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D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
8. Sitzung
Inhalt:
Erweiterung und Ablauf der Tagesordnung 313 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 343 B
Dr. Barbara Höll PDS 347 C
Zur Geschäftsordnung
Joachim Poß SPD 349 C
Manfred Mü ll er (Berlin) PDS 313 D
Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 349 D
Joachim Hörster CDU/CSU 314 B
Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 351 D
Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN 314 C Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/
CSU 354 B
Tagesordnungspunkt 1:
Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) BÜND -
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- NIS 90/DIE GRÜNEN 355 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über die Feststellung des Bundes- Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
haushaltsplans für das Haushaltsjahr NEN 357 C
1995 (Haushaltsgesetz 1995) (Drucksache
13/50) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 359C
b) Beratung der Unterrichtung durch die Detlev von Larcher SPD 360 B
Bundesregierung: Der Finanzplan des
Bundes 1994 bis 1998 (Drucksache Dr. Peter Struck SPD 361 D
12/8001)
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 362 A,
c) Beratung der Unterrichtung durch die 364 A
Bundesregierung: Bericht über den
Stand und die voraussichtliche Entwick- Dietrich Austermann CDU/CSU 364 B
lung der Finanzwirtschaft (Drucksache
13/76) Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel PDS 367 B
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 315 C Manfred Kanther, Bundesminister BMI 369 B
Ingrid Matthäus-Maier SPD 324 C, 366 D Fritz Rudolf Körper SPD 371 A
Hartmut Schauerte CDU/CSU 330 B Erwin Marschewski CDU/CSU 374 C
Gunnar Uldall CDU/CSU 332 A Johannes Singer SPD 374 D
Adolf Roth (Gießen) CDU/CSU 335 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 375 D
II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ce rn Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 377 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN 392 C
Ina Albowitz F D P 379C
Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 393 C
Ulla Jelpke PDS 381 A
Nächste Sitzung 394 D
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun-
desministerin BMJ 381 D
Berichtigung 394 D
Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 384 A
Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 392 A Liste der entschuldigten Abgeordneten 395*
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 313
8. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Die Anträge der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung und der F.D.P., die Tagesordnungspunkte 3 a und b
ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen einen guten Mor- betreffend, sollen am Donnerstagmittag nach der
gen. dreistündigen Beratung des Kanzlerhaushalts mit
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte einer Debattenzeit von fünf Minuten für jede Fraktion
ich Sie darüber unterrichten, daß der Herr Bundes- und für die PDS beraten werden.
kanzler und der Bundesminister des Auswärtigen Die Überweisungen im vereinfachten Verfahren,
heute morgen nicht an der Plenarsitzung teilnehmen Tagesordnungspunkt 2 einschließlich des Zusatz-
können. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des punktes 1, werden unmittelbar danach aufgerufen.
Europäischen Rates berichtet der Herr Bundeskanzler Der Antrag der Fraktion der SPD, betreffend den
heute dem Europäischen Parlament in Straßburg über „Ersatz des Solidaritätszuschlages ... " — Tagesord-
die Ergebnisse der Tagung des Europäischen Rates in nungspunkt 3 c —, soll ebenfalls überwiesen wer-
Essen. Der Bundesminister des Auswärtigen berichtet den.
als Vorsitzender des Rates der Europäischen Union Sind Sie mit diesen interfraktionellen Vereinbarun-
über die Bilanz der deutschen Präsidentschaft. gen einverstanden? — Dazu höre ich keinen Wider-
(Zuruf von der SPD: Die ist sehr dünn!) spruch. Dann ist dies so beschlossen.
Bevor ich die Tagesordnungspunkte 1 a bis c auf-
Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen. Der rufe, gebe ich dem Abgeordneten Manfred Müller von
Kollege Wolfgang Vogt (Düren) hat am 1. Dezember der PDS das Wort zu einem Antrag zur Geschäftsord-
seinen 65. Geburtstag und der Kollege Dr. Alfred nung.
Dregger am 10. Dezember seinen 74. Geburtstag
gefeiert. Ich gratuliere beiden im Namen des Hauses
nachträglich sehr herzlich. Manfred Müller (Berlin) (PDS): Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
(Beifall) Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einen Antrag
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den 19. Aus- zur Geschäftsordnung stellen, der die zusammenhän-
schuß künftig wie folgt zu bezeichnen: Ausschuß für gende Redezeit der PDS für den morgigen Vormittag,
Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und also für die Aussprache über den Etat des Bundes-
Technikfolgenabschätzung. Sind Sie damit einver- kanzleramtes, von 10 auf 15 Minuten erweitert. Ich
standen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist bedaure außerordentlich, daß es auch heute früh nicht
dies so beschlossen. gelungen ist, im Kreis der Parlamentarischen
Geschäftsführerinnen und Parlamentarischen Ge-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die schäftsführer eine einvernehmliche Regelung herbei-
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die zuführen. Ich stelle fest, daß der Ältestenrat in dieser
Zusatzpunkte sind aus der Ihnen vorliegenden Frage bedauerlicherweise versagt hat.
Zusatzpunktliste ersichtlich:
Ich bin darauf hingewiesen worden, daß wir Mitte
1. Wettere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Januar den Versuch unternehmen wollen, eine ein-
(Ergänzung zu TOP 2) vernehmliche Regelung herbeizuführen, an der auch
wir sehr interessiert sind.
a) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und
der weiteren Abgeordneten der PDS: Vermögen der Par- Bei unserem Antrag geht es um die morgige Aus-
teien und Massenorganisationen der DDR — Drucksache sprache. Ich bitte um eine Ausnahme von der bisheri-
13/78 — gen Regelung, um eine Ausnahme, die es uns erlaubt,
b) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und in der sogenannten Elefantenrunde auf die Ausfüh-
der weiteren Abgeordneten der PDS: Vergütung der Mitglie- rungen 15 Minuten zusammenhängend zu erwi-
der der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des dern.
Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der
DDR beim Bundesministerium des Innern — Drucksache Ich meine, es muß — wie bei den anderen Fraktio-
13/79 — nen — das alleinige Recht der Gruppe der PDS sein,
314 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Pläne, über Umverteilung den Konsum anzukur-
regierung beln, bringen nichts. Sie führen vielmehr über höhere
Steuern zur Belastung unserer Wettbewerbsfähigkeit
Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998
oder über höhere Defizite zu konjunkturabwürgen-
— Drucksache 12/8001 —
den Zinssteigerungen.
Überweisung:
(Zustimmung bei der F.D.P.)
Haushaltsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Die öffentlichen Finanzen sind stabil, die Lasten der
regierung Einheit geschultert. Die Konsolidierung der öffentli-
Bericht über den Stand und die voraussichtli chen Finanzen ist gut vorangekommen. Der größte
Teil der einigungsbedingten Zusatzlasten wird über
che Entwicklung der Finanzwirtschaft
Einsparungen finanziert. Die Finanzierung der Erbla-
— Drucksache 13/76 —
sten des Sozialismus ist geklärt. Die Finanzausstat-
Überweisungsvorschlag: tung der neuen Länder wurde durch das vom Bund
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vorangetriebene Föderale Konsolidierungsprogramm
die heutige Aussprache sechs Stunden, für morgen für die nächsten zehn Jahre gesichert.
acht Stunden und für Freitag fünf Stunden vorgese- Der Konsolidierungskurs greift. 1994 und 1995 wird
hen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann das Defizit des Bundes jeweils um 10 Milliarden DM
können wir so verfahren. unter den ursprünglichen Planungen liegen. Und es
Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der würde mich nicht wundern, wenn wir am Ende dieses
Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel. Jahres nicht 10, sondern vielleicht 13 Milliarden DM
316 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Wir haben in 40 Jahren konsequenter Stabilitäts- Meine Damen und Herren von der SPD, es macht
politik einen großen Vertrauenskredit in der Welt keinen Sinn, immer wieder über die vermeintliche
erworben. Niemand hatte Bedenken, Geld in soziale Ungerechtigkeit des Solidaritätszuschlags zu
Deutschland in der D-Mark anzulegen. Spekulanten fabulieren. Der von Ihnen mitbeschlossene Solidari-
haben sich die Zähne ausgebissen. tätszuschlag ist gerecht. Er knüpft an unseren von
jedermann für sozial gerecht gehaltenen progressiven
Trotz der Entlastungen auf der Ausgabenseite Einkommensteuertarif an. Wer viel Steuern zahlt,
waren auch Einnahmeverbesserungen unvermeid- zahlt viel Zuschlag. Wer wenig oder keine Steuern
lich. Sie konnten aber in engem Rahmen gehalten und zahlt, zahlt auch keinen Zuschlag. Eine vierköpfige
konjunkturgerecht zeitlich begrenzt werden. Familie zahlt schon jetzt bis zu einem Bruttoeinkom-
men von 47 197 DM keine Mark. Mit der Neuregelung
Mit dem Jahr 1995 kehren wir zur finanzpolitischen des Existenzminimums steigt dies auf 54 001 DM.
Normalität zurück. Die Übergangsfinanzierungen für
die Einheit werden beendet und in den Bundeshaus- Wie bereits vor der Wahl angekündigt, entspricht
halt übernommen. Die abschließende Regelung der der jetzt vorgelegte Bundeshaushalt 1995 weitgehend
Erblasten und die vollständige Integration der neuen dem Entwurf vom September. Allerdings können wir
Länder in das Finanzausgleichsystem führen die heute einen in wichtigen Eckpunkten verbesserten
Finanzpolitik in ruhigeres Fahrwasser. Haushalt vorlegen. Mit 484,1 Milliarden DM — rund
600 Millionen DM weniger als im ersten Regierungs-
Im Erblastentilgungsfonds wird die sozialistische entwurf — steigen die Ausgaben nur um 0,9 %. Das ist
Erblast übernommen. Dabei werden die Altschulden deutlich unter dem Wachstum des Bruttoinlandspro-
des Kreditabwicklungsfonds der Treuhand und des dukts. Wenn wir das Ziel angehen, vor allen Dingen
DDR-Wohnungsbaus die ursprünglich angenomme- die Staatsquote bis zur Jahrtausendwende etwa auf
nen 400 Milliarden DM wohl nicht ganz erreichen. die Zahl zu senken, wie sie vor der Wiedervereinigung
1995 zahlt der Bund für den Erblastentilgungsfonds gewesen ist, dann gelingt dies nur, wenn die Steige-
aus seinem Haushalt Zins und Tilgung in Höhe von rung des Haushalts deutlich unter der Steigerung des
26 Milliarden DM. Dazu kommen die direkte Finan- nominellen Bruttosozialproduktes liegt.
zierung der Nachfolgeeinrichtungen der Treuhand
von 5,6 Milliarden DM und die Altschuldenhilfe für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
320 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
Der Bundeskanzler hat einen Aufbruch in die Wir hätten auch gern gewußt, wie Sie die Meister-
Zukunft angekündigt. Zu diesem Zweck hat er das kurse im Handwerk wieder fördern wollen.
Ministerium für Forschung und Technologie und das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ministeri um für Bildung und Wissenschaft zusam- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mengelegt zu einem sogenannten Zukunftsministe-
rium. Dieses begrüßen wir. Wir wünschen Herrn Erst Ende 1993 haben Sie die Meisterfortbildung im
Minister Rüttgers für sein schweres und wichtiges Amt Arbeitsförderungsgesetz zerschlagen — angesichts
eine gute Hand. der enormen Bedeutung unseres dualen Ausbildungs-
systems ein schwerer Fehler. Wenn Sie das jetzt
Aber entgegen allen Erwartungen hat der Herr korrigieren wollen, stimmen wir zu. Es wird nämlich
Bundeskanzler bei diesem sogenannten Zukunftsmi- Zeit, daß Sie die Teilnehmer an Techniker- und
nisterium nicht etwa eine halbe oder eine Milliarde Meisterkursen nicht mehr länger finanziell im Regen
DM draufgelegt; real nimmt dieser Haushalt sogar ab. stehenlassen.
Schon die erste Feuerprobe hat der sogenannte
Zukunftsminister nicht bestanden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sagen Sie nicht, Sie hätten dafür kein Geld. Allein in
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 1995 erhöhen Sie den Verteidigungshaushalt um
Dem neuen Ministerium einen schönen Titel zu geben 670 Millionen DM. Nicht nur, daß Sie nach dem Ende
statt mehr Geld, damit ist der Zukunftssicherung des Kalten Krieges viel zu spät begonnen haben, im
Deutschlands mit Sicherheit nicht gedient. Verteidigungshaushalt einzusparen; jetzt soll damit
schon wieder Schluß sein. In Zeiten seines höchsten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Standes machte der Verteidigungshaushalt 54 Milliar-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des den DM aus. Erst nach langem Drängen und zögerli-
Abg. Wolfgang Bierstedt [PDS]) chem Schritt für Schritt haben Sie ihn auf 47,2 Milli-
arden DM gekürzt. Jetzt soll er bereits wieder anstei-
Der bekannte Unternehmensberater Roland Berger
sagte erst vor wenigen Tagen: „Ohne Innovationen gen.
geht Deutschland die Arbeit aus." Aber wo bleiben Soll das denn schon die ganze Friedensdividende
bei Ihnen die Innovationen? Wo bleibt denn die von gewesen sein, meine Damen und Herren? Nein, wenn
Ihrem bisherigen Forschungsminister landauf, landab Sie schon nicht bereit sind, hier weiter zu kürzen
in Aussicht gestellte steuerliche Förderung für Unter- — was eigentlich notwendig wäre —, dann legen Sie
nehmen, die in Forschung und Technologie investie- doch wenigstens die 670 Millionen DM nicht beim
ren? Wo bleibt die dringend notwendige Förderung Verteidigungshaushalt, sondern beim sogenannten
des Mittelstandes? Zukunftshaushalt obendrauf.
Die Forschungslandschaft in Ostdeutschland ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
kümmert. Der Anteil von Bildung, Wissenschaft, For- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
schung und Technologie am Gesamthaushalt ist wei- PDS)
ter zurückgegangen. Ein Bundeskanzler aber, der wie Es ist auch kein Zeichen von Zukunftsorientierung,
Helmut Kohl den Anteil des Forschungshaushaltes am daß die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen
Bundeshaushalt auf das niedrigste Niveau seit 20 Jah- der Bundesanstalt für Arbeit Jahr für Jahr zurückge-
ren fallen läßt, sollte das Wort Wirtschaftsstandort hen: 1993 560 000, 1994 450 000, 1995 geplant
Deutschland überhaupt nicht mehr in den Mund 435 000 DM. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt
nehmen. will 510 000 DM. Wir fordern die Bundesregierung
nachdrücklich auf, diesem Vorschlag des Verwal-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tungsrates zu entsprechen. Denn die Fortbildungs-
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang
und Umschulungsmaßnahmen der Bundesanstalt für
Bierstedt [PDS])
Arbeit sind ein wichtiger Bestandteil zur Bekämpfung
Wo bleibt die dringend notwendige Anpassung der der nach wie vor viel zu hohen Arbeitslosigkeit.
Ausbildungsförderung? Unser Land ist ein rohstoffar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
mes Land. Unser Rohstoff, die Grundlage unseres des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wohlstandes sind die Ausbildung, die Leistungsbe-
reitschaft und das Engagement der Menschen. Wir Sie fragen uns: Wie wollen Sozialdemokraten diese
setzen uns daher für eine Erhöhung des BAföG um aktive Arbeitsmarktpolitik bezahlen? Ja, wollen Sie
4 % ein, was nach zweijähriger Pause nun wirklich denn behaupten, daß Arbeitslosigkeit kein Geld
nicht maßlos ist und was der Vermittlungsausschuß kostet? Die Bundesanstalt für Arbeit beziffert allein für
fast einstimmig beschlossen hat. 1993 die Kosten der Arbeitslosigkeit auf insgesamt
116 Milliarden DM. Hinzu kommen Langzeitarbeits-
Man muß doch wissen: Wer das BAföG vernachläs- losigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit
sigt, verlängert die Studienzeiten, weil sich die Stu- von Menschen, denen man mit Mitte 40 sagt: Eigent-
denten dann etwas hinzuverdienen müssen. Wir brau- lich können wir dich überhaupt nicht mehr gebrau-
chen aber kürzere und nicht längere Studienzeiten, chen. Das ist vor allem ein persönliches Schicksal, ein
meine Damen und Herren. Schicksal, das oft die ganze Familie trifft, auch die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kinder.
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Wissen Sie denn nicht, daß in diesem Lande eine
Bierstedt [PDS]) Million Kinder von der Sozialhilfe abhängig sind?
326 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
Wissen Sie nicht, daß sich immer wieder Kinder bei Wenn Sie endlich bereit wären, einen Teil der rund
Klassenfahrten krank melden, weil den Eltern das 700 Millionen DM, die Sie in Ihrem Bundeshaushalt
Geld fehlt? Massenarbeitslosigkeit ist außerdem ein noch immer für die Kernenergie vorsehen, in entspre-
gefährlicher Nährboden für Rechtsradikalismus, für chende Energieeinsparprogramme umzuschichten,
wachsende Gewaltbereitschaft und Ausländerfeind- dann hätten wir dafür auch das Geld.
lichkeit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Wenn Sie all das zusammennehmen, die unmittel- GRÜNEN und der PDS — Zuruf von der
baren Kosten und die Folgen, dann stellt Massenar- CDU/CSU: Quatsch!)
beitslosigkeit die größte volkswirtschaftliche Ver-
Daß es auch anders geht, zeigt z. B. das Land
schwendung dar. Wir müssen endlich Arbeit finanzie-
Hessen. Dort sind binnen zwei Jahren die Fördermittel
ren statt erzwungene Arbeitslosigkeit.
für Energieeinsparmaßnahmen auf 110 Millionen DM
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE fast verdoppelt worden; die Vorgängerregierung der
GRÜNEN und der PDS) CDU gab nur 60 Millionen DM aus.
Notwendig ist es dann z. B. auch, die viel zu hohen Auch in der Steuerpolitik werden Sie an einer
Lohnnebenkosten dadurch zu senken, daß man nicht Stärkung des Umweltgedankens nicht vorbeikom-
mehr den Beitragszahlern in zweistelliger Milliarden- men. Der Kanzler sagt, dieses Land müsse fit gemacht
größe — wie durch diese Bundesregierung gesche- werden für das 21. Jahrhundert. Da hat er sicher
hen — Kosten für Aufgaben aufbürdet, bei denen es Recht. Aber dazu gehört dann doch z. B. auch eine
sich um allgemeine staatliche Aufgaben handelt, an ökologische Steuerreform. Wir Sozialdemokraten
denen sich alle beteiligen müßten. Alle fordern dies: hatten konkrete Vorschläge gemacht, wie man die
die Gewerkschaften, die Unternehmer, die Fachleute. Lohnsteuerzahler entlastet und gleichzeitig die Ener-
Es wird Zeit, daß die Bundesregierung für diese Art gie verteuert. Wären Sie unseren Vorschlägen gefolgt,
Senkung der Lohnnebenkosten endlich konkrete Vor- wären die Nettolöhne höher und wäre das Existenz-
schläge macht. minimum schon heute steuerfrei. Statt dessen haben
Sie uns beschimpft, gleichzeitig aber die Mineralöl-
(Beifall bei der SPD) steuer um sage und schreibe 55 Pfennig je Liter
Daß dieser Haushalt nicht zukunfts-, sondern ver- erhöht,
gangenheitsorientiert ist, zeigt sich auch an anderer (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)
Stelle. Die Ausgaben für Energieeinsparprogramme
und regenerierbare Energiequellen nehmen nicht ohne die Lohn- und Einkommensteuer zu senken, was
etwa zu, sondern sie nehmen ab. wir als Sozialdemokraten vorgesehen hatten.
(Zuruf von der SPD: Unglaublich!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist schlecht für die Umwelt, und das ist auch
schlecht für die Arbeitsplätze. Ein solches phantasieloses Abkassieren ist keine
Reformpolitik.
- Ein Beispiel: Die Japaner hatten ein 70 000
Auch wenn Sie heute hundertmal nein zur ökologi-
Dächer-Solarenergieprogramm. Wir in Deutschland
schen Steuerreform sagen: Sie ist richtig, sie wird
hatten dagegen nur ein Miniprogramm. Da braucht
kommen. Mittlerweile unterstützen auch Teile der
sich doch keiner zu wundern, daß ein Solarenergie-
Wirtschaft sie. Hier paßt das berühmte Wort von Willy
auftrag der Saudis über mehrere hundert Millionen
Brandt wirklich besonders gut: „Wer morgen sicher
DM an die Japaner ging, weil die in dieser Frage
leben will, muß heute für Reformen sorgen. " Die
einfach weiter sind. Ich bin aber der festen Überzeu-
ökologische Steuerreform gehört dazu.
gung: Nicht das Land, das die besten U-Boote und die
besten Panzer, sondern das Land, das die besten (Beifall bei der SPD)
Energieeinspar- und Umweltschutztechnologien pro- Warum können Sie mit uns eigentlich nicht kleine
duziert und exportiert, wird im Jahr 2000 weltweit die Schritte in die richtige Richtung machen, so z. B. die
Nase vorn haben. Kilometerpauschale durch eine Entfernungspau-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schale ersetzen, die jedem Arbeitnehmer zur Verfü-
GRÜNEN und der PDS — Dr. Wolfgang gung steht, egal wie er sich zu seinem Arbeitsort
Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das eine schließt begibt? Das wäre ein wirksamer Anreiz für die Benut-
das andere nicht aus!) zung des öffentlichen Personennahverkehrs oder für
die Bildung von Fahrgemeinschaften,
Auch in Deutschland haben wir längst nicht alle
Energieeinsparpotentiale ausgeschöpft. (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
[CDU/CSU]: Habt Ihr schon einmal etwas
(Zuruf von der CDU/CSU: Zum Beispiel die von Steuervereinfachung gehört?)
Kernkraftwerke!)
weil dann jeder Beifahrer seine Entfernungspau-
Ich darf daran erinnern, daß wir in den 70er Jahren ein schale erhielte. Übrigens wäre das auch ein wichtiger
sehr erfolgreiches Programm zum Einbau von Doppel- Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts.
fenstern aufgelegt haben. Mit Hilfe eines Zuschusses
haben damals Hunderttausende von Menschen Dop- (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
pelfenster eingebaut, Energie gespart und Arbeits- [CDU/CSU]: Von wegen!)
plätze geschaffen — ein besonders gutes Beispiel für Und warum gibt es eigentlich immer noch eine
die Verbindung von Arbeit und Umwelt. Mineralölsteuerbefreiung für Flugbenzin, für die
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 327
Ingrid Matthäus-Maier
gewerbliche Binnenschiffahrt oder die Gasölbetriebs- Aber sparen kann man das doch nun wirklich nicht
beihilfe? Einen Teil davon wird man nur auf europäi- nennen, Herr Waigel.
scher Ebene regeln können, aber man muß es endlich
(Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek
anpacken.
[Duisburg] [SPD]: Versilbern nennt man so
(Beifall bei der SPD) etwas! — Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Dann
machen Sie doch wenigstens bei unseren
Außerdem zeigen diese Beispiele, daß Umwelt- Sparvorschlägen mit!)
schutz nicht immer nur Geld kosten muß, sondern
Außerdem sind die vorgesehenen 58,6 Milliarden
durchaus auch Geld bringt. Daß das Bundesverfas-
DM an neuen Schulden angesichts einer guten Kon-
sungsgericht Sie durch die Entscheidung zum Kohle-
junktur auch nicht gerade ein Pappenstiel. Von den
pfennig, den es als verfassungswidrig eingestuft hat,
beiden letzten Jahren abgesehen ist das die dritthöch-
zwingt, endlich ernsthafter als bisher an die Energie-
ste Neuverschuldung des Bundes.
steuer heranzugehen, ist sicher zu begrüßen.
(Zurufe von der SPD: Ja! — Richtig!)
Da wir gerade bei der Kohle sind: Daß Sie die
Zweidrittelbeteiligung des Bundes an der Kokskoh- Wenn Sie einmal keinen neuen Schuldenrekord auf-
lenbeihilfe im Haushalt 1995 auf 50 % herunterfah- stellen, dann ist das doch kein Grund, das gleich als
ren, ist ein Verstoß gegen die Kohlerunde 1991. Wir Haushaltskonsolidierung zu feiern, meine Damen und
fordern Sie auf: Nehmen Sie diesen Vertrauensbruch Herren.
gegenüber den Arbeitnehmern in der Montanindust- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rie und ihren Familien zurück! DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wie ernst selbst in Regierungskreisen die Finanz-
der PDS) lage des Staates eingeschätzt wird, hat doch erst
jüngst ein Papier aus dem Bundeskanzleramt gezeigt,
Was die dringend notwendige Konsolidierung des das dringend vor einem 30-Milliarden-Loch gewarnt
Bundeshaushaltes angeht, so ist das Ergebnis auch hat. Dieses Papier stammt doch aus dem Bundeskanz-
außerordentlich mager. Sie sagen, Ihr Haushalt sei ein leramt, nicht von Sozialdemokraten!
Sparhaushalt, weil er nur um 0,9 % steige; Sie haben
das eben wiederholt. Das liegt doch aber nur an einer (Dr. Peter Struck [SPD]: Kohl hat das
Bilanzierungsänderung. Knapp 30 Milliarden DM des gemacht!)
Bundes für die neuen Länder wurden in 1994 auf der Wenn der Herr Bundesbankpräsident Tietmeyer
Ausgabenseite verbucht, während sie 1995 als Steuer- wenige Tage vor den Haushaltsberatungen mahnt,
mindereinnahmen außen vor bleiben. Wenn man dies eine Besserung in der mittelfristigen Finanzplanung
berücksichtigt, dann beträgt die Steigerungsrate Ihres sei nicht zu erkennen und der Ausstieg aus der — so
Haushaltes mehr als 7 % statt der ausgewiesenen 1 %. wörtlich — „Verschuldungsfalle" dürfe nicht schei-
Mit Sparen hat das nichts zu tun. tern, dann ist das nun wirklich ein Alarmzeichen.
Herr Waigel, da Sie mir das nicht abnehmen, darf Die Finanzkrise des Staates hat mittlerweile drama-
ich einmal die „Welt", die uns ja nun nicht gerade tische Ausmaße angenommen: ein öffentlicher Schul-
nahesteht, von heute morgen zitieren. Dort heißt es in denberg von insgesamt 2 Billionen DM, davon 1,4 Bil-
einer Überschrift: „Ein Stabilitätshaushalt, der nur so lionen DM — das sind 70 % — allein beim Bund. Die
aussieht, aber keiner ist". Recht hat die „Welt", meine Verschuldung pro Kopf der Bevölkerung beträgt zum
Damen und Herren. Jahresende insgesamt etwa 27 000 DM. Das heißt,
Ende 1995 wird eine vierköpfige Familie eine Staats-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schuld in Höhe von 108 000 DM auf dem Buckel
der PDS) haben.
Dann ist Herr Waigel stolz, daß die Neuverschul- Eine Politik, die über einen dauernden Anstieg der
dung um etwa 10 Milliarden DM geringer ausfällt als öffentlichen Gesamtverschuldung zugleich auch den
vorgesehen. Das begrüßen wir ausdrücklich. ständigen Anstieg der Zinsbelastung billigend in Kauf
nimmt, verzichtet aber darauf, die Zukunft aktiv zu
(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele gestalten, meine Damen und Herren.
[F.D.P.])
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Aber auch dies hat doch mit echter Konsolidierung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nichts zu tun.
Das ist ja das Entscheidende: Auch diejenigen, die
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist sagen, die Investitionsquote sei doch hoch, und das
es!) mache man ja alles für die Zukunft, dürfen nicht
vergessen, daß diese enorme Verschuldung zu einer
Denn zum einen hat sich der Finanzminister den Trick enormen Zinsbelastung führt. Auf diese Schulden
einfallen lassen, durch eine Vorverlegung des Fällig- zahlt nämlich allein der Bund 1995 fast 100 Milliarden
keitstermins bei der Mineralölsteuer zum Jahresende DM an Zinsen. Das ist ein Viertel aller Steuereinnah-
einmalig das Steueraufkommen 1995 um 2,6 Milliar- men des Bundes. Ich darf Sie daran erinnern, daß das
den DM zu liften. Zum anderen werden 13 Milliarden Bundesverfassungsgericht bei anderer Gelegenheit
DM durch Privatisierungen erzielt. „Waigels einmali- eine Zins Steuer Quote von 24 % als Haushaltsnot-
- -
ger Geldsegen", schreibt die „Wirtschaftswoche". lage bezeichnet hat. Das schreiben Sie sich einmal
328 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
hinter die Ohren, Herr Waigel: Eine Haushaltsnotlage sich bei Helmut Schmidt öffentlich zu entschuldigen,
des Bundes wäre die Folge! meine Damen und Herren?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS) der PDS)
Die gesamte öffentliche Hand, also die anderen Da wir gerade beim Entschuldigen sind: Wissen Sie
Gebietskörperschaften und die Nebenhaushalte da noch, wie Sie Helmut Schmidt mit dem angeblichen
zugenommen, zahlt 1995 145 Milliarden DM an Zin- Pleitenrekord gejagt haben? Gestern konnten wir
sen. Zum Vergleich: Der ganze Bundeshaushalt für lesen: über 20 000 Pleiten allein in den alten Bundes-
Umwelt beträgt 1,4 Milliarden DM. Obwohl der Staat ländern, unter Ihrer Bundesregierung!
in jeder Minute 1,6 Millionen DM an Steuern ein-
nimmt, macht er zusätzlich in jeder Minute 340 000 (Zuruf von der SPD: In einem Jahr!)
DM neue Schulden und zahlt für seine Schulden in Da finde ich, daß Sie einmal in sich gehen und merken
jeder Minute 280 000 DM Zinsen. Meine Damen und sollten, wie unfair Sie den ehemaligen Bundeskanzler
Herren, das muß uns doch parteienübergreifend behandelt haben.
besorgt machen: in jeder Minute 280 000 DM Zinsen!
Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der
versündigen wir uns an den nachfolgenden Genera- CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Der
tionen, weil die dann kein Geld mehr haben werden, arme Herr Schmidt!)
um Politik zu machen.
