstellungen a. D. hat sich mit viel Verve gegen den Artikel von
immer wieder kommen! Karl Hermann Flach ausgesprochen — den meinen
Sie doch wohl —,
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
Wehner: Sehr richtig!) (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ja, ja!)
862 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Mischnick
wonach die Gefahr bestehe, daß man sich gegen — Natürlich hängt das nicht nur von unserem Wil
seitig die Bälle zuspiele. So hat er sich geäußert. len ab. Aber keine Regierung hat, wie es diese Re-
gierung getan hat, ein zeitgemäßeres und konkre-
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nicht „die Ge- teres Programm zur Herbeiführung einer europäi-
fahr", sondern „spielen sich die Bälle zu"!) schen Friedensordnung vorgelegt. Die ersten Ge-
— Daß sich die Reaktionäre in Bonn und Ost-Berlin spräche, die hier im Gange sind, um dieses Ziel zu
die Bälle gegenseitig zuspielen. Ich betone aus- erreichen, werden von uns begrüßt.
drücklich, daß ich nicht der Meinung bin, das sei Wir können in diesem Zusammenhang feststellen,
bewußt. Aber auch das unbewußte Zuspielen müs- daß unsere langjährige, hier vorgetragene Auffas-
sen wir in unserer politischen Überlegung betrach- s ung in dieser Regierungserklärung ihren Nieder-
ten und müssen vermeiden, daß das geschieht. Dar- schlag, ihre Bestätigung gefunden hat, und wir sind
um geht es doch. auch in der glücklichen Lage, nicht von Dingen von
(Beifall bei den Regierungsparteien. — gestern und vorgestern abgehen zu müssen, weil
Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Herr Mischnick, wir rechtzeitig auf diese Entwicklungen hingewiesen
stellen Sie sich mal zwei Tennisspieler vor, und uns rechtzeitig auf diese Entwicklungen einge-
die sich unbewußt Bälle zuspielen!) stellt haben.

Wenn man nun einmal versucht, zu analysieren, Es ist hochinteressant, aber zugleich auch bedrük-
was heute von der Opposition gesagt worden ist, kend, meine verehrten Damen und Herren, einmal
dann wird wieder einmal deutlich, daß eine kon- das von der Bundesregierung vorgelegte — notwen-
struktive Überlegung, wie diese Bundesregierung digerweise nicht vollständige — Material über die
in der Deutschlandpolitik anders vorgehen sollte, Geschichte der deutschen Spaltung nachzulesen. Das
nicht gebracht worden ist. Es wird immer wieder da- Material macht — wenn Sie nicht nur die letzten
von gesprochen, daß wir den Auftrag des Grund- Phasen, sondern den Anfang aufmerksam betrachtet
gesetzes zur Überwindung der Spaltung Deutsch- haben — eines deutlich: daß die Politik des Ostens,
lands heute noch, in dieser veränderten Welt, unter insbesondere der Sowjetunion, durchaus nicht vom
veränderten Umständen durchsetzen sollen. Jawohl, ersten Tage an geradlinig auf eine Spaltung und
wir sind nicht dagegen, daß das geschieht, wir sind ihre Vertiefung zugesteuert ist. Am Anfang der
dafür. Aber andere Wege, als sie die Bundesregie- sowjetischen Deutschlandpolitik stand sogar das
rung dargelegt hat, haben auch Sie, Herr Kollege Bestreben — das läßt sich eindeutig aus dem Pots-
Kiesinger, heute hier nicht aufzeigen können. damer Abkommen ableiten —, Deutschland in sei-
ner staatlichen Einheit zu erhalten. Dabei bestand
(Beifall bei den Regierungsparteien.) damals für sie zweifellos noch nicht einmal die
Hoffnung, daß man vielleicht endgültig zu einem
Insgesamt muß festgestellt werden, daß die Oppo- sozialistischen Deutschland kommen könne. Die ur-
sition zwar versucht, für jeden etwas zu bieten sprünglichen Ziele der Sowjetunion in den Jahren
— und der Kollege Kiesinger hat sich dagegen ver- 1945 bis 1947 waren einfach darauf gerichtet — auch
wahrt, daß die Unterstellung kommt, das seien das sollte man heute nicht ganz vergessen —, dieses
„kalte Krieger", die das tun —; aber Tatsache ist Gesamtdeutschland als Garant für Reparationsliefe-
doch, daß sich die Formalisten auf der einen Seite rungen zu haben und die wirtschaftliche Kraft ins-
— Strauß und Marx — und auf der anderen Seite, gesamt dafür in Anspruch nehmen zu können.
wenn ich so sagen darf, die progressiveren Kräfte in
Ihren Reihen — wie Barzel und Heck — gegenüber- (Abg. Stücklen: Dabei schön rot eingefärbt!)
stehen, daß Sie mühselig versuchen, beides unter
— Herr Kollege Stücklen, machen Sie es bitte nicht
ein Dach zu bringen.
so einfach, zu sagen: „Dabei schön rot eingefärbt."
(Abg. Dr. h. c. •Kiesinger: Wo plazieren Das war 1947 eine andere Situation.
Sie mich, Herr Mischnick?)
Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, daß
Im Gegensatz dazu — und das bringt diese Regie- das, was an widerstrebenden Kräften für eine
rungserklärung ganz deutlich zum Ausdruck — ver- deutsche Einheit in den Jahren 1945 bis 1947 in
suchen die Regierung und die sie tragenden Frak- Deutschland und außerhalb Deutschlands vorhan-
tionen mit Ernst und Nüchternheit, eine Antwort den war, in der geschichtlichen Würdigung nüchtern
auf die Frage zu geben, auf welchem. Wege unserem gesehen werden muß und heute nicht geklittert oder
Volk und den Völkern Europas eine Ordnung ge- in irgendeiner Weise verniedlicht werden darf. Ich
schaffen werden kann, die ein friedliches Neben- glaube, es ist einmal wert, genauer untersucht zu
einander in Deutschland und eine friedliche Zu- werden, ob die Ministerpräsidentenkonferenz von
sammenarbeit ebenso gewährleistet wie ein hohes 1947 tatsächlich hätte scheitern müssen. Mir geht es
Maß an Sicherheit. Es ist einfach unwahr, wenn jetzt nicht darum, im einzelnen die letzten Tiefen
behauptet wird, durch diese Politik, ein friedliches
- davon auszuloten. Ich meine nur, wenn wir ein zu-
Nebeneinander zu erreichen, gefährde man die sammenfassendes Material über diese Entwicklung
Sicherheit. Beides wollen wir erreichen; nichts an- bekommen, ist es auch notwendig, sich über die
deres ist das Ziel der Regierungspolitik. eigenen Versäumnisse in den Jahren nach 1945 volle
Klarheit zu verschaffen, damit man auch für die Zu-
(Beifall bei . den Regierungsparteien. — kunft daraus lernen kann.
Zuruf von der CDU/CSU: Das hängt aber
nicht nur von Ihrem Willen ab!) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 863
Mischnick
Es wäre natürlich auch interessant, sich einmal aus- tig betrachtet wurden, überhaupt von dem dann
zumalen leider vielleicht erreichten Standpunkt aus noch dis-
(Abg. Dr. Wörner: Was wollen Sie daraus kussionswert?
lernen?) (Abg. Dr. Wörner: Wollen Sie sich denn
— kommt noch, keine Sorge!—, was geschehen immer nur von den anderen fragen lassen?
würde, wenn z. B. die Vorschläge der Sowjetunion Fragen Sie doch mal!)
vom Frühjahr 1952 heute wiederholt werden wür- — Nein, es ist nicht so, daß wir uns von den anderen
den. Ein wiedervereinigtes Deutschland auf der fragen lassen wollen, sondern es geht ausschließlich
Grundlage bewaffneter Neutralität ist ja heute kaum darum, Herr Kollege Wörner, daß die Koalitions-
mehr als Traum denkbar. In Deutschland ist früher fraktionen und daß diese Bundesregierung sich
darüber viel diskutiert worden. Es hat gar keinen einen Weg vorgenommen haben, den sie gehen
Zweck, heute zu fragen, ob es möglich war, ob es werden und gehen wollen,
nicht möglich war. Man hätte es einfach damals
testen müssen. (Abg. Köppler: Dann sagen Sie ihn doch
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. einmal!)
Dr. Althammer: Hat man doch!) ohne Rücksicht darauf, ob von seiten der DDR hier
mit großem Geschrei alles abgelehnt wird oder ob
Darauf kommt es mir an: versuchen, festzustellen: es bei uns Menschen gibt, die noch immer nicht ver-
Was ist wirklich möglich? Statt dessen sind, aus der
standen haben, daß man hier zielbewußt diesen
Situation heraus begreiflich, in den fünfziger Jahren
Weg gehen muß und nicht ständig davon abweichen
die Möglichkeiten der freien Wahlen besonders laut-
kann.
stark diskutiert worden. Es ist selbstverständlich,
daß niemand in diesem Hohen Hause, wenn nur die (Beifall bei den Regierungsparteien. —
Möglichkeit zu schaffen wäre, mit gesamtdeutschen Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Welchen Weg? —
freien Wahlen weiterzukommen, etwa dagegen sein Abg. Köppler: Welchen Weg? Werden
könnte. Ganz im Gegenteil! Aber es ist auch eine Sie doch endlich einmal präziser, Herr
Binsenweisheit, daß die Voraussetzungen für ge- Mischnick!)
samtdeutsche freie Wahlen in den fünfziger Jahren Natürlich stehen wir vor der Tatsache, daß die
andere und bessere waren, als sie heute sein können. Äußerungen aus Ost Berlin schärfer geworden sind.
-

Selbstverständlich kümmert sich dabei auch die Re-


(Abg. Stücklen: Binsendummheit!)
gierung der DDR wenig oder gar nicht darum, daß
— Wenn Sie meinen, daß das so sei! Ich komme ihre Äußerungen oft jeder inneren Logik bar sind.
darauf nur, weil der Kollege Strauß vor kurzem Auf der einen Seite hat z. B. das „Neue Deutsch-
davon gesprochen hat, man müßte die Forderung des land" noch vor zwei Jahren wütend den Vorwurf
Herrn Ulbricht nach einer Volksabstimmung über zurückgewiesen, die DDR betrachte die Bundes-
seinen Vertragsentwurf mit der Forderung nach ge- republik als Ausland. Auf der anderen Seite hat
samtdeutschen freien Wahlen beantworten. jetzt die Ulbricht-Regierung einen Vertragsentwurf
(Abg. Wehner: Hört! Hört!) vorgelegt, der Beziehungen zwischen der Bundes-
republik und der DDR auf der Grundlage des
Das ist natürlich ein Wort, was jedermann eingeht. Völkerrechts zum Ziel hat.
Aber, wenn Sie sich heute einmal die Mühe machen, (Abg. Dr. Althammer: Wissen Sie, warum?)
Herr Kollege Strauß, nachzulesen, was gesagt wurde,
als im Jahre 1951 hier in diesem Hohen Hause Wahl- Ob die Bundesrepublik und die DDR im Verhältnis
gesetzentwürfe — Volkskammer, Bundestag — dis- zueinander Ausland sind oder nicht, wird von den
kutiert wurden, dann werden Sie feststellen, welche Verantwortlichen in Ost-Berlin plötzlich als uner-
Kleinigkeiten man damals aufgebaut hat, um zu heblich bezeichnet. Dabei stört es Ulbricht gar nicht,
bestimmten Dingen nein zu sagen. daß in seinem eigenen Machtbereich z. B. ein Staats-
sekretariat für westdeutsche Fragen vorhanden ist,
(Abg. Wehner: Ja!)
dagegen keines für polnische und tschechische
Über diese Dinge bedürfte es heute nicht einmal Fragen.
einer Debatte, und man wäre froh, wenn man das so
Ich will damit nur deutlich machen: wer meint,
entscheiden könnte.
daß alles, was von seiten der DDR geschieht, in sich
(Beifall bei den Regierungsparteien.) völlig logisch ist, der täuscht sich. Aufgabe unserer
Wenn heute davon gesprochen wird, jetzt sei die Politik ist es eben, aus diesen verschiedenen, zu
Forderung nach freien Wahlen das Richtige, dann verschiedenen Zeitpunkten in verschiedener Weise
zwingt das doch dazu, festzustellen, daß zum rechten gegebenen Darstellungen, Erklärungen das Maß an
Zeitpunkt dafür eben nicht die Aufgeschlossenheit
- Bewegungsmöglichkeit für uns herauszufiltern, das
wir brauchen, um mit unserer Politik weiterzukom-
vorhanden war, die notwendig gewesen wäre.
men.
(Zustimmung bei der FDP.)
Es wird doch deutlich, daß auch die DDR-Regie-
Ich bin überzeugt: in fünf oder zehn Jahren steht die rung offenkundig vor praktischen Initiativen Sorge
Gefahr vor uns, daß Debatten, wie wir sie heute hat, nicht zuletzt deshalb, weil man dort weiß, daß
führen, wieder unter dem Gesichtspunkt nachgelesen innerhalb des Warschauer Paktes die Beurteilung
werden: sind denn Dinge, die damals als so gewich dieser Aktivitäten der Bundesregierung nicht nur
864 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Mischnick
unterschiedlich, sondern weitaus positiver ist, als keit den Realitäten, die man von seiten der DDR
das bei der DDR der Fall ist. aufstellt, gegenüberstellen muß.
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Dem stimmen wir
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Die Sowjetunion ja auch zu!)
hat ausdrücklich unterstützt!)
Wir stellen heute mit Befriedigung fest, daß sich
die Gesichtspunkte, die in unserem Vertragsentwurf
— Sehen Sie, Herr Kollege Kiesinger, das ist wieder enthalten sind, in der Regierungserklärung sinnge-
ein typisches Beispiel: Wenn jetzt vor dieser De- mäß wiederfinden. Welche Formen man dann
batte nicht von der obersten Spitze der Sowjetunion, schließlich finden wird, um zu einer Verwirklichung
sondern von einem — wie wir wahrscheinlich sagen zu kommen, um diese Gesichtspunkte zum Inhalt
würden — „Sprecher" erklärt wird: „Wir unter- vertraglicher Vereinbarungen werden zu lassen, ist
stützen die Position der DDR", dann ist das natürlich eine sekundäre Frage. Wir begrüßen die Absicht
bewußt gezielt auf diese Debatte hin getan. Aber der Bundesregierung, gerade in diesem Sinne tätig
deswegen nun die eigene Politik umstellen zu wol- zu werden, und sind überzeugt, daß die angestreb-
len, wäre das Falscheste, was man überhaupt ten Vereinbarungen über den Gewaltverzicht zwi-
machen kann. schen der Bundesrepublik und der DDR die Vor-
aussetzungen für ein friedliches Miteinander schaf-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu fen können. Wir sehen gerade darin einen entschei-
rufe von der CDU/CSU.) denden Beitrag zur Überwindung der Trennung in
Deutschland und zugleich die Voraussetzung zur
Natürlich wird unsere Arbeit in vielen Dingen Schaffung einer wirklichen europäischen Friedens-
auch dadurch erschwert, daß es bei uns im Lande ordnung.
manche gibt, die eine Art Anerkennungsfetischismus Natürlich stehen sich die beiden Supermächte USA
betreiben. Es gibt offenbar Leute, die meinen, es und Sowjetunion auf europäischem Boden gegen-
würde schon alles klar sein, wenn sich der Bundes- über, aber ihre Einflußsphären dürfen doch — das
kanzler und der Ministerratsvorsitzende gegenseitig muß Ziel unserer Politik sein — nicht zu einer
nur die Hände schütteln, ob sie sich nun gegenseitig dauerhaften Teilung Europas und damit Deutsch-
anerkennen oder auch nicht. Diese Leute meinen lands führen. Es ist deshalb nach unserer Überzeu-
offensichtlich, dann sei alles in bester Ordnung. gung auch in unserem Interesse notwendig, zu
Natürlich ist dadurch nichts verbessert. Tatsächliche einer europäischen Sicherheitskonferenz zu kom-
Verbesserungen können eben nur durch konkrete men, um daraus möglichst bald ein solches euro-
Vereinbarungen mit dem Ziel, zu Erleichterungen päisches Sicherheitssystem mit Garantien der Groß-
für die Menschen im geteilten Deutschland zu kom-
mächte entstehen zu lassen, aus dem sich auf die
men, erreicht werden. Wir müssen uns auf dem Dauer auch eine gesamteuropäische Zusammen-
Wege konkreter vertraglicher Vereinbarungen aus arbeit entwickeln kann. Eine solche Entwicklung in
der Verkrampfung, in der wir uns befinden, her-
Gang zu bringen, das ist im wahrsten Sinne des
auslösen. Wortes nationale Politik, eine Politik, die unserer
Nation nützt und dafür Sorge trägt, daß die Ent-
Die Bundesregierung hat der Regierung in Ost krampfung möglich wird.
Berlin — wir Freien Demokraten unterstützen die
Bundesregierung hierbei nachdrücklich — den Ab- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
schluß von Verträgen auf der Grundlage der Gleich- Wir scheuen in diesem Zusammenhang auch nicht
berechtigung ohne jede Diskriminierung angeboten. den Vorwurf, der von östlicher Seite kommt, wir
Nach dem Krieg sind nun einmal zwei deutsche seien gegen die Aufrechterhaltung des Status quo.
Staaten entstanden, die Bundesrepublik und die Jeder unserer Kritiker in Osteuropa muß sich doch
DDR, die zueinander in einem besonderen Verhält- sagen lassen, daß der jetzige Status quo in Europa
nis stehen. Die politische Ordnung in der DDR ent- nicht so schön ist, daß man vernünftigerweise wün-
spricht nicht den Vorstellungen der Freien Demokra- schen könnte, er möge aufrechterhalten bleiben. Wer
ten. Aber ungeachtet der Tatsache, daß diese Ord- hier Verbesserungen will,
nung nicht unseren Vorstellungen entspricht, treten
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Welche
wir dafür ein, daß das Verhältnis zwischen der
Verbesserungen?)
Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen
Demokratischen Republik vertraglich geregelt wird, will doch damit keinen Revanchismus. Es ist doch
um ein weiteres Auseinanderleben zu verhindern. lediglich eine Schlußfolgerung aus der Erkenntnis,
Darum geht es doch in erster Linie! Wir haben vor daß wir heute weit davon entfernt sind, einiger-
über einem Jahr bereits einen Vertragsentwurf vor- maßen gerechte Verhältnisse zu haben, die allein
gelegt. In diesem Entwurf wird auch ausdrücklich die Grundlage eines dauerhaften Friedens in Europa
festgestellt, daß die beiden deutschen Staaten im sein können. Wir können nur Frieden schaffen,
Verhältnis zueinander nicht Ausland sind, - wie es wenn auch unsere Gesprächspartner — das sei in
auch durch die Regierungserklärung erneut bekräf- aller Offenheit und Deutlichkeit gesagt — in Ost-
tigt wurde. Es ist eben einfach so, daß für mich der europa erkennen, daß eine Zementierung des Status
Dresdener für den Bonner und der Rostocker für quo, also auch der vorhandenen Militärblöcke, alle
den Frankfurter keine Ausländer sind. Das ist ein Bemühungen um die Schaffung eines europäischen
Tatbestand. Das ist eine der Realitäten, die wir in Sicherheitssystems torpedieren muß. Also muß auch
unseren Antworten immer wieder in aller Deutlich- ein Interesse bestehen, nicht formalistisch von der
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 865
Mischnick
Erhaltung des Status quo zu sprechen, sondern von 25jährige Teilung auch zu einer unterschiedlichen
seiner Überwindung mit dem Ziele der beiderseiti- Betrachtungsweise der Generationen geführt hat.
gen Verständigung.
(Sehr richtig! bei der SPD.)
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, Das gilt für beide Teile Deutschlands.
daß auch in der neuen Verfassung der DDR diese
Gedanken der Annäherung enthalten sind, diese Be- (Abg. Wehner: Sehr richtig!)
wegung in der Politik nicht ausgeschlossen ist. Na- Auch das muß man doch zur Kenntnis nehmen, wenn
türlich steht darin, daß eine Vereinigung auf der man eine sinnvolle — jetzt übernehme ich den Be-
Grundlage der Demokratie und des Sozialismus an- griff — Wiedervereinigungspolitik oder Vereini-
gestrebt wird. Das ist auch nicht anders zu erwarten. gungspolitik führen will.
Wir wollen eine Einigung, eine Zusammenfassung
Europas, eine dynamische Politik auf liberaler (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Grundlage. Aber genau darum geht es doch bei der Meine sehr verehrten Damen und Herren, verges-
Auseinandersetzung. Deshalb sind wir der Meinung, sen wir doch auch nicht: ein Drittel der Bevölkerung
daß es nicht richtig wäre, einfach den Status quo in der DDR kennt nur das geteilte Deutschland.
durch Verträge festzuschreiben. Wir sind sicher, daß Aus jedem Gespräch mit Menschen dieser Genera-
es der beharrlichen Politik der Bundesregierung auf tion und aus Berichten über Gespräche mit diesen
Dauer gelingen wird, für diese unsere Haltung auch Menschen geht doch eindeutig hervor, daß sie natür-
in Osteuropa Verständnis zu finden. lich alle eine freiheitlichere Entwicklung in der DDR
Allerdings — lassen Sie mich das in aller Deut- lieber sähen. Die Frage eines einheitlichen Staates
lichkeit sagen —, das dumme Geschwätz vom Aus- — ob wir das nun bedauern oder nicht — ist aber
verkauf deutscher Interessen nützt niemandem, es für die meisten im Verhältnis zu freieren Bewe-
erschwert nur die Verhandlungsposition unserer Re- gungsmöglichkeiten zweitrangig. Das ist auch ein
gierung. Gesichtspunkt, den man nüchtern sehen muß. Des-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) halb werden alle unsere Versuche, zu einer Norma-
lisierung der Verhältnisse zu kommen, gerade von
Das ist ein Tatbestand, der leider vorhanden ist. der Generation, die eben die Einheit nicht mehr er-
Wer der Bundesregierung infamerweise unterstellt, lebt hat, in erster Linie unter dem Gesichtspunkt
daß sie bereit sei, berechtigte Interessen unseres gesehen, ob damit eine Möglichkeit, die Bewegungs-
Volkes aufzugeben, spielt damit die Karte des je- freiheit, die eigene Freiheit, zu erweitern, verbunden
weiligen Verhandlungspartners. Solche Behauptun- ist, und nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt
gen führen erst dazu, daß der Eindruck entstehen ob das formal zu einer Zementierung der staatlichen
muß und daß der Verhandlungspartner auf die fal- Teilung führen kann. Ich wiederhole: wir können das
sche Idee kommen kann, die von der Bundesregie- beklagen; aber das sind Entwicklungen in der Auf-
rung vertretene Position sei gar nicht ernst gemeint. fassung auch in der Bundesrepublik, nicht nur in der
DDR, die wir bei unseren Überlegungen sehen müs-
Wer immer in Deutschland die politisch-ideologi- sen.
sche Auseinandersetzung, die politisch-ideologische
Konfrontation einer sachlichen Zusammenarbeit zwi- Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
schen den beiden deutschen Staaten überordnet, sollten wir auch ein Weiteres nicht aus dem Auge
handelt nach meiner Überzeugung gegen die euro- verlieren. Auf längere Sicht gesehen wird auf Grund
päischen Interessen und gegen die Interessen unse- dieser Generationsentwicklung auch für die SED das,
res Volkes. Hier geht es darum, sich nicht in ideolo- was sie jetzt als Maximalforderung aufgestellt hat,
gische Formeln einfangen zu lassen, sondern durch nicht bleiben können, weil die nachwachsende Gene-
praktische Politik die Überwindung dieser Formeln ration das, was für die jetzt führend tätige als unab-
zu versuchen. dingbare politische Forderung, als Ziel im Vorder-
grund stand, nicht mehr in der gleichen Weise be-
(Beifall bei den Regierungsparteien.) trachtet. Es wird eine realistischere Betrachtungs-
Dabei, meine sehr verehrten Damen und Herren, weise eintreten. Diese Generationsentwicklung bei
wird ein Gesichtspunkt in der allgemeinen Diskus- der eigenen Politik zu berücksichtigen, ist das, was
sion leider oft zuwenig beachtet, nämlich der, daß sich die Bundesregierung als Aufgabe vorgenommen
eine wachsende innere Entfremdung zwischen den hat. Wir haben feststellen können, daß in der Regie-
beiden deutschen Volksteilen zu beobachten ist. Das rungserklärung gerade auf diese Entwicklung in bei-
muß uns zu mancherlei neuen Überlegungen führen. den Teilen Deutschlands nicht nur Bezug genommen
Der Versuch, normale Beziehungen zwischen den wird, sondern auch Ansatzpunkte dafür geschaffen
worden sind, um realistisch weiterzukommen.
beiden deutschen Staaten herzustellen und Verein-
barungen über die politischen, die wirtschaftlichen, Die Freien Demokraten billigen daher diese Re-
technischen, kulturellen und sportlichen Beziehungen gierungserklärung. Sie werden die Bundesregierung
zu erreichen, ist doch im Augenblick der einzige bei der Verwirklichung ihrer Ideen voll unter-
Weg, eine weitere Entfremdung der beiden deut- stützen und sich nicht in dem Ziel beirren lassen,
schen Volksteile möglichst zu verhindern oder zu vertragliche Vereinbarungen zwischen den beiden
mildern. Teilen Deutschlands zur Entkrampfung der Situation
(Zustimmung bei der SPD.) zu erreichen, weil sie wissen, damit eine Politik im
In Diskussionen in der Bundesrepublik wird be- Interesse unseres ganzen Volkes zu treiben.
dauerlicherweise kaum darauf geachtet, daß die (Beifall bei den Regierungsparteien.)
866 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der Punkten durch einwandfreie vertragliche Verpflich-
Abgeordnete Wehner. tungen eindeutig erkennbar zu machen: wir jeden-
falls — die Bundesrepublik — wollen zu unserem
Wehner (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen Teil dazu beitragen, zwischen beiden Staaten des
und Herren! Die Fraktion der Sozialdemokratischen gespaltenen Deutschland Rechtsverhältnisse zu-
Partei Deutschlands billigt vollinhaltlich die vom stande zu bringen, in denen wir miteinander aus-
Bundeskanzler im Bericht über die Lage der Nation kommen und so miteinander umgehen können, daß
dargelegte Politik. Wir sind dankbar für die maß- unser staatlich getrennt lebendes Volk allmählich
vollen und klaren Begriffsbestimmungen und für die seinen Frieden mit sich selbst finden kann.
Beschreibung erstens der Orientierungspunkte, die In der Erklärung des Bundeskanzlers ist gesagt
unverzichtbar sind, zweitens der Ziele, an denen worden, daß ein Vertrag nicht am Anfang stehen
deutsche Politik orientiert sein soll, drittens des könne; er müsse am Ende stehen. Ich möchte aus-
Kerns unserer Politik und viertens der Grundsätze drücklich sagen: mir scheint, der Bundeskanzler
für einen Vorschlag, den der Bundeskanzler dem Brandt hat für den Anfang — zusammen mit der
Vorsitzenden des Ministerrats der DDR demnächst ganzen Bundesregierung — getan, was im Interesse
machen wird. unseres Volkes denkbar und wünschenswert ist, um
Im Zusammenhang mit diesen Grundsätzen für — wenn auch andere das Ihre dazu tun, aber das ist
einen Vorschlag an den Vorsitzenden des Minister- notwendig — zu einem guten Ende zu gelangen.
rats der DDR halten wir es für bedeutsam, daß der Die Bundestagsfraktion der SPD wird tun, was in
Bundeskanzler ausdrücklich erklärt hat, die beiden ihren Kräften steht, damit die Bundesregierung mit
Verhandlungspartner, die Bundesrepublik Deutsch- der vollen Unterstützung der Koalitionspartner SPD
land und die DDR, könnten sich auch über weitere und FDP diese vor uns liegende Wegstrecke nutzbar
Punkte verständigen. Damit ist klargestellt, daß un- machen kann für die Verbesserung des Verhältnis-
sere Bundesregierung keinen Ausschließlichkeits- ses der Teile des gespaltenen Deutschlands zueinan-
anspruch für ihre eigenen Vorschläge geltend macht. der und damit auch für die Bemühungen um Frieden
Für glücklich halten wir auch die Feststellung, es und Sicherheit in Europa.
müsse dabei klar sein, daß eine Regelung der Be- Die Bundesregierung braucht dafür Rücken-
ziehungen zwischen den beiden Seiten in Deutsch- deckung, Rückendeckung für die Handlungsfreiheit,
land nicht zeitlich beschränkt sein dürfe, daß sie also auf die eine parlamentarisch gewählte und kontrol-
gelten müsse mit der Perspektive der Verbesserung lierte Regierung Anspruch hat. Deshalb lehnen -wir
für die Zeit, in der es diese beiden Staaten gibt. jedenfalls jeden Versuch ab, sie durch eine Art von
Besonders unterstreichen möchte ich, daß nach der Negativlisten oder einen Katalog von Beteuerungen,
Feststellung: „Beide Staaten haben ihre Verpflich- was alles nicht sein oder nicht getan werden solle
tung zur Wahrung der Einheit der deutschen Na- oder dürfe, an der Erfüllung ihrer Pflichten zu hin
tion; sie sind füreinander nicht Ausland", vom Bun- dern. Übrigens: auch Entschließungen sind kein Er-
deskanzler erklärt worden ist: satz für konkrete Politik, deren Zeit gekommen ist.
Im übrigen müssen die allgemein anerkannten Die Mehrheit des Bundestages, die sich für die
Prinzipien des zwischenstaatlichen Rechts gel- Verwirklichung der Regierungserklärung der Bun-
ten, insbesondere der Ausschluß jeglicher Dis- desregierung vom 28. Oktober einsetzt, sieht es für
kriminierung, die Respektierung der territoria- das Wohl unseres Volkes und für die Sicherung des
len Integrität, die Verpflichtung zur friedlichen Friedens im Herzen Europas als entscheidend an,
Lösung aller Streitfragen und zur Respektierung daß diese Bundesregierung in den Stand gesetzt
der beiderseitigen Grenzen. wird, Verhandlungen, die zur Verständigung und zu
Gestern ist ja, nachdem der Bundeskanzler seine vertraglichen Vereinbarungen führen werden, anzu-
Erklärung abgegeben hatte, in Kommentaren, die bahnen und auch zu führen; und als eine unserer
man im Rundfunk und anderswo hören konnte, dringendsten Aufgaben betrachten wir es, die Regie-
schon angekündigt worden, daß die CDU/CSU an rung dabei gegen Störungen zu verteidigen und Ver-
diesen Punkten den Bohrer ansetzen werde. Einen suche zu Störungen unwirksam zu machen. Es gibt
der Zahnärzte haben wir ja schon hinter uns ge- ja da eine ganze Bonner Praxis mit den Bonner
bracht. Dünsten, die mit gewisser Hilfe auch aus Ämtern
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD.) tätig sind.
Wir aber legen gerade Wert darauf, daß eindeutig Wir haben das Vertrauen zur Bundesregierung,
entkräftet werde, was aus Ost-Berlin immer wieder daß sie jeweils dann, wenn sich im Zuge von Ver-
behauptet und uns unterstellt wird: wir wollten handlungen oder beim Bemühen um Verhandlungen
gegenüber der DDR a) das Verbot der Aggression, die Notwendigkeit ergibt, Entschließungen substan-
b) das Verbot der Annexion umgehen und wollten tieller Art zu treffen, das Parlament in der angemes-
schließlich c) die territoriale Integrität der -DDR an- senen Weise zu Rate ziehen wird.
tasten oder verletzen. Wir finden es für richtig — Die Bedeutung dieser Debatte, meine Damen und
und unterstützen das, bis es gelungen sein wird —, Herren, liegt nicht nur in den mehr oder weniger
daß in all diesen Fragen vertragliche Klärungen offen zutage liegenden Streitfragen selbst, sondern
angestrebt und von uns angeboten werden. auch darin, wie wir sie miteinander austragen; übri-
Die Ausführungen des Bundeskanzlers zeigen, daß gens auch darin — was ich damit sagen will, berührt
die Bundesregierung die Absicht hat, in allen diesen sich mit etwas, was der Bundeskanzler gestern hier
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 867
Wehner
gesagt hat —, wie sie draußen ausgetragen werden, achtet aller erhöhten Schwierigkeiten in inter-
das heißt, was man aus ihnen macht oder machen nationale Verhandlungen gebracht werden.
möchte.
Das war das damalige realistische Angebot der
Ich habe Herrn Kollegen Dr. Kiesingers zornige Opposition in diesem Hause, der Sozialdemokratie,
Ausführungen an die damalige Regierung. Ich habe damals davon
(Lachen bei der CDU/CSU) gesprochen, daß dies zwei Dinge, aber zwei zusam-
mengehörige Dinge seien, deren, wie ich mich aus-
— entschuldigen Sie, ich kann ihn ja gar nicht über- drückte, Prüfung wir vorschlagen, und das sei ge-
treffen, das merken Sie —, bei denen er den Bundes- meint, so sagte ich, wenn bisher — von damals
kanzler als Blitzableiter zu benützen versucht hat, gesehen — von einer außenpolitischen Bestandsauf-
über Presseäußerungen gehört. Das ist für jemanden nahme und von Bemühungen die Rede gewesen sei:
interessant, der sich hat daran gewöhnen müssen, das höchstmögliche Maß von Gemeinsamkeit in der
sei es als Opposition, wie wir, sei es als Koalitions- Bewältigung der sich ergebenden Probleme zu er-
partner, wie wir auch, von mächtigen Herren — reichen, also vor allem gewissenhafte Prüfung der
mächtig des gedruckten Wortes mit Hilfe von Haus- außenpolitischen Lage und all der Gegebenheiten,
anweisungen — totgeschwiegen oder nur im Zerr- die für Deutschland von Bedeutung seien oder wer-
bild oder im „Schlamm am Sonntag" dargestellt zu den könnten.
werden.
Heute, knapp zehn Jahre danach und am Beginn
(Lebhafter anhaltender Beifall bei den des siebten Jahrzehnts, können Sie anhand der Er-
Regierungsparteien. — Lachen bei der eignisse und der Erfahrungen selbst prüfen — ich
CDU/CSU.) muß da nicht zitieren —, was die damaligen Be-
Ich gönne Ihnen, meine Damen und Herren, die mühungen der seinerzeitigen Opposition an Mög-
Freude über diese Art der Presse. Aber ich merke lichkeiten enthielten, wie sie von der damaligen
ab und zu: Bundesregierung und ihrer Mehrheit in diesem
Hause behandelt worden sind, teils unter martiali-
(Abg. Köppler: Wer ist denn hier zornig?) schem Gelächter und, um sich dann aus der Affäre
wenn es Ihnen nicht paßt, weil es auch eine andere zu ziehen, mit der Deutung des Vorgangs als eines
Art gibt, glauben Sie, Sie müßten an der Regierung bloßen innerpolitischen Tricks im Hinblick auf die
dieses Ihr Unbehagen auslassen. Wahlen des nächsten Jahres, als Umarmung und
ähnliches. Eine Ahnung von der ganzen Tragweite
(Abg. Wörner: Ist Ihnen entgangen, daß die
dessen, worum wir uns damals bemüht hatten, ver-
Regierung das Wort „Profiteure" aus der
riet niemand. Ich meine, beide Seiten können im
Zeitung übernommen hat?)
Lichte der Entwicklung daraus lernen.
Ich habe, meine Damen und Herren, zu Beginn des
sechsten Jahrzehnts, es war am 30. Juni des Jahres Die Rede wurde damals unmittelbar nach dem
1960, hier im Bundestag versucht, die Positionen der Scheitern der seither letzten Vier-Mächte-Gipfel-
deutschen Politik und der internationalen Politik in konferenz gehalten, die ihr Mandat aus den beson-
ihrer Beziehung zu den deutschen Fragen darzu- deren Verantwortlichkeiten der Vier über Deutsch-
legen. Ich komme nicht umhin, zu sagen, daß ich land als Ganzes und zur Regelung der deutschen
nach wie vor zu jedem dieser Punkte und Worte Frage bezog, und sie wurde ein Jahr, einen Monat
stehe. Diese Rede enthielt und begründete das und zwei Wochen vor dem 13. August 1961 gehalten.
realistische Angebot der damaligen Opposition an Wenn man es damals gewollt hätte, hätte man über
die damalige Bundesregierung, sowohl kurzfristig einiges rechtzeitig sprechen können.
als auch langfristig. Ich habe damals als Sprecher (Zurufe von der CDU/CSU.)
der Opposition z. B. gesagt: — Ja, wenn Sie Wert darauf legen, könnte ich über
... wir haben nicht die Absicht, die Bundes- Unterredungen — aber bitte nicht jetzt hier —
regierung jetzt in dieser oder jener Einzelfrage (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)
auf diesen oder jenen Schritt festzulegen ...
— nein, nein; bitte, was glauben Sie denn? — des
oder ihr einen solchen abzufordern. Wir schlagen
damaligen, von mir verehrten, inzwischen verstor-
vor und wir mahnen, die Bundesregierung möge
benen Außenministers, in diesen Fragen auch mit
sich der in Wahrheit gefährlich unübersicht-
Vertretern der Opposition — eine Unterredung, die
lichen Lage gewachsen zeigen und alles in ihren
wir erreicht hatten —, sprechen.
Kräften Stehende tun, um gemeinsam mit den
Parteien der Opposition zu prüfen, erstens, was Aber apropos Berlin: ich fand es einigermaßen
versucht, was in die Wege geleitet und was neckisch, daß eine in Norddeutschland erscheinende
weitergeführt werden muß, damit wir alle zu- Zeitung vor Tagen, so im Tone der Anklage gegen
sammen sicher sein können, daß nicht durch ein- mich und mit der Aufforderung an die anderen hier
-
seitige Maßnahmen der anderen Seite die jet- im Hause, man möge mich danach fragen, ob ich das
zige Lage im gespaltenen Deutschland noch noch aufrechterhielte, einige Punkte aus sechs Be-
weiter verschlechtert werden kann — denn das rührungspunkten herausgriff, von denen ich damals
ganze Volk muß ja das, was sich daraus ergibt, gesagt hatte, über sie brauchte es eigentlich keine
tragen können —, zweitens was ins Auge gefaßt Auseinandersetzung bei uns in der Bundesrepublik
und in gemeinsamen Bemühungen angestrebt zu geben, sie könnten als Aktivposten bei der außen-
werden muß, damit die deutschen Fragen unge politischen Bestandsaufnahme von allen Seiten ein-
868 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970
Wehner
gebracht werden. Es handelte sich dabei um sechs Hand oder doch wenigstens im Gepäck zu haben.
Punkte, die der damalige Regierende Bürgermeister Nun, das ist eben nicht so.
von Berlin, Willy Brandt, als Berührungspunkte der
demokratischen Parteien bezeichnet hatte — zu Am Beginn der sechziger Jahre war erkennbar:
Recht, wie mir schien; ich hätte daran heute nichts Ihre Funktion, meine Damen und Herren von der
zu korrigieren. CDU/CSU, war es seinerzeit, die Verträge durchzu-
bringen; unsere Funktion, die bescheidenere, war,
Übrigens ebenso zu Recht hat damals ein nam- wenn schon nicht vorher der Versuch — der ernst-
hafter Angehöriger der Christlich Demokratischen hafte Versuch war gemeint — einer Verhandlungs-
Union in Berlin — ich sehe ihn zu meiner Freude lösung auch mit dem Osten durchzusetzen war, daß
jetzt in diesem Hause — geschrieben, es gebe in wir als Opposition bemüht -sein mußten, die Ver-
Berlin keinen verantwortlichen Politiker, der jemals träge so brauchbar wie eben möglich — soweit wir
gefordert oder gefördert habe, was man den Sozial- das mit erreichen konnten — für die Interessen der
demokraten seinerzeit — das war ja so üblich — deutschen Politik, der Politik für das ganze deutsche
sich zu unterstellen bemühte. Er hat geschrieben, die Volk, zu machen. Wir haben da manchmal ein-
erklärte Haltung Berlins habe niemals Anlaß zu stecken müssen, weil unsere Motive von Ihnen in
Nachgiebigkeit gegeben, sondern in der Bedrängnis
einer merkwürdigen Art — es sei Ihnen vergönnt,
und im Wagnis stets die integrale Wahrung der
daß Sie das wenigstens in der Vergangenheit er-
westlichen Position gefordert, und man wäre froh,
lebt haben: das von oben herunter gegen andere
so hat er geschrieben, wenn auch schon früher über-
anzuwenden — aufgefaßt worden sind. Jedenfalls
all die gleichen Auffassungen geherrscht hätten.
ist uns das auf Grund Ihres Beharrungsvermögens
Nun, alle sind inzwischen älter geworden. Ich nur sehr bedingt gelungen.
schätze Herrn Amrehn als einen sachlichen innen-
Jetzt, meine Damen und Herren, nach zehn Jahren,
politischen Gegner, wie ich es auch damals aus-
in denen die von jenseits wesentliche Pflöcke einge-
gedrückt habe. Wir müssen, verehrter Herr Kollege
schlagen haben, handelt es sich darum, das Maxi-
und andere Kollegen, zusammen leben, aber wir zu-
mum aus den Verträgen für die unter den welt-
sammen müssen auch mit denen jenseits der Scheide-
linie leben, wenn auch in einer anderen Weise. machtpolitischen Verhältnissen der siebziger Jahre
zu führende deutsche Politik — also den deutschen
Nach dem Abschluß der fünfziger Jahre und am Be- Beitrag zur Friedenspolitik in Europa — herauszu-
ginn der sechziger Jahre habe ich konstatiert, daß holen.
deutsche Politik für lange Zeit im Rahmen der Ver-
Daß Sie opponieren, meine Damen und Herren
träge, um die wir lange gerungen hatten, geführt
von der CDU/CSU, ist nicht das Unglück, sondern
werden müsse. Diese lange Zeit ist noch lange nicht,
ein Unglück kann werden, wenn Sie untauglich op-
sage ich jetzt zu Beginn der siebziger Jahre, zu Ende.
ponieren.
Darf ich die Voraussage oder eine Vorausschätzung
wagen, meine Damen und Herren: Am Ende der (Ein Tribünenbesucher versucht zu reden.
siebziger Jahre wird man und werden diejenigen, Er wird von Beamten des Hausordnungs
die dann ein Fazit zu ziehen haben für das nächste dienstes von der Tribüne entfernt.)
Jahrzehnt, weiter zu raten haben, wird man die Sie sind offensichtlich sachlich außerstande, in der
Qualität und die Chancen der deutschen Politik nach Denkweise der fünfziger Jahre, in die sich doch
der Fähigkeit beurteilen, die sie in diesem nun sieb- manche von Ihnen zurücksehnen und der Sie ver-
ten Jahrzehnt bewiesen hat, Modifikationen im Ver- haftet sind, die siebziger Jahre zu bestehen. Wir
hältnis der Teile des gespalten gebliebenen Deutsch- unsererseits wären untauglich, wenn wir Ihre und
lands zueinander zu erzielen und entwicklungsfähig unsere eigene Rolle und Funktion verwechselten.
zu machen. Daran können Sie dann denken, denn die
DDR wird ja nun als „Glied der Gemeinschaft so- Ich habe kürzlich gehört — es wurde, wenn auch
zialistischer Länder", wie der offizille Ausdruck dort nicht hier im Hause, draußen vom Vorsitzenden der
lautet, reklamiert. Christlich-Sozialen Union ausgedrückt jetzt
Manchmal versuche ich aus der mir begreiflichen müsse man zur Politik Adenauers zurück, sozusagen
Entrüstung eines solchen zu respektierenden Red- als eine Antwort auf Ulbrichts Anmaßung. Nur,
ners wie des Sprechers der CDU heute morgen hier meine Damen und Herren, daß können Sie gar nicht,
herauszuhören, wann Ihnen denn nun diese Ent- selbst wenn Sie es versuchen wollten. Denn — ich
deckung gekommen ist. Ich erinnere mich daran, daß bitte Sie sehr um Entschuldigung — erstens ist kei-
wir unsererseits im Streit um die Grundlinien der ner von Ihnen ein Konrad Adenauer oder entspricht
deutschen Politik Sorge gehabt haben, daß ich Ihnen ihm.
einmal hier gesagt habe, als Sie oben standen und (Heiterkeit. — Abg. Dr. Stoltenberg: Sie
ich unten saß: Es wird schrecklich für uns alle sein, auch nicht!)
wenn Sie und wir auf diesen Verträgen sitzenblei- — Das habe ich auch nie begehrt, Herr Stoltenberg.
ben werden. Ich weiß, daß Sie das damals- furchtbar Warum werden Sie denn plötzlich unleidlich?
getroffen hat, aber nicht aus demselben Grunde, wie (Lachen bei der CDU/CSU.)
mich die Sorge gedrückt hat, sondern weil Sie natür-
lich zu denen gehören wollten — und das kann ich — Ja, d a s können Sie immer noch aus der Zeit der
verstehen —, die die Karte, den Fahrplan, sogar Politik Adenauers: andere an der Entwicklung ihrer
einen Zeitplan für die Wiedervereinigung wähnten Gedanken zu hindern versuchen. Aber auch das
— ich unterstelle Ihnen ehrlichen Glauben — in der hat sich nicht durchgesetzt. — Aber Adenauer
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 869

Wehner
selbst — das sage ich zweitens — würde es auch Bundesrepublik. Sie ist wichtig für die Deutschen,
nicht können. auch für jene, denen es versagt geblieben ist, mit
uns im Rahmen unserer grundgesetzlichen Ordnung
Mancher hat vielleicht ,das Buch „Ferdydurke"
zusammenzuleben. Und nun müssen wir zu bewäl-
des polnischen Schriftstellers Gombrowicz gelesen.
tigen versuchen, was uns die sechziger Jahre auf-
Ich möchte damit sagen: In der Politik gibt es ein
geladen haben an Bürden und an Möglichkeiten.
„Ferdyduke", eine Entwicklung zurück zum Kind
Es wäre untauglich — und es war auch untauglich,
und Vorkind, nicht.
meine Damen und Herren —, darauf zu setzen:
Jedenfalls sei mit dem Respekt eines Opponenten Wenn wir nur noch lange genug die Zähne zusam-
gegen Konrad Adenauer von mir folgendes gesagt. menbeißen!, wie es der Herr Nachfolger Konrad
Seine zwei Gedanken zum Vorschlag der Sowjet- Adenauers im Bundeskanzlerstuhl — ehrlich — ge-
union 1952 für einen Friedensvertrag mit einem meint hat, das könne der wesentliche Inhalt sein,
wiedervereinigten Deutschland waren: 1. Der Vor- und wenn man das noch zehn Jahre tue, nachdem
schlag ist aus Moskau nur gemacht worden, um das man es zwanzig Jahre fertiggebracht habe, sich nicht
Scheitern der damals in Rede und in der Prozedur zur Geltung zu bringen, dann werde die andere
befindlichen Europäischen Verteidigungsgemein- Seite nicht mehr die Ansprüche stellen und faktisch
schaft, EVG, zu bewirken. 2. Wenn schon jetzt ein gescheitert sein. Wissen Sie, das mit dem „Zähne
solcher Vorschlag kommt, dann werden bald noch zusammenbeißen" müßten wir dann so lange ma-
bessere kommen. chen, daß wir in der Zwischenzeit in schwierige
Ich sage nichts zu dem Gedanken Nr. 1. Denn Situationen kämen, weil immer wieder neue Pro-
selbstverständlich ist es in der Politik immer so, thesen eingesetzt werden müßten.
daß jemand, der etwas anbietet, damit auch seine (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD.)
eigenen Interessen, eigenen Zwecke im Auge hat. Das ist kein Mittel.
Man muß abwägen. Da hat Konrad Adenauer im
Wir haben nichts zurückzunehmen vom Grund-
wesentlichen sicher richtig gedacht. Aber der Ge-
gesetz und auch von dem Willen zur Selbstbestim-
danke Nr. 2 war ein schwerwiegender Denkfehler.
mung, unter den das Grundgesetz durch seine Väter
Ich finde, einer der schwerstwiegenden, der mir in
gestellt worden ist. Wir müssen aber vieles dazutun
der deutschen Politik dieser 20 Jahre überhaupt
zu dem, was die damals noch nicht ahnen, nicht
bekanntgeworden ist. Es war ein historisches Ver-
voraussehen konnten, an das sie also noch nicht
säumnis, nicht in Verhandlungen zu prüfen oder,
hatten denken können; wir müssen vieles dazutun.
wie wir damals sagten, auszuloten, was an Substanz
Wir dürfen und wir werden aber die Bedeutung der
drinsteckte.
Bundesrepublik Deutschland nicht darin suchen, was
(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD.) sie etwa im Namen des ganzen deutschen Volkes
Das alles wiederholt sich aber nicht, und insofern tun könne oder können solle, sondern darin werden
ist es nicht Frage der aktuellen Politik. Nur weil wir ihre Bedeutung suchen und sehen, was sie für,
Sie sagen: zurück zur Politik Adenauers, nur des- d. h. zugunsten des ganzen deutschen Volkes tun
wegen habe ich mir diesen Rückblick erlaubt. soll und kann, ohne daraus Ansprüche, eigentlich
das Ganze zu verkörpern oder zu vertreten, abzu-
leiten. Das ist unsere Aufgabe.
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege
Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall bei der SPD.)
Wenn Sie oder manche von Ihnen dies ähnlich
Wehner (SPD) : Nein. sehen, werde ich um so froher sein, damit wir nicht
über bestimmte Stichworte streiten, die ihre Ge-
(Zurufe von der CDU/CSU.)
schichte haben.
Damit schmälere ich nicht und setze ich auch nicht
Beim Rückblick, meine Damen und Herren, auf die
herab, was der Teil Bundesrepublik
sechziger Jahre haben wir — wir alle, mögen wir
(Abg. Dr. Wörner: Warum haben Sie das es auch unterschiedlich werten und empfinden —
nicht 1952 im Bundestag gesagt? — Gegen vor allem an drei Daten zu denken, und wir haben
ruf von der SPD: Das hat er gesagt!) sie, soweit uns das möglich und vergönnt ist, in
des gespaltenen Deutschlands in dieser Zeit erreicht politische Schlußfolgerungen umzusetzen. Da ist der
hat. — Sehen Sie, man kann ja, wenn eine solche 13. August des Jahres 1961. Ich sage dazu nur: die
Debatte wie diese bevorsteht, annehmen, daß die, schmerzhafteste Besiegelung der deutschen Tren-
die sich ernstlich an ihr beteiligt fühlen, auch einiges nung. Da ist der 12. Juni 1964, d. h. der Moskauer
vorher lesen, nicht nur das, was die, die die Debatte Vertrag zwischen der Regierung der Sowjetunion
zu führen haben, vorher über die schreiben, mit und der DDR, sozusagen deren Generalvertrag.
denen sie sie hier eigentlich führen sollten, sondern Dann ist da der 21. August des Jahres 1968, d. h.
auch , einiges von den Tatbeständen. - die Intervention von fünf Mitgliedern des War-
schauer Paktes gegen ein sechstes Mitglied des
(Beifall bei den Regierungsparteien.) Warschauer Paktes. Das sind drei Daten aus diesen
Das muß ich annehmen. Das ist nicht unbescheiden, sechziger Jahren, die wir in politische Schlußfolge-
glaube ich. rungen umzusetzen versuchen müssen.
Jedenfalls will ich die Bundesrepublik weder Ich kann hier nicht mehr tun, als auf meinen Ver-
schmälern noch herabsetzen. Das ist ja unsere such — und einige Versuche habe ich auch hier im
870 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