Die Schulden, so sagt die Bundesregierung, seien
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die notwendigen Folgen der deutschen Einheit. Das
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ist nun wirklich nicht zutreffend. Niemand bestreitet,
PDS — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] daß die deutsche Einheit eine so große Herausforde-
[F.D.P.]: Die stoppen wir ja, allerdings gegen rung darstellt, daß sie vorübergehend eine höhere
Ihren Widerstand!) Nettokreditaufnahme rechtfertigt. Selbstverständ-
Noch bedrohlicher als der Schuldenstand ist die lich! Aber das konnte doch kein Freibrief für eine so
Dynamik der Staatsverschuldung. Alle 13 Finanzmi- maßlose Staatsverschuldung sein. Der Herr Bundes-
nister in den 40 Jahren von 1949 bis zur Amtszeit von kanzler sagt heute dazu gerne beschwichtigend, alle
Herrn Waigel haben in diesen Jahren zusammen nicht hätten sich damals getäuscht. Nein, meine Damen und
soviel neue Schulden wie der Herr Waigel allein in Herren, diese Geschichtsklitterung lassen wir nicht
den fünf Jahren seiner Amtszeit gemacht. zu.
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Zuruf von (Beifall bei der SPD)
der CDU/CSU: Er hat auch die Einheit ge Ich darf daran erinnern, daß es schließlich Sozialde-
managt!) mokraten waren, die bereits im Wahlkampf 1990 mit
Da Sie, Herr Bundesfinanzminister, zugleich CSU- Entschiedenheit darauf hingewiesen haben, daß die
Vorsitzender sind, darf ich Ihnen eine CSU-Wahl- deutsche Einheit dreistellige Milliardenbeträge ko-
kampfanzeige gegen den damaligen Bundeskanzler sten würde, was von Ihnen immer als Horrorzahl
Helmut Schmidt aus dem Jahr 1980 in Erinnerung zurückgewiesen wurde. Aber unsere angeblichen
bringen. Darin hieß es wörtlich: Horrorzahlen sind doch von der Wirklichkeit längst
übertroffen worden. Es mag sein, daß sich der Herr
Endstation Staatsbankrott: Die Gesamtverschul- Bundeskanzler über das Gesamtvolumen der Kosten -
dung der öffentlichen Haushalte liegt jetzt annä- getäuscht hat, aber in erster Linie hat der Herr
hernd bei der Ziffer, welche uns Hitler als Ergeb- Bundeskanzler nicht sich getäuscht, sondern er hat die
nis seines Wahnsinnskrieges hinterlassen hatte, Wähler getäuscht, als er vor der Wahl sagte: keine
bei über 400 Milliarden DM.
Steuererhöhungen für die deutsche Einheit, und
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Unglaub danach kamen die größten Steuer- und Abgabenerhö-
lich!) hungen.
Herr Waigel, abgesehen davon, daß dieser Vergleich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
absolut geschmacklos war, will ich hier einmal die der PDS)
Zahlen darstellen.
Daß diese enorme Staatsverschuldung nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwangsläufige Folge der deutschen Einheit war, sieht
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der man an drei einfachen Beispielen:
PDS)
Erstens. Hätten Sie nicht schlimme wirtschaftspoli-
Als Helmut Schmidt von Ihnen gestürzt wurde, tische Fehler bei der deutschen Einheit gemacht,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von wären die Kosten zweifellos geringer gewesen. Jeder-
der CDU/CSU: Der Arme Helmut!) mann in diesem Lande weiß, daß allein die unselige
Eigentumsregelung — Rückgabe vor Entschädi-
betrug nach zwei Erdölkrisen die Verschuldung des gung Investitionen um Jahre verzögert und damit
Bundes 390 Milliarden DM. Heute beträgt die Ver- zu Milliardenverlusten geführt hat.
schuldung des Bundes 1 400 Milliarden DM. Sie
haben während der Amtszeit Ihres Bundeskanzlers (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Verschuldung des Bundes um 1 Billion DM erhöht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Meinen Sie nicht, daß es langsam an der Zeit wäre, PDS)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 329
Ingrid Matthäus-Maier
Zweitens. Hätten Sie früher, wie von uns gefordert, desverwaltung eine Schrumpfkur von 1 % Personal
beim Verteidigungshaushalt zu kürzen begonnen, abbau pro Jahr verordnet, selber aber mit einer
dann hätten auch Milliarden gespart werden kön- Mammutriege von über 70 Regierungsmitgliedern in
nen. die neue Legislaturpe ri ode geht: ein Kanzler, 17 Mi-
Drittens. Hätte die Bundesregierung den Solidari- nister und ein Heer von über 50 Staatssekretären?
tätszuschlag nicht Mitte 1992 auslaufen lassen, son- Mein Eindruck ist: Die Größe dieser Regierung steht in
dern ihn, wie alle Experten und auch meine Partei umgekehrtem Verhältnis zu der Qualität ihrer Arbeit.
gefordert hatten, für Einkommen oberhalb einer Deswegen sollten Sie da endlich abspecken.
Grenze von 60 000 DM bei Ledigen bzw. 120 000 DM (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bei Verheirateten auch für die Jahre 1993 und 1994 DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
beibehalten, dann hätte uns das allein 40 bis 50 Mil- PDS)
liarden DM Schulden erspart. Das wären schon jetzt
ein paar Milliarden DM weniger Zinsen, meine Sparen heißt außerdem, daß man nicht Dinge
Damen und Herren. anschafft, für die man kein Geld hat. Damit bin ich
beim Jäger 90.
(Beifall bei der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Endlich!)
Nein, die Schuldenfalle, in der wir sitzen, ist in
großem Maße hausgemacht. Warum war es z. B. nicht Sie sagen: Oje, oje, jetzt kommt die Frau Matthäus-
möglich, in Zeiten guter Welt- und Binnenkonjunktur Maier mit dem Jäger 90! Aber ich sage Ihnen: Wir
in den 80er Jahren den Schuldenstand wenigstens können doch nicht aufhören, das Richtige zu fordern,
einmal abzubauen, statt ihn ständig auszuweiten? nur weil Sie nicht aufhören, das Falsche zu tun.
Warum konnten nicht wenigstens die über 130 Milli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
arden DM Bundesbankgewinne, von denen Sie ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
sprochen hatten, nie und nimmer würden Sie sie PDS)
kassieren, nicht voll und ganz in den Abbau der
Staatsverschuldung gesteckt werden? Schon die Billigversion des Jäger 90 soll 100 Millio-
nen DM pro Stück kosten. Übrigens, wie Herr Rühe so
Nein, am Sparen, am Kürzen, am Gürtel-enger- argumentiert, hat man das Gefühl, man würde sich
Schnallen, führt kein Weg vorbei. Aber Vorsicht: geradezu ein Schnäppchen entgehen lassen, wenn
Unter dieser Bundesregierung fordern meist diejeni- man nicht ein Flugzeug für 100 Millionen DM pro
gen dazu auf, den Gürtel enger zu schnallen, die Stück kauft.
selber Hosenträger anhaben. Das kann nicht funktio-
nieren. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Anke
Fuchs [Köln] [SPD]: Winterschlußverkauf!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Für einen einzigen Jäger 90 könnte man 1 000 Sozial-
PDS) wohnungen bauen. Da kann ich nur sagen: Wir
brauchen endlich ausreichend Sozialwohnungen und
Sparen ist nur dann glaubwürdig, wenn es dabei haben kein Geld für den Jäger 90, und dabei
gerecht zugeht. Ich nenne nur zwei Beispiele, wie man bleibt's!
nicht sparen darf:
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Das eine Beispiel: Das Kürzungspaket dieser Bun- GRÜNEN und der PDS)
desregierung in Höhe von 20 Milliarden DM vom
letzten Jahr, bei dem der Herr Bundeskanzler, der Das Verschieben von Kosten auf andere öffentliche -
Herr Bundesfinanzminister und die Frau Matthäus Haushalte ist auch kein Sparen, sondern ein finanz-
Maier nicht eine einzige Mark zu den Kürzungen politisches Schwarzer-Peter-Spielen. Dazu gehört der
beitragen mußten, wohl aber Arbeitslose, Familien Vorschlag der Bundesregierung zur Kürzung der
mit Kindern und Sozialhilfeempfänger zur Kasse Arbeitslosenhilfe. Damit würden Hunderttausende
gebeten wurden, ein solches Kürzungspaket ist nicht von Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe geschoben
gerecht und daher unglaubwürdig — und eine Regie- und Kosten von vier bis sechs Milliarden DM auf die
rung, die es vorlegt, auch. Gemeinden verlagert.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zurufe von der SPD: Richtig!)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eine solche Politik der Verschiebebahnhöfe lehnen
PDS) wir ab. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie Probleme
Oder: Ein Bundeskanzler, der den schlanken Staat lösen, aber nicht, daß Sie die Probleme weiterschie-
verordnet, ben nach dem Motto: Bundeshaushalt saniert,
Gemeindefinanzen ruiniert.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Er hat auch
Hosenträger!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dann zwei Ministerposten einspart — was wir begrü-
PDS)
ßen —, aber zugleich das Heer der Staatssekretäre
wieder um eine Stelle vergrößert, ein solcher Bundes- Zu einer soliden Finanzpolitik gehört auch, daß der
kanzler ist ebenfalls nicht glaubwürdig. Staat die Steuern, die ihm zustehen, wirklich erhebt
und Steuerhinterziehung und Mißbräuche be-
Was meinen Sie eigentlich, was die Mitarbeiter der
kämpft.
Bundesverwaltung über die Vorbildfunktion einer
Regierung denken, wenn diese Regierung der Bun (Beifall bei der SPD)
330 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
Darauf haben die ehrlichen Steuer- und Beitragszah- Können Sie mir sagen, wie bei einem Sozialhilfeemp-
ler ein Recht, weil sonst die Ehrlichen durch höhere fänger, der versucht, statt der ihm zustehenden
Steuern und Beiträge für die Mißbräuche und Steuer- 560 DM im Monat 20 DM mehr zu erschleichen — was
hinterziehungen der Unehrlichen mitbezahlen müs- sicher nicht rechtens ist —, ein Unrechtsbewußtsein
sen. Wenn der Staat nicht entschlossen gegen Miß- entstehen soll,
brauch vorgeht, untergräbt er auch die Akzeptanz des (Zuruf von der CDU/CSU: Sie antworten
Steuer- und Abgabensystems. Mißbrauch muß also doch gar nicht!)
bekämpft werden — das sage ich nicht erst seit
heute —, auch im sozialen Bereich. wenn er in der Zeitung liest, daß der ehemalige
Regierungssprecher Peter Boenisch wegen Steuerhin-
Allerdings geht diese Aufforderung nicht nur an
terziehung zu 1 Million DM Steuerstrafe verurteilt
Arbeitnehmer, sondern auch an Arbeitgeber. Der
worden ist?
größte Teil des Sozialmißbrauchs kann doch über-
haupt nur funktionieren, weil Arbeitgeber z. B. bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
illegaler Beschäftigung oder bei Schwarzarbeit aktiv der PDS — Widerspruch bei der CDU/
beteiligt sind, wie der Bericht der Bundesregierung CSU)
über Mißbrauch in der Arbeitsverwaltung vor weni- Das bedeutet: etwa eine halbe Million DM hinterzo-
gen Monaten erst gezeigt hat. gene Steuern. Um auf diese halbe Million zu kommen,
(Beifall bei der SPD) müssen eine Menge Sozialhilfeempfänger ganz schön
Außerdem muß die Bundesregierung viel entschlos- betrügen, meine Damen und Herren.
sener als bisher gegen Steuerhinterzieher und Sub- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ventionsbetrüger vorgehen, zumal die Summen, um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
die es hier geht, den Mißbrauch im Sozialbereich bei PDS)
weitem in den Schatten stellen.
Können Sie mir sagen, wie ein Unrechtsbewußtsein
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entstehen soll, wenn der Sozialhilfeempfänger außer-
der PDS) dem noch in der Zeitung liest, daß der Herr Bundes-
Wenn der Baulöwe Schneider, wie in den Zeitungen kanzler eben diesen Mann Anfang des Jahres zu
zu lesen, jahrelang keine Steuern gezahlt hat, wenn seinem persönlichen Wahlkampfberater Nr. 1 berufen
Herr Flick nach Österreich geht, um sich seiner hat, meine Damen und Herren?
Steuerpflicht in Deutschland zu entziehen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Dr. Peter Struck [SPD]: Unglaublich!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
wenn Fußballprofis nach Belgien umziehen, um in den PDS)
Genuß der geringeren Pauschalbesteuerung zu gera- Wie soll ein Unrechtsbewußtsein entstehen, solange
ten, und Fernsehmoderatoren ihnen folgen, wenn in diesem Lande Schmiergelder, auf deutsch: Beste-
außerdem noch die Bundesregierung diese Steuer- chungsgelder, steuerlich absetzbar sind? Nein, meine
schlupflöcher nicht schließt, dann unterhöhlt das die Damen und Herren, der Fisch stinkt vom Kopfe: Oben
Steuermoral in diesem Lande. werden die schlechten Beispiele gesetzt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS) PDS)
Es wäre die Aufgabe der Eliten in diesem Lande,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus- diesem Verfall der Steuermoral durch persönliches
Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Vorbild und durch Verantwortungsgefühl ein Ende zu
setzen. Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden nicht
zulassen, daß eine Schieflage entsteht, bei der der
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja.
Sozialmißbrauch lauthals angeprangert wird, Steuer-
hinterziehung und Subventionsbetrug aber als Kava-
Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Frau Kollegin, liersdelikte durchgehen. Beides muß bekämpft wer-
würden Sie in diese Aufzählung auch die öffentlich- den!
rechtlichen Kreditinstitute in Luxemburg aufneh- (Beifall bei SPD)
men, die tatkräftig mithelfen, daß Steuerhinterzie-
hungstatbestände organisiert werden können, selbst Speziell bei der Bekämpfung der Steuerhinterzie-
dann, wenn Finanzminister wie Herr Schleußer Ver- hung bei der Zinsbesteuerung hat sich Herr Waigel
waltungsratsvorsitzende sind? nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Jedermann weiß,
daß dem Staat Jahr für Jahr Milliarden DM an
Zinsbesteuerung verlorengehen. Auch unter der
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Sie werden an einer deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union
anderen Stelle meiner Rede merken: Daß sich alle hat sich das trotz aller Versprechen nicht geändert.
Kreditinstitute bezüglich „Zinsbesteuerung und Lu-
xemburg" nicht mit Ruhm bekleckert haben, ist Aber, Herr Bundesfinanzminister, Sie können sich
nicht einfach hinter Luxemburg verstecken; denn Sie
bekannt.
haben doch der Steuerverwaltung durch die Ände-
Aber, Herr Schauerte, jetzt geht es weiter: rung der Abgabenordnung ganz bewußt die Möglich-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war doch keit genommen, wirksam gegen diese Steuerhinter-
keine Antwort!) ziehung vorgehen zu können.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 331
Ingrid Matthäus-Maier
Der Arbeitnehmer wird von dieser Regierung in dreimal soviel wert sein sollen wie die Kinder kleiner
einer noch nie dagewesenen Höhe durch Steuern und Leute.
Abgaben geschröpft. Aber wenn einer im Monat an
Zinsen so viel verdient, wie ein normaler Arbeitneh- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
mer in einem ganzen Jahr an Lohn oder Gehalt GRÜNEN und der PDS)
bekommt, stehen ihm die Scheunentore für die Zweites Gegenargument: Bei unserem Vorschlag
Steuerflucht weit offen, und die deutsche Kreditwirt- würden Familien mit Kindern angeblich schlecht
schaft steht im Zweifel zur Hilfe bei der Kapital- und behandelt, weil sie genausoviel Steuern zahlen müß-
Steuerflucht bereit. Dies muß endlich ein Ende ten wie Familien ohne Kinder. Auch das ist Unsinn.
haben. Wir sehen ausdrücklich den Abzug von der Steuer-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schuld vor. Das heißt, daß ein Arbeitnehmer, der zwei
GRÜNEN und der PDS) Kinder hat, im Monat 500 DM weniger Lohnsteuer
zahlen würde als sein Kollege ohne Kinder. Dies wäre
Dies führt nicht nur zu Steuerausfällen in Milliar- auch eine enorme Vereinfachung des Steuerrechts
denhöhe. Für mindestens genauso gefährlich halte ich sowie der Verwaltung. Jeder Bürger würde wissen,
die Stimmung, die sich langsam im Lande verbreitet: wieviel ihm für sein Kind zusteht. Dies spart auch
Der Ehrliche ist der Dumme; wenn er Steuern zahlt, ist Kosten. Die meisten von Ihnen wissen sicher nicht, daß
er eigentlich nicht ganz dicht. Ich sage Ihnen: Eine allein im Haushaltsentwurf 1995 650 Millionen DM
Regierung, die zuläßt, daß der ehrliche Steuerzahler dafür vorgesehen sind, daß der Bund der Bundesan-
meint, er sei der Dumme, untergräbt die Grundlagen stalt für Arbeit die Kosten für die Auszahlung des
unseres Gemeinwesens. Deshalb muß dies schleu- Kindergeldes erstattet.
nigst gestoppt werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Unglaublich!)
DIE GRÜNEN) Das ist sicher unsinnig.
Angesichts der Zinsfalle, in die Sie uns hineinma-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen Sie
növriert haben, kommt dem Umschichten im Haushalt
den Ländern sagen!)
eine besondere Bedeutung zu. Als wichtigstes Bei-
spiel für intelligentes und sozial gerechtes Umschich- Drittes Gegenargument: Unser Vorwurf, Kinderfrei-
ten nenne ich die nötige Verbesserung des Familien- beträge seien unsozial, stimme nicht. Dies ist nun ganz
leistungsausgleichs. Die Familien mit Kindern kom- einfach zu widerlegen. Der heutige Kinderfreibetrag
men bei dieser Bundesregierung unter die Räder. in Höhe von etwas über 4 000 DM führt dazu, daß
Auch 1995 werden sie vergeblich darauf warten, daß jemand mit niedrigem Einkommen daraus eine Entla-
die verfassungsrechtlich gebotene Entlastung wirk- stung von 65 DM im Monat erhält, ein Spitzenverdie-
lich stattfindet. ner — das ist nach unserer Definition derjenige, der
Hat nicht gerade erst die Denkschrift der beiden den Spitzensteuersatz zahlt, der im Jahr also mehr als
Kirchen beklagt, daß Kinder immer mehr zu einem 240 000 DM verdienen muß — jedoch für sein Kind
Armutsrisiko für die Familien werden? — Dies ist eine Entlastung von 181 DM im Monat erhält. 65 DM
übrigens ein Armutszeugnis für zwölf Jahre Regie- für das Kind kleiner Leute, 181 DM für das Kind von
rung Kohl. Spitzenverdienern: Da bekommen also die Spitzen-
verdiener 116 DM mehr an Entlastung für ihr Kind im
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Monat. Hier gilt doch der Satz: „Wer hat, dem wird
GRÜNEN und der PDS) gegeben" oder, um es einmal mit Luther zu sagen -
Wir schlagen Ihnen eine Anhebung des Kindergel- — das ist Luther, das bin nicht ich —:" Der Teufel
des auf 250 DM vom ersten Kind an sowie eine scheißt immer auf den größten Haufen." Das ist hier
Erhöhung ab dem vierten Kind auf 350 DM als Abzug offensichtlich der Fall.
von der Steuerschuld vor, solide finanziert durch das
Ersetzen des Kinderfreibetrages bei der Steuer und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
durch eine maßvolle Begrenzung des Ehegattensplit-
PDS)
tings. Die von Ihnen dagegen immer wieder vorge-
brachten Gegenargumente sind nicht stichhaltig. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe ein Gesetz mit
Erstes Gegenargument: Unser Vorschlag sei angeb- der Überschrift „Entlastung für Familien mit Kindern.
lich nicht verfassungsgemäß, Karlsruhe schreibe Frei- § 1: Eltern mit niedrigem Einkommen erhalten für ihr
beträge vor. Das ist Unsinn. Das Verfassungsgericht Kind im Monat eine Entlastung von 65 DM. § 2: Eltern,
hat mehrfach festgestellt, dem Gesetzgeber stehe es die im Jahr mehr als 240 000 DM verdienen, erhalten
ausdrücklich frei, „die kinderbedingte Minderung der für ihr Kind im Monat eine Entlastung von 181 DM."
Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu Dann würden die Menschen alle meinen, wir hätten
berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht sie nicht mehr alle, es seien in den Paragraphen die
durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Zahlen vertauscht worden.
Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)
Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das
Kindergeld miteinander zu kombinieren." Das heißt, Aber die Zahlen sind nicht vertauscht worden. Das ist
daß nach unserer Verfassung mehrere Modelle mög- exakt die Wirkung des Kinderfreibetrages. Wenn Sie
lich sind. Verstecken Sie sich also nicht hinter Juriste es uns Sozialdemokraten nicht glauben: Bitte schla-
reien wenn Sie aus ideologischer Verbohrtheit darauf gen Sie in der Denkschrift der beiden Kirchen nach.
beharren, daß Kinder reicher Leute dem Staat fast Dort steht wörtlich:
332 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
Als eine sozialstaatliche Fehlentwicklung ist es Gunnar Uldall (CDU/CSU): Frau Matthäus-Maier,
auch anzusehen, daß ... Kinderfreibeträge . . . ist Ihnen nicht klar, daß bei unserem heutigen Steu-
die Begünstigten um so mehr entlasten, je höher ersystem bei jeder Progression jeder Freibetrag einen
ihr steuerpflichtiges Einkommen ist. größeren Vorteil bietet, je höher die Steuersätze
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind?
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten
PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus-
— Nun hören Sie einmal zu! Vielleicht kann ich diese
Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Uldall? erhellende Frage für Ihre Kollegen jetzt einmal zu
Ende stellen.
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)
Wird nicht durch den Solidaritätszuschlag, der von
Gunnar Uldall (CDU/CSU): Frau Kollegin, wäre es den Spitzenverdienern zu zahlen ist, die vermeintli-
dann nicht das einfachste, den Spitzensteuersatz so che Ungerechtigkeit noch größer werden? Der eine
abzusenken, daß die von Ihnen vorgegebene Bevor- muß mehr zahlen und erhält dadurch angeblich einen
zugung dadurch verringert werden würde? größeren Vorteil. Können Sie diese Widersinnigkeit
(Lachen bei der SPD) bitte einmal erläutern?
Um dies zu erläutern: Die von Ihnen vorgegebenen (Unruhe bei der SPD)
Vorteile des Spitzenverdieners mit einem Einkommen
von 240 000 DM kommen — so dürfte Ihnen bekannt
sein, Frau Matthäus-Maier — nur dadurch zustande,
daß der eine eben 19 % und der andere 53 % Steuern Ing rid Matthäus-Maier (SPD): Herr Uldall, da ich Sie
zahlt. persönlich schätze, ist es mir ein bißchen unange-
nehm, daß Sie das, was ich soeben erläutert habe,
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Uldall, daß in nicht verstanden haben.
Ihrem Kopf herumspukt, Spitzensteuersätze zu sen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ken, und zwar in einer Zeit, in der Sie die kleinen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Leute verfassungswidrig hoch besteuern, das weiß ich PDS)
schon. Das machen Sie immer so.
Denn Ihr Satz — ich sehe doch , daß alle Steuerpoli-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiker in Ihrer Fraktion sich schon über Ihre Frage
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heimlich die Haare raufen —,
Aber jetzt ernsthaft: Sie wollen doch, um es einmal
(Heiterkeit bei der SPD — Joseph Fischer
steuersystematisch auszudrücken, uns die Frage stel-
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
len: Muß es nicht so sein, daß dann, wenn ein
Zum Raufen ist da doch nichts mehr!)
Steuersystem progressiv wirkt, also mit steigendem
Einkommen belastender wird, auch die Entlastung für jeder Steuerfreibetrag würde höhere Einkommen
Kinder progressiv ist? Wieso denn eigentlich? stärker entlasten als kleinere, ist mit dem Beispiel des
Schauen Sie sich doch einmal den Grundfreibetrag Grundfreibetrages nun wirklich widerlegt.
an. Dieser Grundfreibetrag für alle befreit theoretisch (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Der Grundfrei--
— das reicht bei Ihnen nicht; das müssen wir ändern — betrag ist kein Freibetrag!)
das Existenzminimum von der Steuer. Der Grundfrei-
betrag, der also unser aller Existenzminimum freistel- — Aha. Sie sagen, der Grundfreibetrag sei kein
len soll, wirkt aber nur linear. Auf Deutsch: Die Freibetrag. Deshalb heißt er ja wohl auch „Grundfrei-
Entlastung ist für alle Menschen gleich hoch. Warum betrag", weil er kein Freibetrag ist.
muß denn die Entlastung für alle gleich hoch sein? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Also, Frau Mat des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
thäus-Maier — —) PDS)
— Das paßt Ihnen nicht — das weiß ich wohl —, weil Herr Uldall, ich würde sagen: Setzen, Fünf.
sowohl für jeden mit normalem Menschenverstand als
auch steuersystematisch Ihre Position verkehrt ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
(Beifall bei der SPD —Joseph Fischer [Frank PDS)
furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen!
Sechs! — Abg. Gunnar Uldall [CDU/CSU] Aber da Sie, Herr Uldall, mich nun gereizt haben, in
meldet sich zu einer weiteren Zwischen- die Steuersystematik einzusteigen — nein, nein, blei-
frage) ben Sie ruhig stehen; ich bin noch nicht fertig mit
Ihnen;
— Ja gut, wenn Sie unbedingt noch einmal wollen,
gerne. Ich mache mit Ihnen gerne weiter, bitte. (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeord-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wir haben es neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
schon schwer! — Helmut Wieczorek [Duis und der PDS)
burg] [SPD]: Aber so, daß wir es auch verste so geht das ja nicht —, will ich gleich weiterma-
hen!) chen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 333
Ingrid Matthäus-Maier
Das Chaos hat bei Ihnen ja Methode. Wieso? Wir 14 Jahre lang das Kind erziehen, um auf diesen
haben gerade gelernt, der Grundfreibetrag ist für alle verrückten Betrag von 22 842 DM zu kommen, den bei
in gleicher Weise entlastend, Ihnen Spitzenverdiener allein dadurch Jahr für Jahr
(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Der Grundfrei erhalten, daß sie heiraten. Dazu sage ich: Nein, meine
betrag ist kein Freibetrag!) Damen und Herren. Unser Angebot liegt auf dem
Tisch. Beschließen Sie mit uns gemeinsam ein Kinder-
der Kinderfreibetrag ist progressiv entlastend. Jetzt geld in Höhe von 250 DM und den Abzug von der
haben sie ja einen famosen Tarifvorschlag gemacht. Steuerschuld.
Danach soll die Grundentlastung sogar abgebaut
werden. Das nennt man steuertechnisch „regressiv", Wir verlangen das übrigens auch deswegen, damit
Herr Kollege. Das heißt, mit steigenden Einkommen endlich die verfassungswidrige Besteuerung der
nimmt die Grundentlastung sogar ab. Ich frage: Was Familien mit Kindern ein Ende hat.
ist denn das für ein Chaos bei Ihnen: bei den Kindern
progressiv, bei der Grundentlastung regressiv? (Beifall bei der SPD)
Schließen Sie sich doch besser unserem Vorschlag an.
Wir sagen: linear. Das heißt auf deutsch: für alle gleich Denn wir sind der Ansicht, es kann doch nicht länger
hoch. Ich frage Sie: Was haben Sie denn eigentlich angehen, daß die Menschen in diesem Lande zu ihren
dagegen? in der Verfassung verbrieften Rechten erst dann
gelangen, wenn sie nach Karlsruhe gehen. Wissen Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn eigentlich, daß Jahr für Jahr Millionen von
der PDS) Steuerbescheiden nur vorläufig ergehen, und zwar
Es geht mir hier wirklich um Verständigung. deshalb, weil diese Regierung verfassungswidrige
(Das rote Licht am Rednerpult leuchtet auf) Steuergesetze macht? Haben Sie schon einmal in
Ihren Einkommensteuerbescheid geguckt? Stellen
— Nein, Herr Präsident. Sie haben mir das hoffentlich
Sie sich einmal vor, was im Deutschen Bundestag los
alles von meiner Redezeit abgezogen. Es kann nicht
wäre, wenn ein sozialdemokratischer Finanzminister
sein, daß dann, wenn ich hier Nachhilfestunden gebe,
dafür verantwortlich wäre, daß Jahr für Jahr Millionen
das auf meine Redezeit angerechnet wird.
von Steuerbescheiden immer nur vorläufig ergehen?
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Das ist ein unglaublicher Vorgang, den Sie schnell-
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE stens beenden müssen.
GRÜNEN und der PDS — Dr. Wolfgang
Schäuble [CDU/CSU]: Wie geht die denn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hier mit dem Präsidenten um?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, die Zu dieser verfassungswidrigen Besteuerung gehört
Uhr ist jedesmal bei Fragen und Antworten angehal- das, was Sie beim Existenzminimum machen. Wie
ten worden. Wenn Sie Ihre Rede als pädagogisch können Sie eigentlich durchs Land laufen und kriti-
auffassen, ist das Ihre Sache. sieren, daß das sogenannte Abstandsgebot zwischen
niedrigen Arbeitseinkommen und Sozialhilfe vor
allem bei Familien mit Kindern nicht eingehalten
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Meine Damen und
werde? Der Grund dafür ist doch nicht, daß die
Herren, lassen Sie uns bitte ernsthaft überlegen.
Sozialhilfe verschwenderisch üppig wäre.
Wenn es bis weit in Ihre Fraktion hinein Stimmen gibt
— Frau Süssmuth, Herr Hintze und Herr Geißler —, -
Der Grund liegt doch vielmehr darin, daß die
die sagen, das gleich hohe Kindergeld sei der bessere Bundesregierung den Menschen wegen des nach wie
Weg, dann frage ich: Warum, um Himmels willen, vor viel zu niedrigen Grundfreibetrags von nicht
können wir es dann im Deutschen Bundestag nicht einmal 1 000 DM im Monat und des viel zu niedrigen
gemeinsam beschließen? Kindergelds auch noch das Existenzminimum weg
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuert. Sie besteuern den Menschen das Gehalt so
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der stark, daß sie in die Nähe der Sozialhilfe rutschen.
PDS) Anschließend darüber zu jammern, daß das Lohnab-
Wir hätten das nötige Geld, wenn wir uns entschlös- standsgebot nicht gewahrt ist, ist nun wirklich Zynis-
sen, ein bißchen von den über 30 Milliarden DM, die mus.
das Ehegattensplitting kostet, umzuschichten — wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sagen: etwa 12 Milliarden DM —, hin zu den Familien
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
mit Kindern.
PDS)
Ich weiß doch, daß bis weit in Ihre Fraktion die
heutige Wirkung des unbegrenzten Ehegattensplit- Diese viel zu hohe Belastung der Durchschnittsein-
tings als Ärgernis empfunden wird. Wenn z. B. ein kommen mit Steuern ist übrigens einer der Gründe,
Spitzenverdiener eine nichterwerbstätige Frau heira- warum wir Sozialdemokraten fordern, Ihren Solidari-
tet — auch umgekehrt soll es das jetzt schon einmal tätszuschlag für alle ab 1995 durch eine Ergänzungs-
geben —, dann führt allein die Heirat dazu, daß dieses abgabe nur für Einkommen oberhalb von 60 000 DM
Ehepaar im Jahr 22 842 DM spart, auch wenn in der bei Ledigen bzw. 120 000 DM bei Verheirateten zu
Ehe überhaupt kein Kind vorhanden ist. Eine Familie ersetzen. Wir wollen das natürlich mit einem gleiten-
mit niedrigem Einkommen und einem Kind muß, den Übergang. Weil das auch die Massenkaufkraft
wenn man Kindergeld und Kinderfreibetrag addiert, stärken würde und deshalb für die Konjunktur gut
334 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ingrid Matthäus-Maier
wäre, wäre es wirklich vernünftig, wenn Sie sich Spitzenverdiener. Man lebt doch nicht von Prozenten,
diesem Vorschlag anschließen könnten. sondern von D-Mark in absoluten Zahlen.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
Mit dem Vorschlag, den Herr Waigel zur Steuerfrei- Ich sage es daher in absoluten Zahlen. Eine Familie
heit des Existenzminimums gemacht hat, ist die Bun- mit einem zu versteuernden Einkommen von 60 000
desregierung zu kurz gesprungen. Die Kommentare DM würde bei Ihnen eine monatliche Entlastung von
in den Zeitungen sind entsprechend: Waigels Trick, 21 DM erhalten, Menschen mit Einkommen oberhalb
Waigel versucht es mit der Magerversion, Waigels von 240 000 DM aber eine monatliche Entlastung von
Sündenfall usw. 128 DM. Wer aber in einer Zeit, in der der Staat hinten
und vorne kein Geld hat, auch noch eine Steuersen-
Wir Sozialdemokraten kritisieren an Ihrem Tarifvor- kung für Spitzenverdiener vorschlägt, der weiß doch
schlag insbesondere folgendes: Erstens. Ihr Modell ist gar nicht mehr, wie es in den Familien zu Hause
unglaublich kompliziert. Keiner kann danach mehr aussieht.
den Steuertarif durchschauen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Zweitens. Der Steuerabzugsbetrag ist zu niedrig, GRÜNEN und der PDS)
weil er nur ein Existenzminimum von 12 000 DM bei
Alleinstehenden bzw. 24 000 DM bei Verheirateten Wir Sozialdemokraten werden in den bevorstehen-
steuerfrei stellt. Man braucht kein Steuerexperte zu den Gesetzesberatungen unsere konkreten Alternati-
sein, um zu wissen, daß ein Mensch mit 1 000 DM im ven einbringen, wobei besonders wichtig ist: erstens
Monat seinen Lebensunterhalt inklusive Miete nicht die Steuerfreiheit für Einkommen von 13 000 bzw.
bestreiten kann. Das ist Ihr Verfassungsrisiko Num- 26 000 DM. Zweitens. Die breite Masse der Durch-
mer 1. schnittsverdiener muß stärker entlastet werden als bei
Ihnen. Außerdem darf sich das Steuerrecht nicht
(Beifall bei der SPD) verkomplizieren.
Drittens. Der Abbau des Abzugsbetrages bis zu Damit komme ich am Schluß zu Ihren Gewerbesteu-
einem zu versteuernden Einkommen von 30 000 DM erplänen. Auf die Details wird der Kollege Jochen Poß
bei Ledigen bzw. 60 000 DM bei Verheirateten führt eingehen. Eine böse Ahnung beschleicht mich doch:
doch dazu, daß bei den niedrigen Einkommen ein Die Bundesregierung will die Gewerbesteuer ab-
Buckel entsteht. Ich nenne das einmal den „Kleine- schaffen, in Schritten; das ist ihr Ziel. Die Abschaffung
Leute-Belastungsbuckel von Herrn Waigel". der Gewerbesteuer würde zu einem Steuerausfall von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rund 30 Milliarden DM netto führen. Einige von Ihnen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Anke fordern, diesen Steuerausfall durch eine Beteiligung
Fuchs [Köln] [SPD]: Waigel-Buckel!) der Gemeinden an der Mehrwertsteuer auszuglei-
chen. Was heißt das denn? Sie reden immer so
Das hat Karlsruhe verboten. Die Richter haben vornehm von der Beteiligung der Gemeinden. Sie
gesagt: Einen gleichheitswidrigen Progressions können aber nicht von einem Kuchen 30 Milliarden
sprung darf es nicht geben. Ich frage Sie: Wenn das DM abzwacken, ohne daß sich der Kuchen verändert.
kein Sprung ist, was ist dann noch ein Sprung, meine Das heißt doch auf deutsch, daß diese Bundesregie-
Damen und Herren? rung zum Ausgleich die Mehrwertsteuer um minde-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stens drei Prozentpunkte anheben will. Oder aber es
DIE GRÜNEN) geht nach dem Vorschlag von Herrn Schäuble. Er sagt:
Ersatz der Gewerbesteuer durch ein eigenes Hebe- -
Das ist das Verfassungsrisiko Nummer 2. satzrecht bei der Lohn- und Einkommensteuer. Das
Ich persönlich möchte hinzufügen: würde eine dramatische Anhebung bei der Lohn- und
Einkommensteuer bedeuten. Nur, damit man sich das
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ einmal klarmacht, damit würde auf die Lohnsteuer
DIE GRÜNEN]: Ein Höckertier!) und auch auf den 1995 in Kraft tretenden Solidaritäts-
Ich halte die ganze Konstruktion des Auslaufens des zuschlag zusätzlich eine Steuerbelastung in Höhe des
Abzugsbetrags für einen steuersystematischen Feh- Solidaritätszuschlages obendrauf gesattelt.
ler. Um es einmal klar zu formulieren: Wer beim (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann doch
Millionär Steuern holen will, der soll das doch bitte nicht wahr sein!)
nicht bei seinem Existenzminimum tun, sondern bei
dem, was der Millionär oberhalb des Existenzmini- Vielleicht haben Sie das nicht durchgerechnet, Herr
mums verdient. Schäuble. Stellen Sie sich doch hierhin und sagen den
Menschen, was Sie mit dem Durchschnittsverdiener
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Lande vorhaben. Diese Steuerbelastung geht
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht.
PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Viertens. Die Masse der Durchschnittsverdiener des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
wird viel zuwenig entlastet. Statt dessen werden beim PDS)
Waigel-Tarif auch noch Spitzenverdiener völlig über-
Bei der Diskussion über die Gewerbesteuer vertre-
flüssigerweise entlastet.
ten wir Sozialdemokraten mehrere Interessen: die
Ich will es einmal in absoluten Zahlen sagen. Sie Interessen der Verbraucher — deswegen lehnen wir
sagen immer: 100 % beim Kleinen und 2 % beim eine Mehrwertsteuererhöhung ab —, die Interessen
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 335
Ingrid Matthäus-Maier
der steuerzahlenden Bürger — deswegen lehnen wir strategischen Ziele erlaubt. Dafür, glaube ich, gebührt
die von Ihnen geplante massive Erhöhung der Lohn- dem Finanzminister Anerkennung.
und Einkommensteuer ab — und die Interessen des
Mittelstandes. Nur 16 % aller Gewerbesteuerzahler (Beifall bei der CDU/CSU)
zahlen überhaupt Gewerbekapitalsteuer, darunter Auf der anderen Seite markieren die Haltung der
z. B. die Banken, denen es offensichtlich finanziell Opposition und die erste Einlassung, die wir soeben
sehr gut geht. Es gibt keinen Grund, diese durch die gehört haben, weiter ein in der Sache lähmendes
Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu entlasten Festkrallen an den unproduktiven, falschen Klischees
(Beifall bei der SPD) und Angriffsbildern, die wir in den letzten zehn
und dafür z. B. den Mittelstand und das Handwerk Jahren hier vorgeführt bekommen haben.
durch höhere Mehrwertsteuer oder Einkommensteuer (Beifall bei der CDU/CSU)
zu belasten.
Schließlich vertreten wir die Interessen der Bürge- Es gibt schon optisch eine bemerkenswerte Innova-
rinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. tion in dieser Debatte: Die Plätze hier links von mir, die
Nicht nur durch ihre Gewerbesteuerpläne, sondern in den letzten Monaten von der sogenannten Troika
auch durch die geplante Kürzung der Arbeitslosen- belegt waren, sind erstaunlicherweise heute leer
hilfe will die Bundesregierung die Gemeinden in einer geblieben. Die Sterne sind erst einmal verglüht. Sie,
Milliardengrößenordnung belasten. Es sind doch aber Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind wieder als
gerade die Gemeinden, die für die Menschen notwen- Stammspielerin in die Mannschaft gekommen, in Ihre
dige Dienstleistungen erbringen. Wenn z. B. die vertraute Aufgabe.
Gebühren für Büchereien und für Bildungsveranstal-
(Zurufe von der SPD — Joseph Fischer
tungen steigen, den Sportvereinen die Mittel gekürzt
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
werden und das Geld für den Bau und Unterhalt von
Sie sind ein schwarzer Zwerg! Sie wissen
Kindergärten und sozialen Einrichtungen fehlt, dann
alle, was das ist: Da glüht nichts mehr!)
können sich die Menschen in Zukunft bei Finanzmi-
nister Waigel bedanken. Sie hätten uns einen großen Gefallen getan, wenn Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einige Änderungen in Ihrem Repertoire gegenüber
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dem vorgenommen hätten, was Sie in den letzten
Jahren hier vorgetragen haben. Sie haben nichts
Die Sache ist ganz einfach: Bei der Gewerbesteuer
gibt es überhaupt keinen Zeitdruck. Koppeln Sie die ausgelassen von dem, was in vielen Debatten wider-
Gewerbesteuerpläne von Ihrem Gesetzgebungsvor- legt worden ist und uns finanzpolitisch und haushalts-
politisch ja auch in keinem Punkt weiter voranhilft.
haben ab, und konzentrieren Sie sich auf die wirklich
dringlichen Aufgaben. Schichten Sie im Bundeshaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
halt zugunsten zukunftsorientierter Vorhaben und Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war doch sehr
moderner Arbeitsplätze um. Konsolidieren Sie die gut und anschaulich, und die Leute haben es
Staatsfinanzen, damit wir aus der Schuldenfalle her- verstanden!)
auskommen. Entlasten Sie die Familien mit Kindern,
und stellen Sie das Existenzminimum von der Lohn- Sie sind ja schnell bei der Hand mit den Ausdrücken
und Einkommensteuer frei. Das ist es, was die Bürge- „Mogelpackung", „Täuschung" und „Tricks". Wer
rinnen und Bürger in diesem Lande von Ihnen zu Ihre Rede aufmerksam verfolgt hat, hat zwar gele-
Recht erwarten. gentlich zarte Andeutungen über Möglichkeiten zu
(Lange anhaltender Beifall bei der SPD — Einsparungen vernommen, aber Sie haben wieder
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und einmal nicht eine einzige Gelegenheit ausgelassen, in
der PDS) der ganzen Bandbreite politischer Möglichkeiten
Mehrausgabeforderungen in diesem Haus zu präsen-
tieren, vom Arbeitsmarkt über die Kohlesubvention,
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Adolf Roth, vom BAföG über die Meisterkurse, von der Forschung
Sie haben das Wort. bis hin zu Doppelfenstern. Sie haben alles an Mehr-
forderungen aufgetischt.
Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Herr Präsident! (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Doppelfen-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige ster sind doch schon 20 Jahre her! — Anke
Debatte zum Haushaltsentwurf 1995, zu dem ich jetzt Fuchs [Köln] [SPD]: Doppelfenster sind schon
in der Sache wieder zurückkommen möchte, erscheint lange weg!)
mir in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Der Haus-
halt beinhaltet die klare Botschaft des Bundesfinanz- — Zugleich beklagen Sie, daß angeblich zu wenig
ministers Theo Waigel, daß die schwierigste Phase der gespart wird, daß die Steuern zu wenig abgesenkt
deutschen Finanzpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg werden und daß damit die Verschuldung des Bundes
— die Phase, die geprägt war durch den Prozeß des zu hoch ist. Ich glaube, Sie liegen mit diesem Bild
deutschen Einheitswerks; die Phase, die auch geprägt (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Doppel-
war durch ein Mitleiden in der internationalen welt- fenster sind schon eingebaut, Herr Kol-
wirtschaftlichen Rezession — erfolgreich überstanden lege!)
worden ist. Der Haushalt 1995 markiert eine Wende
hin zu einer zukunftsgerichteten Finanzpolitik, die und dem Stichwort „Mogelpackung" in der falschen
uns in den nächsten Jahren das Erreichen unserer Angriffsrichtung. Dieser Vorwurf und dieser Vorhalt
336 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Das ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung des Natürlich muß jede Ebene des Staates entsprechend
Aufschwungs und zur Festigung des Arbeitsmarkts dem Steuerverteilungsschlüssel im Zusammenhang
und hat sehr viel mit der Zukunftsfähigkeit unserer mit Steuersenkungsmaßnahmen auch Belastungen
deutschen Politik zu tun. übernehmen. Meine Damen und Herren, was soll man
eigentlich davon halten, wenn der Chef des am
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ höchsten verschuldeten deutschen Bundeslandes, der
DIE GRÜNEN]: In dieser Rede hat er noch Ministerpräsident Oskar Lafontaine, noch im August
nicht ein einziges Mal Theo Waigel gedankt! Steuersenkungen von geradezu historischen Ausma-
Das ist ein Skandal!) ßen angekündigt hat, während jetzt seine neue
Finanzministerin Krajewski bereits bei der Mitbeteili-
Meine Damen und Herren, es bleibt wie im Juli- gung des Saarlandes in einer Größenordnung von
Entwurf bei der ehrgeizigen finanzpolitischen Grund- 100 Millionen DM öffentlich Klage darüber führt, dies
linie dieser Koalition. Konsequente Fortsetzung des überschreite die Grenze des auf der Ebene der Bun-
Sparkurses bei abnehmender Neuverschuldung und desländer Erträglichen und Verkraftbaren.
hoher Geldwertstabilität schafft die Voraussetzung für
schrittweise Erweiterung unserer Handlungsspiel- Meine Damen und Herren, dies ist kein Beweis für
räume und für Steuerentlastungen. eine politische oder intellektuelle Glanzleistung. Ich
glaube, wir müssen hier ein deutliches Signal setzen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und damit Steuersenkung nun wirklich auch bei den
der F.D.P.) Bürgern ankommt, für die die Steuergesetze beschlos-
Die SPD ist vor der Bundestagswahl gegen die sen werden.
mittelfristige Finanzplanung von Theo Waigel Sturm (Beifall bei der CDU/CSU)
gelaufen. Es gab Schreckensbilder über angeblich
horrende Lücken und Defizite. Ich denke, die heutige Meine Damen und Herren, unsere Politik mit
Einbringungsrede von Theo Waigel der 1993 eingeleiteten Spar- und Konsolidierungsstra-
tegie, verbunden mit unserem Wachstumspaket,
(Konrad Gilges [SPD]: Hat alles das bestä unterstützt übrigens von der Deutschen Bundesbank
tigt!) und den Sachverständigen und politisch durchgesetzt
gegen massive Widerstände aus der Opposition und
hat bewiesen, wer hier festeren Boden unter den dem Bundesrat, zeigt jetzt beachtliche Ergebnisse. -
Füßen hat.
Im laufenden Haushalt 1994 kann die Kreditauf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nahme des Bundes um weitere 10 Milliarden DM auf
der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] 59 Milliarden DM abgesenkt werden. Das steht im
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann ich Gegensatz zu all den unentwegten Prophezeiungen
bestätigen!) aus den Reihen der Opposition, die für dieses Jahr mit
— Das sind nicht die Opponenten von links. einem Bundesdefizit von 80 Milliarden DM oder gar
100 Milliarden DM gerechnet und keinerlei Übertrei-
Das Haushaltsbild 1994 und 1995 hat sich im Blick bungschancen ausgelassen hat.
auf die notwendige Schuldenbegrenzung und auf den
59 Milliarden DM, Frau Kollegin Matthäus-Maier,
Abbau des Finanzierungsdefizits um insgesamt
sind 1,8 %, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Eine
20 Milliarden DM verbessert.
solche Zahl hat es unter der Verantwortung einer
Was noch wichtiger ist, meine Damen und Herren: früheren SPD-Bundesregierung selten gegeben. Sie
Wenn man die steuerpolitischen Vorhaben dieser sollten hier nicht den Eindruck erwecken, als würde
Legislaturperiode berücksichtigt, ergibt sich, daß wir die heutige Defizitquote irgendwelche historischen
jetzt in einer Situation sind, in der der vorgelegte Entwicklungen sprengen, als läge sie über dem
mittelfristige Finanzplan bis 1998 insgesamt die Basis Durchschnitt. Das Gegenteil ist richtig. Mit 1,8 %
dafür abgibt, daß solche Steuersenkungsschritte in die haben wir eine vernünftige Marge erreicht.
Finanzplanung eingebaut werden können, ohne daß
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die Dinge aus dem Ruder laufen. Der Entwicklungs-
bericht des Kabinetts zur Finanzwirtschaft macht dies Übrigens hat diese Bundesregierung seit der Wie-
im einzelnen deutlich. Es bleibt deshalb auch ein dervereinigung in jedem Haushaltsjahr die gesetzlich
klares Ziel für uns, die Haushaltsdefizite schrittweise bewilligte Nettokreditaufnahme durch s trenge Aus-
338 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Christine Scheel
sagen wir von der Opposition — sich in ewig gleichen gen beim Strukturwandel in der Industrie und nicht
Ritualen und Schuldzuweisungen ergehen. zuletzt — auch das wissen wir alle — in unserer
Gesellschaft. Damit unsere Jugend, die wir nicht
(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist
vergessen dürfen, eine Perspektive hat und nicht
wahr! — Bundesminister Dr. Theodor Wai
überhaupt nicht mehr weiß, wie sie diesen Wahn-
gel: Das habe ich überhaupt nicht ge
sinnsschuldenberg in den nächsten Jahren auf die
macht!)
Reihe bekommen soll. Deshalb müssen wir Reformen
Müssen wir nicht uns alle einmal grundsätzlich fra- angehen. Dazu ist diese Regierung nicht fähig.
gen, wie unsere ökonomische und finanzielle Lei-
stungsfähigkeit mit den politischen, ökologischen und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
sozialen Herausforderungen für das nächste Jahrtau- SES 90/DIE GRÜNEN)
send zusammengehen können? Das ist die Kernfrage, Eine umfassende Finanzreform ist auch für eine
die der gesamten Situation zugrunde liegt. politische Handlungsfähigkeit notwendig. Wir brau-
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haus- chen kein beliebiges Sammelsurium in einem Steuer-
halte wird 1995 auf mehr als 2 Billionen DM — man rechtsänderungspaket, wie Sie es jetzt vorhaben,
kann sich diese Dimension kaum mehr vorstellen — dessen Inhalt Tag für Tag immer mehr an konfuse
steigen. Das ist eine Verdopplung innerhalb von nur Flickschusterei erinnert. Selbst Ihre eigenen Experten
fünf Jahren. Allein die Zinsbelastung des Bundes wird sagen schon, daß das im Steuerchaos endet. Sie wissen
auf mehr als 90 Milliarden DM beziffert. es genauso gut wie wir, geben es bloß leider öffentlich
nicht zu.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie müssen
das einmal in Relation bringen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
— Melden Sie sich zu Wort, wenn Sie etwas zu sagen Es geht auch nicht an — das stinkt mir ganz
haben. Dann verstehe ich es besser. besonders —, daß angesichts der Tatsache, daß die
Gerichte überlastet sind und etwa bei den Asylverfah-
Was nutzt denn die Kürzung der Neuverschuldung ren Berge abgebaut werden müßten, das Bundesver-
in Höhe von 10 Milliarden DM gegenüber dem fassungsgericht immer wieder Stück für Stück politi-
Haushaltsansatz von September? Man muß die Optik sche Fehlentscheidungen im nachhinein korrigieren
auch einmal überlegen. Sie wissen, daß durch die muß, womit es der Bundesregierung — das ist nämlich
Erlöse aus den Privatisierungen — ich habe das vorab die Konsequenz — im Prinzip permanent Politikunfä-
schon angesprochen - einige Verfälschungen enthal- higkeit zudiktiert.
ten sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Aber es ist ja doch besser als früher!) Sparen heißt die Devise. Darin sind wir uns alle
einig. Auch DIE GRÜNEN wollen keine weitere
Herr Schäuble selbst hat gesagt: Ab 1996 sind Staatsverschuldung. Vielmehr wollen wir sie abbauen
höhere Steuern unausweichlich. Was heißt das denn? helfen. Es ist nur die Frage, wie, auf wessen Kosten
Gibt es eine Mehrwertsteuererhöhung oder nicht? und mit welchen politischen Zielen.
Warum wird das heute nicht gesagt? Warum wird die
Wahrheit den Leuten vorenthalten? Ich denke, es ist Ich möchte Ihnen nur einige Dinge nennen: Da ist
angebracht, Ehrlichkeit walten zu lassen und den zum einen die Fortsetzung des Sozialabbaus zu
Bürgern und Bürgerinnen die Wahrheit zu sagen, Lasten der Arbeitslosen und der kommunalen Haus-
nicht immer so zu tun, als ob Sie alles auf die Reihe halte. Selbst wenn Sie jetzt die Befristung der Arbeits--
bekämen, und dann zwischendurch einfach mal so losenhilfe ausgesetzt haben, führt diese Aussetzung
flapsig wieder die Steuern zu erhöhen. zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Strich dazu,
daß die geplanten Kürzungen ab Oktober, auf das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ganze Jahr umgerechnet, den gleichen Kürzungsbe-
Zu den Gesamtschulden in Höhe von 800 Millarden trag wie vorher ausmachen. Das ist der Hammer.
DM müssen Sie seriöserweise die Lasten z. B. der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bahnreform und einige andere Posten — sie kennen
das ja genauso gut wie ich — hinzuzählen. Dann Obwohl die Bundesanstalt für Arbeit in ihrem
kommen wir schon auf Schulden in Höhe von 1 400 Etatentwurf bereits jetzt mit einem Defizit von
Milliarden DM allein im Haushalt des Bundesfinanz- 14,6 Milliarden DM in 1995 rechnet, senken Sie den
ministers. Das muß man sich einmal vorstellen. Bundeszuschuß. Wir wissen aber aus den vergange-
nen Jahren, welche fatale Auswirkungen das gerade
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Die im Fortbildungs- und Umschulungsbereich hat. Das
Bahnschulden habe ich auch gemacht?) gilt vorwiegend für die neuen Bundesländer, aber
— Ja, ja. — Jeder kleinere Unternehmer stünde mit auch, Herr Waigel, für Teile Bayerns, z. B. für die
dieser betrügerischen Bilanz schon längst vor dem Oberpfalz oder für strukturschwache Regionen in
Kadi bzw. säße eventuell auch in einem viereckigen, Unterfranken.
relativ kleinen Zimmer.
Ein weiterer Punkt: der soziale Wohnungsbau, der
Dieses Land muß wirtschaftlich und gesellschaftlich Städtebau und das Wohngeld. Hierfür wollen Sie
auf das kommende Jahrtausend vorbereitet werden. keine müde Mark mehr ausgeben, obwohl bekannt
Wir brauchen Reformen. Wir brauchen Reformen im ist, daß der Bedarf täglich steigt. Das bedeutet in der
Energiebereich, wir brauchen Reformen in unserem Konsequenz entweder, daß immer mehr Menschen
Sozialsystem, bei der Verkehrspolitik, vor allen Din sich Wohnraum bei steigenden Mieten nicht mehr
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 341
Christine Scheel
leisten können, oder Sie verschieben die Last letzt- Land insgesamt auf die Barrikaden gehen. Wir wer-
endlich auf die Länder und Kommunen. den sie heftigst dabei unterstützen.
Auch die Devise in der Regierungserklärung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland zukunftsfähig zu machen, kommt nicht Zu unseren Überlegungen: Wir brauchen selbstver-
über. Was nutzt uns denn dieser Zukunftsminister, ständlich den Abbau von Steuervergünstigungen. Wir
wenn gleichwohl die Förderung des wissenschaftli- brauchen mehr Steuergerechtigkeit für die unteren
chen Nachwuchses und der beruflichen Qualifizie- und mittleren Einkommen. Das ist überhaupt keine
rung eingefroren und damit faktisch gekürzt wird? Mit Frage.
dem Zukunftsministerium wird nach außen mit
Mordstrara ein Zeichen gesetzt, aber es wird inhalt- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wel-
lich, haushaltstechnisch nicht unterfüttert. che?)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) — Jawohl, Herr Schäuble. Wir brauchen auch die
Einpassungen der heimlichen Steuererhöhungen
Auch die nur 1,4 Milliarden DM für Umweltmaß- über die Inflation z. B. Wir brauchen eine Entbürokra-
nahmen sind ein faktisches Eingeständnis, daß tisierung, und wir brauchen eine Vereinfachung unse-
Umweltschutz in diesem Land zum Looser der Nation res Steuerveranlagungssystems bzw. der -praxis. Ich
geworden ist. Es geht auch nicht an, daß Sie hier denke, da sind wir uns alle einig. Das Problem ist aber,
8 Milliarden DM anrechnen, die aus den Einzelplänen daß wir, um diese Reform erst einmal angehen zu
zusammengefaßt werden, dabei aber nicht einmal können, einen gescheiten Kassensturz brauchen, der
merken, daß der Einzelplan 35 überhaupt nicht mehr ehrlich sein muß, der gründlich sein muß, der alle
existiert. Das hat mich sehr verblüfft. Ich nehme Daten offenlegt, damit man überhaupt planen kann,
einmal an, daß die Beamten im Finanzministerium um dann zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu
nicht mit den Textbausteinen umgehen können. kommen. Dazu sind Sie nicht in der Lage oder auch
nicht gewillt, weil so viel auftauchen würde, was man
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in den letzten Jahren versucht hat zu verstecken, aber
Zum Thema Kohlepfennig. Wir brauchen eine Ener- mittlerweile nicht mehr verstecken kann.
giesteuer — daß DIE GRÜNEN das schon längst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einfordern, ist kein Geheimnis —, die über eine
mittelfristig erforderliche Kohlesicherung hinaus eine Ich muß sagen, wir verdammen nicht alles in Bausch
nachhaltige Energiesparpolitik unterstützt und uns und Bogen, was in den Koalitionsvereinbarungen
langfristig aus der Abhängigkeit von „Dinosaurier steht. Das sind Kindereien; dazu haben wir keine Lust.
ÖEnergien"
l wie Kernkraft, Kohle und auch Der Vorschlag z. B. zur Budgetierung, Verwaltung
befreit. effizienter oder auch kostengünstiger zu gestalten, ist
in Ordnung, aber ich warne davor, es mit der Rasen-
Im übrigen muß diese neuerliche Finanzforderung mähermethode zu versuchen. Man muß dies sehr
an ihren geknebelten Haushaltsansatz letztlich auch differenziert anschauen und darf es dann nicht mit
die CDU/CSU und die F.D.P. zur Verzweiflung brin- einem Prozent oder pauschal durchziehen, sondern
gen. Wo wollen Sie denn für 1996 die 7,5 Milliarden man muß in den einzelnen Abteilungen sehr genau
DM hernehmen? Wissen Sie das überhaupt? Ich überlegen, wo das Leistungsprinzip in unserer Ver-
glaube nicht. waltung gestärkt werden kann.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist eine sehr gute Frage!) -
Also: An erster Stelle steht der Kassensturz, an
— Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß. Deswegen zweiter Stelle steht die Offenlegung der staatlichen
stelle ich sie auch. Finanzlage ohne Schönfärberei und drittens keine
weitere Verschiebung von Lasten auf der föderalen
Und dann diese Trickbetrügereien bei der Steuer- Ebene. Es ist das Problem, daß eingespart und dann
freistellung des Existenzminimums. Herr Waigel sagt, wieder umgeschichtet wird.
es ist verfassungskonform. Wir sagen und auch die
Experten und Expertinnen sagen, es ist nicht verfas- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Alles
sungskonform, sehr konkret!)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen insgesamt eine Verteilung erreichen,
die sehr ehrlich ist. Da muß der Staat bei den Einspa-
und zwar deswegen nicht, weil Sie Berechnungen rungen bei sich selbst anfangen und kann nicht immer
vom Jahr 1991 bzw. 1990 und nicht die Berechnungen nur fordern, daß die Bürger und Bürgerinnen dies tun.
von 1994 zur Freistellungsgrenze bezüglich des Exi- Wir leisten uns weltweit das größte Parlament. Wir
stenzminimums zugrunde gelegt haben. Auch was die haben eine Regierung: von Entschlackung keine
Progression mit ihrem Buckel anbelangt, verweise ich Spur! Das bißchen am Wolfgangsee wird nichts nut-
im übrigen auf Frau Matthäus-Maier. Dem kann ich zen. Die Reduktion der Ministerien bei gleichzeitiger
mich nur anschließen. Einstellung von mehr Staatssekretären kostet mehr als
zuvor. Das ist auch kein Geheimnis.
Auch der Familienlastenausgleich wird Geld
kosten. Hier liegt das Problem, daß das Existenzmini- Es ist notwendig, daß wir den wirtschaftlichen
mum, das von Ihrer Seite für die Kinder angesetzt Strukturwandel mit allen seinen sozialen, seinen öko-
worden ist, viel zu gering ist. Ich kann nur hoffen, daß nomischen und ökologischen Komponenten bewälti-
die katholischen Verbände, daß die Eltern in diesem gen. Ich rede hier von einer grundlegenden sozialen
342 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Christine Scheel
und auch ökologischen Steuerreform, die zwingend In den kommenden Jahren geht es darum, die
notwendig ist. Wir haben das hier schon ausgeführt. Leistungen für die neuen Bundesländer langfristig
Wir haben dezidierte Vorschläge gemacht, die wir in sicherzustellen, den Haushalt zu konsolidieren und
die parlamentarische Beratung selbstverständlich mit die Staats- und Abgabenquote zu senken, und zwar
einbringen. beides gleichzeitig, Herr Kollege Waigel. Ich bin nicht
Wir sind bereit, am Deutschland der Zukunft mitzu- der Meinung, daß die Konsolidierung der Steuersen-
arbeiten, dies aber mit Offenheit, mit Rücksicht auf die kung vorauslaufen muß. Es muß beides Hand in Hand
Schwächeren in diesem Land, im Hinblick auf eine gehen. Denn die extrem hohen Steuerbelastungen,
ökologisch und ökonomisch verträgliche Zukunft. denen die Bürger und die Unternehmen heute ausge-
setzt sind, können auf Dauer nicht beibehalten wer-
Wir wollen kein Steuerchaos mehr. Wir wollen weg den, wenn die Leistungsbereitschaft nicht sinken
davon, daß Steuern zunehmend zu Dummensteuern soll.
werden. Hier ist Mut angesagt und kein Hofknicks vor
irgendwelchen senilen Interessenverbänden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Herr Waigel, zum Abschluß: Steuerlügen haben ten der CDU/CSU)
nun mal kurze Beine.