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Bundestag gemacht — zu verweisen, die vorausseh- Das, was als zweites in dieser Zielzusammen-
baren deutschen Entwicklungslinien zur Lage in den fassung steht, die zweite Antwort, ist, daß wir alle
siebziger Jahren zu beschreiben. Es würde einfach Probleme nur im Frieden lösen wollen dürfen. Ich
den Rahmen sprengen, und ich darf nicht auf so will gern an einige Erörterungen erinnern und auch
viel Großmut rechnen, wie wir aufgebracht haben, noch einmal an die sechziger Jahre und an einen
um einen der Redner des heutigen Tages hier — Denkirrtum, der mir leid getan hat, bei einem be-
mit Recht — zur Geltung kommen zu lassen. deutenden Staatsmann, von dessen Politik in diesen
Fragen jetzt gesagt wird, daß man zu ihr zurück-
(Abg. Köppler: Es lohnte sich wenigstens!)
kehren müsse, nämlich das Ins-politische-Geschäft-
— Ja, sicher. — Bei Ihnen auf Kavaliere rechnen zu Treten einer weiteren kommunistischen, sehr weit
dürfen habe ich nie geglaubt. Ich bin auch nicht östlichen Großmacht und das Entstehen von Kon-
begierig darauf. flikten. Ich habe immer die Auffassung gehabt, daß
hier geirrt wird, wenn man annimmt, das würde
Nur zum Beispiel diese schreckliche Theorie, die
unsere Lage hier und die Lage der deutschen Fragen,
Militärdoktrin der DDR, veröffentlicht im „Neuen
vielleicht ihre Entbündelung, erleichtern. Ich habe
Deutschland" vom 23. November 1968. Ich habe dazu umgekehrt immer gerechnet, es würde uns wahr-
eine ausführliche Arbeit, die diese Militärdoktrin
scheinlich auf geraume Zeit erhebliche Erschwerun-
analysiert, geschrieben. Ich habe sie publiziert. Sie gen bringen, weil sich hier welche eingraben, ein-
ist auch in einem Buch, in dem eine Reihe Sozial- betonieren werden. Ich habe einmal gesagt: eher
demokraten ihre Ansichten zu den Perspektiven würden sie die Erde untergehen lassen, ehe sie das
sozialdemokratischer Politik in den siebziger Jahren Erstgeburtsrecht dessen, was sie ihre Oktoberrevolu-
niedergelegt haben — in freien Kommentaren —, tion nennen, anderen überlassen. Gut, das sind
mit enthalten. Darauf muß ich verweisen, ebenso Dinge, über die man reden kann, über die man
wie auf meine Rede vom 18. Oktober des Jahres unterschiedlicher Auffassung sein kann.
1968 hier.
Aber die daraus abzuleitenden Schlußfolgerungen
Ich will sagen: die Pflichten der Bundesrepublik
für die praktische Politik haben es dann eben in sich.
Deutschland sind gewachsen. Aber es wäre ganz
Aus diesem Grunde bin ich auch der Meinung, daß
untauglich, diese gewachsenen Pflichten — bei noch
zu dieser richtigen zweiten Feststellung, daß wir alle
so großer Anstrengung und subjektiver Aufrichtig-
Probleme nur in Frieden lösen wollen dürfen, auch
keit — etwa in den Denkvorstellungen der fünfziger
die ergänzende erlaubt ist, daß wir nicht glauben
Jahre erfüllen zu wollen.
können, unsere Suppe an Konflikten Dritter, seien
Was der Bundeskanzler über die Notwendigkeiten, sie noch so weit weg, kochen oder gar nur wärmen
von der Konfrontation zur Kooperation zu kommen, zu dürfen oder wärmen wollen zu dürfen. Da ist
gesagt hat — das eine Mal unter Berufung auf die vieles, worüber geredet werden muß.
entsprechende Bemerkung des amerikanischen Prä- Das Dritte ist unser Beitrag, damit mehr Men-
sidenten Nixon, das andere Mal, um deutlich zu schenrechte eingeräumt und praktiziert werden, nicht
machen, was das für uns in konkreter Politik be- nur im gespaltenen Deutschland. Wir werden das für
deutet —, verdient gründlichste Beachtung eben im das gespaltene Deutschland, so schwer, ganz be-
Zusammenhang mit dem, was in dieser gestrigen Er- sonders schwer es vielleicht gerade hier ist, nur
klärung unter dem Rubrum „Die Ziele, an denen stückweise in dem Maße durchsetzen können, in dem
deutsche Politik orientiert sein soll" zusammen- wir uns auch um Menschenrechte anderswo in der
gefaßt ist. Der Herr Kollege Kiesinger hat das heute Welt — und auch hier, wo es nicht um Demonstra-
morgen aufgegriffen. Da gibt es also doch noch hin tionen geht —, kümmern.
und wieder eine interessante Gedankenverbindung,
wenn auch wohl aus verschiedenen Motiven. (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Die erste Antwort, so heißt es in dieser Erklärung, Da, finde ich, war es verdienstvoll, daß der Bun-
ist die, daß wir die Teile Deutschlands, die heute deskanzler gesagt hat, dazu komme logisch die
freiheitlich geordnet sind, frei halten müssen oder, Frage, wie deutsche Politik diese Ziele durchsetzen
wie gesagt worden ist, daß die Bundesrepublik sich könne. Das gehe eben nicht mehr — ich würde
selbst anerkennen muß. Ich halte das für eine sagen: offensichtlich nicht mehr — mit den traditio-
wesentliche Sache. Manche wenden sich gegen die, nellen Mitteln des Nationalstaates. Es sieht viel-
wie sie wähnen und meinen, Schlafmützigkeit, gegen mehr so aus — in Bündnissen mit anderen und in
nationales Desinteresse oder Aufweichung usw. vie- Zukunft haben wir jedenfalls damit zu rechnen —,
ler, wie sie sagen, Wohlstandsbürger, zu denen aber daß es keine politischen Lösungen von Bedeutung,
doch die meisten sowieso gehören, und klagen dann Wichtigkeit mehr geben werde außerhalb von Bünd-
darüber. In Wirklichkeit ist das eine wesentliche, nissen, Sicherheitssystemen oder Gemeinschaften.
wichtige Sache, daß wir die Bedeutung der Bundes- Wenn da gesagt wird, deutsche Probleme von Wich-
republik für das Volk insgesamt, also auch für den tigkeit würden in Zukunft also nicht nationalstaat-
Teil, dem es nicht vergönnt ist, mit uns zusammen in lich im traditionellen Sinne, sondern nur im schritt-
derselben -grundgesetzlichen Ordnung zu leben, er- weisen Bemühen um eine europäische Friedensord-
kennen. Heute ist hier von meinem verehrten nung behandelt werden können, so ist das eine Ein-
Herrn Vorredner gesagt worden, wieviele Nach- sicht, die, doch niemandem zum Vorwurf, jetzt als
wachsende jetzt auch dort schon zu den nach dem eine Arbeitshypothese genommen wird, weil man
Krieg ins Leben getretenen Menschen gehören, die das gelernt hat. Es war durchaus richtig, zu wollen
dies immer nur so kennengelernt haben. — und wenn es uns vergönnt wäre, hätten wir
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 871
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nichts dagegen —, daß die Deutschen wieder in — Wir alle, selbstverständlich. Entschuldigen Sie
einem einheitlichen, einem demokratischen und als mal, ich würde mich ja abmelden und würde sagen:
guter Nachbar zu anderen sich bewegen wollenden Kinder, noch ist meine Zeit nicht ganz abgelaufen,
Staat leben können. Selbstverständlich, wer von uns aber ich merke, ich kann nicht mehr Positionen be-
wollte das nicht? Aber die deutsche Frage, soweit ziehen; dann schnell weg, dann ist man anderen
man von ihr im Singular sprechen kann, ist heute gegenüber schädlich. Das sowieso! Aber das muß
die Frage, ob die Deutschen in einem oder ob sie nicht jedermanns Verhalten sein; das ist klar.
in zwei, in mehreren Staaten — und mit welchen
Rechten — leben sollten. Darum wird noch gerun- Es heißt dann in Ihrer Rede weiter:
gen. Eben darum kann man das Zusammenwachsen
Es gibt bedeutende Schriftsteller; ich denke an der getrennten Teile Deutschlands nur einge-
den Ihnen, sehr verehrter Herr Kiesinger, ja nicht bettet sehen in den Prozeß der Überwindung
des Ost-West-Konfliktes in Europa.
ganz unbekannten Herrn Klaus Mehnert, der z. B.
aus seiner Sicht in einem der Bestseller dieses Eine Regierung, die nun eben dieses tut, die sich
bücherlesenden Volkes geschrieben hat: Das kann bemüht um die Überwindung des Ost-West-Kon-
sein ein, und das können sein zwei deutsche Staa- fliktes in Europa — eingebettet darin deutsche Fra-
ten, die einem sich vereinigenden oder vereinigten gen —, unterliegt jetzt Ihren Vorwürfen.
Europa oder einem kooperierenden Europa ange- (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)
hören. Das schmerzt den einen so, daß er es über-
haupt nicht andeuten will. Andere wird es anspor- Vorwürfe — ich habe nichts dagegen; aber solche
nen. Das sind Fragen, über die man sachlich reden Fragen: Wo wollen Sie eigentlich hin, und was füh-
kann und bei denen man, wo notwendig, falsche ren Sie im Schilde?, und das nur, weil sich diese
Motive, die vorherrschen oder anderen unterstellt Regierung um das bemüht, von dem Sie selber
werden — ich habe es hier mit denen zu tun, die sagen, es sei die Voraussetzung dafür, daß die
uns und der Regierung unterstellt werden, und des- deutschen Fragen lösbar werden. Die Regierung ist
wegen stelle ich mich an die Seite der Regierung —, auch ehrlich genug und sagt: Das muß nicht sein,
zurückweisen muß. daß wir das große Los in der Lotterie oder ein hoch-
wertiges Anteillos gleich ziehen. Irgendwann wer-
Wiedervereinigung: Da wird gefragt, ob man den wir es auch noch ziehen; ich hoffe für die Regie-
denn an sie glaube oder nicht, Sie haben selber, rung, sie werde es tatsächlich ziehen, wenn sie be-
Herr Kollege Kiesinger, heute hier an etwas er- harrlich sich weiter einsetzt.
innert, was Sie einmal in einer Rede gesagt haben,
die man, wenn man sie lesen will, aus dem „Bulle- Sie haben damals noch, verehrter Herr Kollege
tin" vom 20. Juni 1967 lesen muß; damals hat übri- Kiesinger, gesagt:
gens kein Blatt von Rang — ich kenne keines — Die Bundesrepublik Deutschland kann ebenso
die Rede im Wortlaut veröffentlicht. Sie war also wie ihre Verbündeten eine weitschauende Ent-
offensichtlich zu nachdenklich. Da stand drin: spannungspolitik nur führen auf der Grundlage
der eigenen Freiheit und Sicherheit.
Deutschland, ein wiedervereinigtes Deutsch-
land, hat eine kritische Größenordnung. Da sind wir einer Meinung.
Das haben Sie heute schon in Erinnerung gebracht. Die atlantischen und die europäischen Mitglie-
der des Bündnisses sind deshalb heute wie frü-
Es ist zu groß, um in der Balance der Kräfte
her aufeinander angewiesen. Aber unsere Bünd-
keine Rolle zu spielen, und zu klein, um die nisse und unsere Gemeinschaften haben keine
Kräfte um sich herum selbst im Gleichgewicht aggressiven Ziele. Sie würden ihren Sinn ver-
zu halten. Es ist daher in der Tat nur schwer fehlen, wenn es ihnen zwar gelänge, in einer
vorstellbar, daß sich ganz Deutschland bei einer machtpolitisch kritischen Region eine lange
Fortdauer der gegenwärtigen politischen Struk- Waffenruhe zu sichern, wenn aber zugleich die
tur in Europa der einen oder der anderen Seite Spannungen akkumuliert und die schließliche
ohne weiteres zugesellen könnte. Entladung um so verheerender sein würde.
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das ist meine Deshalb
Meinung heute noch!) — so haben Sie damals messerscharf gesagt —
— Ich bin überzeugt, daß das Ihre Meinung ist. müßte die Entwicklung folgerichtig zu einem
Ich habe mich nur gefreut, wieweit Ihre Entwicklung Interessenausgleich zwischen den Bündnissen
aus der Schar der Gladiatoren der fünfziger Jahre im Westen und im Osten und schließlich zu einer
Sie nach vorne geworfen hat zu diesen Einsichten. Zusammenarbeit führen — einer
Damals war es ja eine Todsünde, das auch nur an-
nähernd sagen und deutlich machen zu wollen. — wie Sie damals unterstrichen —

(Beifall bei den Regierungsparteien. — unentbehrlichen Zusammenarbeit, angesichts


Widerspruch bei der CDU/CSU.) der Krisenherde in allen Regionen unserer Welt,
der rapiden Veränderungen überall, die lebens-
Ich sehe mit Hochachtung, daß Sie in dieser Frage gefährlich werden müssen, .. .
Positionen — — Meine Damen und Herren, mit einer gewissen
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wir alle lernen!) Spannung kann ich darauf warten, wenn der nächste
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Akt — nämlich der entsprechende führende Sprecher — Ich bin gerade dabei. Nur bin ich ja langsamer
der Christlich Sozialen Union — hier abgehalten im Sprechen als sie im Denken.
werden Wird; ich meine: der Akt, nicht der Sprecher (Heiterkeit.)
selbst.
(Heiterkeit.) Ich wollte gerade sagen, Sprengstoff von rechts-
außen gehört in der Landschaft des gespaltenen
Der hat ja vorher schon eine ganze Reihe — was Deutschlands in das politische Kalkül von links-
alles unmöglich sei und was alles auch nicht be- außen. Das ist der Sachverhalt.
rührt werden darf — deutlich gemacht.
(Beifall bei den Regierungsparteien.)
Ich muß sagen, es müßte eigentlich denkbar sein, Ich habe 1952 einmal ein Gespräch unter vier
daß über die Regierungskoalition von SPD und FDP Augen mit Herrn Bundeskanzler Dr. Adenauer
hinaus Übereinstimmung etwa darüber erzielbar führen müssen, weil er mich draußen fürchterlich be-
werden würde, daß für die Zukunft des deutschen zichtigt hatte, ein Brunnenvergifter zu sein. Anlaß
Volkes jeder Versuch lebensgefährlich würde, deut- war eine kurze Rede von zehn Minuten — mehr
sche Fragen oder die deutschen Fragen nationali- Redezeit hatte ich ja gar nicht — auf dem ersten
stisch behandeln oder lösen zu wollen. Sicher, jeder Parteitag der SPD in Dortmund nach Schumachers
wehrt sich dagegen, „nationalistisch" genannt zu Tod. Ein motorisierter Bote brachte mir damals
werden; denn er sei ja Nationalist. Es geht um eine einen Brief, den ich quittieren mußte. Der Bundes-
Methode, nicht um die Begründung. Diese Versuche kanzler wollte damals wissen, welche ungeheuer-
würden nämlich unweigerlich zur Isolierung der lichen Behauptungen ich aufgestellt hätte, und er
Bundesrepublik, zur Selbstzerfleischung unseres ge- wollte die Quellen meiner ungeheuerlichen Behaup-
prüften Volkes führen. Und schließlich würde um tungen über die damaligen Interessenübereinstim-
uns herum in West, Ost, Nord, Süd gesagt werden: mungen zwischen gewissen westlichen und östlichen
Die Deutschen müssen weiterhin in der Quarantäne Politikern wissen. Damals ging es um ein Interview,
ihrer Spaltung bleiben. Das sollte eigentlich — über das Stalin Herrn Nenni gewährt hatte; das sind
diese Koalition von SPD und FDP hinaus — auch die alles schon historische Figuren. Ich hatte es gewagt
Ansicht mancher anderer sein können, und daraus — als jüngerer, der ich damals noch war —, das in
sollten sich manche Schlußfolgerungen ableiten las- meine politischen Überlegungen einzubringen und
sen können. gegen die SED abzuschießen, die ja damals heuch-
Es gibt eine zweite Lebensgefährlichkeit, die ich lerisch von der Einheit Deutschlands und von
für Europa sehe. Für die Mitte, den Westen, den „Deutschland an einem Tisch" sprach. Herrn Ade-
Norden, den Süden Europas wäre es lebensgefähr- nauer hat das furchtbar erregt, weil ich dabei auch
lich, wenn die Bundesrepublik Deutschland in den gewisse angebliche französische Interessen nicht
Sog oder in den Bereich jener Doktrin geriete oder unerwähnt gelassen habe.
schlitterte oder rutschte, durch die — lassen Sie es Wir haben dann darüber gesprochen. Ich habe
mich sehr präzise zu sagen versuchen — das Recht damals gesagt: Trotz allem, was uns trennt —
auf Selbstbestimmung an das Wohlverhalten gegen- uns trennt sehr viel; wir haben viel gegen Ihre
über einem Machtzentrum gekettet ist. Das ist der Politik —, gibt es eine Grenze, die wir nicht über-
wesentliche Inhalt dieser Doktrin. schreiten dürfen — das haben wir selbst herausge-
funden —, nämlich die Grenze, deren Überschrei-
(Beifall bei der SPD.) tung uns zur Kollaboration mit den Parteien im
Das wäre lebensgefährlich für Europa. Das ist noch anderen Teil Deutschlands führen würde. Das war
ein Trost für uns; denn diejenigen, die die Lage die von uns selbst gefundene und gewählte Grenze.
insgesamt richtig sehen, haben eigentlich ein Lebens- Diese Grenze hatten wir uns nicht aus schwer zu
interesse daran, uns da nicht hineinschlittern zu las- definierenden Gründen gesetzt, sondern einfach
sen. deshalb, weil es darum ging, unsere eigene poli-
tische Persönlichkeit als selbständige Persönlich-
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Le- keit nicht untergehen zu lassen. Sie veranlassen
bensgefährlichkeiten erfüllen Sie — ich meine jetzt mich — ich meine Sie, die Sie jetzt die Opposition
Sie von der Opposition —, jedenfalls bisher, leider sind — zu der nachdenklichen Frage — die ich mehr
nicht die Funktion der Opposition im Rahmen der an mich selbst stelle als etwa an Sie —: Werden
Bundesrepublik Deutschland. Sie die Kraft aufbringen und sich in die Zucht
nehmen, die wir Sozialdemokraten uns in der Oppo-
(Widerspruch bei der CDU/CSU.)
sition auferlegt haben,
— Seien Sie doch froh, daß Sie noch etwas vor sich (Lachen bei der CDU/CSU)
haben und daß es nicht Ihre eigene Vergangenheit
weil wir erkannt hatten, daß die Opposition über
ist, über die Sie hier andere reden hören. Sie sind —
eine bestimmte Grenze nicht gehen dürfe bei Strafe
ich sage Ihnen das ganz ruhig, denn ich kenne Oppo-
ihrer eigenen Auslöschung als selbständige poli-
sition; ich habe das gelernt — noch in der Gefahren-
tische Kraft und der Summe der selbständigen poli-
zone, Sprengstoff von und Sprengstoff für rechts-
tischen Kräfte, d. h. unseres demokratischen Staates?
außen zu nehmen oder zu liefern, und zwar Spreng-
Ich lese manchmal von Ihnen und höre es aus den
stoff in jeder Hinsicht.
Tönen heraus — was mir Sorge macht, nicht direkt
(Abg. Dr. Stoltenberg: Kümmern Sie sich um unseren Bestand —, daß Sie oder jedenfalls
mal um Ihre Linksaußen!) viele von Ihnen noch weit davon entfernt sind, sich
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 873
Wehner
so in Zucht zu nehmen. Sie können noch nicht Frieden der Welt zu dienen erstreben. Nun, das
davon los, daß eigentlich Sie der Staat seien. wäre mißverstanden, wollten wir es auslegen oder
von anderen auslegen lassen, als hätten wir erst
(Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel:
in vollendeter Einheit in Freiheit als gleichberech-
Herr Oberlehrer!)
tigtes Glied eines vereinigten Europa dem Frieden
Das ist schwer, das gebe ich zu. der Welt dienen zu dürfen oder zu wollen. Nein,
(Abg. Dr. Stoltenberg: Wer hat denn die wir müssen uns — das ist unsere Lage, und im
meisten Ordnungsrufe in diesem Hause Grunde gibt es da in der Praxis gar keine wirklichen
bekommen und redet hier von Zucht?) Unterschiede zwischen Ihnen und uns, aber Sie
wollen es ja sicher auch interessant machen — auch
Sogar wenn unsere Mehrheit, meine Damen und und schon im Stadium der Spaltung bemühen, die
Herren, Sie vor dem Ärgsten, d. h. Unwiderruf- Sympathien, das Vertrauen, die Zuneigung anderer
lichem, bewahren kann, profitieren zu erwerben, indem wir den Frieden sicherer zu
(Abg. Dr. Barzel: Die meisten Ordnungs machen helfen. Genau das ist der Inhalt und ist der
rufe und von Zucht reden! — Abg. Dr. Stol Leitgedanke dieser Politik, von der wir gestern hier
tenberg: Wer entschuldigt sich hier denn gehört haben.
wegen seiner Zügellosigkeit? Sie, Herr Meine Damen und Herren! Im 25. Jahr nach der
Wehner!) militärischen Beendigung des zweiten Weltkrieges
— sicher, Herr Mustermann — von Ihnen — leider, sind wir, die Koalitionsparteien, bemüht, nicht zer-
auch wenn und obwohl Sie das gar nicht wollen; bröckeln zu lassen, was unser Volk an moralischer
das sage ich ausdrücklich — diejenigen, die jenseits Substanz aus zwei Weltkriegskatastrophen doch
der Scheidelinie operieren. Das ist der Sachver- gelernt und gewonnen hat. Ich bin davon überzeugt,
halt. daß wir nicht allein bemüht sein werden, es so zu
(Beifall bei den Regierungsparteien.) halten und zu erhalten.
Die Bundesregierung wird sich — so nehme ich an, (Abg. Dr. Barzel: Würden Sie sich denn
so erwarte ich, und darin werde ich sie bestärken auch bemühen, Herr Wehner, da Sie schon
— nicht beirren lassen, und wir, die Parteien der Fragen nicht erlauben, hier im Hause nichts
Mehrheit, werden sie darin bestärken. von den Gemeinsamkeiten zerbröckeln zu
Wir bemühen uns um Verständigung auch in lassen, die vorhanden sind? Wie stehen
Gestalt von Verträgen einschließlich von Ver- Sie zum 25. September?)
trägen mit der DDR. Von Ihnen, meine Damen und — Sie, Herr Dr. Barzel, haben mir bisher keine
Herren der Opposition, wird nicht erwartet oder Frage gestellt. Ich will keine Pauschalerklärungen,
gefordert, daß Sie sich uns anschließen, aber daß weder von der einen noch von der anderen Seite.
Sie versuchen, in sachlichem Gegeneinander und im Ich gucke mir an, wer eine Frage stellen will. So
nationalen Miteinander zu hüten, woran unser geht das weiter.
aller, sogar Europas Schicksal hängt. Das ist jetzt
(Heiterkeit bei der SPD. — Abg. Lemmrich:
vielleicht etwas zu pathetisch gesagt, aber es ist
Sie haben ein Dreiklassenwahlrecht!)
so.
Und das möchte ich doch noch betonen: ich finde, — Ja, ja, sogar noch mehr! Mit „Klassen" hat das
von Ihrer Seite ist gerade in diesen letzten Tagen nichts zu tun; das ist ganz individuell.
vor der Debatte — und man wird ja vielleicht auch
hier noch Anklänge finden — wiederholt mit der Vizepräsident Frau Funcke: Herr Abgeord-
Vorstellung operiert worden, die deutsche Politik — neter Wehner, gestatten Sie denn eine Zwischen-
und das sei eben der Fehler der Sozialdemokraten frage des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel?
und natürlich der Freien Demokraten erst recht —
müsse erst das eine und dann das andere tun, also
erst den Westen, um es dann auch mit dem Osten Wehner (SPD) : Ja, sicher, gern!
ernsthaft zu probieren.
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Wer?) Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Wehner,
— Bitte sehr, ich habe es doch schriftlich hier, und ich frage, ob Sie auch hier im Hause mögliche Ge-
zwar von sehr kompetenten Persönlichkeiten. meinsamkeiten nicht zerbröckeln lassen wollen, z. B.
dadurch, daß Sie dartun, aus welchen Gründen und
(Zurufe von der CDU/CSU: Wer hat denn wo die sozialdemokratische Bundestagsfraktion
das gesagt?) heute von dem abgeht, was sie am 25. September
Ich nehme es Ihnen ja gar nicht übel; ich will Ihnen 1968 in diesem Hause einstimmig mit uns beschlos-
nur sagen, wir sind anderer Meinung. Denn wir sen hat.
- (Beifall bei der CDU/CSU.)
Deutschen in der Bundesrepublik sind zur Gleich-
zeitigkeit der Bemühungen in verschiedenen Rich-
tungen und Etagen verdammt, wenn ich das so Wehner (SPD) : Das wissen Sie, verehrter Herr
sagen darf. Kollege, seit Montag — oder war es Dienstag
(Beifall bei den Regierungsparteien.) abend? —, wo ich gesagt habe: Wir werden keiner
In unserem Grundgesetz steht, daß wir als gleich- einzigen Resolution zustimmen. Dabei bleibt es.
berechtigtes Glied eines vereinigten Europa dem (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.)
874 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Wehner
Ich habe Ihnen auch gesagt, warum wir keiner ein- Orientierung von staatsmännischem Format gegeben
zigen Resolution zustimmen und auch keine eigene hat,
einbringen werden. Hier geht es darum, den Raum (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na!)
der Regierung für die konkrete Politik freizuhalten,
steht über dem Verdacht, Fragen von gesamtnatio-
(Zurufe von der CDU/CSU) naler und von europäischer Bedeutung als Schlag-
und selbst solche Entschließungen, die vorher unter instrumente der Innenpolitik zu benützen.
anderen Umständen — auch mit unseren Stimmen — (Abg. Dr. Barzel meldet sich wiederholt zu
hier gefaßt worden sind, lehnen wir ab, nicht wegen einer Zwischenfrage.)
des sachlichen Inhalts, sondern weil dieses Spielen
mit den Resolutionen jetzt niemandem helfen kann.
Es geht um Politik und nicht um das Resolutionieren. Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege
Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
rufe von der CDU/CSU.)
Wehner (SPD) : Nein, ich bin gerade am Schluß.
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege Die verehrten Kollegen von der CDU/CSU täten
Wehner, gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage gut daran, in der Opposition nicht in die Fehler
des Herrn Abgeordneten Dr. Barzel? zurückzufallen, die sie als Regierungspartei auf der
Höhe ihrer Entwicklung sich haben vorwerfen lassen
müssen, nämlich die empfindlichen Fragen der Au-
Wehner (SPD) : Ich habe die Frage beantwortet; ßen- und der Deutschlandpolitik als innenpolitische
ich danke. Ich will jetzt zum Schluß kommen. Schlaginstrumente zu benutzen und die demokra-
(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU.) tische Ordnung und die in ihr zu führenden Debat-
ten durch ein Feindverhältnis — von dem manche
Der Vorsitzende der Christlich-Sozialen Union hat nicht loskönnen und auf das andere immer wieder
jüngst — in ganz jüngster Zeit, und deswegen muß zustreben — zu belasten
ich das noch sagen — den geschmacklos berechneten
(Abg. Dr. Stoltenberg: Sie machen das hier!)
Versuch unternommen, die Persönlichkeit des Bun-
deskanzlers der Geschichtslosigkeit zu bezichtigen. und dadurch die Demokratie ins Mark zu treffen.
Ich zitiere diese Sätze hier nicht, um ihnen nicht (Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr.
noch weitere Verbreitung zu geben. Das gehört Stoltenberg: Diese Provokationen, die Sie
wohl, wenn ich es recht bedenke, in die Reihe der hier bieten, sind gerade geeignet!)
Versuche, die, wie einst den Sozialdemokraten
nachgesagte Vaterlandslosigkeit, längst auf ihre Meine Damen und Herren, im gespaltenen Deutsch-
Erfinder zurückgefallen sind. land würde das wie Selbstverstümmelung wirken.
Das nur noch mit auf dem Heimweg!
(Abg. Dr. h. c. Strauß: Quatsch!)
Ich danke Ihnen für Ihre große Geduld.
— Natürlich war es „Quatsch", was Wilhelm II.
gesagt hat, und das, was jetzt Franz Josef Strauß (Lebhafter, anhaltender Beifall bei der SPD.)
sagt, ist ebenso „Quatsch". Das deckt sich absolut
und ist kongruent. Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der Abgeordnete Dr. Gradl.
CDU/CSU.) (Unruhe bei der CDU/CSU. — Abg. Stück
Ich wollte sagen: dem Entdecker der „Geschichts- len: Weil wir für Strauß keine Redezeit
losigkeit" wird die damit erkennbar gewordene haben, Frau Präsidentin! — 15 Minuten! —
schlimme Absicht noch lange nachlaufen, Herr Was soll denn das?! — Abg. Dr. Barzel:
Strauß, ebenso wie denen, die heute morgen hier zu Dadurch wird Strauß jetzt behindert! — Die
ästhetisch waren, eine klare Antwort darauf zu Koalition hat jetzt die Rede Strauß verhin
geben, ob sie denn nicht von der Infamie der Be- dert! — Abg. Stücklen: So geht das nicht im
schuldigung des 'nationalen „Ausverkaufs" abzu- Präsidium oben! — Weitere Zurufe und
rücken gedächten. Das wäre, ohne daß damit jeman- Unruhe in der Mitte.)
dem eine Perle aus der Krone oder eine Feder vom
Hut gefallen wäre, eine Gelegenheit gewesen, be- Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Gradl.
stimmte berechnete subkutane Ausdrücke aus der (Anhaltende Unruhe. Abg. Dr. Stolten
deutschen Diskussion draußen zurückzuziehen. Dann berg: Das ist der neue Stil hier! — Abg. Dr.
sollten diejenigen sie verantworten, die sich daran Barzel: Das ist der liberale Stil von „mehr
nicht halten wollen. Sie haben das leider heute hier Demokratie" !)
verweigert. -
(Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
rufe von der CDU/CSU.)
Dr. Gradl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Kollege Wehner hat soeben
Der Bundeskanzler und die Bundesregierung, für davon gesprochen, daß wir in der Opposition uns bei
die der Bundeskanzler im Bericht über die Lage der der Behandlung der Fragen, um die es hier geht,
Nation 1970 eine die komplizierte Lage aufhellende mehr Zucht auferlegen sollten. Wir haben uns in
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 875
Dr. Gradl
diesem Hause seit der ersten Debatte über die erste Meinung jetzt für die künftige deutsche Politik nicht
Regierungserklärung wirklich bemüht, mehr grundlegend sein kann, dann, meine ich, soll-
ten Sie das präzise sagen, und dann wollen wir dar-
(Sehr wahr! in der Mitte)
über diskutieren.
sachlich und dem Ernst der Situation gemäß unseren
Standpunkt zu vertreten. Wenn jemand zu lernen In den Ausführungen des Kollegen Wehner war
ein erheblicher Teil geschichtlichen Bewertungen
hat in bezug auf Zucht,
und Betrachtungen gewidmet. Dies möchte ich ge-
(Zuruf von der Mitte: Dann ist es Wehner!) wissermaßen mit als Entschuldigung dafür nehmen,
daß auch ich einen Moment zurückblicke, um dann
dann, meine ich, ist es die Regierung und sind es
auch ein Wort zu 1952 zu sagen. Aber vorher geht
die zu ihr gehörenden Fraktionen. Sie müßten näm-
es mir um folgendes.
lich lernen, daß man, wenn man die Regierung bil-
det und nunmehr für sie allein die Verantwortung Herr Kiesinger hat heute morgen bereits die
hat, da eben den kritischen Fragen der Opposition Materialien zum Bericht zur Lage der Nation kriti-
ausgesetzt ist. Und die Opposition hat die Pflicht, siert. Ich habe ebenfalls einen kritischen Beitrag zu
kritisch zu sein und deutlich auszusprechen, was sie leisten. Man kann manches kritisch zu diesen Mate-
meint. rialien sagen. Was ich beanstande und was meine
(Beifall bei der CDU/CSU.) Freunde mit mir besonders beanstanden, ist die Art,
Wenn im übrigen von Zucht die Rede ist, dann soll- in der im ersten Teil die Entwicklung der deutschen
ten wir uns daran erinnern, daß das Generalthema Situation oder, wie es hier heißt, der Deutschland-
dieses Tages „Lage der Nation" heißt. frage von 1945 bis etwa 1955 dargestellt worden ist.
Meine Damen und Herren, der, der diesen Teil for-
(Abg. Dr. Stoltenberg: Und nicht „Wehvers muliert hat oder verantworten will, hat entweder
Memoiren"!) nicht miterlebt oder er will nicht wissen, was in
Dies, meine ich, bedeutet den Anspruch an uns alle Wahrheit nach 1945 bis 1955 gewesen ist.
— denn wir haben uns ja gemeinsam dazu entschlos- (Abg. Haase [Kassel] : Er will es nicht wis
sen, alljährlich in diesem Hause eine solche Dis- sen! — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] :
kussion zu führen —, bei solcher Debatte mitein- Ungenügende Proseminararbeit!)
ander umzugehen und zu diskutieren immer in dem
Er will nicht wissen, wie der reale Hintergrund ge-
Bewußtsein, daß das so geschehen muß, wie wenn
wesen ist, vor dem unsere Diskussionen und Ent-
die Menschen vom anderen Teil Deutschlands, um
scheidungen in den Jahren von 1945 bis 1955 voll-
die es doch eigentlich geht, hier mitten unter uns
zogen worden sind und vollzogen werden mußten.
wären und zuhörten.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Von diesem wahren Hintergrund findet sich ein ein-
Das ist, meine ich, der Stil, den wir uns alle aufer-
ziger Satz. Und nun nehmen Sie einmal diesen Satz
legen sollten. Wenn „Zucht", dann, bitte, Zucht in
zur Kenntnis — wie da mit einer unerhört keuschen
dieser Weise!
Enthaltsamkeit alles vermieden worden ist, was
Herr Kollege Wehner, Ihre Stellungnahme zu der deutlich machen könnte, was die Wirklichkeit in die-
Entschließung, die wir hier gemeinsam im Septem- sem Deutschland nach 1945 gewesen ist. Dieser Satz
ber 1968 gefaßt haben, bitte ich doch noch einmal zu lautet:
überlegen. Die Frage ist, ob die Grundpositionen, Die sowjetischen Besatzungsbehörden leiteten
die wir in dieser Entschließung damals gemeinsam in ihrer Zone unverzüglich eine umfassende poli-
bezogen haben, noch gelten, ob sie auch für Sie, die tische, wirtschaftliche und sozial-strukturelle
Sie jetzt die Regierung bilden und verantworten, Umwandlung und eine Zentralisierung der Ver-
noch gelten oder nicht. waltung ein.
(Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Mord und
Keiner von uns — damals haben wir ja selber die Totschlag!)
Regierung mit verantwortet — hat, als diese Ent- Das ist alles, was zur Kennzeichnung dessen, was
schließung formuliert wurde, daran gedacht, damit sich damals vollzogen hat, in diesem Bericht zu fin-
der verantwortlichen Regierung irgendwelche Be- den ist. Nichts steht dort von dem Verhalten der so-
engungen ihres Verhandlungsspielraums oder ihres wjetischen Besatzungsmacht und der deutschen
Handlungsspielraums im praktischen Vollzug der Kommunisten, ihrer deutschen Mitläufer und Helfer,
Regierungspolitik aufzuerlegen. Was uns damals nichts über das tatsächliche Verhalten, das damals
bewegt hat, war, ein paar Pflöcke einzurammen in das Vertrauen der deutschen Demokraten in der so-
einer tragischen Situation, in der unter dem unmit- wjetischen Besatzungszone und natürlich auch in den
telbaren Eindruck des Geschehens in der Tschecho-
- anderen Zonen Deutschlands zutiefst erschüttern und
slowakei in unserem Lande die Frage aufgebrochen sie mit einem unsagbaren Mißtrauen gegen alles,
war: Was wird denn nun eigentlich nach diesem Ge- was von östlicher Seite später kam, erfüllen mußte.
schehen hier in der Mitte Europas, in der wir un- Nichts steht dort davon, daß dieses Gebilde, das
seren Platz haben? Auf diese Frage, auf dieses Be- heute beansprucht, als ein deutscher Staat gewertet
dürfnis haben wir damals Antwort zu geben ver- zu werden, mit einer Lüge der Gruppe Ulbricht be-
sucht. Damals waren wir alle darüber einig. Wenn gonnen hat, die in ihrem Gründungsaufruf vom
in dieser Entschließung etwas ist, was nach Ihrer 11. Juni 1945 gesagt hat: Wir sind der Auffassung,
876 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970
Dr. Gradl
daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzu- der Herr Kollege Wehner nicht die Frage nach der
zwingen, falsch wäre; denn dieser Weg entspricht Bewertung jener berühmten sowjetischen Note, des
nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen. sowjetischen Schrittes vom März 1952 hier noch ein-
So fing es an, und im selben Atemzuge wurde schon mal in seine Betrachtung einbezogen hätte. Ich weiß,
mit der ersten Phase der Sowjetisierung der Lebens- damals gab es in allen Parteien verschiedene .Auf-
verhältnisse in der Zone begonnen. fassungen darüber, wie man diese Note zu bewer-
(Beifall bei der CDU/CSU.) ten hat. Aber die Entscheidung, zu der man damals
gekommen ist, ist doch letzten Endes eben durch
Nichts finden Sie in diesem Abschnitt der „Mate- jenes abgründige Mißtrauen gegen die sowjetische
rialien" darüber, was geschehen ist, um die Sozial- Politik herbeigeführt worden, das die Sowjetunion
demokraten in Mitteldeutschland dazu zu bringen, selber in den Jahren nach 1945 durch ihr eigenes
in die erzwungene Einheit mit den Kommunisten Verhalten und durch das Verhalten der Gruppe
hineinzugehen. Ulbricht ausgelöst hat. Dies war doch der letzte
(Beifall bei der CDU/CSU.) Grund, weshalb die meisten hier der Meinung
waren: dies ist ein Versuch der Irreführung, es ist
Nichts steht dort von dem physischen Terror, der da-
nicht der Versuch einer ernsthaften Lösung.
mals gegen deutsche Demokraten aller Parteien aus-
geübt worden ist. Nichts ist davon zu spüren, daß Wenn ich Ihnen jetzt zwei Sätze von in diesem
die Verhältnisse in der Zone Millionen Menschen in Zusammenhang jedenfalls unverdächtigen Zeugen
die Flucht getrieben haben. vorlese, dann werden Sie sehen, daß das Miß-
Meine Damen und Herren, so kann man doch die trauen, das damals eine so wesentliche Rolle ge-
Entwicklung der Deutschlandfrage von 1945 bis 1955 spielt hat, nicht unberechtigt war. Herr Ulbricht
in einem amtlichen Materialbericht zur Lage der hat am 3. Mai 1952, wenige Wochen nach der März
Nation nicht darstellen. Note, in der Humboldt-Universität zu dieser Note
in einem Vortrag gesagt:
(Abg. Frau Griesinger: Sehr gut!)
Wenn das die Darstellungsweise bliebe, würde ich Die Frage ist: Gehört Deutschland dem großen
mich nicht wundern, daß Menschen der jungen Gene- Weltfriedenslager an, oder gehört es zur Staa-
ration, die das alles nicht selber miterlebt haben, tengruppe des Atlantikkriegspaktes? Die Deut-
heute gar nicht mehr verstehen, warum wir uns alle schen können in Frieden leben, wenn die ag-
damals so verhalten haben, warum z. B. auch Kurt gressiven Mächte wissen, daß dieses Deutsch-
Schumacher hier von diesem Platz aus in massiver land fest mit dem Weltfriedenslager verbunden
Weise immer wieder leidenschaftlich vor den troja- ist.
nischen Versuchen der anderen Seite gewarnt hat. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das war
also die Absicht!)
Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege Dr. Oder soll ich Ihnen vorlesen, wie Herr Kardelj,
Gradl, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn ein maßgeblicher Mann der jugoslawischen kom-
Dr. Marx? munistischen Partei, damals die Situation gewer-
tet hat, als er von der heuchlerischen Rolle der
Sowjetpolitik sprach, die „der ganzen Welt die
Dr. Gradl (CDU/CSU) : Ja. Ohren vollschreit von der Notwendigkeit einer
Einigung Deutschlands und praktisch alles nur Mög-
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr Kol- liche tut, damit es nicht zu dieser Einigung kommt"?
lege Gradl, finden Sie es nicht auch der Kritik Das war im November 1952. Auch andere, Unver-
würdig, daß z. B. in diesen sogenannten „Materia- dächtige, haben damals also das große Mißtrauen
lien", was die Aufrüstung in Deutschland anlangt, gegen die wahren Absichten der sowjetischen Poli-
nur ein einziger Satz enthalten ist, der die Auf- tik gehabt. Wenn man schon über das Jahr 1952
rüstung des Westens anvisiert, aber kein Wort redet, muß man dies mit im Bewußtsein haben.
über die Tatsache, daß seit 1946 in der Sowjetzone Meine Damen und Herren, zurück zu dem, womit
Volkspolizei und verschiedene militärische und wir uns eigentlich hier befassen, also zu dem, was
paramilitärische Verbände aufgebaut worden sind, der Herr Bundeskanzler gestern über die Politik,
die Vorläufer der Nationalen Volksarmee waren? die für die Nation getrieben werden soll, gesagt
hat. Er hat festgestellt, der Kern unserer nach Ost-
europa gerichteten Politik sei der Gewaltverzicht.
Dr. Gradl (CDU/CSU) : Herr Kollege Marx, da Und immer wieder war der rote Faden der Ge-
könnte man noch vieles aufzählen. Genauso wie waltverzicht. Hier ist heute schon von unserer
Sie habe ich, als ich diesen Passus las, daran ge- Seite gesagt worden, wir bejahen diese Politik des
dacht, daß wir schon 1950 die Unterlagen über den Gewaltverzichts. Ich möchte aber noch einmal für
-
Aufbau der kasernierten Volkspolizei hatten, die uns von der CDU/CSU ganz deutlich sagen: Wenn
der Vorläufer der späteren Nationalen Volksarmee wir von Gewaltverzicht sprechen und für Gewalt-
gewesen ist. Dies alles gehört zu den Mängeln die- verzicht eintreten, meinen wir genau das, was die-
ses politischen Berichts. Es wäre besser gewesen, ses Wort sagt, nämlich Verzicht darauf, strittige
man hätte auf ihn überhaupt verzichtet. Fragen durch Gewalt zu lösen. Wir verwahren uns
Ich hätte mir vielleicht noch den Rückblick auf die und wir wehren uns dagegen, daß der Gewaltver-
tatsächliche Entwicklung nach 1945 erspart, wenn zicht mißbraucht werden soll, um uns den Ver-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 877
Dr. Gradl
zicht auf das Beharren auf den Grundzielen unserer verzicht zwischen den beiden Teilen Deutschen in
Politik aufzuerlegen. einer förmlichen Weise — dagegen ist nichts zu
sagen —, dann ist hier der Punkt, an dem sich er-
(Beifall bei der CDU/CSU.)
weisen muß, was mit Gewaltverzicht gemeint ist.
Gewaltverzicht kann nicht heißen, daß wir auf die Im ganzen lassen Sie mich dazu folgendes erklä-
Verfolgung unserer legitimen nationalen Bestrebun- ren. Die Bundesregierung wird das sicher selber
gen verzichten, daß wir insbesondere auch auf die wissen, aber wir wollen es ihr noch einmal mit auf
Verwirklichung der nationalen und staatlichen Ein- den Weg geben. Die Verhandlungen über den Ge-
heit verzichten. Alles, was man bisher aus dem waltverzicht dürfen nicht dahin führen, daß wir in
Osten zu hören bekommen hat, scheint doch so zu eine Situation gebracht werden, in der auf der
sein, als ob das Institut des Gewaltverzichts be- anderen Seite die Gewalt bleibt und uns gnädigst
nutzt oder, genauer muß man sagen, mißbraucht der Verzicht gestattet wird.
werden soll als ein Vehikel zum Verzicht der Bun-
desrepublik auf aktive Verfolgung ihrer nationalen (Beifall bei der CDU/CSU.)
politischen Grundziele. Wenn sich das herausstellen
sollte, wenn bei den Verhandlungen in Moskau Vizepräsident Frau Funcke: Herr Kollege Dr.
das Ergebnis . etwa sein sollte, daß dies von uns Gradl, die Geschäftsordnung setzt uns leider Gren-
verlangt wird, dann, so meine ich, ist es an der zen. Sie begrenzen den einzelnen, sollen aber der
Zeit, der Welt deutlich zu machen, wie hier das Gesamtheit dienen. Ich wäre Ihnen dankbar — Sie
Institut des Gewaltverzichts und wie ein wohlge- sprechen jetzt beinahe 25 Minuten —, wenn Sie
meinter deutscher Entspannungsbeitrag mißbraucht freundlicherweise Ihre Rede zu Ende bringen wür-
werden soll. den.
In dem Zusammenhang etwas anderes. Wir wis-
sen, daß der Gewaltverzicht seine innerdeutschen Dr. Gradl (CDU/CSU) : Gut, Frau Präsident,
dann werde ich in der Zucht, die sich einem Mit-
Aspekte hat. Auch hier will ich nicht wiederholen,
glied dieses Hauses dem Präsidenten gegenüber ge-
aber in einem Punkt doch noch einmal ganz deut-
ziemt, jetzt abbrechen. Vielleicht ist nachher noch
lich folgendes sagen: Dieser Gewaltverzicht wird
einmal Gelegenheit.
in unserem Land und von unserem Volk nur ver-
standen, wenn er in der Regelung des Verhältnis (Beifall bei der CDU/CSU.)
ses zur DDR seine Konsequenzen auch in bezug
auf die Teilungs-, Trennungs-, Begegnungslinien
Vizepräsident Frau Funcke: Meine Herren
mitten durch Deutschland und in Berlin hat. Nie- und Damen, bevor ich das Wort weitergebe, eine
mand würde es verstehen, wenn man in Erklärun- Anmerkung zum Geschäftsablauf. Eben ist Unruhe
gen Gewalt ausschlösse und an der Zonengrenze über die Handhabung der Geschäftsordnung ent-
und an der Mauer in Berlin alles so bliebe, wie es standen. Die CDU/CSU-Fraktion hatte beantragt,
ist. für ihren zunächst vorgesehenen Redner Strauß eine
(Beifall bei der CDU/CSU.) Redezeit von 45 Minuten zu erhalten. Diesem An-
Ich hoffe also, Herr Bundeskanzler, daß wir Sie trag habe ich mit Rücksicht auf Sinn und Ziel der
in diesem Punkt richtig verstehen, wenn ich Ihren geänderten Geschäftsordnung nicht stattgeben kön-
Satz zitiere: Ein Vertrag zwischen der DDR und uns nen. Sie alle wissen, daß sich die Mehrheit dieses
darf nicht zu einer Nebelwand werden, hinter der Hauses vor Abschluß der vorigen Legislaturperiode
alle die Menschen belastenden Tatbestände unver- auf eine neue Geschäftsordnung geeinigt hat mit
ändert bleiben — dem Ziel, die normale Redezeit auf 15 Minuten zu.
(Abg. Wehner: Ein guter Satz!) begrenzen. Sinn dieser Begrenzung ist, daß Rede
und Gegenrede sich schneller folgen sollen und
— Das war ein guter Satz. Wir verstehen ihn, so damit eine Verlebendigung der Debatten dieses
hoffe ich, völlig richtig so, daß die jetzigen Zustände Hauses erfolgt. Ich glaube, die Mehrzahl, die weit-
an der Mauer und der Zonengrenze einer der ent- aus größere Mehrzahl der Mitglieder dieses Hauses
scheidenden Tatbestände sind, die beseitigt werden und die Öffentlichkeit haben beobachten können,
müssen, wenn man zu einem wirklichen Status des daß sich diese Maßnahme, die verhältnismäßig gut
Gewaltverzichts zwischen den beiden Teilen durchgehalten worden ist, bewährt hat und daß sie
Deutschlands kommen will. draußen eine gute Resonanz gefunden hat. Das ver-
pflichtet uns, uns weitgehend an diese Regelung zu
Als Berliner brauche ich nicht besonders zu unter- halten.
streichen, daß der Gewaltverzicht noch ein eigenes
Thema für Berlin hat. Meine Damen und Herren, Wir haben ja um der Vollständigkeit der Rede
Gewaltverzicht heißt bekanntlich nicht nur Verzicht und um der Ausführlichkeit willen ebenfalls die
auf Anwendung von Gewalt, sondern er heißt - auch Bestimmung, daß eine erste Rede jeder Fraktion bis
Verzicht auf Androhung von Gewalt und auch Ver- zu 45 Minuten verlängert werden kann, und wir
zicht auf Drohung mit Gewalt zur Durchsetzung haben darüber hinaus noch eine Verlängerungs-
politischer Forderungen. Mit einem solchen Miß- möglichkeit bei einer besonders wichtigen Debatte
brauch der Gewalt hat Berlin eine Kette von Er- oder aus besonderen Gründen — wenn etwa die
fahrungen gemacht, angefangen von den Blockaden Regierung ein besonders breites Programm vorge-
und den Ultimaten bis hin zu den Schikanen, die legt hat —, die es insbesondere der Opposition er
wir mannigfach erlebt haben. Wenn also Gewalt- möglichen soll, darauf ausführlich zu antworten.
878 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Vizepräsident Frau Funcke