Jetzt geht es darum, die Staatsquote wieder auf das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Maß zurückzuführen, das sie vor der Wiedererlan-
gung der deutschen Einheit gehabt hat, nämlich rund
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege 46 %, und den Schuldenanstieg zu reduzieren. Mit
Dr. Hermann Otto Solms. einem Haushalt, der eine Steigerung von unter 1 % in
sich birgt, ist das auch machbar. Das ist eine gute Zahl,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mit der wir gut leben können.
DIE GRÜNEN]: Jetzt erfahren wir etwas über
den Geist von Gera!) Jetzt geht es natürlich darum, die Neuverschuldung
weiter zu reduzieren und gleichzeitig die Steuerbela-
stung zu senken. Unsere politische Maxime muß
Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Herr Präsident! bleiben: für leistungsgerechte Steuern, für den soliden
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Staatshaushalt. Denn die Steuerbelastung muß der
Sie, daß ich vorab die Gelegenheit nutze, um dem Leistungsfähigkeit der Bürger entsprechen. Sie darf
Kollegen Michael Glos zu seinem heutigen 50. Ge- Leistungswillen und Leistungsbereitschaft nicht be-
burtstag zu gratulieren. einträchtigen.
(Beifall)
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin-
Politik ist — so hat Hofmannsthal einmal gesagt —
gen] [F.D.P.])
Verständigung über das Wirkliche. Es wäre gerade
bei einer Haushaltsdebatte gut, wenn wir uns hier Kernstück einer Politik für mehr Leistung und zur
einmal über das Wirkliche oder das Mögliche unter- Schaffung von Arbeitsplätzen kann daher nur eine
halten würden und nicht über das Wünschbare. Reform des Steuersystems sein, weil über das Steuer-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ system darauf direkt Einfluß genommen wird. Die
DIE GRÜNEN]: Was war denn nun wirklich Vision ist realisierbar, aber eben nur durch konse-
und was war möglich in Gera, Herr quentes Sparen, durch weitere Privatisierungen,
Solms?) durch weiteren Abbau von Regulierungen, durch
weiteren Abbau der Bürokratie. -
Denn wir wissen: Vieles ist wünschbar, aber nicht alles
können wir erreichen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Deshalb diskutieren wir über den Haushalt, der ja ten der CDU/CSU)
das Schicksalsbuch der Nation sein soll,
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Frau Kollegin Matthäus-Maier, auch Sie haben als
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Zielsetzung das Konsolidieren betont, aber konkrete
DIE GRÜNEN]: Mit Schicksalsbüchern ha Vorschläge waren nicht vorhanden.
ben Sie es im Moment, Herr Solms!)
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Eine ganze
weil sich in ihm deutlich niederschlägt, wie die Menge!)
politischen Dinge gestaltet werden und wie die füh-
renden Koalitionsparteien die Zukunft gestalten wol- Es geht eben nicht, immer von der Schuldenfalle zu
len: nämlich in Richtung einer Erneuerung der gesell- sprechen, aber nicht gleichzeitig zu sagen, wie man
schaftspolitischen Strukturen und weg von der Ver- sie schließen will.
krustung, die jetzt überwunden werden muß.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir haben
ten der CDU/CSU) doch ein 20-Milliarden-Paket gemacht!)
Der Bundeshaushalt 1995 ist dafür eine realistische Wirklich etwas kümmerlich fand ich, Frau Mat-
Handlungs an weisung. Anhänger schöngeistiger uto- thäus, den Verweis auf den Sturz von Helmut
pischer Vorstellungen mag er sicherlich nicht befrie- Schmidt.
digen. Aber dafür entspricht er in seiner Offenheit und
konkreten Aussage den Aufgaben, die vor uns liegen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das gefällt
und die wir uns selbst gestellt haben. Ihnen nicht, Herr Solms, das glaube ich!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 343
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Man muß jetzt noch darüber diskutieren, ob man
Dazu sagt die SPD nichts!) den Buckel mindern kann, ob die Freistellung von
12 000 DM ausreicht. Ich würde es natürlich ungern
Das ist, wie jeder zugeben wird, gegenwärtig und in sehen, daß wir uns hier auf 12 000 DM konzentrieren
naher Zukunft nicht zu realisieren und nicht zu — wohlwissend, daß wir im Bundesrat oder im Ver-
verantworten. Wir würden uns für lange Zeit jeden mittlungsausschuß auf 13 000 DM gehen. Dann würde
finanziellen Bewegungsspielraum nehmen. ich lieber vorschlagen: Wir einigen uns ehrlich vorher
(Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin und machen es dann so. Denn Sie sind in der Mitver-
gen] [F.D.P.] und Michael Glos [CDU/CSU] antwortung. Wir wissen das. Das Ganze dann auf den
— Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist der Vermittlungsausschuß zu schieben, obwohl man
Punkt!) schon vorher weiß, was man will, macht keinen-
Sinn.
Das hat natürlich auch die Expertenkommission
erkannt und deshalb eine Reihe von Gegenfinanzie- (Beifall bei der F.D.P.)
rungsvorschlägen gemacht. Das, was sie vorgeschla- Ich würde mich nicht gerne vom Vermittlungsaus-
gen hat, ist theoretisch gut und vernünftig. Aber wenn schuß korrigieren lassen. Auch das muß ich dazu
man es praktisch sieht und die Mehrheitsverhältnisse sagen.
sowie die politischen Motivationen der einzelnen
Parteien kennt, dann weiß man: Das ist nicht realisier- (Beifall bei der F.D.P.)
bar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme dann
Ich will Beispiele nennen: die Besteuerung der zum Thema Familienlastenausgleich. Dazu habe ich
Lohnersatzleistungen und die Besteuerung des soeben schon einiges gesagt. Auf jeden Fall — das ist
Wohngeldes. Wenn wir das Wohngeld besteuern auch das Verfassungsgebot — müssen Familien mit
würden, müßten wir es entsprechend anheben. Kindern stärker entlastet werden.
Finanzpolitisch wäre das kein Geschäft. Ich nenne
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
auch die Abschaffung der Steuerbegünstigung für
CDU/CSU)
Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Wer seinerzeit
die Vereinheitlichung der Steuerbegünstigung mitge- Hier gibt es verschiedene Wege. Die Expertenkom-
macht hat, der weiß, wie schwierig schon das war. Wir mission, die Herr Waigel einberufen hat, hat vorge-
haben damals zugesagt: Das ist es nun in der Steuer- schlagen, daß man im jetzigen System bleiben soll,
reform. — Jetzt können wir nicht wieder darangehen. welches ohne Zweifel verfassungskonform ist. Das
Ich nenne auch den Wegfall der Begünstigung für die bedeutet, Erhöhung der Kinderfreibeträge und eine
Vermögensbildung. Ich denke dabei an die Bauspar- entsprechende Erhöhung des Kindergeldes. Unser
förderung. Das ist jedenfalls für die F.D.P. völlig Vorschlag geht eher in die Richtung eines Negativ-
346 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
anderen Seite.
(Beifall bei der PDS) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?
Wenn die Bundesregierung an dieser Absicht fest-
hält, die Unternehmensteuern zu senken, dann muß
sie gleichzeitig den Steuerausfall von 58 Milliarden Joachim Poß (SPD): Ja, bitte schön.
DM als Folge erklären, nämlich wie sie das ohne den
Wegfall des Solidaritätszuschlags machen will. Auf Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Herr Poß, ich
Ihre Buchungstricks hat Frau Matthäus-Maier eben- verstehe ja Ihre besondere Interessenlage als nord-
falls sehr ausführlich hingewiesen. rhein-westfälischer Abgeordneter, sich dafür einzu-
setzen. Aber sehen Sie denn nicht auch, daß beispiels-
Zum Ende: Wenn Sie als Finanzminister sagen, im weise die energieintensive Wirtschaft — auch aus
Haushalt und auch in der mittelfristigen Finanzpla- Nordrhein-Westfalen —, die eben hohe Energieko-
nung muß man sich konzentrieren, so frage ich mich: sten hat, größte Sorgen davor hat, daß jetzt der
Worauf? Auf Bekämpfung der Massenarbeitslosig- Kohlepfennig durch eine Energiesteuer ersetzt wird,
keit? — Nein. Auf Bekämpfung der Armut? Eben- weil sie schon durch den Kohlepfennig zu sehr bela-
falls nein. Entsprechend dem großdeutschen Getöse stet wird und teilweise ihre Arbeits- und Betriebsstät-
konzentrieren Sie sich auf den Rüstungshaushalt. ten schließen muß?
Ausdrücklich wurde im Juli-Finanzbericht mit
offensichtlichem Stolz darauf hingewiesen, daß der Joachim Poß (SPD): Mir ist die Struktur der nord-
Rüstungshaushalt — ich zitiere — „von der Fortschrei- rhein-westfälischen Wirtschaft sehr genau bekannt.
bung der globalen Minderausgabe 1994 sowie sonsti- Ich kenne auch die Vor- und Nachteile einzelner
gen Kürzungen ausgenommen" wird. Der Verteidi- Lösungen. Deswegen habe ich mich zunächst so
gungshaushalt 1995 wird gegenüber 1994 um fast allgemein geäußert. Ich habe in den Vordergrund
350 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Joachim Poll
gestellt, was jetzt wichtig ist: daß die betroffenen Dadurch steigt die Steuerbelastung schlagartig um
Arbeitnehmer und ihre Familien nicht in Panik zwei Punkte an, auf den fast einmaligen Rekordwert
gestürzt werden. von fast 48 %.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Spielball der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unglaublich! —
F.D.P. werden! — Ingrid Matthäus-Maier Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/
[SPD]: Aber Herr Rexrodt hat gesagt: Ener CSU])
giesteuer!) Viele Bürger, Herr Faltlhauser, werden sich im neuen
Jahr verwundert die Augen reiben, wenn sie netto
Lassen Sie uns das an dieser Stelle genug sein. noch weniger in der Tasche haben als in diesem
Allerdings meine ich, daß sich eine Energiesteuer Jahr.
nicht allein darauf beziehen darf, sondern wir auch
über kurz oder lang z. B. die Finanzierung von Ener- (Beifall bei der SPD)
gieeinsparung oder regenerativen Energien sehr Die Minderung der Nettoverdienste führt mit einer
sorgfältig prüfen müssen, unabhängig von diesem Verzögerung auch zu einer Minderung der Renten.
Urteil. Die Bürger müssen wissen, wem sie diesen Griff in ihr
Portemonnaie zu verdanken haben: der Steuererhö-
(Beifall bei der SPD) hungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bundesregierung noch in der Lage ist, die längst der PDS)
fällige Neuorientierung in der Steuer und Finanzpo-
-
Joachim Po ß
daritätszuschlags belastet, da viele Arbeitnehmer Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, gestat-
eine weitere Verminderung ihres Reallohnes nicht ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhau-
hinnehmen wollen. ser?
Die SPD hat von Anfang an vorgeschlagen, die Joachim Poß (SPD): Bitte, gern.
ohnehin zu hoch belasteten Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen von dem Solidaritätszuschlag Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Faltlhauser,
auszunehmen und statt dessen eine Ergänzungsab- Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
gabe für höhere Einkommen zu erheben. Wir haben
hierzu einen Antrag formuliert und eingebracht, über Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege Poß,
den morgen abgestimmt wird. Ich bitte Sie, stimmen heißt Ihre Kritik an dem Verfahren um das Gutachten
Sie diesem Antrag zu, damit ein erster Schritt hin zu von Herrn Professor Bareis, daß Sie die Gegenfinan-
mehr Steuergerechtigkeit und zur Sicherung des zierungsvorschläge von 33,7 Milliarden DM in diesem
wirtschaftlichen Aufschwungs erfolgt! Umfang mit realisieren wollen? Nehmen Sie das
positiv auf, oder wollen Sie das mit wesentlichen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Teilen dieser Gegenfinanzierung tun? Falls das nicht
Müller [Berlin] [PDS])
der Fall ist, frage ich Sie, welches Gegenkonzept Sie
Auf Dauer, meine Damen und Herren, sind die haben.
Bürger nur dann bereit, ihre Steuern zu zahlen, wenn
die Steuerlasten gerecht verteilt sind, keine unge- Joachim Poß (SPD): Sie wissen ganz genau: Damit
rechtfertigten Vergünstigungen und Schlupflöcher ist nicht gemeint, daß man diese Gegenfinanzierungs-
bestehen, das Steuerrecht einigermaßen überschau- vorschläge blind aufnimmt. Gemeint ist damit, daß
bar ist und der Staat vernünftig mit den Steuergeldern dieses Gutachten wirklich zur Grundlage von Bera-
seiner Bürger umgeht. In all diesen Punkten hat die tungen gemacht wird, daß man nicht im Kämmerchen
Bundesregierung in den letzten Jahren versagt. Ich schon eine Lösung nur unter Finanzaspekten erarbei-
möchte das an einigen Beispielen belegen. tet hat und sich eine Auftragsarbeit bestellt, die m an
imWahlkpfsAbenutz,mkisf
Das Verfassungsgericht hat schon im September geben zu müssen. Dies ist der Punkt, um den es hier
1992 entschieden, daß der geltende Einkommensteu- geht.
ertarif verfassungswidrig ist, weil das Existenzmini- (Beifall bei der SPD)
mum nicht ausreichend berücksichtigt wird. Statt
diesen elementaren Verstoß gegen die Steuergerech-
Vizepräsident Hans Klein: Lassen Sie eine Zusatz-
tigkeit so schnell wie möglich zu beseitigen, haben
frage zu?
Sie, Herr Bundesfinanzminister, eine Lösung auf die
lange Bank geschoben, auf den letzten möglichen
Zeitpunkt vertagt. Das zeigt, daß Sie an der Herstel- Joachim Poß (SPD): Bitte.
lung von Steuergerechtigkeit gar kein eigenes Inter-
esse haben. Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Heißt das, Herr
Kollege Poß, daß Sie die massiven und fast beleidigen-
(Beifall bei der SPD) den Kritikpunkte und Anwürfe aus den Reihen Ihrer
eigenen Fraktion gegen die Kommission, die nach
Sie müssen vom Verfassungsgericht getrieben wer- dem Vorlegen des Gutachtens geäußert wurden, auf
den. Ihnen fehlt das Engagement für soziale Gerech- diese Weise zurücknehmen wollen?
tigkeit, Herr Dr. Waigel. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Lächerlich!)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Müller [Berlin] [PDS] — Zuruf von der CDU/ Joachim Poß (SPD): Aus meiner Fraktion wurden
CSU: Das sind Sprechblasen!) einzelne Vorschläge sehr kritisch — teilweise zu
Recht — kommentiert. Das bezog sich aber nicht auf
Da setzen Sie, von Ihnen handverlesen, eine Sach- die Kommission und ihre Arbeit insgesamt.
verständigenkommission ein, geben ihr einen umfas- (Beifall bei der SPD)
send formulierten Auftrag, erzählen in der Öffentlich- Sie haben das als Trick benutzt, Herr Dr. Waigel, um
keit, Sie bräuchten die Arbeitsergebnisse dieser Sach- vor der Wahl behaupten zu können, Sie könnten noch
verständigenkommission. Und wenn die Sachverstän- nicht so genau sagen, wie Ihre Steuerpolitik 1995/96
digen ihre Arbeit auftragsgemäß vorlegen, hauen Sie aussehen wird, weil Sie die Kommissionsergebnisse
sie in die Pfanne, und in welchem Stil! Dies ist abwarten wollten. Sie wollten Ihre eigenen Pläne
Arroganz der Macht.
verstecken.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das war der Hintergrund. Das Bareis-Gutachten war
noch nicht einmal übergeben, da hatten Sie es schon
Aber die politische Wirklichkeit ist noch viel schlim- verurteilt. So kann man mit Gutachtern nicht umge-
mer, wie der gesamte Ablauf deutlich macht. Sie hen. Das war ein Mißbrauch des steuerrechtlichen
haben die Kommission doch nur deswegen so spät Sachverstands der Kommission, ein mieses Spiel und
eingesetzt, damit ihre Arbeitsergebnisse nicht vor der ein lange geplantes Täuschungsmanöver gegenüber
Bundestagswahl herauskommen. der Öffentlichkeit.
(Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr!) (Beifall bei der SPD)
352 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Joachim Poß
Ich werfe Ihnen vor: Mit dem von Ihnen jetzt Die Versprechungen in den Wahlprogrammen von
präsentierten Vorschlag wollen Sie sich an den Vor- CDU/CSU und F.D.P. werden dadurch übrigens
gaben des Verfassungsgerichts vorbeimogeln. Der gebrochen.
von Ihnen selbst in einer Mischung aus Selbstgefällig-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das wundert uns
keit und Eitelkeit als „Quadratur des Kreises" gelobte
nicht!)
Vorschlag erfüllt kein einziges der notwendigen oder
von Ihnen selbst genannten Ziele. Zunächst ist festzu- In diesen Programmen hieß es nämlich: Es gibt keinen
halten: Sie wollen nur ein Einkommen bis zur Höhe Anstieg der Grenzbelastung.
von 12 000 DM freistellen. Dabei hat das Verfassungs- Einen derartigen Tarifverlauf mit willkürlichen und
gericht bereits für den Zeitraum von 1992 bis 1994 gleichheitswidrigen Progressionssprüngen hat das
einen Be tr ag von 12 000 bis 14 000 DM für erforderlich Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluß
gehalten. von 1992 ausdrücklich als verfassungswidrig ausge-
schlossen. Der Vorsitzende Ihrer Kommission, Herr
Da nach Ansicht des Verfassungsgerichts das steu- Bareis, hat dementsprechend auch nur ein vernichten-
erfrei zu stellende Existenzminimum sich an dem des Urteil für diesen Tarif übrig. Er erklärte: „Die
Niveau der durchschnittlichen Sozialhilfeleistung zu Pläne sind noch schlimmer, als wir erwartet haben. Sie
orientieren hat, muß, wie auch die von Ihnen selbst gehören zu den schlechtesten denkbaren Lösungen. "
eingesetzte Kommission festgestellt hat, für 1996 von Und: „Ein solch verkrüppelter Tarif wäre bei der
einem Be tr ag von mindestens 13 000 DM ausgegan- Expertenkommission unverzüglich im Papierkorb
gen werden. gelandet. "
Herr Waigel, Ihr Vorschlag führt dazu, daß die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Bezieher kleiner Einkommen weiter in verfassungs- Müller [Berlin] [PDS])
widriger Weise zuviel Steuern zahlen sollen. Herr Waigel, Ihre „Quadratur des Kreises" ist in
Wirklichkeit ein häßliches Viereck, und zwar ein
(Beifall bei der SPD) Viereck aus vier Täuschungen: Sie besteuern weiter-
hin das Existenzminimum in verfassungswidriger
Sie treten heute morgen hier wie der Weihnachts-
Weise, Sie schaffen de facto den linear-progressiven
mann auf, der den kleinen Leuten eine Vorfreude
Ta ri f ab, Sie erhöhen die Grenzbelastung für ca. 40 %
verkünden kann, als würde er ihnen sozusagen nach
= 8,6 Millionen Steuerbürger, und Sie können den
eigenem Gusto ein Weihnachtsgeschenk offerieren.
Steuerausfall nicht, wie von Ihnen angegeben, auf
Dabei setzen Sie noch nicht einmal das Verfassungs-
15 Milliarden DM begrenzen.
gerichtsurteil um.
Gegenüber den bisherigen Ansätzen in der Steuer-
(Beifall bei der SPD und des Abg. Manfred schätzung für 1996 führt Ihr Modell nämlich zu einem
Müller [Berlin] [PDS]) Steuerausfall von insgesamt fast 20 Milliarden DM.
Der Grund für diesen höheren Steuerausfall liegt in
Das ist aber nicht alles, womit Sie die erstaunte der Tatsache, daß Sie unter dem Deckmantel einer
Öffentlichkeit überrascht haben. Sie stellen auch eine Steuerfreistellung des Existenzminimums eine damit
tragende Säule unseres Einkommensteuerrechts in in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehende
Frage. Sie wollen den Grundfreibetrag einfach Tarifsenkung für Spitzenverdiener vorschlagen.
abschaffen. Sie wollen statt dessen einen besonderen Diese verfassungsrechtlich überflüssige Tarifsenkung
Abzugsbetrag einführen. Allerdings soll dieser führt dazu, daß verheiratete Spitzenverdiener jährlich
-
Abzugsbetrag eine Steuerminderung nur bis zu einem um 1 536 DM entlastet werden, während die verhei-
Jahreseinkommen von 30 000 DM bewirken. Der von rateten Normalverdiener eine Entlastung von jährlich
Ihnen vorgesehene schnelle Abbau des neuen nur 250 DM erhalten sollen.
Abzugsbetrags führt zu dem von Frau Matthäus
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist keine
Maier so genannten Buckeltarif mit dem Kleine-
Gerechtigkeit!)
Leute-Berg.
Dies ist nur ein Sechstel der Entlastung der Spitzen-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Waigel-Buckel!) verdiener. Daß ausgerechnet in dieser finanzpolitisch
schwierigen Zeit, in der die Bundesregierung von
Damit geben Sie faktisch den linear-progressiven allen Steuerpflichtigen einen Solidaritätszuschlag
Tarif auf. Die Grenzbelastung steigt für Einkommen erhebt und das Verfassungsgebot der Steuerfreistel-
bis 30 000 DM bzw. 60 000 DM um bis zu acht lung des Existenzminimums unterlaufen will, der
Prozentpunkte gegenüber dem geltenden Recht und Bundesfinanzminister Geld für eine Steuersenkung
sinkt für höhere Einkommen wieder. auf Pump für Spitzenverdiener hat, ist ein Skandal für
sich.
Das heißt, zitiert nach einer für Sie vollkommen
unverdächtigen Quelle, nämlich der „FAZ", in Zah- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
len: Der Fiskus behält bei Kleinverdienern von jeder Müller [Berlin] [PDS])
zusätzlich verdienten Mark bis zu 33 Pfennig ein, Eine der wenigen konkreten Festlegungen in den
während es bei Personen, die mehr verdienen, nur Koalitionsvereinbarungen lautet: Die Gewerbekapi-
25 Pfennig sind. Dieser Belastungsbuckel ist nicht zu talsteuer soll zum 1. Januar 1996 abgeschafft werden.
rechtfertigen. Aber bis heute haben Sie, Herr Bundesfinanzminister,
nicht dargelegt, wie Sie den hierdurch eintretenden
(Beifall bei der SPD) Steuerausfall von 7 Milliarden DM jährlich — die
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 353
Joachim Poß
Länder sagen 8 Milliarden DM — für die Städte und Der Bundeskanzler muß hier verbindlich erklären, ob
Gemeinden ausgleichen wollen. die Bundesregierung die Lohn- und Einkommen-
steuer oder die Umsatzsteuer zur Finanzierung einer
Das soll nur der Anfang sein. Nach der Koalitions- Senkung der Gewerbesteuer erhöhen will.
vereinbarung will die Regierungskoalition die Ge-
werbesteuer sogar vollständig abschaffen. Das würde Meine Damen und Herren von der Koalition, jetzt
insgesamt einen Steuerausfall von 30 Milliarden DM nach der Wahl können Sie doch offen und ehrlich
bedeuten. Ich habe angesichts der großen Probleme in sagen, was die Koalition in der Steuerpolitik tatsäch-
vielen unserer Städte, gerade in den strukturschwa- lich will — wenn Sie es wissen.
chen Städten, sehr großes Verständnis dafür, daß die (Otto Schily [SPD]: Kneifen! — Ingrid Mat-
Städte und Gemeinden diese Pläne ablehnen und sie thäus-Maier [SPD]: Das wollen sie nach Hes-
als einen schwerwiegenden Angriff auf die kommu- sen sagen!)
nale Autonomie ansehen.
— Sie wollen die Landtagswahlen in Hessen abwar-
Daher frage ich Sie, Herr Finanzminister: Was ist ten; den Eindruck habe ich auch.
Ihre Konzeption? Wie stellen Sie sich den vollen
Ausgleich und den gleichwertigen Ersatz vor? Ist es Unser Steuerrecht droht im Chaos zu versinken. Die
der Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden Schäuble, meisten Steuerpflichtigen verstehen die Steuerge-
bei einem Wegfall der Gewerbesteuer die Lohn- und setze nicht mehr. Selbst Steuerbeamte und Steuerbe-
Einkommensteuer um 30 Milliarden DM jährlich rater sind zunehmend nicht mehr in der Lage, das
anzuheben und ein Hebesatzrecht auf die Einkom- steuerrechtliche Regelungsdickicht zu durchschauen.
mensteuer für die Kommunen einzuführen? Herr Obwohl die Bundesregierung von Steuervereinfa-
Schäuble müßte wissen, daß sein Vorschlag im Klar- chung redet, leistet sie keine eigenen Beiträge dazu.
text bedeutet: Eine Lohn- und Einkommensteuererhö- Sie kompliziert das Steuerrecht ständig weiter. M an
hung um 30 Milliarden DM wäre eine Anhebung um riode bei der Schaffung ver- hateindrlzP
rund 9 % und damit eine noch größere Steuererhö- schiedener Einkommensbegriffe usw. nicht selten den
hung als jetzt der Solidaritätszuschlag mit 7,5 %. Eindruck, als seien im Bundesfinanzministerium auch
die letzten steuersystematischen Sicherungen durch-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred gebrannt.
Müller [Berlin] [PDS]
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!)
Haben sich diese Herrschaften denn schon so weit
Die von Steuerrechtler Professor Lang vorgenom-
von der Lebenswirklichkeit der Bürger entfernt, daß
mene Bewertung „Die Chaoten machen weiter" hat
sie nicht begreifen, daß eine derartige Zusatzbela-
sich also leider bestätigt. Denn auch die in den von
stung für die Bürger einfach nicht mehr zu tragen und
Herrn Waigel vorgelegten sogenannten 20 Punkten
zu ertragen ist?
zur Steuervereinfachung enthaltenen Vorschläge sind
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred nicht dazu geeignet, zu einer tatsächlichen Steuerver-
Müller [Berlin] [PDS]) einfachung beizutragen. Die Vorschläge sind Punkt
für Punkt ein Flop.
Warum soll ausgerechnet die Masse der normal ver-
dienenden Arbeitnehmer milliardenschwere Steuer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
senkungen für eine kleine Zahl gewinn- und kapital- der PDS)
starker Großunternehmen finanzieren? Im übrigen Die SPD dagegen will das Steuerrecht in wichtigen
hat das Bundesfinanzministerium, u. a. auf Fragen Bereichen materiell vereinfachen und nicht nur an
von mir, derartige Modelle in der Vergangenheit Symptomen herumkurieren. Frau Matthäus-Maier
geprüft und verworfen. hat das am Beispiel des Familienlastenausgleichs
Nachdem Herr Schäuble bereits im Frühjahr ange- erläutert; ich kann mir das sparen. Das führt dazu, daß
kündigt hat, er arbeite an einem steuerpolitischen Tausende von Stellen frei werden, die sinnvoller
Konzept, das u. a. eine Erhöhung von Verbrauchsteu- eingesetzt werden können. Auf dieser Ebene muß
ern, eine Anhebung der Vermögensteuer sowie die man reden. Herr Solms hat ja ein solches Angebot hier
Einführung der Straßenbenutzungsgebühr vorsieht, formuliert.
muß man doch nach dem erneuten Vorstoß von Herrn Bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und
Schäuble ernsthaft fragen, wer denn nun die Steuer- Steuerflucht ist es ganz ähnlich wie bei der Steuerver-
politik innerhalb der Koalition bestimmt. Finanzmini- einfachung: Die Bundesregierung redet zwar davon,
ster Waigel, der sich in immer chaotischeren Einzel- aber wenn es ernst wird, tut sie nichts. Statt die
regelungen verfängt, ist offensichtlich nicht in der Steuerhinterziehung nur als Kavaliersdelikt zu behan-
Lage, sich gegen die Pläne von Herrn Schäuble zu deln, muß die Bundesregierung endlich ihre Grund-
wehren. einstellung ändern und konkrete Maßnahmen ergrei-
Ich fordere daher den Herrn Bundeskanzler auf, fen.
morgen hier in der Debatte klipp und klar zu sagen, ob (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
seine Zusagen gegenüber den Städten und Gemein- der PDS)
den, daß das Gewerbesteueraufkommen erhalten und
die kommunale Finanzautonomie gewahrt bleiben, Nur so kann die Steuerhinterziehung als Diebstahl an
noch gelten. der Allgemeinheit geächtet werden. Zur wirksamen
Bekämpfung der Steuerflucht ist es auch erforderlich,
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred der Verlagerung von Steuern ins Ausland entgegen-
Müller [Berlin] [PDS]) zuwirken und auf europäischer Ebene entschlossen
354 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Joachim Poß
und glaubwürdig eine Harmonisierung der Zinsbe- Wirtschaftsstandortes Deutschland und damit den
steuerung voranzutreiben. Verlust von Arbeitsplätzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Was uns bei einer rot-grünen Koalition auf Bundes-
ebene erwartet hätte, zeigt die industriefeindliche
Politik der Landesregierung in Hessen,
Joachim Poß (SPD): Herr Präsident, mir wurde
gesagt, ich bekäme von meiner Fraktion noch einige (Beifall bei der CDU/CSU)
Sekunden Redezeit dazu. in der Joschka Fischer Minister war und H an s Eichel
zur Zeit noch Regierungschef ist. Aber das wird sich
Vizepräsident Hans Klein: Das müßte Ihre Fraktion sehr bald ändern. Gentechnik, mit der hochqualifi-
dem amtierenden Präsidenten sagen. Außerdem weiß zierte Arbeitsplätze zusammenhängen, gibt es in
ich gar nicht, ob Ihre Fraktion noch Zeit zur Verfügung Hessen nicht mehr. Auch die Uranbrennelemente
hat. werden nun künftig im Ausland produziert.
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)
Joachim Poß (SPD): Leider ist der Bundesfinanzmi-
nister auch hier gescheitert. Großspurig hatte die Ich zitiere die „Frankfurter Neue Presse" vom 10. De-
Bundesregierung vor der Bundestagswahl angekün- zember 1994:
digt, sie werde in der Zeit der deutschen EU- Hessenfürst Hans Eichel kann durchaus stolz
Präsidentschaft eine Harmonisierung der Zinsbe- sein, daß seine Politik Arbeitsplätze schafft, zwar
steuerung durchsetzen. Das Ergebnis, das jetzt vor- nicht bei uns, aber in den USA.
liegt, ist mehr als dürftig. Eine deutsche Tageszeitung
hat mit dem Spruch, den wir alle kennen, treffend (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
kommentiert: „Der Bundesfinanzminister ist gestartet Detlev von Larcher [SPD]: Sie kommen doch
wie ein Löwe und gelandet wie ein Bettvorleger." gar nicht aus Hessen!)
Rot steht in der politischen Farbenlehre für Neid,
Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist abgelau- immer höhere Belastungen der Leistungsträger unse-
fen. rer Gesellschaft — der sogenannten Besserverdie-
ner —, immer mehr Reglementierungen der Bürger
Joachim Poß (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
daß ich diesen Satz noch aussprechen durfte. Sonst Recht hat er!)
haben wir hier am Rednerpult gelegentlich schon
positive Erfahrungen machen können. und rückwärtsgewandte sozialistische Ideologie.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lachen bei der SPD)
der PDS) Wann setzt sich denn endlich bei dem „Be triebsrat der
Nation" die Erkenntnis durch, daß wir die Rahmenbe-
Vizepräsident Hans Klein: Ich muß noch einmal dingungen für den Standort Deutschland verbessern
klarstellen: Die Redezeiten sind vereinbart. Wenn müssen, damit wir Anschluß an die Weltspitze halten,
jemand längere Redezeit beansprucht, muß dies die unsere Indust ri e wieder verstärkt im Inland investiert
-
Fraktion rechtzeitig anmelden. Wenn aber gar keine und wir damit wieder mehr Arbeitsplätze schaffen?
Zeit mehr zur Verfügung steht, dann sehe ich mich mit Die echten Bet riebsräte an der Basis haben diese
Blick auf die anderen Fraktionen außerstande, die Probleme schon längst erkannt. Die überholten
Redezeit zu verlängern. Sie haben eh fast zwei Minu- Umverteilungsideologien sind doch Gift für unsere
ten länger geredet, Herr Poß. Wirtschaft und für die Gesellschaft.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So einfach ist Die politische Farbe Schwarz und ihr weiß-blaues
das!) Kernstück
Als nächster hat der Kollege Hansgeorg Hauser das (Lachen bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng
Wort. [Gerlingen] [F.D.P.]: Er meint „blau-gelb"!)
stehen dagegen für Aufschwung, Schaffung günstiger
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU):
Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und mittelfri-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
stige Entlastung der Leistungsträger.
nen und Kollegen! In den letzten Wochen haben wir
sehr viel über Farbenlehre lesen und hören können. (Beifall bei der CDU/CSU)
Lassen Sie auch mich an diesen Gedanken anknüp-
Wir werden die Staatsquote bis zum Jahr 2000 auf das
fen: Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Grün die
bereits 1989 mit konsequenter Konsolidierungspolitik
Farbe der Hoffnung, Rot die Farbe der Liebe und
erreichte niedrige Niveau absenken.
Schwarz die Farbe der Finsternis.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Entwurf des jetzt eingebrachten Bundeshaushal
Wie anders stellt sich das in der politischen Farben tes 1995 und die Fortschreibung der Finanzplanung
lehre dar: Da steht Grün für die Behinderung des verfolgen diesen eisernen Weg der Sparsamkeit. Das
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 355
Oswald Metzger
einlösen? Wie wollen Sie die langfristigen Risiken rung den schlichten Satz gelesen habe: Der Bund will
finanzpolitischer Art in dieser Gesellschaft in den Griff seine Hausaufgaben machen, die die Gemeinden
bekommen, die da lauten: Entschädigungs- und Aus- schon seit zwei Jahren machen, seit ihnen nämlich das
gleichsleistungsfonds für die politisch schwachsin- Wasser bis zum Hals steht, und betriebswirtschaftli-
nige gesetzliche Regelung im Rahmen der deutschen che Elemente bei der öffentlichen Leistungserbrin-
Vereinigung „Entschädigung vor Rückgabe"? Wie gung stärker zur Geltung bringen.
wollen Sie diese Risiken abfedern?
(Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Wo haben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denn die Gemeinden ihre Hausaufgaben
gemacht? Nirgends!)
Wie wollen Sie beispielsweise der Tatsache Rech
nun tragen, daß die Pensionsbereitstellungen im Bun- Diese Konzepte, nämlich dezentrale Ressourcen-
deshaushalt wegen der Beamtenpensionen verhält- verantwortung, Abflachung von Hierarchien — in der
nismäßig stark steigen und die Versorgungslasten für Industrie längst erprobt —, müssen wir in die öffentli-
den Bundeshaushalt deshalb in Zukunft eine Erblast che Verwaltung einbringen. Hier gibt es Ressourcen
darstellen? in der Leistungserbringung, die wir erst einmal mobi-
lisieren sollten, bevor wir aus ideologischen Gründen
Für viele dieser Fragen gibt es keine Antworten. Als einfach das Schlagwort der Privatisierung verwen-
jemand, der aus der Kommunalpolitik kommt, weiß den.
ich eine Antwort, die Ihnen auch die CDU-, CSU-
Bürgermeister, -Oberbürgermeister und -Landräte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
singen: Der Bund hat die Möglichkeit, Kosten nach Sie können mit uns eine Haushaltsreform beschlie-
unten, auf die Kommunen, wegzudrücken. Das hat er ßen, die ihren Namen verdient: weg von der Kamera-
in der Vergangenheit mit einer Fülle von gesetzlichen listik, hin wenigstens zur doppelten kaufmännischen
Regelungen gemacht. Buchführung, zu Leistungs- und Kostenbilanzen, zum
Die Planung, die im Bereich der Arbeitslosenhilfe Sparen nicht nach dem Rasenmäherprinzip, sondern
ansteht, besagt nichts anderes, als daß Sie an Ihrer mit Intelligenz und Sachverstand.
ursprünglichen Konzeption festhalten. Dadurch, daß Und was darüber hinaus not tut: endlich einmal eine
Sie das erst im Oktober nächsten Jahres finanzwirk- Philippika gegen die Angriffe, daß im öffentlichen
sam in Szene setzen, haben wir die jährliche Bela- Dienst nur Pflaumen arbeiten. Wir haben im öffentli-
stung der Kommunen von 4 Milliarden DM auf chen Dienst gute Leute beschäftigt, aber die muß man
1 Milliarde DM im Jahre 1995 reduziert. Das heißt von den starren Regelungen des Dienstrechts
doch im Klartext: Man führt eine gespenstische befreien. Stellenobergrenzenverordnungen gehören
Debatte über Sozialmißbrauch — zu der sich jetzt auch beispielsweise in den Orkus geworfen. Darunter lei-
die Sozialdemokraten verführen lassen —, den nicht nur die Kommunen, die ihre guten Leute an
die jeweils nächsthöhere Ebene, die besser bezahlt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — ziehen lassen müssen. Darunter leiden auch der Bund
Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Die Ver und die Länder. Hier gibt es einen großen Aufgaben-
nunft siegt überall!) bedarf. Man muß natürlich auch an Besitzständen
um damit einen Generalangriff auf die Kommunen rütteln, die uns allen — im Parlament sitzt ja fast die
vorzubereiten. Wo bleibt der Soziallastenausgleich Hälfte aus dem öffentlichen Dienst — lieb geworden
des Bundes für die Gemeinden, sind. Hier müssen wir auch an die eigenen Pfründe
gehen.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: -
Haben Sie einmal über die Finanzverteilung Ein weiteres Beispiel: Man kann auch intelligente
nachgedacht?) Politik betreiben, ohne Kosten nach unten abzudrük-
ken. Die Kommunen stehen mehr als wir Bundestags-
die die Kosten der Reparaturpolitik zahlen, weil hier abgeordnete als Zielscheibe der öffentlichen Kritik am
keine Arbeitsmarktpolitik gemacht wird? Pranger. Jedes Bundesgesetz, das wir verabschieden,
das nicht ausgegoren ist und Kosten nach unten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wegdrückt, müssen die Gemeinderäte und -rätinnen,
Es gibt eine Fülle von Aufgaben, deren Lösung nach Kreisräte und -rätinnen aller Fraktionen ausbaden.
der Fachdiskussion der entsprechenden Gremien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einen Konsens erforderlich macht. Joschka Fischer hat
in seiner Rede zur Regierungserklärung gesagt, wir Deshalb gibt es von unten unisono diese Klage.
werden keine Opposition der Dämlichkeit in diesem Ich nenne ein Beispiel: In den Bundesländern wer-
Parlament sein. Deshalb werde ich auch einen Teufel den derzeit die ÖPNV-Gesetze gemacht bzw. sind
tun und hier nur angreifen und keine Konzepte oder teilweise bereits beschlossen. Ein Haupthemmnis
wenigstens Ideen einbringen. Wir werden dies auch eines vernünftigen Mitteleinsatzes im öffentlichen
im Haushalts- und im Finanzausschuß machen. Sie Nahverkehr in strukturschwachen Räumen abseits
können uns dann an unseren Taten messen und nicht der Ballungsräume ist das Personenbeförderungsge-
nur an parlamentarischen Fensterreden. setz des Bundes, das bei anderer Ausgestaltung den
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bis Zugriff der Landkreise auf die Linienkonzessionen der
jetzt machen Sie nichts anderes!) Busunternehmen ermöglichen würde. In unserem
Landkreis beispielsweise — dies ist der schwärzeste
Jetzt komme ich zum Thema „Wo gibt es Rezepte?". Landkreis Baden-Württembergs; der CDU-Kollege
Ich habe mich gefreut, als ich in der Regierungserklä von Waldburg-Zeil kann Ihnen das bestätigen, er hat
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 359
Oswald Metzger
das höchste Erststimmenergebnis seiner Partei in kalkulation erhöht werden. Das alles liegt daran, daß
Baden-Württemberg — beklagt sich der Landrat Sie diese Politik im Bund machen.
Schneider von der CDU, daß nicht einmal die eigenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leute der CDU-Landtagsfraktion merken, daß hier und bei der SPD — Wolfgang Zöller (CDU/
der Bund den Weg über eine Änderung des Personen- CSU): Das stimmt eben nicht!)
beförderungsgesetzes frei machen muß. Dann kann
mit den bisherigen Subventionen des ÖPNV das Damit möchte ich schließen. Machen Sie Ihre Haus-
Fahrgastangebot um ein Drittel erhöht werden, ohne aufgaben im Bund, und treten Sie dann vor Ihre
daß zusätzliche Finanzmittel geschoben werden müs- Kommunalpolitiker in Ihren heimatlichen Wahlkrei-
sen.
sen. Dies ist ein praktisches Beispiel.
Vielen Dank.
Ein weiteres Beispiel: Führen Sie im Stromeinspei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sungsgesetz des Bundes, das 1991 in Kraft getreten ist, sowie bei Abgeordneten der SPD)
Einspeisevergütungsmindestbedingungen für Kraft-
Wärme Kopplung ein. Sie werden einen Investitions-
-
boom auslösen, der die Kommunen in die Lage Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der
versetzen wird, diese sinnvolle ökologische Technik Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng.
einzusetzen, die auch mittelstandsfreundlich ist. Es
würde viele Installationsbetriebe in die Lage verset- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä-
zen, solche Dinge für rund 500 000 DM pro Blockheiz- sident! Meine Damen und Herren! Wenn m an neu in
kraftwerk zu bauen. Dann haben Sie eine ökologische diesem Hause ist, ist es natürlich verhältnismäßig
Investition mittelstandsfreundlich verkauft, ohne daß einfach, eine Momentaufnahme aufzuzeigen, die Ent-
der Bund eine zusätzliche Mark zuschießen muß. Dies wicklung zu dieser Momentaufnahme zu unterlassen,
ist eine intelligente Lösung. zu unterbinden und damit diese Entwicklung in ihrer
Wertigkeit auch nicht richtig darzustellen. Mein Vor-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) redner hat natürlich nicht gesehen, daß die Gemein-
den im Westen mit der deutschen Einheit und der
So einfach ist es manchmal, wenn man sich den Kopf
Wirtschafts- und Währungsunion in Wirklichkeit
über etwas zerbricht und nicht nur vordergründig
— trotz der Warnungen aus dem Deutschen Bundes-
nach Milliardensparvorschlägen schielt, sondern
tag — ihre Ausgaben eklatant nach oben gefahren
auch daran denkt, daß das, was wir in diesem Parla-
haben und daß sie in diesen enormen Haushalten
ment machen, Auswirkungen auf die Situation der
heute gefangen sind.
Bürgerinnen und Bürger in ihrem Heimatort hat.
(Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der
Ein letztes Wort. Frau Matthäus-Maier hat heute SPD: Das ist doch nicht wahr!)
früh Beispiele dafür genannt, was die Freistellung des Damals gab es ein hohes Steueraufkommen; heute ist
Existenzminimums von der Steuer einem Durch- es überall knapp. Aber wenn man den Appellen von
schnittsverdienerhaushalt pro Monat an Entlastung hier aus, die Haushalte sparsam zu führen, eher
bringt. In einem Beispiel nannte sie als den untersten gefolgt wäre, dann hätte man diese schwierige Situa-
Wert eine Entlastung von 21 DM pro Monat. Ich tion heute nicht.
verfolge derzeit die Presse in Oberschwaben aus der
Auszulassen, daß der Bund im Föderalen Konsoli-
Gegend, aus der ich komme. Ich lese, daß serienweise
dierungsprogramm auf Grund der damaligen Mehr-
Kreise und Gemeinden Abfall- und Abwassergebüh-
heitsverhältnisse gegenüber den Ländern West bei-
ren in einer Größenordnung erhöhen, die beim
den notwendigen Umschichtungen in Richtung der
Abwasser 1,50 DM bis 2 DM pro m 3 im Monat
Länder Ost den kürzeren gezogen hat, und hier zu
ausmacht. Das bedeutet für einen Vierpersonenhaus-
sagen, was alles besser sein könnte, ist unverhältnis-
halt — das ist eine Folge des Wegdrückens von Kosten
mäßig einfach.
vom Bund auf die Länder und Gemeinden — bei
150 m3 Abwasser im Jahr Mehrkosten von knapp Ich will ein Weiteres sagen. Die Worte von seiten der
300 DM im Jahr. Schon ist die Entlastung weg. GRÜNEN, daß sie an Zukunftskonzepten mitwirken
würden, habe ich in den letzten zwölf Jahren so oft und
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU): Was hat an so vielen Stellen gehört — nirgendwo haben sie
Abwassergebühr mit dem Bund zu tun?) wirklich getragen —, daß man sie hinterfragen
muß.
— Das hat damit zu tun, daß die Kämmerer in den (Beifall bei der F.D.P.)
Städten und Gemeinden wegen der Finanzmisere die
kalkulatorischen Kosten in den Gebührenhaushalten Sie wollten immer alles anders machen. Sie wollten
plötzlich bis zum Gehtnichtmehr ausreizen. z. B., je nachdem, wie sich die Dinge darstellen,
unterschiedlich abstimmen. Sie wollten jeder nach
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Entschuldi seiner Auffassung abstimmen. Sie wollten sich nicht
gen Sie, Sie haben keine Ahnung! Sie dürfen verschließen. Sie wollten immer präsent sein und
nur die tatsächlichen Kosten umlegen! Also ähnliches. Das alles hat am Schluß nicht gestimmt. Es
hat das mit dem Bund nichts zu tun!) wird auch in diesem Punkt wieder nicht stimmen. Die
Worte haben wir wohl vernommen; aber sie sind
— Ich weiß, wovon ich rede. Die kalkulatorischen dahergeredet.
Kosten steigen beispielsweise durch die Tatsache, daß Herr Kollege Poß, Sie haben in Ihren Ausführungen
die Anlagekapitalverzinsungssätze in der Gebühren deutlich gemacht, daß Sie einer neuen Unterneh-
360 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ihrer Vorstellungen zur Gewerbesteuer dem Mittel- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
stand zugute kommen wird? en der CDU/CSU)
Mit der falschen Politik, die die Sozialdemokraten
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ja, Herr jetzt wieder im Zusammenhang mit der Steuerfreiheit
Kollege von Larcher. des Existenzminimums fordern, werden wir am Schluß
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der den gesamten Mittelstand nach Luxemburg oder
Monaco vertreiben. -t-
F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der
SPD: Er hat keine Ahnung!) (Detlev von Larcher [SPD]: Der weiß gar
Meine Damen und Herren, der heute erneut in nicht, wovon er redet!)
erster Lesung debattierte Bundeshaushalt ist der
Steuerfreiheit des Existenzminimums: Wie immer
finanzpolitische Einstieg in die neue Wahlperiode und
in der Politik gibt es Idealvorstellungen; es gibt das
gleichzeitig ein Haushalt des Übergangs. Die Koali-
Machbare, und es gibt Rosinenpicker. Ich sage
tion und die Bundesregierung zeigen Handlungsfä- zunächst in aller Deutlichkeit an die Adresse der SPD:
higkeit. Was wir den Wählern vor der Wahl, auch bei
Wir werden Sie aus Ihrer Gesamtverantwortung, die
der ersten Lesung dieses Haushalts im September und
Sie durch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
im Wahlkampf gesagt haben, daß wir einen klaren
haben, nicht entlassen. Wenn Sie glauben, über den
Kurs der Haushaltskonsolidierung fortführen wür- neuen Steuertarif Ihre verfehlten Wahlziele bezüglich
den, wird jetzt schnellstmöglich in Angriff genommen.
massiver Umverteilung und des Schröpfens gerade
Die Bürger sehen, daß sie trotz der knapper geworde-
der mittleren Einkommen noch verwirklichen zu kön-
nen Mehrheit der Koalition Vertrauen in uns setzen
nen, so werden Sie sich täuschen. Wir haben in der
können, und unsere Arbeit dient natürlich auch dem
Koalitionsvereinba rung den haushaltsmäßig vertret-
Ziel, diese Mehrheit künftig wieder zu verstärken.
baren Umfang, den diese Entlastung bei der progno-
(Zuruf von der SPD: Vor allem nach Gera!) stizierten Wirtschafts- und Steuerentwicklung haben
Der neu vorgelegte alte Entwurf — es sind daran ja kann, umrissen. Eine andere Frage ist, wie weit die
keine ganz wesentlichen Änderungen vorgenommen Anregungen der Einkommensteuerkommission noch
worden — kann selbstverständlich noch nicht alle in das Konzept des Bundesfinanzministeriums einflie-
Impulse umsetzen, die sich aus den Wahlprogrammen ßen können. Dieses Konzept bringt eine hochinteres-
der Koalitionsparteien und aus der Koalitionsverein- sante Gesamtdarstellung der Situation, und wenn
barung ergeben. Hierzu sind nicht nur vielfältige nicht die Finanzierungsseite nach erstem Eindruck
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 361
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
unter das Stichwort „politisch leider nicht machbar" stungsfaktoren zur Reduzierung der Schulden einzu-
fallen würde, dann wäre vor allem mit Blick auf ein setzen. Hierfür verdient der Finanzminister ausdrück-
schrittweises Vorgehen hier tatsächlich eine steuerpo- lich unser Lob.
litische Zukunftsvision umzusetzen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Gerade hierzu allerdings muß die SPD auch klar ten der CDU/CSU — Jörg Tauss [SPD]: Mehr
Stellung nehmen; denn interessanterweise gab es Beifall! — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Jetzt
zwar negative Äußerungen zur Haltung von Bundes- freut er sich aber!)
finanzminister Waigel gegenüber den Kommissions-
vorschlägen, aber das Konzept des SPD-Finanzmini-
sters Schleußer berücksichtigt diese Vorschläge prak- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
tisch gar nicht — ein Beleg sozialdemokratischer Sie müssen zum Schluß kommen, Ihre Redezeit ist zu
Unwahrhaftigkeit und fast gewohnter Doppelzüngig- Ende.
keit.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Wir for-
ten der CDU/CSU) dern die Opposition in diesem Hause zu konstruktiver
Meine Damen und Herren, die sehr lebhaften Aus- Arbeit auf. Blockadepolitik schadet dem Land und
führungen des Kollegen Solms sorgen leider dafür, unseren Bürgern. Sie, meine Damen und Herren von
daß meine Redezeit ein bißchen knapper ist, als sie der Opposition, werden für solche Blockadepolitik
eigentlich vorgesehen war. auch nicht honoriert werden.
Wir sichern der Union erneut kooperative Zusam-
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
menarbeit zu, die auf der Basis gemeinsamer Ziele in
DIE GRÜNEN: Was? — Lebhaft?)
der Haushalts- und Finanzpolitik dem Wohl aller
Erlauben Sie mir deshalb nur noch eine persönliche Bürger dient.
Anmerkung: Der Beginn der neuen Wahlperiode Die Haushaltsgruppe der F.D.P. in veränderter
bedeutet auch neue Aufgaben. Formation
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: In verminderter!)
— Der Kollege Fischer jedenfalls ist weggegangen geht mit der Entschlossenheit an die Detailberatung,
und kotzt sich jetzt wahrscheinlich draußen aus, was das Vertrauen der Menschen durch konsequentes
besser ist, als wenn er es immer hier drin tut. Einhalten der im Wahlkampf gemachten Zusagen zu
(Beifall bei der F.D.P.) stärken und auszubauen.
Vielen Dank.
Der Neubeginn bedeutet für jeden von uns neue
Aufgaben und Befassung mit neuen Themen, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
bisher in anderer Verantwortung lagen. Ich selbst
werde die Berichterstattung meiner Haushaltsgruppe
für den Etat des Bundesrechnungshofes übernehmen, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
und in diesem Zusammenhang möchte ich heute eine Struck, Sie haben das Wort.
persönliche Aussage machen, von der ich hoffe, daß
das Parlament sie breit unterstützen wird. Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine
Die Föderalismuskommission hat, ohne daß dies Damen und Herren! Die Debatte im Deutschen Bun-
-
eine vertiefende Einzeldiskussion ausgelöst hätte, die destag soll eigentlich so geführt werden, daß die
Verlagerung des Bundesrechnungshofes nach Bonn Redner jeweils auf die Argumente der Vorredner
mit einer Dependance in Brandenburg, die in Potsdam eingehen.
geplant ist, vorgeschlagen. Ich meine, der Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: Schön wär's!)
rechnungshof ist ein so wichtiger Helfer und Partner
des Parlaments, daß der Fehler, ihn 1949 nicht in der Ich will das versuchen.
Bundeshauptstadt Bonn anzusiedeln, beim Umzug Anfangen möchte ich mit dem Beitrag des Kollegen
nach Berlin nicht wiederholt werden sollte. Er gehört Weng. Ich denke, bei der Konstituierung des Bundes-
nach meiner Überzeugung an den Sitz des Parla- tages wäre es richtig gewesen, Herr Weng, wenn Sie
ments. Wer das Gewicht des Parlaments im gesamten sich Ihrer beruflichen Ausbildung entsprechend in
Machtgefüge stark haben will, sollte bereit sein, diese den Gesundheitsausschuß statt in den Haushaltsaus-
geplante Außenstelle gedanklich zum Hauptsitz und schuß begeben hätten.
den Hauptsitz Bonn in Zukunft zur Außenstelle zu (Beifall bei der SPD)
machen. Darüber sollten wir erneut diskutieren.
Zu dem Kollegen Metzger möchte ich sagen:
Meine Damen und Herren, dank unserer Politik ist Respekt vor Ihrer Rede. Sie hat mir sehr gut gefallen,
die Konjunktur in Deutschland im Aufschwung, und insbesondere auch weil Sie frei geredet haben: eigent-
dieser Aufschwung sorgt nicht nur für einen Zuwachs lich der Regelfall im Deutschen Bundestag. Inhaltlich
an Arbeitsplätzen und damit für einen geringeren haben Sie zu dem Thema Gewerbesteuer das gesagt,
notwendigen Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für was ich auch gesagt hätte. Deshalb verzichte ich auf
Arbeit, sondern in der Prognose auch für höhere längere Ausführungen dazu; Respekt also für Ihre
Steuereinnahmen. Rede!
Die Bundesregierung war gut beraten, bei der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
hohen geplanten Nettoneuverschuldung diese Entla BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
362 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie dabei gewesen — ein paar gute Worte jedoch auch.
eine Zwischenfrage des Kollegen Weng? Die will ich nun der Fairneß wegen, lieber Kollege
Waigel, auch zitieren.
Dr. Peter Struck (SPD): Natürlich, wenn ich ihn so (Zuruf von der CDU/CSU: Dann müssen Sie
beleidigt habe, muß ich das schon zulassen. jetzt aber lange reden!)
— Ein Satz auf Seite 20 ist es nur; es war wenig, aber
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- dieser Satz muß schon sein.
lege Struck, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß ich jetzt drei Wahlperioden im Haushaltsausschuß (Heiterkeit bei der SPD)
als Vollmitglied gewesen bin und daß ich mir in dieser Sie haben gesagt: „Wir haben in 40 Jahren konse-
Zeit entsprechend dem, was „Focus" bei einer quenter Stabilitätspolitik einen großen Vertrauens-
Umfrage der Abgeordneten des Deutschen Bundesta- kredit in der Welt erworben." Sehr richtig!
ges veröffentlicht hat, durch meine Arbeit in diesem
Hause ein hohes Ansehen erworben habe? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der F.D.P.)
(Lachen bei der SPD — Beifall des Abg.
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]) — Ja, klatschen Sie mal ruhig, denn von den 40 Jahren
hat die SPD 16 Jahre mitregiert, d. h. Ihr ganzes
Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß ich
Gerede von früher — als Sie noch in der Opposition
während meiner ersten Wahlperiode — wo ich sicher-
waren —, wie schlimm alles ist, was die Sozialdemo-
lich noch erheblich weniger Sachkenntnisse hatte — kraten machen, haben Sie jetzt wieder einkassiert und
auf Vorwürfe, wie Sie sie gerade gemacht haben,
haben auch diese Leistung anerkannt. Vielen Dank
gegen Ihre Person, die ja damals im Haushaltsaus-
dafür, Herr Waigel.
schuß war, nicht gekommen bin?
Würden Sie schließlich zur Kenntnis nehmen, daß (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
ich Berichterstatter für das Gesundheitsministerium CSU: Es zählt das Schlußergebnis!)
und auch stellvertretendes Mitglied im Gesundheits- Antworten auf die wichtigen finanzpolitischen Fra-
ausschuß bin? gen haben Sie allerdings nicht gegeben. Das ist aber
bei der Politik, die Sie in den vergangenen Jahren
Dr. Peter Struck (SPD): Das letzte ist ja nicht gemacht haben, auch nicht zu erwarten gewesen. Im
schlecht, Herr Weng. Aber das andere? Wenn Sie Gegenteil, es sind doch immer nur noch inhaltsleere
sagen, „Focus" hält Sie für einen sehr einflußrei- Sprüche, insbesondere wenn ich auf das Thema zu
chen — — sprechen komme, das viele Kommunalpolitiker in
Deutschland interessiert. Wer die Gewerbekapital-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
steuer abschaffen will — so wie Sie das vorhaben, Sie
Nein, die Kollegen sind befragt worden!)
haben das angekündigt, und das ist offenbar auch
— Ach so. Ja, es muß ja nicht alles stimmen, was in Inhalt der Koalitionsvereinbarung —, der muß wissen,
dieser Zeitung steht. daß er damit die Gewerbesteuer ganz erheblich
(Heiterkeit bei der SPD) gefährdet. Das weiß jeder, der sich mit solchen Fragen
Freunde haben mir, als ich ihnen mitteilte, daß ich beschäftigt, vor allem derjenige, der das auch juri-
heute den Ausputzer in der ersten Lesung machen stisch bewertet.
soll, gesagt, es werde mir nicht gelingen, über Borus- Dann kommt die Frage: Was kommt denn an die
sia Dortmund zu reden. Nun will ich das Wort Borussia Stelle der Gewerbesteuer, Herr Kollege Waigel? Da-
Dortmund nicht oft in den Mund nehmen, will aber an gucke ich dann, was Sie zu diesem Thema eigentlich
dieser Stelle sagen: Ich sehe mit hohem Respekt die gesagt haben. Der Satz lautet — ich zitiere wieder
Leistungen von Borussia Dortmund. wörtlich —: „Klar ist, die Gemeinden müssen einen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) vollen Ausgleich erhalten. Sie sollen auch weiterhin
Ich kann diese Leistungen in keiner Weise — Theo ein Interesse daran haben, die Ansiedlung von
Waigel hat auch über „Halbzeit" gesprochen — mit Gewerbebetrieben und damit von Arbeitsplätzen zu
dem Verein vergleichen, dem der Bundesfinanzmini- fördern." So weit, so gut — einverstanden.
ster zuneigt, 1860 München. Vielleicht wird es ja noch Aber was denn nun? Wie denn? Wie geschieht das
besser, lieber Kollege Waigel, aber über Dortmund denn eigentlich? Ich spreche hier nicht nur für sozial-
geht es nicht. demokratische Kommunalpolitiker oder für grüne
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Letz Kommunalpolitiker — F.D.P.-Kommunalpolitiker gibt
ten Sonntag war es schon ganz gut!) es ja nicht mehr —, sondern auch für CDU/CSU-
Kommunalpolitiker.
— Ja, letzten Sonntag war schon nicht schlecht.
Ich habe keine Rede mitgebracht, sondern nehme (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
einfach die von Theo Waigel gehaltene Rede und Nur wenige, leider!)
versuche, sie kurz zu kommentieren, wenn es gestat- — Ja, nur wenige, aber aus meiner Sicht noch viel zu
tet ist. 46 Seiten war sie lang. Ich glaube, eine so lange viele.