Darauf gestützt hat die CDU/CSU-Fraktion heute Dabei soll der Präsident die Grundsätze des § 33
aus berechtigten Gründen Anspruch erhoben, über Abs. 1 Satz 2 beachten. § 33 sagt:
die 45 Minuten hinaus zu sprechen, und hat dies
Dabei soll ihn die Sorge für die sachgemäße Er-
gewährt bekommen. Es ist gesprochen worden von
ledigung und zweckmäßige Gestaltung der Be-
dem ersten Sprecher der CDU/CSU-Fraktion 77 Mi-
ratung, die Rücksicht auf die verschiedenen
nuten, von dem Sprecher der FDP-Fraktion 35 Minu- Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und
ten auf die Stärke der Fraktionen leiten.
(Abg. Rasner: Der wußte nicht mehr!)
Nach dieser Entscheidung der Frau Präsidentin,
und von dem Sprecher der SPD-Fraktion 62 Minuten. dem Kollegen Strauß nur 15 Minuten zuzubilligen,
Sie mögen daraus ersehen, daß alle Möglichkeiten haben wir die Redemeldung des Kollegen Strauß
der Ausführlichkeit weitgehend gewährt worden zurückgezogen.
sind, und ich bitte, Verständnis dafür zu haben, daß (Sehr gut! bei der CDU/CSU.)
wir nunmehr um der Lebendigkeit und der 'schnelle-
ren Folge der Redner Wir werden diese Meldung zur Rede erneuern,
wenn wir die Gewißheit haben, daß im Präsidenten-
(Widerspruch bei der CDU/CSU) stuhl ein amtierender Präsident sitzt, der die Rechte
willen bei den 15-Minuten-Reden verbleiben. der Opposition wahrt.
(Beifall bei den Regierungsparteien.) (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/
CSU. — Widerspruch bei Abgeordneten der
Zugleich darf ich noch für die Mitglieder des Regierungsparteien.)
Ältestenrates bekanntgegeben, daß der Präsident
den Ältestenrat für heute 13.15 Uhr in den Raum Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
01 S einberuft. Abgeordnete Mertes.
Zur Geschäftsordnung hat Herr Abgeordneter
Rasner das Wort. Mertes (FDP) : Frau Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich muß diese Kritik des Kollegen Rasner
mit aller Schärfe — —
Rasner (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine (Oho-Rufe bei der CDU/CSU. — Beifall bei
Damen und Herren! Der erste Sprecher der Oppo-
den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Stol
sitionsfraktion hat heute auf den Herrn Bundes-
tenberg: Schöner Liberaler! — Weitere Zu
kanzler geantwortet — in einer Redezeit, die etwas
rufe von der CDU/CSU.)
unter der Redezeit lag, die der Herr Bundeskanzler
für seine Regierungserklärung benötigte. — Ich habe Zeit. In 15 Minuten schaffe ich das ganz
bestimmt, was ich sagen will. Bitte, geben Sie Ihren
(Zuruf von der SPD: Zwei Minuten drüber!)
Gefühlen weiter Ausdruck!
— Fein: er hat mit derselben Redezeit geantwortet. Ich weise also mit aller Entschiedenheit und
Wir wollten dann auf die Rede des Führers der Schärfe diese Kritik des Kollegen Rasner zurück.
SPD-Fraktion, des Kollegen Wehner, antworten.
Daß das schon politisch angesichts des Gewichts und (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
der Bedeutung dieser Rede nicht in 15 Minuten ruf von der CDU/CSU: Mit liberaler
möglich ist, liegt auf der Hand. Schärfe!)
Aus Abs. 2 des § 39 unserer Geschäftsordnung ergibt
Ich möchte hier zunächst die Geschäftsordnung sich klar und deutlich, daß die Redezeit grundsätz-
zitieren: lich 15 Minuten betragen soll. Außerdem sind in die-
Der einzelne Redner soll nicht länger als fünf- sem Absatz für einen Sprecher je Fraktion — und
zehn Minuten sprechen. Jede Fraktion kann für ich unterstelle in diesem Augenblick noch, daß Sie
einen ihrer Redner fünfundvierzig Minuten der Meinung sind, CDU und CSU bilden ,eine Frak-
Redezeit beanspruchen. tion,
(Beifall bei den Regierungsparteien)
(Zuruf von der SPD: Für einen!)
obwohl sie des öfteren mit verschiedenen Zungen
— Für einen. Weiter:
reden —
Der Präsident kann die Redezeit auf Antrag (Abg. Dr. Stoltenberg: Das soll auch in der
verlängern. Er soll sie verlängern, wenn dieser FDP vorkommen!)
Antrag von einer Fraktion gestellt wird
45 Minuten vorgesehen.
— unsere Fraktion hat ihn gestellt —
(Zustimmung bei den Regierungsparteien.)
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU)
Alles andere — das besagt diese Soll-Bestimmung —
-
oder wenn der Gegenstand oder Verlauf der liegt im Ermessen — —
Aussprache dies nahelegt. (Bravo-Rufe und lebhafter Beifall bei der
(Hört! Hört! und Zustimmung bei der CDU/ CDU/CSU)
CSU).
— liegt im Ermessen des amtierenden Präsidenten.
Das scheint mir hier auch der Fall zu sein. (Abg. Rasner: Jawohl! — Weitere Zurufe
(Zurufe von der SPD.) von der CDU/CSU.)
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 879
Mertes
— Darüber gibt es doch gar keine Meinungsver- diese Geschäftsordnungsdebatte, sondern wenn diese
schiedenheiten, Herr Kollege Stücklen, und von Miß- Dinge im Ältestenrat ausgetragen worden wären.
brauch kann überhaupt nicht die Rede sein; denn (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
sonst hätten Sie darauf drängen müssen, daß auch Rasner: Wer hat das Thema denn ange
bei Herrn Kiesinger von dieser 45-Minuten-Regel schnitten? Wer hat es denn angefangen? —
Gebrauch gemacht worden wäre. Aber da haben Sie Zurufe von der CDU/CSU: Wer hat denn
geschwiegen. hier die Erklärung abgegeben? — Weitere
Zurufe.)
Ich darf nur daran erinnern
(Zuruf von der CDU/CSU: Damals haben Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
Sie anders gesprochen!) Abgeordnete Wörner.
— ja, ich komme darauf —, daß diese Bestimmung
mit der Begrenzung der Redezeit gegen den Willen Dr. Wörner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine
meiner Fraktion, die damals in der Opposition war, Damen und Herren! Ich gehöre mit zu denen, die sich
in erster Linie von Ihnen eingeführt worden ist. sehr viel Kritik von der damaligen Opposition des-
wegen haben sagen und gefallen lassen müssen, weil
(Abg. Wehner: Sehr wahr!) ich zusammen mit anderen Freunden aus allen Frak-
tionen der damaligen Regierungskoalition für eine
Damals war es recht, diese Absicht zu verfolgen,
solche Begrenzung der Redezeit gekämpft habe. Ich
und wenn sich nun die Beschlüsse gegen Sie wen-
stehe auch heute noch auf dem Standpunkt, daß die
den, dann sind Sie damit nicht mehr zufrieden und
versuchen, Dinge in die Diskussion zu bringen, die grundsätzliche Begrenzung dieser Redezeit auf 15
Minuten bzw. 45 Minuten für den ersten Redner
überhaupt nicht hier hereingehören.
richtig ist, allerdings nur — das ist die wesentliche
(Abg. Wehner: Sehr richtig!) Einschränkung, die wir alle um der gemeinsamen
Aufgabe dieses Hauses willen sehen müssen —,
Ich möchte Ihnen abschließend nur eines sagen. wenn diese Bestimmung sinngemäß ausgelegt wird.
Meine Fraktion, Herr Kollege Rasner, wird nicht zu- Was war denn der Sinn unserer Intervention, was
lassen, daß von der CDU/CSU-Fraktion in irgend-
war der Sinn der Begrenzung der Redezeit? Doch
einer Form versucht wird, nun auch die Arbeit der
der, die Auseinandersetzung in diesem Parlament
amtierenden Präsidenten zu manipulieren. möglich und lebendig zu machen, nicht, sie zu unter-
(Beifall bei den Regierungsparteien. — binden. Wenn diese Bestimmung jetzt dazu miß-
Lachen bei der CDU/CSU.) braucht wird, eine Auseinandersetzung in diesem
Parlament unmöglich zu machen, indem man die
Rechte der Opposition beschneidet,
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat (lebhafter Beifall bei der CDU/CSU)
der Abgeordnete Wienand. dann wird sie eben in ihr Gegenteil verkehrt.
(Widerspruch bei der SDP.)
Wienand (SPD) : Frau Präsident! Meine Damen Deswegen meine herzliche Bitte: Jeder amtie-
und Herren! Mir liegt nicht daran, hier in eine juri- rende Präsident möge, da die Schematik und die
stische Erörterung und Interpretation der Geschäfts- Sturheit der Tod jeder Bestimmung sind, eine solche
ordnung einzutreten. Ich möchte nur drei Feststel- Bestimmung in der Zukunft so interpretieren, daß
lungen treffen. diese Auseinandersetzung von der Augen der Na-
tion so geführt wird, daß jeder gebührend zu Wort
Erstens. Herr Kollege Rasner, wir haben uns bis-
kommen kann.
her wenigstens für die 6. Legislaturperiode immer
so verhalten, daß wir davon ausgegangen sind, daß (Beifall bei der CDU/CSU.)
— wie es die Frau Präsidentin hier dargetan hat —,
wenn Fraktionen Ausnahmen wünschten, dies im Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
Ältestenrat zur Kenntnis gebracht wurde. Das ist Abgeordnete Schulte.
diesmal nicht der Fall gewesen.
Zweitens möchte ich feststellen, daß Sie, nachdem Schulte (Unna) (SPD) : Frau Präsidentin! Meine
wir heute morgen beim amtierenden Präsidenten sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst möchte
nachgefragt hatten, warum vom ersten Redner der ich, Herr Kollege Rasner, Ihre Vorwürfe gegen die
CDU/CSU-Fraktion mehr als 45 Minuten beansprucht Frau Präsidentin mit aller Entschiedenheit zurück-
würden, darauf hingewiesen haben, daß das für die weisen.
Antwort als adäquat zur Redezeit des Bundeskanz- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
lers zu sehen ist. Das ist nicht uns, sondern -dem am- Rasner: Ich halte ihn aufrecht!)
tierenden Präsidenten mitgeteilt worden. Ich betrachte diesen Vorwurf, die Frau Präsidentin
Drittens. Als die Frau Präsidentin ihre nach mei- sei hier nicht objektiv gewesen, als eine Unver-
ner Meinung unanfechtbare Darlegung hier gab, hat- schämtheit.
ten Sie schon veranlaßt, daß der Ältestenrat einbe- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg.
rufen wird. Ich glaube, es hätte dem ganzen Hause Dr. Marx [Kaiserslautern] : Frau Präsidentin,
und seinem Ruf gut getan, wenn dann nicht hier wird das gerügt oder nicht?)
880 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Schulte
Ich darf auch im Namen meiner Freunde hier er- weil Sie sich einer für Sie lästigen Opposition er-
klären, wehren wollten;
(anhaltende Zurufe)
(Lachen bei der CDU/CSU)
daß wir uns vollinhaltlich der Interpretation dieses
denn die Verkürzung der Redezeit war damals ein-
§ 39 Abs. 2, der nicht zuletzt durch Ihre Initiative deutig auf unsere Fraktion abgestellt.
in diese Geschäftsordnung aufgenommen worden ist,
anschließen. (Erneutes Lachen bei der CDU/CSU. — Abg.
(Abg. Rasner: „Mehr Demokratie" !) Rasner: Das ist doch kümmerlich!)
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige
Meine Damen und Herren, hier liegt doch etwas
Argumente wiederholen, die im vergangenen Jahr
anderes zugrunde, daß Sie nämlich im Grunde ge-
vorgetragen worden sind. Der Sprecher der FDP-
nommen nicht wahrhaben wollen, daß Sie sich im-
Fraktion hat damals erklärt, kein Abgeordneter
mer dann als eine Fraktion fühlen, wenn es sich
sollte auf das Grundrecht eines Abgeordneten ver-
lohnt, aber nicht dann, wenn es notwendig ist und
zichten, seine Gedanken zu einer schwierigen politi-
wenn Sie auch darauf Rücksicht nehmen müssen.
schen Frage vor dem Parlament in einer Zeit dar-
(Lebhafter Beifall bei den Regierungspar zulegen, die über 15 Minuten hinausgeht. Damals
teien. — Abg. Rasner: Sie wissen doch, daß wollten Sie uns in unserer Auffassung nicht folgen.
das nicht stimmt!) Uns wurde damals entgegengehalten, niemand sei
— Dies ist ein uralter Streit in diesem Hause, das daran gehindert, mehr als einmal zu diesem Pult hin-
ist mir klar, Herr Rasner. Aber er wird in diesen aufzugehen und seine Gedanken in mehreren Bei-
Situationen immer wieder hochkommen. trägen von 15 Minuten Dauer darzulegen. Auch der
Herr Kollege Strauß hat Gelegenheit, seine Gedan-
(Abg. Rasner: Es ist doch bezeichnend, daß ken zu dem heute anstehenden Problem in mehreren
es Herr Strauß war!) Beiträgen von 15 Minuten Dauer darzulegen. Wir
§ 39 Abs. 2 - das braucht nicht noch einmal wie sollten hier nicht Sonderrechte für einzelne Abge-
derholt zu werden — sagt eindeutig: das Normale ordnete schaffen, und wir sollten hier nicht die Ab-
sind 15 Minuten; die 45 Minuten sollen ermöglichen, geordneten in zwei Klassen einteilen. Was damals
daß die Fraktionen ihre Meinung zu einem Thema beschlossen worden ist — ich betone: gegen den
umfassend darlegen. Widerstand der Freien Demokraten —, sollte heute
auch dann, wenn es Ihnen unangenehm und unpas-
(Zurufe von der CDU/CSU.) send ist, für Sie Gültigkeit haben.
Alles andere muß beantragt werden, und es war (Beifall bei den Regierungsparteien.)
bisher auch Übung, daß im Ältestenrat so etwas be-
antragt wurde. Das ist interessanterweise nicht ge-
schehen. Das läßt auch darauf schließen, daß Sie sich Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
in Ihren eigenen Reihen vorher keine Klarheit dar- Abgeordnete Dr. Kiesinger.
über verschafft haben.
(Zuruf von der CDU/CSU: Lesen müßte man Dr. h. c. Kiesinger (CDU/CSU) : Frau Präsident!
können!) Meine Damen und Herren! Ich bedauere diesen Vor-
Ich möchte noch einmal betonen: Die Handlungs- gang. Ich kann vielleicht etwas dazu beitragen, um
weise der Frau Präsidentin ist absolut korrekt. für die kommenden Entscheidungen eine Über-
legungshilfe zu geben. Wenn ich die 45 Minuten
(Beifall bei den Regierungsparteien. — überzogen habe, so deswegen, weil ich ja nicht wie
Widerspruch bei der CDU/CSU.) der Bundeskanzler bei seinem Bericht verfahren
konnte, der uns die Materialien schriftlich vorgelegt
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der hat und dann seinen Bericht gab. Ich mußte auf diese
Abgeordnete Ollesch. Materialen, gerade weil sie so sind, wie sie sind,
ausführlicher eingehen. Daher wäre es, glaube ich,
ganz zweckmäßig, das bei der Entscheidung über
Ollesch (FDP) : Frau Präsident! Meine sehr ver- die Zubilligung einer Redezeit für Herrn Kollegen
ehrten Damen und Herren! Die Freien Demokraten Strauß fairerweise mit zu berücksichtigen.
sind selten so schnell in ihrer damals in der Ausein-
andersetzung über die Begrenzung der Redezeit ge- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von
äußerten Ansicht bestätigt worden wie in diesem FDP.)
Falle.
(Abg. Dorn: Sehr wahr!) Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat
Es scheint bei der CDU/CSU-Fraktion vergessen zu der Abgeordnete Schmid.
sein, daß es gerade die Mitglieder dieser- Fraktion
waren, die damals gegen unseren erbitterten Wider- Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Frau Präsident!
stand die Begrenzung der Redezeit eingeführt haben. Meine Damen und Herren! Ich will mich in diesen
Damals, meine Damen und Herren, schien Ihnen das Geschäftsordnungsstreit nicht einmischen. Geschäfts-
opportun zu sein, ordnungsbestimmungen sind auslegungsfähig und
(Abg. Dr. Wörner: Herr Ollesch, Sie müssen dabei kann man sich in den Augen Dritter dann
zuhören!) und wann täuschen. Eines möchte ich hier aber mit
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode - 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 881
Dr. Schmid
allem Ernst sagen. Wenn wir damit anfangen, einige — Nein, Herr Wienand, nicht bei einem Redner;
Präsidenten für willens zu halten, Geschäftsord- das trifft nicht zu.
nungsstreu zu entscheiden, und andere nicht, ist die- Nach unserer Rechtsauffassung, die wir im Älte-
ses Parlament auf einen schlechten Weg gekommen. stenrat jetzt kontrovers diskutieren wollen, ist es
(Lebhafter Beifall bei der Regierungs völlig eindeutig, daß diese Soll-Bestimmung eine
parteien.) Verpflichtung bedeutet, auf Antrag einer Fraktion
die Redezeit zu verlängern. Das ist der sachliche
Wenn wir uns nicht gegenseitig zutrauen, daß alle, Dissens. Im Interesse der Fraktionen dieses Hauses
die in diesem Hause eine Funktion auszuüben und der Sache, um die es hier geht, muß im Ältesten-
haben, bestrebt sind, sie ehrenhaft auszuüben, Ge- rat eine Entscheidung getroffen werden. Wir sind
rechtigkeit walten zu lassen etwas bestürzt darüber — ich sage das zu den Aus-
(Zurufe von der CDU/CSU) führungen der Sprecher der FDP und SPD —, daß
und die Würde dieses Hauses zu wahren, so wer- diese Koalition, die unter dem Motto „Mehr Demo-
den wir, fürchte ich, künftig viel Zeit damit verbrau- kratie" angetreten ist,
chen, uns hoffnungslos zu zerstreiten, bis zu dem (lebhafter Beifall bei 'der CDU/CSU — Zu
Grade, daß der eine oder andere in Versuchung ge- ruf des Abg. Wehner)
führt werden könnte, in diesem Hause waschen zu nicht erkennt, daß es ein legitimes Recht der größten
wollen, was er für schmutzige Wäsche hält. Fraktion ,dieses Hauses ist, durch einen ihrer füh-
(Widerspruch von der CDU/CSU.) renden Politiker, der, Herr Kollege Professor Schmid,
Das bekäme uns schlecht. heute morgen bei dieser Debatte präsent war, ihre
Meinung zu vertreten, besonders nachdem dieser
Ein Weiteres. Wenn vorgesehen war, daß Herr Mann auch heute wieder in einer besonders schar-
Kollege Strauß Herrn Wehner antwortet, wäre es fen und zum Teil unqualifizierten Weise persönlich
doch ganz gut gewesen, wenn er im Saale geblie- angegriffen wurde.
ben wäre, um anzuhören, was Herr Wehner zu
sagen hatte. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)

(Beifall bei der SPD. — Zurufe von der


CDU/CSU: Er war ja da! — Weitere Zurufe Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der
von der CDU/CSU.) Abgeordnete Collet.

Vizepräsident Frau Funcke: Meine Herren Collet (SPD) : Meine sehr verehrten Damen und
und Damen, ich möchte in diese Debatte nicht ein- Herren! Es ist sicherlich nicht meine Aufgabe, hier
greifen, sondern nur darauf hinweisen, daß der Äl- zur Auslegung der Geschäftsordnung Stellung zu
testenrat zur Diskussion dieses Themas einberufen nehmen. Aber ich möchte ein Mißverständnis mit
worden ist. ausräumen, und dann fühle ich mich angesprochen
durch den Diskussionsbeitrag des Herrn Kollegen
Das Wort hat jetzt Herr Kollege Stoltenberg. Wörner.
Zunächst zu dem Mißverständnis: In der Endab-
Dr. Stoltenberg (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! stimmung über diese Geschäftsordnung hat auch die
Meine Damen und Herren! Ich bin sicher, daß die FDP zugestimmt
große Mehrheit aller Kollegen aus allen Fraktionen
(Aha! bei der CDU/CSU)
über diese Debatte nicht glücklich ist, wie immer
man den Sachverhalt im einzelnen bewertet. Ich — ich will versuchen zu klären —, nach voraus-
möchte deshalb noch einmal klarstellen, daß wir den gegangener Diskussion. Ich hatte mich selber an die-
Wunsch gehabt haben, diese Frage vor der Debatte ser Diskussion 'beteiligt. Im guten Vertrauen auf die
im Ältestenrat zu erörtern. Wir haben keine Er- Aussagen an diesem Rednerpult hatte dann der
örterung dieser Kontroverse im Plenum gewünscht. jetzige Innenminister die Bedenken zurückgestellt
Die Frau Präsidentin hat aus Gründen, die sie sich und erklärt, die FDP sei bereit, unter diesem Vor-
sicher überlegt hat, hier eine Erklärung zur Sache behalt zuzustimmen. Das war der eine Vorgang.
abgegeben und damit diese Diskussion eingeleitet. Nun zu dem Beitrag des Kollegen Wörner! Wenn
Wir werden dieses Thema im Ältestenrat ver- ich mich gerade dazu melde, so als einer, der —
tiefen. Ich möchte den Kollegen der anderen Frak- das möchte ich hier betonen — in diesem Hause
tionen, die zur Geschäftsordnung gesprochen haben, bemüht war, über Differenzen , der einzelnen Frak-
aber doch sagen, daß es nicht genügt, hier einen tionen in Fragen der allgemeinen Politik hinweg
oder zwei Sätze einer Bestimmung zu zitieren und gerade in Fragen der Zusammenarbeit hier im Hause
den entscheidenden Satz wegzulassen. In § 39 ste- mitzuwirken. Ich gehörte damals zu denjenigen, die
hen die beiden entscheidenden Sätze: - zwar mit Wissen und Billigung ihrer Fraktion —
ohne daß die Fraktion in der Sache mit ihnen einig
Der Präsident kann die Redezeit auf Antrag war — den ersten Antrag von Manfred Wörner
verlängern. Er soll sie verlängern, wenn dieser unterstützt hatten, als es um die Redezeit ging. Ich
Antrag von einer Fraktion gestellt wird oder
meine, hier sagen zu müssen, Kollege Wörner: Wer
wenn der Gegenstand oder Verlauf der Aus-
soll derjenige sein, der beurteilt, was der Aus-
sprache dies nahelegt.
einandersetzung dient und was ihr nicht dient? Das
(Abg. Wienand: Bei einem Redner!) muß ein Übermensch sein. Wir müssen also doch
882 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Collet
den Versuch machen, das, was Sie hier gewollt Ich glaube, daß damit der Sinn von Wort und
haben und was von mir unterstützt wurde, entweder Widerwort
in der Geschäftsordnung neu zu formulieren oder (Abg. Katzer: Es geht doch um den Inhalt
aber im Sinne dieser Überlegungen durchzuführen, der Rede!)
weil wir niemandem zumuten können, durch Ver-
gabe der Redezeit, durch Zumessung der Redezeit und die Möglichkeit der Opposition, jeweils hinrei-
zu entscheiden: was dient dieser flüssigen Ausein- chend lange und ausgiebig Stellung zu nehmen, er-
andersetzung, die wir alle miteinander wollen, und heblich beschnitten würden. Meine Herren und Da-
was dient ihr nicht? Das kann nicht vom Namen men, ich bin lange genug in der Opposition gewe-
des Redners abhängen; denn dann ist das, was Sie sen, um zu wissen, wie man sich dort fühlt und wie
einmal wollten, nicht erreicht. Das muß von anderen gern und häufig man Stellung nehmen möchte, wenn
Kriterien abhängen, die wir nur schwerlich messen zunächst die Regierung, dann die eine Regierungs-
können, wenn wir objektiv sein wollen. partei und schließlich die andere Regierungspartei
sprechen. Gerade aus diesem Grunde fühle ich mich
Aus diesem Grunde darf ich herzlich darum bitten, gehalten, für die kurze Rede zu plädieren und damit
uns jetzt in Fragen, in denen wirr uns in den letzten der Opposition häufiger und unmittelbarer eine Ant-
12 bis 14 Monaten zusammengerungen haben, für wort zu ermöglichen.
das Parlament und seine Arbeit in der Zukunft nicht
Gefahren neu zu schaffen wegen einer Einzelfrage, Ich glaube, es wäre nützlich, wenn wir jetzt in
die heute hier entstanden ist. die Mittagspause einträten. Der Ältestenrat ist ein-
berufen. Die Beratungen werden um 14 Uhr mit der
(Beifall bei der SPD.) Fragestunde fortgesetzt.
(Unterbrechung der Sitzung von 12.51 bis
Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der 14.00 Uhr.)
Abgeordnete Stücklen.
(Abg. Stücklen: Ich verzichte! Herr Profes
sor Carlo Schmid hat sich ja schon zu Wort Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:-

gemeldet!) Ich eröffne die unterbrochene Sitzung wieder mit


der
— Dann bitte zu einer persönlichen Erklärung des
Fragestunde
Herrn Abgeordneten Professor Schmid!
— Drucksachen VI/222, VI/239 —
Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Frau Präsidentin! Der Herr Präsident hat folgende Dringliche
Ich habe zurückzunehmen, was ich über die Abwe- Mündliche Frage des Kollegen Buchstaller für die
senheit des Kollegen Strauß gesagt habe. heutige Fragestunde zugelassen:
Ist die Bundesregierung bereit, zu Pressemeldungen Stellung
(Beifall.) zu nehmen, wonach die führenden Generale des Heeres mit
ihrem Rücktritt gedroht haben sollen?
Ich habe es nicht aus Böswilligkeit getan, sondern
ich habe ihn, solange Herr Wehner sprach, hinter Zur Beantwortung steht der Herr Bundesminister
seinem Nebensitzer nicht mehr wahrgenommen. der Verteidigung zur Verfügung. — Sie haben das
Wort.
(Heiterkeit.)
Das kann einem bei gewichtigen Persönlichkeiten
gelegentlich passieren, Herr Kollege Stücklen; ich Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Herr
Präsident! Pressemitteilungen dieser Art beruhen
kann hier aus Erfahrung reden. — Ich bedauere, daß
auf reiner Spekulation. Es kann keinerlei Rede
ich die Bemerkung gemacht habe, und bitte das Haus
davon sein, daß mir oder .auch z. B. dem General-
um Entschuldigung.
inspekteur 'gegenüber jemand mit seinem Rücktritt
(Abg. Rasner: Respekt! — Beifall.) gedroht habe. Ich erlaube mir hier die Randbemer-
kung: wenn jemand solches unternehmen sollte,
Vizepräsident Frau Funcke: Meine Herren würde sein Rücktrittsgesuch innerhalb von zwei Mi-
und Damen, Wortmeldungen liegen nicht mehr vor. nuten angenommen werden.
Ich hatte nicht die Absicht, zu den Anwürfen, die Ich begrüße, daß ,die Frage, die Sie, Herr Kollege
hier gekommen sind, Stellung zu nehmen oder mich Buchstaller, mir gestellt haben, Gelegenheit gibt,
zu verteidigen. Aber gegen einen Vorwurf möchte vor diesem Hause, dem ich verantwortlich bin,
ich mich in aller Deutlichkeit wehren. Das ist der meine Antwort noch etwas zu ,ergänzen. Ich hätte
der Ungerechtigkeit. Im Sinne der Gerechtigkeit das sowohl im Interesse der öffentlichen Meinung
müßte ich — wenn ich diesem Antrag stattgäbe — als auch im Interesse 'der Soldaten sehr gern gestern
selbst und jeder folgende Präsident entsprechende schon getan, am 'ersten Sitzungstage seit Mitte De-
Anträge der anderen Fraktionen ebenso bescheiden. zember; ich habe aber Verständnis 'für die Zurück-
ziehung der Frage des Kollegen Josten, die dazu
(Zurufe von der CDU/CSU.) -
sonst gestern Anlaß geboten haben würde, — wenn-
Das, meine Herren und Damen, würde bedeuten, gleich die Tatsache, daß d ies erst in letzter Minute
daß in der zweiten Runde die CDU eine Redezeit geschah, natürlich die Umstände mir nicht sehr glück-
von 45 Minuten bekäme, die FDP eine Redezeit von lich hat erscheinen lassen.
77 Minuten und die SPD eine solche von 60 Minuten. Ich möchte meine Antwort an Sie, Herr Kollege
(Unruhe bei der CDU/CSU.) Buchstaller, in vier Punkten noch ergänzen. Ich
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 883
Bundesminister Schmidt
möchte zum einen sagen, daß die Studie, die einige daß aus der Tatsache, daß Sie aus der Studie keine
führende Herren des Heeres im Auftrage des dama- personellen Konsequenzen zu ziehen beabsichtigen,
ligen Bundesministers Schröder vom Anfang vori- geschlossen werden darf, daß Sie sich den vollen
gen Jahres angefertigt und im Juni vorigen Jahres Inhalt dieser Studie zu eigen machen würden?
abgeliefert haben und die ja der Ausgangspunkt für
die scharfe und, wie ich sagen möchte, zum Teil
Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich
überscharfe Kritik in der veröffentlichten Meinung
bestätige noch einmal, was Sie mir soeben in Frage-
war, für die Bundesregierung kein Anlaß zu Perso-
form vorlegen, Herr Kollege Buchstaller. Ich bin
nalveränderungen in den Spitzenstellungen des
gern bereit, dem Verteidigungsausschuß, wenn es ge-
Heeres ist.
wünscht werden sollte, im einzelnen zu sagen, wo
Ich möchte zweitens hinzufügen, daß diese Ant- ich mich auch nach langer Diskussion nicht überzeu-
wort nun nicht etwa bedeutet, daß die Bundesregie- gen lasse von Punkten, die in dieser Studie enthal-
rung sich mit dem Inhalt dieser Studie identifiziert. ten sind. Ich bin gern bereit, im Verteidigungsaus-
Ich habe auch aus den Äußerungen von Sprechern schuß darzulegen, welche Punkte mir von vornher-
der Opposition erkannt, daß sie darüber ähnliche ein in der richtigen Richtung zu liegen scheinen,
Einstellungen öffentlich zum Ausdruck haben brin- und im übrigen darzulegen, welche Punkte noch
gen wollen. Die Studie bleibt vielmehr, wie ich der näheren Prüfung und Untersuchung bedürfen.
schon bei anderer Gelegenheit gesagt habe, diskus-
sionswürdig, sie bleibt aber auch diskussionsbedürf- Ich nehme aber Ihre Zusatzfrage gern zum Anlaß,
tig. Die Diskussion wird voraussichtlich ergeben — darauf hinzuweisen, daß nach meinem Eindruck auch
die Diskussion erstreckt sich ja über die ganze Mitglieder dieses Hauses sich vielleicht an der einen
Dauer der Bestandsaufnahme und wird sich erst im oder anderen Stelle durch Pressemitteilungen oder
Weißbuch endgültig in unseren Auffassungen dem Pressemeldungen haben irreführen lassen. Häufig
Parlament gegenüber niederschlagen —, die Dis- sieht man mehr auf die Überschrift als auf den
kussion wird voraussichtlich dazu führen, daß ein Text. Es hat in den letzten Tagen in vielen Zei-
Teil der in dieser Studie gemachten Vorschläge der tungen ein Zitat gegeben, das angeblich aus meinem
kritischen Bestandsaufnahme standhält, daß ein Teil Munde stammte, nämlich die Überschrift: „Keine
wird verändert werden müssen und daß andere Chance für Ideen des Generals Schnez". Das ist
Vorschläge gewiß nicht in Betracht zu ziehen sind. eine Überschrift, die vieles bedeuten kann. Klar
wird es erst, wenn man sich den Text des Interviews
Ich füge drittens hinzu, daß — ich sagte das ansieht, das von der Zeitung diese Überschrift er-
soeben — die Arbeit an dieser Studie schon im Juni hielt. Wenn ich es zitieren darf, Herr Präsident,
vorigen Jahres abgeschlossen war, daß seither der möchte ich es gern vorlesen; es ist kurz. Da werde
Generalinspekteur der Bundeswehr und sein Füh- ich gefragt: „Ist sich General Schnez inzwischen
rungsstab als übergeordnete Instanz an einer Aus- darüber klar, daß die allermeisten seiner umstritte-
wertung arbeiten zur Anpassung der auf dem Felde nen Formulierungen keine Aussicht auf Annahme
der inneren Führung geltenden Regeln an die zwi- haben?" Und dann lautet meine Antwort: „Ja, zwei-
schenzeitliche gesellschaftliche Entwicklung, an die fellos". Das bezieht sich also ganz offensichtlich
zwischenzeitlich auch durch unsere Truppen gemach- nicht auf sämtliche Vorschläge, sondern auf die
ten Erfahrungen. In diese Auswertung sind natürlich umstrittenen; da allerdings auf die Mehrzahl.
auch entsprechende Stellungnahmen der Führungs-
stäbe der Luftwaffe und ;der Marine und anderer
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Stellen einbezogen. Dieses Haus wird die Ergebnisse
Eine Zusatzfrage des Kollegen Althammer.
im Frühling dieses Jahres in Form des Verteidi-
gungs Weißbuches auf den. Tisch und zur Beschluß-
-

fassung vorgelegt bekommen. Dr. Althammer (CDU/CSU) : Herr Minister,


wäre es nicht, nachdem in Zeitschriften nun Teile
Viertens will ich die Antwort abschließend noch dieser Studie veröffentlicht worden sind und auch
dahin gehend ergänzen, , daß ich ausdrücklich wie- Sie sich soeben auf die Studie bezogen haben, rich-
derhole, was schon der Presse gegenüber erklärt tig und zweckmäßig, wenn den Mitgliedern dieses
worden ist; 'aber ich bin dankbar, daß es auch vor Hauses ihr Text zur Kenntnis gebracht würde?
dem Hohen Hause gesagt werden kann. Es gibt für
den Bundeskanzler, für die Bundesregierung oder
für mich keinerlei Anlaß zu irgendwelchen Zweifeln Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Jeder
am Willen zum Gehorsam der beteiligten Militär- Abgeordnete, der darauf Wert legt, würde von mei-
personen gegenüber dem Grundgesetz oder gegen- nem Hause die Studie erhalten. Sie liegt im übrigen,
über den Gesetzen oder gegenüber der Bundesregie- Herr Kollege Althammer, den Kollegen des Vertei-
rung. digungsausschusses seit Mitte Dezember im Aus-
schuß vor. Die Studie hat zu Zeiten meines Amtsvor-
gängers die Klassifikation „geheim" getragen. Ich
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: habe diese Klassifikation vor Weihnachten aufheben
Vielen Dank, Herr Minister. — Herr Kollege, haben lassen, weil ich es nicht wünschenswert fand, ange-
Sie eine Zusatzfrage? — Bitte schön! sichts dieser mit Recht in die öffentliche Diskussion
geratene Ausarbeitung für diejenigen, die an dieser
Buchstaller (SPD) : Herr Minister, wenn ich Ihre Diskussion teilnehmen wollten, unter das Risiko der
Antwort — für die ich mich bedanken möchte — Verletzung von Geheimhaltungsvorschriften zu brin-
richtig verstanden habe, ist es also keinesfalls so, gen.
884 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: wertenden Formulierungen, wie sie in der Studie


Eine zweite Zusatzfrage, Herr Kollege Althammer. enthalten sind, auch damals nicht für richtig, jeden-
falls nicht für zweckmäßig gehalten haben würde.
Dr. Althammer (CDU/CSU) : Herr Minister, hal-
ten Sie nach dem, was Sie soeben ausgeführt haben,
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Eine Zusatzfrage des Kollegen Josten.
daß nämlich die Studie auf Aufforderung erstellt
worden ist, für richtig, wenn ein Mitglied des Par-
laments als Antwort darauf den Rücktritt des
Josten (CDU/CSU) : Herr Minister, glauben auch
Sie, daß die Erregung, insbesondere bei Offizieren
Inspekteurs des Heeres fordert?
im Heer, mit den unangebrachten Verdächtigungen
gegen den Inspekteur des Heeres zusammenhängt
Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich und daß Ihre Erklärungen als Verteidigungsminister
bin nicht ganz sicher, ob das Mitglied des Hauses, für den Inspekteur des Heeres, die viele Kollegen
von dem Sie sprechen, während der Weihnachts- dieses Hauses sehr begrüßt haben, zu einer großen
ferien, auf Presseorientierungen angewiesen, den Beruhigung in der Truppe beigetragen haben?
ganzen Sachverhalt vollständig hat übersehen kön-
nen, insbesondere nicht sicher, ob das betreffende Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Herr
Mitglied des Hauses überhaupt hat wissen können, Josten, ich glaube, es war dringend notwendig —
daß es sich um eine Studie im Auftrage des Mini- ob zur Beruhigung, will ich einmal offenlassen; es
sters gehandelt hat, noch dazu im ausdrücklichen war notwendig im Interesse des öffentlichen Ge-
Auftrage, ohne Rücksicht auf geltende Gesetze und meinwesens, dem wir alle gemeinsam ebenso
ohne Rücksicht auf die Realisierbarkeit von Geset- dienen wie die Soldaten —, öffentlich klarstellen,
zesvorschlägen de lege ferenda seine eigene Mei- daß an dem Willen zum Gehorsam gegenüber
nung zu schreiben. Grundgesetz und Gesetzen nicht gezweifelt werden
Was den materiellen Inhalt der Äußerungen jenes kann. Darüber hinaus will ich aber auch einräumen,
Kollegen angeht, so habe ich mich dazu schon ge- daß es in der Truppe gewiß auch Unruhe über
äußert. anderes gibt und geben wird, weil eben in der
Truppe verschiedene Meinungen nicht nur vor-
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: handen sind, sondern auch vorhanden sein dürfen
Eine Zusatzfrage des Kollegen Schmidt (Würgen- und vorhanden sein müssen. Insbesondere unter
dorf) . jüngeren Offizieren gibt es Unruhe über manche der
Formulierungen in der Studie, und diese Unruhe
ist natürlich nicht ohne weiteres durch eine Erklä-
Schmidt (Würgendorf) (SPD) : Herr Minister, wie rung des Bundesministers der Verteidigung hier vor
stehen Sie zu der Aussage der Studie, die die Be- dem Parlament oder gegenüber der Presse auszu-
wertung der Schlagkraft des Heeres doch sehr räumen. Der Bundeskanzler selbst, der Verteidi-
negativ darstellt? gungsminister, seine Staatssekretäre, der General-
inspekteur, die Inspekteure der Teilstreitkräfte und
Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich viele andere, die öffentliche Verantwortung für die
gestehe gern, daß dies einer der Punkte in der innere Verfassung und für die Kampfkraft unserer
Studie ist, die mir Sorgen machen; dabei füge ich Truppen tragen, werden im Laufe des Monats Ja-
hinzu, daß ja nur derjenige, der sich Gelegenheit nuar in einer großen Zahl von Tagungen innerhalb
verschafft, die Studie selbst zu lesen — ich habe der bewaffneten Streitkräfte Gelegenheit nehmen,
diese Möglichkeit gegenüber Kollegen Althammer mit vielen Soldaten über viele Fragen zu debattie-
zugesagt —, den Inhalt voll übersehen kann und ren. Dabei werden sicherlich auch solche Punkte
daß derjenige, der das bisher nicht getan hat, eine Rolle spielen, die in der Weise, wie ich sie
natürlich infolge der sehr zitatweise und wählend soeben gekennzeichnet habe, zur Beunruhigung
erfolgten Wiedergabe in der Presse einen irrefüh- führen. Ich darf hinzufügen, daß im übrigen die
renden Eindruck haben mag. Aber diese Stelle, auf Kollegen des Verteidigungsausschusses von mir
die Sie anspielen, Herr Kollege, macht mir Sorgen. eingeladen sind, sich als Zuhörer an diesen Dis-
An einigen Stellen der Studie wird der Eindruck kussionen zu beteiligen.
erweckt, als ob die Kampfkraft und auch die innere
Verfassung von Truppenteilen des Heeres in einem Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
besorgniserregenden Zustand seien. Ich will erstens Herr Kollege Josten zu einer weiteren Zusatzfrage.
dazu sagen, daß ich genauso wie das ganze Hohe
Haus, das den Schriftlichen Bericht des Wehrbeauf- Josten (CDU/CSU) : Herr Minister, ist es nicht
tragten für das Jahr 1968 gelesen hat, weiß, daß unsere gemeinsame Meinung, daß Parlament und
Kampfkraft und innere Verfassung von Truppen- Regierung auf ein gutes Verhältnis zu den Soldaten
teilen des Heeres im Laufe des Jahres 1968 teil- in unserem demokratischen Staat nicht verzichten
weise nicht eine Vermehrung oder Stärkung, - son können und daher auch bereit sein müssen, sich bei
dern Beeinträchtigungen erfahren haben. Ich will unberechtigten Vorwürfen für sie einzusetzen?
zweitens sagen, daß sich dieser Prozeß, der im
Jahre 1968 deutlich wurde, im Laufe des Jahres Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich
1969 offensichtlich zum Besseren gewandt hat, wenn- stimme Ihnen zu, Herr Kollege Josten. Auf der
gleich noch nicht zum Guten. Ich will drittens sagen, anderen Seite gehe ich genauso davon aus, daß alle
daß ich selbst für das Jahr 1968 manche dieser be- Soldaten unserer Armee, ob es sich um junge Unter-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 885
Bundesminister Schmidt
offiziere handelt oder um Generale im Range eines Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Drei-Sterne-Generals, innerlich bereit s ein müssen, Herr Kollege, der Ansatz wäre deutlicher, und es
nicht nur Kritik von ihren Vorgesetzten zu beher- wäre schön, wenn wir alle das Fragezeichen und
zigen, sondern auch öffentliche Kritik zu ertragen den Zusammenhang hören würden.
und daraufhin zu prüfen, ob ,an dieser öffentlich
geäußerten Kritik etwas Berechtigtes s ei. Sie müssen Dr. Bußmann (SPD): Darf ich fragen, ob Sie
auch bereit sein, ungerechtfertigte Kritik gelassen bereit sind, so wie in der Vergangenheit weiterhin
zu ertragen, so wie wir Politiker uns bemühen, das Studien und Analysen in Auftrag zu geben, etwa
zu tun, wenngleich es uns auch nicht immer gelingt, bei der System-Forschung in Beuel und anderen
sie gelassen zu ertragen. soziologischen Instituten, die sich mit der Thematik,
die auch in der Studie des Führungsstabes angespro-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- chen worden ist, befassen.
Der Herr Kollege Horn hat sich zu einer Zwischen
frage gemeldet.
Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Herr
Kollege, in dieser Studie sind sehr viele verschie-
Horn (SPD) : Herr Minister, darf ich Sie fragen, dene Themenkomplexe angesprochen worden. Einige
wie Sie die Forderung nach einer Reform der Ge-
von ihnen eignen sich zweifellos zur wissenschaft-
sellschaft an Haupt und Gliedern interpretieren und
lichen Durchleuchtung auch durch außerhalb des
wie Sie dazu stehen.
Bereiches des Bundesministeriums der Verteidigung
befindliche Institute und wissenschaftliche Einrich-
Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Herr tungen; von diesen soll Gebrauch gemacht werden.
Kollege, ich fühle mich — —

Herr Präsident, wenn Sie mir noch einen Satz


Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
gestatten.
Herr Minister, ich bitte um Verständnis, daß ich hier
die Pflicht habe, den Sachzusammenhang der Zusatz- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

frage mit der hier zur Erörterung stehenden Frage Einen Satz!
zu prüfen.
(Abg. Dr. Klepsch: Der ist nicht mehr zu Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich
erkennen!) verstehe, daß eine Reihe von Kollegen Fragen auf
dem Herzen hat, die mit dem Gesamtkomplex zu
Herr Kollege Horn, Sie haben ja die Möglichkeit,
tun haben, von denen Sie aber meinen — und dem
den Sachzusammenhang vielleicht in einer späteren
werden sich die Kollegen sicher beugen —, daß der
Zusatzfrage noch leinmal deutlicher zu machen. So
unmittelbare Sachzusammenhang nicht zu erkennen
kann ich die Frage zu meinem großen Bedauern
sei. Vielleicht gibt die Debatte des heutigen Nach-
nicht zulassen. mittags oder Abends Gelegenheit für den einen
Die nächste Frage stellt der Herr Kollege Möhring. oder anderen, auf das Thema zurückzukommen. Ich
will nur sagen, ich stehe dafür zur Verfügung.
Möhring (SPD) : Herr Minister, mir ist persönlich
'bekannt, daß die Veröffentlichung dieser Studie Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

einige Unruhe und Unsicherheit in einer bestimmten Meine Damen und Herren, der amtierende Präsident
Frage unter Soldaten, aber auch im zivilen Bereich ist immer gern bereit, bei der Auslegung der Ge-
hervorgerufen hat. Herr Minister, wie. beurteilen schäftsordnung großzügig vorzugehen. Ich habe nur
Sie die Forderung dieser Studie nach Änderung der die herzliche Bitte, jene bekannte Technik des An-
Mitwirkung der Militärseelsorge bei der Vorberei- hängens der Frage an den Sachzusammenhang so
tung von Rekruten auf Eidesleistung bzw. Gelöbnis? wahrzunehmen, daß ihm dies auch ermöglicht wird.
Damit ist dieser Teil der Fragestunde, nämlich die
Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich Behandlung der Dringlichen Mündlichen Frage des
erinnere mich —
Kollegen Buchstaller, abgeschlossen, und ich rufe die

Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanz-


Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
lers und des Bundeskanzleramtes auf. Es liegt zu-
Herr Mini ster, wenn die Fragestunde nicht zu sehr nächst die Frage 115 des Kollegen Gewandt vor. Ich
ausufern soll, wäre .ich dankbar, den unmittelbaren frage, ob der Kollege im Saal ist. — Das ist nicht
Zusammenhang mit der Frage des Kollegen Buch- der Fall. Die Frage wird schriftlich beantwortet.
staller herzustellen.
Der Herr Kollege Dr. Bußmann zu einer Zusatz- Ich rufe die Fragen 116 und 117 des Kollegen
frage. Weigl auf. Die Beantwortung soll durch Herrn
- Staatssekretär Ahlers erfolgen. Ich frage, ob der
Dr. Bußmann (SPD) : Herr Minister, in der Ver- Kollege Weigl im Saal ist.
gangenheit sind von der Bundeswehr zahlreiche Stu- (Zuruf: Wird übernommen!)
dien und Analysen verfaßt worden — —
— Entschuldigen Sie, Herr Kollege, nach den Richt
(Zurufe: Fragen!) linien für die Fragestunde geht das nicht. Ich be
— Das ist eine Frage, das kommt noch! dauere. Die Fragen werden schriftlich beantwortet.
886 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen
Ich rufe die Fragen 118 und 119 des Kollegen dies gewünscht wird, bereit, im Auswärtigen Aus-
Hussing auf: schuß Einzelheiten darüber mitzuteilen.
Welche Vorstellungen bewegen die Bundesregierung, ange-
sichts der Zuständigkeit der Länder für den Natur- und Land-
schaftsschutz, einen namhaften deutschen Zoologen für die Be- Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
ratung in Fragen des Tier-, Natur- und Landschaftsschutzes zu
gewinnen?
Bitte schön, Herr Kollege!
Welche konkreten Aufgaben soll der Berater für Tier-, Natur-
und Landschaftsschutz erhalten? Reddemann (CDU/CSU) : Herr Minister, nach
Ich frage, ob der Kollege Hussing im Saal ist. — dem mir vorliegenden Text dieses Abkommens ist
Bitte schön, Herr Minister Ehmke, Sie haben das das Wort „Berlin" nirgendwo erwähnt worden.
Wort zur Beantwortung. Darf ich die Frage stellen, wieso Sie trotzdem sagen
können, daß die Sache „befriedigend" erledigt sei.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Präsident, ich bitte, die Fragen 118 und
gaben: Herr Abgeordneter, ich habe gesagt, daß ich
119 gemeinsam beantworten zu dürfen. Sie stehen
bereit bin, das im Ausschuß näher darzulegen.
in einem Zusammenhang.
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen: Eine zweite Zusatzfrage.
Herr Minister, ich muß die Zustimmung des Frage-
stellers noch einholen. — Sind Sie damit einverstan- Reddemann (CDU/CSU) : Herr Minister, heißt
den? das, daß Sie in künftigen Abmachungen mit Staa-
(Abg. Hussing: Einverstanden!)
ten des Warschauer Paktes diese Berlin-Klausel
— Bitte schön, Sie haben das Wort, Herr Minister. wieder nicht unterbringen wollen und darüber nur
dem Auswärtigen Ausschuß berichten möchten?
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Die Bundesregierung ist sich bewußt, daß Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
der Schutz der Natur in der technisierten und auto- gaben: Ich würde doch abwarten, bis Sie die Unter-
matisierten Umwelt zu den drängenden Aufgaben richtung im Auswärtigen Ausschuß gehört haben,
gehört. Zur Lösung dieser Aufgabe will der Bund Herr Abgeordneter.
nicht in die Kompetenzen der Länder eingreifen.
Er will jedoch die ihm nach Art. 75 des Grundge- Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
setzes zustehende Rahmenkompetenz für den Na- Herr Kollege Marx, ich lasse die Zusatzfrage zu,
turschutz bestmöglich nutzen. obwohl ich mir bei solchen Fragen den Rat erlauben
würde, zunächst die Möglichkeit einer Klärung im
Der Herr Bundeskanzler hat sich daher entschlos-
Ausschuß abzuwarten.
sen, eine auf diesem Gebiet besonders erfahrene
Persönlichkeit zum Beauftragten der Bundesregie-
rung für die Angelegenheiten des Naturschutzes
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr Prä-
sident, meine Frage bezieht sich mehr auf die
zu berufen. Herr Professor Grzimek soll den zustän-
Methode.
digen Ressorts anregend und beratend zur Seite
stehen, und er soll im Zusammenhang damit die
Verbindung des Bundes zu den für den Naturschutz Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Gut.
zuständigen Stellen der Länder intensivieren.
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen: Minister, halten Sie es für methodisch richtig, wenn
Ihre Fragen sind damit beantwortet. Ich danke eine Sache, die eine erhebliche öffentliche Aufmerk-
Ihnen, Herr Minister. samkeit erregt hat und zu der auch schon der Regie-
rende Bürgermeister von Berlin Stellung genommen
Ich rufe die Frage 120 des Abgeordneten Redde- hat, nicht in diesem Hohen Hause beantwortet wird,
mann auf : also die Öffentlichkeit durch Sie nicht unterrichtet
Entspricht die Mitteilung im „Rheinischen Merkur" vom 9. Ja-
nuar 1970 den Tatsachen, daß die Bundesregierung einen Vertrag
wird, sondern hinter den verschlossenen Türen des
mit der CSSR abgeschlossen hat, der die Berlin-Klausel nicht Ausschusses über Dinge gesprochen wird, die mei-
enthält?
stens dann noch mit der Formel begleitet werden,
Das Wort hat der Bundesminister Ehmke. dies sei vertraulich.

Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Zwischen Vertretern des Finanzministeriums gaben: Die Bundesregierung hat durch mich antwor-
der Bundesrepublik und der tschechoslowakischen ten lassen, daß die Frage befriedigend geregelt ist.
Republik wurde am 30. Oktober 1969 eine Verein- Ich bitte, das der Regierung so abzunehmen. Im
barung über Entschädigungsleistungen zugunsten übrigen ist schon eine geringe Vertrautheit mit
tschechoslowakischer Opfer pseudomedizinischer außenpolitischen Problemen ausreichend, um zu
Menschenversuche unterzeichnet. Die Frage der wissen, daß man nicht alle Dinge auf dem Markt
Einbeziehung Berlins in dieses Abkommen ist be- austragen kann.
friedigend geregelt. Die Bundesregierung ist, falls (Beifall bei der SPD.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 887

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-


Zu einer weiteren Zusatzfrage Herr Kollege Marx. gaben: Die Bundesregierung wird gerne bereit sein,
den Text dieses Abkommens auch im Ausschuß vor-
Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr zulegen und zu erörtern, Herr Abgeordneter.
Minister, darf ich bitten, die Vertrautheit mit außen-
politischen Problemen bei mir aufzufrischen, indem Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
ich frage: Glauben Sie, daß es richtigt ist, dieses Eine weitere Zusatzfrage.
entscheidende und wichtige und die Öffentlichkeit
und diese Fraktion sehr interessierende Thema, ob Dr. Klepsch (CDU/CSU) : Herr Bundesminister,
es hier eine Verabredung über Berlin gibt, aus- Sie haben mich vielleicht nicht ganz verstanden. Da
schließlich im Ausschuß zu diskutieren? Sollte es ich nicht die Ehre habe, dem Auswärtigen Ausschuß
nicht auch in diesem Hause diskutiert werden? des Bundestages anzugehören, muß ich Ihre Antwort
auf meine Frage für unbefriedigend halten und darf
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Sie noch einmal fragen, auf welche Weise es mir als
gaben: Ich würde doch wirklich abwarten und auf dem gewöhnlichen Abgeordneten des Wahlkreises
die Frage im Hohen Hause zurückkommen, nachdem Koblenz/St. Goar möglich ist, den Inhalt dieses Ab-
Sie die Darlegungen der Regierung im Ausschuß ge- kommens zu erfahren.
hört haben. Ich halte dise Fragestellung nicht für im
Interesse der Sache liegend, Herr Abgeordneter. Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Herr Abgeordneter, ich würde immer noch
(Zustimmung bei der SPD.)
meinen, auch in diesem Fall wäre es am besten, dies
im Ausschuß zu behandeln. Ich will aber gerne prü-
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: fen, ob die Regierung bereit ist, diesen bisher nicht
Herr Kollege Marx, Sie können keine weiteren Zu- veröffentlichten Vertrag im ganzen vorzulegen.
satzfragen stellen. Aber ich lasse eine weitere Zu-
satzfrage des Kollegen Damm zu.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Herr Kollege Leicht, eine Zusatzfrage.
Damm (CDU/CSU) : Herr Minister, glauben Sie,
daß der Kanzler mit der Art und Weise, wie Sie
eben dem Arbeitskreisvorsitzenden der CDU/CSU- Leicht (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, sind
Sie nicht der Meinung, daß, wenn bei all diesen
Fraktion geantwortet haben, die ich als Lehrer
Fragen, die hier gestellt worden sind, immer auf den
„schulmeisterlich" nennen würde, einverstanden ist?
Ausschuß verwiesen wird, dieses Parlament seine
Tätigkeit einstellen kann?
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Ich bin sicher. Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Abg. gaben: Das glaube ich nicht, Herr Abgeordneter.
Dr. Klepsch: Der neue Stil!) Ich bin der Meinung, daß es in der Natur der Sache
liegt — und ich bin ganz sicher, daß frühere Bundes-
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: kanzler und Außenminister der CDU mir hierin zu-
Meine Damen und Herren, ich rufe die Frage 121 des stimmen würden, Konrad Adenauer voran —, daß
Abgeordneten Dr. Klepsch auf: es bestimmte Dinge gibt, die zunächst in den eigens
Warum hat die Bundesregierung den Text eines Abkommens
für solche Fragen eingerichteten Ausschüssen ver-
mit Prag über die Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer handelt werden sollten. Sie hätten ja, wenn Ihnen
Menschenversuche nicht im Bundesanzeiger veröffentlicht?
die Behandlung im Ausschuß unbefriedigend er-
Das Wort hat Herr Bundesminister Ehmke. scheint, immer die Möglichkeit, die Sache wieder
ins Plenum zu bringen.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Von einer Veröffentlichung der Vereinba- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
rung ist gemäß §§ 79 und 81 der Gemeinsamen Ge- Eine Zusatzfrage des Kollegen Wehner.
schäftsordnung der Bundesministerien — Teil II —
abgesehen worden, weil es sich hierbei um die Wehner (SPD) : Herr Bundesminister, würde es
Regelung einer Spezialmaterie handelt, die nicht von die Regierung für möglich halten, zur Erläuterung
dauernder Bedeutung ist. Mit der Vereinbarung wird dieses Verhaltens in solchen und einschlägigen Fäl-
ein Entschädigungsverfahren beendet, das auf einem len die Art und Weise darzustellen, in der z. B.
ebenfalls nicht veröffentlichten Beschluß der Regie- der Bundesaußenminister Dr. Schröder und auch sein
rung Adenauer vom 5. April 1961 beruhte. Vorgänger bei entsprechenden Fragen sogar im Aus-
schuß beispielsweise die Einsicht in den Anhang zu
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: einem Abkommen zwischen Polen und der Bundes-
Herr Kollege Klepsch zu einer Zusatzfrage. Bitte republik über Handelsfragen und in eine entspre-
schön. chende Regelung über die Berlin-Klausel gegen Un-
terschriftsleistung möglich gemacht hat, aber unter
Dr. Klepsch (CDU/CSU) : Auf welche Weise ist sehr strengen Bedingungen, wobei vom jeweiligen
es mir dann möglich, den Text dieses Abkommens zu Abgeordneten — jedenfalls der Opposition, der So-
erfahren, Herr Bundesminister? zialdemokratie — nur dm Beisein anderer Einsicht
888 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Wehner
genommen werden konnte? Wäre das nicht dienlich, Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:-

damit ,alle, auch die, die sich jetzt erst darauf ein- Ich fahre in der Fragestunde fort und rufe die Fragen
richten müssen, sehen können, wie solche Dinge aus dem Geschäftsbereich des Bundesminister für
hier jahrelang gehandhabt worden sind? Das kann Arbeit und Sozialordnung auf. Es ist Herr Staats-
man doch wohl seitens der Regierung. sekretär Rohde anwesend.
Zuerst rufe ich die Frage 34 des Abgeordneten
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Müller (Remscheid) auf:
gaben: Herr Abgeordneter, wenn das gewünscht
wird, können Wir natürlich dem Hause zahlreiche In welchem Umfange ergeben sich durch die neue Entschei-
dung des Großen Senats des Bundessozialgerichts zur Frage der
Präzedenzfälle dieser Art vorlegen. Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente Mehrausgaben für die
Rentenversicherung?
(Abg. Dr. Klepsch: Sie machen noch nicht
einmal das!)
Der Herr Kollege ist im Saal. Das Wort hat der
Ich bin aber ,ganz sicher, wir werden uns nach einer Herr Staatssekretär Rohde.
Erörterung im Ausschuß sehr schnell über diese
Materie verständigen können. Es liegt ja ziemlich
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim
auf der Hand, warum die Regierung es vorzieht,
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Die
diese Sache zunächst im Ausschuß zu behandeln.
Entscheidungen des Bundessozialgerichts behandeln
die Kriterien, nach denen Berufsunfähigkeits- und
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: - Erwerbsunfähigkeitsrenten zu gewähren sind. Bei
Eine letzte Zusatzfrage des Kollegen Leicht. Dann der Beurteilung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit
fahre ich in der Fragestunde fort. kommt es auf die gesundheitlichen Beeinträchtigun-
gen der Leistungsfähigkeit sowie auf das Vorhanden-
Leicht (CDU/CSU) : Ich bin dankbar, daß Herr sein von Arbeitsplätzen an, die dem einzelnen nach
Wehner auf diese Möglichkeit hingewiesen hat. Ich seiner Leistungsfähigkeit und sozialen Stellung zu-
wollte Sie fragen, Herr Ehmke, ob Sie nicht wissen, mutbar sind. Als Arbeitsplätze, auf die verwiesen
daß der normale Abgeordnete kein Recht auf Zu- werden kann, kommen auch Teilzeitarbeitsplätze in
tritt zu den Sitzungen des Auswärtigen Ausschusses Betracht.
hat. Nach den bisher vorliegenden Informationen hat
nun das Bundessozialgericht entschieden, daß eine
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Verweisung auf Teilzeitarbeitsplätze nur dann zu-
gaben: Dann würde man ihn in diesem Falle eben lässig ist, wenn die Zahl der Bewerber zur Zahl der
zu einer solchen Ausschußsitzung bitten können. Teilzeitarbeitsplätze im Verhältnis 100 zu 75 steht.
Dass ist ja durch die Geschäftsordnung nicht aus- Das bedeutet z. B. Herr Kollege, daß ein Berufsun-
geschlossen. fähiger, der nicht mehr auf einen entsprechenden
(Zurufe von der CDU/CSU: Nein, das geht Teilzeitarbeitsplatz verwiesen werden kann, Er-
nicht! — Das ist eine neue Auslegung!) werbsunfähigkeitsrente erhält. Die Entscheidung hat
auch für den Bereich der Berufsunfähigkeitsrentner
Auswirkungen. Das Urteil bringt insofern eine
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -
Änderung, als für die Verweisbarkeit auf Teilzeit-
Ich rufe die Frage 122 des Kollegen Damm auf:
arbeitsplätze strengere Maßstäbe angelegt werden
Trifft es zu, daß Staatssekretär Egon Bahr (siehe „Rheinischer
Merkur" Nr. 2/1970) davor gewarnt habe, „der Öffentlichkeit müssen als bisher.
oder dem Deutschen Bundestag den Wortlaut des Abkommens"
zwischen Bonn und Prag über die Entschädigung für Menschen- In welchem Umfang durch diese Entscheidungen
versuche zugänglich zu machen?
der Rentenversicherung Mehrausgaben entstehen,
läßt sich erst dann zutreffend abschätzen, wenn die
Das Wort hat der Herr Bundesminister Ehmke.
schriftlichen Gründe der Entscheidungen des Bun-
dessozialgerichts vorliegen und festgestellt werden
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- kann, wie die bisherige Praxis der Rentenversiche-
gaben: Die behauptete Tatsache trifft nicht zu. rungsträger durch das Urteil konkret geändert wird.
Erst dann ist zu übersehen, in welchen Bereichen
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -
vermehrt Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten zu
Eine Zusatzfrage? — Bitte schön, Herr Kollege Dr. gewähren sind.
Czaja! Bei der Beurteilung dieser Frage spielt auch eine
Rolle, inwieweit mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaf-
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, fen werden können.
können Sie also versichern, daß die gesamte Ent-
schädigungssumme den Opfern, die Sie vorher auf- Ich bin gern bereit, Herr Kollege, nach einer Frist,
geführt haben, tatsächlich ausgezahlt wird und zu- die eine Beurteilung der Entwicklung zuläßt, dem
gute kommt? Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Bun-
destages eingehend darüber zu berichten.
Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf-
gaben: Das ist der Inhalt des Vertrages, Herr Kol- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:-

lege. Eine Zusatzfrage, Herr Kollege.


Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 889

Müller (Remscheid) (CDU/CSU) : Herr Staats- nur einen Sachverhalt, nämlich die Finanzplanung
sekretär, trifft es zu, daß die Rentenversicherungs- auf dem Gebiete der Rentenversicherung. Nun wis-
träger gegenüber dem Bundessozialgericht die Mehr- sen Sie, Herr Kollege, daß diese Finanzplanung
ausgaben auf jährlich 600 Millionen DM beziffert keine fixe langfristige Projektion ist, sondern daß
haben? diese Finanzplanung für die Rentversicherung nach
dem Wortlaut des Dritten Rentenversicherungsände-
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim rungsgesetzes von Jahr zu Jahr fortgeschrieben
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr werden muß. In dieser Fortschreibung für die kom-
Kollege, ich darf Ihnen darauf folgendes antworten: menden Jahre werden natürlich alle Veränderungen
Weder eigene Ermittlungen meines Hauses nach der sowohl nach der einen als auch nach der anderen
Verkündung des Urteils noch eine Rückfrage beim Seite hin berücksichtigt.
Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, die
wir in diesen Tagen gestellt haben, haben auch nur Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:-

annähernd die von Ihnen genannte Zahl bestätigt. Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Folger auf:
Sie ist danach um ein Mehrfaches überhöht. Was wird die Bundesregierung gegen den sich immer mehr
ausbreitenden Arbeitskräftehandel tun, wie er z. B. in dem
Großinserat einer Firma „Manpower" in der „Süddeutschen Zei-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- tung" vom 5./6. Januar 1970 S. 5 verstärkt angebahnt wird?
Eine weitere Zusatzfrage des Fragestellers. Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Müller (Remscheid) (CDU/CSU) : Herr Staats-
sekretär, sind Sie bereit, dem Sozialbeirat für die Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim
weiteren Überlegungen der Finanzsituation der Ren- Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr
tenversicherung dann entsprechende Mitteilung zu Kollege, die Bundesregierung verurteilt — wie Sie
machen, wenn Sie ungefähr abschätzen können, — aus arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Erwägun-
welche Mehrbelastung auf die Rentenversicherungs- gen die Auswüchse bei der gewerbsmäßigen Arbeit-
träger durch dieses Urteil zukommt? nehmerüberlassung. Häufig wird hier zu Lasten der
Arbeitnehmer gegen Vorschriften des Sozialver-
sicherungsrechts und des Arbeitsrechts vorstoßen.
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Allerdings ist nach einer Entscheidung des Bundes-
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Wir
verfassungsgerichts vom 4. April 1967 ein generel-
werden das selbstverständlich tun, Herr Kollege.
les Verbot der Arbeitnehmerüberlassung nicht zu-
lässig. Das Bundesverfassungsgericht — darauf darf
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
- ich hinweisen — hat jedoch nicht abschließend zu
Herr Kollege Dr. Götz zu einer Zusatzfrage. diesem Fragenkreis Stellung genommen. Die offe-
nen Fragen zur Abgrenzung zwischen unerlaubter
Dr. Götz (CDU/CSU) : Herr Kollege Rohde, auch Arbeitsvermittlung und erlaubter Arbeitnehmer-
wenn heute, wofür ich Verständnis habe, noch nicht überlassung werden zur Zeit in einem Musterprozeß
die Größe der sich aus der Gerichtsentscheidung er- vor dem Bundessozialgericht geklärt.
gebenden zusätzlichen Belastung für die Rentenver- Urn bis zu dieser Klärung den aufgezeigten Miß-
sicherung festgestellt werden kann, wird man doch ständen, auf die Sie ja auch hingewiesen haben,
sagen können, daß sich daraus Auswirkungen auf schon jetzt wirksam entgegenzutreten, hat der Bun-
die langfristige Vorausschau über die Finanzent- desminister für Arbeit und Sozialordnung bei den
wicklung der Rentenversicherung ergeben. Ist Ihr Sozialversicherungsträgern, den Finanz- und Straf-
Haus der Meinung, daß die sich aus dieser Gerichts- verfolgungsbehörden, der Arbeitsverwaltung und
entscheidung ergebende Mehrbelastung auch bei der den Sozialpartnern auf eine engere Zusammenarbeit
langfristigen Vorausschau der finanziellen Entwick- und eine verstärkte Überwachung der Verleihunter-
lung berücksichtigt werden muß? Sehen Sie sich nehmen hingewirkt. Die Überprüfungen laufen, erste
veranlaßt, unter Umständen Ihre erst kürzlich vor- Verfahren sind eingeleitet. Über nähere Ergebnisse
genommene neue Vorausschau zu korrigieren bzw. werde ich im Frühjahr dieses Jahres Berichte erhal-
zu ergänzen? ten.
Ich will aber in diesem Zusammenhang noch ein
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
anderes anfügen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat
Ich muß Ihnen das Kompliment machen, daß es
sogenannte Job-Vermittlungsstellen für solche Ar-
Ihnen als einem erfahrenen Politiker gelungen ist, beitnehmer eingerichtet, die kein Dauerarbeitsver-
fast drei Fragen in der Zusatzfrage unterzubringen. hältnis eingehen wollen. Diese Vermittlungsstellen
Ich wäre Ihnen aber dankbar, wenn Sie in Zukunft werden zur Zeit in 28 Großstädten unterhalten und
darauf achten könnten, daß Sie sich — wegen der sollen weiter ausgebaut werden, um den Verleih
anderen Kollegen — auf eine Zusatzfrage - be- firmen auf dem Arbeitsmarkt positiv entgegenzu-
schränken. wirken.
Das Wort hat der Herr Staatssekretär.
Im übrigen, Herr Kollege, bereitet das Bundes-
ministerium für Arbeit und Sozialordnung gegen-
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim wärtig gesetzliche Änderungen vor, die eine noch
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr wirksamere Bekämpfung der aufgezeigten Miß-
Präsident, im Grunde genommen enthält die Frage stände gestatten.
890 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: - Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -

Keine Zusatzfrage. Ihre Frage ist damit beantwortet.

Ich rufe die Frage 38 des Kollegen Czaja auf: Ich rufe die Frage 40 des Abgeordneten Müller
Beabsichtigt die Bundesregierung, in der durch die Regierungs- (Remscheid) auf:
erklärung vom 28. Oktober 1969 angekündigten Fortführung der
Frauen-Enquête die gemäß Drucksache V/909 beim ersten Bericht Ist die Bundesregierung bereit, bei der Bundesanstalt für Ar-
über die Situation der Frau wegen seiner beschleunigten Ver- beit darauf hinzuwirken, daß der Besuch von höheren Wirt-
öffentlichung zurückgestellten Fragen der besonderen Situation schaftsfachschulen in ihr Förderungsprogramm aufgenommen
der Frauen aus den Kreisen der Vertriebenen und Flüchtlinge wird?
nunmehr zu prüfen und darzulegen, um auch diesen Frauen
noch mehr zu helfen, ihre gleichberechtigte Rolle in Familie,
Beruf, Politik und Gesellschaft zu erfüllen? Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Ich weiß nicht, ob diese und die nächste Frage Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr
gemeinsam beantwortet werden können, Herr Kollege Müller, der Besuch von höheren Wirt-
Staatssekretär. schaftsfachschulen wird zur Zeit aus Landesmitteln
nach den einschlägigen Landesvorschriften geför-
dert. Eine Einbeziehung dieser Schulen in das indi-
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim viduelle Förderungsprogramm der Bundesanstalt
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Sie für Arbeit käme daher nur im Bereich der Fortbil-
gehören nach meiner Meinung der Sache nach zu- dungsförderung in Betracht. Sie setzt, wie Sie ja
sammen. aus Ihrer Arbeit in der Bundesanstalt wissen, nach
§ 41 des Arbeitsförderungsgesetzes zweierlei vor-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -
aus. Erstens, die Maßnahmen müssen das Ziel ha-
Herr Fragesteller, Sie sind damiteinverstanden? ben, berufliche Kenntnisse und Fertigkeiten festzu-
Dann rufe ich auch die Frage 39 des Abgeordneten stellen, zu erhalten, zu erweitern oder der tech-
Czaja auf: nischen Entwicklung anzupassen oder einen beruf-
Beabsichtigt die Bundesregierung dabei die Erfahrungen und lichen Aufstieg zu ermöglichen und eine abgeschlos-
Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft heimatvertriebener und sene Berufsausbildung oder eine angemessene Be-
geflüchteter Frauen im Bund der Vertriebenen zu verwerten?
rufserfahrung voraussetzen. Die Berufsausbildung
Bitte schön, Herr Staatssekretär, Sie haben das wird hiernach also nicht gefördert. Zweitens, die
Wort. Fortbildungsmaßnahmen sollen in der Regel nicht
länger als zwei Jahre dauern. Diese zeitliche Be-
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim grenzung gilt nicht für Maßnahmen mit berufsbe-
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Ein gleitendem Unterricht.
ergänzender Bericht, Herr Kollege Czaja, über die Inwieweit die höheren Wirtschaftsfachschulen
Situation der vertriebenen und geflüchteten Frauen diese Voraussetzungen erfüllen, muß noch geprüft
in Beruf, Familie und Gesellschaft wird voraussicht- werden.
lich bis zum Herbst dieses Jahres fertiggestellt wer-
den. Es ist vorgesehen — darauf darf ich hinwei- Ich darf darauf hinweisen, Herr Kollege, daß der
sen —, darin vor allem auch über solche Lebenstat- Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung sich
bestände zu berichten, bei denen sich noch erheb- deswegen bereits mit der Bundesanstalt für Arbeit
liche Unterschiede in der Situation der Vertriebe- in Verbindung gesetzt hat. Eine abschließende Klä-
nen und Flüchtlinge im Vergleich zur eingesessenen rung ist jedoch erst zu erwarten, wenn die Bundes-
Bevölkerung ergeben. anstalt die nach § 39 des Arbeitsförderungsgesetzes
notwendige Anordnung über Voraussetzung, Art
Die Bundesregierung ist bereit — damit komme und Umfang der Förderung erlassen hat. Mit dem
ich zu Ihrer zweiten Frage —, auch die Erfahrungen Inkrafttreten der Anordnung ist in Kürze zu rech-
und Stellungnahmen der Arbeitsgemeinschaft hei- nen.
matvertriebener und geflüchteter Frauen in die Prü-
fung der gesamten Unterlagen einzubeziehen.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -

Eine Zusatzfrage des Kollegen Müller.


Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -

Herr Kollege, wünschen Sie eine Zusatzfrage? —


Bitte schön! Müller (Remscheid) (CDU/CSU) : Herr Staats-
sekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß es ein
Unterschied ist, ob jemand die höhere Wirtschafts-
Dr. Czaja (CDU/CSU) : Wird diese Veröffent- fachschule als Endpunkt einer schulischen Entwick-
lichung zusammen mit der Fortführung der Frauen- lung besucht oder ob er die höhere Wirtschafts-
enquete oder in getrennter Form erfolgen? fachschule besucht, nachdem er schon die entspre-
chenden Jahre im Beruf gewesen ist und das als
berufliche Fortbildungsmaßnahme ansieht?
Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr
Kollege, darauf will ich mich in dieser Stunde nicht Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim
festlegen. Es bestehen hier sachliche Zusammen- Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Das
hänge. Das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, auch ist sicher ein wichtiger Gesichtspunkt, der in die
im Hinblick auf die weitere parlamentarische Be- Prüfung der von Ihnen aufgeworfenen Frage mit
handlung. einbezogen werden muß.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 891

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim


Danke schön. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-
heit: Herr Kollege Müller, die Aufbringung der
Ich rufe nun den Geschäftsbereich des Bundes- Eigenmittel ist sicher schwierig. Das kann nicht be-
ministers für Jugend, Familie und Gesundheit auf. stritten werden. Andererseits liegen eine Fülle von
Zur Beantwortung steht Herr Parlamentarischer
Anträgen für Studentenwohnheimbauten vor. Das
Staatssekretär Westphal zur Verfügung. Als erste
besagt praktisch, daß die Eigenmittel vorhanden
Frage käme die Frage 41 des Kollegen Dr. Müller
sind. Diese Vorhaben können dann gefördert wer-
(München).
den, wenn der Bundesetat und die Länderetats ge-
nügend Mittel enthalten.
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
heit: Herr Präsident, darf ich fragen, ob die Frage Herr Kollege, eine weitere Zusatzfrage.
des Kollegen Leicht, die bei unserem Geschäfts-
bereich aufgerufen werden sollte, nicht zuerst auf-
gerufen wird. Dr. Müller (München) (SPD) : Ist die Bundes-
regierung 'bereit, diese ganze Angelegenheit noch-
mals intensiv zu prüfen und für die Zukunft viel-
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: leicht ein anderes System zu erwägen?
Entschuldigen Sie, ich habe mich nach dem hier
vorliegenden Fahrplan gerichtet, und danach ist
jetzt die Frage 41 des Kollegen Dr. Müller (Mün- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
chen) dran. Die Frage des Kollegen Leicht steht bei Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
mir auf Seite 11 unten. Aber wir können uns, Herr Die Bundesregierung steht sowieso vor der Frage
Kollege Leicht, dahin verständigen, daß Sie in jedem der Prüfung im Zusammenhang mit der Beschaffung
Falle noch drankommen. Nach der Bezifferung müßte von Mitteln für den Studentenwohnheimbau. Des-
jene Frage ja wohl vorgehen. Ich rufe jetzt also halb kann ich Ihre Frage mit Ja beantworten.
die Frage des Kollegen Dr. Müller (München) auf:
Beabsichtigt die Bundesregierung, die Finanzierung des Neu- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
baus von Studentenheimen nach dem gleichen Schlüssel wie die
Beteiligung an Hochschulneubauten (50 %) in Zukunft vorzu- Ich rufe die Frage 42 des Abgeordneten Dr. Schmitt
nehmen? Vockenhausen auf:
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung in Zusammen-
arbeit mit der Deutschen Ärztekammer, Schwierigkeiten in der
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim ärztlichen Notversorgung an Festtagen — wie sie sich an den
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- Weihnachtstagen 1969 in zahlreichen Fällen ergeben haben —
wirksamer zu begegnen?
heit: Herr Kollege, entsprechend den Richtlinien des
Bundesjugendplanes haben sich die Träger bei einer Die Frage soll schriftlich beantwortet werden. Die
Förderung von Studentenwohnheimen aus diesem Antwort liegt noch nicht vor. Sie wird nach Eingang
Fonds an den Gesamtkosten für Bau und Einrichtung im Sitzungsbericht abgedruckt.
mit 20 % Eigenmitteln zu beteiligen, wovon die
Hälfte Kapitaldienst erfordern darf. Nach der bis- Ich rufe nun die Frage des Abgeordneten Leicht auf:
herigen Praxis werden vom Bund weitere 40 % und Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, für die
Pflegeberufe zahlreicheren Nachwuchs zu gewinnen als bisher?
vom Land die restlichen 40 % bereitgestellt, so daß
ähnlich wie bei Hochschulneubauten Bund und Land Herr Staatssekretär, zur Beantwortung.
in gleicher Höhe an der Förderung beteiligt sind.
Die Bundesmittel werden in der Regel in der Höhe Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
von 331/3 % aus dem Bundesjugendplan vom Bun- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
desministerium für Jugend, Familie und Gesundheit Herr Kollege Leicht, zu einer ähnlichen mündlichen
und in Höhe von 62/3%ausMitelndsoziaen Anfrage des Herrn Abgeordneten Burger habe ich
Wohnungsbaus vom Bundesministerium für Woh- am 26. November 1969 eine schriftliche Antwort ge-
nungswesen und Städtebau zur Verfügung gestellt. geben; ich darf aus dieser Antwort auszugsweise
Dieses Verfahren hat sich bewährt. Es soll daher zitieren:
auch künftig beibehalten werden.
Der akute Fehlbedarf kann nur durch gemein
same Bemühungen aller beteiligten Stellen in
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: ihren jeweiligen Bereichen behoben werden. Des-
Eine Zusatzfrage des Kollegen Dr. Müller. wegen steht die Bundesregierung seit längerem
in Gesprächen mit den obersten Gesundheits-
Dr. Müller (München) (SPD) : Herr Staatssekre- und Arbeitsbehörden der Länder, den Gewerk-
tär, würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte,
- schaften sowie den Krankenhaus- und Schwe-
daß sich dieses Verfahren vor allem in den großen sternverbänden.
Ballungszentren mit steigenden Grundstückspreisen Eine weitere Anhebung des Ansehens der
nicht mehr bewährt, sondern daß es leider so ist, Krankenpflegeberufe in der Öffentlichkeit und
daß die 20 % Eigenbeteiligung heute nur noch sehr damit einen stärkeren Zugang zu diesen Berufen
schwer aufgebracht werden können, so daß in die- erwarte auch ich von einer Verbesserung der
sem Konvoisystem der schwächste Partner leider die Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne. Dazu
Geschwindigkeit bestimmt? gehört vor allem die Einführung einer Arbeits-
892 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Parlamentarischer Staatssekretär Westphal


zeitregelung — ggf. mit Schicht- und Teilzeit- im Bundesministerium für Jugend, Familie und Ge-
arbeit —, die allen Berufsangehörigen die not- sundheit der Arbeitsausschuß des Europarates, be-
wendige Freiheit gewährleistet und es auch stehend aus Regierungsvertretern der Mitglieds-
Frauen mit Familienpflichten ermöglicht, in der staaten der Europäischen Kulturkonvention, mit die-
Krankenpflege tätig zu sein. ... Durch stärkere sem Arbeitspapier. Die Delegierten von 14 Staaten
Differenzierung der pflegerischen Tätigkeiten berieten diese Vorschläge der Bundesregierung und
könnte den Aufstiegserwartungen besser ent- kamen überein, ihren Regierungen das Ergebnis der
sprochen werden. Bei der Tarifgestaltung sollten Arbeitstagung zu unterbreiten, das die Schaffung
z. B. langjährige Bewährung, erhöhte Verant eines Europäischen Jugendwerks im 'Rahmen des
wortung, Zusatzausbildung u. ä. vermehrt Be- Europarats in naher Zukunft nahelegt. Ich möchte
rücksichtigung finden. hier auf das ausführliche Kommuniqué der Tagung
Wenn diese Überlegungen verwirklicht wer- vom 8. und 9. Jan. hinweisen. Es erscheint im Bul-
den, würden die Krankenpflegeberufe auch für letin der Bundesregierung.
männliche Bewerber attraktiver.
Köster (CDU/CSU) : Wird die Bundesregierung
... Im Rahmen notwendiger Umschulungen ist
sicherstellen, daß auch nicht in Jugendverbänden
die Bundesanstalt für Arbeit bemüht, vor allem
organisierte Jugendliche voll am Europäischen
auch männliche Arbeitnehmer für eine Um-
Jugendwerk teilnehmen können?
schulung in Krankenpflegeberufe zu gewinnen.
Die von mir angeführten Gespräche der Bundes- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
regierung mit allen an der Beseitigung dieser Situa- Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
tion beteiligten Stellen haben auch die übrigen Ja, Herr Kollege, das ist selbstverständlich. Hier
Pflegeberufe, die Krankenpflegehilfe, die Alten- geht es um die Förderung von Veranstaltungen für
pflege und die Hauspflege betroffen, so daß meine die Jugend, unabhängig von der Frage, ob sie
Ausführungen für diese Berufe in gleicher Weise Organisationen angehört oder nicht. Es geht um
gelten. Veranstaltungen, auf denen Probleme der euro-
päischen Zusammenarbeit, Probleme der Jugend in
Leicht (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Sie tei- Europa usw. zur Diskussion stehen. Dafür wird es
len also meine Meinung, daß alle Maßnahmen sehr die verschiedenartigsten Träger geben. Es besteht
schnell zu geschehen haben, weil sich der Bereich also in jedem Falle für den einzelnen jungen Men-
der Pflegetätigkeiten eher ausweitet als verkleinert? schen, auch wenn er nicht einem Verband angehört,
die Möglichkeit, an solchen Veranstaltungen teilzu-
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim nehmen.
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
Ja, Herr Kollege Leicht, es ist unser Anliegen, über- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -

all dort, wo es geht, schnell zu einer Verbesserung Eine weitere Zusatzfrage.


der Lage zu kommen.
Köster (CDU/CSU) : Ist die Bundesregierung be-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:- reit, als ersten Schritt in Richtung auf die Verwirk-
Meine Damen und Herren, im Hinblick auf die zahl- lichung des Europäischen Jugendwerkes bilaterale
reichen noch nicht beantworteten Fragen lasse ich Abkommen mit allen beitrittswilligen Staaten Euro-
hierzu keine weitere Zusatzfrage mehr zu, nach- pas abzuschließen?
dem der Fragesteller keine zu stellen wünscht. Die
Frage 43 der Abgeordneten Frau Herklotz ist zu- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
rückgezogen. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
Ist der Kollege Dr. Schulz (Berlin) im Saal? — Das Herr Kollege, dieses Thema steht schon seit langer
ist nicht der Fall. Dann wird die Frage 44 schriftlich Zeit für uns neben den Bemühungen um ein Euro-
beantwortet. päisches Jugendwerk. Dies sind zwei Dinge, die
nebeneinander gleichermaßen betrieben werden
Ich rufe die Frage 45 des Kollegen Köster auf: müssen. Ich habe hier vor einiger Zeit Gelegenheit
Welche konkreten Maßnahmen wurden bisher von der Bundes- gehabt, zu sagen, daß das Deutsch-Französische
regierung zur Verwirklichung des Europäischen Jugendwerks
eingeleitet? Jugendwerk in Übereinstimmung mit unserem fran-
zösischen Partner seine eigene Weiterentwicklung
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim erfahren wird, obwohl wie beide gleichermaßen
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: daran interessiert sind, nun ein Europäisches
Herr Kollege Köster, die Bundesregierung hat mit Jugendwerk zustande zu bringen. Andere bilaterale
den Regierungen von Frankreich und Großbritan- Abkommen sind getroffen. Um weitere werden wir
nien Ende des vergangenen Jahres und zu Beginn uns von Fall zu Fall bemühen.
des neuen Jahres gesonderte Besprechungen - über
die Verwirklichung eines Europäischen Jugend- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -

werks geführt. Ferner hat sie ihre Vorstellungen zu Ich rufe die Frage 46 des Kollegen Köster auf:
einem Europäischen Jugendwerk konkretisiert und In welcher Form beabsichtigt die Bundesregierung, die Forde-
zu einem umfassenden Vorschlag in einem Arbeits- rung des Deutschen Bundesjugendringes nach Durchführung eines
europäischen Jugendkongresses zu unterstützen?
papier zusammengefaßt. Am 8. und 9. Januar dieses
Jahres befaßte sich in Bonn unter meinem Vorsitz Das Wort hat Herr Staatssekretär Westphal.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 893

Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim seit alters her bekannt und ist immer in Pandemien
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: aufgetreten, die letzten 1889, 1918 bis 1920, 1957 und
Die Bundesregierung hat bereits im Jahre 1969 dem 1968/69. Dazwischen hat es Ausbrüche unterschied-
deutschen Bundesjugendring eine finanzielle Unter- lichen Umfangs im Abstand von zwei bis drei Jah-
stützung des von diesem geplanten Europäischen ren immer gegeben. Dagegen mag es sein, daß es
Jugendkongresses 1970 in Aussicht gestellt. Sie durch Urbanisierung und Verkehrsverflechtung
steht mit dem deutschen Bundesjugendring wegen heute zu einer .etwas schnelleren Ausbreitung als
der Höhe der Förderung und der Durchführung die- früher kommt.
ses Kongresses in Verbindung.
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -


Eine Zusatzfrage, Herr Kollege?
Keine Zusatzfrage, Herr Kollege? — Dann rufe ich
die Frage 47 des Kollegen Jung auf: Jung (FDP) : Herr Staatssekretär, darf ich aus
Haben die Grippeepidemien der letzten Jahre nach Kenntnis Ihrer letzten Antwort schließen, daß Sie sich gewis-
der Bundesregierung zu einem internationalen Erfahrungsaus- sermaßen damit abfinden, daß eben die Grippe alle
tausch über Ursachen und Bekämpfungsmöglichkeiten auf gesund-
heitspolitischer und wissenschaftlicher Ebene geführt, und welches zwei oder drei Jahre auftritt?
Ergebnis hatten diese Beratungen?

Bitte schön! Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim


Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Herr Kollege, ich glaube nicht, daß sich die ärztliche
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit: Wissenschaft damit abfinden kann, so daß auch wir
Herr Kollege Jung, die Weltgesundheitsorganisation als Bundesregierung nicht einfach sagen können: das
hat schon vor zwanzig Jahren begonnen, ein welt- passiert halt so. Uns ging es darum, Ihnen auf Ihre
weites Netz zur Sammlung und Verbreitung von Frage zu antworten, wie der Sachstand in diesen
Informationen über die Grippeviren aufzubauen, das Dingen ist. Man sollte die Entwicklung, die wir
sich in jeder Hinsicht bewährt hat. Heute gibt es gerade in , den letzten Wochen gehabt haben, nicht
85 Grippezentren in 55 Ländern der Erde, darunter zum Anlaß nehmen, ohne Vergleich mit vergange-
auch bei uns. Dank dieses Netzes war es z. B. mög- nen Ereignissen Rückschlüsse auf die .Lage zu ziehen,
lich, daß das A-2-Hongkong-Virus schon drei Wo- die problematisch , genug, aber im Vergleich nicht
chen nach seiner ersten Isolierung der ganzen Welt katastrophal war.
für diagnostische Zwecke und zur Impfstoffproduk-
tion zur Verfügung stand. Außer dem laufenden Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Informationsaustausch findet von Zeit zu Zeit eine Eine weitere Zuatzfrage ides Kollegen Jung.
Sichtung der 'wissenschaftlichen Ergebnisse durch
Expertengruppen statt. Das war zuletzt im Oktober
Jung (FDP) : Herr Staatssekretär, darf ich also
1967 der Fall.
unterstellen, daß Sie künftig verstärkt Bemühungen
Die vielfältigen Ergebnisse im Rahmen einer unternehmen werden, um solchen Grippeepidemien
Fragestunde hier darzulegen, ist kaum möglich, vorbeugend zu begegnen?
Herr Kollege. Sie sind auszugsweise im „Bundes-
gesundheitsblatt" vom 26. September 1969 ver- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
öffentlicht. Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Ge-
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen: -
sundheit ist genau wie Sie sehr daran interessiert
Keine Zusatzfrage, Herr Kollege? — und darum bemüht.

Ich rufe die Frage 48 des Kollegen Jung auf: Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

Fehlen bei der Erforschung dieser weitverbreiteten Krankheit Eine Zusatzfrage des Kollegen Bäuerle.
mit zahlreichen Todesfällen in vielen Ländern eventuell auch die
notwendigen Institute und sonstigen wissenschaftlichen und
finanziellen Voraussetzungen, oder was sonst müßte nach Ansicht
der Bundesregierung eventuell vom Staat aus getan werden, Bäuerle (SPD) : Herr Staatssekretär, wäre es
um diesen in den letzten Jahren vermehrt auftretenden Epide-
mien erfolgreich entgegentreten zu können? nicht sinnvoll, wenn durch die Gesundheitsbehörden
künftig allgemein gegen die Grippe ähnlich wie bei
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim den Polio-Impfungen geimpft würde?
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit:
Institute und sonstige wissenschaftliche Einrichtun- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

gen sind genügend vorhanden. Geld für die wissen- Herr Kollege, das steht im Sachzusammenhang mit
schaftliche Forschung hat man immer zuwenig, Herr einer weiteren Frage des Kollegen Dr. Frerichs. Ich
Kollege. Für unser Land muß man hinzufügen, daß würde vorschlagen, daß ich dann auch diese Frage
wir auch einen Engpaß an qualifizierten Virologen zur Beantwortung aufrufe. Ist Herr Dr. Frerichs im
und medizinisch-technischen Assistenten haben. Saal? — Nicht. Dann lasse ich die Beantwortung der
Aber auch das hängt über die Frage angemessener Zusatzfrage zu. Bitte schön!
Besoldung letztlich mit dem Geld zusammen.
Von einem vermehrten Auftreten der Epidemien Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
kann man im übrigen nicht sprechen. Die Grippe ist Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-
894 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Parlamentarischer Staatssekretär Westphal


heit: Herr Kollege, ich möchte die Frage nicht in der Haltung wird angesehen, daß man den Beruf der
Weise beantworten, daß ich jetzt bereits erkläre: Krankenschwester zumeist eb en nur dann erlernen
Es wäre sinnvoll, alle Menschen zu impfen. An- kann, wenn über die bereits abgeschlossene Schul-
dererseits möchte ich sagen, daß es wünschenswert bildung hinaus ein Jahr verstrichen ist.
und notwendig ist, bestimmte Gruppen von Personen
rechtzeitig zu impfen. Es geht dabei um Personen- Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
kreise, bei denen man die Gefahr vermuten muß, Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-
daß sie am ehesten Vermittler sein könnten, oder um heit: Herr Kollege Burger, die Bundesregierung
Personenkreise, bei denen .es besonders wichtig ist, kennt solche Aussagen und das dahinterstehende
daß sie für die Arbeit, die sie für , die Gesellschaft Problem. Sie ersehen aus dem, was ich in der Ant-
verrichten, nicht ausfallen. wort auf Ihre erste Frage gesagt habe, daß auch bei
uns das Bemühen dahin geht, die entscheidenden
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Kräfte dafür zu gewinnen, die Tendenz zur Herab-
Ich rufe die Frage 49 des Kollegen Burger auf: setzung des Mindestalters zu unterstützen, damit
Erwägt die Bundesregierung, eine Ausnahmemöglichkeit zu die Ausbildung früher begonnen werden kann. Man
schaffen für Bewerber für den Krankenpflegeberuf, die das
16. Lebensjahr vollendet haben und die körperliche und geistige
könnte z. B. daran denken, Teile der Ausbildung vor-
Reife besitzen, um die Ausbildung zu beginnen? zuverlegen, um dem Alter gemäß schon frühzeitig
sinnvolle Schritte in der Ausbildung zu machen.
Herr Staatssekretär!
Uns liegt daran, einen Weg zu finden, der den Über-
gang von den schulischen Abschlüssen zu diesen
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Berufen erleichtert und der in der Zwischenzeit
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- keinen Ausfall eintreten läßt.
heit: Herr Kollege Burger, diese Frage wurde schon
anläßlich der im Jahre 1968 geführten Beratungen
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
über ein Zweites Gesetz zur Änderung des Kranken-
pflegegesetzes vom 20. September 1965 geprüft, Ich rufe die Frage 50 des Abgeordneten Burger auf:
doch konnte sich der Gesetzgeber seinerzeit nicht Hält die Bundesregierung ein Experiment im Krankenhaus Her-
decke bei Hagen, in welchem ohne Chefarzt und Oberin, wie
für eine derartige Regelung entschließen. In der man lesen konnte, die Leibeigenschaft" des nachgeordneten
Dienstes abgeschafft worden ist und das einen erstaunlichen
Zwischenzeit sind immer mehr Stimmen laut ge- Zulauf an Personal verzeichnen kann, für ein empfehlenswertes
worden, die die weitere Herabsetzung des Mindest- Modell hinsichtlich einer Neuordnung der hierarchischen Ordnung
in den Krankenhäusern?
alters auf das 16. Lebensjahr fordern.
Herr Staatssekretär!
Der Bundesminister für Jugend, Familie und Ge-
sundheit hat sich daher verpflichtet gesehen, die
beiden großen Schwesternorganisationen und die Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim
Deutsche Krankenhausgesellschaft um Äußerung zu Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-
diesem Problem zu bitten. Die bisher eingegangenen heit: Der Versuch, im Krankenhaus Herdecke unter
Stellungnahmen und Zwischenbescheide lassen aber Verzicht , auf die bisherige hierarchische Ordnung
erkennen, daß die vorgenannten Organisationen neue Wege in der Struktur des dispositiven Bereichs
eine Herabsetzung des Mindestalters auf das voll- im Krankenhaus zu gehen, wird von der Bundes-
endete 16. Lebensjahr auch in Ausnahmefällen nach regierung beobachtet. Die Bundesregierung ist je-
wie vor ablehnen. doch mit der für Fragen des Krankenhauswesens
zuständigen obersten Gesundheitsbehörde des Lan-
Darüber hinaus hat das Bundesministerium für des Nordrhein-Westfalen der Auffassung, daß sich
Jugend, Familie und Gesundheit unter Mitteilung der Versuch noch im Anfangsstadium befindet. Es
dieses vorläufigen Ergebnisses der Befragung die kann deshalb jetzt noch nicht beurteilt werden, ob
obersten Landesgesundheitsbehörden gebeten, ihrer- und inwieweit sich dieser Versuch eignen wird, als
seits zu dem Vorschlag, das für die Zulassung zum empfehlenswertes Modell hinsichtlich einer auch von
Besuch der Schulen für Krankenpflege und Kinder-
,

der Bundesregierung für notwendig gehaltenen Neu-


krankenpflege sowie Krankenpflegehilfe vorge- ordnung der inneren Organisation in den Kranken-
schriebene Mindestalter vom vollendeten 17. auf häusern angesehen zu werden.
das 16. Lebensjahr herabzusetzen, Stellung zu neh-
men. Die Antworten der Länder liegen mir noch
nicht vor. Eine Entscheidung der Bundesregierung Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
wird nach deren Eingang erfolgen können. Der Kollege Dr. Frerichs ist nicht im Saal; die Fra-
gen werden schriftlich beantwortet.

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Ich rufe als letzte Frage die Frage 53 des Abge-
Eine Zusatzfrage. ordneten Dr. Riedl (München) auf:
Hält die Bundesregierung im Zusammenhang mit der jüngsten
Burger (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, kennt Grippewelle erhobene Vorwürfe, wie sie z. B. der bayerische
Landtagsabgeordnete Erwin Essl gegenüber dpa am 8. Januar
die Bundesregierung das Teilergebnis einer Umfrage 1970 gegen die Ärzteschaft und gegen die Organisation des
ärztlichen Bereitschaftsdienstes geäußert hat, für berechtigt, und
des Emnid-Instituts aus dem Jahre 1966 über das wie wird die Bundesregierung gegebenenfalls in Zukunft dafür
Image der Krankenschwestern, wonach festgestellt sorgen, daß die Ärzteschaft über die Ausbreitung von anstecken-
den Krankheiten, wie der Virusgrippe, so rechtzeitig informiert
wurde, daß 5 % der noch nicht Berufstätigen Kran- wird, daß sie sich auf die besonderen Belastungen einstellen
krankenschwester werden wollen, es aber nur 1 % kann?

wirklich wird? Als einzige Begründung für diese Herr Staatssekretär, bitte!
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 895

Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim Schulte (Unna) (SPD) : Herr Präsident! Meine
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund- sehr geehrten Damen und Herren! Nachdem der
heit: Ich darf hierzu auf meine Antwort auf die vom Herr Kollege Rasner nunmehr den Vorwurf der
Herrn Kollegen Dr. Schmitt-Vockenhausen gestellte Inobjektivität gegenüber der Frau Präsidentin zu-
Frage hinweisen. Wenn an einzelnen Stellen die rückgenommen hat,
volle ärztliche Versorgung nicht gewährleistet war,
(Abg. Rasner: Den habe ich nie erhoben!)
so hängt das einmal mit dem Umfang der Grippe-
welle zusammen, zum anderen aber auch mit der möchte ich meinen Ausdruck der „Unverschämtheit"
Tatsache, daß auch Ärzte und Pflegepersonen von zu meinem Bedauern zurücknehmen.
der Grippe selber betroffen wurden. (Große Heiterkeit und Zurufe. — Abg.
Daß sich die Ärzteschaft zu Beginn der Weih- Köppler: „Mit" Bedauern!)
nachtsferien in Unkenntnis der epidemiologischen
Situation befand, kann man wohl kaum unterstellen. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
Die Bundesregierung hat in Zusammenarbeit mit Ich freue mich über die allgemeine Heiterkeit. Da-
den Ländern beim Bundesgesundheitsamt ein In- mit ist unser Mittagspensum an persönlichen Erklä-
formationssystem für übertragbare Krankheiten ge- rungen erledigt.
schaffen, das sich bewährt hat. Die Informationen
werden jeweils wöchentlich auch Presse und Rund- Der Ältestenrat hat heute mittag die Situation
funk zugänglich gemacht. Sie haben die jeweiligen des Vormittags erörtert. Der Ältestenrat ist zu der
Lageberichte gerade in diesem Winter so schnell Auffassung gekommen, daß an der Regelung des
und ausführlich verarbeitet und verbreitet, daß man § 39 der Geschäftsordnung festgehalten werden
wohl davon ausgehen darf, daß jeder Arzt hinrei- soll. Angesichts der besonderen Bedeutung des
chend und rechtzeitig informiert war. Gleichwohl Beratungsgegenstandes soll von einer engen Hand-
habung der Geschäftsordnung abgesehen werden.
will ich gern mit den obersten Landesgesundheits-
behörden noch einmal prüfen, ob auch die Landes- (Aha! bei der CDU/CSU.)
ärztekammern direkt in dieses Informationsnetz Wir nehmen nunmehr die unterbrochene Beratung
einbezogen werden können. Ich habe allerdings des Punktes 4 wieder auf. Das Wort hat zunächst
Zweifel, ob diese über die technischen Einrichtun- der Herr Bundesminister für innerdeutsche Bezie-
gen verfügen, die Informationen so schnell weiter- hungen, Franke.
zugeben, wie es Presse und Rundfunk möglich ist.
Franke, Bundesminister für innerdeutsche Be-
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: ziehungen: Herr Präsident! Meine Damen und Her-
Eine Zusatzfrage, Herr Kollege Dr. Riedl.
ren! Mein Vorgänger, Herbert Wehner, der heute
morgen in so kenntnisreicher Weise unser gemein-
Dr. Riedl (München) (CDU/CSU) : Herr Staats- sames Anliegen hier vertreten hat, hat in diesem
sekretär, sind Sie also der Meinung, daß die Vor-
Hohen Hause bei anderer Gelegenheit auf das stei-
würfe des SPD-Landtagsabgeordneten Erwin Essl
nige Gelände hingewiesen, auf welchem die
unzutreffend sind? Deutschlandpolitik sich bewegen muß. Er hat bei
der Gelegenheit hinzugefügt, es sei notwendig, not-
Westphal, Parlamentarischer Staatssekretär beim falls mit den Fingernägeln nach den kleinsten Er-
Bundesminister für Jugend, Familie und Gesund-
folgen zu kratzen. Diese sehr beziehungsreichen
heit: Ich habe den Eindruck, daß wir — gestützt auf Ausführungen sollten uns immer bewußt sein, um
diese Äußerungen — sagen können, daß unsere
klar und deutlich zu machen, auf welch schwierigem
Ärzteschaft der Aufgabe, vor die sie gestellt war, Gebiet wir uns gemeinsam zu bewegen haben, um
unter erschwerten Bedingungen gewachsen war. uns auch gemeinsam vor Illusionen zu bewahren.
Ich möchte daher in dieser Debatte betonen, daß ich
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: — um bei dem Wort zu bleiben — mich ebenfalls
Wir sind am Ende der Fragestunde. mit allen Mitteln bemühen werde, Ansatzpunkte zu
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat der suchen und zu finden, um nach Erfolgen, auch nach
Herr Kollege Rasner. kleinsten Erfolgen, wenn es sein muß, mit Finger-
nägeln zu kratzen.
Rasner (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Ich werde mich bei diesem Bemühen auch nicht
Damen und Herren! Ich hatte heute morgen die von jener unmenschlichen Haltung der anderen
Aufgabe, die Rechte meiner Fraktion in einer Ge- Seite irritieren lassen, die erklärt, menschliche Be-
schäftsordnungsdebatte zu wahren. Dabei war es ziehungen, menschliche Belange in den Beziehungen
ganz gewiß nicht meine Absicht, der Frau amtieren- zwischen den beiden Staaten seien zweitrangig. Das
den Präsidentin, der Frau Kollegin Funcke, zu nahe kann für uns nicht die Basis sein. Für uns haben
zu treten. Da dieser Eindruck dennoch entstanden die menschlichen Fragen einen sehr hohen Rang
ist, möchte ich das ausdrücklich bedauern. und werden bestimmend sein für all das, was wir
tun.
Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen, um
Das Wort zu einer persönlichen Erklärung hat der den Zuständigen in der DDR noch einmal die Worte
Abgeordnete Schulte. des Bundeskanzlers in Erinnerung zu rufen, die er
(Heiterkeit.) gestern in seinem Bericht zur Lage der Nation ge-
896 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Bundesminister Franke
sprochen hat und auf die heute morgen Herr Kol- geht. Warum soll es nicht möglich sein, daß sich
lege Dr. Gradl als der Vorsitzende des Bundes- Freunde treffen können, wann und wo immer sie
tagsausschusses für innerdeutsche Beziehungen Be- wollen, um in freundschaftlich-menschlicher Weise
zug genommen hat: „Ein Vertrag zwischen der DDR zusammenzukommen und so ¡auch diesen Teil ihres
und uns darf nicht zu einer Nebelwand werden, hin- persönlichen Lebens in Freiheit leben zu können?
ter der alle die Menschen belastenden Tatbestände
unverändert bleiben." Gestern hat der Bundeskanzler auf die Absurdität
hingewiesen, daß man ,aus der Bundesrepublik leich-
Von dieser Aussage ausgehend, sollten wir ver- ter lin ¡die Tschechoslowakei, nach Ungarn und Rumä-
suchen, wenigstens auf einigen Gebieten voranzu- nien reisen kann, als man das aus der DDR kann,
kommen, mit der DDR zu Vereinbarungen zu kom- und daß man selbst aus der DDR leichter in diese
men. Länder reisen kann als in den anderen Teil Deutsch-
lands, ,schon gar nicht zu sprechen von der Reise
Da sind, meine ich, zuerst und zunächst die von West-Berlin nach Ost-Berlin und umgekehrt.
menschlichen Beziehungen zu nennen. Was kann Warum sollen beispielsweise junge Menschen sich
auf diesem Gebiet getan werden? Ich weiß, daß das
nur bei Olympischen Spielen, bei Welt- oder Europa-
manchem zu nüchtern und zu sachlich erscheint. Ich
meisterschaften begegnen und sich nicht auch in
bin aber der Meinung: gerade das ist die reale
Leipzig, München, Hamburg oder Rostock zu sport-
Chance, die sich möglicherweise bietet, wenn über-
lichen oder sonstigen Veranstaltungen treffen kön
haupt etwas weitergebracht werden kann in dieser
nen? Der Jugendaustausch, der mit Frankreich mög-
Zeit und mit den Möglichkeiten, die uns zu Ge-
lich ist, müßte doch ¡auch zwischen den jungen Men-
bote stehen. Dabei geht es, meine ich, darum, mit
schen aus ¡der DDR und (der Bundesrepublik Deutsch-
der DDR über Themen zu verhandeln und zu Ver-
land möglich sein. Wir sind dabei, ein europäisches
einbarungen zu kommen, deren Regelungen sich
Jugendwerk zu schaffen, und wir wollen, daß auch
unmittelbar auf das Leben der Menschen in bei-
die osteuropäische Jugend sich an diesem Jugend-
den Teilen Deutschlands auswirken würden. Ist es
werk beteiligt. Die Bundesregierung möchte aber,
vermessen, zu hoffen, daß es zwischen uns Deut-
daß dieses europäische Jugendwerk es den jungen
schen nicht nur bei den Worten vom guten Willen
Menschen von ¡drüben ermöglicht, einmal in die
und von der Geduld bleibt, mit der der Prozeß der
Normalisierung der Verhältnisse in unserem Land Bundesrepublik oder auch in das westliche Ausland
fortentwickelt werden soll, sondern wir nun daran zu reisen — alles Möglichkeiten, die jetzt noch nicht
gehen und praktische Schritte tun können, um in gegeben sind. Wie wäre es eigentlich — um ein
Verhandlungen zu erproben, ob die Bundesregie- weiteres Beispiel der möglichen Lösungen aufzu-
rung und der Ministerrat sich einigen können und zeigen — mit großen Jugendlagern, vielleicht in
wie die zwei Staaten beiderseits ohne Diskriminie- den bayerischen Alpen oder auf der Insel Rügen,
rung auf der Ebene der Regierung zu vertraglich um über diesen Weg, über die jungen Menschen
vereinbarter Zusammenarbeit kommen können? das an Verbindungen zu schaffen, was möglich ist?
Wie anders sollte und könnte sich der Prozeß der Das sind nur einige Vorschläge, aber ein solcher
Normalisierung vollziehen? Für die Menschen in Katalog ließe sich sicherlich noch um viele Beispiele
beiden Teilen Deutschlands ist und bleibt es unver- verlängern. Manchem mag das sehr geringfügig er-
ständlich, daß Grundlagen des Staates erschüttert scheinen. Zugegeben: es sind ganz bescheidene
werden sollten oder erschüttert sein könnten, wenn Dinge, zwischenmenschliche Beziehungen, aber sie
ihnen gestattet wird, die Gräber ihrer Angehöri- sind Millionen Menschen in unserem Volke immer
gen in Ost-Berlin oder am Berliner Stadtrand zu noch vorenthalten. Sich um die Lösung dieser Fra-
besuchen. Es ist ihnen unverständlich, daß sie nicht gen zu bemühen, sollte sich für alle lohnen.
auch schon vor Erreichung des Rentneralters in die
Bundesrepublik reisen können. Es ist auch nicht
verständlich, warum die Grundlagen des Staates Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen:
erschüttert sein sollten, wenn der Wunsch besteht, Ich möchte doch noch einmal an das Haus appellie-
mit der eigenen Familie zusammenzukommen. Es ren, die Gespräche im Saal einzustellen. Sie bilden
ist ebenso unverständlich, daß die Grundlagen eines eine ständige starke Geräuschkulisse.
Staates erschüttert werden können, wenn Verlobte
aus beiden Teilen Deutschlands heiraten möchten. Es Franke, Bundesminister für innerdeutsche Be-
ist auch unverständlich, warum es nicht möglich ziehungen: Meine Damen und Herren, man hat uns
sein sollte, jederzeit direkt miteinander zu telefo- hier einen Vertragsentwurf hergebracht. Aber was
nieren. Es ist ebenso unverständlich, daß es nicht bewirkt dieser Vertragsentwurf für die Menschen?
möglich sein sollte, lebensnotwendige Medikamente Was sind Verträge wert, wenn sie nicht für die Men-
zu erhalten, die infolge der unterschiedlichen Gege- schen gemacht werden, um deren Probleme es geht?
benheiten so oder so besser zu beschaffen sind. Menschlichkeit kann doch, wenn dieses Wort seinen
Ebenso unverständlich ist es, daß weder Geschenke
- Sinn behalten soll, nur bedeuten, menschlich mit-
in größerem Umfang versandt noch Ferien und einander umzugehen. Darum müssen wir uns ständig
Begegnungen hüben und drüben verbracht wer- bemühen im Interesse und in der Verpflichtung ge-
den können. genüber der Menschlichkeit, zu der wir jederzeit
ein vorbehaltloses Bekenntnis ablegen.
Das sind an sich sehr nüchterne, schlichte und
einfache Themen, und doch sind sie sehr bestimmend Dem Hohen Hause sind die Materialien zum Be-
für 'das tägliche Leben der Menschen, um die es richt zur Lage der Nation vorgelegt worden. Diesen
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 897
Bundesminister Franke
Materialien ist i n der Öffentlichkeit bestätigt wor- traglich bindenden Vereinbarungen zu kommen.
den, ,daß sie sich durch Nüchternheit und Realismus Daß das ein sehr mühsames Unterfangen ist, ist
auszeichnen. Im gleichen Sinne möchte ich das zweite allen Beteiligten und allen Informierten bekannt,
Gebiet behandeln, und ich bin überzeugt, daß es bei und doch geschieht nichts von selbst, es muß immer
einigermaßen gutem Willen möglich sein müßte, beständig und beharrlich daran gearbeitet werden.
auf ihm ein Stück voranzukommen. Dabei handelt
es sich nicht nur um guten Willen, sondern auch um Es ist also auch an den gemeinsamen Ausbau und
die Wahrnehmung beiderseitiger Vorteile. die Herstellung neuer Verkehrsverbindungen zu
denken, insbesondere Brücken, Autostraßen, Was-
Die Bundesregierung geht davon aus, daß Sach- serstraßen und Eisenbahnen sowie an verbesserte
punkte existieren, deren Lösung im Interesse beider Post- und Telefonverbindungen, auch und gerade
Staaten in Deutschland liegt. Niemand kann ver- an die Herstellung des Telefonverkehrs in ganz
nünftigerweise von der anderen Seite verlangen, Berlin— an sich sehr einfache, ganz nüchterne The-
daß sie mit uns über Fragen verhandelt, die eigenen men, aber sie machen das aus, um was es uns geht.
sachlichen Interessen unüberwindlich entgegen-
stehen. Aber wir haben doch im Verlauf der letzten Machen Sie sich einmal bewußt, meine sehr ver-
Jahre auf beiden Seiten genügend Erfahrungen sam- ehrten Damen und Herren, daß die DDR das einzige
meln können, und wir wissen z. B. aus den Ver- Land in Europa ist, mit dem noch keine Absprachen
handlungen über die Entwicklung des innerdeut- über transeuropäische Straßen, Autobahnplanungen,
schen Handels, daß trotz aller Schwierigkeiten im- Brückenobjekte, Transitrechte im Binnenschiffsver-
mer wieder Ansatzpunkte gefunden wurden, An- kehr getroffen worden sind, Fragen, die für das
satzpunkte gefunden werden konnten, um zu einem tägliche Geschehen von großer Bedeutung sind und
Abschluß zu kommen. Damit soll nicht gesagt wer- die auch sinnvoll in eine friedliche und gesicherte
den, daß dieses Thema ideal gelöst und geregelt Zukunft weisen können. Beiträge dieser Art können
wurde, aber es gibt Lösungen, ,es gibt Regelungen, beachtlich sein. Warum sollten wir uns nicht alle
die für beide verbindlich sind. Es ist immerhin be- Mühe geben, da zu Ergebnissen zu kommen? Das
achtlich, daß sich in diesem Bereich des inner- könnte sehr bedeutsam sein.
deutschen Handels eine Entwicklung vollzogen hat,
Was Erleichterungen des täglichen Lebens an-
bei der wir ganz klar und eindeutig Fortschritte
langt, so könnte zunächst daran gedacht werden,
feststellen können, die deutlich machen, in welcher
verbesserte Reisemöglichkeiten zu schaffen vor
Weise es sich als sinnvoll erwiesen hat, sich einem
allem für Verwandte — mit dem Ziel der Entwick-
so nüchternen Thema sehr sachlich zu widmen. Es
lung eines normalen Reiseverkehrs. Es ist daran zu
wurden Fortschritte gemacht, und ich meine, es gibt
denken, eine Regelung zu schaffen, die Westberliner
eine Reihe von Gebieten, auf denen wir unsererseits
Bürgern den Besuch Ost-Berlins in gleicher Weise
bereit sind, unter Berücksichtigung der eigenen In-
ermöglicht wie westdeutschen Bürgern. Das wäre
teressen und der Interessen der anderen Seite nach
ein gewaltiger Schritt voran, und das Bemühen dar-
Lösungen zu suchen. Der Bundeskanzler hat ge-
um sollte tatsächlich nicht zuviel sein.
stern in seinem Bericht zur Lage der Nation gesagt:
Die beiden Staaten auf deutschem Boden sind Aber nicht nur im geteilten Berlin, sondern auch
nicht nur Nachbarn, sondern sie sind Teile entlang der Trennungslinie zwischen beiden Teilen
einer Nation mit weiterhin zahlreichen Gemein- Deutschlands gibt es Probleme, die im Interesse der
samkeiten. Was liegt näher, als daß sie prak- unmittelbar betroffenen Bevölkerung beiderseits der
tische Fragen möglichst vernünftig miteinander Demarkationslinie gelöst werden sollten. Kreise und
regeln? Wir sind dazu bereit. Gemeinden entlang dieser Linie können beispiels-
weise ihre Nachbarschaftsprobleme nicht lösen, weil
Wenn wir also zuerst versuchen, auf dem wirtschaft- es nicht zu Gesprächen kommt. Hier könnten und
lichen und verkehrspolitischen Bereich vorwärtszu- sollten im Interesse beider Seiten sogar wirtschaft-
kommen, so ist dabei an eine Ausweitung und Er- liche und technische Zweckgemeinschaften gebildet
leichterung des innerdeutschen Handels etwa durch werden, um die Probleme, die sich aus dem Gebiet
öffentliche Bürgschaften und Einrichtung von Kre- ergeben, zum Wohle beider Seiten lösen zu helfen.
diten zu denken, an den Austausch zwischen den
beiderseitigen Energiemärkten, an Energieverbund- Ein weiteres Problem, das auch in den Bereich
systeme. praktischer Möglichkeiten gehört, wäre die Erleich-
terung des Zahlungsverkehrs durch innerdeutsche
Bei dieser Gelegenheit darf ich noch einmal auf
Verrechnung und beiderseitige Bereitstellung von
den innerdeutschen Handel und seine Entwicklung
Reisezahlungsmitteln. Auch das ist eine Schwierig-
zurückkommen und darauf hinweisen, daß im Jahre
keit, die verhindert, daß sich die Menschen in
1969 allein der Handel im innerdeutschen Bereich um
Deutschland zu erleichterten Bedingungen und Mög-
27 % auf 3,7 Milliarden Verrechnungseinheiten ge-
lichkeiten treffen können.
stiegen ist und weiterhin eine steigende Tendenz
aufzuweisen hat. Ich darf auch daran erinnern, daß Das sind praktische Aufgaben, die mancher nicht
wir die begonnenen Post- und Verkehrsgespräche in sieht, wenn es um das Thema geht, das uns heute
Gang gehalten haben und dabei nicht nur in der und morgen bewegt und gestern hier bewegte. Aber
DDR verhandelten, sondern daß es auch zu Begeg- sie machen Substanz aus, und darum sollte man sie
nungen hier in Bonn gekommen ist und daß im mit dem ganzen Ernst und der Gewichtigkeit sehen
wechselseitigen Besuch der Beauftragten hüben und und prüfen, um sich der Lösung dieser Fragen zu-
drüben das Mögliche ausgelotet wird, um zu ver- zuwenden.
898 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Bundesminister Franke
Ich denke weiter an das Problem des Empfangs gen, die die Lebensverhältnisse Millionen betroffe-
von Medikamenten und Geschenksendungen, ich ner Menschen erträglicher machen, auch und gerade
denke an die Familienzusammenführung, ich denke zwischen Ost- und West-Berlin. Zweitens geht es
an das tragische und schwierige Gebiet der Kinder- uns darum, zu Erleichterungen für Verwandte,
rückführung. Manchen ist überhaupt nicht bekannt, Freunde und Nachbarn bei Besuchen und Begegnun-
daß es da noch in großer Zahl ungelöste Probleme gen zu gelangen. Drittens geht es uns darum, un-
gibt, daß Familien getrennt sind durch das Gesche- gehinderte Familienzusammenführungen zu ermög-
hen, das wir hier gemeinsam überprüfen und wür- lichen. Viertens geht es uns um die Freizügigkeit
digen wollen und für das wir zu Lösungen kommen und Verstärkung von Kontakten zwischen Jugend-
wollen. lichen und Studenten durch Besuche und Begegnun-
Soweit es um den menschlichen Bereich geht, ist gen von Jugendgruppen und Schulklassen. Fünftens
für die Wissenden auch noch ein großer Komplex geht es uns darum, das Wiederzustandekommen
besonderer Art dabei zu sehen. Auch dazu ist es eines freien innerdeutschen Sportverkehrs zu errei-
erforderlich, daß mit größter Behutsamkeit und Sach- chen. Sechstens geht es uns darum, einen freien
lichkeit versucht wird, den betroffenen Menschen Austausch und Verkehr zwischen kulturellen Insti-
die möglichen Erleichterungen zu bringen. tutionen und Vereinigungen zu fördern. Es geht uns
siebtens um die Verbesserung des innerdeutschen
Der wissenschaftlich-technische Austausch zwi- Handels, und es geht darum, den Bedürfnissen an-
schen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR gemessene Post- und Telefonverbindungen zu er-
liegt fast völlig darnieder. Durch einen gewissen reichen und die vorhandenen an Zahl auszuweiten.
Austausch weniger Schriften und durch ganz ein- Achtens, es geht weiter um die Herstellung notwen-
zelne Besuche von Wissenschaftlern von hüben diger Verkehrsverbindungen, um die Entwicklung
nach drüben und umgekehrt wird einiges in Gang eines normalen Reiseverkehrs.
gehalten. Wir wünschen einen entbürokratisierten
Verkehr zwischen den Hochschulen und Forschungs- Meine Damen und Herren! Wir werden und wol-
instituten und wissenschaftlichen Gesellschaften. len unseren Beitrag leisten, damit in Deutschland
Wir wünschen weiterhin zeitgemäße Formen wissen- mehr Menschenrechte eingeräumt und praktiziert
schaftlich-technischer Zusammenarbeit, die schritt- werden. Auch über diese Bemühungen muß das ge-
weise Freigabe des ungehinderten Bezugs von Bü- schehen. Und ich darf noch einmal einen Satz zitie-
chern, Zeitungen und Zeitschriften. ren, den der Bundeskanzler gestern aussprach und
der inhaltlich den Ausführungen eines seiner Vor-
Bei all diesen Fragen, Vorschlägen und Überle-
gänger entsprach. Er sagte wörtlich:
gungen übersehen wir natürlich nicht, daß in der
DDR dieser Prozeß seinen nötigen Reifegrad offen- Ich habe lein gewisses Verständnis dafür, daß
sichtlich noch nicht erreicht hat. Das kann für uns es der Regierung in Ost-Berlin um politische
aber kein Grund sein, uns um die Lösung dieser Gleichberechtigung, auch um gewisse abstrakte
Probleme nicht ständig zu bemühen. Vielmehr kön- Formalitäten, geht. Ich erwarte entsprechendes
nen auch diese Probleme durch unser unermüdliches Verständnis dafür, daß die Bundesregierung nur
Einwirken darauf drüben bewußter werden. Hinzu dann über vieles mit sich reden lassen wird,
kommt wohl auch noch, daß die Selbsteinschätzung wenn dabei gleichzeitig auch Erleichterungen
des wohlverstandenen eigenen Interesses der DDR für die Menschen im geteilten Deutschland her-
erst in Teilbereichen mehr technischer Natur zu auskommen.
offeneren Verhaltensweisen vorgedrungen ist.
Meine Damen und Herren, ich bin mir völlig dar-
Der Prozeß der Entwicklung eines größeren über im klaren, daß es schwierig sein wird, mit der
Maßes von Eigeninteresse der DDR an der Entwick- Regierung der DDR sachliche Verhandlungen und
lung auf den beiderseitigen Vorteil längerfristiger Gespräche zu führen. Ich weiß auch, daß es dort
Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland Kräfte gibt, die kein Interesse an solchen Verhand-
wird sich zögernd und mit Stockungen vollziehen. lungen haben und im Grunde genommen alles
In Kenntnis dieser Sachlage werden wir unsere blockieren möchten, was ihren persönlichen Macht-
Politik fortsetzen. Es widerspricht allen Erfahrungen, anspruch gefährden könnte. Die Bundesregierung
wenn man glaubt, diese Entwicklung etwa durch den hat ihre Vorschläge auf den Tisch gelegt, und sie
Versuch forcieren zu können, in Moskau Druck auf wiederholt dieses Angebot 'erneut. Dabei wissen
Ost-Berlin ausüben zu wollen. Ich würde meinen, wir, daß es nicht möglich sein wird, von heute auf
wir sollten uns auch damit vertraut machen, daß morgen die Dinge zu verändern. Aber ich bin davon
das politische Verhalten der Regierung in Ost-Berlin überzeugt, daß wir sie verändern können, und es
auch durch die sachlichen Gesetzmäßigkeiten eines wäre gut, wenn in dieser Frage und in diesen
rationalen Einsatzes vorhandener Mittel bestimmt Fragen der Nation Regierung und Opposition an
werden kann. Und diese Beurteilung wird auch einem Strange ziehen könnten und ziehen würden.
durch Erfahrungen aus dem Verlauf der in den Wir jedenfalls sind bereit zu sachlichen Gesprächen
letzten Monaten begonnenen Verhandlungen zwi- und Verhandlungen mit der Regierung der DDR
schen beiden Teilen Deutschlands über eine Reihe ohne Vorbedingungen und ohne Diskriminierung.
von sachlichen Problemen bestätigt. Und wir sind auch dazu bereit, nach diesen Gesprä-
Lassen Sie mich die menschlichen und die Sach- chen Vereinbarungen zu treffen und Verträge abzu-
fragen, die gelöst werden müssen und über die ge- schließen. Das bleibt von uns aus ein ständiges An-
sprochen werden muß, noch einmal zusammenfas- gebot, um auf dieser Ebene und in diesen Bereichen
send nennen. Es geht uns erstens um Vereinbarun- zu Ergebnissen, zu Bewegungen kommen zu können,
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 899
Bundesminister Franke
die zu einem geregelten Nebeneinander führen kön- ist —: weltrevolutionärer Kommunismus und russi-
nen. scher Imperialismus, beides in der Zentrale Moskau
(Beifall bei den Regierungsparteien.) vertreten.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU.)
Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-
Seit der Erarbeitung und Anwendung der Breschnew
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strauß. Doktrin haben wir eigentlich keinen Grund — oben-
drein wenn ich an die Lektüre des einschlägigen
Strauß (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr Kapitels von Helmut Schmidt denke —, das etwa
verehrten Damen und Herren! So gut mir — und ich nicht zu erwähnen.
nehme an, allen Mitgliedern meiner Fraktion — der Die Frage, um die es hier geht, ist die Frage der
Katalog der Wünsche und Absichten des Herrn Bun Einordnung Deutschlands in seine Umwelt, damals
desministers Franke gefallen hat — das meine ich und heute. Diese Frage hat den Wiener Kongreß be-
ernst und sage es ohne Ironie —, so sehr veranlaßt schäftigt, als die Konturen des Deutschen Bundes
mich mein Beitrag zu dieser Diskussion, darauf hin- zustande kamen. Das waren die Fragen, die 1866,
zuweisen, daß es sich bei dem, was man auch „inner- 1870/1871 Europa beschäftigt haben. Das war nicht
deutsche Frage" nennt, mehr um ein Problem der zuletzt die Frage, die sich Bismarck stellte, als er das
großen außenpolitischen Konstellation und ihrer Ab- heute vom Kollegen Kiesinger erwähnte kleindeut-
läufe handelt als um den guten Willen der Menschen sche Reich bewußt in dieser Beschränkung — mehr
herüben und drüben, ihr Leben besser zu gestalten. war wohl auch nicht drin — im Gegensatz zu den
(Zustimmung bei der CDU/CSU.) Träumen von 1848/49 schuf, weil er seine Aufgabe
darin sah, diesem Reich keine expansive Rolle, die-
Der Herr Bundeskanzler hat gestern davon ge- sem Reich auch keine Weltmachtstellung zu ver-
sprochen — nicht mit Unrecht —, daß die deutsche schaffen, sondern seine primäre Aufgabe darin sah,
Frage die internationale Politik seit Kriegsende be- die Umwelt mit der Existenz dieses Reiches zu ver-
schäftige. Ich bitte, es nicht als Beckmesserei aufzu- söhnen, und darum — Aspekt des 19. Jahrhunderts,
fassen, wenn ich sage, daß die deutsche Frage mehr der damaligen Bündniskonstellationen: cauchemar
bedeutet als das nach dem zweiten Weltkrieg des coalitions — entscheidenden Wert darauf legte,
aktuelle oder weniger aktuelle Dauerthema „Tei- daß dieses Reich nicht zwischen Westen und Osten
lung Deutschlands und Wiedervereinigung Deutsch- in eine doppelte Frontstellung gedrängt wurde.
lands". Ich vertrete seit Jahren sowohl in diesem Blindheit und Verblendung, womit ich ersten und
Hause als auch in Vorträgen und Diskussionen im zweiten Weltkrieg mit einem Stichwort umschreiben
Inland und Ausland die Auffassung, daß die deutsche will, haben dieses Reich zerstört, und wenn wir je-
Frage ein Problem ist, das über die zeitbezogenen mals wieder zu einer nationalen Einheit, nicht nur
Aspekte — Teilung, Wiedervereinigung — hinaus- in verbalem Sinne, sondern im Sinne eines gemein-
reicht, und daß die deutsche Frage in ihren Ursprün- samen staatlichen Daches, sei es nationaler Art, sei
gen, Zusammenhängen, Möglichkeiten und eventuel- es übergreifender Art, kommen wollen, dann geht es
len Lösungen, über die sich niemand eine klare um das Problem, wie dieses Deutschland, dessen
Prognose erlauben kann, ein Problem ist, das weit in Problematik Kollege Kiesinger mit den Stichworten
die europäische Geschichte zurückreicht und das des- „60 Millionen plus 17 Millionen, Wirtschafts-
halb nur aus den Zusammenhängen der europäischen potentiale und Militärpotentiale" umrissen hat, wie
Geschichte — auch in der jetzigen Zeit der Kon- dieses Reich, wie diese deutsche Nation als politische
frontation der Gesellschaftssysteme — verstanden Organsation in ihre Umwelt eingefügt werden kann.
werden kann. Das ist die Frage, und deshalb plädiere ich, ohne
Es ist kein Rückfall in die angeblichen Zeiten des damit etwas grundlegend Neues oder erschütternd
sogenannten kalten Krieges, wenn ich sage, daß wir Umwälzendes zu sagen, abermals dafür, die Be-
bei dieser Frage konfrontiert sind. Ich hoffe auch, handlung der deutschen Frage nicht mit dem Jahre
daß aus der Konfrontation eine Kooperation kommt. 1933 oder 1945 zu beginnen — obwohl das wesent-
Aber es wird vorerst noch eine Konfrontation sein, liche Zäsuren sind —, sondern sie in ihren histori-
und ich bin fest überzeugt, daß am Anfang der Ver- schen Zusammenhängen zu ergründen und bei allen
handlungen, von deren Zustandekommen der Herr Lösungsmöglichkeiten, bei allen möglichen Lösungs-
Bundeskanzler überzeugt ist, die Konfrontation ste- modellen die Erfahrungen nicht nur unserer Gene-
hen wird und dann die Hoffnung, daß aus der Kon- ration, sondern die Erfahrungen, die bis in den An-
frontation die Kooperation kommt. Darüber gibt es fang des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichen,
gar keine Zweifel. als Gedankenhilfen und Arbeitskonstruktionen mit
heranzuziehen.
(Zuruf von der FDP: Das ist nicht so ganz
neu!) (Beifall bei der CDU/CSU.)
— Wenn alles, was hier gesagt wird, neu - sein Mit bewegt hier eine Frage. Es ist vor kurzem
müßte, dann könnte der Bundestag den größten Teil ein Buch erschienen: „Die deutschen Kriegsziele
seiner Zeit in Urlaub gehen, Herr Kollege. 1914/1918". Ich möchte mich hier mit der Frage nicht
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) beschäftigen. Das ist eine umfangreiche Literatur.
(Zuruf von der SPD.)
Bei dieser Frage handelt es sich heute um die Kon-
frontation mit einer Kombination, die heißt — ich — Oh, das ist ein sehr wesentliches Problem zur
wage es zu sagen, auch wenn es nicht mehr Mode Klärung der europäischen und deutschen Zusammen-
900 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Strauß
hänge, ein Problem, das viel ernster ist, als daß es geboten auf angeblich freie Wahlen, Konföderations-
spöttische Zwischenrufe verdienen würde. ideen usw. so nachdrücklich widerstanden hat. Für
ihn gab es nicht einen cauchemar des coalitions, für
(Zustimmung bei der CDU/CSU.)
ihn gab es einen cauchemar d'isolation: daß nämlich
Hier würde uns interessieren, nicht nur die deut- dieses Deutschland ohne feste Bindungen an den
schen Kriegsziele 1914/18 zu erfahren, sondern auch Westen mit seinen schmalen Schultern, Herr Bundes-
die russischen Kriegsziele 1914/18. Dann würde man kanzler, von denen Sie gestern mit Recht gesprochen
wahrscheinlich zu der Auffassung kommen, daß es haben, dann im Strudel der widerstrebenden Groß-
Bismarck dank einer Reihe von Möglichkeiten und machtinteressen buchstäblich zermalmt würde, wenn
Umständen gelungen war, den widerstrebenden es nicht einen festen Standort dort beziehen würde,
Nachbarn die Gründung des kleindeutschen Reiches wohin es nun einmal nach Geschichte, Kultur, Tradi-
aus den Zähnen zu reißen, daß es aber bereits in tion, Gesinnung und politischer Einstellung gehört,
den Jahren 1914/18 ein ganz genau fixiertes Kriegs- nämlich im Westen, was nicht Feindschaft mit dem
ziel unseres russischen Kriegsgegners von damals Osten heißt.
war, mit dieser ihm unbequemen Zentralmacht in (Beifall bei der CDU/CSU.)
EuropaSchlßzmen.Zudisrpaltchen
oder machtpolitischen Zielsetzung von damals kam Aus dieser nicht nur die Geschichtsforscher, son-
dann und kommt auch heute noch die ideologische dern auch den Politiker beschäftigenden Überlegung
Zielsetzung und all das, was wir wissen und was ich muß man heute auch die Frage stellen: was war der
im einzelnen hier nicht mehr zu erwähnen brauche. russische Plan oder die russische Absicht bei dem
von Hitler verschuldeten Einmarsch der sowjetischen
Aus diesem Grunde, Herr Kollege Wehner, war Truppen in Deutschland, bei ihrem auch von den
es heute früh auch etwas deplaziert, daß Sie Kol- Westmächten - dank ihrem langen militärischen
legen Kiesinger unterbrochen haben, als er sagte, Zögern — erleichterten Vordringen in das Herz
es führe kein Weg mehr zu Rapallo. Das Wort „Aus- Europas? Was war ihre Absicht? War es die Absicht,
verkauf" hat in dem Zusammenhang überhaupt Hitler zu stürzen und das NS-Regime zu beseitigen?
keine Berechtigung. Es gibt keine einzige Stelle in Ja, ohne jeden Zweifel, und das war ein legitimes
meinpoltschRd,wijemalsM- Kriegsziel. Trotz allem, was vorangegangen war
nung vertreten hätte, daß irgend jemand, außer ein Hitler-Stalin-Pakt usw. -, war das ohne Zweifel
Halbverrückter oder Ganzverrückter, heute noch an ein legitimes Kriegsziel. Aber dieses Kriegsziel hätte
ein Rapallo denken könnte. Das Wort „Rapallo" erreicht werden können, ohne daß deshalb der von
hat ja seinen ursprünglichen historischen Sinn ver- den sowjetischen Truppen besetzte Teil Deutsch-
loren. Es wird heute für etwas ganz anderes ver lands diesem gesellschaftlichen Umwandlungsprozeß
wendet, als der Vorgang von Rapallo 'eigentlich mit Gewalt unterworfen worden wäre, wie es nun
gewesen ist. geschehen ist.
(Sehr richtig! 'bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.)
Für eine Rückkehr zur Rapallo-Politik fehlen sämt- Hier muß mehr dahinterstecken. Ich habe darauf auch
liche Voraussetzungen; darüber gibt es keinen Zwei- keine Antwort. Aber die Frage muß uns beschäfti-
fel. Das Bekenntnis des Herrn Bundeskanzlers ge- gen: was waren die Absichten der Sowjets?
stern zur westlichen Absicherung seiner ostpoli-
Oder kann man sagen, Herr Kollege Wehner:
tischen Initiativen ist ja eine ganz deutliche Absage
wenn wir uns etwas geschickter verhalten, alle vor-
an ein Rapallo-ähnliches Denken. Das schließt nicht
handenen Chancen ausgenutzt, alle Sondagen durch-
aus, daß wir bei allen ostpolitischen Initiativen auf
geführt hätten, hätten wir doch eine Möglichkeit ge-
falsch verstandene Rapallo-Ressen timents unserer
habt, sowohl die westlichen wie die östlichen Trup-
westlichen Freunde und Nachbarn sorgsamer Rück-
pen durch eine geeignete Staatsorganisation wieder
sicht nehmen müssen, als wenn es das Stichwort
aus unserem Lande zu bringen? Hier bin ich der
„Rapallo", , dieses Trauma „Rapallo", nicht gäbe. Auffassung - ich muß das sagen, weil das meine
Aber gerade wenn diese westliche Absicherung Überzeugung ist, und dafür ist dieses Parlament
unserer Ostpolitik, in der Regierungserklärung da , daß die Sowjetunion, deren Emissär Ulbricht
mehrmals ausgedrückt, sozusagen eines der Axiome noch während der Kriegshandlungen eingeflogen
unserer Politik ist, in dem Fall auch unserer gemein- wurde, einen ganz fest konzipierten, ihren lang-
samen Politik oder der gemeinsamen Teile unserer fristigen strategischen Zielsetzungen entsprechen-
Politik ist, dann 'erweist sich doch, Herr Kollege den Plan für Deutschland hatte und deshalb um
Wehner — nicht daß ich hier zu allen Methoden keinen Preis bereit gewesen wäre, einem neutralen,
und Formen der Adenauer-Politik zurückkehren entmilitarisierten, aber in unserem Sinne demokra-
wollte —, daß die Frage, ob es möglich gewesen tischen Gesamtdeutschland mit noch so enger Grenz-
wäre, ohne feste westliche Bindungen ostpolitische ziehung seine Zustimmung zu erteilen.
Abschlüsse zu treffen, eindeutig, und zwar historisch, (Beifall bei der CDU/CSU.)
-
geklärt ist, was Sie heute offengelassen haben.
Deshalb ist es nicht nur die Frage der Vorfeld-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) beherrschung, der Sicherung gegen eine westliche
Konrad Adenauer wußte, warum er den Anschluß Aggression; das hätte sich auch leichter erreichen
der Bundesrepublik an die Europäischen Gemein- lassen. Es ist schon eine Frage einer offensiven
schaften, an die NATO, auch an die Westeuropäische Zielsetzung, wobei ich nicht so primitiv bin, den
Union mit allem Nachdruck betrieben und allen An Sowjets ein rein militärisches Denken zu unterstel-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 901
Strauß
len. Für die Sowjets ist das militärische Instrument nicht studiert hat, falsche Schlußfolgerungen auf-
ein Ausschnitt aus ihrem politischen Arsenal, und es kommen.
ist nicht in der plump primitiven, brutalen, krimi-
Ich nenne nur zwei mögliche Schlußfolgerungen,
nellen Methode Hitlers das einzige Mittel der Poli- die gezogen werden können. Erstens: die Gleich-
tik, auf das man sich verläßt. Es ist ein Ausschnitt setzung der einen Seite Deutschlands mit dem an-
aus ihrem Arsenal, dessen Anwendung lieber ange-
deren Teil Deutschlands, in Vollzug einer Funk-
droht, als daß es in Wirklichkeit eingesetzt wird, - tion der politischen Absichten der jeweiligen Sieger
wenn die Drohung allein schon genügt.
oder Besatzungsmächte. Zweitens: die Verwischung
Darum ist für mich immer wieder die Frage — der Tatsache, daß die Schuld an der Spaltung
sie sollte es auch für mehr sein, und sie es wahr- Deutschlands eindeutig bei der Sowjetunion und
scheinlich für uns alle —: was ist die sowjetrussische ihrer politischen Zielsetzung liegt, wobei westliche
Vorstellung für Deutschland gewesen, was ist sie Fehler und Versäumnisse sie dabei unterstützt
heute, was ist sie gegenüber Europa? Hier ist in der haben mögen.
sowjetischen Literatur, in der politischen Diskussion
Wenn man hier auch die Potsdamer Konferenz
eines nicht zu verkennen. Ich bin insofern mit schuld
erwähnt und davon ausgeht, daß man damals noch
daran, als mein sehr harmloses Buch eine Fülle von
von einem einheitlichen Deutschland mit einer ein-
Reden, Rezensionen, , Vorträgen und Kritiken aus-
heitlichen Wirtschaft gesprochen habe, so hätte
gelöst hat, deren Volumen mindestens das Zwanzig- dazu auch mehr gesagt werden müssen, besonders
fache des Umfanges meines Buches ausmacht. Ich was die politische Bewertung in einem politischen
meine hier den wütenden Angriff gegen die Kon-
Dokument angeht. Wenn eine reine Tatsachen-
zeption eines europäischen Bundesstaates. Hier tritt schilderung beabsichtigt gewesen ist, so wäre es
ganz klar zutage, wo die Interessen sich schneiden. besser gewesen, einfach auf Siegler Band I und II zu
Dabei ist der Angriff gegen den europäischen Bun-
verweisen. Dann hat man eine wesentlich umfassen-
desstaat, gegen diese Konzeption nicht eine defen- dere, aber auch noch nicht lückenlose Dokumenta-
sive Idee, sondern er entspringt der Klarheit darü-
tion.
ber, daß das Zustandekommen eines europäischen
Bundesstaates jede Manövrierfähigkeit in Richtung Man muß wissen — das darf nicht vergessen
Ausdehnung des Gesellschaftssystems nach Westen werden, weil solche Wahrheiten einfach nicht ver-
ein für allemal versperren würde. wischt werden dürfen —, daß Molotow damals drei
Forderungengestellt hat, sicherlich nicht, weil sie
(Beifall bei der CDU/CSU.)
ihm persönlich eingefallen sind, sondern weil sie
Das sind die Zusammenhänge, wie ich sie mir vor- Teil des russischen Konzeptes waren: erstens eine
zutragen erlaube. russische Beteiligung an der Kontrolle über Rhein
und Ruhr; zweitens Reparationen in Höhe von
(Zuruf des Abg. Wehner.)
10 Milliarden Dollar aus laufender Produktion oder
Deshalb glaube ich, daß Deutschland in den Augen durch Demontagen — über diese Forderung hätte
der Sowjets eine Schlüsselposition im Hinblick auf man langfristig noch am leichtesten reden können,
die Konzeption der ja weit nach vorn geschobenen aber erst nach Wiederaufbau der Wirtschaft —; und
sowjetischen Westgrenze einnimmt. Das beweist, die dritte Forderung war — sie beweist, daß wir
wie eng unser Spielraum ist, wie wenig wir allein zwar dieselben Worte verwenden, aber in verschie-
vermögen und daß ohne eine Änderung der politi- denen Begriffssystemen denken, vergleichbar der
schen Kräfteverhältnisse und Konstellationen in Situation, wenn zwei dieselben Zahlen gebrauchen,
einer historisch langfristig angelegten Konzeption, aber der eine im Dezimal- und der andere im Sexa-
zu der wir nur einen kleinen Teil beizutragen ver- gesimalsystem rechnet; dann geht die Rechnung
mögen, eine Änderung der leider bestehenden Ver- nicht auf, obwohl sich beide dieselben Zahlen vor-
hältnisse, wenn nicht ein Wunder geschieht, in einer halten — die Umwandlung ganz Deutschlands in
vorausschaubaren Zeit nicht erwartet werden kann. ein friedliebendes, demokratisches, einheitliches
Insofern stimme ich mit dem überein, Herr Kollege Land. Was wir unter „demokratisch und friedlie-
Wehner, was Sie nach der mir zugegangenen Agen- bend" verstehen, deckt sich einfach nicht mit dem,
turmeldung gegenüber der „Rheinischen Post" er- was bei der Umstülpung der Werte auf der anderen
klärt haben. Seite darunter verstanden wird.
Nun muß ich , ein kritisches Wort zu den Materia- Als diese Forderung von den Amerikanern — an
lien zum Bericht zur Lage der Nation sagen. Herr der Spitze von dem gestern erwähnten Herrn Byr-
Kollege Kiesinger hat heute morgen schon einige nes — abgelehnt wurde, hat die Sowjetunion ihre
kritische Anmerkungen gemacht. Ich möchte die Zustimmung zu weiteren Aufbaumaßnahmen, weite-
kritischen Anmerkungen jetzt nicht ad infinitum ren gesamtdeutschen Maßnahmen im Sinne der
fortsetzen. Ich glaube, daß man es sich hier etwas Potsdamer Beschlüsse verweigert und durch ihr
zu leicht gemacht hat, ständiges Njet im Kontrollrat eine untragbare
Situation geschaffen. Es waren die drei Punkte
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!)
Rhein- und Ruhr-Kontrolle, Reparationen in Höhe
denn die Auswahl der Ereignisse läßt keine echte von zehn Milliarden Dollar und Umwandlung unse-
Systematik erkennen, und das zusammenhanglose, rer Gesellschaftsordnung. Nummer drei ist ja auch
nur im zeitlichen Ablauf dargestellte Hintereinander heute noch das Thema, um das es bei der deutschen
gewisser Ereignisse läßt bei dem, der die Vor- Frage geht.
geschichte nicht kennt, weil ,er sie nicht erlebt oder (Beifall bei der CDU/CSU.)
902 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Strauß
Es ist bestürzend, nachzulesen, daß damals Außen- einem alliierten Vorbehalt unterworfen worden
minister Byrnes eine völlige Demilitarisierung und ist.
Neutralisierung als westliches Konzept angeboten (Zustimmung bei der CDU/CSU.)
und noch — damals war man mit Menschenleben Wenn wir nämlich schon in der Terminologie, die
großzügiger, als man es heute ist — erklärt hat, die angesichts der Mentalität und Formalistik der ande-
Amerikaner würden sich verpflichten, mit ihrer Luft- ren Seite eine größere Rolle spielt, als wir es
waffe die Deutschen zu bestrafen, wenn sie sich die- uns oft zu träumen erlauben, allmählich unsere
sen Auflagen entzögen. So hat man damals noch Position zu ändern beginnen, dürfen wir uns nicht
gedacht und gesprochen. Ich möchte nicht sagen, wundern, wenn wir dann eines Tages in einer ande-
daß das wünschenswert ist, aber es war eine sehr ren Landschaft wieder zu uns selber finden oder
handfeste, eisenhaltige Sprache, die hier gegen uns auch nicht mehr zu uns selber finden.
geführt worden ist.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Auch dazu haben die Sowjets nein gesagt, als die
Amerikaner ihnen eine solche zeitlich fast nicht Ich bewerte die Ulbricht-Rede vom Dezember viel
begrenzte Garantie anboten. 25 Jahre hieß es zu- weniger optimistisch — nicht weil ich von Grund
nächst. Molotow sagte: 50 Jahre. Da sagte Byrnes: auf ein Pessimist bin oder drüben alles nur in nega-
Gut, nehmen wir 50 Jahre. 50 Jahre Entmilitarisie- tiven Farben sehe. Aber daß Ulbricht sagte, er
rung und Neutralisierung! — Nein, darum ging es gehe aus besonderem Grunde auf das Problem
nicht. Es ging um die Mitherrschaft über Rhein und Berlin nicht ein, hat nichts damit zu tun, daß er zu
Ruhr und damit über ein Wirtschaftspotential, und Berlin nichts mehr zu sagen hätte, sondern liegt
es ging um die Umwandlung der gesellschaftlichen daran, daß er der Meinung ist, daß bei Annahme
Verhältnisse im damaligen Deutschland. seines Vertragsentwurfs das Thema Berlin sich
automatisch in seinem Sinne lösen wird und des-
Das, Herr Bundeskanzler, müßte bei Materialien halb jetzt nicht mehr vorgezogen werden sollte.
zum Bericht zur Lage der Nation auch in einer
kurzen Wertung aufgeführt werden. Diese wert- (Beifall bei der CDU/CSU.)
neutrale Darstellung scheinbar zusammenhangloser Ich habe dem Sprecher der Bundesregierung —
Fakten, die aber dann in , der Reihenfolge der Dar- was er einem alten Parlamentarier nicht überneh-
stellung doch wieder falsche Verantwortlichkeiten men möge — eine kleine Belehrung zu erteilen.
entstehen lassen, ist nicht ausreichend. Wenn er wieder ein Fernseh- oder Rundfunk-
(Beifall bei der CDU/CSU.) interview mit Herrn Rummel gibt, dann sollte er
nicht sagen, daß die Formulierung in diesem Bericht
Und dann lese ich noch: an Tacitus erinnert, sondern er sollte sagen, daß sie
an Cäsar erinnert: „Gallia est omnis divisa in par-
Am 13. August 1961 tes tres". Und hier heißt es: „Germania est omnis
— so heißt es dort — divisa in partes duas". Das hat aber nicht Tacitus
wurde mit dem Bau der Mauer die Teilung geschrieben, sondern Cäsar. Das nur nebenbei, weil
Berlins vertieft. ja keiner aus seiner Haut herauskann.
(Beifall bei der CDU/CSU. — Unruhe bei der
Das ist eine Viertelwahrheit. Natürlich ist die Tei- SPD.)
lung Berlins vertieft worden, aber der Bau der
Mauer war — siehe das, was der Kollege Wehner — Sie zweifeln daran, Herr Kollege Schmidt?
heute morgen sagte — noch etwas mehr als nur (Zurufe von der SPD.)
eine Vertiefung der Teilung Berlins. Das war ein — Nein, ich habe nicht Sie genannt; Sie heißen doch
tiefer Einschnitt in die Nachkriegsgeschichte und die nicht Ahlers. Und Herr Ahlers hat sicher so viel
Beziehungen nicht nur zwischen den beiden Tei- Humor, daß er das nicht als Belehrung, sondern als
len Deutschlands, sondern auch innerhalb Euro- einen netten Beitrag empfinden wird.
pas und zwischen Osten und Westen. Darum glaube
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von der
ich, daß wir mit solchen Formulierungen wie „Die
SPD.)
deutsche Nation ist auf dem Boden Deutschlands
in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 in zwei Wenn es nun aber hier heißt: „Das Bemühen, bes-
Staaten gegliedert", mit dieser wertneutralen Dar- sere Beziehungen zwischen den beiden deutschen
stellung am Kern der Sache, an der Substanz der Staaten zu erreichen, kann nur erfolgreich sein,
politischen Problematik vorbeigehen und Verwir- wenn die grundsätzlich unvereinbare gesellschaft-
rung erzeugen. liche und politische Entwicklung hüben und drüben
nie außer acht gelassen wird", so muß ich einmal
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) fragen: Was heißt denn das, was ist denn der Denk-
vorgang, der dieser Formulierung vorausgegangen
Das gilt auch für den Ausdruck „das besondere
ist, wenn es nicht einfach nur eine Aneinander-
Besatzungsgebiet Berlin" oder — wie es dann wie-
der heißt — „die selbständige politische Einheit in- reihung von Worten zu einem grammatikalisch halb-
mitten der DDR" ; das ist der Ausdruck, der von der wegs richtigen Satz bedeuten soll?
anderen Seite gebraucht wird. Berlin ist nach dem Das gilt auch für das Wort „Entwicklung". „Ent-
Willen des Parlamentarischen Rates ein Teil des wicklung" ist eine sehr euphemistische Ausdrucks-
Bundes, dessen volle Zugehörigkeit zum Bund aus weise. Es handelt sich nicht um einen Entwicklungs-
guten Gründen und nicht gegen unseren Willen prozeß, sondern darum, daß sich bei uns, wenn auch
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 903
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nach einigen Eingriffen der Besatzungsmächte, der kann einfach meine Meinung nicht unterdrücken, daß
gesellschaftliche Prozeß frei gestalten konnte, nach das dauernde Njet zu Maßnahmen im Sinne der
dem freien Willen der Bevölkerung in freien, glei- Potsdamer Beschlüsse auch das Ziel verfolgt hat, die
chen, geheimen Wahlen unzählige Male gestaltet, Not in Deutschland so zu steigern, daß die reife
und daß drüben keine Entwicklung stattgefunden Ernte dann eines Tages denen, die es darauf ange-
hat, sondern eine Entwicklung oder eine Lage auf- legt hatten, in den Schoß fallen sollte.
oktroyiert worden ist, und zwar mit einer Tendenz,
(Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von
die man dann nicht als „Entwicklung" bezeichnen
der SPD.)
kann, wenn man nicht das Ganze allzusehr vernied-
lichen, bagatellisieren oder beschwichtigend darstel- Das bitte ich bei den Materialien zum Bericht zur
len will. Lage der Nation in Zukunft in der Auswahl der
(Beifall bei der CDU/CSU.) Fakten, aber auch in der Wertung der Fakten so dar-
zustellen, daß ein solches Dokument — würdig einer
Die Formulierungen im Verfassungstext der DDR deutschen Bundesregierung - auch später als eine
spielen gegenüber der Verfassungswirklichkeit und geschichtlich fundierte Darstellung mit höchstem
den politischen Absichten keine Rolle, wie wir leider Objektivitätsgehalt angesehen werden kann.
wissen. Es war der in der Bundesrepublik auch
publizistisch tätige Sowjetbotschafter, den ich bei (Beifall bei der CDU/CSU.)
allem Respekt vor seiner Mission gerade deshalb Nun komme ich — —
hier sehr vorsichtig behandle, der in einem Inter-
view in der „Rheinpfalz" 1967 auf die Frage: „Glau- (Zuruf von der SPD: Zum Schluß!)
ben Sie an die Wiedervereinigung noch in diesem — Beinahe! An sich ist es doch ganz interessant, mir
Jahrhundert?" erwidert hat: zuzuhören.
Ich muß Ihnen sagen, diese Frage ist methodisch (Abg. Dr. Apel: Na!)
nicht richtig, weil als Grundlage dieser Frage Herr Kollege Wehner, Sie haben heute morgen,
die politische Entwicklung dieser beiden Staaten was gar nicht Ihrer Art entspricht, eine Antwort
anzusehen ist. Eine mechanische Wiedervereini- verweigert. Die Frage, die Kollege Barzel an Sie ge-
gung ist unmöglich. Es ist erst möglich, über richtet hatte, lautete, ob Sie noch auf dem Boden der
Wiedervereinigung zu sprechen, wenn Verände- Entschließung des Bundestages — CDU/CSU plus
rungen in der politischen, ökonomischen und SPD — vom 25. September 1968 stünden.
sozialen Entwicklung und in vieler anderer Hin-
sicht dazu führen werden, daß sich beide Staa- (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
ten nicht mehr fremd gegenüberstehen, auch Sie mögen sagen, daß Sie damals schon nicht für
ideologisch gesehen. Sie müssen erst eine ge- diese Entschließung waren — mögen Sie sagen! —
meinsame Ideologie besitzen. und daß Sie aus Kabinettsdisziplin dann nicht anders
konnten, als sie stillschweigend hinzunehmen. Aber
Und so geht es weiter.
wir alle haben dieser Entschließung aus innerer
(Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Überzeugung zugestimmt, und zugestimmt hat ihr
Das ist die Wahrheit. Wie gesagt: das ist auch nicht nicht zuletzt auch der damalige Außenminister, der
neu. Es nützt uns auch nichts, die Wahrheit zu wis- heutige Bundeskanzler. Da stellt sich für uns und
sen, in der Darstellung der Verhältnisse gegenüber muß sich für uns die Frage stellen: warum ist denn
dem Inland und Ausland aber nicht von dieser diese Entschließung aufgegeben worden?
Wahrheit so auszugehen, daß wir uns der Dramatik (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
und der Wucht der geschichtlichen Situation, in der
wir uns befinden, voll bewußt erscheinen. Darum Welche Überlegungen, welche Motive, welche Argu-
handelt es sich bei diesem Zusammenhang, und des- mente, welche Hoffnungen, welche Zusammenhänge
halb habe ich, ausgehend vom Potsdamer Abkom- haben hier zugrunde gelegen?
men, die sowjetischen Kriegsziele und Nachkriegs- (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!)
ziele dargestellt.
Ich möchte nicht unterstellen, daß das Nein der FDP
Wir sollten sorgsam darauf achten, daß in keiner von damals zum Punkt 6 dieser Entschließung auch
Dokumentation und in keiner Darstellung der Ein- die Einstellung der SPD nach dem Motto „Der
druck erweckt wird, als ob die Spaltung im Westen Schwanz wedelt mit dem Hund" geändert hat.
eingeleitet worden sei und der Osten nur auf west-
liche Spaltungsmaßnahmen als Opfer der vorange- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.)
gangenen Entscheidungen reagiert habe. Denn in diesem Punkte 6 heißt es:
(Beifall bei der CDU/CSU.) Unsere Verbündeten und die ganz überwie-
Wer jene Zeit noch in Erinnerung hat — wir haben gende Mehrheit der Völker haben bekundet,
sie im Wirtschaftsrat mitgemacht —, der weiß auch, daß sie die Bundesregierung als die einzige
daß der Entschluß, die Bizone und die Trizone zu deutsche Regierung ansehen, die frei und recht-
schaffen, von dem in Ihren Materialien die Rede ist, mäßig gebildet ist. Sie spricht auch für jene,
nicht etwa eine westliche Überlegung zur Separa- denen mitzuwirken bisher versagt ist. Die An-
tion, sondern ein verzweifelter Ausweg war, um der erkennung des anderen Teiles Deutschlands als
bis zur Unerträglichkeit gestiegenen Hungersnot und Ausland oder als zweiter souveräner Staat deut-
Wirtschaftsnot allmählich ein Ende zu bereiten. Ich scher Nation kommt nicht in Betracht.
904 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