Rede haben Sie noch nie gehalten, Herr Bundesfi-
nanzminister, und weniger wäre ganz bestimmt viel (Zustimmung bei der SPD)
besser gewesen. Da helfen dann auch keine Zitate von Ich meine: Wenn Sie so etwas als Bundesminister
Dürrenmatt und Kant; das trägt dann alles nicht, das ist der Finanzen sagen — und zwar auch in Gremien wie
dann allenfalls so ein Aperçu. Es ist viel leeres Gerede Finanzplanungsrat und dergleichen, in denen ja auch
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 363
Dr. Peter S tr uck
die Gemeinden vertreten sind —, dann müssen Sie, 14 Ländern regiert die SPD mit. In den zwei Bundes-
Herr Waigel, schon konkreter werden. Es tut mir leid, ländern, in denen wir noch nicht regieren, kann sich
man kann nicht einfach sagen: Wir werden irgendwie das auch noch ändern.
etwas für die Gemeinden machen. Aber was man
konkret machen will, sagt man nicht. Das ist unver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Lachen
antwortlich gegenüber den Kommunalpolitikern in bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng
Deutschland. [Gerlingen] [F.D.P.]: Es kann sich auch in
anderen Ländern ändern und wird sich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ändern!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Manchmal dauert das etwas länger, aber es kann ja
Der Kollege Metzger — ich habe ihn vorhin gelobt, passieren.
da war er gerade draußen; ich hoffe, man hat ihm das
übermittelt — hat ja schon auf die Konsequenzen Wir stellen zehn Ministerpräsidenten. Ich spreche
hingewiesen. Es kann doch nicht nach dem Motto von dem, was passiert, wenn jetzt der Haushalt durch
weitergehen: Der Bund saniert sich zu Lasten der den Haushaltsausschuß geht. Sie haben die steuerli-
Länder. Und was machen die Länder, und zwar egal, chen Maßnahmen — diese Formulierung ist mir neu
ob sie SPD- oder CDU-regiert sind? Die sanieren sich —Jahres teu rges tz'96
genannt. Ich verstehe darun-
zu Lasten der Kommunen über ihre kommunalen ter diese drei Pakete, über die wir zu reden haben:
Finanzausgleichsgesetze. Und den letzten beißen die (Zuruf von der CDU/CSU: Vier!)
Hunde — das sind die Gemeinden.
Kinderleistungsausgleich, Existenzminimum und Un-
Ich mache Ihnen einen konkreten Vorschlag, Herr
Waigel, weil uns dieses Thema noch lange beschäfti- ternehmensteuerreform.
gen wird. So schnell wird das alles nicht durch (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Plus
Bundestag und Bundesrat gehen. Es wäre gut, wenn Steuervereinfachung!)
Sie neben dem Instrument des Finanzplanungsrates,
das ja dafür bestimmt ist, auch die kommunalen — Plus Steuervereinfachung, wobei mich wundert,
Gebietskörperschaften in die Finanzplanung einzu- daß Sie sich da nicht wieder einen gigantischen
beziehen, einen runden Tisch unter Beteiligung der Namen ausgedacht haben. Ihr Haus ist ja sehr stark
Gemeinden, des Städtetages und der kommunalen darin, Namen zu erfinden. Jahressteuergesetz '96, das
Spitzenverbände einrichteten. ist ja relativ harmlos. Aber vielleicht setzen Sie noch
ein paar Leute daran, die sich da wieder etwas
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ein „Gigantisches" ausdenken.
verstanden!)
Ich sage nur: Dieses Paket wird den Bundesrat
— Sie sollten auch die SPD — durch einen A- beschäftigen. Das ist uns völlig klar. Es wird zweifellos
Finanzminister oder wen auch immer; darüber kön- der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Ich
nen wir ja in Ruhe reden — einbeziehen. erkläre hier ausdrücklich für die SPD-Bundestags-
Es wäre jedenfalls gut, wenn wir versuchten, das fraktion: Ich werde mich in Zukunft aus gewisser
wichtige Thema „Wie retten wir die Gemeindefinan- Erfahrung hier nicht mehr hinstellen und sagen: Und
zen?", urn das es jetzt geht, im Konsens zu lösen. Das der Bundesrat wird dieses oder jenes tun oder unter-
wäre gut. Wenn es keinen Konsens gibt, dann muß lassen. Es entspricht meinem Verfassungsverständnis
halt entschieden werden. Aber der erste Ansatz wäre und auch den Erfahrungen, die wir gemacht haben,
mit Sicherheit der bessere Weg. daß die Länder ein eigenständiges Interesse zu vertre--
ten haben und nicht ferngesteuert werden aus dem
(Dr, Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Ollenhauer-Haus oder aus der SPD-Bundestagsfrak-
Dann werden Sie aber auch Vorschläge
tion, sondern — das sage ich jetzt auch ganz deut-
machen müssen!)
lich — zunächst einmal ihre eigenen Finanzinteressen
— Ja, natürlich. Ich habe nie Probleme, Herr Weng, zu berücksichtigen haben. Das gilt übrigens nicht nur
Vorschläge zu machen. für sozialdemokratische Ministerpräsidenten. Das gilt
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: auch für die Ministerpräsidenten, die von der CDU
Doch! Doch!) bzw. CSU gestellt werden.
— Nein, nein. Ich habe manche Rede im Deutschen Ich gehe aber soweit, Herr Kollege Waigel, zu
Bundestag — in diesem Plenarsaal, im Wasserwerk sagen: Es ist wohl keine waghalsige Prophezeihung,
und in dem alten Plenarsaal — zu dem Thema daß dieses gesamte Paket mit den vier Elementen im
Gewerbesteuer gehalten. Ich bleibe dabei, daß ein Bundesrat so nicht akzeptiert werden wird, wie Sie es
Satz immer gilt: Die Gewerbesteuer ist die Säule des jetzt wohl einzubringen beabsichtigen. Ich glaube, es
gemeindlichen Finanzsystems. Wenn ich die wegbre- wäre unrealistisch, wenn man nicht einschätzte, daß
che, muß ich eine andere Säule errichten. Sonst geht der Bundesrat zunächst einmal dieses Paket aufschnü-
überhaupt nichts mehr in Deutschland. ren und anhalten wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre bedau-
DIE GRÜNEN) erlich!)
Herr Kollege Waigel, Sie haben sich in Ihrer Rede — Nein, das ist nicht bedauerlich, weil wir nämlich
auch an die von uns regierten Länder gerichtet. Ich schon dann die Möglichkeit haben, eingehend zu
stelle hier einmal mit Stolz fest: Es gibt 16 Bundeslän- prüfen. In manchen Bereichen kann ich mir durchaus
der in der Bundesrepublik Deutschland, und in Kompromisse vorstellen. Das will ich aber den Ver-
364 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Dietrich Austermann
Damit bringt man auch das wirklich wertvolle Thema Die Leistungen für die neuen Bundesländer werden
Pflegeversicherung in Mißkredit. Hier ist eine großar- sich im kommenden Jahr vor allen Dingen aus diesem
tige soziale Leistung vollbracht worden. Wir danken Bundeshaushalt auf 200 Milliarden DM belaufen, d. h.
den Bürgern dafür, daß sie sich an dieser großartigen um 60 Milliarden DM über den Leistungen des Jahres
Leistung je nach Finanzkraft beteiligen. 1991 liegen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Wenn man die Rednerin der PDS zu diesem Thema
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gehört hat, hat man den Eindruck, es sei überhaupt
DIE GRÜNEN]: Die Frage ist, ob die Bürger nicht nötig, daß angesichts des brillanten Zustandes,
Ihnen dafür danken! — Das wird entschei in dem die DDR zurückgelassen wurde, eine einzige
dend sein!) Mark fließt. Lafontaine sprach ja damals von der
zehntgrößten Industrienation. Weshalb dann eigent-
Meine Damen und Herren, es geht in Deutschland
lich ständig neue Forderungen gerade von den Kom-
heute nicht darum, einen größeren Kuchen auf ver-
munisten, von der Partei des Stacheldrahts, wenn die
schiedene Ebenen der öffentlichen Hand zu verteilen.
Situation so ideal ist?
Wenn man hört, was Sie zur Finanzsituation sagen,
hat man den Eindruck, die Ärmsten im Lande seien die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Kommunen. Das mag in Teilbereichen, bei einzelnen
Großstädten, zutreffen. Aber man muß auch eindeutig Der Nettotransfer nach Abzug der Steuern wird
erkennen, daß der kommunale Finanzausgleich ein 155 Milliarden DM betragen, davon 106 Milliarden
Thema ist, das in erster Linie die Länder angeht, das DM aus dem Bundeshaushalt, 40 Milliarden von
unter die Länderhoheit fällt und dort entschieden Ländern und Gemeinden und immerhin 7 Milliarden
werden muß. von der EG — ein gewaltiges Programm für die neuen
Bundesländer, das zeigt, daß wir die Verantwortung
Man muß vor allen Dingen auch erkennen, daß der für die Erreichung der gleichen Lebensverhältnisse im
Bund in erheblichem Maße Leistungen erbracht hat, ganzen Bundesgebiet übernehmen.
um die Kommunen besserzustellen und sie zu entla-
sten. Ich nenne das FKPG, das Spar-, Wachstums- und Man sollte auch darauf hinweisen, welche Leistun-
Konsolidierungsprogramm, den Abbau von Steuer- gen direkt an die Bürger im Osten gehen: durch
vergünstigungen, das Thema Zinsabschlag, das Kriegsopferversorgung, aktive Arbeitsmarktpolitik,
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, die zusätz- Vorruhestand, Altersübergangsgeld, Sozialversiche-
lich eingenommene Konzessionsabgabe, die Entla- rung, Erziehungsgeld und Kindergeld 47 Milliarden
stung bei der Pflegeversicherung, die Entlastung DM!
durch die Postreform, den Rückgang der Asylbewer- Von Frau Matthäus-Maier ist vorhin der Eindruck
berzahlen, den Wegfall der Beteiligung am Fonds erweckt worden, wir würden Leistungen bei Arbeits-
Deutsche Einheit — alles Entlastungen für die Kom- beschaffung, Fortbildung und Umschulung ein-
munen. schränken. Der Entwurf des Bundeshaushalts für 1995
Gleichzeitig haben die Länder durch die Entschei- sieht höhere Leistungen bei Fortbildung und
dungen des letzten Jahres deutliche Zuwächse bei Umschulung vor. Und in diesem Jahr geben wir die
den Einnahmen. Ich nehme als Beispiel das Land ABM-Mittel nicht einmal voll aus. Wer da hergeht und
Schleswig-Holstein. Es wird im Jahre 1995 nach sagt, wir sollten ständig neues Geld geben, der
jetziger Schätzung 14 % mehr Gemeinschaftssteuern verkennt offensichtlich die tatsächliche Situation.
einnehmen. Die Gemeinden werden an dieser Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wicklung leider nicht entsprechend beteiligt. Selbst ordneten der F.D.P.)
-
nach Abzug der geringen Ergänzungszuweisungen ist
davon auszugehen, daß die Einnahmen der Länder Ich habe gesagt, Stabilität drücke sich auch darin
fast zweistellig zunehmen. aus, daß wir keine unnötigen Versprechungen
machen, sondern den Bürgern sagen, daß es im
Zu den Einnahmen und zur Finanzsituation der nächsten Jahr voraussichtlich keine Nettolohnerhö-
Kommunen habe ich etwas gesagt. Ich glaube, wir hung geben wird. Wenn man aber den Leuten sagen
sollten die Erklärung, es ginge heute nur darum, sich kann, es werde zumindest so bleiben, wie es ist, wäre
über die kommunalen Finanzen zu unterhalten, in das im Vergleich für viele Länder der Welt ein
etwas anderem Licht sehen. Wenn man tatsächlich die hervorragender Zustand.
Verschuldung, die Belastung des Bundes, der Länder
und der Gemeinden sieht, wird das Ganze bestätigt. Meine Damen und Herren, die Bürger der Bundes-
republik haben deshalb Vertrauen und Zuversicht in
Man muß auch erkennen, welche gewaltigen Son- diese Bundesregierung, weil sie in manchen anderen
derleistungen aus dem Bundeshaushalt in den letzten Bereichen ihre Erfahrungen mit SPD-geführten
vier Jahren erbracht worden sind, und zwar durch Regierungen gemacht haben. Ich nehme dafür gar
UNO-Einsätze, die zusätzliche Kosten verursacht nicht das Beispiel von 1969 bis 1982. Wir wissen alle, in
haben, durch den Abzug der Russen, durch Katastro- welchem Zustand das Land hinterlassen wurde.
phenfälle, durch Soforthilfen für eine Fülle von Län-
dern an allen Ecken und Enden der Erde. Man sollte (Zuruf von der SPD: Etwas besser als jetzt war
diese gewaltigen Leistungen nicht kleinreden und die es!)
eigene Arbeit richtig einschätzen.
— Das kann man sicher nicht sagen; denn selbst die
Ich möchte einige wenige Sätze zu den neuen Arbeitslosenquote lag damals wesentlich höher als
Bundesländern sagen — früher ein Hauptthema, das heute, und das ist ein ganz entscheidendes Kriterium,
heute meines Erachtens etwas zu kurz gekommen ist. Regierungsarbeit zu messen. Auch wenn Sie hier den
366 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Dietrich Austermann
Rekord im Wettbrüllen auch noch schlagen wollen, Es ist vorhin kritisiert worden, daß die Ausgaben im
das schaffen Sie nicht! Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit im kommen-
den Jahr in Teilbereichen geringer sind. Die Lösung
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ist ganz einfach: Das hängt mit dem Aufschwung
DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie doch einmal
zusammen, das hängt damit zusammen, daß die
Hessen!)
Bundesanstalt weniger Kurzarbeitergeld bereitstellen
— Auch Ihr Gebrüll, Herr Fischer, wird daran nichts muß, das hängt damit zusammen, daß sie weniger
ändern. Arbeitslosengeld bereitstellen muß.
Auf der einen Seite wird es offensichtlich Mode, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
davon zu reden, man müsse der Wirtschaft mehr Sehr gut!)
helfen, die Standortbedingungen verbessern — Herr Dies ist der entscheidende Grund, nicht etwa, daß wir
Scharping hat das in Tutzing ganz kurz einmal sagen sparen wollen, um die Arbeitslosigkeit zu finanzie-
dürfen —; gleichzeitig aber stellen wir fest, daß in den ren.
Bundesländern von Ihnen das Spießrutenlaufen der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wirtschaft geübt wird. Ob das in Hamburg, in Gorle-
ben, in Hanau oder woanders ist: Es gibt 30 Fälle Als letzten Punkt möchte ich die Frage ansprechen:
juristischen Spießrutenlaufens, das Sie der Wirtschaft Geht es bei der Diskussion um Kinderfreibeträge,
durch Ihr Verhalten zumuten. Kindergeld oder Ausgaben der Gemeinden darum,
daß man dem einen oder anderen mehr Geld zukom-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ men lassen möchte? Dabei wird immer verschwiegen,
DIE GRÜNEN]: Spießrutenlaufen — sehr daß der Besserverdienende nur ein begrenztes Kin-
gut! Sie wissen, wie das geht!) dergeld bekommt.
offenbar macht das dem Schläger, Herr Fischer, Es geht ganz einfach um die Frage: Wem nützt es?
Freude. Es nützt den Bundesländern, wenn man mehr Kinder-
geld zahlt und weniger abschreibt, weil die Länder
(Joseph Fischer [Frankfurt] (BÜNDNIS 90/ dann bei der Einkommen- und der Lohnsteuer höhere
DIE GRÜNEN]: Allemal!) Einnahmen haben. Es nützt den Menschen aber
Auf SPD-Parteitagen werden ständig neue Forde- nichts, wenn sich unter dem Strich nichts ändert.
rungen erhoben. Ich glaube, daß man auch feststellen Sie wollen mehr Kindergeld und geringere
muß, daß die SPD in vielen Bereichen die Schlachten Abschreibungsmöglichkeiten nur deshalb, weil Sie
der Vergangenheit schlägt. In einer Zeit, da sich die die Situation der Länderhaushalte verbessern wollen.
Tarifvertragsparteien bereits über Ganzjahrestarif- Dabei geht es den Ländern ohnehin wesentlich besser
verträge unterhalten, beantragt die SPD im Bundes- als dem Bund. Es geht Ihnen überhaupt nicht um die
rat, die Schlechtwettergeldregelung müßte ab 1996 Familien mit Kindern. Es geht um diese einzige
fortgeführt werden. Die SPD hat offensichtlich nicht Frage.
erkannt, wie die Entwicklung über sie hinweggeht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Das gilt für jedes Thema, das heute angesprochen
Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])
wurde.
Nein, die Bürger wollen Rechtsstaat, Stabilität,
Frau Matthäus-Maier redet noch von den Doppel- Zuversicht und Perspektive. Dieser Bundeshaushalt
fenstern des Jahres 1975. Vor drei Monaten mußten vermittelt Zuversicht. Er ist besser als vor einem
wir aber feststellen, daß sich die SPD im Bundesrat halben Jahr, was nicht bedeutet, Herr Kollege Weng,
geweigert hat, den erneuerbaren Energien neue da ja auch gute Dinge noch verbessert werden kön--
Chancen zu geben. nen, daß wir im Haushaltsausschuß das eine oder
(Beifall bei der CDU/CSU) andere nicht noch verbessern werden. Warum denn
nicht? Es ist die Frage, ob wir unter Umständen zu
Wir haben im Bundesrat mehr Chancen für erneu- einem Nullwachstum kommen, was relativ beschei-
erbare Energien gefordert, zusätzlich zu den 300 Mil- dene Einsparmöglichkeiten bedeuten müßte.
lionen DM, die für diesen Bereich im Bundeshaushalt
bereitstehen. Wir unterstützen den Bundesfinanzminister in dem
Bemühen, die Stabilitätspolitik fortzusetzen und
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll damit Zuversicht beim Bürger zu erzeugen.
mer) Herzlichen Dank.
Dasselbe gilt für Themen wie UN-Solidarität. Was (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sagt da Ihr Seniorenbeauftragter? Wie redet Herr
Scharping? Was sagen Sie zum Thema PDS? Welches
Thema man auch nimmt: Die SPD ist zu einer „ARD"- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin
Partei verkommen: alles rennt durcheinander. Matthäus-Maier wollte eine Zwischenfrage stellen.
Das war nicht mehr möglich, weil die Redezeit abge-
Während Herr Scharping in Tutzing von der Not- laufen war. Deswegen erhält sie das Wort zu einer
wendigkeit einer Modernisierung sprach und politi- Kurzintervention.
sche Thesen vortrug, die, als die CDU sie vertrat, im
(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Muß das sein?)
Wahlkampf noch verteufelt wurden, zeigte die Reak-
tion der Partei im Hinblick auf die beabsichtigte
Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, daß es Ihnen Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Austermann, ich
überhaupt nicht ernst ist mit der Entlastung der muß Ihre Behauptung zurückweisen, die SPD sei für
Wirtschaft. das Kindergeld, weil dann der Bund über die Bundes-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 367
Ingrid Matthäus-Maier
anstalt für Arbeit die Kosten tragen müßte. Ich habe Denn Kommunen in Not heißt immer auch Menschen
nicht nur hier heute morgen, sondern auch in anderen in Not. Im Ergebnis der finanziellen Knebelung der
Debatten, z. B. in der Debatte über die Familienpolitik Kommunen werden in einem bisher nicht gekannten
und in der Debatte über die Regierungserklärung auf Ausmaß Kindertagesstätten, Jugendfreizeiteinrich-
eine Intervention von Herrn Schäuble hin, sehr klar tungen und Schwimmbäder geschlossen oder müssen
dargelegt: Wir Sozialdemokraten wollen ein Kinder- ihren Betrieb stark einschränken. Dringend notwen-
geld als Abzug von der Steuerschuld und die Finanz- dige Investitionen in die kommunale Infrastruktur
amtslösung.. können nicht wie vorgesehen durchgeführt werden.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph Bekanntlich sind Investitionen immer der kurzfristig
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ flexible Teil öffentlicher Haushalte. Sie lassen sich
NEN]) leichter strecken, aufschieben oder streichen als die
meisten laufenden Ausgaben.
Das bedeutet, daß der Bund das selbstverständlich
nicht allein bezahlt. Das wäre eine völlig unzulässige Damit läßt sich die Investitionsquote als ein guter
Verschiebung der Kosten auf den Bund. Das wollen Indikator für die Finanzlage der kommunalen Haus-
wir nicht. halte heranziehen. In den 60er Jahren lag diese
Investitionsquote im Altbundesgebiet bei den Ge-
Im Gegenteil: In unserem Programm steht aus-
meinden noch bei rund 40 %. Derzeit beträgt sie 21 %
drücklich, daß die Länder und die Gemeinden, weil
— ein spürbarer Rückgang. Die Kommunen können
sie dann ja mehr belastet werden, einen entsprechen-
damit ihrer Verantwortung als größter öffentlicher
den Ausgleich erhalten. Ich möchte Sie wirklich
Auftraggeber und somit auch als eine wichtige Kon-
bitten, Herr Austermann, daß Sie, nachdem wir das
junkturlokomotive immer weniger gerecht werden.
hier 27mal klargestellt haben, nicht mehr eine solche
Unwahrheit wiederholen. In dieser für die Kommunen dramatischen Lage holt
die Bundesregierung zu einem Rundumschlag aus.
(Beifall bei der SPD)
Zum 1. Januar 1996 sollen die Gewerbekapitalsteuer
vollständig liquidiert sowie die Gewerbeertragsteuer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der weiter reduziert werden. Den Kommunen wird für den
Kollege Herr Dr. Rössel das Wort. Ausfall des Gewerbesteueraufkommens ein fairer
Ausgleich versprochen. Doch wie dieser aussieht,
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Geben Sie
steht in den Sternen, wie auch die heutige Rede des
doch die Gelegenheit, auf die Kurzinterven
Herrn Bundesfinanzministers zeigt.
tion zu reagieren!)
Die Bundesregierung setzt mit den neuerlichen
Einschnitten bei der Gewerbesteuer ihren Kurs der
Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel (PDS): Sehr geehrte Frau steuerlichen Entlastung der Großunternehmen auf
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Kosten der Kommunen fort. Nach der Abschaffung der
ren! Wie die einkommensschwachen Bürgerinnen Lohnsummensteuer noch unter der sozialliberalen
und Bürger haben auch die Kommunen offenkundig Koalition wurde die Gewerbesteuer unter der Kohl-
keine Lobby in der Bundesregierung. Anders kann ich Regierung vor allem durch die drastische Reduzie-
die heutige Rede des Bundesfinanzministers nicht rung ihrer Bemessungsgrundlagen zunehmend aus-
sehen. Herr Kollege Austermann, es gehört schon Mut gehöhlt.
dazu, das Gegenteil zu behaupten. Sie erbringen den
Beweis nicht. Mit dem zum Jahresbeginn in Kraft getretenen
Standortsicherungsgesetz finanzieren die Kommunen
Die Kommunen sind die letzten in der Reihe der durch die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage die-
öffentlichen Haushalte. Herr Struck, Sie haben völlig Unternehmensteuerentlastung in einem Umfang von
recht: Den letzten beißen die Hunde. Die Verschul- 1,1 Milliarden DM pro Jahr. Der Vorschlag von
dung der Kommunen hat sich vor allem in den 90er Kollege Dr. Schäuble, als Ersatz für den Gewerbesteu-
Jahren in einem schwindelerregenden Umfang ent- erausfall ein kommunales Hebesatzrecht auf die
wickelt. Die Kreditmarktschulden liegen derzeit Lohn- und Einkommensteuer einzuführen, würde
bereits bei 170 Milliarden DM. Besorgniserregend ist nach Ansicht des Deutschen Städtetages zum Krieg
die Lage in Ostdeutschland: Die Pro-Kopf-Neuver- zwischen den Gemeinden sowie zu einem drastischen
schuldung der ostdeutschen Städte, Gemeinden und Anstieg der Einkommensteuer führen.
Landkreise ist bereits doppelt so hoch wie die im
Altbundesgebiet. Ihre desolate Haushaltslage bringt Auch einer teilweisen Substitution der Gewerbe-
die Kommunen vielerorts an den Rand ihrer Hand- steuer durch eine direkte Beteiligung der Kommunen
lungsfähigkeit. an der Umsatzsteuer steht die Bundestagsgruppe der
PDS kritisch gegenüber.
Der Bund und auch die Länder — diese im Rahmen
ihrer Finanzausgleichsgesetze — tragen dafür eine (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
große Verantwortung. Beide sorgen dafür, daß die DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)
vielgepriesene kommunale Finanzautonomie immer Ein solcher Vorschlag würde in seiner Konsequenz
mehr zur Farce und die kommunale Selbstverwaltung nämlich weg von der direkten Kapital- und Unterneh-
damit überhaupt in Frage gestellt wird. mensbesteuerung und hin zu einer indirekten
Die Bundestagsgruppe der PDS und die 6 000 Besteuerung des privaten Konsums führen.
PDS-Kommunalabgeordneten wenden sich entschie- Ein weiteres Argument gegen den Vorschlag, die
den gegen derartige Praktiken. Kommunen direkt an der Umsatzsteuer zu beteiligen,
(Beifall bei der PDS) ist folgendes: In einer Zeit anhaltender Knappheit der
368 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Umsatzsteueraufkommens auf die Gemeinden. Die nicht. — Die heutigen Freibeträge für die Gewerbe-
Ermittlung der Schlüsseldaten kann nach jüngsten steuer sollten aufgehoben werden. Sie könnten durch
Erkenntnissen von Finanzexperten frühestens im Jahr gleitende Freigrenzen ersetzt werden, um auf diese
2000 erfolgen. Das heißt im Klartext: Die Bundesre- Weise Kleinunternehmungen und Handwerkern die
gierung will die Gewerbekapitalsteuer bereits in Steuerbefreiung von der Gewerbesteuer zu gewäh-
einem Jahr vollständig abschaffen, obwohl die Daten- ren, ohne daß gleichzeitig Großunternehmen von
basis zur Ausarbeitung vernünftiger Ausgleichsmaß- einer Art Mitnahmeeffekt profitieren.
nahmen für die Kommunen erst in sechs Jahren
vorliegen kann. Das ist fürwahr eine Meisterlei- Des weiteren schlägt unsere Gruppe vor, zur weite-
stung. ren Stärkung der Finanzkraft der ostdeutschen Kom-
munen im Finanzreformgesetz langfristig eine kom-
Solche Praktiken, meine sehr verehrten Damen und munale Investitionspauschale zu verankern. Eine
Herren, können nicht anders als mit dem Begriff solche kommunale Investitionspauschale sollte sich
„steuerpolitische Luftnummern" betitelt werden. an der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ orientieren und sollte darauf gerichtet sein, die In-
DIE GRÜNEN]: Frau Luft, jetzt müssen Sie vestitionskraft der ostdeutschen Städte und Gemein-
einmal protestieren! Sie werden hier ständig den sowie der Landkreise zu sichern.
vereinnahmt!) (Beifall bei der PDS)
— Jawohl, Herr Kollege Fischer, dafür wird sich eine Gegenwärtig ist vor allem die mangelnde Planungssi-
passende Gelegenheit ergeben. cherheit ein Manko, das Kommunalpolitikerinnen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ und Kommunalpolitiker in Ostdeutschland besonders
DIE GRÜNEN]: Das ist die Waigel-Nummer, drückt.
keine Luft-Nummer!) Wir schlagen vor, daß als erster Schritt zur Wieder-
— Ich sprach von einer steuerpolitischen Luftnummer, einführung einer kommunalen Investitionspauschale
Herr Fischer. eine solche Maßnahme im Haushalt 1995 geprüft-
wird, mit dem Ziel, die Finanzkraft der ostdeutschen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Kommunen in einem Umfang von etwa 5 Milliarden
DIE GRÜNEN]: Das ist eine Waigel-Num DM zu stärken. Wir werden dazu bei den Haushalts-
mer!) beratungen einen Entwurf einbringen, der auch
Die Leidtragenden wären wiederum die Schwachen. Finanzierungsgrundlagen umfaßt. Beiträge zu einer
Die Städte, Gemeinden, Landkreise, ihre Einwohne- soliden Finanzierung der öffentlichen Finanzen zu
rinnen und Einwohner wären betroffen. leisten ist ein besonders großes Anliegen des Bundes-
tages.
Die PDS-Bundestagsgruppe fordert die Bundesre-
gierung auf, endlich eine umfassende Reform der Ich fordere im Namen meiner Gruppe den Bundes-
Kommunalfinanzierung in Angriff zu nehmen, die finanzminister auf, einen energischen Kampf gegen
kein bloßes Anhängsel einer Unternehmensteuerre- die Steuerhinterziehung und gegen Subventionsbe-
form ist. Wir unterstützen nachhaltig den Vorschlag trug zu führen. Die Zahlen sind genannt.
der kommunalen Spitzenverbände, dafür eine En- (Lachen bei der CDU/CSU Zuruf von der
quete-Kommission beim Deutschen Bundestag einzu- CDU/CSU: Gegen das PDS-Vermögen!)
richten.
Wir forde rn eine radikale Besteuerung der Speku-
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Schon lationsgewinne und erachten es auch für notwendig,
wieder eine Kommission!) die Spekulationsgewinne auch aus dem Handel mit
Von welchen Eckpunkten sollte eine umfassende sogenannten Finanzderivaten, wie Termingeschäften
Reform der Kommunalfinanzierung nach Ansicht mei- und Optionen, heranzuziehen.
ner Gruppe ausgehen? Vor allem kommt es darauf an, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
das Band zwischen Wirtschaft und Kommunen nicht DIE GRÜNEN]: Sie können mit Hungerstreik
weiter zu zerschneiden, wie das die Bundesregierung rechnen, wenn Sie das zu radikal fordern!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 369
Erwin Marschewski
Kampf gegen die Gangster angesagt haben. Das sind, in denen Sie oft das Sagen haben. Ich weiß, daß
wollen wir auch weiterhin tun. wir als Bund Gesetze zu beschließen haben, und wir
Meine Damen und Herren, ich darf die Liste der werden dies tun.
erfolgreichen Vorhaben fortsetzen: Wir haben das Meine Damen und Herren, wir brauchen z. B.
Ausländerrecht neu geordnet. Wir haben das Asyl- dringend eine gesetzliche Regelung der Hauptver-
recht novelliert. Zum Asylrecht: Unser Asylrecht ist handlungshaft. Warum haben Sie dem im Vermitt-
weiterhin das großzügigste in der Welt, nur dem lungsausschuß nicht zugestimmt? Sie wollen darüber
Mißbrauch wird ein Riegel vorgeschoben, und wirk- nachdenken. Unser Ziel: Sofort festzunehmen, sofort
lich politisch Verfolgten ist Schutz sicher. Aber, Herr zu verurteilen, sofort zum Strafantritt zu kommen. So
Kollege Körper, ich weiß doch, wie schwer es gerade Dinge wie in Oberhof dürfen sich nicht wiederholen.
Ihrer Fraktion gefallen ist, diesem Gesetz letzten Das hat diese Koalition beschlossen.
Endes mit einer Handvoll Stimmen zuzustimmen. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
bedanke mich dafür. Aber Sie können doch auf Grund ordneten der F.D.P.)
der Mehrheit im Bundesrat nicht sagen: Wer regiert
Ich fordere Sie auf, darüber nachzudenken und es
hier denn eigentlich?
uns gleichzutun. Wir brauchen — richtig, Herr Kollege
Ich meine, unser Asylrecht ist ein großzügiges Körper — eine Novellierung des BKA-Gesetzes. Da ist
Recht. Das wird auch durch die Entscheidung des eine effektive Verbrechensbekämpfung erforderlich.
Bundesinnenministers hinsichtlich der Abschiebung Ich verstehe nicht, warum die großen Länder sich
der Kurden bestätigt. Damit eines klar ist: Die türki- dagegen sperren, dem BKA die Vorfeldbeobachtung
schen Urteile gegen ihre eigenen kurdischen Abge- zu übertragen. Aber dies, meine Damen und Herren,
ordneten sind ein schlimmes Zeichen für die Einschät- wird nicht ausreichen.
zung der demokratischen Ordnung in der Türkei; sie
Was ich Ihnen vorschlage, ist etwas, was wir bereits
verlangen eine neue Bewertung des Verhältnisses zu
als Koalition beschlossen hatten. Ich halte es für
diesem NATO-Partner. dringend vonnöten, das G-10-Gesetz zu erweitern.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir setzen den Bundesnachrichtendienst zum Einsatz
Aber ich denke, daß der Abschiebestopp bis zum gegen Terrorismus, gegen Drogen und gegen Handel
20. Januar genügend Gelegenheit gibt, darüber nach- mit spaltbarem Material ein. Warum beziehen wir
zudenken. Deswegen entbehren alle Vorwürfe an den nicht die individuelle Verbrechensbekämpfung ein?
Innenminister jeder Grundlage. Es kann doch nicht sein, daß ein Gangster hier
überwacht wird, weil er mit Drogen oder mit radioak-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tivem Material handelt; dieser Gangster hat eine
Denn bisher — Sie wissen dies — ist kein einziger zweite Wohnung in Frankreich, und er zieht dorthin
PKK-Anhänger von Deutschland an die Türkei ausge- und betreibt sein verbrecherisches Geschäft von dort.
liefert worden. Das ist auch die Linie des Innenmini- Dieser Gangster muß überwacht werden, meine
sters. Wir wollen im Einzelfall entscheiden. Eine -Damen und Herren. Ich bitte Sie herzlich, das G
Einzelfallentscheidung ist letzten Endes generellen 10-Gesetz mit uns entsprechend zu ändern.
Regelungen vorzuziehen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Meine Damen und Herren, im Bereich der inneren DIE GRÜNEN]: Ein Deutscher, der nach
Sicherheit müssen wir das Ausländer- und Asylrecht Frankreich geht, ist dort ein Ausländer und
weiterentwickeln; denn der Friede, das wissen wir, fällt unter Ausländerkriminalität!?)
beginnt im eigenen Haus. Im innenpolitisch geistigen — Ich spreche ja nicht von Ihnen, Herr Kollege
Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Fischer. Ich spreche von Gangstern. Wissen Sie, Sie
Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie werden noch Gelegenheit haben, mit uns gemeinsam
nur könnte, verschwinden. Ich meine, der Etat des unverkrampft, ohne Überspanntheiten und ohne
Finanzministers zeigt auf, daß wir im Bereich der Übertreibungen an die Reformierung von Gesetzen zu
Gewährleistung der inneren Sicherheit zufrieden sein gehen.
können.
Ich denke erstens daran: Wir werden bis 1996 die
Lücke im Bundesgrenzschutz geschlossen haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
Herzlichen Dank, Herr Bundesfinanzminister, herzli- gestatten Sie eine Zwischenfrage?
chen Dank, Herr Bundesinnenminister! Wir werden
damit den Schleppern den Kampf angesagt haben.
Das Schleppertum ist ein schlimmes Verbrechen. Wir Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ja, Herr Kollege
müssen deswegen die Zahl an Grenzschutzbeamten Hirsch, bitte schön.
erhöhen.
Als zweites werden wir das Bundeskriminalamt Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Mar-
personell und finanziell besser ausstatten. Ich meine, schewski, Sie haben, ebenso wie der Bundesinnenmi-
die Verbrechensbekämpfung beim, BKA hat sich nister an verschiedenen Stellen, von der Überwa-
bewährt. chung von Gangstern gesprochen. Müßten Sie nicht
Schließlich wollen wir weiterhin die Länder bei den richtiger von Bürgern oder von Leuten sprechen, die
Bereitschaftspolizeien unterstützen. Das kostet Geld. berechtigt oder unberechtigt in einen Verdacht gera-
Das wissen wir. Wir wissen auch, daß für die innere ten sind, und davon, daß es um die Aufklärung eines
Sicherheit in erster Linie die Länder verantwortlich Verdachtes geht? Ist es nicht so, daß Sie jemanden,
376 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Erwin Marschewski
Zum Schluß ein Wort zur Parlamentarischen Kon- Cern Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
trollkommission oder, genauer, zur Mitwirkung von Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor wenigen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an der Kontrolle unserer Tagen wurden zwei Vorstandsmitglieder der angese-
Geheimdienste: Wir wollen Ihre Beteiligung, meine henen Menschenrechtsstiftung der Türkei vor dem
Damen und Herren, an diesen parlamentarischen Staatssicherheitsgericht in Ankara angeklagt. Der
Gremien. Wir akzeptieren Ihre volle Teilhabe, aber eine, Yavuz Önen, hatte eine Politik kritisiert, die „die
mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Hieran kurdische politische und demokratische Bewegung
hegen wir Erwartungen. Wollen Sie immer noch wie verbietet" . Der andere, Fevzi Argun, hatte von einer
vor zwei Jahren die existierenden Verfassungsschutz- „sich vertiefenden Kluft zwischen dem kurdischen
behörden auflösen — ich habe dies gelesen — oder und dem türkischen Volk" gesprochen. Für diese
„die kasernierten Polizeieinheiten" — Sie meinen Äußerungen droht ihnen eine empfindliche Geld-
damit Bereitschaftspolizei und Grenzschutz — ab- strafe sowie eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren in
schaffen? Wollen Sie immer noch V-Leute verbieten? der Türkei.
Wollen Sie immer noch keine Gefängnisstrafe für
Derzeit laufen in der Türkei über 2 000 ähnliche
kriminelle Heranwachsende verhängen, obwohl,
Verfahren, und 117 Schriftsteller, Wissenschaftler und
Herr Kollege Fischer, diejenigen, die in Frankfurt
gerade hundert Autos aufgebrochen haben, nur zu Gewerkschafter der Türkei befinden sich deswegen
dem Zweck nach Deutschland gebracht worden sind, im Gefängnis.
um diese kriminellen Dinge zu tun? Wollen Sie den (Ina Albowitz [F.D.P.]: Mehr! An die 200!)
Tatbestand des § 129a, Bildung terroristischer Verei-
nigungen, immer noch streichen, Herr Kollege — Das sind die, die von der Menschenrechtsstiftung
Fischer? Wollen Sie das immer noch tun? belegt sind. Ich nehme bewußt die Zahlen der Men-
schenrechtsstiftung, weil das Zahlen sind, die, wie Sie
(Abg. Jelena Hoffmann [Chemnitz] [SPD]
wissen, international Anerkennung genießen. — Die
meldet sich zu einer Zwischenfrage)
meisten dieser 11 7 haben mit der PKK nicht den
Hauch einer Gemeinsamkeit, nicht den Hauch einer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Übereinstimmung.
Marschewski, hier ist ein Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage. Auch einige Tage nach der Urteilsverkündung
gegen die ehemaligen Abgeordneten der Großen
Nationalversammlung der Türkei sind wir in diesem
Erwin Marschewski (CDU/CSU): Jetzt will ich gerne Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg betroffen
zu Ende ausführen. Ich bin kurz vor dem Schluß. und fassungslos ob der unversöhnlichen Haltung des
Wollen Sie dies immer noch tun, Herr Fischer? Generalstaatsanwalts, der Regierungsmehrheit und
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ des Militärs in der Türkei.
DIE GRÜNEN]: Wollen wir alles!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
— Hoffentlich nehmen Sie Abstand von diesen Vor- der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei
schlägen. Diese Vorschläge schaffen keine innere Abgeordneten der CDU/CSU)
Sicherheit. Sie fördern keinen inneren Frieden.
Als jemand, der deutscher Staatsbürger türkischer
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Herkunft ist, sage ich: Die Türkei ist viel zu wichtig, als
DIE GRÜNEN]: Prügelstrafe! Pranger! Schul daß wir es uns leisten könnten, daß die Türkei in
gebet! Eisenkugel! Alles!) fundamentalistische, in nationalistische Fahrwasser-
Zu dem inneren Frieden, den ich meine — hören Sie abdriftet.
zu —, gehören natürlich Spannungen und Konflikte
und sicherlich ein unvermeidliches Maß an Unruhe. (Beifall im ganzen Hause)
Damit dies klar ist: Ich will keinen inneren Frieden
Ich denke, gerade als Europäer müssen wir alles
ohne Einspruch, ohne Widerspruch, ohne jeden Anta-
daransetzen, daß diese Kräfte in der Türkei nicht
gonismus. Das geht doch auch gar nicht.
mehrheitsfähig werden.
Nur: Unser Ziel ist eine Politik, die das Verbrechen
von seiner Wurzel an bekämpft. Unser Ziel ist, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zeigen, was Recht ist, was Unrecht ist, was man darf sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
und was man lassen muß. Manches, was ich in diesem SPD und der F.D.P.)
Hause gehört habe, macht den inneren Frieden nicht
Ich füge aber hinzu: Wer die Türkei nicht den
sicherer, sondern eher notleidend. Dies ist nicht
Islamisten und Nationalisten aller Couleur überlassen
gerade die Aufgabe derjenigen, die für die innere
möchte, muß sich anschauen, welche Freunde und
Sicherheit zu stehen haben.
Freundinnen er in der Türkei hat und unterstützt.
Herzlichen Dank.
Es gibt ein türkisches Sprichwort, das ich an dieser
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Stelle zum besten geben möchte. Es lautet türkisch:
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Die Mentalität eines Fried „Dost aci söyler" und deutsch: „Ein guter Freund sagt
stets die Wahrheit". In diesem Sinne würde ich mir
hofsgärtners!)
wünschen, Herr Marschewski, daß wir als bundes-
deutsche Politikerinnen und Politiker in dieser Frage
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich gebe jetzt die bittere Wahrheit aussprechen und in aller Deut-
dem Kollegen Cem Özdemir das Wort. lichkeit zum Ausdruck bringen, daß nur eine Politik,
378 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ce rn Özdemir
die auf Gewaltfreiheit setzt, die ausschließlich auf heit der Bundesrepublik Deutschland haben, verant-
Menschenrechte setzt, eine Zukunft hat. wortlich. So einfach sollte man es sich nicht
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das haben machen.
wir ganz eindeutig gesagt!)
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Dies wird in der Türkei von der Mehrzahl der Men-
der SPD und der PDS)
schen kurdischer und türkischer Abstammung auch so
gesehen.
Ich würde auch einen Blick in die „Frankfurter
(Beifall im ganzen Hause) Rundschau" von heute empfehlen. Dort steht einiges
Der Herr Bundeskanzler sitzt hier. zu einem Thema, zu dem ich mir heute Ausführungen
gewünscht hätte. Da ist z. B. die Tatsache, daß jeder
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Der Herr zwanzigste Deutsche als suchtkrank gilt, daß wir in
Bundeskanzler sitzt nicht hier!) Deutschland 2,5 Millionen Menschen haben, die alko-
— Nein, nein, er ist hier. Der Bundeskanzler schwebt holabhängig sind. Wir haben 1,4 Millionen Medika-
stets über uns. mentenabhängige, 150 000 Menschen sind von har-
ten Drogen abhängig. Ich hätte mir Ausführungen
Es müßte Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, doch selt-
dazu gewünscht, wie wir an dieses Problem herange-
sam berühren, wenn in türkischen Tageszeitungen
hen, anstatt daß hier ein Horrorszenario aufgebaut
wenige Tage vor der Bundestagswahl die Schlagzeile
wird, das mit der Realität nichts, aber auch gar nichts
„Çiller betet für Kohl" zu lesen war.
gemein hat.
Ich glaube, es ist auch ein Armutszeugnis für
unseren Außenminister, wenn ihn einer der nationali- (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
stischsten türkischen Kolumnisten über alle Maßen der SPD und der PDS sowie bei Abgeordne
lobt und in einer türkischen Tageszeitung deutsch ten der F.D.P.)
schreibt: „Danke, Herr Kinkel! " Das sagt einiges
darüber aus, wie deutsche Außenpolitik in der Türkei Meine Damen und Herren, ich begrüße den vorlie-
wahrgenommen wird, wie sie ankommt. genden Antrag zur Verlängerung des Abschiebe-
(Ina Albowitz [F.D.P.]: Für den Kolumnisten stopps für Kurdinnen und Kurden. Es ist ein erster
können wir nichts!) Schritt zu einer konsequenten Menschenrechtspolitik,
Das Versagen in der Außenpolitik paßt sehr gut zu die ich mir wünsche. Lassen Sie uns aber morgen um
der Humanität willen noch einen weiteren kleinen
der Politik, mit der Innenminister Kanther auf dem
Schritt tun: Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem
Rücken der Schwächsten vermeintliche Stärke
demonstriert. Antrag, einen Abschiebestopp für Wehrdienstverwei-
gerer aus dem ehemaligen Jugoslawien zu erlassen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es wäre ein schönes Signal, das von diesem Hause
und der SPD sowie bei der Abg. Dr. Dagmar angesichts dessen ausgehen sollte, was im ehemali-
Enkelmann [PDS]) gen Jugoslawien zur Zeit passiert. Lassen wir nicht zu,
Es ist bezeichnend: Während bei Flüchtlingen an allen daß diese Menschen der Kriegsmaschinerie wieder
Ecken und Enden gespart und geknausert wird, hat ausgeliefert werden!
der Bundesinnenminister genug Geld, um in den
nächsten vier Jahren über 400 Millionen DM für ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
erkennungsdienstliches System für Asylbewerber der SPD und der PDS) -
auszugeben, mit dem Fingerabdrücke verglichen
werden können. Es genügt nicht, wie der F.D.P.-Generalsekretär
All dies zeigt: Statt Fluchtursachen zu bekämpfen wolkig und fern jeder realpolitischen Analyse zu
und mit Flüchtlingen in unserem Land trotz — zuge- erklären, was wäre, wenn seine Partei die Mehrheit im
gebenermaßen — aller Schwierigkeiten human Bundestag hätte, was sie dann alles gern tun würde. Es
umzugehen, werden Menschen bekämpft, und dafür geht hier nicht um irgendeine Milchkannenverord-
scheut man keine Mühen und Kosten. nung der Europäischen Union, sondern hier geht es
um das Schicksal von Menschen. Es liegt an Ihnen,
Ich möchte an dieser Stelle, wenn Sie gestatten, meine Damen und Herren von der F.D.P.— an die ich
auch ein paar Bemerkungen zum Schreckensszenario mich ganz besonders richte —, zu zeigen, ob Sie
machen, das Bundesinnenminister Kanther im Be- gewillt sind, etwas Konkretes für die Menschen zu tun
reich der inneren Sicherheit an die Wand gemalt hat. und sich nicht aus der praktischen Politik zu verab-
Ich habe schon die Angst gehabt: Was droht mir, wenn schieden, weil die Regierungsvereinbarung anderes
ich dieses Gebäude verlasse? Wartet dann schon die angeblich nicht zugelassen hat.
Mafia vor der Tür? Warten die Schlepperbanden? Was
passiert dann?
Ich denke — hier wende ich mich wieder gezielt an
Man sollte in aller Deutlichkeit sagen: Trotz aller die Mehrheit dieses Hauses, an die Vertreterinnen
Schwierigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit und Vertreter, die Kolleginnen und Kollegen von
gibt es nicht den archimedischen Punkt, mit dem die Union und F.D.P. —, diesem Parlament, diesem Hohen
Frage der inneren Sicherheit zu klären wäre. Die Welt Hause, stünde es gut zu Gesicht, wenn es uns gelänge,
ist eben etwas komplizierter, als daß man sagen in dieser Legislaturperiode einen interfraktionellen
könnte, die Ausländer und das Ausland seien quasi für Kompromiß — ich rede bewußt von einem Kompro-
alle Probleme, die wir im Bereich der inneren Sicher miß — in bezug auf die Erleichterung der Einbürge-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 379
Cern Özdemir
rung und bezüglich der großzügigeren Zulassung der Vielen Dank.
doppelten Staatsbürgerschaft zu finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)
F.D.P. und der PDS)
Ich denke, dieses Haus braucht die Koalition der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Damen
Vernunft. Als Angehöriger der ersten Generation von und Herren, es ist Sitte in diesem Hause, zu einer
„neuen Inländern" — oder wie man gemeinhin sagt: Jungfernrede — das ist ein komischer Name — zu
der zweiten Einwanderergeneration, wobei das auf gratulieren. Ich gratuliere dem Kollegen Özdemir zu
mich nicht zutrifft, da ich nie eingewandert bin, dieser Rede.
sondern immer hier war; nicht in diesem Hohen
Hause, aber immer in diesem Lande — kann ich mir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht vorstellen, was die Phrase von dem „zurück in und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
die Heimat", die offensichtlich nach wie vor in man- CDU/CSU)
chen Köpfen herumspukt, bedeuten soll. Das hieße für Jetzt hat das Wort die Kollegin Frau Ina Albowitz.
mich: zurück nach Bad Urach.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Ina Albowitz (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Özdemir, ich kann
Sie völlig beruhigen: Meine Partei und meine Fraktion
haben keine Lust, sich aus der Politik zu verabschie-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Redezeit ist den. Sie haben auch keine Lust, Wolkenschieberei zu
abgelaufen. betreiben.
(Zurufe von der SPD)
— Natürlich gibt es nettere Tage; das habe ich mir in
Cern Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
der letzten Zeit auch vorgestellt. Aber manchmal muß
größte Flop der Koalitionsvereinbarung, die soge- man es halt nehmen, wie es kommt. Es war bei euch
nannte Kinderstaatszugehörigkeit, ist für meine auch schon einmal besser.
Begriffe medial genug gewürdigt worden. Ich möchte
es Ihnen ersparen, hierzu weitere Kommentare anzu- Ich hatte eben bei manchen Reden streckenweise
fügen. Ich denke, Sie haben alle die Kommentare den Eindruck — das sage ich mit aller Ernsthaftig-
gelesen. Es wurde in diesem Hause genügend gewür- keit —, als lebte ich in einem anderen Land. Für das
digt. Kein weiterer Verriß an dieser Stelle; keine Land, in dem ich lebe, stimmen ein Teil der Szenarien,
Sorge. die hier dargestellt worden sind, nicht.
(Zustimmung bei der F.D.P.)
Allerdings möchte ich meinerseits nochmals den
Appell an die Kolleginnen und Kollegen richten: Darauf komme ich noch einmal zurück.
Zeigen auch Sie Ihre Bereitschaft zum Kompromiß. Die Koalitionsvereinbarungen im Bereich der
Lassen Sie uns ein gemeinsames Signal an die Gesell- Innen- und Rechtspolitik sind von dem Gedanken
schaft aussenden. Mit „Gesellschaft" meine ich alle getragen, den liberalen Rechtsstaat zu stärken, die
Menschen, die hier leben, egal über welchen Paß sie Bürgerrechte zu verteidigen, aber auch die Sicherheit
verfügen. der Bürger zu gewährleisten. Die liberale Bürgerge-
Lassen Sie uns die Brücke schlagen durch die sellschaft stellt an die Regierenden hohe Anforderun-
Erleichterung der Einbürgerung, durch eine großzü- gen. Der Bürger will wissen, daß er am demokrati-
gigere Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft, schen Staatsleben teilhaben kann, daß er sich sicher
um den Prozeß der Integration zu erleichtern. fühlen kann und daß ihm aus einer möglichen Bedürf-
tigkeit herausgeholfen wird. Fragen der inneren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheit, die Behandlung kultureller Angelegen-
und bei der SPD) heiten sowie die Politik für Minderheiten als Bestand-
teile der inneren Verfassung unseres Staates bieten
Abschließend möchte ich bemerken: Ich denke, Maßstäbe, mit denen sich die Ausrichtung der Regie-
dieses liegt auch im Interesse der Union. Wie ich rungskoalition feststellen läßt.
meine „Landleute" kenne — ich rede jetzt von den
Landsleuten, die nicht deutscher, sondern türkischer Die Sicherheit der Bürger ist nicht zum Nulltarif zu
Abstammung sind —, wären sie, wenn sie wählen haben. Ein Bürger, der ständig in Angst vor Bedro-
dürften, mit Sicherheit eher in Ihrem Lager zu finden hung lebt, kann seine Freiheit nicht ausleben. Aber
als in dem Lager, das meine Partei vertritt. Daran niemand darf glauben, daß man Sicherheit erkaufen
sehen Sie, daß es uns nicht darum geht, Wählerstim- kann. Es nützt nichts, eine immer weiter gehende
men zu bekommen. Ich denke, es ist ein Akt der technische Aufrüstung der deutschen Sicherheitsbe-
demokratischen Standortbestimmung, daß es Zeit ist, hörden zu betreiben. Ein wesentliches Merkmal bei
hier Reformen vorzunehmen. der Entwicklung technischer Geräte ist nämlich die
Tatsache, daß in relativ kurzer Zeit die Entwicklung
In diesem Sinne wünsche ich uns allen: Kolay schon wieder überholt ist. Diese unendliche Spirale
gelsin! Das heißt auf deutsch: Auf gutes Gelin- produziert meiner Ansicht nach ein ungesundes
gen! Kosten-Nutzen-Verhältnis.
380 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Ina Albowitz
Meine Auffassung von innerer Sicherheit definiert Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das als
sich anders. Insoweit, glaube ich, Herr Bundesinnen- persönliche Bemerkung noch mit einfügen: Es geht
minister, ist ein Teil der Szenarien, die Sie eben hier um ein Land, in dem ein Mann verhaftet wird, weil er
dargestellt haben, überzogen. Ich hatte den Eindruck, eine Rede vor dem Europarat gehalten hat, nämlich
Sie wollen den Bürgern in diesem Land ein bißchen der Mann von Leyla Zana. Leyla Zana ist selbst zu
Angst machen. Ein Teil Ihrer Darstellungen ist Län- 15 Jahren Haft verurteilt worden, und seit wenigen
dervollzugsangelegenheit. Wir sind weniger gefor- Tagen weiß ich, daß inzwischen auch ihr Sohn verhaf-
dert. tet worden ist, weil er seine Mutter im Gefängnis
besucht hat und sich dort natürlich auch zur Autono-
(Beifall bei der F.D.P.)
mie der Kurden geäußert hat. Ich denke, wir können
Neben einer staatlichen Pflicht zur Kriminalitätsbe- das so nicht hinnehmen. Je lauter wir von hier aus
kämpfung ist vor allem der innere Frieden einer reden, desto besser ist das.
Gesellschaft wichtig. Die innere Sicherheit hängt (Beifall im ganzen Hause)
dann davon ab, daß die Polizeibehörden bei der
Herr Innenminister, es geht uns dabei nicht um die
Prävention und bei der Verbrechensbekämpfung die
Aufweichung des Asylkompromisses, sondern um die
erforderliche Unteistützung erhalten, sowohl in finan-
Wahrung der Menschenrechte im Fall der Bedrohung
zieller und personeller als auch in ideeller Hinsicht.
von Leib und Leben.
Hier greift die Aufstockung der Mittel für den Bun-
desgrenzschutz. Damit kann die noch bestehende (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!)
Personallücke geschlossen werden. Dieser Verantwortung kann sich kein Politiker entzie-
Beim Bundeskriminalamt wird beim AFIS-Fin- hen. Das Verfahren nach dem 20. Januar werden wir
gerabdrucksystem ein erheblicher Betrag zur Effi- in diesem Hause mit aller Ernsthaftigkeit zu prüfen
zienzsteigerung aufgebracht. Ich denke, das ist zwin- haben und dann unsere Entscheidung zu treffen
gend erforderlich. Im übrigen hoffe ich, daß das neue haben.
Personalkonzept des Bundesministers des Innern (Beifall bei der F.D.P.)
Erfolg hat, damit beim BKA endlich wieder Ruhe Der innere Frieden in diesem Land ist auch wesent-
einkehrt. Ein bißchen weniger Pressekonferenzen lich vom Zustand einer Kultur bestimmt. Ich möchte
und ein bißchen mehr Eigenarbeit ständen dem BKA hier ganz kurz noch einmal betonen, daß radikale
durchaus gut an. Kürzungen im Kulturbereich fast nie mehr umkehrbar
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Insbesondere sind. Die Diskussion, die wir vor einem halben Jahr
dem Präsidenten desselben!) hier gehabt haben und in deren Verlauf die Bedeu-
tung der Kulturförderung des Bundes deutlich heraus-
Ebenso wichtig für mich und für meine Partei ist gestrichen wurde, gibt mir Hoffnung, daß alle den
aber der innere Zusammenhalt der Bevölkerung. Eine Stellenwert von Kultur in unserem Land verstanden
gute Innenpolitik muß darauf achten, daß die Ränder haben. Dies muß auch in Zeiten knapper Haushalte
nicht ausfransen, daß sich einzelne nicht ausgeschlos- und Mittelbereitstellungen gelten. Ein Staat, der die
sen fühlen und der Staat ihnen die kalte Schulter zeigt. Kultur vernachlässigt, schickt seine Bürger in die
Wir brauchen ein Klima der Toleranz in unserem Orientierungslosigkeit. Kulturförderung ist keine
Land, damit die Gesetze im Bereich der inneren fehlgeleitete Subvention, deren Abbau zur Diskussion
Sicherheit dann auch akzeptiert werden können. steht, sondern sie ist notwendig, um die gesellschaft-
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!) lichen Kräfte zu erhalten. Neue Initiativen, Kreativität
und das gemeinsame Bemühen aller zeigen, wie -
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, der Bundesre- Kürzungen und Einsparungen auch im Kulturbereich
gierung und vornehmlich dem Herrn Bundeskanzler vermieden werden können.
dafür zu danken, daß sie bei der wirklich schwierigen
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Menschenrechtslage in der Türkei einen sofortigen
Abschluß noch etwas zum Beitrag der demokratischen
Abschiebestopp für Kurden bis zum 20. Januar verfügt
Kultur sagen — das ist, so glaube ich, in diesem Hause
hat.
zu kurz gekommen —, nämlich der politischen Bil-
(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ dung. In diesem Bereich kann, wenn wir uns ein
DIE GRÜNEN) bißchen intensiver damit beschäftigen, schon viel
erreicht werden, was zur staatsbürgerlichen Bewußt-
Diese Reaktion auf die unglaublichen Urteile gegen seinsbildung insbesondere junger Menschen gehört.
acht Kollegen von uns — es sind Kollegen von uns — Unerwünschten radikalen Tendenzen, Ausländer-
hat die volle Zustimmung meiner Partei und meiner feindlichkeit, aber auch Politikverdrossenheit kann
Fraktion. Burkhard Hirsch und ich haben sie kurz vor durch die wirklich wichtige Arbeit der Bundeszentrale
Prozeßbeginn in Ankara besucht. Ich bin so depri- für politische Bildung entgegengewirkt werden. Wir
miert, daß ich es Ihnen überhaupt nicht beschreiben sollten sie dabei nicht alleine lassen, auch wenn uns
kann. Ich bin noch heute deprimiert, obwohl das die eine oder andere Publikation nicht gefällt.
inzwischen ein Vierteljahr her ist. Wir können einen
solchen Anschlag auf die parlamentarische Demokra- Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
tie gerade in mit uns befreundeten Staaten nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
schweigend hinnehmen. ten der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
Abgeordneten der SPD) die Kollegin Ulla Jelpke.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14 Dezember 1994 381
Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Wie eiskalt der Innenminister sein kann, hat er
und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Im kürzlich vorgeführt, als er ausgerechnet an dem Tag,
Bundeshaushalt des BMI ist Bescherung angesagt. So als herauskam, daß sechs Menschen unter den Augen
erhält beispielsweise der Verfassungsschutz fast der polnischen und deutschen Grenzsicherer in der
5 Millionen DM mehr, um weiterhin schonend — ich Oder ertrunken sind, dort vier Patrouillenboote für
betone: schonend — mit dem Rechtsextremismus den BGS einweihte.
umgehen zu können. Ein Blick in den Verfassungs- Zurück zum Haushalt: Wärmebildgeräte und Boote
schutzbericht reicht, um das zu belegen. Aber auch verursachen millionenschwere Sachkosten. Insge-
die Antworten der Bundesregierung auf die vielen samt erhält der BGS mit diesem Haushalt 400 Millio-
parlamentarischen Anfragen in diesem Bereich zei- nen DM mehr als im Haushalt zuvor. Darin sind noch
gen dies. nicht die 35 Millionen DM für die Maßnahmen nach
Es paßt meiner Meinung nach auch wie die Faust dem Schengener und dem Dubliner Abkommen oder
auf das Auge, daß die mit 5 Millionen DM aus die 1,7 Millionen DM für Europol-Beiträge enthal-
Steuergeldern gesponserte Zeitung „Das Parlament" ten.
den sogenannten neurechten Geschichtsrevisionisten Meine Damen und Herren, daß 14 Millionen DM bei
im November gleich eine Doppelnummer zur Verfü- den betroffenen Asylsuchenden eingespart werden,
gung gestellt hat. Ansgar Graw, der diese Ausgabe wenn es darum geht, daß für sie Sachverständigengut-
des „Parlaments" mit konzipiert hat, tritt immerhin für achten geschrieben werden, das verwundert uns
die Regermanisierung Ostpreußens ein und dafür, überhaupt nicht mehr. Mit diesem Haushalt wird eine
unter die deutsche Nazivergangenheit einen Schluß- Politik fortgesetzt, die Flucht- und Migration zur
strich zu ziehen. Jetzt werden diese rechten Antwor- Hauptbedrohung der inneren und äußeren Stabilität
ten auf die selbstaufgeworfenen deutschen Streitfra- hochstilisiert hat und weiterhin hochstilisieren wird.
gen kostenlos an Schulen und Bildungsstätten verteilt. Das findet auf keinen Fall unsere Zustimmung.