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Ich würde mich nicht scheuen, dieser Entschließung daß diese Urteil sehr ungerechtfertigt ist und im
auch heute noch mein Ja zu geben. übrigen die Geschichtslosigkeit des jetzigen Bun-
deskanzlers beweist.
(Beifall bei der CDU/CSU.)
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
Ihrer Antwort, Herr Kollege Wehner, Sie seien
jetzt überhaupt gegen Entschließungen, weil sie den Wenn ich ihn nicht vorher als Herrn Willy Brandt
Handlungsspielraum der Regierung einengten, muß bezeichnet hätte — bewußt; nicht um ihn herabzu-
ich entgegenhalten, daß das ein Ausweichen vor setzen —
einer ganz klaren Erklärung ist.
(Abg. Rasner: Unter dem Motto „Mehr Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Demokratie" !) Herr Kollege Strauß, wollen Sie eine Zwischenfrage
zulassen?
Schließlich hat auch der Herr Bundeskanzler selbst
seinen Handlungsspielraum — ich begrüße es — ein-
geengt, indem er hier eine ganze Reihe von Fest- Strauß (CDU/CSU) : — doch —, dann müßte ich
jetzt die Frage stellen: Was stellt sich der jetzige
legungen getroffen hat, von denen ihn sozusagen
deutsche Bundeskanzler unter „radikalem Bruch mit
keine Macht der Erde bei allen ostpolitischen Ver-
der Vergangenheit" vor? Das würden wir dann gern
handlungen abbringen werde. Aber wie sollen wir
wissen.
diese für voll glaubhaft und vorerst einmal unabän-
(Beifall bei der CDU/CSU.)
derlich halten, wenn vom September 1968 bis zum
Januar 1970 eine damals wesentliche Festlegung der Glaubt er, daß es richtig ist, wenn man der heutigen
damaligen Koalitionsparteien — einstimmig von bei- Gesellschaftsordnung nach den Bundestagswahlen
den Fraktionen angenommen — heute nicht mehr gilt auch 1969 die Anfälligkeit in ein schwarz-weiß-rot-
und die Frage „Wie hältst Du es mit dieser Ent- braunes Denken bestätigt? Dies sollte zurückgenom-
schließung?" damit beantwortet wird: „Ich bin über- men werden, Herr Bundeskanzler, weil es eine Belei-
haupt gegen Entschließungen." Das ist keine klare digung unserer Gesellschaftsordnung und unserer
Aussprache hier, wenn es um den Bericht zur Lage demokratischen Struktur ist. Das wollte ich gesagt
der Nation geht; da müssen auch von Ihrer Seite haben.
her die Karten auf den Tisch gelegt werden. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.)
(Beifall bei der CDU/CSU.)
Weil ich mich schon mit Ihnen beschäftige, Herr Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Kollege Wehner, muß ich auch sagen, daß Sie heute Herr Kollege Wehner, wollen Sie von Ihrem Frage-
morgen ein Eigentor geschossen haben; da hätten recht Gebrauch machen, nachdem der Redner jetzt
Sie in dem Punkte jedenfalls besser geschwiegen. zur Beantwortung bereit ist?
Sie haben mir in schärfsten Tönen vorgehalten, wie (Abg. Wehner: Ich habe jetzt keine Frage
infam es sei, dem Bundeskanzler Geschichtslosigkeit begehrt!)
vorzuwerfen. Sie wissen, daß alle Äußerungen und
— Ich dachte, Sie wollten noch eine Zwischenfrage
Sätze immer nur im Zusammenhang ihren vollen
stellen.
Wert und ihre volle Verständlichkeit haben. Ich
bin von dem Korrespondenten des Deutschlandfunks (Abg. Wehner: Ich habe hier nicht Schlange
gefragt worden, was ich von einem Artikel - in gestanden!)
dem Fall sage ich: des Herrn Willy Brandt - vom
7. Januar 1970 im „Bulletin" halte, der das Vorwort Strauß (CDU/CSU) : Ach, lieber Herr Wehner:
zu einem Buch wiedergibt und den Titel trägt so wie Sie heute morgen Kollegen meiner Fraktion
„Chancen und Aufgaben deutscher Politik". Da kategorisiert haben nach solchen, die es wert sind,
schreibt er: von Ihnen eine Antwort zu bekommen, und solchen,
Es ist wahr, daß die Bundesrepublik Deutsch- die einmal fragen dürfen, aber kein zweites Mal
land dem ihr anvertrauten Teil der Nation eine mehr, dürfen Sie mir doch wirklich noch zugestehen,
freiheitliche Ordnung mit allen Möglichkeiten daß ich wenigstens einen Passus zu Ende reden
positiver Fortentwicklung gegeben hat; daß sie darf, bevor ich im „Stillgestanden" Ihre Frage ent-
in ihrer gesellschaftlichen Struktur stärker, ge- gegennehme.
sünder, stabiler ist als die Weimarer Republik. (Beifall bei der CDU/CSU.)
Aber es ist ebenso wahr, daß diese unsere Ge-
sellschaft sich in den zweieinhalb Jahrzehnten Ich meine, daß der Ausdruck „Geschichtslosigkeit"
nach dem zweiten Weltkrieg auch weithin nach für eine solche Wertung des deutschen Volkes im
restaurativen Mustern geformt hat. Sie setzte freien Teil noch eine relativ milde Zensur ist gegen-
die Kräfte frei zu einem beachtlichen Wieder- über den Zensuren, Herr Wehner, die wir von Ihrer
aufbau, aber einem radikalen Bruch Seite bekommen haben.
- mit der
Vergangenheit wich sie aus. Und gerade des- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. —
halb ist sie gegen Rückfälle in ein Schwarz- Zurufe des Abg. Schwabe und weitere Zu
weiß-rot-braun-Denken nicht völlig gefeit. rufe von der SPD.)
(Lebhaftes Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Darf ich ein vorletztes Problem anschneiden, Herr
Das ist der Text, zu dem ich gefragt worden bin. Auf Bundeskanzler: „staatsrechtliche Anerkennung ja,
diesen Text hin habe ich geantwortet: Ich glaube, völkerrechtliche Anerkennung nein". Sie wissen ganz
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 905
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genau, daß es im Inland und noch mehr im Ausland auf, daß eine Antwort gegeben wird. Es kommt
schlechterdings unmöglich ist, einen klaren Unter- keine Antwort.
schied zwischen diesen beiden Begriffen nur daraus Ich möchte noch ein letztes Problem anschneiden:
zu verstehen, daß wir der Meinung sind, wir seien die von Ihnen erwähnte Frage der Vorleistungen.
nicht Ausland gegenüber dem anderen Teil, während Ich weiß noch, wie diese Frage durch dieses Haus
der andere Wert darauf legt — wenn auch erst seit gegeistert ist. Ich weiß noch, wie uns von dieser
einiger Zeit —, als Ausland uns gegenüber deklariert Seite des Hauses (zur SPD) die ewigen Vorleistun-
zu werden. Es muß in einem Bericht zur Lage der gen gegenüber dem Westen — angefangen vom
Nation aufgeführt werden, juristisch einwandfrei, Petersberger Abkommen über die leidvolle Ge-
Punkt für Punkt, klar und verständlich, was der schichte der Diskussionen bis zu dem schrecklichen
Unterschied zwischen staatsrechtlicher und völker- Zwischenruf jener Nacht — als nationaler Ausver-
rechtlicher Anerkennung ist, damit sowohl dieses kauf oder als Würdelosigkeit entgegengehalten wur-
Parlament wie auch unsere Freunde im Ausland den. Ich will gar keine alten Wunden wieder auf-
eine klare Handhabe haben, wie dieser Fall zu beur-
reißen.
teilen ist. Denn sonst erleben wir, daß die Menschen (Zurufe von der SPD.)
auch im anderen Teil Deutschlands irre werden,
daß unsere Bundesgenossen und Freunde darin eine Ich möchte das mit wenigen Worten, nur in Stich
wachsende Anerkennung der Teilung sehen und, worten, nur umrißhaft ins Gedächtnis zurückrufen.
ich muß es sagen, daß unsere östlichen Verhand-
(Abg. Wehner: Sie haben heute früh gesagt:
lungspartner darin die vorletzte Station des Weges
„Quatsch"!)
erblicken, von der unser Zug in die Endstation völ-
kerrechtlicher Anerkennung bei anhaltender Pres- — „Quatsch" habe ich zu Ihnen gesagt?
sion sich in Bewegung setzen wird. (Abg. Wehner: Ja, heute morgen; ich wollte
(Beifall bei der CDU/CSU.) Sie nur zitieren!)
— Ja, „Quatsch" habe ich zu Ihnen gesagt im Zu-
Denn es ist doch nicht zu leugnen: in der Sowjet-
sammenhang mit der „Geschichtslosigkeit des Kanz-
union versteht man nicht, daß eine Endposition,
lers". Da habe ich ihnen entgegengerufen:
über die hinauszugehen man laut feierlicher Erklä-
„Quatsch!" ; denn Sie hätten sich, wenn Sie den Zu-
rung nicht bereit ist, bereits im Anfangsangebot für
sammenhang gekannt hätten, als großer Taktiker
Verhandlungen aufgeführt ist. Nach der Verhand-
bestimmt dreimal überlegt, ob Sie das denn wirk-
lungsmethode der anderen Seite vermutet man, daß
lich noch als eine Unterstellung oder als Beschul-
im Angebot erst eine vorletzte Position enthalten
digung des Bundeskanzlers hier bezeichnet hätten.
ist und daß bei Fortdauer der Verhandlungen bis
zu einem gewissen Punkte, von dem aus es keine (Beifall bei der CDU/CSU.)
Rückkehr mehr gibt, auch die letzte Station dann Bei uns ist ja ein Bundeskanzler aus den eigenen
durchzusetzen ist. Die Sowjets wären nicht Meister Reihen nicht tabu, aber auch aus Ihren Reihen kein
der Psychologie, wenn sie nicht wüßten, daß Teile Säulenheiliger, der nur zur allgemeinen Anbetung
der Publizistik in Deutschland und eine Reihe von kritiklos ausgestellt werden darf!
Organisationen ihnen ja hierbei, bei der Durch-
setzung dieser Forderungen — siehe die Jugend- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
organisationen auch hier vertretener Parteien — Über den Geschmack läßt sich nicht streiten!)
lautsrkeUnüzglit. Die Frage der Vorleistungen hat in diesem Haus
(Beifall bei der CDU/CSU.) eine große Rolle gespielt. Wir hatten es aber mit
einem Partner zu tun, bei dem Vorleistungen zu
Deshalb sind Ihnen, Herr Bundeskanzler, doch sicher- Gegenleistungen geführt haben,
lich die unzähligen Stimmen von drüben bekannt
— Ihre Materialsammlung ist sicherlich viel umfas- (Sehr gut! bei der CDU/CSU)
sender, als die meine je sein kahn —, aus denen ob es das Pertersberger Abkommen war, ob es die
hervorgeht, daß drüben die Unruhe und Ungeduld Montanunion war, ob es die Pariser Verträge wa-
wächst, weil man immer darauf wartet: „Wann tun ren oder ob es die EWG war. Sicherlich waren es
sie nun endlich den letzten Schritt?" Wovor ich Siegermächte, aber diese Siegermächte haben sich
warnen möchte, wäre nur, drüben Hoffnungen zu dann so verhalten, daß sie uns auf Grund unserer
erwecken, deren Erfüllung für uns verhängnisvoll Vorleistungen freigelassen haben, daß sie uns das
wäre oder deren Nichterfüllung das Klima zwischen Vertrauen gegeben haben, als souveräner Teil der
der Sowjetunion und uns noch wesentlich schlechter deutschen Nation in ihre Gemeinschaft aufgenom-
gestalten würde, ,als es, Gott sei es geklagt, ohne- men zu werden, und sie haben die Integrität deut-
hin schon ist. schen Bodens durch die Durchführung der Saarab-
(Beifall bei der CDU/CSU.) - stimmung als Dank für unsere Vorleistungen öffent-
lich unter Beweis gestellt.
Darum stelle ich an Sie die Frage, die in Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU.)
Dokument, in Ihrem Bericht enthalten ist: Was ver-
stehen Sie unter „historisch-politischer Perspektive Bei einer total verschiedenen Mentalität — die man
der Deutschlandfrage"? Sie sagen, es sei notwendig, genausowenig vergleichen kann wie die Gesell-
eine solche Perspektive zu haben. Man liest dann schaftssysteme, wobei ich mich auf Sie berufe —
die folgenden Seiten mit Ungeduld und wartet dar kann man einfach nicht Vorleistungen gegenüber
906 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

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dem Westen mit Vorleistungen gegenüber dem Innerhalb dieses Interesses haben die einzelnen
Osten vergleichen. Denn es ist doch eine Erfahrungs- Mitglieder dieses Lagers das Recht, ihre Prioritäten
tatsache, die Sie schon beim Freiherrn von Heber- zuerst zu vertreten, aber jeder von ihnen vertritt
stein, dem damaligen österreichischen Diplomaten, dann die Interessen der anderen Macht des soziali-
nachlesen können, daß das, was angeboten oder ge- stischen Lagers an zweiter und dritter Stelle, die
währt wird, und zwar ohne Gegenleistung, auch ver- einen völkerrechtliche Anerkennung, dann kommt
einnahmt wird ohne Dank und ohne Gegenleistung, Oder-Neiße und Münchener Vertrag usw., die ande-
höchstens mit ein paar phraseologischen Ausschmük- ren Oder-Neiße, und dann kommt Münchener Ver-
kungen, und daß von dieser Basis aus dann weiter trag, und dann kommt Anerkennung, und die Tsche-
gedrängt, weiter gedrückt, unter Umständen auch chen erstens Münchener Vertrag, zweitens Oder
weiter gedroht wird, um Weiteres herauszuholen. Neiße und drittens völkerrechtliche Anerkennung.
Das ist der eminente Unterschied zwischen Vorlei- Herr Bundeskanzler, haben Sie, als Sie den unga-
stungen gegenüber dem Westen und Vorleistungen rischen Außenminister zitierten, das ganze Inter-
gegenüber dem Osten.
view von ihm gelesen? Was er sagt, daß es neben
So weit die Auswahl aus einer Fülle von Fragen, Unterschieden auch Gemeinsamkeiten gebe, nämlich
die sich bei der Lektüre sowohl der Materialien als Interesse, den Krieg zu verhindern: ja. Als er sagt,
auch des Berichts zur Lage der Nation stellen. Ich in Europa seien die ältesten sozialistischen und die
möchte nur noch vor einem Irrtum warnen. Herr ältesten kapitalistischen Staaten: ja. Das sind Selbst-
Bundeskanzler, Sie haben vor Irrationalismus in der verständlichkeiten, solche „Neuigkeiten", wie sie
Politik gewarnt. Ich teile Ihre Auffassung. Bei aller mir heute entgegengehalten wurden. Aber was dann
Leidenschaftlichkeit der Sprache bemühe ich mich, weiter kommt, ist ein ganz klarer Ausdruck. Ich
sehr kühl zu denken und, auch wenn ich nicht lizen- kann es nur aus Zeitmangel nicht mehr verlesen.
ziert bin, sogar ein Intellektueller zu sein, weil das Ich bin jederzeit bereit, das im Laufe der Debatte
sozusagen noch nicht einer staatlichen Genehmigung noch zu verlesen, wo er unmißverständlich erklärt,
unterliegt. Aber für irrational halte ich es, wenn man (Zuruf des Abg. Wehner)
unterstellt — wie es bei Ihnen durchklingt und wie
es in einem Teil der Publizistik auf den Zeilen daß Ungarn die völkerrechtliche Anerkennung der
steht —, als ob es innerhalb der Politik des Sowjet- DDR verlangt,
blocks, innerhalb der Politik des sozialistischen (Erneuter Zuruf des Abg. Wehner. — Wei
Lagers eine Fülle von Rissen gebe terer Zuruf von der SPD)
(Abg. Dr. Stoltenberg: Sehr wahr!) und auf die Frage, ob diplomatische Beziehungen
mit Ungarn, ausweichend anwortet, und darauf hin-
und Ulbricht die Rolle des einsam trompetenden Ele- weist, daß diese anderen Fragen zuerst gelöst wer-
fanten spiele, der zum Mißvergnügen Moskaus und den müssen, bevor man in Verhandlungen über die
zum Arger der anderen Mitglieder des Lagers durch Aufnahme diplomatischer Beziehungen eintreten
unsere Verhandlungstaktik endlich eingefangen könne.
werden müsse.
Das, meine sehr verehrten Damen und Herren,
(Abg. Wehner: Sie haben die falsche Par sind einige kritische Anmerkungen unter den vie-
titur!) len, die gegenüber diesem Bericht, wenn wir uns
schon einmal wirklichkeitsnah unterhalten wollen,
— Nein, ich habe nicht die falsche Partitur, weil ich angebracht sind.
mich dagegen wende, daß von Profiteuren, Erzreak
tionären und Superkonservativen gesprochen wird. (Lebhaftender anhaltender Beifall bei der
CDU/CSU.)
(Abg. Wehner: Wir wollen doch nicht lei
denschaftlich sein!)
Vizepräsident Dr. Schmitt - Vockenhausen:
Wer hat denn von uns ein Interesse daran, die Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr
Spaltung zu verewigen? Herr Ulbricht hat ein Inter- Bundeskanzler.
esse daran. Hier hat es niemand. Was uns unter-
scheidet, Herr Wehner, das ist die Unterschiedlich- Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine
keit unserer Wirklichkeitsnähe, so wie wir sie ver- Damen und Herren! Ich möchte mich in diesem
stehen. Augenblick nur zu einem Punkt der Ausführungen
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) des Herrn Kollegen Strauß äußern. Er hat aus einem
Aufsatz zitiert, der kürzlich nicht als Vorwort, son-
Es kann doch keine Rede davon sein, daß drüben
dern als Nachwort — aber das macht keinen großen
eine Lockerung oder Auflösung des Blockes einge-
Unterschied — in einem vom Desch-Verlag heraus-
setzt hat. Im Gegenteil, die Blockpolitik und die
gegebenen Buch erschienen ist, ein Aufsatz, den ich
Blockstrategie hat sich im Laufe der letzten
- zwei
während des Bundestagswahlkampfes geschrieben
Jahre wieder erheblich verschärft. Ich kann Ihnen
habe und zu dem ich stehe und in dem es nach den
ganz genau sagen, was gemeinsam und was unter-
von ihm zitierten Sätzen folgendermaßen heißt —
schiedlich ist. Gemeinsam ist die von Moskau auf-
nein, zunächst noch in dem von ihm zuletzt zitierten
erlegte Linie, weil Moskaus Interesse in dieser kon-
Satz steht das Wort vom radikalen Bruch mit der
zertierten Aktion verbindlich ist.
Vergangenheit. Und daran knüpft seine Frage an,
(Zuruf des Abg. Wehner.) was denn das heißen solle, als ob er nicht in die-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 907

Bundeskanzler Brandt
sem Hause gewesen wäre, in dem 1949 und danach Dr. Barzel (CDU/CSU) : Nachdem Sie einen Teil
sozialdemokratische und konservative Politiker klargestellt haben, würden Sie die Frage beant-
darum gerungen haben. worten: Wenn Sie der 20jährigen Politik Ihrer Vor-
gänger vorwerfen, daß sie nicht den radikalen
(Beifall bei der SPD.)
Bruch mit der Vergangenheit vollzogen habe, welch
Diese Frage ist in den Protokollen des Deutschen radikalen Bruch haben Sie in der Zukunft vorzu-
Bundestages nachzulesen. nehmen die Absicht?
Sie hätten aber fairerweise die sich anschließen- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner:
den Sätze vorlesen müssen, Herr Kollege Strauß. Ungeheuerlich! Diese Anmaßung muß zu
Ich tue es an Ihrer Stelle. Sie lauten: rückgewiesen werden!)
Eine große Gefahr ist das meiner Überzeugung
nach nicht, aber unsere Umwelt ist durch böse Brandt, Bundeskanzler: In dem, was Herr Kol-
Erfahrung auch gegen geringe Dosen des alten lege Strauß zitiert hat, steht selbst, daß diese Repu-
Giftes in hohem Maße allergisch geworden. blik in ihrer gesellschaftlichen Struktur stärker,
gesünder, stabiler sei als die Weimarer Repu-
Dann heißt es weiter:
blik — von der vorher die Rede ist —, aber daß
Man kann darüber philosophieren, ob diese sie sich auch weithin nach restaurativen Mustern
Abwehr nicht übertrieben und ungerecht sei. geformt habe. Dazu sage ich noch einmal: Dies ist
Gewiß, Imperialismus und Nationalismus, Ras- meine Überzeugung. Hierüber ist gestritten wor-
sismus und totalitäre Diktatur waren keine den, als im 1. Bundestag die Weichen gestellt wur-
deutschen Erfindungen. Aber nichts ist davon den.
abzustreichen, daß diese Ismen bei uns jene
menschenverachtende Ausformung und teuf- (Beifall bei der SPD. — Abg. Dr. Barzel:
lische Zuspitzung erfuhren, deren Nachwir- Das ist keine Antwort! — Weitere Zurufe
kungen nur überwunden werden können, wenn von der CDU/CSU.)
wir sie nicht verdrängen. Deshalb müssen wir Und wir brauchten nicht von der Notwendigkeit
Deutsche uns freihalten von Selbstmitleid und rascherer innerer Reformen zu sprechen, wenn das
vom billigen Gegenvorwurf an die Adresse an- nicht so wäre.
derer. Wir müssen unseren Blick freibekommen
(Erneuter, lebhafter Beifall bei der SPD.)
für die Probleme und Aufgaben von morgen."
(Beifall bei der SPD.) Im übrigen, was den Vorwurf der Geschichtslosig-
keit angeht, Herr Strauß, so habe ich nicht erst
Das steht dort. Wer das nicht mit zur Kenntnis gestern, sondern 1960 auf dem Parteitag der Sozial-
nimmt oder bringt, macht sich der Verfälschung demokratischen Partei Deutsch] ands in Hannover
durch Weglassung schuldig. folgendes ausgeführt, was ich, nachdem der Vor-
(Erneuter Beifall bei der SPD. — Abg. wurf erhoben worden ist, im Protokoll des Deut-
Dr. Barzel: Eine Zwischenfrage!) schen Bundestages sehen möchte:
— Nein, ich setze mich jetzt nur mit dem ausein- „Auch wir sind"
ander, was Kollege Strauß vorgebracht hat, und — das war auf meine Partei und ihren Werdegang
äußere mich später weiter in der Debatte. bezogen —
(Abg. Dr. Barzel: Eine Frage dazu!) „nur ein Teil der deutschen Geschichte. Das,
— Nein, dazu gibt es keine Frage, da gibt es nur was heute Deutschland ausmacht, stammt aus
den Text. vielen Quellen. Otto von Bismarck und August
(Beifall und Gegenrufe links. — Zurufe von der Bebel, Friedrich Ebert und Gustav Stresemann,
Mitte.) Julius Leber und Graf Stauffenberg, Ernst Reu-
ter und Theodor Heuss, sie alle gehören zu die-
— Nein, nein, nein, ich bin hier durch die eben sem Volk. Kein Schweigen aber kann das
von mir festgestellte unobjektive Darstellung eines Schreckliche vergessen machen, das sich an
Textes — — den Namen Hitlers knüpft. Das alles gehört
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch zu unserer Geschichte. Wir müssen sie als Ein-
nicht wahr! — Abg. Wehner: Noch viel heit sehen. Wir können aus unserer Geschichte
schlimmer ist, daß Herr Strauß sein eige ohnehin nicht austreten".
nes Zitat verkürzt; das ist Fälschung!) (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.)
Jetzt geht es allein darum, klarzustellen, worum es
sich tatsächlich handelt, und um gar nichts anderes. Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

(Abg. Dr. Barzel: Herr Kollege Brandt,


- Sie Das Wort hat der Herr Kollege Professor Carlo
wollen mir wirklich eine Frage verwei Schmid.
gern?)
— Wenn es sein muß. Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Trotz dieses Zwischen-
(Abg. Dr. Barzel: Verweigern oder nicht spiels, das jeder qualifizieren kann, wie er mag,
verweigern?) freue ich mich, daß ich als erster Fraktionssprecher
— Bitte, fragen Sie! der SPD unmittelbar nach Herrn Dr. Franz Josef
908 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. Schmid (Frankfurt)


Strauß sprechen kann. Ich möchte ihm zu seiner lege Strauß hat einen so umfassenden weltgeschicht-
Genesung gratulieren, lichen Exkurs gegeben — dem ich zustimme —, daß
(Heiterkeit bei den Regierungsparteien) ich glaube, darauf eingehen zu sollen.

wie alle freuen uns, daß es in diesem grauen Hause In der Tat, die deutsche Frage und was davon
neben den schönen Farben unserer Bundesfahne auch heute noch virulent ist — wenn auch oft in
wieder die kleinen weiß-blauen Tupfen geben wird. Verkehrungen, hegelisch zu sprechen, in ihrem
Anderssein —, reicht sehr viel weiter zurück. Sie
(Vereinzelt Heiterkeit.)
reicht bis zum Westfälischen Frieden zurück mit
Ich freue mich auch für ihn; er hat nunmehr wieder jenen „deutschen Libertäten", die man den Deut-
Gelegenheit, was ihn bewegt, nicht mehr nur zu schen aufgezwungen hat, weil die Großen von
Hause niederschreiben zu müssen, dazu noch mit damals in diesem Herzen Europas keine starke
lädierter Hand, oder nur zu Hause aussprechen zu Macht wollten — eine Macht, die durch das Bewußt-
können, in Vilshofen oder anderswo, was ihn be- sein, eine Nation zu sein, besondere Virulenz
wegt, sondern daß er es auch hier vor uns tun kann bekommen haben würde. Sie reicht zurück in die
und uns damit Gelegenheit gibt, ihm zu antworten. Zelt des Wiener Kongresses, wo man expressis
(Beifall bei der SPD.) verbis sagte — und es waren auch deutsche Patrio-
ten, die das gesagt haben, nicht bloß Fürsten-
Davon haben wir alle etwas, — so wie eben — auch
knechte —, ein Nationalstaat im Herzen Europas
er, glaube ich. Ja, stimmt's, Herr Strauß?
von dieser Größe sei etwas, das andere Staaten nur
(Abg. Dr. h. c. Strauß: Seit 20 Jahren!) schwer ertragen könnten — zwar ein Pech für die
Deutschen, daß sie dabei zuletzt gekommen sind,
Es ist eine bittere Sache für einen Vollblutredner
aber so sei es nun einmal. Das beste darüber hat
wie ihn, nicht urbi et orbi sprechen zu können, son-
1824 ein Historiker geschrieben, Ludwig Heeren,
dern sich mit Ersatzvornahmen begnügen zu müssen.
ein alter Lützowscher Jäger, also kein „Verzichtler"
Das haben wir, seine Kollegen, alle eingesehen, und
und Pazifist.
waren deswegen der Meinung, daß es fast eine
humanitäre Pflicht sei, ihm im Gegensatz zu anderen (Abg. Dr. Martin: Das wissen nur Sie!)
die Redezeit über die 15 Minuten hinaus zu ver-
— Ja ich weiß es. Genau das hat er geschrieben,
längern. Das Malheur, solange geschwiegen haben
und diesen Gedanken hatten viele gleichermaßen.
zu müssen, sollte durch dieses kleine douceur kom-
Das spielt auch mit hinein in das Klima, in dem die
pensiert werden. Freilich hat sich bei manchem die
Frage erhoben: Wie ist das denn eigentlich mit den deutsche Frage steht.
15 Minuten? Sollen andere es anders haben als die Dazu gehören weitere Dinge. Die polnischen Tei-
einen? Nun, ich weiß, daß — abgesehen von unserer lungen sind ja auch nicht von der Welt vergessen!
fraktionellen Hierarchie auf allen Seiten des Hauses Natürlich denkt heute niemand mehr daran, daß sich
und von den Herren Geschäftsführern — wir alle die Russen und die Osterreicher dabei auch gesund-
gleich sind, aber einige noch gleicher sind. Das ist zustoßen versucht haben. Aber man sieht nur jenen
ein Plagiat, aber man kann es gelegentlich mitunter Friedrich II. von Preußen, den Großen, als den
verwenden, auch in diesem Hause. eigentlichen Sünder und sagt: Er hat so gehandelt,
Meine Damen und Herren, heute morgen hat der „weil er ein Deutscher ist", und nicht etwa, weil
Kollege Gradl — wie ich glaube, mit Recht — gesagt, Kabinettspolitik in jenen Jahrhunderten so zu han-
daß die Opposition das Recht habe, die Regelung zu deln pflegte. Aber das steht noch in der Welt und
kritisieren. Und ich gehe weiter und sage: Sie hat trägt zur Beurteilung der deutschen Möglichkeiten
die Pflicht, sie zu kritisieren, denn von einer rich- bei, und gehört zu den hohen Hürden, die wir zu
tigen Kritik kann man lernen. Wir alle sollten bereit überwinden haben.
sein, immer zu lernen. Man spricht heute in der
Nehmen wir Rußland! Um ganz klar zu sein, wie
Pädagogik so gern von dem fortgesetzten Lern-
es mit der russischen Frage einmal in der Welt
prozeß, den das Leben darstellen sollte. Ich bin auch
stand: etwa 150 Jahre lang war es doch die Politik
dieser Meinung, obwohl ich nicht glaube, daß Volks-
des sogenannten europäischen Konzerts, die Russen
hochschulen allein dafür das rechte Mittel seien. Wir
daran zu hindern, aus der Ostsee herauszukommen
lernen an den verschiedensten Orten, auch in diesem
— die Alandinseln-Frage — oder durch das
Hause. Aber, Herr Kollege Gradl, es gibt hier einige
Schwarze Meer ins Mittelmeer hineinzukommen.
Grenzen. Kritik darf nicht nur eine Sache des Un-
Das hat 150 Jahre europäischer Politik entscheidend
muts und eine Sache des Sich-ärgerns sein. Freilich
mitbestimmt, die berühmte question des détroits,
sollte eine Regierung und die Koalition, die sie trägt,
wie es in der Diplomatensprache hieß.
Unmutsreden und Ärgerreden ertragen können. Das
gehört mit zu dem, was wir uns gegenseitig schuldig
sind. Nur eines sollte man nicht tun. Man sollte Kri- Vizepräsident Dr. Schmitt Vockenhausen:
-

tik nicht so üben, daß der Eindruck entstehen könnte Herr Kollege Schmid, ich bin aus dem Saal nochmals
— auch wenn er nicht gewollt ist —, daß der Kriti- gebeten worden, um die Verständlichkeit Ihrer Aus-
ker sich und seine Freunde für die guten Deutschen führungen zu sichern, darauf hinzuweisen, daß so-
und die anderen für die schlechten Deutschen hält. weit Unterhaltungen unbedingt geführt werden
Eigentlich wollte ich mich darauf beschränken, die müssen, diese doch freundlicherweise in die Seiten-
engeren Probleme der deutschen Teilung und des- gänge verlegt werden sollten.
sen, was daraus folgt, zu behandeln. Aber der Kol- (Beifall.)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 909

Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD) : Ich bedanke mich, Deutsche, der eine Weltgeschichte in Deutsch ge-
Herr Präsident. schrieben hat —, der, von der Enthauptung des
jungen Konradin auf dem Neuen Markt zu Neapel
Sie haben von der Tat Bismarcks gesprochen, der
sprechend, sagt:
ganz bewußt darauf verzichtet habe, den Traum der
Paulskirche zu verwirklichen. Was in der Pauls- Und es hat kein Fürst in Deutschland, kein
kirche geschah, war etwas Großartiges. Die deutsche Graf, kein Ritter ein Roß gesattelt darum!
Nationalbewegung ist ,etwas, auf das wir stolz sein Sie sehen, es gab einmal, noch ehe es einen Staat
können; denn es ist schon etwas Großes, wenn es Deutschland gab, einiges, was den Menschen Anlaß
einem Volk, dem Geschichte es versagt hat, ein gab, nationale Selbstachtung, nationales Selbst-
einheitlicher Staat zu werden, gelingt, aus der gefühl zu äußern und zu betrauern, daß es das bei
bloßen Volkheit zur Nation zu gelangen, von der denen, die es angegangen hätte, nicht gegeben hat.
bloßen Geschichtsträchtigkeit zur Geschichtsmächtig-
Aber dann kamen andere Zeiten, in denen man
keit. In der Paulskirche waren eben — das ist der
den Begriff der Nation, ich möchte sagen: theologi-
Demokratie gelegentlich eigen — sehr starke emo-
siert hat, durchaus aus noblen Motiven. Ich denke
tionale Kräfte lebendig. Zur „deutschen Nation"
an den Begriff der Kulturnation, wie Herder ihn
rechneten sich mit Recht auch Menschen, die außer-
geprägt hat und wie andere — Sie zitierten heute
halb preußischer und bayerischer Grenzen dazu-
morgen Schiller, zitierten Goethe; nehmen wir
gehören, die deutsch sprechenden Untertanen des
Hölderlin dazu — ihn übernommen haben. Da hieß
Kaisers von Österreich zum Beispiel. Man verstand
es in dem Gedicht Hölderlins über die Berufung
damas darunter auch deutsch sprechende Untertanen
der Deutschen: daß Germania Rat gibt den Königen
des Königs von Dänemark.
und den Völkern und nicht in Anspruch nimmt
(Zuruf von der SPD: Das waren aber Aus — das ergänze ich —, herrscherlich über ihnen zu
nahmen!) thronen. Dieses Bewußtsein einer dienenden Sen-
dung hat man dann in der nachfolgenden Treitschke-
Das war die Grundstimmung der Paulskirche.
Zeit umgewandelt in die Vorstellung von einer
Aber wohin wäre man gekommen, wenn man anderen besonderen Sendung, die die deutsche
diese Sehnsucht zu verwirklichen versucht hätte? Nation habe. Es entstand das Wort vom deutschen
Es wäre doch nur gegangen, indem man den öster- Wesen, an dem die Welt genesen solle, von vielen
reichisch-ungarischen Staatsverband zerschlagen verstanden als ein Aufruf — verzeihen Sie mir dieses
hätte. Das wäre nicht zum Nutzen des deutschen Wort — zu einer Art von Tüchtigkeitsimperialismus:
Volkes und auch nicht zum Nutzen Europas ge- daß es mit unsere Aufgabe sei, den Völkern beizu-
wesen. So ist die Tat Bismarcks eine bedeutende bringen, wie man ebenso tüchtig wird wie wir. Das
staatsmännische Leistung, daß er politisch bewußt führte dann zu bösen Dingen; wir kennen sie. Auch
auf die Universalisierung des deutschen National- das hat man in der Welt noch nicht vergessen, daß
problems verzichtet hat und sich darauf beschränkte, es einmal in Deutschland dieses schlechte Sendungs-
eine Art Großpreußen — ich meine das nicht in bewußtsein gab. Das gibt es heute nicht mehr. Ich
schlechtem Sinne — zu schaffen. möchte das hier sagen.
Dazu gehörte die Kraft, auf Mythen zu verzichten, Ich scheue mich nicht, zu sagen, daß ich traurig
auch die Einsicht, Politik nicht .für einen Ort anzu- darüber bin, daß man in Deutschland oft nur einem
sehen, an dem man in erster Linie Gemütsbedürf- überlegenen Lächeln begegnet, wenn man von Na-
nisse zu befriedigen hätte. Das war eine politische tion und Vaterland spricht.
Leistung. Aber vergessen wir nicht — und auf (Beifall.)
heute bezogen sage ich das —: von der deutschen
Es hat Leute gegeben, die, unter bestimmten Situa-
Nationalbewegung aus gesehen hat er Verzichte
tionen leidend, versuchten, „Nation" zu definieren.
geleistet, bedeutende, höchst schmerzhafte Verzichte.
Ich will nur einen nennen: Ernest Renan, diesen
Es gibt Leute, die ihm das damals sehr übel-
großen Franzosen, der nach 1871, nach der Annexion
genommen haben. Ich nenne Konstantin Frantz und
des Elsaß seinen deutschen Freunden, engsten
andere, auf die sich manche Ihrer engeren Lands-
menschlichen Freunden — er verehrte die deutsche
leute, Herr Kollege Strauß, nach 1945 gern bezogen
Wissenschaft besonders und achtete ihre Vertre-
haben.
ter — die ihm gesagt hatten: „Was willst du denn,
(Abg. Strauß: Wollen Sie mich mit ein die Menschen im Elsaß sprechen doch deutsch; sind
beziehen?) also Deutsche; also hat man sie doch nur wieder
— Nein, Sie nicht. heimgeführt", geantwortet hat: Nein! Ihr wißt eben
nicht, was eine Nation ist: eine Nation ist ein Plebis-
Noch ein anderes möchte ich hier anknüpfen. Der zit, das sich jeden Tag still wiederholt, zusammenle-
Begriff, den die Deutschen von dem, was Nation ist, ben zu wollen, um auf dem Boden, der einem zuge-
hatten — ich sage: hatten! —, ist aus ihrer Geschichte
- ordnet ist, miteinander rechte Dinge zu tun.
heraus zu verstehen. Er hat im Laufe der Zeit, der
Jahrhunderte gewechselt. Es gab eine Zeit — ich Nation ist ein Produkt des Willens und nicht nur
denke an die Stauferzeit und die Jahrhunderte nach- der gleichen Sprache, nicht einmal nur ein Produkt
her --, da wußten sie genau, was eine Nation ist. des Wissens um gleiche geschichtliche Herkunft von
Man lese Walther von der Vogelweide. Ich möchte alters her.
auch einen bayerischen Historiker zitieren — aus (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nicht nur ein
der Zeit der Renaissance —: Aventinus — der erste Gefühl der Zusammengehörigkeit!)
910 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970
Dr. Schmid (Frankfurt)
Sie ist ein Produkt des Willens der Menschen, die Die Teilung Deutschlands ist das Ergebnis der Tat-
dieses Gefühl, deutscher Nation zu sein, auszuspre- sache, daß die Siegermächte des zweiten Weltkrie-
chen oder kundzugeben bereit sind — also auch und ges sich nicht über die Verteilung der Machtver-
gerade der Menschen in der DDR. hältnisse in Europa einigen konnten. Darauf ist die
Nun zu den engeren Themen dieses Tages. Ich Teilung Deutschlands zurückzuführen. Daß manche
glaube nicht, daß es einen Sinn hat, zu versuchen, noch darüber hinausgehende Absichten hatten, ist
die Geschichte in irrealen Konditionalsätzen zu kon- eine Sache für sich.
jungieren, insbesondere zu versuchen, sie wegzu- Weil dies der Grund für die deutsche Spaltung
konjungieren. Ich will mich an solchen Versuchen ist, kann diese Spaltung nur dadurch aufgehoben
nicht beteiligen. Doch wenn man davon spricht, was werden, daß die Siegermächte von einst sich über
Deutschland heute ist — das Ganze —, dann muß eine neue Ordnung Europas einigen, eine Ordnung,
man sich doch fragen, warum es denn so geworden von der sie glauben, daß sie ihren Interessen ent-
ist, wie es heute ist. Man muß wissen, welche Stufen spricht. Wenn man diese Formel nicht akzeptieren
auf dem Wege von 1945 bis heute zurückgelegt wer- will, bleibt nur, darauf zu warten, bis der Kreml
den mußten. Man muß wissen, was davon heute einstürzt, bleibt nur, davon zu träumen, man könnte
noch virulent ist. Man muß dies wissen, um, von eines Tages die andere Seite mit irgendwelchen
heute aus richtig operieren zu können. Mitteln zwingen, ihre Politik, also was sie für ihr
Lebensinteresse hält, , aufzugeben.
Ich will auch nicht davon sprechen: wer ist an die-
sem oder jenem schuld, und wer hat an diesen oder Man hat das nicht von Anfang an eingesehen. Ich
jenen Dingen ein Verdienst? Wir haben allesamt habe es auch nicht von Anfang an eingesehen. Ich
schuld an vielem und allesamt Verdienst an man- habe am Anfang, in statu nascendi unserer neuen
chem. deutschen Welt, wie viele andere geglaubt, daß die
Politische Entscheidungen sind immer Wagnisse, Wiederherstellung der Einheit Deutschlands — ein
die man mit dem Wissen eingeht, daß man Ent- Volk, ein Staat — eine Sache sei, die die Deutschen
scheidungen fällen muß, obwohl man weiß, daß man selber zu besorgen hätten. Und ich meinte damals
sich dabei vielleicht irren wird. Das muß man wis- — es ist lange her —, sie könnten das auch tun. Es
sen, und das muß man sich gegenseitig einräumen. hat sich herausgestellt, daß das ein Trugschluß war.
Eines aber bleibt Sache des deutschen Volkes: die
(Vorsitz: Präsident von Hassel.)
Bewahrung der Substanz dessen, was „deutsche
Manches Denken kann unter den Voraussetzun- Nation" ausmacht. Das können nur die Deutschen
gen von einst richtiges Denken gewesen sein, auch selbst tun.
wenn es nicht zu merkbaren, darstellbaren Verwirk- (Beifall bei allen Fraktionen.)
lichungen geführt hat; und manches, was von den
damaligen Gegebenheiten aus nach den Gesetzen Unter .den obwaltenden Umständen ist das keine
ganz einfache Sache. Wenn wir aber das Bewußtsein
der Logik falsch gewesen sein mochte, kann zu
politischen Resultaten und Verwirklichungen geführt des Zusammengehörens, des Zusammengehören
wollens , um auf dieser Welt das Rechte richtig
haben, die heute Geschichte machen. Das gehört mit
tun zu können, nicht bewahren, dann ist der Ge-
zur Ironie und den Listen und der Vernunft der
danke, daß es einmal einen deutschen Staat für
Geschichte, von denen Hegel so oft spricht.
die eine deutsche Nation geben wird, eine Illu-
(Zustimmung des Abg. Schmidt [Wupper sion.
tal].)
Ich habe da manchmal schreckliche Sachen erlebt.
Ich halte nicht viel davon, Politik durch Jurispru- Vor einiger Zeit sprach ich mit Studenten — keinen
denz ersetzen zu wollen. Allerdings bin ich der Krawallmachern, keinen APO-Leuten, sondern Leu-
Meinung, daß man versuchen sollte, bestimmte ten, von denen ich weiß, daß sie, wenn sie wählen,
Substrate der Politik, wenn 'diese kalkulierbar wer- eine der Parteien in diesem Hause wählen. Und da
den soll, auch juristisch zu formulieren. Sonst kann sagte mir, als ich von der Nation, von Deutschland
man nämlich nicht rational argumentieren. Sonst sprach, einer, ein sehr netter, sehr gescheiter Junge:
bleibt einem nur übrig, zu beschreiben, d. h. in Bil- „Ja, Herr Professor, aber ich bin nicht in Deutsch-
dern darzustellen was ist, und mit Bildern kann man land geboren, ich bin in der Bundesrepublik gebo-
nicht denken. Von Bildern aus kann man intuitiv ren." Ich war erschrocken, als ich das hörte. Es gibt
etwas tun, was nachher richtig sein mag; aber das junge Menschen, die so denken; es sind nicht not-
gilt nur für den spontanen Akt. Dies gilt nicht für wendig schlechte Deutsche, nicht notwendig gedan-
Situationen, in denen man willens oder gezwungen kenlose Deutsche; es sind die Menschen, in denen
ist, auf längere oder auch nur auf mittlere Zeit hin sich die Tragik unseres Volkes inkarniert. Werden
zu planen. In solchen Situationen muß man Begriffe wir es fertigbringen, ihnen eines Tages bewußt zu
formen, um überhaupt reden und kalkulieren zu machen, daß sie in Deutschland geboren sind,
können. -
auch wenn in diesem Teilstück, das sich „Bundes-
Wenn man die Ereignisse dieses Vierteljahrhun- republik Deutschland" nennt?
derts überdenkt, ergibt sich, daß die Spaltung Daß die russische Politik, Herr Kollege Strauß —
Deutschlands keine Sache irgendeines darauf ge- ich sage es nur noch einmal — in all dem, was sie
richteten Willens irgendeines Teilles des deutschen tut, darauf ausgeht, ihren Machtbereich zu vergrö-
Volkes Ist. ßern, ist klar. Sie geht dabei taktisch auf verschie-
(Zustimmung bei der SPD.) denartige Weise vor. Strategisch ist ihr Grundkon-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 911
Dr. Schmid (Frankfurt)
zept wohl ziemlich eindeutig. Aber man muß gele- daß die SMA, die Sowjetische Militäradministration,
gentlich auch im Bereich des Taktischen operieren, geschaffen worden ist, um ganz besondere Aufgaben
und gelegentlich kann man auch gegenüber der im russischen Interesse zu erfüllen. Aber, meine
Strategie des anderen im Bereich des Taktischen Damen und Herren, Ähnliches gab es auch im
gewisse Dinge erreichen, , die ihn zwingen könnten, Westen. Es gab nicht nur einen „Eisernen Vorhang",
seine Strategie zu ändern. Das ist die konkrete sondern es gab auch einen „Seidenen Vorhang".
Aufgabe, vor die wir gestellt sind. Das ist es, (Zuruf von der CDU/CSU: Er wurde aber
worauf es ankommt, wenn wir heute als Bundes- beseitigt!)
republik Politik machen — immer angesichts des
großen Horizonts, vor den wir gestellt sind. — Richtig! Aber er ging nicht von selber weg, ver-
ehrter Herr Kollege.
Es war nicht von Anfang an so, daß die Russen Als ich das erstemal mit General de Gaulle zu-
oder die SED, die Kommunisten, davon ausgegan- sammentraf — das war im August 1945 in Freiburg
gen sind, es solle keine deutsche Nation mehr ge- im Breisgau, zusammen mit anderen Deutschen —,
ben. Am Anfang war das nicht so — natürlich aus sprach er davon, man sei gekommen, um die Würt-
Gründen, die mir bekannt sind. Aber ich erinnere temberger und die Badener vom preußischen Joch zu
an das Wort Stalins: „Die Hitler kommen und ver- befreien.
gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen". Dieses (Heiterkeit.)
Wort war damals durchaus so gemeint, wie es ge-
sagt worden ist. Stalin hat sich natürlich über die Als ich ihm sagte, das sei doch ein bißchen antiquiert
Verwendbarkeit dieses Volkes für seine Zwecke gedacht, wir seien nicht mehr im Zeitalter der Post-
seine eigenen Vorstellungen gemacht. Aber daß er kutsche, sagte er zu mir: Verstehen Sie mich recht:
von der Einheit des deutschen Volkes und der deut- wir wollen Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Vor-
schen Nation ausging, ist sicher. vätertugenden wiederaufleben zu lassen; faire re-
vivre vos vertus ancestrales. — Ein schönes Wort!
Auch die DDR hat sich am Anfang durchaus dafür
einzusetzen bemüht — jedenfalls hat sie versucht, Das hat sich dann geändert. Dieser Mann hat um-
uns das klarzumachen —, daß es einen deutschen gedacht, und zwar in einer großartig mutigen Weise
Staat und nicht zwei separate Staaten geben sollte. umgedacht. Respekt vor diesem Mann, vor allen
Dingen wenn man seine Erziehung kennt; er kam
Ich erinnere an den Abgeordneten Renner, der im von der „Action Française" her und war doch der
Parlamentarischen Rat immer wieder von dem west- große Mann der Résistance!
deutschen „Separatstaat" sprach.
Die Absichten der Besatzungsmächte — der „bö-
(Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger.) sen" und der „guten" — waren nicht immer Absich-
ten zum Nutzen des deutschen Volkes. Das hat sich
— Aber, Herr Kiesinger, ich bin doch wirklich nicht gegeben, als man entdeckte, daß man sich selber den
naiv. Jedenfalls ist daraus zu ersehen, daß jene größten Schaden zufügen würde, wenn man so wei-
Leute damals davon ausgingen, daß ein einheitliches termachte, wie man angefangen hatte. Recht verstan-
deutsches Staatsgebilde besser wäre als ein gespal- denes Eigeninteresse der Westmächte war es, was
tenes Deutschland. sie bewog, sich später so zu verhalten, daß wir, was
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Aber ein kommu sie taten, auch als eine Förderung unserer Interessen
nistisches!) ansehen konnten.

Thälmann — wenn man ihn zitieren will — hat im Herr Kollege Lemmer erinnert sich vielleicht noch
Jahre 1950 ausdrücklich davon gesprochen. Er hat an jene Zeit der sogenannten gesamtdeutschen Räte.
uns den Vorwurf gemacht, uns im Westen, daß wir Diese nationale — —
durch unseren Staat in Westdeutschland die deutsche (Abg. Lemmer: Repräsentation!)
Nation spalteten; die Geschichte werde das aber
nicht zulassen. — ja, diese „nationale Repräsentation", die von
ehrenwerten Leuten, auch von Ihnen, Herr Gradl,
Auch die politischen Akte, die damals gesetzt wor- wenn ich mich nicht täusche, getragen war, stand
den sind, bezeugen es, z. B. das Potsdamer Abkom-
unter dem Gedanken, daß wir etwas haben müssen,
men. Darin ging man davon aus, daß es eine deut-
wo alle deutschen politischen Kräfte den Besat-
sche Nation, ein deutsches Staatsvolk gibt; aller
zungsmächten gemeinsam entgegentreten konnten,
dings wollte man ihm die Handlungsfähigkeit noch
um die Interessen des deutschen Volkes in den Vor-
nicht geben; ein Vormund, der Kontrollrat, sollte für
dergrund zu rücken.
Deutschland handeln. Das war Fremdherrschaft, aber
Fremdherrschaft über ein Volk, das man als ein Ich sage dies nicht aus Freude an Reminiszenzen,
Volk ansah. Leider hat man die berühmten vier sondern um zu zeigen, daß es nicht von Anfang an
Zonen geschaffen und den Zonenkommandeuren die die Absicht der Besatzungsmächte gewesen ist —
-
Zuständigkeit gegeben, in ihrer Zone ihre besondere und nicht einmal der SED —, Deutschland als Nation
Politik zu machen, unabhängig davon, was in ande- aufzulösen oder zu spalten. Das hat sich nicht schon
ren Zonen geschah. Wir wissen — das sagte uns zu Beginn ereignet; das ist aus dem Wandel der
Herr Gradl; ich weiß es auch; am besten kennt diese Interessen heraus im Laufe der Zeit so geworden.
Dinge der Kollege Lemmer; ich weiß nicht, ob er Die Westalliierten vor allen Dingen hatten sich
hier ist —, der These angeschlossen, Deutschland sei als Staat
(Zurufe von der CDU/CSU: Ja!) untergegangen, die deutsche Nation entsprechend.
912 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. Schmid (Frankfurt)


Ein deutscher Staat müsse also neu geschaffen wer vereinigte Deutschland in die NATO eintreten kön-
den — ohne irgendwelchen Zusammenhang, ohne nen müsse,
irgendwelche Identität mit dem, was vorher war. (Zuruf des Abg. Dr. h. c. Kiesinger)
Auch einige deutsche Politiker waren der Mei- — jawohl, genau das —, während die Sowjetseite
nung, daß Deutschland untergegangen sei und daß sagte: Nein — Stalin-Note —, ein wiedervereinig-
man es neu schaffen müsse neu! — im Wege von tes Deutschland muß den Status haben, den die
Verträgen der Länder. Mächte ihm konzedieren; bewaffnete Neutralität,
aber keine Freiheit, Bündnisse einzugehen.
Dann kam es zur Bundesrepublik. Wir wissen,
wie das ging. Wir wissen um die Konflikte, die es (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Aber die Bindungs
damals — vor dem Parlamentarischen Rat und im klausel wurde dann beseitigt!)
Parlamentarischen Rat — gab. Die einen waren der — Ja; später.
Meinung: man muß einen möglichst perfekten Staat
im Westen Deutschlands schaffen. Denn nur dann (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: 1954!)
könnten wir leben. Dieser Staat wird magnetisch, Aber dann war die Chance, wenn sie gegeben
sagte man, und die Leute im Osten unwiderstehlich gewesen sein sollte, schon vorbei. Das war im
anziehen, keine Macht werde sich diesem Magnet- Grunde die Hauptdifferenz. Sie war viel bedeu-
feld entgegenstellen können. Andere, ich zum Bei- tungsvoller als die Frage der verschiedenen Ideo-
spiel, waren der Meinung: das soll man nicht tun; je logien oder die Frage der verschiedenen gesell-
perfekter wir uns im Westen staatlich-politisch schaftspolitischen Systeme.
organisierten, desto mehr würden wir drüben den-
Wie ging es weiter? Spätestens im Koreakrieg
selben Prozeß provozieren, und dann werde der
bemerkten die Sieger des letzten Krieges, daß sie
Graben tiefer und breiter werden; deswegen möge
mit der Zerstörung der deutschen Potentiale — der
man das lassen. Darum habe ich mich damals dafür
ökonomischen, der politischen und der militäri-
eingesetzt, statt einer „Verfassung", die nur das
schen — nicht nur Deutschland, sondern den gan-
Gesamtvolk für Deutschland machen kann —, ein
zen Westen geschwächt hatten, und stellten sich
Organisationsstatut zu schaffen. Ich habe den Hohn,
die Frage: Wie kann man die deutschen Potentiale
den man mir zuteil werden ließ, getragen. Aber ich
wieder schaffen und dem Westen in einer Weise
halte den Gedanken auch von heute aus ge-
zuführen, die es den Deutschen unmöglich macht,
sehen — für damals nicht für falsch. Freilich muß
darauf eine eigene — antiwestliche — Politik zu
man dazunehmen, daß ich auch vorgeschlagen hatte,
begründen? Indem man die Deutschen in „Europa"
als Sitz der Bundesbehörden nicht Bonn zu wählen,
einführt, in die EVG — die schließlich scheiterte,
1 sondern eine Barackenstadt bei Helmstedt, damit
in die WEU usw! Mir sagte nach meiner ersten
man deutlich sehen könne, was wir unter „Proviso-
Rede in Straßburg, als ich die Ehre hatte, gegen
rium" verstehen. Daß maan die Bundesrepublik
Churchill zu sprechen, der deutsche Soldaten ver-
Deutschland zunächst nur als ein Provisorium —
langte, und ich ihm sagte: „Jetzt nicht!", dieser
genauer gesagt: als einen Staat für den Übergang —
große Mann beim Gespräch nachher — als ich ihm
angesehen hat, steht in der Präambel und steht in
vorhielt: „Ihr seid doch der Meinung, die Deutschen
Art. 146 des Grundgesetzes.
sind von Natur gefährliche Militaristen" — folgen-
Das ist so nicht geblieben. In der Zwischenzeit des: „Ja, aber, wenn wir, als wir noch in Indien
haben sich Dinge ereignet, die aus diesem Proviso- waren, einen guten Elefanten brauchten, dann fin-
rium einen kompletten Staat gemacht haben, — wenn gen wir einen wilden und spannten ihn mit drei
man von den materiellen Staatsattributen spricht zahmen Elefanten zusammen; nach zwei Jahren war
und wenn man die Frage nach der Souveränität im er auch ein brauchbarer Elefant geworden". Diese
vollen Sinne des Wortes nicht allzu bohrend stellt: Parabel ist ein Scherz; aber im Grunde lagen in
ich denke dabei an Art. 2 des Pariser Vertrages von der westlichen Politik — als man dieses Europa zu
1952, nach dem die Alliierten ihr Recht behal- dem Zweck erfand, die deutschen Potentiale wie-
ten sollen, für Deutschland als Ganzes zuständig deraufleben und dem Westen zukommen zu lassen,
zu sein. Dies mußte so sein, und ich für meinen Teil ohne daß die Deutschen damit Unfug anrichten
bin froh, daß es diese Bestimmung gibt, denn sie konnten Gedanken ähnlicher Art.
hält die alliierte Verantwortung für Gesamt-
Nach diesen Schritten konnte man nicht mehr viel
deutschland auch Rechtens aufrecht.
darüber nachdenken, ob die Russen gestatten wür-
Ich habe auch das nur gesagt, um aufzuzeigen, den, daß diesem Deutschland — „NATO-Deutsch-
wie fragil oft gewisse Begriffe sind, Souveränität land" — der Teil des deutschen Potentials an Men-
z. B., Freiheit z. B., und noch andere dazu. schen und an Kraft zuwachse, auf den sie ihre Hand
gelegt hatten. Das wäre doch darauf hinausgekom-
Die Hauptdifferenz unter den Beteiligten bei den men, sagte mir Chruschtschow, als wir bei ihm
Versuchen nun die Wiedervereinigung nicht mehr waren, von ihm zu verlangen, einen Teil der rus-
durch Eigenleistung des deutschen Volkes- zu schaf-
sischen Macht einem Militärblock zuwachsen zu
fen, sondern diese Aufgabe als ein Stück Politik der
lassen, den die Russen als feindlich gegen sich ge-
interessierten Staaten zu begreifen, war: Für die
richtet betrachteten; für so dumm würde ich ihn
Alliierten und für die Regierung der Bundesregie- doch wohl nicht halten.
rung war entscheidend, daß auch das wiederver-
einigte Deutschland in der Wahl seiner Bündnisse Nun ist die Lage so, wie sie uns geschildert
frei sein müsse, das heißt, daß auch das wieder- wurde. Nun haben wir zwei deutsche Staaten, und
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 913
Dr. Schmid (Frankfurt)
da möchte ich Ihnen, lieber Herr Kiesinger, etwas Diese beiden Staaten sind eingebettet in die
zum „Phänomen" sagen. 1947 und 48, als wir diese deutsche Nation; denn die Bevölkerung in diesen
merkwürdige Bundesrepublik machten einen Staaten — als einzelne und als Gesamtheit genom-
Staat ohne Armee, einen Staat ohne Außenpolitik, men — will es so. Sogar ihre Regierungen er-
einen Staat, der sich seine Gesetze von den Hoch- klären es gelegentlich, ausdrücklich oder durch kon-
kommissaren genehmigen lassen mußte —, sprach kludente Handlungen. Aber keiner dieser Staaten
ich vom „politischen Gebilde" Bundesrepublik. ist identisch mit dem alten Deutschen Reich; keiner
ist im strengen Sinne des Wortes Rechtsnachfolger
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Ich habe abge des alten Deutschen Reiches; sie sind neue Gebilde
wechselt zwischen „Gebilde" und „Phä eigenen Entstehungsgrundes, Gebilde einer Über-
nomen"!) gangszeit, Gebilde, die deswegen so sind, was sie
In statu nascendi war das richtig; denn ich kenne sind und wie sie sind, weil andere Mächte es woll-
keine gängige Definition der Staatslehre, die auf ten, die Macht über uns hatten und es heute noch
das damalige Staatsfragment — nicht nur in terri- nicht fertigbringen, sich darüber zu einigen, wie
torialer, sondern auch in substantieller Hinsicht — Europa aussehen soll, wie ihre Machtzonen gegen-
gepaßt hätte. Ist die DDR heute auch wirklich nur einander abgegrenzt werden sollen. Vielleicht hat
ein „Gebilde", ein „Phänomen"? Ist sie nicht etwas, Golo Mann genau das gemeint, als er davon sprach,
was auf den Namen „Staat" Anspruch erheben kann? die Bundesrepublik solle sich auch selbst anerken-
nen — anerkennen, was sie ist.
In allen Staatslehren wird Staat so definiert: Ein
Staat liegt dort vor, wo ein Staatsvolk, ein Staats- Anerkennung ist ein Zauberwort: Wenn man sich
gebiet und eine zentrale Autorität bestehen. Welche freilich mit solchen Dingen von Berufs wegen viel
moralische und demokratische Qualität dieser Staat zu befassen hatte, verschwindet ihre magische Kraft.
hat, spielt dabei keine Rolle. Unter „Staatsvolk" ver- Anerkennung ist eine ganz einfache Sache! Ein Staat
steht man nicht etwa das plebiszitäre Volk Jean erklärt einem anderen, er wolle mit ihm Beziehun-
Jacques Rousseaus, das seinen Staat will, sondern gen rechtlicher Art aufnehmen, entweder allgemeine
schlicht die Menschen, die auf dem Herrschaftsgebiet Beziehungen nach dem gemeinen Völkerrecht oder
leben und, gezwungen oder freiwillig, bereit sind, spezielle, ,spezifische eingegrenzte Beziehungen nach
dieser Autorität zu gehorchen. So brutal ist diese dem Recht eines besonderen, durch beide zu schaf-
Definition. Wenn nur ein Staat, in dem es demo- fenden Rechtskreises. Die Staaten des Common-
kratisch zugeht und in dem die Menschenrechte wealth waren solche Staaten, die sich untereinander
gelten, ein Staat sein soll, dann ist die Sowjetunion durch ein spezifisches Commonwealth-Recht verbun-
kein Staat. Das wollen Sie doch nicht sagen. den wissen wollten, aber nach außen mit denen, die
das wollten, ihre eigenen Rechtsbeziehungen auf-
Streiten wir uns nicht um Worte, suchen wir nicht nehmen konnten.
unser Heil in Anführungsstrichen und in Präfixen!
Ich spreche von der DDR als einem Staat, dem fast Was fangen wir mit dem an, was wir heute vor
alles fehlt, was notwendig ist, um ein Leben in uns haben? Ich sehe keine andere Möglichkeit, als
Freiheit, also menschenwürdig zu führen. auf lange Sicht dahin zu wirken, daß unter den
Großmächten ein Zustand entsteht, der ihnen die
Dieser Staat beklagt sich darüber, daß man ihn Schaffung eines einigen Deutschlands für sich selber
nicht anerkenne. Er behauptet, so sehr „Staat" zu nutzbringender erscheinen läßt als die Existenz
sein, daß sich daraus von selbst die Verpflichtung eines getrennten Deutschland. Das werden sie aber
anderer Staaten ergebe, ihn anzuerkennen. Das erst dann tun, wenn wir alle zusammen eine euro-
Völkerrecht kennt keine Rechtspflicht zur Anerken- päische Friedensordnung zuwege gebracht haben,
nung. Auch der vollkommenste Staat hat keinen darin manche Dinge bedeutungslos geworden sein
Anspruch darauf, anerkannt zu werden. Ob man werden, und allen klar wird, daß es für die Welt
einen Staat anerkennt, d. h. ihn im Verkehr mit sich nützlich sein könnte, daß es ein unverstümmeltes
selber zum Völkerrechtssubjekt machen will, obliegt Deutschland gibt.
ausschließlich demjenigen, dessen Bekundung der
Anerkennung verlangt wird. Kurzfristig oder mittelfristig sollten wir alles tun,
um mit dem anderen deutschen Teilstaat — wie ich
Die zwei Staaten, die es in Deutschland gibt, sind ihn sehe, habe ich gesagt — zu Vereinbarungen zu
nicht Geschöpfe des — ich bitte mich da nicht miß- kommen, die das Leben der Menschen drüben er-
zuverstehen und mir nicht Dinge zu unterlegen, die leichtern. Sie sagten, Herr Strauß, es komme auf
ich nicht meine — Selbstbestimmungsrechts der die großen politischen Perspektiven an. Natürlich
deutschen Nation; dieses kann nur die ganze kommt es darauf an, aber man darf, wenn man
deutsche Nation ausüben. Auch wir sind es nicht. Weltgeschichte denkt, darüber den kleinen Mann
Wir sind in unserer Entstehung genauso wie die nicht vergessen, lieber Kollege Strauß!
DDR
- Produkt einer Phase der alliierten Besatzungs
und Militärpolitik. Aber im Unterschied zu- dort be- Ich habe keinerlei Illusionen. Auch das Wort
kamen wir die Möglichkeit, uns auf diesem Teil- Hoffnung schreibe ich mit ganz großen Buchstaben.
gebiet Deutschlands demokratisch als Deutsche ein- Man muß trotzdem anfangen; Sie kennen das Wort
zurichten, und das macht einen erheblichen Unter- Wilhelms von Oranien. Es wird ein langer Marsch
schied gegenüber dem aus, was östlich der Elbe werden, aber auch der längste Marsch beginnt mit
geschehen konnte. Aber es ändert nichts daran, daß einem ersten Schritt. Ich glaube, hier wurde ein
auch drüben ein Staat ist. erster Schritt getan.
914 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. Schmid (Frankfurt)


Über die Einzelheiten, von denen hier gesprochen Nation und damit auf das zentrale Problem der
worden ist, möchte ich nichts weiter sagen. Ich habe deutschen Frage. Alles, was wir außenpolitisch tun,
schon zu lange gesprochen, und ich bitte um Ent- wirkt sich auf die deutsche Frage aus. Bei allen
schuldigung dafür. Nur an einem liegt mir noch. Bei unseren Entscheidungen haben wir zugleich auch
dem, was auf lange Sicht notwendig ist, und bei dem, diese deutsche Frage im Sinn und müssen sie im
was auf diesem Weg an Etappen zurückgelegt wer- Sinn haben. Es ist deshalb nur folgerichtig, meine
den muß, müssen wir alles tun, um möglich zu ma- Kollegen, wenn ich hier die Perspektive einer ein-
chen, daß sich die eine deutsche Nation in ihrer heitlich konzipierten Außenpolitik im Hinblick auf
Identität im Subtentiellen begreift und erhalten wis- das heutige Thema darlege.
sen will. Wenn ich von der einen deutschen Na- Herr Kollege Strauß hat soeben den Versuch ge-
tion spreche, meine ich auch die Menschen in Leip- macht, durch eine historische Betrachtung des Ver-
zig, Chemnitz und anderswo. hältnisses der Sowjetunion zu uns die Einflüsse auf
Weiter: auf diesem Marsch müssen wir Hinder- der einen Seite des russischen Imperialismus, auf
nisse wegräumen, die je und je entgegenstehen der anderen Seite des Weltbolschewismus auf das
könnten, wo jene Mächte, auf die wir angewiesen Verhältnis der beiden Länder darzulegen. Er hat
sind, veranlaßt werden müssen, ihr Interesse auch eine sehr umfassende historische Betrachtung ange-
in der Beseitigung der Spaltung Deutschlands zu stellt, die ja in manchem von Carlo Schmid soeben
sehen. Wenn uns das gelingt — ich werde es wahr- noch sehr erweitert worden ist.
scheinlich nicht erleben —, dann wird es die eine Aber, ich meine, Herr Kollege Strauß, Sie haben
deutsche Nation in einem deutschen Staat wieder eigentlich zu früh abgebrochen, nämlich in dem
geben. Augenblick, als man sich darüber unterhalten mußte,
Dabei ist mir ganz klar — ich habe das schon im was denn nun jetzt eigentlich ist, wie die Perspek-
Parlamentarischen Rat gesagt, als wir Art. 146 be- tiven sind. Ganz zum Schluß haben Sie darüber
rieten —, daß es keine Eingemeindung des einen etwas gesagt, übrigens etwas zu einer Frage, in der
Teilstaates durch den anderen geben wird. Den ich mit Ihnen nicht einig bin, nämlich ob sich denn
neuen deutschen Staat werden wir zusammen ma- das Blockdenken im sowjetischen Block verstärkt
chen müssen. Seine Verfassung werden wir zusam- oder ob hier eine Strukturwandlung festzustellen
men beraten und beschließen müssen. Nur dann ist. Ich teile die Auffassung derer, die meinen, daß
wird sie eine Deutsche Konstitution sein! Ich würde in den letzten Jahren — trotz Prag oder wegen
mich freuen, Herr Kollege Windelen, wenn sie im Prag; wie sie es immer werten mögen — eine
Kern möglichst so aussehen würde wie unser Grund- Wandlung in der Struktur der Verhältnisse im
gesetz. Aber dazu müssen alle ihr Wort sagen kön- russischen Machtbereich sichtbar ist. Das können
nen, die den Namen „Deutsche" verdienen und zu Sie bei den Konferenzen in Prag und auch in Mos-
denen wir so gerne sagen: „liebe Brüder und Schwe- kau an der Diktion sehen, die dort sichtbar wird,
stern". und an dem, was Sie hier richtig dargestellt haben:
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: daß in der Tat die Mitglieder des Warschauer Pak-
Aber demokratisch legitimiert!) ten sich immerhin schon einen Bewegungsspielraum
für sich haben erwerben können.
— Natürlich. Muß ich das denn wirklich noch sagen?
Aber das ist nicht das einzige, was das Verhält-
Das ist unsere Aufgabe, das ist unser Ziel. Wenn nis der Sowjetunion auch zu uns und zu West-
wir es errreichen, haben wir nicht nur Schaden vom europa verändert hat, sondern es ist einfach die
deutschen Volke abgewendet, dann haben wir auch technische Entwicklung unserer Welt, der Zwang
den Nutzen dieses Volkes und der Welt gemehrt. wirtschaftlicher Notwendigkeiten auf eine Welt-
(Beifall bei den Regierungsparteien und macht, der Zwang wirtschaftlicher Notwendigkeiten,
zahlreichen Abgeordneten der CDU/CSU.) der die Sowjetunion dazu zwingt, den Versuch zu
unternehmen, Kooperation zu suchen mit Ländern
der westlichen, technisch, wirtschaftlich und auf dem
Präsident von Hassel: Das Wort hat der Herr Gebiet der Produktion weiterentwickelten Welt.
Bundesminister des Auswärtigen.
Und noch etwas anderes wirkt auf die Haltung der
Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Herr Sowjetunion: natürlich das Verhältnis zu China und
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- die Perspektive der Entwicklung dieses Verhältnis-
ren! Herr Kollege Strauß hat soeben schon einmal ses, die man vielleicht unterschiedlich bewerten
den Versuch unternommen, das Thema in einen mag. Und es wirkt auf das Verhältnis der Sowjet-
außenpolitischen Zusammenhang zu stellen. Ich union zu uns die Bedeutung, die steigende Bedeu-
finde, zu Recht, obgleich die innerdeutschen Bezie- tung der Dritten Welt für die politischen Entschei-
hungen im engeren Sinne nicht zur Außenpolitik dungen auch der Großmächte. Alles das, meine ich,
gehören. Aber hier wird schon sichtbar, daß der müssen wir berücksichtigen, und ich bin insoweit
Begriff der besonderen Beziehungen im Verhältnis froh, daß wir auf dieses Gebiet gestoßen sind.
der beiden Teile Deutschlands zueinander seine Be- Der Herr Bundeskanzler hat gestern gesagt, daß
rechtigung hat. diese Regierung in den vergangenen zweieinhalb
Aber unsere gesamte Außenpolitik, die als eine Monaten genaugenommen mehr Westpolitik als
in sich geschlossene Einheit zu begreifen ist, hat Ostpolitik betrieben hat. Und das war kein Zufall
immer einen unmittelbaren Bezug auf die Lage der der Termine; es entspricht vielmehr der Lage, in
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 915
Bundesminister Scheel
der wir uns befinden. Nur in dem Maße, meine Kol- manche waren sogar darunter, die, dann darauf
legen, in dem es gelingt, unsere westlichen Bünd- hinwiesen, welch ungewöhnlich vorteilhafte Ent-
nisse zu stärken, können wir hoffen, im Osten vor- wicklungen mit den Namen Den Haag und Brüssel
anzukommen. Ja, Westpolitik und Ostpolitik stehen verbunden seien; da müsse man eigentlich hin-
zueinander in einem funktionalen Verhältnis von schauen und nicht, wie das die Regierung tue, nach
solcher Art, daß unser politischer Bewegungsspiel- Osteuropa. Ich habe mich, wenn ich so etwas ge-
raum nach Osten nur mit dem Grad der Einigung lesen habe, immer gefragt: Ja, was haben denn
im Westen wächst. Oder anders ausgedrückt: Locke- diese Kommentatoren gedacht, wer in Den Haag
rungen unserer Bündnisse im Westen würden unse- und wer in Brüssel tätig gewesen ist? Etwa die
ren Bewegungsspielraum Osteuropa gegenüber ein- Heinzelmännchen? Die Opposition doch nur mit
engen. guten Wünschen, aber nicht am ' Platz, weil das im
Moment technisch nicht möglich ist. Wir haben hier
Die Außenpolitik der Bundesregierung ist eine
also schon etwas getan.
umfassende Friedenspolitik. Krieg, das scheint im
letzten Drittel unseres Jahrhunderts nun Gott sei
Dank gewiß zu sein, ist für keine der konfrontierten Präsident von Hassel: Herr Bundesminister,
Parteien hier in Europa mehr ein denkbares Mittel einen Augenblick bitte! — Darf ich bitten, Platz zu
zur Ordnung der europäischen Verhältnisse. Nach nehmen oder die Gespräche draußen zu führen.
zwei Jahrzehnten fortschreitender Blockverfestigung
nähert sich die Aufhäufung militärischer Macht den Scheel, Bundesminister des Auswärtigen: Die
Grenzen der wirtschaftlichen Vernunft. Das Sicher- Gipfelkonferenz in Den Haag, meine Damen und
heitsbedürfnis der europäischen Völker erfordert Herren, hat nicht zuletzt durch unseren Beitrag die
übergreifende Lösungen, erfordert einen Abbau der Perspektive der Europäischen Gemeinschaft er-
Konfrontation. Es erfordert den Versuch der fried- weitert und Großbritannien Europa nähergebracht.
lichen Annäherung. Diese Einsicht, die noch vor Wir sind in das Endstadium des Gemeinsamen
wenigen Jahren schwer zugänglich gewesen sein Marktes eingetreten und in zähen Bemühungen
mag, beginnt sich heute in Ost und West zu ver- daran gegangen, die Europäische Wirtschaftsgemein-
breiten und die historische Erfahrung zu bestätigen, schaft zu verwirklichen. Die politische Zusammen-
daß verhärtete Zustände ohne die Gefahr einer arbeit im Westen hat nicht zuletzt auch durch unsere
Katastrophe nicht endlos konserviert werden kön- eigene Initiative neue konstruktive Impulse er-
nen. halten. Die NATO-Ratstagung ermöglichte eine
Die Außenpolitik der Bundesrepublik trägt dem politische Abstimmung über alle aktuellen Fragen
Rechnung. Sie fügt sich in die Bewegungen der des Bündnisses, gerade und im besonderen auch im
Bündnissysteme ein. Sie ist eingebettet in den Hinblick auf die osteuropäische Möglichkeit. Die
Consensus mit den Verbündeten und abgesichert politische Abstimmung im europäischen Rahmen
durch eine glaubhafte Verteidigungsbereitschaft. wurde durch die WEU-Tagung, die jüngst stattfand,
Meine Damen und Herren, eine starre Vertretung neu belebt und auf eine überschaubare Zukunft hin
abstrakter Rechtsansprüche bringt uns nicht weiter. orientiert.
Wir müssen Regelungen für heute, für unsere Zeit Meine Damen und Herren, wir haben die Fülle
in einer Richtung finden, in der sich in den kommen- von bilateralen und multilateralen Konsultationen
den Jahren möglicherweise eine gesamteuropäische intensiv genutzt, um allen unseren Partne rn offen
Annäherung vollziehen kann. darzulegen, worum es uns bei unserer Europapolitik
So habe ich auch den früheren Bundeskanzler Dr. geht. Ich darf Ihnen versichern, daß alle Initiativen
Kiesinger immer verstanden. Wenn er einen Brief der Bundesregierung von unseren Verbündeten mit
an Herrn Stoph geschrieben hat mit dem Angebot, Sympathie und Verständnis begrüßt werden. Diese
einen Vertrag abzuschließen, dann, meine ich, war Bundesregierung weiß sich in ihren Schritten zur
das die Absicht: einen Vertrag abzuschließen, der Regelung ihres Verhältnisses zu den osteuropäischen
sicherlich zwischenstaatliches Recht geschaffen hätte; Ländern und zur Entkrampfung der innerdeutschen
denn sonst kann ich auf dieser Ebene keine Ver- Beziehungen von der Unterstützung durch ihre
träge abschließen. Dennoch, meine ich, ist der Wirk- Freunde getragen. Gerade deshalb sehen wir uns in
lichkeitssinn derer, die heute etwas Ähnliches viel- der Lage, auch in der Osteuropapolitik selbstbewußt
leicht mit anderen Mitteln versuchen, nicht geringer vorzugehen.
als der Wirklichkeitssinn, der damals geherrscht
Sie dürfen mir glauben, meine Damen und Herren,
haben wird. Ich meine, meine Damen und Herren,
daß ich nicht zuletzt deshalb so wenig von Winter-
wir sollten , das alles so nüchtern sehen und den
sonne gebräunt hier vor Ihnen stehe, weil ich in all
Versuch machen, die Positionen ganz genau und
diesen Wochen fast pausenlos unterwegs gewesen
sauber abzustecken, wie in der heutigen Diskussion.
bin, um meinen westlichen Kollegen minuziös zu
Diese Politik, meine Damen und Herren, ist Aus- erklären, was die Bundesregierung gemeinsam mit
druck der Identität unserer Interessen mit den In- ihren Partnern in der Ostpolitik nun eigentlich zu
teressen Europas. Wir haben in diesen zweieinhalb tun beabsichtigt.
Monaten, die unsere Regierung im Amt ist, viel (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Das tun Sie jetzt
getan, um die westeuropäische Einigung auf allen aber bitte auch bei uns, minuziös!)
Gebieten voranzubringen. Es hat Kommentare ge-
geben, die der Bundesregierung immer vorgeworfen — Ja. Wir sind, meine Kollegen, keine Wanderer
haben, sie starre zu sehr nach Osteuropa, und zwischen zwei Welten, hat der Bundeskanzler ge-
916 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Bundesminister Scheel
stern hier gesagt. Schon die Regierungserklärung früher bekannte prohibitive Rolle für die Eröffnung
vom 28. Oktober des letzten Jahres machte deutlich, eines Gesprächs. Wir werden und müssen also un-
daß wir unsere Osteuropapolitik auf der festen Ein- sere Politik ständig pari passu gegenüber der
bettung in die westlichen Bündnisse und Verträge Sowjetunion, gegenüber den anderen Staaten des
aufbauen. Von daher verstand sich wohl unsere Warschauer Paktes und gegenüber der DDR wei-
Haltung zu den etwas abenteuerlichen Vorschlägen, terentwickeln. Die Koordinierung dieser drei Ebe-
die wir aus der DDR-Presse und von Politikern ge- nen ist ein sehr komplexes Unterfangen, das ohne
hört haben, wir sollten die Verträge mit unseren Schwierigkeiten und ohne Friktionen möglicher-
westlichen Partnern auflösen. Wir werden, meine weise gar nicht zu bewerkstelligen ist. Doch der
verehrten Damen und Herren — darauf können Weg zu konkreten Ergebnissen muß unweigerlich
Sie sich verlassen —, unser Bündnis mit unseren über eine Verbesserung der bilateralen Beziehun-
Partnern nicht auflösen und nicht lockern, sondern gen führen, und wir müssen auf diesem Wege prak-
wir werden es so pflegen, wie das nötig ist, wenn tisch und auch pragmatisch vorgehen.
man eine Politik treiben will, die wir in unserer Angesichts der unbestreitbaren multilateralen
Regierungserklärung angekündigt haben. Koordinierung auf beiden Seiten und im Hinblick
(Beifall bei den Regierungsparteien.) auf die angestrebte europäische Sicherheitskonfe-
renz ist dies alles andere als ein einfaches Unter-
Meine Damen und Herren, morgen werde ich nehmen. Gespräche über einen gegenseitigen Ge-
meinen französischen Kollegen hier in Bonn tref- waltverzicht sind für uns der Ausgangspunkt zur
fen, um auch mit ihm die aktuellen Fragen wieder Diskussion zahlreicher spezifischer Probleme, die
einmal zu besprechen. Ich meine, dem deutsch- zwischen uns und den verschiedenen Ländern Ost-
französischen Verhältnis kommt eine ganz besondere europas bestehen. Diese Probleme sind so unter-
Bedeutung im Rahmen unserer Osteuropapolitik zu. schiedlicher Art, daß ihre Lösung auf multilateraler
Wir werden die Möglichkeiten des deutsch-franzö- Ebene, etwa auf der so viel diskutierten euro-
sischen Vertrages im Hinblick auf die Koordinierung päischen Sicherheitskonferenz, kaum realisierbar
unserer europäischen Entspannungsbemühungen — erscheint.
ich meine, der der Franzosen und unserer eigenen —
voll und ganz ausschöpfen; denn gerade mit Frank- Es gibt solche Probleme zwischen der Bundes-
reich ergeben sich ja Parallelen dieser Politik wie republik und der Tschechoslowakei, es gibt sie in
mit kaum einem anderen Partner, weil Frankreich verstärktem Maße im Bereich der innerdeutschen
genau wie uns an einer Entspannung in Europa Beziehungen, es gibt sie zwischen der Bundesrepu-
aus eigenem Interesse und aus europäischem Inter- blik und Polen. Wir können es deshalb nur begrü-
esse gelegen ist. ßen, daß das Prinzip der Bilateralität, in dem ja
auch enthalten ist, daß wir nicht überall gleich weit
Von dieser Grundlage der westlichen Einigkeit und gleich rasch vorankommen, von der Sowjet-
aus beginnen wir den umfassenden Dialog mit dem union akzeptiert ist. Wir verhandeln mit Moskau
Osten. Vom Verlauf dieses Dialogs wird es abhän- als Deutsche in Westeuropa, nicht als ein deutscher
gen, ob er zu politischen Vereinbarungen führen Nationalstaat, der bei günstigen Bedingungen das
wird und führen kann. Die Moskauer Konferenz der Lager wechseln könnte.
Warschauer-Pakt-Staaten vom 3. und 4. Dezember
fand ja bemerkenswert sachliche Worte über die Wir haben zur Kenntnis genommen, daß die
neue Bundesregierung und ihre ersten politischen Tschechoslowakei und Ungarn an einer Verbesse-
Entscheidungen. rung der Beziehungen zu uns interessiert sind. Wir
werden hierbei die sich bietenden Möglichkeiten
(Abg. Dr. Stoltenberg: Das hat sich seitdem sorgfältig prüfen und zu gegebener Zeit von uns
schon geändert!) aus möglicherweise Gesprächsvorschläge machen.
— Ja, ich komme darauf. Dies darf auch gar nicht Die politischen Gespräche mit der Volksrepublik
darüber täuschen, Herr Kollege Stoltenberg, daß die Polen stehen unmittelbar bevor. Beide Seiten haben
flexiblere Form des Abschlußkommuniqués dieser die Bereitschaft bekundet, über alle Fragen zu spre-
Konferenz extreme Forderungen an uns zwar über- chen, die zwischen beiden Ländern einer Regelung
decken mag, sie aber nicht ausschließt. Daß sie nicht bedürfen. Beide Seiten wissen, daß eine Norma-
ausgeschlossen sind, haben wir ja in jüngster Zeit lisierung der deutsch-polnischen Beziehungen nur
wieder gesehen. Wir haben auch nicht erwartet, im Verlauf eines längeren Prozesses zu erreichen
daß sie ausgeschlossen sein würden. Aber in der sein wird. Das Ergebnis der schon seit Monaten
Diskussion und in manchen Fragen wurde deutlich, laufenden Verhandlungen über den Ausbau der
wie merkwürdig schillernd im Augenblick die Dik- wirtschaftlichen Beziehungen, bei denen es auch um
tion der Sowjetpolitik ist, wie merkwürdig viel- industrielle und technische Kooperation und um die
gestaltig sie sich zeigt. Auf Grund dieser Erkenntnis Gewährung von Krediten geht, wird ebenfalls Teil
wird bei dem einen oder anderen Resignation auf- dieses Prozesses sein. Die so außerordentlich be-
kommen. Darin liegen natürlich auch Möglichkeiten deutsamen politischen Gespräche mit Polen können
der Politik. nicht mit schönen Unverbindlichkeiten eingeleitet
Immerhin — das darf man wohl sagen — spielen werden. Es gibt manche Fragen, über die gesprochen
Vorbedingungen für die Entwicklung der Beziehun- werden muß. Doch von Anfang an wird man auch
gen zwischen den sozialistischen Ländern auf der darüber reden müssen, wie eine Formel des guten
einen Seite und der Bundesrepublik Deutschland Willens gefunden werden kann, ich meine: man
auf der anderen Seite zunächst nicht mehr die von wird über die Oder-Neiße-Linie sprechen müssen.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 917
Bundesminister Scheel
Wir sind fest entschlossen, unseren guten Willen so gehende Lösung bilateraler Probleme die Erfolgsaus-
unzweideutig zum Ausdruck zu bringen, wie es die sichten einer solchen Konferenz wesentlich verbes-
rechtlichen und politischen Gegebenheiten irgend sern würden. Den bilateralen Bemühungen kommt
gestatten. Wir hoffen, daß auch auf der anderen also eine besondere und große Bedeutung zu. Sie
Seite guter Wille vorhanden ist, damit eine Ant- müssen auch von beiden Seiten im Wissen darum
wort in dieser so schwierigen Frage gefunden wird, entwickelt werden, daß eine erfolglose europäische
die von beiden Seiten gleichermaßen akzeptiert Sicherheitskonferenz schlimmer wäre als gar keine
werden kann. Sicherheitskonferenz.
Die verschiedenen bilateralen Gewaltsverzichts- (Zustimmung bei den Regierungsparteien.)
verhandlungen sind eng mit den Bemühungen der
Meine Damen und Herren, wenn wir auf eine sorg-
drei westlichen Verbündeten koordiniert, eine Ver- fältige Vorbereitung einer solchen Konferenz drän-
besserung des Status von West-Berlin zu erreichen. gen, tun wir das nicht etwa, um damit, wie man
In diesem Zusammenhang sind die jüngsten Äuße- manchmal sagt, Vorbedingungen zu stellen, sondern
rungen der sowjetischen Regierung aufschlußreich wir möchten die sachliche Voraussetzung für den Er-
und keineswegs entmutigend, wenn auch für die folg einer solchen Konferenz schaffen. Eine euro-
Eröffnung der Verhandlungen noch kein fixes Datum päische Sicherheitskonferenz — das ist für uns völlig
in Aussicht genommen worden ist. klar — darf keinesfalls den Status quo in seiner für
Unabhängig von den bilateralen Fragen gibt es uns Deutschen so unerträglichen Auswirkung blind-
im Verhältnis zum Osten zweifellos auch multilate- lings festschreiben. Das muß gerade in dieser De-
rale Probleme. Die Debatte über die europäische batte betont werden, weil ja nicht zu übersehen ist,
Sicherheitskonferenz dauert unverändert an. Unsere daß die DDR an einer solchen Konferenz teilnehmen
Einstellung gegenüber dem Vorschlag einer solchen würde.
Konferenz ist im Grundsatz bekanntlich positiv. Den- Wir leugnen nicht, daß die DDR ein zweiter Staat
noch ist es bei dem bisherigen Stand der Diskussion in Deutschland ist. Ich bin froh, daß Carlo Schmid so
angebracht, Skepsis zu bewahren. Auch darin stim- bedachtsame Worte über dieses Problem hier ge-
men wir mit unseren Verbündeten überein. Sicher funden hat. Die Feststellung, daß das so ist, hat
ist, daß die Tagesordnung einer solchen Konferenz zweifellos Konsequenzen in dritten Ländern. Zu die-
keinesfalls auf Fragen der wirtschaftlichen Koopera- sen Konsequenzen ist von Herrn Dr. Kiesinger heute
tion beschränkt bleiben kann. Auf dieser Konferenz vormittag eine Frage gestellt worden. Ich darf bei
darf das Thema „Sicherheit" mit allen seinen Aspek- dieser Gelegenheit daran erinnern, meine Kollegen,
ten nicht ausgeklammert werden. Die Sowjetunion daß eben diese Frage und ihre Behandlung durch
spricht in jüngster Zeit nicht mehr von einer euro- unsere Diplomatie mir die zweifelhafte Ehre einge-
päischen Sicherheitskonferenz, sondern von einer bracht hat, eine ganze Seite im „Neuen Deutschland"
gesamteuropäischen Konfernz. Sie spricht auch sehr zu füllen, wo ich jetzt immerhin als Alleinvertre-
viel von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und ihrer tungs-Buhmann groß herausgestellt werde.
Notwendigkeit.
(Abg. Dr. Stoltenberg: Eine beachtliche Ent
(Abg. Blumenfeld: Hat Sie das überrascht?) wicklung !) .
— Herr Kollege Blumenfeld, ich bin durch nichts zu Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die
überraschen. Ich prüfe nur all das, was ich sehe und Haltung der Bundesregierung zu diesem Punkt deut-
höre. lich machen! Unsere These mag auf den ersten Blick
Ich wiederhole noch einmal: wir meinen, daß das sogar etwas kompliziert sein; man darf uns dennoch
Thema „Sicherheit" besprochen werden muß. Das an dieser These messen. Wer draußen in der Welt
bedeutet, daß dort Gespräche geführt werden müs- das deutsche Problem versteht, der wird eine ver-
sen, die zwei Sicherheitssysteme angehen. Über die nünftige Regelung der innerdeutschen Beziehungen
Sicherheit kann man nicht bilateral verhandeln; die wollen und wollen müssen. Wir versuchen, eine
Sicherheitssysteme müssen miteinander sprechen vernünftige vertragliche Regelung im Interesse des
können. Die Bundesregierung wird in enger Zusam- Friedens in Europa zu 'erreichen. Dieser ehrliche Ver-
menarbeit mit ihren Partnern eigene Vorschläge für such sollte von außen nicht gestört werden. Das ist
die Tagesordnung einer europäischen Sicherheits- die These.
konferenz, wie ich sie immer wieder nennen möchte, Diesem Prinzip liegt eine saubere politische Moral
entwickeln und zu gegebener Zeit vorlegen. zugrunde. Es enthält zudem ein dynamisches Ele-
Aus der sowjetischen Sicht des Sicherheitspro- ment, insofern nämlich, als es die internationale
blems ergibt sich für uns selbstverständlich auch, daß Respektierung der DDR von Idem Maß an Einsicht
wir nicht darauf ausgehen können, die vorhandene abhängig macht, das die Regierenden in Ostberlin
Solidarität im Warschauer Pakt zu zersetzen oder für den Wunsch der europäischen Völker nach fried-
einen osteuropäischen Partner gegen den- anderen licher Annäherung und für die Bedürfnisse der Men-
auszuspielen. Ratschläge dieser Art, die man ge- schen in Deutschland an den Tag legen. Alle sind
legentlich schon einmal hört, sind einfach illusionär daran interessiert, daß in Europa ein dauerhafter
und unrealistisch. Wenn es richtig ist, daß multi- Friede herrscht. Das Verhältnis der beiden Teile
laterale Sicherheitsfragen mit Aussicht auf Erfolg Deutschlands list der Schlüssel für einen solchen
nur auf einer multilateralen Sicherheitskonferenz in europäischen Frieden. Die Welt wird die DDR da-
Angriff genommen werden können, so ist es zugleich nach beurteilen, ob sie im Verhältnis zur Bundes-
auch richtig, daß die Vorklärung und möglichst weit- republik Vernunft und Mäßigung zeigt und dadurch
918 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Bundesminister Scheel
die Verwirklichung einer europäischen Friedens- — der Verfasser erkennt ihn nicht wieder — wurde
ordnung fördert oder nicht. kürzlich von einem prominenten Oppositionspoliti-
ker, der ihn offenbar nicht wiedererkannt hat, an
(Beifall bei der FDP.)
die Adresse der Bundesregierung gerichtet. Meine
Meine Damen und Herren, wir sind weit gegan- Damen und Herren, ich darf diesen Satz hiermit als
gen, um unseren Verständigungswillen auch gegen- ein goldenes Wort für eine konstruktive Oppo-
über dem anderen Teil Deutschlands darzutun. Wir sitionspolitik zurückgeben.
haben von der Existenz der DDR als eines zweiten (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Staates innerhalb einer deutschen Nation gespro-
chen. Wir haben diesem Staat erneut gleichberech-
tigte Verhandlungen angeboten, die zu bindenden
Präsident von Hassel: Das Wo rt hat der Abge-
ordnete Borm. Für ihn sind 25 Minuten angemeldet.
Abmachungen führen sollen. Doch wir werden
kompromißlos darauf bestehen, daß beide deutschen
Staaten die deutsche Nation bilden und die lang- Borm (FDP) : Herr Präsident! Meine Damen und
fristige Option auf die nationale Einheit in einem Herren! Es ist heute bereits einmal gesagt worden:
friedlich geordneten Europa nicht aufgeben dürfen. Gesamtdeutsche Politik oder die Betrachtung über
Nun mag man sich um Worte streiten: ob das jetzt die Lage der Nation läßt kein Gebiet unberührt.
„nationale Einheit" oder „staatliche Einheit" heißt. Auch die Methode, mit der wir hier diese Debatte
Wenn man sagt: „die staatliche Einheit", wird das führen, zeigt, wie vielschichtig das Thema ist. Wir
ja wieder relativiert, wenn man erkennen muß, daß haben grundsätzliche Erwägungen gehört, die sehr
es in unserer Zeit nicht nationalstaatliche Lösungen lehrreich waren und denen man, wie etwa den Aus-
geben kann, sondern vielleicht nur andere Lösun- führungen des Herrn Kollegen Strauß, durchaus ein .

gen. Ich glaube, hier sollte man keinen Streit um hohes Maß von Überzeugungskraft beimessen kann.
Worte führen, sondern hier sollte man allein auf die Wir haben auch über die Praxis geredet. Gerade
Sache sehen. diese Verbindung von Theorie, großen Übersichten
und Praxis ist doch das, was das Wesen der Politik
Meine Damen und Herren! Innerdeutsche Politik ausmacht.
und Außenpolitik sind auf das sorgfältigste mitein-
ander koordiniert. Sie bilden eine einheitliche Poli- Herr Kollege Strauß, ich teile beispielsweise Ihre
tik der konzertierten Initiativen, nicht zuletzt auch Beurteilung der Beweggründe und der Praktiken der
im Hinblick auf die oft besorgt gestellte Frage nach Sowjetunion durchaus in weitem Maße. Ich teile
dem Risiko. Natürlich kann da oder dort die eine auch Ihre Ansicht, daß Bundeskanzler Adenauer
oder andere Initiative der Bundesregierung erfolg seinerzeit seinen Entschluß, den Vorschlag der So-
los bleiben. Wer sollte das denn ausschließen? Das, wjetunion von 1952 zurückzuweisen, in bester Über-
meine Damen und Herren, ist in unserem nüchternen zeugung mit den Gründen, die Sie vorgetragen
und wirklich nicht von Illusionen genährten Konzept haben, vor sich selbst motiviert hat. Aber damit ist
mit eingeschlossen. Wenn unsere Initiativen erfolg- noch nicht gesagt — darum geht es, meine Damen
reich sind, werden sie dazu beitragen, eine euro und Herren —, ob diese Entscheidung damals richtig
päische Ordnung zu schaffen, in der sich auch die war. Es ist auch noch gar nichts darüber ausgesagt,
beiden deutschen Teile einander annähern können. ob sich diese Entscheidung zum Wohle unseres Vol-
Sollten sie ohne Erfolg bleiben, hinterlassen sie kes ausgewirkt hat. Darüber wollen wir einige
ohne Zweifel ein gestärktes westliches Bündnis, das Worte reden.
für alle Welt sichtbar vom Willen zur friedlichen Eines hat bereits auch diese Debatte heute ge-
Ordnung auch zwischen Völkern konträrer Gesell- zeigt: Die Widerstände gegen den Versuch einer
schaftsstruktur getragen ist. neuen, aktiven und dynamischen Deutschlandpolitik
(Beifall bei der FDP.) des Dialogs und der Verständigung sind hartnäckig.
Sie sind hartnäckig nicht nur in der DDR, sondern
Meine Damen und Herren! Die Politik der Bun- hartnäckig auch bei uns, vielleicht aus einer ideolo-
desregierung ist eine Politik der Aufrichtigkeit und gisch oder aus sonstigen Gründen verursachten ver-
der Ehrlichkeit gegenüber allen. Unabhängig davon, krusteten Position heraus.
in welchem Maße sich die gleiche Ehrlichkeit auch Zur Praxis! Bereits in der Regierungserklärung
bei denen manifestiert, mit denen wir es inter- hat die neue Bundesregierung ausgesprochen, daß
national zu tun haben, kann sie unsere Stellung in es auf deutschem Boden derzeit in der Tat zwei
der Welt moralisch und politisch nur festigen. Die deutsche Staaten gibt. So ist es, und das ist das
Beweisführung ist nicht mit Worten zu erbringen. Fundament, auf dem konsequenterweise weiter ge-
Sie liegt in der nahen und in der ferneren Zukunft baut werden muß, wenn wir Fortschritte für unser
beschlossen. deutsches Volk machen wollen. Ob es uns paßt oder
„Politik muß auch die Fähigkeit haben, Entwick- nicht, aber es ist nun einmal die Realität.
lungen abwarten zu können, - Wenn es zwei Staaten gibt, dann ist doch die
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU) Frage berechtigt, ob nach 25 Jahren Trennung —
einer nicht ohne unsere Mitschuld erfolgten Tren-
allerdings zum Ablauf dieser Entwicklungen dann nung der Nation — diese Nation überhaupt noch
etwas beizutragen". Dieser letzte Satz existiert, ob sie noch existiert im Bewußtsein der
(Abg. Dr. Stoltenberg: Das ist eine neue Bürger der DDR und der Bürger der Bundesrepublik,
Erkenntnis!) und zwar ob sie deckungsgleich in der Auffassung
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 919
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existiert. Diese Frage ist nach 25 Jahren doch durch- grüßt. Es hieß — ich zitiere —: „Wir begrüßen es
aus am Platze. unsererseits, daß die Bundestagsabgeordneten end-
Wir haben uns auch zu fragen, ob es noch Kräfte lich den Weg nach Berlin gefunden haben." Eine
gibt — auch emotionale Kräfte — und ob es noch Antwort wurde nicht erteilt. Heute werden Bundes-
einen Willen gibt, der einzusetzen ist für die Lö- regierung und Bundestag aufgefordert, die soge-
sung der deutschen Probleme, die uns so am Herzen nannten „aggressiven Präsenzen" in Berlin zu unter-
liegen als unser spezifischer Beitrag zur Beendigung lassen, und der Regierende Bürgermeister wird ganz
der europäischen Krisensituation. Wir haben uns offen mit Pressionen bedroht, wenn diese Präsenzen
weiter zu fragen, ob wir uns immer bewußt sind, stattfinden. Ich kann das nicht als einen eklatanten
daß unser Problem der geteilten Nation weit über Erfolg der Politik der Stärke bezeichnen.
unser eigenes Volk hinausgreift. Denn es ist ge- (Sehr gut! bei der FDP.)
wissermaßen auch so — wenn wir unsere Aufgabe
Auch innenpolitisch wurde im Zuge der verfehlten
richtig fassen —: es ist der Testfall für die Möglich-
Politik der Stärke ein undifferenzierter und rein
keiten nicht nur des Zusammenlebens, sondern auch
emotionaler Antikommunismus und Antibolschewis-
des Zusammenarbeitens von Teilen, die ideologisch
mus vom Prinzip her aufgewärmt, der vielen in un
unter fundamental verschiedenen Lebensformen
leben. unserem Lande noch heute den Blick für die wahre
Situation da drüben und den Blick in die Probleme,
Wir wollen versuchen, ohne Ressentiment, ohne die in den kommunistischen Ländern gesellschafts-
Schärfe eine nüchterne Bilanz der bisherigen politisch und politisch anstehen, verstellt; und es
Deutschlandpolitik aufzumachen. Es scheint gerade wäre doch sehr gut, sich hierüber klarzuwerden, um
nach dem Regierungswechsel jetzt an der Zeit, die beurteilen zu können, welche Wirkungsmöglich-
Entscheidungen der Vergangenheit, nachdem ihre keiten unsere Aktionen haben.
Auswirkungen für unser Volk sichtbar geworden
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
sind, zu werten und für die Zukunft nutzbar zu
will Sie nicht kränken, aber ich glaube, in einer
machen. Außerdem werden dann auch gewisse
Stunde wie heute sollte man doch versuchen, einige
Dinge klargestellt, wer für etwas geradezustehen Dinge sehr klar auszusprechen. Sie haben mit der
hat, ohne daß wir von Schuld und Sühne sprechen Duldung dieses sich bildenden Antikommunismus
wollen. Wir wollen nur hoffen, daß es nicht wieder ein Mittel benutzt, das seit 1917 sich nicht gerade
zur Diffamierung derjenigen kommt, die, getrieben sehr gut für unser Volk ausgewirkt hat.
von wirklicher Sorge um unsere Nation, nach neuen
Ansatzpunkten und nach neuen Möglichkeiten (Zurufe von der CDU/CSU: Na, na! — Hört!
suchten. Hört!)
Konrad Adenauer hat — wir wissen es alle — Sie haben damit — natürlich ungewollt — die Posi-
lange Zeit die Politik betrieben, die man — richtig tion derjenigen erschwert, die endlich heute auch mit
oder falsch — als Politik der Stärke bezeichnet hat. der UdSSR und mit dem gesamten Osten in ein
Er hat sie betrieben, um, wie er sagte — und ihm normales, in ein gutnachbarliches Verhältnis kom-
ist zu glauben, subjektiv zu glauben —, dadurch men wollen.
die Spaltung unserer Nation zu überwinden. Heute Dieser undifferenzierte Antikommunismus hat
steht das Ergebnis fest. Wir sollten uns nicht auch dazu geführt, daß im Bewußtsein unseres Vol-
scheuen, dieses Ergebnis zu nennen: diese Politik kes nicht die politische Auseinandersetzung mit dem
hat unsererseits zwangsläufig die Spaltung der Kommunismus gesucht worden ist, sondern daß die
Nation nicht beseitigt, sondern sie vertieft. Gerechter- dringend notwendig gewesene gesellschaftspolitische
weise allerdings muß natürlich daran erinnert wer- Auseinandersetzung mit ihm reduziert worden ist
den, daß unsere Alliierten ebenfalls der Meinung auf den Vergleich der Produktionszahlen an Autos
waren, diese sogenannte Politik der Stärke sei und Kühlschränken und den Verbrauch an Luxus-
praktizierbar. nahrungsmitteln und Südfrüchten. Das kommt offen-
Aber Ende der fünfziger und Anfang der sech- bar nicht an das Problem heran.
ziger Jahre spätestens war es doch wohl an der (Zuruf von der CDU/CSU.)
Zeit, daß man die Konsequenzen aus diesem sicht-
bar gewordenen Nicht-Erfolg — ich will nicht sagen Sie haben sich durch Ihr Schema der Wieder-
vereinigung, durch die Politik der Postulate und
„Mißerfolg" — hätte ziehen müssen. Unsere Ver-
Formeln, die sich inzwischen verselbständigt haben,
bündeten haben es nicht an derartigen Versuchen
fehlen lassen. Die damalige Bundesregierung war ohne Erfolge zu bringen, in eine fatale Selbst-
dazu nicht bereit. Im östlichen Lager wird sichtbar, täuschung hineingesteigert. Dieses Trugbild über
unsere Situation, das in unserem Volk heute noch
daß das starre Festhalten der Bundesrepublik an,
sagen wir, unhaltbar gewordenen Positionen den besteht, ist eine Folge dieser Ihrer eigenen Selbst-
- täuschung. Sie haben die deutsche Politik daran ge-
Scharfmachern im Osten das Handwerk erheblich
erleichtert hat. Die Wechselwirkung ist handgreif- hindert, auf die sich ständig verändernden gesell-
lich. schaftlichen und weltpolitischen Bedingungen ela-
stisch, und was noch wichtiger ist, rechtzeitig zu
Gestatten Sie einem Berliner, dafür ein sehr reagieren. Ihre Formeln haben schon lange keinen
eklatantes Beispiel anzuführen. Als der Bundestag Inhalt mehr. Sie haben und wir alle haben mit die-
am 19. und 20. Oktober 1955 sich erstmalig in Berlin sen Formeln den Bau der Berliner Mauer nicht ver-
versammelte, wurde er von der Volkskammer be- hindern können. Diese Formeln wirkten in der Drit-
920 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Borm
ten Welt als Bumerang. Sie behinderten den begin- seinerzeitigen Angebots — als weiland Bundes-
nenden Dialog zwischen den Weltmächten USA und kanzler — auf Gewaltverzicht erschüttert hat.
UdSSR, was man auch sehr deutlich zu verstehen (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!)
gegeben hat; ich erinnere an 1962, an den Vorgang
mit Herrn Grewe. Mit Ihrem Anspruch, der allein — Ich werde es Ihnen sagen: Das ist in seiner
kompetente Interpret der westlichen Bündnispolitik Glaubwürdigkeit drüben durch die heutigen Aus-
in Europa zu sein, lagen Sie bereits zu Beginn der führungen erschüttert worden. Sie werden es hören.
sechziger Jahre quer zur weltpolitisch dringend not- (Abg. Kiep: Wo drüben?)
wendigen Entspannungspolitik. Sie haben beharrlich
— Drüben im Ostlager.
versucht, die DDR aus der deutschen Ostpolitik aus-
zuklammern. Sie haben versucht, die UdSSR bei der Er sprach im bekannten Ton der Vergangenheit
Gestaltung Ihrer Ostpolitik zu umgehen. Damit nur von der Zone. Er erklärte heute, Gewaltver-
haben Sie in Wahrheit das östliche Lager nicht zicht mit der UdSSR solle von Moskau her gesehen
getrennt, sondern — es war sicherlich nicht Ihre die Bundesrepublik nur in die Zange nehmen. Er
Absicht — es verfestigt. erklärte, die DDR sei kein Partner, sondern sie sei
ein Satellit, was dann natürlich auch für alle ande-
In der Deutschlandpolitik der Großen Koalition ren Ostblockländer gelten muß.
haben Sie die Richtlinienkompetenzen, die dem Bun-
deskanzler zustehen, voll in Anspruch genommen, (Zuruf von der CDU/CSU: Bestreiten Sie
und damit wurden die von Ihnen vorher aufgebau- das?)
ten Positionen weiter beibehalten. Dies führte zu — Er erklärte das hier, und ich rede von der
einer Politik der nur halben Schritte und keinesfalls Glaubwürdigkeit.
aus der Sackgasse heraus. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist falsch!)
Ich darf feststellen, daß in meiner Partei und in Er wies auch auf das weltrevolutionäre Ziel der
der SPD immer klarer jener Prozeß zutage trat, der UdSSR hin und erklärte, vom Standpunkt der CDU
mit den Gegebenheiten zu rechnen sich bemühte. Ob werde kein Tüpfelchen abgenommen.
wir immer richtig gehandelt haben oder handeln
werden, weiß keiner; aber bemüht haben wir uns. (Zurufe von der CDU/CSU.)
Was war daraufhin Ihre Antwort? — Sie fanden Und dann glauben Sie, daß Sie da drüben mit
die bösen Worte von der „Anerkennungspartei", Ihrem Angebot von Gewaltverzicht ernst genommen
von „Ausverkauf", „Verzichtpolitik", ja sogar von werden, und wundern sich, daß darauf nicht ein-
„nationalem Verrat". Die neue Bundesregierung ist gegangen wird! Ich frage Sie, ob es, wenn das
jetzt damit konfrontiert, daß man in der Welt vom auch heute noch die Meinung der Bundesrepublik
leidigen „querelle d'allemand" spricht. Sehen Sie wäre, überhaupt noch einen Sinn hätte, in Verhand
denn nicht, daß diese Dinge uns keinen Deut weiter- lungsversuche einzutreten.
gebracht haben? Ist es nicht absurd, daß sich die
Bundesregierung, die damals unter Ihrer Führung (Abg. Baron von Wrangel: Sie reden an der
gestanden hat, in ihren Verhaltensweisen gegen- Sache vorbei, Herr Borm!)
über der 'dritten Welt und gegenüber den Proble- — Nein, ich rede gar nicht an der Sache vorbei.
men in der UNO hat davon bestimmen lassen, ob
(Abg. Baron von Wrangel: Natürlich!)
dadurch eventuell die DDR aufgewertet werden
würde oder nicht? Es gehört nämlich dazu, daß wir uns darüber einmal
unterhalten.
Nun verlangen Sie — und das geht in Zukunft —
Gemeinsamkeiten in der Deutschlandpolitik. Das Er sagte, Gemeinsamkeit könne es nur geben,
wäre im Prinzip wünschenswert, und wir würden es wenn die Bundesregierung die nationalstaatliche
alle begrüßen. Aber dazu sind denn doch wohl Wiedervereinigung als einzig mögliche Lösung an-
einige Voraussetzungen nötig. Zunächst müssen Sie sehe. So hat er gesagt.
den Anspruch aufgeben, das alleinige Erfolgsrezept (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Wer
zur Lösung der deutschen Frage in der Hand zu hat das gesagt?)
haben. Dann müssen Sie dafür sorgen, daß Ihrer-
seits nicht die Bundesregierung aufgefordert wird, — Sie können das Protokoll nachlesen.
zur Politik Konrad Adenauers zurückzukehren. Auch (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Das
müssen Sie zunächst — Sie brauchen es nicht zu werde ich tun, und ich fürchte, daß Sie sich
tun; aber es ist ein Rat — in Ihrem eigenen Lager verhört haben!)
Klarheit schaffen; denn die Auslassungen Ihrer Pro-
minenz sind allzu oft widersprüchlich. Unter diesen Umständen werden Sie sehr lange
mit sich selbst ringen müssen, bis eine Gemeinsam-
-
(Abg. Baron von Wrangel: Das müssen keit möglich ist.
ausgerechnet Sie uns sagen, Herr Borm!) (Abg. Baron von Wrangel: Das muß ausge
— Ich kann es Ihnen belegen. rechnet die FDP sagen!)
— Ja, das muß die FDP sagen.
Ferner darf ich Sie darauf aufmerksam machen,
daß das, was der Parteivorsitzende der CDU heute Aber nun zu etwas anderem. Es war nun einmal
von sich gegeben hat, , die Glaubwürdigkeit seines notwendig, daß das ausgesprochen wurde. Die Bun-
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Borm
desregierung hat mit der Drucksache VI/223 ein be- nachdem doch niemand bestreiten kann, daß z. B.
zeichnendes Dokument vorgelegt seinerzeit in der Saarfrage und in vielen, vielen
Beiträgen von Mitgliedern Ihrer Partei in der
(Oh-Rufe von der CDU/CSU)
Deutschlandfrage rein nationalem Denken Vorschub
— ein bezeichnendes, kennzeichnendes Dokument —, geleistet wurde.
(Abg. Leicht: „bezeichnend" ist richtig!)
Borm (FDP) : Verzeihen Sie, Herr Kollege, ich
das in seinem historischen Teil klar erkennen läßt, habe Ihnen kein nationalstaatliches Denken vorge-
daß sowohl von unserer Seite als auch von der ande- worfen, sondern ich habe nur gesagt, daß es jetzt,
ren Seite her die jeweiligen Vorschläge, die von die- unter den heutigen Umständen auch andere Mög-
ser oder jener Seite gemacht wurden, kategorisch lichkeiten gibt. Sie haben selbst von europäischen
mit einem Nein gekontert wurden. Die Folgen habe Lösungen und dergleichen gesprochen. Vorgeworfen
ich zu skizieren versucht., habe ich Ihnen nichts. Ich wäre der letzte, der einem
(Abg. Baron von Wrangel: Geschichtsklitte Deutschen nationales Denken vorwirft, dessen dür-
rung, Herr Borm!) fen Sie sicher sein.
— Geschichtsklitterung? Das müssen Sie beweisen.
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine
(Abg. Baron von Wrangel: Das können wir zweite Zwischenfrage des Abgeordneten von Gut-
auch!) tenberg?
Was also hat die neue Bundesregierung zu tun?
In der Einführung zum Bericht der Bundesregierung Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) :
steht auf Seite 2: Herr Kollege Borm, wollen Sie leugnen, daß Sie
Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutsch- eben in Ihrer Rede den Rednern der CDU/CSU-
lands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 Fraktion, die heute gesprochen haben, vorgeworfen
in zwei Staaten gegliedert. Hinzu kommt das haben, daß sie eine Lösung der deutschen Frage rein
besondere Besatzungsgebiet Berlin ... unter nationalstaatlichem Vorzeichen gesehen hät-
ten?
Diese Feststellung — ich wiederhole es, meine Da-
men und Herren — bedeutet für die deutsche Politik Borm (FDP) : „Lediglich" habe ich gesagt. Es
die Notwendigkeit, nun einmal von der Zweistaat- gibt nämlich noch andere Möglichkeiten. Ich habe
lichkeit auszugehen. nicht gesagt „rein", ich habe gesagt „lediglich",
(Abg. Leicht: Jetzt haben wir es!) nichts weiter. — Bitte!
Sie bedeutet weiter die Abkehr von der Anschau-
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine wei-
ung, es könne lediglich eine nationalstaatliche Wie- tere Zwischenfrage des Abgeordneten Steiner?
dervereinigung geben. Es bedeutet für die beiden
deutschen Staaten die notwendige Abkehr von der
bereits zur Psychose gewordenen Anerkennungs- Borm (FDP): Bitte!
neurotik.
Steiner (CDU/CSU) : Herr Kollege Borm, Sie ver-
Die DDR hat an den Herrn Bundespräsidenten treten doch Berlin. Darf ich an Sie die Frage richten,
einen Vertragsentwurf geschickt, und der Herr Bun- ob Sie sich mit den Erklärungen einverstanden er-
deskanzler hat erklärt, daß dieser Vertrag in der klären, die der Leonid Samjatin, der Sprecher des
vorliegenden Form unannehmbar sei, was ja wohl auswärtigen Amts der Sowjetunion — ich zitiere das
für uns alle eine unbestreitbare Tatsache ist. Den- „Neue Deutschland" von gestern — von sich gege-
noch wird früher oder später doch einmal ein Ver- ben hat:
tragswerk entstehen müssen. Es gibt heute aller-
dings gute Gründe dafür, dieses Problem nicht, wie Die Bundesrepublik kennt unseren Standpunkt,
es von der DDR gewünscht wird daß West-Deutschland keinerlei Rechte auf
diese Stadt hat. Der internationale Status dieser
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg besonderen politischen Einheit West-Berlin ist
meldet sich zu einer Zwischenfrage) ein Element des territorialen Status quo in
— sofort, Herr Kollege, lassen Sie mich bitte nur Europa.
den Satz fertigmachen —, an den Anfang zu stellen.
Borm (FDP) : Herr Kollege Steiner, über diese
— Bitte sehr! Frage werde ich noch sprechen. Sie brauchen keinen
Berliner zu fragen, ob er etwa der Meinung wäre,
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- daß wir nicht zur Bundesrepublik gehörten. Die Mei-
schenfrage des Abgeordneten von Guttenberg? nung der Sowjetunion ist ihr unbenommen. Unsere
- ist eine andere.
Borm (FDP) : Bitte sehr! Ich habe vorhin gesagt, meine Damen und Herren,
es gibt gute Gründe dafür, das Problem eines Ver-
Freiherr von und zu Guttenberg (CDU/CSU) : tragsentwurfes, wie er uns vorgelegt worden ist,
Herr Kollege Borm, ich möchte Sie fragen, woher nicht an den Anfang zu stellen, denn zuvor — und
Sie als Mitglied der FDP den Mut nehmen, der da stimme ich mit Herrn Kollegen Gradl völlig über-
CDU/CSU nationalstaatliches Denken vorzuwerfen, ein — muß geklärt werden, was nachher kommt.
922 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970
Borm
Wenn wir einen Vertrag schließen und es bleibt Bundesrepublik über den von ihm eingereichten
alles, wie es ist, können wir es sein lassen. Vertragsentwurf ausließ, führte er interessanter-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) weise aus, daß er sich für einen solchen Vorgang
ein besseres Objekt als gerade diesen Entwurf vor-
Es ist nämlich in der Tat so — da hat Herr Gradl stellen könne. Darin sind wir uns wohl alle einig.
auch recht —, daß das Problem an der Mauer dann Aber das kann einen doch irgendwie auf die Idee
durchaus mit geklärt werden muß. Es reicht nicht bringen, daß man das einmal durchdenken sollte.
aus, sich bei einem Vertragsabschluß auf den guten Vielleicht könnte das eines Tages dazu führen, daß
Willen der DDR zu verlassen. in beiden deutschen Staaten — und zwar getrennt,
Ferner muß vorher der völkerrechtliche Status der aber mit der gleichen Fragestellung — die Nation
beiden Vertragspartner ausgehandelt sein; denn darüber befragt wird, ob sie sich eine nationalstaat-
wenigstens dieser Konfliktstoff muß beiseite ge- liche oder eine europäische Lösung wünscht. Daß
räumt sein. Solange hier Unklarheit herrscht, meine dem natürlich Verhandlungen mit den vier Mächten
Damen und Herren — das ist ja einer der Punkte, vorausgehen müssen, brauchen wir nicht zu sagen.
die Sie klären wollen, bevor Sie zu anderen über- Über den Zeitpunkt braucht man auch noch nicht zu
gehen —, kann nicht mit zweckdienlichen Ergebnis- reden. Aber im Prinzip wäre doch die Durchführung
sen in Einzelfragen gerechnet werden. dieses Gedankens eine saubere und eindeutige Lö-
sung des deutschen Problems, und zwar unter voller
Jetzt komme ich zu Berlin. Der Herr Bundeskanz- Wahrung des Selbstbestimmungsrechts. Wir sollten
ler hat natürlich auch über Berlin gesprochen. Als den Gedanken nicht ganz außer acht lassen.
Berliner Abgeordneter verzeichne ich mit Befriedi-
gung die Äußerung des Herrn Bundeskanzlers über Ich komme zum Schluß. Zwanzig Jahre Antagonis-
die Probleme dieser Stadt. Berlin ist unter der Ver- mus in Mitteleuropa sind nun nachgerade genug.
antwortung seiner Schutzmächte und unter deren Es sollte endlich ein Schlußstrich ohne gegenseitige
Obhut — das ist auch noch eine Antwort auf Sie, Aufrechnung gezogen werden. Meine Damen und
HerKolgStin—fsmWrchat-,Re Herren von der CDU/CSU, ich wollte Ihnen nicht
und Finanzsystem der Bundesrepublik verankert. wehtun. Ich wollte meinen Standpunkt klarlegen.
Wenn es gelingt, zu vertraglichen Vereinbarungen Wer mich kennt, weiß, daß das nicht böswillig ge-
mit der Gegenseite zu kommen, so könnte dies unter meint ist. Aber auch nur so ist ein Neubeginn zum
Beibehaltung des bisherigen Zustands die Position Wohl unseres Erdteils und im Dienste des Friedens
der Stadt nur stärken und nicht etwa schwächen, möglich.
wie man es manchmal von denen hört, denen an Es gibt viele Dinge, die wir als Deutsche leisten
irgendeiner Kontaktaufnahme oder an einem Aus- können. Lassen Sie uns einmal gesamtdeutsch ver-
gleich mit der DDR gar nichts gelegen ist. Denn das suchen: verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit,
wissen Sie doch auch alle, meine Herren: So selten Ausdehnung des Handels, Großprojekte der Infra-
sind bei uns hüben und drüben jene überständigen struktur, gemeinsame Entwicklung, intensive Ver-
Zeitgenossen nicht, die sich als Jongleure des Kalten bindung der Wissenschaftler, Zusammenarbeit in der
Krieges sehr geschickt ihre Bälle zuspielen. Entwicklungshilfe und Unterstützung zum Wohle der
Wie ein roter Faden zieht sich die Forderung nach Dritten Welt. Alle diese Dinge, meine Damen und
dem Recht auf Selbstbestimmung des deutschen Herren — gesamtdeutsch, mit der DDR zusammen
Volkes durch die Politik der Nachkriegszeit. In der durchgeführt; lassen Sie uns das versuchen —, die-
Tat wird es wohl niemanden geben, der auf dieses nen dem Frieden. Und aus einer solchen sachlichen
urdemokratische Recht verzichten wollte. Früher Zusammenarbeit erwächst doch dann zwangsläufig
oder später wird sich die deutsche Nation, heute in ein besseres Verstehen, und die so dringend not-
beiden Staaten lebend, unmittelbar äußern müssen, wendige bessere Atmosphäre könnte entstehen.
welchen Willen sie hinsichtlich ihrer politischen Zu- Und in der Tat, der Herr Bundeskanzler nannte eine
kunft hat. solche Handlung eine Macht des Friedens. Und tat-
sächlich: Eine solche Macht des Friedens, eine ge-
Von den verschiedensten Institutionen durchge- samtdeutsche Macht des Friedens — das ist das,
führte Befragungen haben ergeben, daß die Bürger was wir in den siebziger Jahren brauchen und was
in der Bundesrepublik wesentlich unbefangener und die Welt braucht. Ich danke Ihnen für Ihre Auf-
realistischer über das deutsche Problem denken, als merksamkeit.
es manchem vielleicht angenehm ist, weil diese Un-
befangenheit nicht so recht in sein Konzept passen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
will. Diese Entwicklung wird sich von Jahr zu Jahr
mit dem Heranwachsen der Jugend verstärken. Auf
diesen Prozeß hat mein Kollege Mischnick mit vol- Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
lem Recht bereits hingewiesen. Nun könnte man in ren! Zur Geschäftslage darf ich Ihnen folgendes
der Bundesrepublik verhältnismäßig einfach feststel- darstellen. Die Fraktionen sind übereingekommen,
len, welche Lösung gewünscht wird, eine national- daß wir heute abend gegen 19 Uhr schließen, daß
staatliche oder vielleicht eine europäische. Man die Meldungen, die noch bei mir auf der Tages-
könnte feststellen, welcher Mehrheitswille unter ordnung stehen, 15-Minuten-Reden betreffen, daß
den heutigen Umständen bei den Bürgern besteht. wir morgen früh um 9 Uhr fortfahren und daß wir
dann, wenn die Rednerliste morgen erschöpft ist,
Als sich der Herr Bundeskanzler über die Forde- spätestens aber in der Zeit von 13 bis 14 Uhr, die
rung Ulbrichts nach einer Volksabstimmung in der Fragestunde abwickeln.
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 923
Präsident von Hassel
Das Wort hat nunmehr der Herr Abgeordnete den Gewaltverzicht, über kulturelle, wirtschaftliche
Dr. Bach. und sonstige Fragen auf der Grundlage gegenseiti-
ger Achtung und Nichtdiskriminierung abschließen
Dr. Bach (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine will, sicherlich mit der vollen Unterstützung der
Damen und Herren! Nach den großen Ausflügen CDU/CSU rechnen kann. Allerdings, so scheint mir,
in die Bewertung der Nachkriegspolitik möchte ich müssen wir uns über die Auslegung vieler Begriffe,
eigentlich noch einmal auf das Thema zurückkom- so auch des Begriffs der Selbstbestimmung, einig
men, das wir seit gestern behandeln: den Bericht sein. Herr Kollege Kiesinger hat zu diesem Thema
zur Lage der Nation. Mit großem Interesse habe ich das Notwendige gesagt.
diesem Bericht entgegengesehen, kam es mir doch So gern ich die übereinstimmenden Aussagen der
darauf an, nach den vielen mißdeutbaren und nebu- Regierung und meiner Partei festgestellt habe, so
lösen Ausführungen von Mitgliedern der Regierung mehrbunigtsc,adeAuführngi
und der sie tragenden Parteien festzustellen, welche dieser Debatte hören zu müssen, daß diese Gemein-
Ansätze zu einer gemeinsamen Deutschland- und samkeit zwischen Regierung und Opposition wieder
Ostpolitik noch vorhanden seien. Mir scheint, daß in Frage gestellt wird.
es im Interesse der ganzen deutschen Nation sein
müsse, wenn von den hier im Bundestag vertretenen Was bedeutet es zum Beispiel, wenn Herr Kollege
demokratischen Parteien eine Ostpolitik konzipiert Wehner heute morgen sagte, daß es sein Anliegen
werden könnte, die für alle Mitglieder dieses Hohen sei, der jetzigen Regierung eine Bewegungsfreiheit
Hauses vertretbar ist. für das vor ihr liegende Stück Weg der Verhand-
lungen mit allen Mitteln zu erkämpfen? Resolutionen
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr richtig!) des Bundestages, auch diejenigen, die von allen
Fraktionen gemeinsam verabschiedet worden seien,
Mit einer gewissen Befriedigung habe ich fest-
seien nur Fesseln und engten den Spielraum der
stellen können, daß sich der Herr Bundeskanzler
Regierung ein. Gilt seine Ablehnung auch für die
in seinem gestrigen Bericht zu einigen Prinzipien
der Deutschland und Ostpolitik klar bekannt hat. Artikel des Grundgesetzes und der von uns unter-
-
schriebenen völkerrechtlichen Verträge?
Das sind seine Feststellungen, daß erstens das Recht
auf Selbstbestimmung für die gesamte Nation bean- (Abg. Dr. Apel: Das ist ja lachhaft!)
sprucht werde, zweitens eine völkerrechtliche Aner-
Was bedeutet es weiter, wenn die Bundesregie-
kennung der DDR nicht in Betracht komme, drittens
rung, ausgehend von der Existenz zweier deutscher
für die Bundesregierung weder die Pariser Verträge
Staaten, folgendes sagt:
noch die auf Grund dieser Verträge übernommenen
Verpflichtungen im atlantischen Bündnis zur Dis- Man kann verstehen, daß es der Regierung in
kussion stünden und viertens die Bundesregierung Ost-Berlin um politische Gleichberechtigung,
die Rechte und Verantwortlichkeiten, die die drei auch um gewisse abstrakte Formalitäten geht.
Westmächte in bezug auf Deutschland als Ganzes Man muß aber auch Verständnis dafür haben,
und Berlin haben, respektieren würde. daß die Bundesregierung nur dann über vieles
mit sich reden lassen wird, wenn dabei gleich-
Das klare Herausstellen dieser Prinzipien, die von zeitig auch Erleichterungen für die Menschen im
mir und meinen Freunden seit langem vertreten geteilten Deutschland herauskommen.
werden, ist begrüßenswert, bedeuten diese doch,
wenn man konsequent das Prinzip der Selbstbestim- Frage : Was sind „abstrakte Formalitäten"? Ist
mung anwendet und sich der Notwendigkeit der auch die Anerkennung der Teilung Deutschlands
vollen Unterwerfung unter das Grundgesetz und die eine abstrakte Formalität? Ist sie es insbesondere
abgeschlossenen Verträge bewußt ist, nicht mehr dann, wenn wirklich einmal Erleichterungen für die
oder weniger als a) das Verlangen nach freien Wah- Menschen im geteilten Deutschland gegen eine
len in ganz Deutschland, damit das ganze deutsche solche abstrakte Formulierung in Aussicht gestellt
Volk in freier Selbstbestimmung über die Gestaltung würden?
seines politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Oder weiter — ich zitiere erneut —:
Lebens abstimmen kann, b) die Anerkennung seitens
der Bundesregierung, daß eine Entscheidung über Aber die Aufrichtigkeit, ohne die keine Politik
die Gestaltung der deutschen Ostgrenzen in die Ver- auf Dauer geführt werden kann, verpflichtet
antwortung der Allierten fällt und daß diese Gren- uns, so meine ich, keine Forderungen zu er-
zen erst in einem Friedensvertrag mit einer frei heben, deren Erfüllung in den Bereich der
gewählten deutschen Regierung endgültig festgelegt illusionären Wunschvorstellungen gehört.
werden können, und c) die Feststellung, daß keine Wer befindet darüber, welche Forderung als illu-
Bundesregierung, die dem Grundgesetz der Bundes- sionär anzusehen ist? Ist die deutsche Wieder-
republik Deutschland unterworfen ist, der Teilung vereinigung, ist der Wunsch nach einem Friedens-
Deutschlands in mehrere Völkerrechtssubjekte zu- vertrag eine illusionäre Forderung?
stimmen darf.
Der Bundeskanzler hat, wenn ich ihm gestern gut
Der frühere Bundeskanzler Kiesinger hat heute zugehört habe, das Wort „Wiedervereinigung" nur
morgen 'bereits darauf hingewiesen, daß die Bun- einmal, und zwar als Ausspruch von Professor
desregierung, wenn sie von dieser Basis aus mit Heimpel, benutzt. Nach einem Interview mit der
der Sowjetunion, Polen, der DDR und anderen Mit- Zeitung „US News and World Report" hat .er auf
gliedstaaten des Warschauer Pakts Abkommen über die Frage des Journalisten: „Aber kann es einen
924 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. Bach
wirklichen Frieden in Europa überhaupt geben ohne und Reden nur in besonderen Ausnahmefällen im
eine deutsche Wiedervereinigung?" geantwortet: Wortlaut vorbereitet sein sollen. Nachträglich werte
„Ich muß bekennen, daß ich aufgehört habe, von ich es als einen besonderen Ausnahmefall, daß je-
Wiedervereinigung zu sprechen." Ist dies nur eine mand eine Jungfernrede hält. Das nächste Mal
temporäre Abstinenz, oder fühlt sich der Herr Bun- werde ich von dieser Bestimmung der Geschäftsord-
deskanzler nicht mehr an den Text des Grund- nung Gebrauch machen.
gesetzes gebunden, auf dessen Fundament seine
Das Wort hat nunmehr der Herr Bundeskanzler.
eigene Regierung steht? Denn die Wiedervereini-
gung Deutschlands — so hat ,es das Bundesverfas-
sungsgericht am 17. August 1956 formuliert — ist Brandt, Bundeskanzler: Herr Präsident! Meine
im Grundgesetz als politisches Ziel sichtbar in den Damen und Herren! Ich darf unterstellen, daß ein
Vordergrund gerückt. Botschafter a. D. der englischen Sprache mächtig ist,
weil sie neben der französischen im diplomatischen
Ähnliche Fragen wären zu stellen, so z. B., wie Verkehr heutzutage eine gewisse Rolle spielt. Wenn
die Bundesregierung ihre gestern verteidigte Auf- ich davon ausgehen darf, würde ich weiter unter-
fassung über die Anerkennung der alliierten Vor- stellen, daß man, wenn man ein Interview mit einer
behaltsklauseln in allen Fragen, (die Deutschland als ausländischen Zeitung in die Debatte einführt, sich
Ganzes betreffen, in Übereinstimmung bringen kann dabei zweckmäßigerweise auf den Text und nicht
mit der gleichzeitig veröffentlichten Aufforderung auf Übersetzungen stützt.
von Herrn Professor Carlo Schmid, unverzüglich
die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen. Sprechen der Falls Herr Kollege Bach dies getan hat, hat er dem
Bundeskanzler und sein Beauftragter für deutsch- Haus keinen korrekten Eindruck von dem ver-
französische Beziehungen und SPD-Vizepräsident mittelt, worum es sich hier handelt, genauso wie
des Deutschen Bundestages in verschiedenen Spra- eine bestimmte, diese Debatte vorbereitende Kam-
chen? Warum wurde das erste Dokument als Bei- pagne, die hier gestern und heute aber schiefgegan-
lage zum Bericht der Nation zurückgezogen? Welche gen ist, keinen richtigen Eindruck vermittelt hat.
Absage wurde in diesem Dokument den bisherigen (Beifall bei den Regierungsparteien.)
Prinzipien deutscher. Ostpolitik erteilt? Wer sind
die Männer, die diese Dokumente zusammengestellt Ich habe das Exemplar der Zeitschrift „US News and
haben? World Report" hier. Das Gespräch wurde auf Englisch
geführt und wurde auf Tonband aufgenommen. Ich
Kollege Herbert Wehner hat heute morgen der habe es nicht mehr kontrolliert, aber ich stehe zu
CDU Ratschläge gegeben, wie sie ihre oppositio- dem, was dort steht, wenn auch natürlich, wie häufig
nelle Rolle ausfüllen solle. Die Opposition ist natür- bei solchen Gesprächen, die länger dauern, eine
lich einem so erfahrenen Parlamentarier wie Her- etwas kürzere Fassung herauskommt. Ich stehe zu
bert Wehner dankbar für sein Interesse. Allerdings dem, was dort steht. Aber da muß man dem Hause
sieht sie ihre Rolle etwas anders, als sie Herbert sagen, was dort steht.
Wehner sieht. Das unterscheidet sie auch von der
Auffassung des Kollegen Wehner über die Rolle (Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! —
einer Regierungspartei. Für die CDU/CSU ist eine Tun Sie das!)
Regierungspartei nicht, wie es Kollege Wehner — Jawohl!
expliziert hat, ein Kampfverband zur Freikämpfung
der Regierungsstraße, sondern sie fühlt sich als Zuerst steht da die Frage: Was ist das Ziel — the
Kontrollinstrument des deutschen Volkes über die ultimate aim — Ihrer Aktivität, auf Osteuropa be-
Regierung. Von ihrem Recht als Kontrollinstrument zogen — deutsche Wiedervereinigung —? Ich sage:
wird die CDU/CSU auch gegenüber dieser Regierung Frieden für Europa und nicht nur die Abwesenheit
Gebrauch machen. von Krieg. Dann die Frage, ob es wirklichen Frieden
in Europa geben könne ohne deutsche Wieder-
Wir wollen wissen, wohin der Weg geht. Es muß vereinigung. Darauf steht im englischen Text: I must
bei uns, bei unseren Freunden und Gegnern jeder confess that I have stopped speaking about reuni-
Ansatz einer Vermutung beseitigt werden, als fication — wobei „re" kursiv gedruckt ist —. This
wollte die Regierung versuchen, durch vieldeutige „re" perhaps never was a very wise wording. Dann
und gegensätzliche Erklärungen die wahren Ziele sage ich, warum. Und ich füge hier noch hinzu: je
ihrer Politik zu verschleiern. mehr Zeit vergeht — das gehört zu den Veränderun-
(Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: gen, von denen Herr Dr. Kiesinger sprach —, je un-
Wenn das eine Jungfernrede war, war das zeigemäßer wird das Wieder und je klarer bleibt der
Auftrag des Grundgesetzes.
aber eine alte Jungfer! - Heiterkeit bei
der SPD.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)
- Der Abgeordnete Bach braucht mich nicht daran zu
Präsident von Hassel: Verehrter Herr Kollege erinnern, daß wir alle unter der Pflicht des Grund-
Dr. Bach, mit Rücksicht darauf, daß es Ihre Jungfern- gesetzes stehen, für die deutsche Einheit und Frei-
rede war, habe ich nicht auf die Geschäftsordnung heit zu wirken.
aufmerksam gemacht. In § 37 der Geschäftsordnung
steht, daß Reden frei zu halten sind (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
rufe von der CDU/CSU: Sehr schön! —
(Abg. Dr. Bach: Das nächste Mal!) Sehr gut!)
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 925

Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- Eine Politik, die in dieser Weise die Veranke
ordnete Dr. Dahrendorf. rung in westlichen Bündnissystemen mit der ent-
schiedenen Zurückweisung eines bestimmten gesell-
Dr. Dahrendorf (FDP) : Herr Präsident! Meine schaftlichen Systems verband, hatte nach meiner
Damen und Herren! Es ist sicher gut, wenn sich Meinung nicht nur ihre innere Logik, sondern auch
dieses Hohe Haus in Grundfragen der äußeren Poli- ihren historischen Platz. Ich bin der Auffassung, daß
tik und mehr noch in den Grundfragen der inner- die Bundesrepublik durch diese Politik zu einem
deutschen Beziehungen einig ist. Es scheint mir aber Staat geworden ist, von dem man sagen kann, er
besser zu sein, wenn diese Einigkeit auf der Grund- solle sich selber anerkennen, und daß die Bundes-
lage ausgetragener Gegensätze zustande kommt. republik auf diese Weise jene im ganzen kräftige
(Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Gut! Habe ich doch und gesunde Position erreicht hat, die sie heute hat.
gewußt, daß er das sagt!) Eines aber hat diese Politik nicht erreicht. Sie
hat nicht dazu beitragen können, daß in Deutschland
Ich meine, daß es nützlich sein könnte, an diesem und damit in Europa die Gräben, die nicht durch
Punkt der Debatte einmal zu versuchen, wenigstens unsere Schuld entstanden sind, zugeschüttet wurden
an einer Stelle zu zeigen, wo hier ein Gegensatz oder jedenfalls nicht mehr so tief sind.
offenkundig wird, und damit die Möglichkeiten zu
eröffnen, über diesen Gegensatz hinwegzukommen (Abg. Wehner: Das ist leider wahr!)
oder aber festzustellen, daß er für die nächste Zeit Ich will hier nicht die Frage prüfen, ob die Politik
die Politik der Regierungsfraktionen einerseits und dazu beitragen sollte oder nicht. Mir liegt über-
der Opposition andererseits bestimmt. haupt nichts daran, hier historische Schuldfragen zu
Wenn ich es richtig sehe, dann war die bisherige klären, weil ich es für außerordentlich wichtig halte,
deutsche Politik als Außenpolitik insgesamt, aber daß wir hier , dahin kommen, Entscheidungen für
gerade auch im Hinblick auf die Lage der Nation, morgen zu treffen und diese Entscheidungen auch
durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet, durchzusetzen.
von denen ich zwei hervorheben möchte, Merk- (Beifall bei den Regierungsparteien.)
malen, Herr Kollege Strauß, von denen ich übrigens
Ich meine, daß man der eben — ich sage es noch
sagen würde, daß sie in erstaunlicher Weise aus
einmal — verkürzt dargestellten politischen Position
der Kontinuität der deutschen Geschichte heraus-
eine andere gegenüberstellen kann, die ebenfalls
fallen — was für mich jetzt keine negative Bewer-
ihre innere Logik hat und von der ich meine, daß
tung ist, wie ich gleich noch andeuten möchte.
sie uns in dieser unserer Situation weiterhilft. Ich
Eines dieser Merkmale der deutschen Politik war, meine eine Position, die sich in dem ersten von mir
daß unsere Politik, in welcher Richtung auch immer, zitierten Grundsatz von unserer in der Vergangen-
fest in dem westlichen Bündnissystem verankert sein heit betriebenen Politik nicht unterscheidet. Die
muß. In dieser Form war das ein neues Element in Verankerung im westlichen Bündnissystem ist die
der deutschen politischen Geschichte. Voraussetzung. Man kann sogar sagen, — wie der
Ein zweites Element dieser deutschen Politik war Bundesaußenminister es vorhin dargestellt hat —:
— und das ist es, glaube ich, was hier jetzt vor allem Je kräftiger diese Verankerung ist, desto größer ist
zur Diskussion steht —, daß unsere Beziehungen zu unser politischer Spielraum in anderer Hinsicht.
den osteuropäischen Ländern und daß insbesondere Es gibt aber möglicherweise einen Unterschied der
unsere Beziehungen zunächst zur sowjetischen Be- von dieser Bundesregierung verfolgten Politik im
satzungszone, dann zur DDR, in erster Linie durch Hinblick auf den zweiten von mir erwähnten Punkt.
unsere Bewertung der inneren Verhältnisse in die- Es ist nicht etwa so, daß wir die inneren Verhält-
sen Gesellschaften bestimmt sein sollten. Ich glaube, nisse in der DDR anders bewerteten, als wir es frü-
daß dies ein sichtbares Element der bisherigen deut- her getan haben. Ich meine, daß es ohne ein unver-
schen Politik gewesen ist. tretbares Risiko für die Bundesrepublik möglich
sein müßte, einen Versuch zu unternehmen, in dem
(Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Sehr ich den eigentlichen Kern jener Wendungen unserer
verkürzt gesagt!)
Politik sehe, die in den letzten Wochen so viel dis-
— Sehr verkürzt gesagt, Herr Kollege Guttenberg, kutiert worden sind. Ich meine den Versuch, einmal
das gebe ich Ihnen uneingeschränkt zu, aber ich habe zu prüfen, wie breit eigentlich der Bereich gemein-
mir vorgenommen, mich an die 15 Minuten zu halten. samer Interessen zwischen an sich widersprüch-
Ich hoffe, daß die Verkürzung nicht zu sehr zur Ver- lichen, ja einander feindseligen Gesellschaften sein
fälschung führt. kann.
Ich meine aber, daß die entschiedene Zurück- (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg:
weisung der inneren Ordnung beispielsweise der Das ist ja nicht neu!)
DDR für uns ein wesentliches Leitmotiv unseres
- poli- — Auch das ist nicht neu, Herr Kollege von Gutten-
tischen Handelns gegenüber der DDR gewesen ist, berg. Jetzt geben Sie mir die Möglichkeit, Ihnen
eine Zurückweisung, die noch in der Zweideutigkeit mit den Antworten Ihres Parteifreundes zu begeg-
des Wortes Anerkennung in der öffentlichen Dis- nen: Auch ich nehme nicht für mich in Anspruch,
kussion spürbar wird, jener Zweideutigkeit, bei der hier irgendwelche weltbewegenden Neuigkeiten
oft nicht ganz klar wird, ob hier eigentlich von Be mitzuteilen.
ziehungen zwischen Regierungen oder von der Zu- (Abg. Freiherr von und zu Guttenberg: Sie
stimmung zu inneren Ordnungen die Rede ist. sagten, das sei der Kern des Neuen!)
926 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970

Dr. Dahrendorf
Ich meine, daß der ernsthafte Versuch, diese Be- sionsbemerkung wichtig scheint. Es ist oft die Rede
reiche gemeinsamer Interessen so weit wie irgend von der Gefahr, daß der Status quo festgeschrieben
möglich zu erkunden, in der Vergangenheit in die- wird. Es ist also oft die Rede davon, daß die Ab-
ser Form nicht unternommen worden ist. sicht etwa der Sowjetunion, wahrscheinlich auch die
Nun ist das leicht gesagt: Bereiche gemeinsamer Absicht der DDR — wenn überhaupt eine Bereit-
Interessen zwischen feindseligen Gesellschaften. schaft zu Verhandlungen erkennbar wird — darin
Wenn man das zu präzisieren versucht, wenn man liegt, die bestehenden Verhältnisse als solche zu
also zu sagen versucht, wo diese Bereiche liegen, ist zementieren. Vielleicht wäre es nützlich, Herr Prä-
man — ich kann es ganz korrekt ausdrücken — im sident, meine Damen und Herren, wenn wir im Hin-
Grunde genommen bei der Frage: Was soll auf blick auf diesen Begriff des Status quo eine sicher
der Tagesordnung einer europäischen Sicherheits- problematische und doch politisch wichtige Unter-
konferenz stehen? Man ist im Grunde genommen scheidung einführten, nämlich die Unterscheidung
zwischen dem territorialen Status quo und dem
dann bei der Frage: Über welche Themen kann man
politischen Status quo.
mit Aussicht auf Erfolg
(Abg. Wehner: Vielleicht auch noch: (Abg. Wehner: Sehr gut!)
aus welchen Motiven!) Ich könnte mir denken, daß es auf absehbare Zeit
— und aus welchen Motiven — reden, wenn man für uns unmöglich sein wird, den territorialen Sta-
davon ausgeht, daß es sich um gesellschaftliche, tus quo zu verändern, ja, daß es nicht in unserem
innere, politische, rechtliche und auch um wirtschaft- Interesse liegen kann, jene Mittel zu ergreifen, die
liche Ordnungen handelt, die nicht nur verschieden allein zu einer Veränderung des territorialen Status
sind, sondern die sich ausschließen? quo unter den gegenwärtigen Umständen führen
könnten. Ich könnte mir aber auch denken, daß wir
Ich meine, daß es eine Reihe solcher Themen gibt,
eine solche Politik nur betreiben, wenn sichergestellt
und ich meine, daß diese Themen nun präzis auch
wird, daß bei einer solchen Beibehaltung des terri-
die Ansatzpunkte für eine Deutschlandpolitik dar-
torialen Status quo für eine gewisse Zeit der poli-
stellen, die uns sicher langsam, sicher in absehbarer
tische Status quo in Europa sich verändert, d. h.
Zeit in nicht sehr vielen Schritten, aber möglicher-
Möglichkeiten des Handelns, aber gerade auch Mög-
weise doch in einigen Schritten weiterführt. Ich
lichkeiten der Bewegung der Menschen geschaffen
würde noch etwas weitergehen und sagen — das ist
werden, wie wir sie heute leider noch nicht haben.
Teil einer Antwort auf Fragen, die Herr Kollege
Strauß gestellt hat —, ich meine auch, daß diese (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße]: Glauben Sie
Aufgabe ein Stück der Bestimmung der deutschen das noch nach den tschechischen Erfahrun
Stellung in Europa und in der Welt hier und heute gen, Herr Dr. Dahrendorf?)
darstellen könnte. Denn während ich einschrän-
kungslos dem Satz zustimme, daß die Bundesrepu- — Auch nach den tschechischen Erfahrungen sage
blik kein Wanderer zwischen den beiden Welten ist, ich das.
muß man immer auch sagen, daß sie ihre Wande- Ich komme damit zu meiner letzten Bemerkung —
rung an der Grenze der beiden Welten vollzieht ich sehe, daß die fünfzehn Minuten, die ich mir vor
und daß sich durch diese Wanderung an der Grenze genomen habe, bald ablaufen werden —, die sich ge-
der "beiden Welten für uns möglicherweise Auf- nau auf dieses Thema bezieht.
gaben ergeben, die mit derselben Stärke, mit der-
selben Klarheit und Entschiedenheit nicht allen Die Beantwortung der Frage, ob wir die Möglich-
anderen Mitgliedern der Welt, in der wir sind und keit haben, den politischen Status quo in Europa für
zu der wir gehören, gestellt werden. unseren Teil überwinden zu helfen, hängt ohne
Zweifel zum Teil von der Einschätzung der Politik
Das hat eine Fülle von Konsequenzen auch für der Sowjetunion ab. Es gibt hier im Hause — das ist
die innerdeutschen Beziehungen, Konsequenzen ja heute deutlich geworden — gewisse Unterschiede
- ich interpretiere jetzt; ich spreche hier als Ab- in der Einschätzung der Politik der Sowjetunion. Mir
geordneter und nicht als Parlamentarischer Staats-
ist aufgefallen — obwohl ich das vielleicht etwas
sekretär —, zu denen es nach meiner Meinung
mißverstanden habe —, daß Herr Strauß zwar die
gehört, daß wir die Frage der Einheit der Nation
Politik der Bundesrepublik für veränderungsfähig
von der Frage der staatlichen Einheit trennen. Es
hält, daß er zwar die Politik der Vereinigten Staa-
hat also die Konsequenz, daß wir auf die Suche
ten für veränderungsfähig hält — wenn er nämlich
gehen nach Bündnismöglichkeiten, in denen die
Byrnes konfrontiert mit den heutigen USA —, daß
staatliche Einheit nicht oder noch nicht wiederher-
er aber im Hinblick auf die Sowjetunion eine Konti-
gestellt ist, wohl aber die beiden deutschen Staa-
nuität postuliert, die sogar über das Jahr zurück-
ten unter einem gemeinsamen Dach — das man zu-
reicht, in dem die Sowjetunion als solche entstanden
nächst wohl nur schwer ein staatliches Dach nennen
ist, eine Kontinuität, die, wenn ich ihn recht ver-
könnte —, unter einem gemeinsamen Bündnis - doch
stärker zusammenarbeiten als in der Vergangen- standen habe, sogar eine russische Kontinuität sein
soll. Herr Strauß, ich würde es — aber ich möchte
heit.
(Zuruf von der CDU/CSU: Zunächst!) das gleich mit einer einschränkenden Bemerkung
versehen — zumindest für möglich halten, daß sich
Ich möchte hier eine Bemerkung hinzufügen, von auch in der Sowjetunion die politischen Interessen-
der ich ganz sicher bin, daß sie mißverstanden wer- lagen und Haltungen verändern. Ich würde es daher
den wird, die mir dennoch zumindest als Diskus- für nützlich halten, wenn man immer wieder unter-
Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 927
Dr. Dahrendorf
suchte, ob solche Veränderungen stattgefunden ha- mütig, wenn man nicht mit einer etwas offeneren
ben, gerade auch was die Frage des Verhältnisses Haltung an die Möglichkeiten unserer äußeren
zwischen der Sowjetunion und den Ländern des Politik und unserer Deutschlandpolitik herangeht,
Ostblocks betrifft. als das bei einigen Sprechern der CDU und CSU
(Zurufe von der CDU/CSU.) deutlich geworden ist.

— Ich sagte, ich wollte dem eine Einschränkung an- Ich würde es allerdings — daran möchte ich kei-
fügen. Ich will das tun und mit dieser Bemerkung nen Zweifel lassen — für verantwortungslos halten,
schließen. wenn wir unsere Politik auf einer, sagen wir, opti-
mistischeren Interpretation der sowjetischen Inter-
essenlage und Politik aufbauten, ohne das Risiko
Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- einzukalkulieren. daß wir irren. Ich möchte schlie-
schenfrage des Abgeordneten Dr. Wörner? ßen mit der Bemerkung, die mir sehr betonenswert
erscheint: Diese Bundesregierung hat in ihrem Ver-
Dr. Dahrendorf (FDP) : Selbstverständlich, ja! such, eine an Initiativen reichere Politik auch nach
Osten zu entwickeln, nichts getan und wird nichts
Dr. Wörner (CDU/CSU) : Herr Kollege Dahren- tun, was die Bundesrepublik im Falle eines Schei-
dorf, in diesen Positionen wird Ihnen kaum einer terns in eine schlechtere Position stellt, als sie vor-
widersprechen. Aber heißt das nicht, daß die Kunst her war.
der deutschen Politik dann gerade darin bestehen (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu
muß, mögliche Entwicklungen offenzuhalten und rufe von der CDU/CSU.)
nicht Positionen zu vergeben, die für eine geänderte
Interessenlage von Bedeutung sein könnten? Sie hat im Gegenteil — und wird das auch in Zu-
kunft tun — dafür Sorge zu tragen, daß, selbst wenn
(Beifall bei der CDU/CSU.) unsere ostpolitischen Initiativen scheitern, die Lage
der Bundesrepublik in der Welt klarer und besser
Dr. Dahrendorf (FDP) : Ihre Frage ist für mich ist als vorher.
ein interessantes Beispiel dafür, daß man in der
Formulierung übereinstimmen kann, jedoch in der (Erneuter Beifall bei den Regierungsparteien.)
Sache nicht übereinstimmt.
Präsident von Hassel: Meine Damen und Her-
(Abg. Wehner: Sehr gut! — Beifall bei den ren, wir sind am Ende unserer heutigen Sitzung. Ich
Regierungsparteien.) darf noch einmal wiederholen: Wir setzen die Aus-
Das heißt: es geht mir genau darum, Möglichkeiten sprache morgen früh um 9 Uhr fort. Die Fragestunde
der Entwicklung offenzuhalten, die nach meiner kommt im Anschluß, wenn die Rednerliste erschöpft
Meinung heute noch nicht offen sind. Ich meine, daß, sein wird, spätestens in der Zeit von 13 bis 14 Uhr.
um diese Möglichkeiten offenzuhalten, unser Ver- Ich berufe die nächste Sitzung auf Freitag, den
such der Erkundung der gemeinsamen Interessen 16. Januar, 9 Uhr, ein.
weitergeführt werden muß,
(Abg. Wehner: Sehr richtig!) Die Sitzung ist geschlossen.
d. h. ich meine, daß gerade hier die Begründung für
unsere Politik liegt. Ich halte es selbst für klein (Schluß der Sitzung: 18.59 Uhr.)

-
Deutscher Bundestag - 6. Wahlperiode - 23. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. Januar 1970 929

Anlage zum Stenographischen Bericht

Liste der beurlaubten Abgeordneten

Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich

Dr. Achenbach * 16. 1.


Dr. Aigner * 16. 1.
von Alten-Nordheim 16. 1.
Dr. Bayerl 31. 1.
Biechele 23. 1.
Dr. Birrenbach 16. 1.
Frau Dr. Elsner* 16. 1.
Dr. Franz 16. 1.
Frehsee 16. 1.
Dr. Gatzen 16. 1.
Gewandt 16. 1.
Dr. Giulini 16. 1.
Glombig 16. 1.
Dr. Haas 31. 1.
Haehser 16. 1.
Frau Dr. Henze 31. 1.
Dr. Huys 23. 1.
Dr. Jungmann 16. 1.
Krammig 17. 1.
Lücke (Bensberg) 16. 1-.
Lücker (München) 16. 1.
Michels 16. 1.
Dr. Prassler 16. 1.
Rawe 15. 1.
Riedel (Frankfurt) * 15. 1.
Röhner 16. 1.
Schirmer 31. 1.
Dr. Schulz (Berlin) 16. 1.
Struve 17. 1.
Dr. Warnke 16. 1.
Weigl 16. 1.
Winkelheide 31. 1.

* Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Europä-


ischen Parlaments

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