Was ist schon die Gründung einer rechtsextremisti- Ich möchte zum Abschluß noch einen Satz zu den
schen Zeitung gegen die komplette Übernahme einer hier angesprochenen Urteilen in der Türkei und den
Regierungszeitung, kann man da in Abwandlung Abschiebestopps sagen. Die heute bereits geäußerten
eines Brechtzitats nur sagen! Verurteilungen der Geschehnisse in der Türkei unter-
Wie heißt es doch so schön im Vorspann zum stützte ich größtenteils, glaube aber, daß es nicht nur
Haushalt der Bundeszentrale für Politische Bildung bei moralischen und politischen Verurteilungen blei-
— Zitat —: ben darf, sondern daß nach Jahren die Bundesregie-
Die Politische Bildung ist wesentlicher Teil des rung endlich Konsequenzen ziehen muß, indem sie
die Waffenlieferungen dorthin stoppt und indem der
gesamten Bildungssystems, als Lernprinzip
Abschiebestopp — entgegen der jetzigen Absicht —
durchdringt sie alle Bereiche des Systems.
über Januar hinaus verlängert wird. Allerdings glaube
Da ist es nur logisch, daß die sowieso schon kläglichen ich nicht, daß der Druck auf die türkische Regierung
und manchmal auch dubiosen Ausgaben für die damit schon groß genug ist. Es muß mehr politischer
Aufklärungskampagne über die Gefahren des Extre- Druck her. Nur so kann die Türkei wirklich zu neuen
mismus und der Fremdenfeindlichkeit erneut um demokratischen Schritten gezwungen werden.
1 Million DM gestrichen werden.
(Beifall bei der PDS)
Meine Damen und Herren, die Grenzen zwischen
Außen- und Innenpolitik zerfließen immer mehr, ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Weitere Wort-
kündet der letzte und jetzige Fraktionsvorsitzende der meldungen zum Geschäftsbereich des Bundesmini-
Union. Er hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern steriums des Inneren liegen nicht mehr vor.
gefordert und gesagt, die Bundeswehr solle auch an
den Grenzen eingesetzt werden. Damals sekundierte Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
der jetzige Zukunftsminister Rüttgers, daß dies ein desministeriums der Justiz, Einzelpläne 07 und 19.
Thema sei, an dem die Union festhalten werde. Man Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Frau
sieht es dem Haushalt an. Grenzsicherheit, so läßt Leutheusser-Schnarrenberger.
Innenminister Kanther bei dieser Gelegenheit verlau-
ten, gewinne eine Bedeutung, die weit über das Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-
polizeiliche Vorgehen an der Grenze selbst hinaus- nisterin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr
geht. Verbrechensbekämpfung im Inland und Grenz- verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! „Der Rechts-
sicherheit sind untrennbar miteinander verbunden. staat ist", wie schon Gustav Radbruch festgestellt hat,
Das läßt er sich in diesem Haushalt etwas kosten. „wie das tägliche Brot, wie das Wasser zum Trinken,
Dazu nur einige wenige Zahlen: Allein das soge- wie die Luft zum Atmen, und das beste an der
nannte roulierende System, mit dem BGS-Einheiten Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist,
zum Einsatz kommandiert werden, verursacht Mehr- den Rechtsstaat zu sichern. " Man kann den letzten
kosten in Höhe von 27 Millionen DM. Die Kosten für Satz aber mit Thomas Dehler auch umkehren und
Abschiebungen steigen um 1,5 Millionen DM. Das sagen, daß nur der Rechtsstaat geeignet ist, die
sind alles nur Teile, sozusagen Peanuts des von Herrn Demokratie zu sichern.
Kanther beschworenen — ich zitiere — „Netzwerks Wenn das so ist — ich bin sicher, Sie werden mir
polizeitaktischer, organisatorischer, personeller und darin alle zustimmen —, dann müssen wir alles tun,
ausstattungsmäßiger Maßnahmen", die ständig „an diesen Rechtsstaat als liberalen Rechtsstaat zu erhal-
die jeweils neuen Herausforderungen angepaßt wer- ten. Das heißt, daß nicht beliebig in vorhandene
den" . Strukturen eingegriffen werden darf und bereits
382 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Zum Zweiten geht es nicht nur um die Umkehr der Dazu kommt ein Zweites: Wenn Sie heute einen
Beweislast. Wenn Sie mit Praktikern, mit Polizeibe- Amtsrichter in Baden-Baden dazu auffordern, zusam-
amten reden, sagen die Ihnen genau das gleiche wie men mit einem Kollegen im Elsaß Strafverfolgung zu
mir, nämlich daß Mafia-Geld, Geld das — um es betreiben, dann sehen Sie, daß wir heute noch nicht
juristisch korrekt auszudrücken — mafiös bemakelt sehr viel weiter sind als vor zehn Jahren, obwohl
sein könnte, zunächst einmal aus dem Verkehr gezo- Frankreich seit langen Jahren unser Partner und
gen und beschlagnahmt werden kann — zunächst Freund ist.
wenigstens einmal vorläufig! Lassen Sie uns das doch Dies sind die Punkte, die eine wirksame Kriminali-
machen! Damit überwindet vielleicht auch die Koali- tätsbekämpfung und damit auch den sozialen Rechts-
tion die Gefahr, sich gegenseitig zu blockieren. Dann staat behindern. Hier haben Sie versagt!
wären wir im Bereich der organisierten Kriminalität, Herr Marschewski, wenn Sie als Forderung großar-
die wir gemeinsam bekämpfen müssen und wollen, tig herausstreichen, daß man nationalen Geheim-
einen Schritt weiter. diensten, die im Ausland arbeiten, mehr Kompeten-
(Beifall bei der SPD) zen zur Verbrechensbekämpfung einräumen sollte,
dann bitte ich Sie, noch einmal darüber nachzuden-
Jetzt komme ich zum zweiten Bereich, den auch ken. Das ist nun wirklich der größte Unfug.
Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarrenberger
angesprochen haben, zur Kriminalität, die über die (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Jetzt bin
Grenzen zu uns kommt. Herr Marschewski und Herr ich aber dran! Jetzt kriege ich aber nur
Kanther, es ist ein wenig traurig, daß Sie in diesem Prügel!)
Zusammenhang immer so unterschwellig auf Asylbe- Wenn Sie schon keine rechtsstaatlichen Bedenken
werber oder die ausländische Wohnbevölkerung in haben, dann prüfen Sie das Ganze doch einmal unter
Deutschland abheben, obwohl Sie ganz genau wissen, dem Gesichtspunkt der Effizienz. Es muß doch darum
daß dies nicht richtig ist. gehen, daß die Zusammenarbeit der Strafverfol-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gungsorgane, also Polizei, Staatsanwaltschaften und
DIE GRÜNEN) Gerichte, über die Grenzen hinweg besser wird. Wenn
aber jedes Land seinen jeweiligen nationalen Aus-
Zu dem Bereich der Kriminalität, die über die lands-Geheimdienst mit größeren Kompetenzen aus-
Grenzen zu uns kommt, gehört der internationale stattet, dann gibt es immer mehr Abstimmungspro-
Autodiebstahl mit Versicherungsbetrug, Waffenhan- bleme, schon deshalb, weil Geheimdienste nach
del, Drogenhandel, Prostitutionshandel und Organ- anderen Grundsätzen arbeiten und auch in Zukunft
handel. Dies alles sind Bereiche, in denen sich z. B. anders arbeiten werden als Strafverfolgungsorgane.
durch die unterschiedlichen Gesetze, die wir in unse- Das tut dem gemeinsamen Ziel der Kriminalitätsbe-
rem Teil der Welt haben, Geld verdienen läßt, sei es kämpfung mit Sicherheit nicht gut.
bei uns oder woanders. Jeder von Ihnen weiß genau
wie wir, daß dagegen nur eines wirklich hilft: die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Gegen die Durch-
effiziente Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbe- setzung haben Sie sich gesträubt!)
hörden über die Grenzen hinweg und eine Abstim- — Zu Recht, Herr Geis!
mung der materiellen Gesetzeslage auf der Basis
Die Wirklichkeit ist Ihnen in einem weiteren Punkt
gemeinsamer Grundsätze.
sehr entglitten, der uns allen zunehmend Schwierig-
Sehen Sie sich doch einmal an, wie weit Sie es in den keiten macht. Die Korruption breitet sich aus. Mittler-
letzten zwölf Jahren gebracht haben! Die Abstim- weile greifen dieses Thema immer mehr Juristen,
mung der internationalen Grundsätze auf diesem Juristentage und auch Journalisten auf. Ich habe es
386 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Norbert Geis
—
dige
Na gut!Neuerungen
Ich nehme ja gern Ihren Zwischenruf
sperren werden, was das Kind-
entgegen, um Ihnen klarzumachen, was wir unter AG schaftsrecht angeht. Natürlich können wir uns Gedan-
verstehen. AG heißt Aktiengesellschaft. ken darüber machen, ob es richtig ist, daß im Falle der
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Scheidung die elterliche Sorge nur auf einen Elternteil
brauchen eine größere Transparenz in den Vorstands- bezogen werden soll, oder ob es nicht besser wäre,
etagen. Wir brauchen eine Regelung, die die Interes- zunächst einmal diese elterliche Sorge beiden Eltern-
senkollision in den Vorstandsetagen verhindert. Aber teilen zu belassen; im Sinne des Kindes wäre dies ganz
wir müssen auch dafür sorgen, daß nicht zu viele sicher. Darüber können wir reden.
Vorstandsmitglieder in dem einen und dem anderen (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover]
Unternehmen im Vorstand sitzen. [F.D.P.])
Allerdings beteiligen wir uns nicht an der Polemik
gegen die Banken. Wir können auch darüber reden, wie wir es beim
nichtehelichen Kind halten, etwa ob dem Vater nicht
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ stärkere Rechte einzuräumen sind. Wir wissen ja, daß
DIE GRÜNEN]: Aha!) es darüber eine breite Diskussion im Land gibt. Der
Die Banken sind notwendig, und sie werden immer Vater hat bislang überhaupt keine Rechte. Die elter-
dann gerufen, wenn die Not am größten ist. Sie sind liche Sorge steht allein der Mutter zu.
notwendig auch für Investitionen. Wir beteiligen uns
nicht an dieser Polemik gegen die Banken. Sicher wäre eine Regelung richtig, daß dem Vater
dann die elterliche Sorge übertragen wird, wenn die
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das sind doch Mutter aus irgendeinem Grund ausfällt und wenn dies
keine karitativen Organisationen!) im Interesse des Kindes ist. Das gilt auch für das Recht
Wir sind der Auffassung, daß es richtig ist, wenn die des Vaters auf Umgang mit seinem nichtehelichen
Banken auch in den einzelnen Aufsichtsräten sit- Kind, obgleich auch hier ganz b risante Fragen auftau-
zen. chen, nämlich wie es ist, wenn das Kind in einem
Familienverband ist und die Mutter partout nichts
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mehr mit dem Vater zu tun haben will.
DIE GRÜNEN]: Wenn die Not am größten ist,
kommt das Rote Kreuz und nicht die Deut Hier müssen wir ganz vorsichtig vorgehen. Hier
sche Bank!) dürfen wir nicht Strukturen durch gesetzliche Rege-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein lungen — nur, weil wir meinen, das müßte unbedingt
weiteres wichtiges Thema in der Rechtspolitik wird gemacht werden — zerstören. Da werden wir entspre-
das Kindschaftsrecht sein. Hier haben wir ja bereits chend reagieren. Wir werden in der Beratung darauf
Gesetzentwürfe vorliegen, die in der letzten Legisla- achten, eine gute Regelung zu finden.
turperiode sogar schon der Bundesregierung vorgele-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob es
gen haben.
jemandem paßt oder nicht paßt: Wer über das Kind-
Hier ist eine Vorbemerkung notwendig: Wir werden schaftsrecht nachdenkt, kann natürlich nicht am Recht
keiner Gesetzgebung, Frau Ministerin, zustimmen, der ungeborenen Kinder vorbeigehen; zumal dies
die auch nur im entferntesten die Familien schwächen derzeit rechtspolitisch höchste Brisanz hat, wie Sie alle
wird. Wir haben im Wahlkampf verkündet, daß wir die wissen. Ich glaube aber, daß die geplante Fristenre-
Familien stärken wollen. Wir werden dies auch in der gelung, meine sehr verehrten Damen und Herren von
kommenden Legislaturpe riode halten. Das steht auch der SPD, den jetzigen bedauernswerten Zustand, den
im Regierungsprogramm. -
wir mit 300 000 Abtreibungen im Jahr haben, nur noch
Es besteht ein langer Kampf gegen die Familien. Ich mehr zementieren wird.
erinnere an den 2. Familienbericht der Bundesregie-
Nach wie vor ist eine der größten Aufgaben, die wir
rung aus dem Jahr 1975, in dem den Eltern vorgewor-
in der Rechtspolitik haben — da stimmen wir mit den
fen wird, sie seien Ungelernte, sie seien Erziehungs-
Innenpolitikern überein —, die Sorge um die innere
amateure, Sicherheit. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz war
(Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ ein erster Schritt, und so haben wir es immer gese-
DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) hen.
und man müsse ihnen bei der Kindererziehung helfen; Die Sorge des Deutschen Anwaltsvereins, wir hät-
ja, man müsse ihnen die Kindererziehung abneh- ten mit der Verbesserung des beschleunigten Verfah-
men. rens den Rechtsstaat gefährdet, teilen wir nicht.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wer hat so etwas geschrie (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Absurd!)
ben?) Wir teilen auch nicht die Sorge eines Hamburger
Wir meinen, daß wir diesem späten Kulturkampf Juraprofessors, der gegen das Verbrechensbekämp-
endlich ein Ende machen sollten. fungsgesetz Verfassungsbeschwerde mit der Begrün-
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer dung eingereicht hat, es handele sich hier um einen
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verfassungsumsturz. Wenn Professoren in solche
Wer hat so etwas geschrieben?) Hysterie verfallen,
Das heißt nicht, meine sehr verehrten Damen und (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
Herren, Frau Ministerin, daß wir uns gegen notwen- CSU]: Publicitysüchtig!)
390 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Norbert Geis
dann darf man sich nicht wundern, daß sich Studenten berg als ohnmächtiger Staat! Wo waren Sie
ihr Examenswissen nicht in der Uni, sondern bei denn im Geschichtsunterricht?)
Repetitoren holen. Daß die Kriminalität und insbesondere die organi-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sierte Kriminalität heute in der Tat eine Gefahr
der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] darstellen, können und dürfen wir nicht verschwei-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber, Herr gen. Wir müssen dies sehen und müssen entsprechend
Geis!) reagieren. Wer das nicht tut, der handelt nach meiner
Auffassung verantwortungslos.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rah-
men der inneren Sicherheit spielt natürlich der Kampf Natürlich geht es uns dabei auch um das Abschöp-
gegen die Mafia eine entscheidende Rolle. Die Mafia fen der Gewinne der Mafia. Auch hier läuft allerdings
agiert international. Deutschland ist für sie ein hervor- nichts ohne internationale Zusammenarbeit. Was hilft
ragender Standort. uns alle berechtigte Kritik am Geldwäschegesetz, und
was hilft uns das schönste Geldwäschegesetz, wenn
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ die Verbrecher ihr Kapital ins Ausland transferieren
DIE GRÜNEN]: Es ist eine schwere Kritik an und die Ursprungskriminalität bei uns verbleibt?
Kohl, wenn die Mafia hier einen hervorra Nach wie vor stehen wir fassungslos vor der Gewalt-
genden Standort hat! In Aschaffenburg vor kriminalität vor allem bei Jugendlichen.
allem!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Sie ist deshalb ein hervorragender Standort, weil wir DIE GRÜNEN]: „Fassungslos" ist gut!)
eine ausgezeichnete Infrastruktur haben. — Mein
lieber Herr, wir haben in Aschaffenburg immerhin die Wir erschrecken bei manchem jungen Täter über
höchste Aufklärungsrate in der ganzen Bundesrepu- dessen Grausamkeit und Unempfindlichkeit, mit
blik Deutschland, nämlich 67 %. denen er die Taten begeht. Die Frage, woher dieser
Vandalismus an manchen unserer Schulen kommt, ist
(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ sehr schnell mit der Behauptung beantwortet, es seien
CSU]) die schlechten sozialen Verhältnisse.
Wir liegen weit vor Hessen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Privatfernsehen!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Ein Hort des Verbrechens! Wenn wir aber genau hinblicken und wenn wir vor
Wir haben viele unterfränkische Kriminelle allen Dingen die ausländerfeindlichen Taten betrach-
in Hessen! Grenzüberschreitende Kriminali ten, dann sehen wir, daß die Täter aus sehr guten
tät!) Familienverhältnissen gekommen sind, jedenfalls
nach unseren Maßstäben.
Aber das wird sich in Kürze ändern, wenn Herr
Kanther Ministerpräsident in Hessen wird. (Zuruf von der PDS: Ein bißchen differenzie-
ren!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube auch nicht, daß die irrationale Gewaltbe-
Ohne internationale Zusammenarbeit wird diese reitschaft, die zweifellos da ist, auf ein Aufflackern des
Gefahr für unsere Zivilisation kaum zu bannen sein. Nationalsozialismus zurückgeführt werden kann, was
Deswegen ist es notwendig, daß wir unsere Ermitt- immer wieder behauptet wird. Es mag viele Ursachen
lungsorgane in die Lage versetzen, die die Ermitt- haben.
lungsorgane in anderen Ländern haben. -
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
F.D.P., auch ich würde lieber in einem Staat ohne gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häf-
technische Überwachung von Wohnraum oder ohne ner?
den verdeckten Ermittler leben. Aber ich meine, man
darf um rechtspolitischer Ideale willen nicht die
Sicherheit aufs Spiel setzen. Norbert Geis (CDU/CSU): Nein; danke. — Ganz
(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ sicher ist eine der Ursachen, daß wir in bestimmten
CSU) Ländern schon vor Jahren die Erziehung einfach
abgeschafft haben.
Die Weimarer Republik ist nicht zugrunde gegangen,
weil die Deutschen große Sehnsucht nach Hitler (Lachen des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt]
gehabt hätten, sondern weil der damalige Staat nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
in der Lage gewesen ist, die gestellten Aufgaben zu Die Erziehung an den Schulen wurde in diesen
lösen. An der Ohnmacht des Staates sind die Men- Ländern in den 70er Jahren abgeschafft. Das ist
schen verzweifelt. Deswegen kam es zur Diktatur. sicherlich ein Relikt aus dem Jahre 1968, lieber Herr
Fischer.
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- (Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ohnmächtige DIE GRÜNEN]: Ja! Genau! Ihr Ideal sind
Staat und die Harzburger Front! Deutsch Arnold Schwarzenegger und der Termina-
Nationale Volkspartei als ohnmächtiger tor!)
Staat! Ich lache mich tot, Herr Geis! Das ist Denken Sie einmal an die Frankfurter Schule, die die
doch albern! Die Herren Krupp und Hugen Emanzipation geradezu vergöttert hat!
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 391
Norbert Geis
Die Abschaffung der Erziehung ist ein großer Fehler Jugendgerichtsgesetz im Jahre 1953 eingeführt. Er
gewesen. Die Erziehung in den Schulen wurde diskri- hat sich bewährt, und wir werden auch daran festhal-
miniert. Sie wurde als Indoktrination hingestellt. ten.
(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
CSU]) DIE GRÜNEN]: Sie sollten die Prügelstrafe
Dann hatten die Lehrer Angst und haben aufgehört zu wieder einführen, Herr Geis!)
erziehen. Aber Jugenderziehung in den Strafvollzugsanstal-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ten muß immer auch wissen, daß die Strafvollzugsan-
DIE GRÜNEN]: Bravo! Reine Panikreaktion stalt Endstation einer langen Kette von unglücklichen
der Lehrer! Anders kann man es sich nicht Zusammenhängen und Verfehlungen ist und daß dort
erklären!) Erziehung oft sehr schwer möglich ist.
Sicherlich liegt ein zweiter Grund darin, daß wir es (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mit einer Krise unserer Familie zu tun haben. Nichts NEN]: Wiedereinführung der Prügelstrafe!)
kann die erzieherische Kraft einer Familie ersetzen. Man muß der Realität ins Auge schauen. Wer oft
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ genug in Jugendstrafvollzugsanstalten gewesen ist,
DIE GRÜNEN]: Mut zur Erziehung! — Ing ri d wird das bestätigen.
Matthäus-Maier [SPD]: Deswegen lassen Sie Deshalb müssen wir neben den Erziehungsgedan-
die auch unter die Räder kommen!) ken, den wir voll bejahen — daran soll kein Zweifel
Die Familie ist — vor allen Dingen dann, wenn sie aufkommen —, gleichbedeutend den Gedanken der
intakt ist — immer noch der Ort, an dem die Erziehung Sicherheit unserer Bürger stellen.
am ehesten und am besten geleistet werden kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein
Darauf kann die Gesellschaft nicht verzichten. weiteres Thema der kommenden Jahre wird zweifel-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — los die Entkriminalisierungsdebatte sein, die immer
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wieder angezettelt wird. Ich scheue mich nicht, dar-
DIE GRÜNEN]: Die Verhältnisse in Bay über zu sprechen. Es gibt in Schleswig-Holstein eine
ern!) ganze Reihe von Richtern, die den Diebstahl, solange
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinzu er unter einem Wert von 50 DM liegt, aus dem
kommt natürlich die verheerende Wirkung der Mas- Strafgesetzbuch herausnehmen wollen.
senmedien. Es gibt ja kein Tabu mehr, das nicht von (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Unter
den Massenmedien in die Wohnzimmer eingestrahlt 100 DM!)
wird.
Sie wollen dem Geschädigten im Bürgerlichen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Gesetzbuch einen Anspruch auf pauschalierten Scha-
DIE GRÜNEN]: Nicht die Tabus werden densersatz geben, als wäre es so leicht, gegen einen
eingestrahlt, sondern die Tabubrüche!) jugendlichen Täter, der in der Regel ja pfandlos ist,
Wir erschrecken vor Kindern, die andere Kinder Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Der
ermorden — wie es in England passiert ist — und auf Jugendliche wird den Geschädigten auslachen und
die Frage, warum sie das getan hätten, antworten, sie um die Ecke in den nächsten Laden gehen, um sich
hätten einmal ausprobieren wollen, wie es ist, wenn dort zu holen, was er braucht, aber im Wert von unter
man Menschen umbringt. 50 DM, damit er nicht bestraft wird. An diesem-
Beispiel wird die ganze Lächerlichkeit des Vorschla-
(Zuruf von der SPD: Daran seid ihr doch ges von Richtern deutlich, die ernstgenommen wer-
schuld mit eurer Privatisierung!) den wollen.
Angesichts der Jugendkriminalität können wir es Mit immer neuen Varianten wird in dieser Diskus-
uns nicht leisten, im Jugendstrafrecht und im Jugend- sion über die Entkriminalisierung auch die Legalisie-
strafvollzug einer weichen Welle nachzugeben. rung des Besitzes von Drogen vorgetragen. Lübecker
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND Richter sehen in dem Besitz von 4 kg Hasch kein
NIS 90/DIE GRÜNEN) Verbrechen mehr, sondern nur noch eine geringe
— Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt. Zum Jugend- Verfehlung, die auch nur geringfügig zu bestrafen sei.
strafvollzug gehört eine gewisse Härte. So weit sind wir bereits gekommen.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
DIE GRÜNEN]: Neandertal, kann man da SES 90/DIE GRÜNEN — Joseph Fischer
nur sagen!) [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ein Faß Bier hingegen ist straffrei!)
Die Jugendlichen müssen wissen, daß sie nicht im
Hotel untergebracht sind. Die Sozialministerin desselben Landes will nun auf
Tageskarten in bestimmten Restaurants Hasch anbie-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ten,
DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Setzen Sie den
Stahlhelm mal ab!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)
Das heißt nicht, daß der Erziehungsgedanke von der
Tagesordnung gestrichen werden müßte. Nein, wir als hätten wir mit diesen Vorgängen in den Nieder
selbst haben den Erziehungsgedanken durch das landen nicht furchtbare Erfahrungen gemacht. Aber
392 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994
Norbert Geis
offenbar
marer will diese Dame aus
Zeit habendem einstmals
nichtkonser-aus lauter Sehnsucht nach
vativen Land ein progressives Drogenmusterland Hitler die Demokratie aufgegeben, sondern sie sind
machen. Es scheint jedenfalls so. an der Ohnmacht des Staates gegenüber den Proble-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ men verzweifelt, die sich damals zweifellos aufge-
DIE GRÜNEN]: Haschisch auf dem Oktober türmt haben. Das können Sie wohl auch nicht ver-
fest!) schweigen.
Wir werden eine solche Irrfahrt nicht mitmachen. Deswegen kam es zur Diktatur. Es mögen dabei
auch noch viele andere Gründe eine Rolle gespielt
In Frankfurt sollen jetzt Gesundheitsräume einge-
haben. Sie werden mir zugestehen, daß ich das nicht
richtet werden. Schon die Bezeichnung ist absurd,
alles im Rahmen einer Rede erklären kann.
wenn man überlegt, was da passiert.
Ich wollte damit sagen, lieber Herr Häfner, daß jede
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
Zeit ihre Aufgaben hat und daß heute zweifellos
halten dies letztlich für die Kapitulation vor der
neben vielen anderen Aufgaben eine der wichtigsten
Drogenmafia, denn die hat dann noch leichteres Spiel.
Aufgaben die Gewährleistung der inneren Sicherheit
Wir werden allerdings alles tun, um den Drogenkran-
ist. Solange wir es zulassen, daß sich Leute mit Geld
ken zu helfen, frei zu werden von ihrer Krankheit und
private Sicherheitskräfte leisten können, während
ihrer Sucht und zu einem ordentlichen, geordneten,
andere täglich um ihr Vermögen zumindest bangen
vernünftigen Leben zurückzufinden.
müssen, bereiten wir den Boden dafür, daß Extremi-
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. sten bei uns im Lande leichteres Spiel haben. Darauf
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wollte ich hingewiesen haben.
Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.])
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Häfner.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Volker Beck.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Abgeordneter Geis, wie Sie bin ich fassungslos, wenn
Kinder Kinder ermorden. Aber anders als Sie war ich Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
fassungslos auch über Ihre Rede und bin ich fassungs- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
los, wenn Kinder beispielsweise aus Euthanasiegrün- Herren! „Unseren Segen haben Sie" — so lautete ein
den ermordet werden, wenn Millionen Menschen Slogan der F.D.P. im letzten Wahlkampf. Wenn ich mir
ermordet werden, wie es im Nationalsozialismus Ihre Koalitionsvereinbarungen zur Rechtspolitik an-
geschehen ist. schaue, kann ich nur sagen: Unseren Segen bekom-
Damit so etwas nie wieder geschieht, sollten wir uns men Sie dafür nicht.
in diesem Hause einig sein darüber, was die Ursache (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
war. Wenn in diesem Hause gesagt wird, die Ursache Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
sei nicht die Schwäche der Demokraten gewesen, CSU]: Den wollen wir auch gar nicht
sondern die Schwäche des Staates angesichts des haben!)
Verbrechens, dann ist das eine Verhöhnung unserer Bisher funktionierte Ihr Rollenspiel noch halbwegs:
eigenen Geschichte. In diesem Fall war der Staat der Die F.D.P. diente als liberales Feigenblatt dieser
Verbrecher, der Staat der Gewalttäter. Regierung und gleichzeitig als Sparringspartner der-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CSU. Das haben wir ja gerade erlebt. Jetzt ist sie kurz
der SPD und der PDS — Bundeskanzler vor dem K. o.
Dr. Helmut Kohl: Das ist absurd!) Das ZDF-Programm hat es am Montag auf den
Sie sollten sich hüten, sich mit Worten wie „Schluß Punkt gebracht. Es zeigte ein Lehrstück an liberaler
mit der weichen Welle, die Jugend braucht eine starke Rat- und Profillosigkeit in der Sendung „Was nun,
Hand" und auch mit Schritten wie der Kronzeugenre- Herr Kinkel?"; gleich im Anschluß folgte der Film
gelung und der Vermischung der Aufgaben von „Glück im Grünen". Meine Damen und Herren von
Polizei und Geheimdienst usw. dem anzunähern, was der F.D.P., das sehen die Wählerinnen und Wähler
in unserer Geschichte einmal passiert ist. Das wollte inzwischen genauso.
ich hier gesagt haben. Die Reden von Herrn Geis und Herrn Kanther
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigen: Sie, Frau Ministerin, und Ihre Partei stehen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der offensichtlich mit dem Rücken zur Wand. „Bürger-
PDS — Zurufe von der CDU/CSU: Sie haben rechte" tauchen im Koalitionsvertrag gerade noch in
doch keine Ahnung! — Dummes Zeug!) der Überschrift auf. Dann kracht gleich die erste Salve
in die Reihe derjenigen, die den starken Staat ableh-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu einer nen und statt dessen nach den Ursachen für Miß-
kurzen Antwort erteile ich dem Abgeordneten Geis. stände fragen. Man kommt sich vor wie in Alexander-
von-Stahl-Gewittern.
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege Häfner, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wenn Sie richtig zugehört hätten, hätten Sie nicht „Kriminalität bekämpfen" heißt es da. Dies soll
gesagt, was Sie eben gesagt haben. Ich habe nämlich durch einen „nationalen Kriminalitätsbekämpfungs-
wörtlich folgendes erklärt. Die Menschen in der Wei plan" geschehen. Solche nationalen Bekämpfungs-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 393
Berichtigung
Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten
entschuldigt bis
Abgeordnete(r)
einschließlich
Antretter, Robert SPD 14. 12. 94 *
Borchert, Jochen CDU/CSU 14. 12. 94
Conradi, Peter SPD 14. 12. 94
Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 14. 12. 94
90/DIE
GRÜNEN
Heym, Stefan PDS 14. 12. 94
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 14. 12. 94
Iwersen, Gabriele SPD 14. 12. 94
Sauer (Stuttgart), Roland CDU/CSU 14. 12. 94
Schmidt-Zadel, Regina SPD 14. 12. 94
Schumann, Ilse SPD 14. 12. 94
Vergin, Siegfried SPD 14. 12. 94
Wallow, Hans SPD 14. 12. 94
Warnick, Klaus-Jürgen PDS 14. 12. 94
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates