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Plenarprotokoll 13/8

D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

8. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Inhalt:

Glückwünsche zu den Geburtstagen der Otto Schily SPD 336 D


Abgeordneten Wolfgang Vogt (Düren) und
Dr. Alfred Dregger 313B Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
NEN 339 B
Neubezeichnung eines Ausschusses 313 B Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 342 A

Erweiterung und Ablauf der Tagesordnung 313 B Ingrid Matthäus-Maier SPD 343 B
Dr. Barbara Höll PDS 347 C
Zur Geschäftsordnung
Joachim Poß SPD 349 C
Manfred Mü ll er (Berlin) PDS 313 D
Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. 349 D
Joachim Hörster CDU/CSU 314 B
Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 351 D
Werner Schulz (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN 314 C Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) CDU/
CSU 354 B
Tagesordnungspunkt 1:
Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) BÜND -
a) Erste Beratung des von der Bundesregie- NIS 90/DIE GRÜNEN 355 C
rung eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über die Feststellung des Bundes- Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ
haushaltsplans für das Haushaltsjahr NEN 357 C
1995 (Haushaltsgesetz 1995) (Drucksache
13/50) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 359C
b) Beratung der Unterrichtung durch die Detlev von Larcher SPD 360 B
Bundesregierung: Der Finanzplan des
Bundes 1994 bis 1998 (Drucksache Dr. Peter Struck SPD 361 D
12/8001)
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 362 A,
c) Beratung der Unterrichtung durch die 364 A
Bundesregierung: Bericht über den
Stand und die voraussichtliche Entwick- Dietrich Austermann CDU/CSU 364 B
lung der Finanzwirtschaft (Drucksache
13/76) Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel PDS 367 B

Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 315 C Manfred Kanther, Bundesminister BMI 369 B
Ingrid Matthäus-Maier SPD 324 C, 366 D Fritz Rudolf Körper SPD 371 A
Hartmut Schauerte CDU/CSU 330 B Erwin Marschewski CDU/CSU 374 C
Gunnar Uldall CDU/CSU 332 A Johannes Singer SPD 374 D
Adolf Roth (Gießen) CDU/CSU 335 B Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. 375 D
II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ce rn Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 377 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN 392 C
Ina Albowitz F D P 379C
Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 393 C
Ulla Jelpke PDS 381 A
Nächste Sitzung 394 D
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bun-
desministerin BMJ 381 D
Berichtigung 394 D
Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 384 A

Norbert Geis CDU/CSU 388 A, 392 B Anlage

Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 392 A Liste der entschuldigten Abgeordneten 395*
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 313

8. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Die Anträge der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung und der F.D.P., die Tagesordnungspunkte 3 a und b
ist eröffnet. Ich wünsche Ihnen einen guten Mor- betreffend, sollen am Donnerstagmittag nach der
gen. dreistündigen Beratung des Kanzlerhaushalts mit
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte einer Debattenzeit von fünf Minuten für jede Fraktion
ich Sie darüber unterrichten, daß der Herr Bundes- und für die PDS beraten werden.
kanzler und der Bundesminister des Auswärtigen Die Überweisungen im vereinfachten Verfahren,
heute morgen nicht an der Plenarsitzung teilnehmen Tagesordnungspunkt 2 einschließlich des Zusatz-
können. In seiner Eigenschaft als Vorsitzender des punktes 1, werden unmittelbar danach aufgerufen.
Europäischen Rates berichtet der Herr Bundeskanzler Der Antrag der Fraktion der SPD, betreffend den
heute dem Europäischen Parlament in Straßburg über „Ersatz des Solidaritätszuschlages ... " — Tagesord-
die Ergebnisse der Tagung des Europäischen Rates in nungspunkt 3 c —, soll ebenfalls überwiesen wer-
Essen. Der Bundesminister des Auswärtigen berichtet den.
als Vorsitzender des Rates der Europäischen Union Sind Sie mit diesen interfraktionellen Vereinbarun-
über die Bilanz der deutschen Präsidentschaft. gen einverstanden? — Dazu höre ich keinen Wider-
(Zuruf von der SPD: Die ist sehr dünn!) spruch. Dann ist dies so beschlossen.
Bevor ich die Tagesordnungspunkte 1 a bis c auf-
Ich komme zu den amtlichen Mitteilungen. Der rufe, gebe ich dem Abgeordneten Manfred Müller von
Kollege Wolfgang Vogt (Düren) hat am 1. Dezember der PDS das Wort zu einem Antrag zur Geschäftsord-
seinen 65. Geburtstag und der Kollege Dr. Alfred nung.
Dregger am 10. Dezember seinen 74. Geburtstag
gefeiert. Ich gratuliere beiden im Namen des Hauses
nachträglich sehr herzlich. Manfred Müller (Berlin) (PDS): Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe
(Beifall) Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte einen Antrag
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den 19. Aus- zur Geschäftsordnung stellen, der die zusammenhän-
schuß künftig wie folgt zu bezeichnen: Ausschuß für gende Redezeit der PDS für den morgigen Vormittag,
Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und also für die Aussprache über den Etat des Bundes-
Technikfolgenabschätzung. Sind Sie damit einver- kanzleramtes, von 10 auf 15 Minuten erweitert. Ich
standen? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist bedaure außerordentlich, daß es auch heute früh nicht
dies so beschlossen. gelungen ist, im Kreis der Parlamentarischen
Geschäftsführerinnen und Parlamentarischen Ge-
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die schäftsführer eine einvernehmliche Regelung herbei-
verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die zuführen. Ich stelle fest, daß der Ältestenrat in dieser
Zusatzpunkte sind aus der Ihnen vorliegenden Frage bedauerlicherweise versagt hat.
Zusatzpunktliste ersichtlich:
Ich bin darauf hingewiesen worden, daß wir Mitte
1. Wettere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Januar den Versuch unternehmen wollen, eine ein-
(Ergänzung zu TOP 2) vernehmliche Regelung herbeizuführen, an der auch
wir sehr interessiert sind.
a) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und
der weiteren Abgeordneten der PDS: Vermögen der Par- Bei unserem Antrag geht es um die morgige Aus-
teien und Massenorganisationen der DDR — Drucksache sprache. Ich bitte um eine Ausnahme von der bisheri-
13/78 — gen Regelung, um eine Ausnahme, die es uns erlaubt,
b) Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und in der sogenannten Elefantenrunde auf die Ausfüh-
der weiteren Abgeordneten der PDS: Vergütung der Mitglie- rungen 15 Minuten zusammenhängend zu erwi-
der der Unabhängigen Kommission zur Überprüfung des dern.
Vermögens der Parteien und Massenorganisationen der
DDR beim Bundesministerium des Innern — Drucksache Ich meine, es muß — wie bei den anderen Fraktio-
13/79 — nen — das alleinige Recht der Gruppe der PDS sein,
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Manfred Müller (Berlin)


die Zusammenlegung ihrer Redezeit zu bestimmen — auf Grund der Wünsche der PDS, hier eine Sonder-
ohne Einflußnahme der anderen Fraktionen. Ich sehe stellung zu bekommen, leider nicht möglich.
hier eine weitere Diskriminierung unserer Rechte als (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das ist doch
Opposition in diesem Hause. ein Witz!)
Ich möchte darauf hinweisen, daß auch in der Deswegen darf ich im Einvernehmen mit den Kol-
zurückliegenden Legislaturperiode in Ausnahmefäl- legen Dr. Struck, Schulz und van Essen erklären, daß
len eine zusammenhängende Redezeit von 15 Minu- wir an der Vereinbarung, wie sie im Ältestenrat
ten in Haushaltsdebatten möglich war. Ich bin auf- getroffen worden ist, festhalten und damit die Rede-
merksam darauf gemacht worden, daß 1992 eine zeiten nicht so verändern, wie die PDS dies
Vereinbarung des Ältestenrates, die eine zusammen- wünscht.
hängende Redezeit in Höhe der Hälfte der Gesamtre-
dezeit vorsah, getroffen worden ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Vor 14 Tagen hatten wir hier schon einmal eine
Debatte, in der wir ebenfalls auf zehn Minuten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gibt es weitere
begrenzt worden sind. Nach der mir gestern vorgehal- Wortmeldungen? — Herr Schulz.
tenen Regelung hätten wir vor 14 Tagen eine zwölf-
einhalbminütige Redezeit gehabt. Ich verlange in
diesem Fall Wiedergutmachung Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
(Lachen bei der CDU/CSU, dem BÜND NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Gregor Gysi hat in der vergangenen Sitzungswoche
bei knapper Redezeit ausführlich — und zu Recht —
gegenüber dem, was uns damals an Begrenzung dagegen protestiert, daß die PDS bei der Verwendung
auferlegt worden ist. Der Abgeordnete Gregor Gysi ihrer Redezeit beschränkt wird. Wider besseres Wis-
hat darauf hingewiesen. sen hat er es nicht versäumt, uns ebenfalls in die Schar
Ich bitte diesmal das Hohe Haus um eine Abstim- der Verfolger einzureihen, die der PDS Übles wollen.
mung. Bisher war es immer Sache der Parlamentari- Das prägt offenbar seinen neuen Stil im Umgang mit
schen Geschäftsführer und des Ältestenrates, darüber unserer Partei.
zu entscheiden. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie Deswegen will ich hier ganz deutlich und klar sagen
ebenfalls der Auffassung sind, daß wir in dieser — auch weil ich dazu viele Nachfragen bekommen
Ausnahmesituation der Debatte um den Etat des habe —: Wir sind mit der gegenwärtigen Regelung
Bundeskanzleramtes wiederum in unseren demokra- nicht einverstanden. Und bevor hier neue Unwahrhei-
tischen Rechten hier im Plenum behindert werden, ten verbreitet werden, sollte Gregor Gysi erst einmal
indem wir nur zehn Minuten Redezeit haben, einen so seine eigenen Lebenslügen aufbereiten.
umfangreichen Einzeletat zu kommentieren.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS 90/
Ich bitte um Ihre Zustimmung zu meinem Antrag. DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und
(Beifall bei der PDS) der F.D.P.)
Als wir den Status einer Gruppe hatten, haben wir uns
ständig gegen diese Vereinbarung gestemmt, wieder-
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Hörster. holt darauf hingewiesen, daß es verfassungswidrig ist,
wenn eine Gruppe bei der Zusammenlegung ihrer
Gesamtredezeit beschränkt wird. An dieser unserer -
Joachim Hörster (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Position hat sich nichts geändert. Wir bestehen darauf,
Meine Damen und Herren! Wir haben gestern in zwei daß die PDS volle parlamentarische Rechte erhält,
Runden — einmal unter dem Vorsitz der Frau Präsi- d. h. als Fraktion anerkannt wird, damit sie entspre-
dentin, einmal in der Geschäftsführerrunde — mitein- chend arbeiten und reden kann.
ander die Debattenstruktur für heute und morgen (Beifall bei der PDS)
beraten und sind zu dem Ergebnis gekommen, die Alles andere ist unfair und bestärkt diese Partei in
Redezeiten so festzulegen, daß die PDS in der ersten ihrer Märtyrerrolle, gibt ihr sogar den Dauerstatus als
Runde zehn Minuten hat, in der zweiten Runde null „Kommitee der Selbstgerechtigkeit".
und in der dritten Runde wieder mit fünf Minuten dran
ist. Damit praktizieren wir die Regelung, die in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
vergangenen Wahlperiode angewandt worden ist und Meine Damen und Herren, mal unverkrampft, was
von der wir gesagt haben, daß sie auch in dieser uns der Herr Bundespräsident schließlich empfohlen
Wahlperiode gelten soll, bis eine abschließende Rege- hat. Was vergeben wir uns denn, wenn die PDS in der
lung insgesamt getroffen ist. ersten Runde ihre gesamte Redezeit bekommt? Von
In den späten Abendstunden hat uns dann völlig uns aus könnte sie noch mehr erhalten, damit außer
überraschend ein Schreiben der PDS mit den hier diesem gewendetem Linksimage endlich deutlich
soeben skizzierten Sonderwünschen erreicht. wird, daß sie wenig zu sagen hat,
(Zuruf von der PDS) (Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)
— Selbstverständlich, völlig überraschend, mit den
hier skizzierten Sonderwünschen. — Wir haben vor- daß häufig leeres Stroh gedroschen wird — neue
hin noch einmal kurz zusammengesessen und ver- Worthülsenfrüchte von alten SED-Feldern.
sucht, das Problem einvernehmlich zu lösen. Das war (Widerspruch bei der PDS)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 315

Werner Schulz (Berlin)


Geben wir doch unserem Entspannungsbedarf freien Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen:
Raum und lassen den Unterhaltungskünstler Gysi in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
voller Länge auftreten. Da hungert er nun zwischen nen und Kollegen! Mit der Vorlage des Bundeshaus-
zwei Mahlzeiten mit brennender Zigarette vor laufen- halts 1995 setzen wir, acht Wochen nach der Bundes-
der Kamera für die Parteikasse, springt aus den tagswahl, einen wichtigen Markstein unserer Wirt-
Wolken, besser als Jürgen W. Möllemann — der ist schafts- und Finanzpolitik für die kommende Legisla-
mittlerweile in der Versenkung gelandet turperiode. Damit stellen wir Handlungsfähigkeit
(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ unter Beweis. Wir haben keine Zeit für endlose
NEN) Debatten verschwendet. Entschlossen und konse-
quent werden wir unseren finanzpolitischen Weg
und ist damit dem Fall seines Vorsitzenden voraus —, weitergehen.
und dann hat er noch nicht einmal die Möglichkeit,
hier umfassend seine abenteuerlichen Vorstellungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
auszubreiten. Der tiefe Konjunktureinbruch 1993 ist endgültig
Meine Damen und Herren, geben wir der PDS überwunden. Das Wachstum gewinnt immer mehr an
genügend Redezeit, Fahrt. Das reale Bruttoinlandsprodukt 1994 wird nicht
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Aber nicht mit den prognostizierten 1,5 %, sondern mit 2,5 %
hier!) wachsen.
damit deutlich wird, wie nichtssagend ihre Politik (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sehr gut!)
ist.
Im dritten Quartal 1994 wurden die positiven Wachs-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, tumserwartungen noch einmal übertroffen. Die Pro-
der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) duktionsverluste der Rezession 1992/93 sind aufge-
holt. 1995 erwarten wir eine Wachstumsrate von 3 %.
Diese Einschätzung wird von allen nationalen und
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich sehe keine internationalen Experten und Institutionen geteilt.
weiteren Wortmeldungen.
Die Opposition wird jetzt wieder kritisieren, das sei
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den allenfalls „ein Auf ohne Schwung". Sie haben noch
Antrag der PDS? — Gegenprobe! — Enthaltungen? — krampfhaft bis zum 16. Oktober den Menschen einre-
Damit ist der Antrag der PDS abgelehnt. Ich gehe den wollen, es gebe gar keinen Aufschwung. Wir sind
damit davon aus, daß die zur Redezeit getroffene in unseren Prognosen sehr bescheiden gewesen; aber
Vereinbarung gilt. um so mehr sind wir von der Wirklichkeit positiv
überholt worden. Das lassen wir uns schließlich nicht
vorwerfen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 a bis 1 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Keine Rezession seit den 60er Jahren war so kurz
die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für wie die von 1993. Die Initialzündung durch den Export
das Haushaltsjahr 1995 spricht nicht gegen die Qualität des Aufschwungs. Die
(Haushaltsgesetz 1995) inländischen Faktoren gewinnen an Kraft, vor allem
— Drucksache 13/50 —
die Investitionen. Sie wissen genau: Der Arbeitsmarkt
folgt diesen Indikatoren so sicher wie das Amen in der-
Überweisung:
Kirche.
Haushaltsausschuß

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Pläne, über Umverteilung den Konsum anzukur-
regierung beln, bringen nichts. Sie führen vielmehr über höhere
Steuern zur Belastung unserer Wettbewerbsfähigkeit
Der Finanzplan des Bundes 1994 bis 1998
oder über höhere Defizite zu konjunkturabwürgen-
— Drucksache 12/8001 —
den Zinssteigerungen.
Überweisung:
(Zustimmung bei der F.D.P.)
Haushaltsausschuß
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Die öffentlichen Finanzen sind stabil, die Lasten der
regierung Einheit geschultert. Die Konsolidierung der öffentli-
Bericht über den Stand und die voraussichtli chen Finanzen ist gut vorangekommen. Der größte
Teil der einigungsbedingten Zusatzlasten wird über
che Entwicklung der Finanzwirtschaft
Einsparungen finanziert. Die Finanzierung der Erbla-
— Drucksache 13/76 —
sten des Sozialismus ist geklärt. Die Finanzausstat-
Überweisungsvorschlag: tung der neuen Länder wurde durch das vom Bund
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für vorangetriebene Föderale Konsolidierungsprogramm
die heutige Aussprache sechs Stunden, für morgen für die nächsten zehn Jahre gesichert.
acht Stunden und für Freitag fünf Stunden vorgese- Der Konsolidierungskurs greift. 1994 und 1995 wird
hen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann das Defizit des Bundes jeweils um 10 Milliarden DM
können wir so verfahren. unter den ursprünglichen Planungen liegen. Und es
Das Wort zur Einbringung des Haushalts hat der würde mich nicht wundern, wenn wir am Ende dieses
Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Waigel. Jahres nicht 10, sondern vielleicht 13 Milliarden DM
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Bundesminister Dr. Theodor Waigel


weniger Nettokreditaufnahme hätten. Das ist ein keine gesicherten Fortschritte beim Abbau der
großer Erfolg Arbeitslosigkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und eine Bestätigung des klaren Kurses. Genau so wie Aber wir wissen, das reicht nicht aus.
wir 1993 die automatischen Stabilisatoren haben wir- Neben strukturellen Verbesserungen auf den
ken lassen und konjunkturbedingte Mehrausgaben Arbeitsmärkten müssen wir die hohen strukturellen
und konjunkturbedingte Mindereinnahmen durch Defizite in den öffentlichen Haushalten einiger Län-
höhere Defizite finanziert haben, müssen wir jetzt das, der jetzt zurückführen, gerade bei positiver Konjunk-
was mehr in die Kasse kommt, systematisch zur turentwicklung. Wer es nicht schafft, im Aufschwung
Reduzierung der Nettokreditaufnahme verwenden. zu konsolidieren, wird Mühe haben, den Anschluß an
Das ist der richtige, solide Weg. Maastricht zu gewinnen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Für den Beginn der Endstufe und für die Auswahl
der Teilnehmer wird allein die Erfüllung der im
Das Tal ist durchschritten, das Ziel ist in Sicht. Nun
Vertrag niedergelegten Konvergenzkriterien ent-
dürfen wir allerdings nicht stehenbleiben, wir dürfen
scheidend sein. Ihre strikte Einhaltung sichert die
uns nicht ausruhen. Jetzt geht es um Konsolidierung,
Funktionsfähigkeit der Wirtschafts- und Währungs-
um Steuern, Arbeitsmarkt, Standort Deutschland,
Europa, Wirtschaftswachstum, Frieden und Sicherheit union. Abstriche bei dem Stabilitätskriterium können
in der Welt. wir nicht hinnehmen. Für uns gilt: Strikte Konvergenz
hat Vorrang vor starren Zeitplänen.
Bei den Steuern haben wir den ersten Schritt getan.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
In der letzten Woche haben wir eine Neuregelung für
das Existenzminimum vorgelegt. Die Opposition darf Zwar ist im Durchschnitt der Mitgliedstaaten das
staunen. Diese Lösung ist verfassungsgemäß, sozial Staatsdefizit 1994 gesunken, aber es ist immer noch zu
gerecht und schwächt nicht die Leistungsbereitschaft hoch. Weitere Anstrengungen zum Defizitabbau sind
der Bürger und unserer Wirtschaft. Wir sind sehr notwendig. Damit wird das Vertrauen der Finanz-
gespannt, ob sich die SPD-Bundesländer einer Lösung märkte und Investoren gestärkt. Wir begegnen so
verweigern wollen. auch wirksam der weltweiten Knappheit an Sparka-
pital.
Wir sind und bleiben die wirtschaftliche Nummer
eins in Europa. Deutschland bleibt der europäische Ein weiterer Schwerpunkt in Essen waren die trans-
Stabilitätsanker und Wachstumsmotor. Wir können europäischen Netze. Der Europäische Rat hat die
einen weiteren, noch vor wenigen Wochen für ausge- vorgeschlagenen Verkehrs- und Energieprojekte
schlossen gehaltenen großen Erfolg für Deutschland gebilligt. Unsere Auffassung, wonach neue Gemein-
verbuchen. Zusammen mit Luxemburg erfüllt schaftsinstrumente zur Finanzierung nicht erforder-
Deutschland bereits 1994 und 1995 alle Konvergenz- lich sind, wurde bestätigt. Es macht auch keinen Sinn,
kriterien von Maastricht — trotz der gerade überwun- meine Damen und Herren, wenn wir hier in den
denen Rezession und der finanzpolitischen Bewälti- nationalen Parlamenten und in unseren Ländern ver-
gung der Einheit. Ich halte das für einen großartigen suchen, unter schweren Opfern die Defizite zurückzu-
Erfolg. fahren, wenn gleichzeitig eine zusätzliche Defizitfi-
nanzierung in Europa eröffnet wird. Wir haben uns mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gutem Grund und mit Erfolg dagegen gewehrt.
Auch bei den strukturellen Defiziten haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zusammen mit Japan die weltweit günstigste Position.
In nur vier Jahren haben wir laut Internationalem Die deutsche Präsidentschaft in der Europäischen
Währungsfonds das strukturelle Defizit um vier Fünf- Union ist ein Erfolg. Unter deutscher Präsidentschaft
tel abgebaut. Allein mit diesem internationalen Ver- ist erstmals das Verfahren zur Überwachung der
gleich erübrigt sich bereits das Gerede von einer Haushaltslage angewendet worden. Wir haben dabei
„Schuldenexplosion". auf die strikte Anwendung der Maast ri chter Konver-
genzkriterien geachtet. Es zeigt sich: Der Vertrag von
Natürlich haben die Schulden zugenommen. Aber: Maastricht hat die Stabilitätskultur in Europa einen
Bedenkt man die Aufgabe der Einheit, die Erblast des entscheidenden Schritt vorangebracht. Noch nie gab
Sozialismus und die Rezession, dann darf der Zuwachs es in Europa eine so abgestimmte Finanz- und Wirt-
nicht überbewertet werden. Wir haben von Beginn an schaftspolitik. In der Mehrzahl der Mitgliedstaaten
entschlossen gegengesteuert. Die Schulden sind in gleichen sich jetzt Preise, Zinsen und Wechselkurse
einem volkswirtschaftlich vertretbaren Rahmen ge- stabilitätsgerecht an.
blieben.
Die finanziellen Grundlagen der Europäischen
Unsere europäischen Partner haben auf dem Euro- Union sind jetzt gesichert. Es ist Deutschland gelun-
päischen Rat in Essen am Wochenende die Erfolge der gen, den EU-Haushalt 1995 fristgerecht auf den Weg
Bundesregierung ausdrücklich anerkannt. Als Vorsit- zu bringen. Die Einigung über den Eigenmittelbe-
zender des Ecofin-Rates habe ich in Essen über die schluß hat einen schweren Haushaltsstreit mit dem
Umsetzung des Aktionsplans zur Bekämpfung der Europäischen Parlament abgewendet. — Es war nicht
Arbeitslosigkeit unterrichtet. Dabei können wir fest- ganz einfach, den „Kuhhandel über die Milchquote"
stellen: Der Höhepunkt der Arbeitslosigkeit ist über- zu beseitigen. Aber es ist Gott sei Dank gelungen. —
schritten. Die Beschäftigung steigt wieder. Ohne dau- Die Anpassung der finanziellen Vorausschau für die
erhaftes und kräftiges Wirtschaftswachstum gibt es EU der Fünfzehn ist ebenfalls unter Dach und Fach.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 317

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Sparsamste Haushaltsführung, Konzentration und ein Maßnahmenpaket zur raschen Schließung des
Bündelung von Aufgaben sind auch in Europa not- Kernkraftwerks in Tschernobyl zu vereinbaren. Die
wendig. Auch auf europäischer Ebene müssen die Umsetzung dieses Planes ist auf gutem Weg.
Prinzipien des schlanken Staates angewandt werden. An einem solchen Projekt entscheidet sich wirklich
Dies ist auch ein Beitrag, die deutsche Belastung die Verläßlichkeit der internationalen Gemeinschaft.
mittelfristig zu senken. Dies ist nicht nur ein deutsches, sondern ein europäi-
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sches und weltweites Problem. Darum werden wir
ordneten der F.D.P.) nicht lockerlassen, bis dieses Problem befriedigend
Wir können nicht einfach eine Finanzebene, die gelöst ist.
mittlerweile ein Volumen von rund 150 Milliarden DM (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
hat und zu der wir rund 45 Milliarden DM beisteuern,
von den allgemeinen Konsolidierungsanstrengungen Deutschland hat sich wie kein anderes Land für die
in Europa ausnehmen. Unterstützung erster entscheidender Reformschritte
in der Ukraine eingesetzt. Dazu haben wir die Initia-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tive für eine Zahlungsbilanzhilfe der Europäischen
Auf dem Ministerrat vom 24. November 1994 wur- Union ergriffen. Durch unsere Bemühungen gelang
den die Schlußfolgerungen über die Kriterien einer es, einen positiven Grundsatzbeschluß über eine Hilfe
endgültigen Umsatzbesteuerung verabschiedet. Da- von 85 Millionen ECU zu erreichen.
mit ist für die Verwirklichung der dem Binnenmarkt Unsere Partner in Europa und der Welt erwarten
entsprechenden Besteuerung nach dem Ursprungs- auch weiterhin die verantwortungsvolle Mitarbeit
landprinzip zum 1. Januar 1997 eine ganz entschei- Deutschlands bei der Lösung der entscheidenden
dende Hürde genommen worden. internationalen Probleme und einen klaren Stabili-
Wichtige Anliegen wurden entscheidend vorange- täts- und Wachstumskurs. Dafür stehen wir auch in
bracht. In enger Abstimmung mit unseren Partne rn , Zukunft ein!
insbesondere mit unseren französischen Freunden, Nahezu alle finanzpolitischen Entscheidungen der
die jetzt die Präsidentschaft übernehmen, werden wir 12. Legislaturperiode waren durch die Einheit
intensiv an der Lösung der noch offenen Probleme bestimmt. Zugleich mußte eine der schwersten Rezes-
weiter arbeiten. sionen der Nachkriegszeit überwunden werden.
Mit seiner stabilitäts- und wachstumsorientierten
Dies bedeutete: Finanzierung des wirtschaftlichen
Finanzpolitik hat Deutschland einen wichtigen Bei-
Strukturwandels in den neuen Ländern und der dazu
trag zur Überwindung der weltweiten Rezession
notwendigen Sozialtransfers. Dazu gehörte die Förde-
geleistet. Auch im Kreis der wichtigsten Industriena-
rung privater Investitionen, die Bereitstellung der
tionen, der G 7 Gruppe, hat sich Deutschland als
öffentlichen Infrastruktur von Straßen bis hin zu
- -

erfolgreicher und verläßlicher Partner erwiesen. Die


Telefonleitungen, aber auch eine aktive Arbeits-
enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit in der G 7
marktpolitik.
ist und bleibt eine wichtige Voraussetzung für stabile
internationale Währungsbeziehungen. Dies bedeutete die Sicherung einer angemessenen
Besonders eng und vertrauensvoll war die Zusam- Finanzausstattung der neuen Länder und ihrer Kom-
menarbeit mit dem amerikanischen Finanzminister munen, die damit ihren Teil zum Neuaufbau beitra-
Lloyd Bentsen. Die gemeinsame Arbeit war von gen konnten.
Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen geprägt. Dies bedeutete Umsteuerung des Bundeshaushalts-
Ich möchte ihm für diese Zusammenarbeit, da er jetzt auf den Bedarf in den neuen Ländern, Veränderung
nach einem reichen politischen Leben, das ihn 1948 der Prioritäten bei den Ausgaben.
zum erstenmal in das Repräsentantenhaus geführt
Dies bedeutete Kontrolle und rasche Konsolidie-
hat, seinen Abschied genommen hat, sehr herzlich
rung der öffentlichen Defizite, um einen Anstieg des
danken und ihm alles Gute für die Zukunft wün-
strukturellen Defizits möglichst gering zu halten und
schen.
damit die Belastungen der finanzpolitischen Spiel-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) räume der Zukunft zu minimieren.
Sicher werden wir die Zusammenarbeit mit seinem Dies bedeutete gleichzeitig Rücksichtnahme der
Nachfolger Robert Rubin in gleicher Weise fortsetzen Finanz- und Steuerpolitik auf die Konjunktur, und es
können. bedeutete, Steuererhöhungen auf das unbedingt not-
Die G 7 hat die Reformanstrengungen der Länder in wendige Maß zu beschränken, um die Leistungsbe-
Mittel und Osteuropa weiter begleitet. Bei verschie-
- reitschaft der Bürger und die Wachstumskraft der
denen internationalen Treffen hat die G 7 ihre Unter- Unternehmen nicht zu beeinträchtigen.
stützung zugesagt, zugleich aber auch deutlich Dazu gehörte auch die Rücksichtnahme auf euro-
gemacht: Die Unterstützung hängt von der Weiterfüh- päische und internationale Zusammenhänge: Der
rung eines marktwirtschaftlichen Reformkurses in Standort Deutschland mußte im internationalen Wett-
diesen Ländern ab. bewerb weiter gestärkt werden. Es durfte kein Zweifel
Ein weiteres wichtiges Thema im europäischen und an dem in 40 Jahren erarbeiteten internationalen
internationalen Bereich ist die Sicherheit der Kern- Vertrauen in die Stabilität Deutschlands geben. Keine
kraftwerke in Osteuropa. Deutschland hat sich auf Aufweichung der D-Mark, Bewahrung ihrer Anker-
dem Europäischen Rat in Korfu und auf dem Wirt- funktion für das EWS sowie die entschlossene Weiter-
schaftsgipfel in Neapel erfolgreich dafür eingesetzt, entwicklung der europäischen Wirtschafts- und Wäh-
318 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


rungsunion und die Erfüllung der in Maastricht ver- Die Hauptlast der wirtschaftlichen Erneuerung lag
einbarten Konvergenzkriterien waren weitere Ziele. bei der Treuhand. Sie hat in den letzten vier Jahren
eine herausragende, ausgezeichnete Arbeit gelei-
Jede einzelne dieser Aufgaben erforderte allen
stet.
Einsatz der Finanzpolitik. Keine Aufgabe durfte auch
nur vorübergehend aus dem Blick geraten. In diesem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Aufgabenpaket gab es zugleich eine ganze Reihe von Ohne jedes Vorbild, ohne Anweisungen aus Lehrbü-
Unbekannten, die sich erst im Laufe der Zeit konkre- chern wurden hier bis Ende 1994 14 500 Unterneh-
tisieren ließen. Der richtige Policy-mix mußte laufend men privatisiert. 65 Milliarden DM Privatisierungser-
angepaßt werden. löse wurden erzielt, 1,5 Millionen Arbeitsplatzzusa-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gen und 207 Milliarden DM Investitionszusagen
DIE GRÜNEN]: Was?) erreicht.
— Haben Sie das noch nie gehört? Entschuldigung, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Herr Fischer, Sie waren die letzten vier Jahre nicht der F.D.P.)
hier; dafür kann ich nichts. Aber Sie lernen das noch. „Rasche Privatisierung, entschlossene Sanierung
Sie sind ja kein Dummer. und behutsame Stillegung" war die auch heute noch
gültige Devise.
(Heiterkeit)
(Lachen bei der PDS)
Insbesondere die katastrophale ökonomische Situa-
tion in den Staaten Osteuropas und auch bei dem Sie stammt von Detlev Rohwedder. Er hat für
vermeintlichen Musterknaben der Planwirtschaft, der Deutschland mehr getan, als die Lacher auf dieser
ehemaligen DDR, stellte sich ja erst nach und nach Seite.
heraus. Aus 1 300 Milliarden Mark angeblichen Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.
mögens wurden schließlich in der Eröffnungsbilanz sowie bei Abgeordneten der SPD)
der Treuhand 210 Milliarden DM Schulden.
Vergangene Woche habe ich den Verwaltungsrat
(Beifall des Abg. Rolf Köhne [PDS]) der Treuhandanstalt, der die letzten fünf Jahre ehren-
— Es ist wirklich erstaunlich, daß auf dieser Seite amtlich gearbeitet hat, verabschiedet. Zugegen war
jemand klatscht, wenn man sagt: Aus 1 300 Milliarden auch Frau Rohwedder. Ich danke dieser tapferen,
Mark angeblichen Vermögens wurden nun 210 Milli- großartigen Frau für die Haltung, die sie hier an den
arden DM Schulden. Das ist die Bilanz, die Sie, meine Tag legt.
Damen und Herren, zu verantworten haben. Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der
haben gar keinen Grund, zu klatschen. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wir stehen ihr, ihren Kindern und ihrem verstorbenen
Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Dafür ist die Mann gegenüber in hoher Pflicht.
Treuhand verantwortlich!) Mit Hunderttausenden von unternehmerischen
Wir haben jetzt über 500 Milliarden DM aus dem Einzelentscheidungen ist die Treuhand diesen Aufträ-
Bundeshaushalt für die Einheit ausgegeben. Auch gen gerecht geworden. An den Finanzen ist keine
nach allen Gegenrechnungen betrug die Nettobela- mögliche Sanierung gescheitert. Um jeden einzelnen
stung des Bundes durch die einigungsbedingten Aus- Arbeitsplatz wurde gekämpft. Dies belegen auch
gaben noch rund 260 Milliarden DM. Sondermaßnahmen der Treuhandanstalt mit einem -
Volumen von 6,9 Milliarden DM noch bis zum Jahres-
Private Investitionstätigkeit ist mit einer Fülle von ende. Zu diesen Maßnahmen gehören u. a. die Siche-
Maßnahmen gefördert worden. Dazu gehören Investi- rung industrieller Kerne, die Bereitstellung zusätzli-
tionszulagen und Sonderabschreibungen sowie der cher Mittel für die Privatisierung der Chemieindustrie
Verzicht auf die Erhebung der Vermögen- und der und der Deutschen Waggonbau AG sowie weiterer
Gewerbekapitalsteuer. Umfangreiche ERP-Kredit Mittel für mittelständische ehemalige Treuhandunter-
programme und Investitionszuschüsse im Rahmen der nehmen.
Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regiona-
len Wirtschaftsstruktur" flossen in die neuen Län- Wenn heute der Umstellungsprozeß der Wirtschaft
der. mit Volldampf läuft, Arbeitsplätze entstanden oder
gesichert worden sind, in vielen kritischen Regionen
Im Mai 1993 wurde das Föderale Konsolidierungs- einer wettbewerbsunfähigen Monostruktur nicht das
programm verabschiedet. Darin wurde der neue Licht ausgegangen ist, ist das auch ein Verdienst der
Finanzausgleich ab 1995 geregelt. Die dort vereinbar- Treuhand. Wenn dennoch Arbeitsplätze verlorenge-
ten jährlichen Transferleistungen von über 50 Milliar- gangen sind und in manchen Regionen die Arbeitslo-
den DM ermöglichen den neuen Ländern bei etwa senquote noch zu hoch ist, ist dies das Verdienst von
gleich hohen Defizitquoten wie im Westen Ausgaben 45 Jahren Sozialismus, von Ulb ri cht, Honecker, Mit-
von 120 % des Westniveaus. Bei den Investitionen sind tag und den Genossen der SED, in deren Nachfolge
es sogar 180 %. Die Pro-Kopf-Investitionen haben Sie politisch und moralisch stehen, meine Damen und
1993 das Niveau in den alten Ländern überschritten. Herren von der PDS.
Damit sind Wachstumsergebnisse von real etwa 9 %
möglich geworden — Zahlen, wie wir sie weltweit nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
in sehr dynamischen Wirtschaftsregionen kennen, Wer dafür die Treuhand oder die Soziale Marktwirt-
beispielsweise in Asien. schaft verantwortlich macht, verfälscht geschichtliche
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 319

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Tatsachen. Ich habe Verständnis für die Menschen in die Wohnungswirtschaft in den neuen Ländern von
den neuen Ländern, die ihr individuelles Schicksal gut 1 Milliarde DM. — Die Umsetzung des Altschul-
beklagen. Arbeitslosigkeit ist schwer zu ertragen. Die denhilfegesetzes ist übrigens ein voller Erfolg. Vertre-
Chancen und Risiken der Marktwirtschaft leuchten ter der Wohnungswirtschaft haben mir dies kürzlich
nicht jedem sofort ein. Aber wenn Politikfunktionäre bestätigt und damit auf mögliche Investitionen von
der ehemaligen SED im neuen Gewand der PDS, also insgesamt 200 Milliarden DM in den nächsten fünf bis
die Mitverursacher der Misere, hier die Treuhand, die acht Jahren hingewiesen.
Bundesregierung und die Soziale Marktwirtschaft in
Mißkredit bringen möchten, ist dies eine politische An dieser Stelle noch eine wichtige Bemerkung für
Unverschämtheit. Angesichts der Tatsache, daß so den Kapitalmarkt: Allein die Übernahme der Finan-
viele Menschen leider in der Welt hungern müssen, zierung der aufgelaufenen Treuhandschulden und
und angesichts der Tatsache, daß Hungerstreiks der Nachfolgeinstitutionen im Bundeshaushalt entla-
gegen Diktaturen bisweilen das einzige Mittel sind, stet den Kapitalmarkt um etwa 1 % des Bruttoinlands-
um zu protestieren, ist Ihr Hungerstreik eine politische produkts, also um gut 30 Milliarden DM. Der neue
Unverschämtheit und ein Mißbrauch der Demokra- Finanzausgleich kostet den Bund etwa 35 Milliarden
tie. DM. Sieben Umsatzsteuerpunkte gibt der Bund an die
Länder ab. Das sind etwa 17 Milliarden DM. Die
(Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Bundesergänzungszuweisungen betragen weitere
SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 18 Milliarden DM.
Hier wird in infamer Weise ein unglaubliches Aus gesamtwirtschaftlichen Gründen holen wir uns
Lügenmärchen gestrickt, um daraus eine politische nur einen Teil dieser 35 Milliarden DM über den
Suppe zu kochen. Solidaritätszuschlag zurück. Er muß so bald wie
möglich zurückgeführt werden. Aber der Konsolidie-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungskurs hat Vorrang. Nur wenn sich entsprechende
Den größten Teil der Kosten der Einheit haben wir Spielräume ergeben, können wir über eine Kürzung
durch Einsparungen finanziert. Im Bundeshaushalt reden. Diese Spielräume haben wir eindeutig defi-
haben wir seit 1990 70 Milliarden DM dauerhaft niert: wenn die Belastung des Bundes durch die
eingespart. Die dennoch erforderliche maßvolle Erhö- Transfers für die neuen Länder im Rahmen des
hung der Nettokreditaufnahme wurde reibungslos am Finanzausgleichs sinkt oder die Einnahmen aus dem
Kapitalmarkt finanziert. Trotz der Inanspruchnahme Solidaritätszuschlag dauerhaft stärker steigen, als im
des Kapitalmarktes durch die privaten Investoren und Finanzplan vorgesehen. Das wird jährlich überprüft.
die öffentliche Hand sanken die langfristigen, für die Damit übernehmen die Länder Mitverantwortung für
Investitionen entscheidenden Kapitalmarktzinsen auf den Abbau. Wenn die sieben Umsatzsteuerpunkte für
den historischen Tiefstand von knapp 5,5 %. Trotz den Transfer Ost nicht mehr voll gebraucht werden,
eines gewissen Anstiegs liegen sie jetzt immer noch müssen die Länder Umsatzsteuerpunkte an den Bund
unter dem langfristigen Durchschnitt. Darin zeigt sich zurückgeben. Dieses Geld darf nicht anderweitig
das große Vertrauen des In- und Auslands. verbraucht werden.

Wir haben in 40 Jahren konsequenter Stabilitäts- Meine Damen und Herren von der SPD, es macht
politik einen großen Vertrauenskredit in der Welt keinen Sinn, immer wieder über die vermeintliche
erworben. Niemand hatte Bedenken, Geld in soziale Ungerechtigkeit des Solidaritätszuschlags zu
Deutschland in der D-Mark anzulegen. Spekulanten fabulieren. Der von Ihnen mitbeschlossene Solidari-
haben sich die Zähne ausgebissen. tätszuschlag ist gerecht. Er knüpft an unseren von
jedermann für sozial gerecht gehaltenen progressiven
Trotz der Entlastungen auf der Ausgabenseite Einkommensteuertarif an. Wer viel Steuern zahlt,
waren auch Einnahmeverbesserungen unvermeid- zahlt viel Zuschlag. Wer wenig oder keine Steuern
lich. Sie konnten aber in engem Rahmen gehalten und zahlt, zahlt auch keinen Zuschlag. Eine vierköpfige
konjunkturgerecht zeitlich begrenzt werden. Familie zahlt schon jetzt bis zu einem Bruttoeinkom-
men von 47 197 DM keine Mark. Mit der Neuregelung
Mit dem Jahr 1995 kehren wir zur finanzpolitischen des Existenzminimums steigt dies auf 54 001 DM.
Normalität zurück. Die Übergangsfinanzierungen für
die Einheit werden beendet und in den Bundeshaus- Wie bereits vor der Wahl angekündigt, entspricht
halt übernommen. Die abschließende Regelung der der jetzt vorgelegte Bundeshaushalt 1995 weitgehend
Erblasten und die vollständige Integration der neuen dem Entwurf vom September. Allerdings können wir
Länder in das Finanzausgleichsystem führen die heute einen in wichtigen Eckpunkten verbesserten
Finanzpolitik in ruhigeres Fahrwasser. Haushalt vorlegen. Mit 484,1 Milliarden DM — rund
600 Millionen DM weniger als im ersten Regierungs-
Im Erblastentilgungsfonds wird die sozialistische entwurf — steigen die Ausgaben nur um 0,9 %. Das ist
Erblast übernommen. Dabei werden die Altschulden deutlich unter dem Wachstum des Bruttoinlandspro-
des Kreditabwicklungsfonds der Treuhand und des dukts. Wenn wir das Ziel angehen, vor allen Dingen
DDR-Wohnungsbaus die ursprünglich angenomme- die Staatsquote bis zur Jahrtausendwende etwa auf
nen 400 Milliarden DM wohl nicht ganz erreichen. die Zahl zu senken, wie sie vor der Wiedervereinigung
1995 zahlt der Bund für den Erblastentilgungsfonds gewesen ist, dann gelingt dies nur, wenn die Steige-
aus seinem Haushalt Zins und Tilgung in Höhe von rung des Haushalts deutlich unter der Steigerung des
26 Milliarden DM. Dazu kommen die direkte Finan- nominellen Bruttosozialproduktes liegt.
zierung der Nachfolgeeinrichtungen der Treuhand
von 5,6 Milliarden DM und die Altschuldenhilfe für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
320 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Man kann sich kaum eine stärkere Berücksichtigung nahme muß gesteigert werden, nicht der Anreiz zum
dieser Zielmarge vorstellen, wenn man den Haushalt Ausbeuten sozialer Sicherungssysteme. Das Lohnab-
nur um 0,9 % steigerte und das nominelle Brutto- standsgebot muß wieder deutlich gewahrt werden.
sozialprodukt um etwa 5 % zunähme.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Um Ihnen, Frau Matthäus-Maier, und Ihnen, Herr Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Wieczorek, gleich zuvorzukommen: Sparen Sie sich Bürgergeldsystem! Sehr gut!)
den Einwand, hier handle es sich um Buchungs-
tricks! Ich danke hier Renate Schmidt und auch Ihnen,
Herr Scharping, für deutliche Worte zur Mißbrauchs-
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das bekämpfung an Ihre eigene Partei.
stimmt doch alles nicht! — Weitere Zurufe
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
von der SPD)
Lachen bei Abgeordneten der SPD)
— Natürlich. Ich wußte doch, daß Ihnen nichts Neues
einfällt. Ich glaube, das ist ein guter Beginn, um eine ideolo-
giefreie Debatte über dieses Thema zu führen.
(Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
— Frau Fuchs, hören Sie doch einmal zu! der F.D.P. — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ideo-
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sie hat logiefrei waren wir schon immer!)
Sie ja noch gar nicht gefragt!) Auch im kommenden Bundeshaushalt bleiben die
— Entschuldigung; ich rede doch. Ich warte nachher Hilfen für die neuen Länder der dominierende Faktor.
darauf, daß Sie fragen. Wie in den Vorjahren kommen den neuen Ländern,
einschließlich der Steuerverzichte des Bundes, etwa
Ich gratuliere Ihnen übrigens, daß Sie Vorsitzender 150 Milliarden DM zugute. An Einnahmen aus den
des Haushaltsausschusses geworden sind. neuen Ländern erhält der Bund rund 45 Milliarden
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der DM. Im Saldo stellt der Bund also für die neuen Länder
F.D.P. und der SPD — Zurufe von der SPD: 1995 etwa 105 Milliarden DM bereit — bei einem
Sehr gut!) Bundeshaushalt von 484,1 Milliarden und einem Defi-
zit von 58,6 Milliarden DM.
Bei seinem Geburtstag hat Rudi Walther seinen
Wunsch geäußert, daß der Vorsitz des Haushaltsaus- Schon diese Relation zeigt noch einmal überdeut-
schusses wechseln möge, und zwar nicht deswegen, lich die Verschiebung der Prioritäten und das Ausmaß
weil die SPD gern einen Posten aufgibt, sondern weil der bereits durchgeführten Konsolidierung im Bun-
das Folge eines Machtwechsels gewesen wäre. Ich deshaushalt.
habe gesagt: Wir sind fair; die SPD hat wenige gute Auch wenn wichtige Klippen umschifft worden sind
Leute; einen davon soll sie zum Vorsitzenden des und das Fahrwasser wieder ruhiger geworden ist: Wir
Haushaltsausschusses machen; wir stellen weiter die müssen weiter klar auf das Ziel zusteuern. Die Konso-
Regierung. Dabei ist es geblieben. lidierungsaufgabe ist noch keineswegs erledigt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Rich-
Natürlich werden die Mittel für den neuen Finanz- tig!)
ausgleich als Mindereinnahmen gebucht. Das ist Die Ausgabenspielräume bleiben auch in den Jahren
haushaltsrechtlich in Ordnung und ist zu allen Zeiten nach 1995 eng begrenzt. Der geltende Finanzplan
so angewendet worden, auch zu Ihrer Regierungszeit. unterstellt bereits ein nominales Wirtschaftswachstum-
Denn mit der gleichen Berechtigung hätten wir dann von fünfeinhalb Prozent. Nachdem uns manche Skep-
umgekehrt ab 1990 die Übergangsfinanzierungen aus tiker noch bis vor kurzem übertriebenen Optimismus
den Ausgabensteigerungen für diese Jahre heraus vorgeworfen haben, wird niemand mehr bestreiten:
rechnen können. Das haben wir natürlich nicht Dieses Ziel ist erreichbar.
getan.
Aber mehr ist auch jetzt nicht zu erwarten. Das
Und wie behandeln Sie denn die neuen Zusatzla- Ausgabenmoratorium muß für die ganze Legislatur-
sten für den Bund durch den Erblastentilgungsfonds periode gelten.
und die zusätzlichen Leistungen für die neuen Länder
und die Treuhandnachfolge? Sollen wir sie etwa (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin-
weglassen? Das wäre ja die logische Folge Ihrer gen] [F.D.P.])
Kritik. Wir müssen bei den wichtigen finanzpolitischen Meß-
Die Nettokreditaufnahme wird gegenüber dem größen den Stand vor der Wiedervereinigung errei-
ersten Entwurf um 10,2 Milliarden DM auf 58,6 chen.
Milliarden DM zurückgeführt. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin-
Die von der Bundesregierung im Sommer beschlos- gen] [F.D.P.])
senen Einsparmaßnahmen bei der Arbeitslosenhilfe Die Staatsquote muß von jetzt etwa 50 % bis zum Jahre
sind mit der Koalitionsvereinbarung in die umfassen- 2000 auf 46 % gesenkt werden.
dere Reform und Neuabgrenzung von Arbeitslosen-
hilfe und Sozialhilfe eingeordnet worden. Hier sind (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Reformen dringend nötig. Es kann nicht sein, daß der ordneten der F.D.P.)
Anreiz zur Aufnahme einer regulären Arbeit in vielen Entstehende Spielräume müssen vorrangig für die
Fällen nur minimal ist. Der Anreiz zur Arbeitsauf weitere Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 321

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Standorts Deutschl an d genutzt werden. Die Steuer- Auch im Bundeshaushalt 1995 wird jede dritte Mark
und Abgabenquote muß mittelfristig wieder zurück- für soziale Sicherung ausgegeben. Nicht in einem
geführt werden. Diese Wachstumsaufgabe anzupak- einzigen Haushalt, für den die SPD unter ihren
ken ist der zentrale finanzpolitische Auftrag dieses Finanzministern Verantwortung trug, wurde prozen-
Jahrzehnts. tual so viel für Soziales ausgegeben, nicht in einem
einzigen Haushalt von 1970 bis 1982.
Eine dynamische Wirtschaft, die laufend neue
Arbeitsplätze schafft, entsteht durch den Abbau von (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei
Wachstumshemmnissen, durch eine aktive, die in- der SPD)
dividuelle und wirtschaftliche Leistungsbereitschaft
— Ich freue mich, daß das eine lebendige Auftakt-
fördernde Politik. Das ist keine Politik der sozialen
runde ist. Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie nach
Kälte. Ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl schon so
Erstens. Nur durch wirtschaftlichen Wohlstand und munter sind. Sie haben sich offensichtlich rechtzeitig
Wachstum können wir unseren Stand der sozialen auf die Niederlage eingestellt.
Absicherung halten und gezielt verbessern. Wir müssen weiterhin konsequent prüfen, welche
Zweitens. Die Ethik einer christlichen Partei hat Aufgabengebiete der Staat der Zukunft in einer offe-
eine den Schwachen und Benachteiligten zuge- nen Gesellschaft zu übernehmen hat und wie er die
wandte Sozialpolitik im Mittelpunkt ihrer Politik. Aufgaben, die er übernehmen soll, ausführt. Die
Effizienz der Staatstätigkeit muß gesteigert werden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
ordneten der F.D.P. — Widerspruch bei der Wenn wir von jedem Bürger und der Wirtschaft
SPD — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Mär verlangen, flexibel und schnell auf Veränderungen im
chen!) Markt zu reagieren, muß für den Staat das gleiche
gelten. Unter dem Stichwort schlanker Staat wollen
Wenn es um richtig verstandene Solidarität geht,
wir diese Probleme angehen. Wir wollen den Perso-
lassen wir uns von den Sozialisten jedenfalls nicht naleinsatz in der Verwaltung zurückführen. Dabei
übertreffen. haben wir uns ein klares Ziel gesteckt: Wir haben
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge bereits seit 1993 den Personalbestand konsequent
ordneten der F.D.P.) verringert.
Aber Sozialpolitik muß an der konkreten Situation des (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
einzelnen orientiert sein. Die staatliche Verwaltung DIE GRÜNEN]: Vor allem bei den Staatsse-
und Regulierung von sozialen Problemen in unüber- kretären!)
schaubaren und anonymen Institutionen darf nicht Wir werden ihn auch künftig um jährlich ein Prozent
überhandnehmen. Sie ist sonst auch nicht bezahl- verringern. Bis zum Ende des Jahrhunderts soll der
bar. Stand von 1989 erreicht werden.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bei
Sehr wahr!) zunehmender Leistungskraft!)
Der Sozialstaat muß umgebaut werden. Zwischen 1991 und Ende 1995 werden 46 000
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wohin?) Stellen abgebaut. Weitere 10 000 folgen. Das sind
dann bei Stellenkosten von durchschnittlich etwa
Statt des Einsatzes der sozialen Gießkanne müssen 70 000 DM jährlich dauerhafte Einsparungen von gut-
wir uns um die konkreten Probleme des einzelnen
3,5 Milliarden DM.
kümmern. Bürokratie muß abgebaut und gestrafft
werden. Bei den Verwaltungsausgaben, die immerhin ein
Volumen von 30 Milliarden DM im Bundeshaushalt
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ausmachen, werden wir 1995 Pilotprojekte zur Erpro-
der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] bung flexibler Haushaltsverfahren starten.
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Anonymer
Sozialdemokrat! — Dr. Wolfgang Weng Die erfolgreiche Privatisierung in Ost und West
[Gerlingen] [F.D.P.]: Sie können sich das wird weitergeführt. Ordnungspolitisch konsequent
Valiumzäpfchen bei mir abholen!) trennt sich der Staat mittelfristig von seinen Sonder-
vermögen Bahn und Post. Die Privatisierung der
— Beruhigen Sie sich doch, Herr Fischer. Telekom ist die größte Privatisierungsaktion in der
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nehmen Sie ein Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Dabei
mal Nachhilfestunden bei Herrn Blüm!) geht es nicht um Einnahmen für den Staat. Die
Einnahmen, die er dadurch bekommt, werden wir für
— Herr Blüm braucht bei mir keine Zwischenfrage zu Gehaltszahlungen für die noch verbleibenden Beam-
stellen; denn wir verstehen einander blind. ten und für Pensionslasten benötigen. Damit ist dieser
(Heiterkeit bei der SPD — Beifall bei der Bereich ein für allemal aus dem hoheitlichen Bereich
CDU/CSU — Helmut Wieczorek [Duisburg] heraus. Langfristig wird es bei Post und Bahn keine
[SPD]: Norbert, wohin bist du gekommen?) Beamten mehr geben. Es entstehen vom öffentlichen
Ballast befreite, marktwirtschaftlich ausgerichtete
Marktwirtschaftliche Sozialpolitik hilft den Schwa- High-Tech-Unternehmen, die ihren erfolgreichen
chen. Sie setzt aber zugleich Anreize für die Hilfe zur Part auf den Weltmärkten spielen werden.
Selbsthilfe und geht gegen die Ausbeutung der So-
zialsysteme zum Schaden der Allgemeinheit vor. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
322 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

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Neben der Bilanz der Treuhand war es im Westen stungen in den letzten Jahren erfolgt 1996 mit einem
insbesondere der Einstieg in die endgültige, vollstän- Volumen von 15 Milliarden DM eine wichtige Entla-
dige Privatisierung der Lufthansa, der von der inter- stung aller Steuerzahler. Dies verstetigt die private
nationalen Fachpresse als „deal of the year" gewür- Nachfrage und das Wirtschaftswachstum. Der Vor-
digt wurde. schlag ist leistungsgerecht und verteilungspolitisch
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) ausgewogen. Höhere Einkommen werden prozentual
am niedrigsten entlastet. Die niedrigen Einkommen
Im Osten werden die Nachfolgeeinrichtungen der werden am höchsten entlastet.
Treuhandanstalt dafür sorgen, daß die erfolgreiche
Privatisierung in den neuen Ländern weiter auf Kurs Der Vorschlag ist auch finanzpolitisch ein zukunfts-
gehalten wird und Fehlentwicklungen im Einzelfall fähiger Weg; denn künftige Anpassungen des steuer-
rasch korrigiert werden. freien Existenzminimums führen zu wesentlich gerin-
geren Steuerausfällen als alle anderen bisher bekann-
Nicht benötigte Liegenschaften wird der Bund wei- ten Lösungen, wie z. B. der von Nordrhein-Westfalen
terhin rasch veräußern. Die bisher gewährten Verbil- vorgeschlagene Tarif.
ligungen werden aber auslaufen. Interessierte Länder
und Kommunen sind jetzt gefordert, ihre Interessen zu Die Neugestaltung des Einkommensteuertarifs ent-
konkretisieren und Verkäufe rasch abzuschließen. hält folgende Eckpunkte: Das Existenzminimum wird
Der Bund will Familien mit Kindern beim Verkauf in Höhe von rund 12 000 DM für Ledige bzw. 24 000
bundeseigener Grundstücke gegenüber anderen DM für Verheiratete steuerfrei gestellt. Der bisherige
Kaufinteressenten bevorzugen. Hier werden wir im Grundfreibetrag wird durch eine außertarifliche
Verwaltungsweg zu attraktiven Lösungen für die Steuerermäßigung, die sogenannte Grundentlastung,
Familien kommen. ersetzt. Diese Grundentlastung wird mit steigendem
Einkommen abgebaut und läuft bei einem zu versteu-
Wichtige Vorhaben in der Steuerpolitik stehen an. ernden Einkommen von rund 30 000 DM bei Ledigen
Dabei darf es keine Steuersenkungen auf Pump bzw. 60 000 DM bei Verheirateten aus.
geben. Dennoch wäre es genauso verkehrt, mit der
Steuersenkung erst bei Defiziten von Null zu begin- Die tarifliche Grenzbelastung wird über die
nen. Wir werden den steuerpolitischen Aufgaben gesamte Progressionszone hinweg um 0,7 Prozent-
deshalb in der Finanzplanung Rechnung tragen. punkte leistungsgerecht abgesenkt. Der linear-pro-
Dabei stehen die Sicherung des Existenzminimums gressive Tarifverlauf bleibt erhalten.
und die Verbesserung des dualen Systems des Fami- Diese Lösung hat folgende konkrete Auswirkun-
lienleistungsausgleichs im Vordergrund. gen: Ein verheirateter Alleinverdiener mit einem zu
Nach der deutlichen Unterschreitung des geplanten versteuernden Einkommen von 30 000 DM wird um
Defizits 1994 und 1995 werden wir 1996 etwa auf dem rund 2 200 DM entlastet. Bei geringem Einkommen
Niveau des Finanzplans bleiben. 1997 und 1998 bis zum Existenzminimum von rund 12 000 DM bei
werden die Defizite etwas höher als im Finanzplan Ledigen bzw. 24 000 DM bei Verheirateten wird die
liegen. Nach dem Vorliegen der mittelfristigen Steu- Steuerbelastung um 100 % gesenkt. Bei einem Spit-
erschätzung und der gesamtwirtschaftlichen Voraus- zenverdiener ergibt sich eine Entlastung von weniger
schau werden wir mit dem Haushalt 1996 Mitte als 2 % der bisher zu tragenden Steuerschuld.
nächsten Jahres die genauen Zahlen kennen und den Rund ein Viertel der Steuerzahler im unteren Ein-
Finanzplan vorlegen. kommensbereich haben einen Entlastungsanteil von
Insgesamt wird der Konsolidierungspfad jedenfalls über 40 % am Gesamtvolumen. Auf die untere Hälfte
nicht verlassen. Alle weiteren richtigen und sinnvol- der Steuerzahler entfällt ein Entlastungsanteil von
-
len Steuersenkungen müssen erst durch zusätzliche rund 70 %.
Konsolidierungserfolge verdient werden; sonst ver- Die vorgeschlagene Lösung bewegt sich im Spiel-
kehrt sich ihre Wirkung ins Gegenteil. raum, den das Bundesverfassungsgericht einräumt.
Die wichtigsten steuerpolitischen Aufgaben wer- Auch der für 1996 vorgesehene Freistellungsbetrag
den im Jahressteuergesetz 1996 angepackt. Ich von 12 095 DM bzw. 24 191 DM entspricht den ver-
möchte schon heute die Opposition im Bundestag und fassungsrechtlichen Anforderungen.
im Bundesrat auffordern, sich dieser für Deutschland 1995 stellen wir 11 500 DM frei, obwohl nur rund
zentralen Zukunftsaufgabe nicht mit Scheuklappen 11 000 DM erforderlich wären. Auch der Freistel-
zu widersetzen. Das Thema ist zu wichtig, um es zu lungsbetrag für 1996 liegt über dem Existenzmini-
einem Wahlkampftheater werden zu lassen. Wir alle mum und kann ebenfalls 1997 unverändert fortgelten.
tragen Verantwortung für Deutschland. Es sollte hier 13 000 DM sind jetzt nicht notwendig.
zu einer Steuerkoalition der Vernunft kommen. Dabei
Über Modelle mit einem größeren Finanzvolumen
biete ich Ihnen von meiner Seite eine unvoreingenom-
können wir selbstverständlich diskutieren, wenn
mene Diskussion an.
gleichzeitig konsensfähige Vorschläge für eine
Mit dem von mir in der letzten Woche gemachten Gegenfinanzierung unterbreitet werden. Diese Vor-
Vorschlag können wir die Steuerfreistellung des Exi- schläge müssen aber verteilungspolitisch ausgewo-
stenzminimums verfassungskonform regeln. Damit gen sein und dürfen zu keiner Steuerkomplizierung
wird die bis Ende 1995 geltende Übergangsregelung führen.
abgelöst. Mein Vorschlag hat vor allem die folgenden
Vorzüge: Jeder wird entlastet; keiner wird belastet. (Zustimmung bei der CDU/CSU)
1,5 Millionen Haushalte fallen zusätzlich aus der Der Kollege Schleußer ist zum Wortführer der SPD
Steuerpflicht heraus. Nach unvermeidlichen Bela ernannt worden. Das begrüße ich. Dennoch, sein
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 323

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Vorschlag ist weniger begrüßenswert. Er wirkt ab muß die ertragsunabhängige Gewerbekapitalsteuer
einem zu versteuernden Einkommen von 50 000 DM abgeschafft werden.
wie eine Ergänzungsabgabe. Das hat das Bundesver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
fassungsgericht mit Sicherheit nicht gewollt.
Wer sich dem verweigert, setzt die Zukunft unserer
(Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) Arbeitsplätze in Deutschland aufs Spiel. Die Abschaf-
fung der Gewerbekapitalsteuer wollen wir mit einer
Ich kann im übrigen auch nicht einsehen, wieso Sie
mittelstandsfreundlichen Entlastung bei der Gewer-
sich unserer Lösung verschließen, die gerade die
beertragsteuer verbinden.
Geringverdiener besonders begünstigt. Es ist auch
nicht so, daß wir den linear-progressiven Tarifverlauf (Beifall bei der F.D.P.)
aufgeben. Es macht wenig Sinn, sich durch eine
Eingebettet wird das Gesamtkonzept in eine
Diskussion über punktuelle Grenzbelastungen den
Gemeindefinanzreform. Klar ist: Die Gemeinden
Blick für das Wesentliche zu versperren. Aus der Sicht
müssen einen vollen Ausgleich erhalten.
der Steuerpflichtigen zählt letztlich das, was unter
dem Strich übrigbleibt. (Dr. Peter Struck [SPD]: Wie denn?)
Berücksichtigt man alle zusätzliche Transfers oder Sie sollen auch weiterhin ein Interesse daran haben,
Belastungen, die für verschiedene Einkommensgrup- die Ansiedlung von Gewerbebetrieben und damit von
pen relevant sind, ergeben sich bei der Grenzbela- Arbeitsplätzen zu fördern. Klar ist aber auch: Wie bei
stung ständig Abweichungen von einem Formeltarif. den vorhergehenden Stufen der Unternehmensteuer-
Unbeschritten bleibt: Absolut und relativ werden die reform kommt auf Grund der haushaltspolitischen
unteren Einkommen am stärksten entlastet. Situation nur eine aufkommensneutrale Gestaltung in
Frage.
Ich hoffe, wir können bei den anstehenden Ver-
handlungen konstruktiv zusammenwirken. Ich emp- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
fehle Ihnen, in diesem Zusammenhang einmal mit Wie?)
Ihrem früheren Kollegen Apel Kontakt aufzunehmen, Die Philosophie eines schlankes Staates muß auch
der erst kürzlich in einem Interview deutlich gemacht für unser Steuersystem gelten. Das Steuersystem muß
hat, er halte diese Steuerpläne der Bundesregierung wieder einfach und transparent werden. Dies ist eine
für richtig. Forderung sowohl im Interesse der Steuerzahler als
auch im Interesse der Steuerverwaltung.
Weitergehenden Kompensationswünschen der
Bundesländer möchte ich gleich an dieser Stelle eine (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Wer
Absage erteilen. Es kann nicht sein, daß allein der regiert hier eigentlich?)
Bund in der Pflicht zum Sparen ist. Die Länder sind — Die Steuergesetze sind zumeist durch den Vermitt-
durchaus in der Lage, weitere Einsparungen und lungsausschuß gegangen. Sie sind eine Einigung
Haushaltsverbesserungen vorzunehmen. Bereits jetzt zwischen der Koalition und der Opposition, also
haben wir eine finanzielle Schieflage zwischen Bund gemeinsam mit Ihnen gemacht. Wenn es — leider —
und alten Ländern, und zwar zu Lasten des Bundes. zu Verkomplizierungen gekommen ist, tragen wir alle
Die alten Länder und ihre Gemeinden werden 1995 zusammen die Verantwortung.
wohl eine Defizitquote von 5 1/2 % erreichen. Trotz der
Konsolidierungsanstrengungen wird sie beim Bund (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
noch 12 % betragen. Die da drüben mehr!)
Meine Damen und Herren, die Familien sollen Wir müssen das gemeinsam abbauen.
weiter entlastet werden. Dies ist ein Schwerpunkt der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Politik der Bundesregierung. Der Kinderfreibetrag Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert eigent-
wird stufenweise auf das volle Existenzminimum lich?)
eines Kindes angehoben, in einem ersten Schritt zum
1. Januar 1996 um rund 1 000 DM. Dafür wird es Ich habe dazu im September ein Diskussionspaket
möglich, die Familientransferleistungen wie z. B. das vorgestellt. Die einzelnen Punkte des Diskussionspa-
Kindergeld ziel- und bedarfsgerecht auf einkom- ketes werden wir eingehend erörtern, um sie in das
mensschwache Familien mit mehreren Kindern zu Jahressteuergesetz 1996 zu integrieren.
konzentrieren. Ich möchte noch einmal betonen: Ich bin gerne
bereit, unser Steuersystem nachhaltig zu reformieren.
Unser besonderes Augenmerk gilt zukunfts- und
Ich rufe alle gesellschaftlichen Gruppen auf, nicht nur
wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen. Die Arbeitslosig-
auf die Privilegien der anderen zu zeigen, sondern die
keit ist zu hoch, auch wenn sich erste positive Signale
eigenen in den Mittelpunkt zu rücken.
zeigen. Zur Sicherung von Wachstum und Beschäfti-
gung werden wir deshalb für 1996 die dritte Stufe der Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes
Unternehmensteuerreform in Angriff nehmen. Die zum Kohlepfennig erfordert jetzt von allen Beteiligten
international einmalige Sonderbelastung der deut- verantwortungsbewußtes Handeln. Über die Partei-
schen Unternehmen durch die Gewerbesteuer muß grenzen hinweg muß ideologiefrei am Energiekon-
gesenkt werden. Nur so können wir im internationa- sens weitergearbeitet werden. Durch die jetzt zu
len Wettbewerb den Standort Deutschland behaup- treffenden Entscheidungen zur Kohlefinanzierung
ten. Hochproduktive Arbeitsplätze sind nur mit einer darf die Konsolidierungspolitik nicht gefährdet wer-
ausreichenden Kapitalausstattung möglich. Deshalb den. Ziel der Neuregelung muß eine weitgehende
324 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Belastungsneutralität für den Stromverbraucher an der Gestaltung der Zukunft zu arbeiten, Verant-
sein. wortung für Deutschland, Europa und die Welt wahr-
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Friedrich Dürren- zunehmen, das, meine Damen und Herren, ist unser
matt hat gesagt: „Die Wirklichkeit ist nur veränderbar, Programm.
insofern sie noch nicht ist. Wir können versuchen, die Ich danke Ihnen.
Zukunft zu beeinflussen. Das ist alles." In der Tat, es (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
ist die vornehmste Aufgabe der Politik, die Zukunft zu der F.D.P.)
gestalten. Die Bürger wollen klare Perspektiven,
Lösungsvorschläge für drängende Probleme.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich eröffne die
(Zuruf von der SPD: Ja!) Aussprache. Als erste nimmt das Wort die Kollegin
Wir haben uns für die Lösung der wesentlichen Ingrid Matthäus-Maier.
Wiedervereinigungsaufgaben den Zeitrahmen von (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Endlich zur
zehn Jahren gesetzt. Nach diesem Maßstab ist jetzt Sache!)
Halbzeit. Fünf Jahre ohne Stacheldraht und Mauer
liegen hinter uns. Ich denke, wir haben diese Halbzeit
Ing ri d Matthäus Maier (SPD): Sehr geehrte Frau
gut gespielt.
-

Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her-


(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ren! Als erstes möchte ich gratulieren; denn zwischen
In den neuen Ländern bleibt noch eine Menge zu der letzten und der heutigen Bundestagssitzung gab
tun, vieles aufzubauen, wie beispielsweise die Frau- es für den Finanzminister ein bedeutsames persönli-
enkirche in Dresden, wofür wir eine Sondermünze ches Ereignis: Er und Frau Irene Epple haben gehei-
ratet. Meine Fraktion gratuliert Ihnen recht herzlich
prägen und den Erlös für diesen guten Zweck zur
Verfügung stellen. und wünscht Ihnen alles Gute und ein bißchen mehr
Muße.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Vielleicht ist es eine weniger gute deutsche Eigen- der CDU/CSU und der F.D.P.)
schaft, sich über wirkliche Glücksfälle der Geschichte Sie werden aber verstehen, Herr Waigel, daß ich
nicht recht freuen zu können. Dabei haben wir gerade jetzt zu etwas weniger lobenswerten Seiten von Ihnen
jetzt allen Grund dazu. Wir brauchen unsere Einheit kommen muß, denn der Bundeshaushalt 1995 liegt
nicht protzig zu Markte zu tragen, aber auch nicht heute zur Diskussion vor.
griesgrämig vor der Welt zu verstecken. Zu Beginn dieser 13. Legislaturperiode stellen sich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Finanzpolitik insbesondere vier Hauptaufgaben:
erstens Umschichtung im Bundeshaushalt zugunsten
Wir können dankbar und stolz darauf sein: Deutsch-
von Zukunftsinvestitionen für neue Arbeitsplätze in
land steht für immer auf der Seite der Freiheit, gegen
Ost und West, für die Förderung von Wissenschaft,
Diktatur und Unterdrückung. Wir haben in Deutsch-
moderner Technologie und Ausbildung; zweitens
land dazu beigetragen, ein menschenverachtendes
Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, damit wir
System zur Geschichte werden zu lassen. Unsere
durch Sparen und Umschichten aus der Schuldenfalle
Aufgabe ist es, diese Erfahrung in Europa einzubrin-
herauskommen; drittens steuerliche Entlastung der
gen. Die tragenden Elemente der abendländischen
viel zu hoch besteuerten Familien mit Kindern; vier-
Kultur, das Christentum und die Aufklärung, haben
tens steuerliche Freistellung des Existenzminimums.
auch an der Schwelle eines neuen Jahrtausends nichts
von ihrer Aktualität verloren. Der Entwurf des Bundeshaushaltes 1995 und Ihre
anderen Vorschläge geben leider auf keines dieser
Die europäische Einigung muß kommen — nicht als drängenden Probleme eine befriedigende Antwort.
europäischer Superstaat, sondern als föderale Ge-
meinschaft, in der aber die wichtigen Interessen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gemeinsamen Überzeugungen entschlossen und mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
einer Stimme nach außen vertreten werden. Wir Abg. Wolfgang Bierstedt [PDS])
dürfen uns nicht der Illusion hingeben, mit dem Ende Durchwursteln ist die Devise. Der vom Bundeskanzler
des Ost-West-Konflikts sei ein Europa überflüssig. angekündigte Aufbruch in die Zukunft findet nicht
statt. Forschung und Technologie kommen zu kurz.
Große Herausforderungen warten auf uns. Die Kir- Der Bund steckt in einer 100-Milliarden-Zinsfalle. Die
chen diskutieren den konziliaren Prozeß, Frieden, Familien mit Kindern müssen sich wieder einmal mit
Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Bei der schönen Worten abspeisen lassen und werden auf
inhaltlichen Ausgestaltung dieser Prinzipien müssen 1996 vertröstet. Bei den Vorschlägen zur Steuerfrei-
wir einen deutschen, einen europäischen Beitrag heit des Existenzminimums werden die kleinen und
leisten. Wir können uns dabei kein kleines Karo mittleren Einkommen viel zu gering entlastet.
leisten. Wer immer nur die Probleme und Schwierig-
keiten sieht, wird die Zukunft nicht meistern. Wir hatten gehofft, Sie würden den Beginn der
neuen Legislaturperiode zu einem finanzpolitischen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Neuanfang nutzen. Wir sehen mit Bedauern, daß Sie
DIE GRÜNEN]: Was sagt Edmund Stoiber diese Chance verpaßt haben.
dazu?)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Für uns gilt Immanuel Kants kategorischer Impera- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des
tiv der Politik: „Du kannst, denn du sollst. " Mit Freude Abg. Wolfgang Bierstedt [PDS])
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 325

Ingrid Matthäus-Maier
Der Bundeskanzler hat einen Aufbruch in die Wir hätten auch gern gewußt, wie Sie die Meister-
Zukunft angekündigt. Zu diesem Zweck hat er das kurse im Handwerk wieder fördern wollen.
Ministerium für Forschung und Technologie und das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ministeri um für Bildung und Wissenschaft zusam- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
mengelegt zu einem sogenannten Zukunftsministe-
rium. Dieses begrüßen wir. Wir wünschen Herrn Erst Ende 1993 haben Sie die Meisterfortbildung im
Minister Rüttgers für sein schweres und wichtiges Amt Arbeitsförderungsgesetz zerschlagen — angesichts
eine gute Hand. der enormen Bedeutung unseres dualen Ausbildungs-
systems ein schwerer Fehler. Wenn Sie das jetzt
Aber entgegen allen Erwartungen hat der Herr korrigieren wollen, stimmen wir zu. Es wird nämlich
Bundeskanzler bei diesem sogenannten Zukunftsmi- Zeit, daß Sie die Teilnehmer an Techniker- und
nisterium nicht etwa eine halbe oder eine Milliarde Meisterkursen nicht mehr länger finanziell im Regen
DM draufgelegt; real nimmt dieser Haushalt sogar ab. stehenlassen.
Schon die erste Feuerprobe hat der sogenannte
Zukunftsminister nicht bestanden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sagen Sie nicht, Sie hätten dafür kein Geld. Allein in
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 1995 erhöhen Sie den Verteidigungshaushalt um
Dem neuen Ministerium einen schönen Titel zu geben 670 Millionen DM. Nicht nur, daß Sie nach dem Ende
statt mehr Geld, damit ist der Zukunftssicherung des Kalten Krieges viel zu spät begonnen haben, im
Deutschlands mit Sicherheit nicht gedient. Verteidigungshaushalt einzusparen; jetzt soll damit
schon wieder Schluß sein. In Zeiten seines höchsten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Standes machte der Verteidigungshaushalt 54 Milliar-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des den DM aus. Erst nach langem Drängen und zögerli-
Abg. Wolfgang Bierstedt [PDS]) chem Schritt für Schritt haben Sie ihn auf 47,2 Milli-
arden DM gekürzt. Jetzt soll er bereits wieder anstei-
Der bekannte Unternehmensberater Roland Berger
sagte erst vor wenigen Tagen: „Ohne Innovationen gen.
geht Deutschland die Arbeit aus." Aber wo bleiben Soll das denn schon die ganze Friedensdividende
bei Ihnen die Innovationen? Wo bleibt denn die von gewesen sein, meine Damen und Herren? Nein, wenn
Ihrem bisherigen Forschungsminister landauf, landab Sie schon nicht bereit sind, hier weiter zu kürzen
in Aussicht gestellte steuerliche Förderung für Unter- — was eigentlich notwendig wäre —, dann legen Sie
nehmen, die in Forschung und Technologie investie- doch wenigstens die 670 Millionen DM nicht beim
ren? Wo bleibt die dringend notwendige Förderung Verteidigungshaushalt, sondern beim sogenannten
des Mittelstandes? Zukunftshaushalt obendrauf.
Die Forschungslandschaft in Ostdeutschland ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
kümmert. Der Anteil von Bildung, Wissenschaft, For- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
schung und Technologie am Gesamthaushalt ist wei- PDS)
ter zurückgegangen. Ein Bundeskanzler aber, der wie Es ist auch kein Zeichen von Zukunftsorientierung,
Helmut Kohl den Anteil des Forschungshaushaltes am daß die Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen
Bundeshaushalt auf das niedrigste Niveau seit 20 Jah- der Bundesanstalt für Arbeit Jahr für Jahr zurückge-
ren fallen läßt, sollte das Wort Wirtschaftsstandort hen: 1993 560 000, 1994 450 000, 1995 geplant
Deutschland überhaupt nicht mehr in den Mund 435 000 DM. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt
nehmen. will 510 000 DM. Wir fordern die Bundesregierung
nachdrücklich auf, diesem Vorschlag des Verwal-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
tungsrates zu entsprechen. Denn die Fortbildungs-
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang
und Umschulungsmaßnahmen der Bundesanstalt für
Bierstedt [PDS])
Arbeit sind ein wichtiger Bestandteil zur Bekämpfung
Wo bleibt die dringend notwendige Anpassung der der nach wie vor viel zu hohen Arbeitslosigkeit.
Ausbildungsförderung? Unser Land ist ein rohstoffar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
mes Land. Unser Rohstoff, die Grundlage unseres des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wohlstandes sind die Ausbildung, die Leistungsbe-
reitschaft und das Engagement der Menschen. Wir Sie fragen uns: Wie wollen Sozialdemokraten diese
setzen uns daher für eine Erhöhung des BAföG um aktive Arbeitsmarktpolitik bezahlen? Ja, wollen Sie
4 % ein, was nach zweijähriger Pause nun wirklich denn behaupten, daß Arbeitslosigkeit kein Geld
nicht maßlos ist und was der Vermittlungsausschuß kostet? Die Bundesanstalt für Arbeit beziffert allein für
fast einstimmig beschlossen hat. 1993 die Kosten der Arbeitslosigkeit auf insgesamt
116 Milliarden DM. Hinzu kommen Langzeitarbeits-
Man muß doch wissen: Wer das BAföG vernachläs- losigkeit, Jugendarbeitslosigkeit, die Arbeitslosigkeit
sigt, verlängert die Studienzeiten, weil sich die Stu- von Menschen, denen man mit Mitte 40 sagt: Eigent-
denten dann etwas hinzuverdienen müssen. Wir brau- lich können wir dich überhaupt nicht mehr gebrau-
chen aber kürzere und nicht längere Studienzeiten, chen. Das ist vor allem ein persönliches Schicksal, ein
meine Damen und Herren. Schicksal, das oft die ganze Familie trifft, auch die
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kinder.
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Wolfgang Wissen Sie denn nicht, daß in diesem Lande eine
Bierstedt [PDS]) Million Kinder von der Sozialhilfe abhängig sind?
326 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ingrid Matthäus-Maier
Wissen Sie nicht, daß sich immer wieder Kinder bei Wenn Sie endlich bereit wären, einen Teil der rund
Klassenfahrten krank melden, weil den Eltern das 700 Millionen DM, die Sie in Ihrem Bundeshaushalt
Geld fehlt? Massenarbeitslosigkeit ist außerdem ein noch immer für die Kernenergie vorsehen, in entspre-
gefährlicher Nährboden für Rechtsradikalismus, für chende Energieeinsparprogramme umzuschichten,
wachsende Gewaltbereitschaft und Ausländerfeind- dann hätten wir dafür auch das Geld.
lichkeit.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Wenn Sie all das zusammennehmen, die unmittel- GRÜNEN und der PDS — Zuruf von der
baren Kosten und die Folgen, dann stellt Massenar- CDU/CSU: Quatsch!)
beitslosigkeit die größte volkswirtschaftliche Ver-
Daß es auch anders geht, zeigt z. B. das Land
schwendung dar. Wir müssen endlich Arbeit finanzie-
Hessen. Dort sind binnen zwei Jahren die Fördermittel
ren statt erzwungene Arbeitslosigkeit.
für Energieeinsparmaßnahmen auf 110 Millionen DM
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE fast verdoppelt worden; die Vorgängerregierung der
GRÜNEN und der PDS) CDU gab nur 60 Millionen DM aus.
Notwendig ist es dann z. B. auch, die viel zu hohen Auch in der Steuerpolitik werden Sie an einer
Lohnnebenkosten dadurch zu senken, daß man nicht Stärkung des Umweltgedankens nicht vorbeikom-
mehr den Beitragszahlern in zweistelliger Milliarden- men. Der Kanzler sagt, dieses Land müsse fit gemacht
größe — wie durch diese Bundesregierung gesche- werden für das 21. Jahrhundert. Da hat er sicher
hen — Kosten für Aufgaben aufbürdet, bei denen es Recht. Aber dazu gehört dann doch z. B. auch eine
sich um allgemeine staatliche Aufgaben handelt, an ökologische Steuerreform. Wir Sozialdemokraten
denen sich alle beteiligen müßten. Alle fordern dies: hatten konkrete Vorschläge gemacht, wie man die
die Gewerkschaften, die Unternehmer, die Fachleute. Lohnsteuerzahler entlastet und gleichzeitig die Ener-
Es wird Zeit, daß die Bundesregierung für diese Art gie verteuert. Wären Sie unseren Vorschlägen gefolgt,
Senkung der Lohnnebenkosten endlich konkrete Vor- wären die Nettolöhne höher und wäre das Existenz-
schläge macht. minimum schon heute steuerfrei. Statt dessen haben
Sie uns beschimpft, gleichzeitig aber die Mineralöl-
(Beifall bei der SPD) steuer um sage und schreibe 55 Pfennig je Liter
Daß dieser Haushalt nicht zukunfts-, sondern ver- erhöht,
gangenheitsorientiert ist, zeigt sich auch an anderer (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)
Stelle. Die Ausgaben für Energieeinsparprogramme
und regenerierbare Energiequellen nehmen nicht ohne die Lohn- und Einkommensteuer zu senken, was
etwa zu, sondern sie nehmen ab. wir als Sozialdemokraten vorgesehen hatten.

(Zuruf von der SPD: Unglaublich!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das ist schlecht für die Umwelt, und das ist auch
schlecht für die Arbeitsplätze. Ein solches phantasieloses Abkassieren ist keine
Reformpolitik.
- Ein Beispiel: Die Japaner hatten ein 70 000
Auch wenn Sie heute hundertmal nein zur ökologi-
Dächer-Solarenergieprogramm. Wir in Deutschland
schen Steuerreform sagen: Sie ist richtig, sie wird
hatten dagegen nur ein Miniprogramm. Da braucht
kommen. Mittlerweile unterstützen auch Teile der
sich doch keiner zu wundern, daß ein Solarenergie-
Wirtschaft sie. Hier paßt das berühmte Wort von Willy
auftrag der Saudis über mehrere hundert Millionen
Brandt wirklich besonders gut: „Wer morgen sicher
DM an die Japaner ging, weil die in dieser Frage
leben will, muß heute für Reformen sorgen. " Die
einfach weiter sind. Ich bin aber der festen Überzeu-
ökologische Steuerreform gehört dazu.
gung: Nicht das Land, das die besten U-Boote und die
besten Panzer, sondern das Land, das die besten (Beifall bei der SPD)
Energieeinspar- und Umweltschutztechnologien pro- Warum können Sie mit uns eigentlich nicht kleine
duziert und exportiert, wird im Jahr 2000 weltweit die Schritte in die richtige Richtung machen, so z. B. die
Nase vorn haben. Kilometerpauschale durch eine Entfernungspau-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schale ersetzen, die jedem Arbeitnehmer zur Verfü-
GRÜNEN und der PDS — Dr. Wolfgang gung steht, egal wie er sich zu seinem Arbeitsort
Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das eine schließt begibt? Das wäre ein wirksamer Anreiz für die Benut-
das andere nicht aus!) zung des öffentlichen Personennahverkehrs oder für
die Bildung von Fahrgemeinschaften,
Auch in Deutschland haben wir längst nicht alle
Energieeinsparpotentiale ausgeschöpft. (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
[CDU/CSU]: Habt Ihr schon einmal etwas
(Zuruf von der CDU/CSU: Zum Beispiel die von Steuervereinfachung gehört?)
Kernkraftwerke!)
weil dann jeder Beifahrer seine Entfernungspau-
Ich darf daran erinnern, daß wir in den 70er Jahren ein schale erhielte. Übrigens wäre das auch ein wichtiger
sehr erfolgreiches Programm zum Einbau von Doppel- Beitrag zur Vereinfachung des Steuerrechts.
fenstern aufgelegt haben. Mit Hilfe eines Zuschusses
haben damals Hunderttausende von Menschen Dop- (Hansgeorg Hauser [Rednitzhembach]
pelfenster eingebaut, Energie gespart und Arbeits- [CDU/CSU]: Von wegen!)
plätze geschaffen — ein besonders gutes Beispiel für Und warum gibt es eigentlich immer noch eine
die Verbindung von Arbeit und Umwelt. Mineralölsteuerbefreiung für Flugbenzin, für die
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 327

Ingrid Matthäus-Maier
gewerbliche Binnenschiffahrt oder die Gasölbetriebs- Aber sparen kann man das doch nun wirklich nicht
beihilfe? Einen Teil davon wird man nur auf europäi- nennen, Herr Waigel.
scher Ebene regeln können, aber man muß es endlich
(Beifall bei der SPD — Helmut Wieczorek
anpacken.
[Duisburg] [SPD]: Versilbern nennt man so
(Beifall bei der SPD) etwas! — Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Dann
machen Sie doch wenigstens bei unseren
Außerdem zeigen diese Beispiele, daß Umwelt- Sparvorschlägen mit!)
schutz nicht immer nur Geld kosten muß, sondern
Außerdem sind die vorgesehenen 58,6 Milliarden
durchaus auch Geld bringt. Daß das Bundesverfas-
DM an neuen Schulden angesichts einer guten Kon-
sungsgericht Sie durch die Entscheidung zum Kohle-
junktur auch nicht gerade ein Pappenstiel. Von den
pfennig, den es als verfassungswidrig eingestuft hat,
beiden letzten Jahren abgesehen ist das die dritthöch-
zwingt, endlich ernsthafter als bisher an die Energie-
ste Neuverschuldung des Bundes.
steuer heranzugehen, ist sicher zu begrüßen.
(Zurufe von der SPD: Ja! — Richtig!)
Da wir gerade bei der Kohle sind: Daß Sie die
Zweidrittelbeteiligung des Bundes an der Kokskoh- Wenn Sie einmal keinen neuen Schuldenrekord auf-
lenbeihilfe im Haushalt 1995 auf 50 % herunterfah- stellen, dann ist das doch kein Grund, das gleich als
ren, ist ein Verstoß gegen die Kohlerunde 1991. Wir Haushaltskonsolidierung zu feiern, meine Damen und
fordern Sie auf: Nehmen Sie diesen Vertrauensbruch Herren.
gegenüber den Arbeitnehmern in der Montanindust- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
rie und ihren Familien zurück! DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wie ernst selbst in Regierungskreisen die Finanz-
der PDS) lage des Staates eingeschätzt wird, hat doch erst
jüngst ein Papier aus dem Bundeskanzleramt gezeigt,
Was die dringend notwendige Konsolidierung des das dringend vor einem 30-Milliarden-Loch gewarnt
Bundeshaushaltes angeht, so ist das Ergebnis auch hat. Dieses Papier stammt doch aus dem Bundeskanz-
außerordentlich mager. Sie sagen, Ihr Haushalt sei ein leramt, nicht von Sozialdemokraten!
Sparhaushalt, weil er nur um 0,9 % steige; Sie haben
das eben wiederholt. Das liegt doch aber nur an einer (Dr. Peter Struck [SPD]: Kohl hat das
Bilanzierungsänderung. Knapp 30 Milliarden DM des gemacht!)
Bundes für die neuen Länder wurden in 1994 auf der Wenn der Herr Bundesbankpräsident Tietmeyer
Ausgabenseite verbucht, während sie 1995 als Steuer- wenige Tage vor den Haushaltsberatungen mahnt,
mindereinnahmen außen vor bleiben. Wenn man dies eine Besserung in der mittelfristigen Finanzplanung
berücksichtigt, dann beträgt die Steigerungsrate Ihres sei nicht zu erkennen und der Ausstieg aus der — so
Haushaltes mehr als 7 % statt der ausgewiesenen 1 %. wörtlich — „Verschuldungsfalle" dürfe nicht schei-
Mit Sparen hat das nichts zu tun. tern, dann ist das nun wirklich ein Alarmzeichen.
Herr Waigel, da Sie mir das nicht abnehmen, darf Die Finanzkrise des Staates hat mittlerweile drama-
ich einmal die „Welt", die uns ja nun nicht gerade tische Ausmaße angenommen: ein öffentlicher Schul-
nahesteht, von heute morgen zitieren. Dort heißt es in denberg von insgesamt 2 Billionen DM, davon 1,4 Bil-
einer Überschrift: „Ein Stabilitätshaushalt, der nur so lionen DM — das sind 70 % — allein beim Bund. Die
aussieht, aber keiner ist". Recht hat die „Welt", meine Verschuldung pro Kopf der Bevölkerung beträgt zum
Damen und Herren. Jahresende insgesamt etwa 27 000 DM. Das heißt,
Ende 1995 wird eine vierköpfige Familie eine Staats-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schuld in Höhe von 108 000 DM auf dem Buckel
der PDS) haben.
Dann ist Herr Waigel stolz, daß die Neuverschul- Eine Politik, die über einen dauernden Anstieg der
dung um etwa 10 Milliarden DM geringer ausfällt als öffentlichen Gesamtverschuldung zugleich auch den
vorgesehen. Das begrüßen wir ausdrücklich. ständigen Anstieg der Zinsbelastung billigend in Kauf
nimmt, verzichtet aber darauf, die Zukunft aktiv zu
(Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele gestalten, meine Damen und Herren.
[F.D.P.])
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Aber auch dies hat doch mit echter Konsolidierung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
nichts zu tun.
Das ist ja das Entscheidende: Auch diejenigen, die
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So ist sagen, die Investitionsquote sei doch hoch, und das
es!) mache man ja alles für die Zukunft, dürfen nicht
vergessen, daß diese enorme Verschuldung zu einer
Denn zum einen hat sich der Finanzminister den Trick enormen Zinsbelastung führt. Auf diese Schulden
einfallen lassen, durch eine Vorverlegung des Fällig- zahlt nämlich allein der Bund 1995 fast 100 Milliarden
keitstermins bei der Mineralölsteuer zum Jahresende DM an Zinsen. Das ist ein Viertel aller Steuereinnah-
einmalig das Steueraufkommen 1995 um 2,6 Milliar- men des Bundes. Ich darf Sie daran erinnern, daß das
den DM zu liften. Zum anderen werden 13 Milliarden Bundesverfassungsgericht bei anderer Gelegenheit
DM durch Privatisierungen erzielt. „Waigels einmali- eine Zins Steuer Quote von 24 % als Haushaltsnot-
- -

ger Geldsegen", schreibt die „Wirtschaftswoche". lage bezeichnet hat. Das schreiben Sie sich einmal
328 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ingrid Matthäus-Maier
hinter die Ohren, Herr Waigel: Eine Haushaltsnotlage sich bei Helmut Schmidt öffentlich zu entschuldigen,
des Bundes wäre die Folge! meine Damen und Herren?
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
der PDS) der PDS)
Die gesamte öffentliche Hand, also die anderen Da wir gerade beim Entschuldigen sind: Wissen Sie
Gebietskörperschaften und die Nebenhaushalte da noch, wie Sie Helmut Schmidt mit dem angeblichen
zugenommen, zahlt 1995 145 Milliarden DM an Zin- Pleitenrekord gejagt haben? Gestern konnten wir
sen. Zum Vergleich: Der ganze Bundeshaushalt für lesen: über 20 000 Pleiten allein in den alten Bundes-
Umwelt beträgt 1,4 Milliarden DM. Obwohl der Staat ländern, unter Ihrer Bundesregierung!
in jeder Minute 1,6 Millionen DM an Steuern ein-
nimmt, macht er zusätzlich in jeder Minute 340 000 (Zuruf von der SPD: In einem Jahr!)
DM neue Schulden und zahlt für seine Schulden in Da finde ich, daß Sie einmal in sich gehen und merken
jeder Minute 280 000 DM Zinsen. Meine Damen und sollten, wie unfair Sie den ehemaligen Bundeskanzler
Herren, das muß uns doch parteienübergreifend behandelt haben.
besorgt machen: in jeder Minute 280 000 DM Zinsen!
Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der
versündigen wir uns an den nachfolgenden Genera- CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Der
tionen, weil die dann kein Geld mehr haben werden, arme Herr Schmidt!)
um Politik zu machen.
Die Schulden, so sagt die Bundesregierung, seien
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die notwendigen Folgen der deutschen Einheit. Das
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der ist nun wirklich nicht zutreffend. Niemand bestreitet,
PDS — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] daß die deutsche Einheit eine so große Herausforde-
[F.D.P.]: Die stoppen wir ja, allerdings gegen rung darstellt, daß sie vorübergehend eine höhere
Ihren Widerstand!) Nettokreditaufnahme rechtfertigt. Selbstverständ-
Noch bedrohlicher als der Schuldenstand ist die lich! Aber das konnte doch kein Freibrief für eine so
Dynamik der Staatsverschuldung. Alle 13 Finanzmi- maßlose Staatsverschuldung sein. Der Herr Bundes-
nister in den 40 Jahren von 1949 bis zur Amtszeit von kanzler sagt heute dazu gerne beschwichtigend, alle
Herrn Waigel haben in diesen Jahren zusammen nicht hätten sich damals getäuscht. Nein, meine Damen und
soviel neue Schulden wie der Herr Waigel allein in Herren, diese Geschichtsklitterung lassen wir nicht
den fünf Jahren seiner Amtszeit gemacht. zu.

(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Zuruf von (Beifall bei der SPD)
der CDU/CSU: Er hat auch die Einheit ge Ich darf daran erinnern, daß es schließlich Sozialde-
managt!) mokraten waren, die bereits im Wahlkampf 1990 mit
Da Sie, Herr Bundesfinanzminister, zugleich CSU- Entschiedenheit darauf hingewiesen haben, daß die
Vorsitzender sind, darf ich Ihnen eine CSU-Wahl- deutsche Einheit dreistellige Milliardenbeträge ko-
kampfanzeige gegen den damaligen Bundeskanzler sten würde, was von Ihnen immer als Horrorzahl
Helmut Schmidt aus dem Jahr 1980 in Erinnerung zurückgewiesen wurde. Aber unsere angeblichen
bringen. Darin hieß es wörtlich: Horrorzahlen sind doch von der Wirklichkeit längst
übertroffen worden. Es mag sein, daß sich der Herr
Endstation Staatsbankrott: Die Gesamtverschul- Bundeskanzler über das Gesamtvolumen der Kosten -
dung der öffentlichen Haushalte liegt jetzt annä- getäuscht hat, aber in erster Linie hat der Herr
hernd bei der Ziffer, welche uns Hitler als Ergeb- Bundeskanzler nicht sich getäuscht, sondern er hat die
nis seines Wahnsinnskrieges hinterlassen hatte, Wähler getäuscht, als er vor der Wahl sagte: keine
bei über 400 Milliarden DM.
Steuererhöhungen für die deutsche Einheit, und
(Zurufe von der SPD: Hört! Hört! — Unglaub danach kamen die größten Steuer- und Abgabenerhö-
lich!) hungen.
Herr Waigel, abgesehen davon, daß dieser Vergleich (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
absolut geschmacklos war, will ich hier einmal die der PDS)
Zahlen darstellen.
Daß diese enorme Staatsverschuldung nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwangsläufige Folge der deutschen Einheit war, sieht
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der man an drei einfachen Beispielen:
PDS)
Erstens. Hätten Sie nicht schlimme wirtschaftspoli-
Als Helmut Schmidt von Ihnen gestürzt wurde, tische Fehler bei der deutschen Einheit gemacht,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Zuruf von wären die Kosten zweifellos geringer gewesen. Jeder-
der CDU/CSU: Der Arme Helmut!) mann in diesem Lande weiß, daß allein die unselige
Eigentumsregelung — Rückgabe vor Entschädi-
betrug nach zwei Erdölkrisen die Verschuldung des gung Investitionen um Jahre verzögert und damit
Bundes 390 Milliarden DM. Heute beträgt die Ver- zu Milliardenverlusten geführt hat.
schuldung des Bundes 1 400 Milliarden DM. Sie
haben während der Amtszeit Ihres Bundeskanzlers (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die Verschuldung des Bundes um 1 Billion DM erhöht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Meinen Sie nicht, daß es langsam an der Zeit wäre, PDS)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 329

Ingrid Matthäus-Maier
Zweitens. Hätten Sie früher, wie von uns gefordert, desverwaltung eine Schrumpfkur von 1 % Personal
beim Verteidigungshaushalt zu kürzen begonnen, abbau pro Jahr verordnet, selber aber mit einer
dann hätten auch Milliarden gespart werden kön- Mammutriege von über 70 Regierungsmitgliedern in
nen. die neue Legislaturpe ri ode geht: ein Kanzler, 17 Mi-
Drittens. Hätte die Bundesregierung den Solidari- nister und ein Heer von über 50 Staatssekretären?
tätszuschlag nicht Mitte 1992 auslaufen lassen, son- Mein Eindruck ist: Die Größe dieser Regierung steht in
dern ihn, wie alle Experten und auch meine Partei umgekehrtem Verhältnis zu der Qualität ihrer Arbeit.
gefordert hatten, für Einkommen oberhalb einer Deswegen sollten Sie da endlich abspecken.
Grenze von 60 000 DM bei Ledigen bzw. 120 000 DM (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
bei Verheirateten auch für die Jahre 1993 und 1994 DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
beibehalten, dann hätte uns das allein 40 bis 50 Mil- PDS)
liarden DM Schulden erspart. Das wären schon jetzt
ein paar Milliarden DM weniger Zinsen, meine Sparen heißt außerdem, daß man nicht Dinge
Damen und Herren. anschafft, für die man kein Geld hat. Damit bin ich
beim Jäger 90.
(Beifall bei der SPD)
(Zuruf von der CDU/CSU: Endlich!)
Nein, die Schuldenfalle, in der wir sitzen, ist in
großem Maße hausgemacht. Warum war es z. B. nicht Sie sagen: Oje, oje, jetzt kommt die Frau Matthäus-
möglich, in Zeiten guter Welt- und Binnenkonjunktur Maier mit dem Jäger 90! Aber ich sage Ihnen: Wir
in den 80er Jahren den Schuldenstand wenigstens können doch nicht aufhören, das Richtige zu fordern,
einmal abzubauen, statt ihn ständig auszuweiten? nur weil Sie nicht aufhören, das Falsche zu tun.
Warum konnten nicht wenigstens die über 130 Milli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
arden DM Bundesbankgewinne, von denen Sie ver- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
sprochen hatten, nie und nimmer würden Sie sie PDS)
kassieren, nicht voll und ganz in den Abbau der
Staatsverschuldung gesteckt werden? Schon die Billigversion des Jäger 90 soll 100 Millio-
nen DM pro Stück kosten. Übrigens, wie Herr Rühe so
Nein, am Sparen, am Kürzen, am Gürtel-enger- argumentiert, hat man das Gefühl, man würde sich
Schnallen, führt kein Weg vorbei. Aber Vorsicht: geradezu ein Schnäppchen entgehen lassen, wenn
Unter dieser Bundesregierung fordern meist diejeni- man nicht ein Flugzeug für 100 Millionen DM pro
gen dazu auf, den Gürtel enger zu schnallen, die Stück kauft.
selber Hosenträger anhaben. Das kann nicht funktio-
nieren. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Anke
Fuchs [Köln] [SPD]: Winterschlußverkauf!)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Für einen einzigen Jäger 90 könnte man 1 000 Sozial-
PDS) wohnungen bauen. Da kann ich nur sagen: Wir
brauchen endlich ausreichend Sozialwohnungen und
Sparen ist nur dann glaubwürdig, wenn es dabei haben kein Geld für den Jäger 90, und dabei
gerecht zugeht. Ich nenne nur zwei Beispiele, wie man bleibt's!
nicht sparen darf:
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Das eine Beispiel: Das Kürzungspaket dieser Bun- GRÜNEN und der PDS)
desregierung in Höhe von 20 Milliarden DM vom
letzten Jahr, bei dem der Herr Bundeskanzler, der Das Verschieben von Kosten auf andere öffentliche -
Herr Bundesfinanzminister und die Frau Matthäus Haushalte ist auch kein Sparen, sondern ein finanz-
Maier nicht eine einzige Mark zu den Kürzungen politisches Schwarzer-Peter-Spielen. Dazu gehört der
beitragen mußten, wohl aber Arbeitslose, Familien Vorschlag der Bundesregierung zur Kürzung der
mit Kindern und Sozialhilfeempfänger zur Kasse Arbeitslosenhilfe. Damit würden Hunderttausende
gebeten wurden, ein solches Kürzungspaket ist nicht von Langzeitarbeitslosen in die Sozialhilfe geschoben
gerecht und daher unglaubwürdig — und eine Regie- und Kosten von vier bis sechs Milliarden DM auf die
rung, die es vorlegt, auch. Gemeinden verlagert.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zurufe von der SPD: Richtig!)
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Eine solche Politik der Verschiebebahnhöfe lehnen
PDS) wir ab. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie Probleme
Oder: Ein Bundeskanzler, der den schlanken Staat lösen, aber nicht, daß Sie die Probleme weiterschie-
verordnet, ben nach dem Motto: Bundeshaushalt saniert,
Gemeindefinanzen ruiniert.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Er hat auch
Hosenträger!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dann zwei Ministerposten einspart — was wir begrü-
PDS)
ßen —, aber zugleich das Heer der Staatssekretäre
wieder um eine Stelle vergrößert, ein solcher Bundes- Zu einer soliden Finanzpolitik gehört auch, daß der
kanzler ist ebenfalls nicht glaubwürdig. Staat die Steuern, die ihm zustehen, wirklich erhebt
und Steuerhinterziehung und Mißbräuche be-
Was meinen Sie eigentlich, was die Mitarbeiter der
kämpft.
Bundesverwaltung über die Vorbildfunktion einer
Regierung denken, wenn diese Regierung der Bun (Beifall bei der SPD)
330 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ingrid Matthäus-Maier
Darauf haben die ehrlichen Steuer- und Beitragszah- Können Sie mir sagen, wie bei einem Sozialhilfeemp-
ler ein Recht, weil sonst die Ehrlichen durch höhere fänger, der versucht, statt der ihm zustehenden
Steuern und Beiträge für die Mißbräuche und Steuer- 560 DM im Monat 20 DM mehr zu erschleichen — was
hinterziehungen der Unehrlichen mitbezahlen müs- sicher nicht rechtens ist —, ein Unrechtsbewußtsein
sen. Wenn der Staat nicht entschlossen gegen Miß- entstehen soll,
brauch vorgeht, untergräbt er auch die Akzeptanz des (Zuruf von der CDU/CSU: Sie antworten
Steuer- und Abgabensystems. Mißbrauch muß also doch gar nicht!)
bekämpft werden — das sage ich nicht erst seit
heute —, auch im sozialen Bereich. wenn er in der Zeitung liest, daß der ehemalige
Regierungssprecher Peter Boenisch wegen Steuerhin-
Allerdings geht diese Aufforderung nicht nur an
terziehung zu 1 Million DM Steuerstrafe verurteilt
Arbeitnehmer, sondern auch an Arbeitgeber. Der
worden ist?
größte Teil des Sozialmißbrauchs kann doch über-
haupt nur funktionieren, weil Arbeitgeber z. B. bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
illegaler Beschäftigung oder bei Schwarzarbeit aktiv der PDS — Widerspruch bei der CDU/
beteiligt sind, wie der Bericht der Bundesregierung CSU)
über Mißbrauch in der Arbeitsverwaltung vor weni- Das bedeutet: etwa eine halbe Million DM hinterzo-
gen Monaten erst gezeigt hat. gene Steuern. Um auf diese halbe Million zu kommen,
(Beifall bei der SPD) müssen eine Menge Sozialhilfeempfänger ganz schön
Außerdem muß die Bundesregierung viel entschlos- betrügen, meine Damen und Herren.
sener als bisher gegen Steuerhinterzieher und Sub- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ventionsbetrüger vorgehen, zumal die Summen, um des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
die es hier geht, den Mißbrauch im Sozialbereich bei PDS)
weitem in den Schatten stellen.
Können Sie mir sagen, wie ein Unrechtsbewußtsein
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten entstehen soll, wenn der Sozialhilfeempfänger außer-
der PDS) dem noch in der Zeitung liest, daß der Herr Bundes-
Wenn der Baulöwe Schneider, wie in den Zeitungen kanzler eben diesen Mann Anfang des Jahres zu
zu lesen, jahrelang keine Steuern gezahlt hat, wenn seinem persönlichen Wahlkampfberater Nr. 1 berufen
Herr Flick nach Österreich geht, um sich seiner hat, meine Damen und Herren?
Steuerpflicht in Deutschland zu entziehen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Dr. Peter Struck [SPD]: Unglaublich!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
wenn Fußballprofis nach Belgien umziehen, um in den PDS)
Genuß der geringeren Pauschalbesteuerung zu gera- Wie soll ein Unrechtsbewußtsein entstehen, solange
ten, und Fernsehmoderatoren ihnen folgen, wenn in diesem Lande Schmiergelder, auf deutsch: Beste-
außerdem noch die Bundesregierung diese Steuer- chungsgelder, steuerlich absetzbar sind? Nein, meine
schlupflöcher nicht schließt, dann unterhöhlt das die Damen und Herren, der Fisch stinkt vom Kopfe: Oben
Steuermoral in diesem Lande. werden die schlechten Beispiele gesetzt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS) PDS)
Es wäre die Aufgabe der Eliten in diesem Lande,
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus- diesem Verfall der Steuermoral durch persönliches
Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Vorbild und durch Verantwortungsgefühl ein Ende zu
setzen. Wir Sozialdemokraten jedenfalls werden nicht
zulassen, daß eine Schieflage entsteht, bei der der
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja.
Sozialmißbrauch lauthals angeprangert wird, Steuer-
hinterziehung und Subventionsbetrug aber als Kava-
Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Frau Kollegin, liersdelikte durchgehen. Beides muß bekämpft wer-
würden Sie in diese Aufzählung auch die öffentlich- den!
rechtlichen Kreditinstitute in Luxemburg aufneh- (Beifall bei SPD)
men, die tatkräftig mithelfen, daß Steuerhinterzie-
hungstatbestände organisiert werden können, selbst Speziell bei der Bekämpfung der Steuerhinterzie-
dann, wenn Finanzminister wie Herr Schleußer Ver- hung bei der Zinsbesteuerung hat sich Herr Waigel
waltungsratsvorsitzende sind? nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Jedermann weiß,
daß dem Staat Jahr für Jahr Milliarden DM an
Zinsbesteuerung verlorengehen. Auch unter der
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Sie werden an einer deutschen Präsidentschaft in der Europäischen Union
anderen Stelle meiner Rede merken: Daß sich alle hat sich das trotz aller Versprechen nicht geändert.
Kreditinstitute bezüglich „Zinsbesteuerung und Lu-
xemburg" nicht mit Ruhm bekleckert haben, ist Aber, Herr Bundesfinanzminister, Sie können sich
nicht einfach hinter Luxemburg verstecken; denn Sie
bekannt.
haben doch der Steuerverwaltung durch die Ände-
Aber, Herr Schauerte, jetzt geht es weiter: rung der Abgabenordnung ganz bewußt die Möglich-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war doch keit genommen, wirksam gegen diese Steuerhinter-
keine Antwort!) ziehung vorgehen zu können.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 331

Ingrid Matthäus-Maier
Der Arbeitnehmer wird von dieser Regierung in dreimal soviel wert sein sollen wie die Kinder kleiner
einer noch nie dagewesenen Höhe durch Steuern und Leute.
Abgaben geschröpft. Aber wenn einer im Monat an
Zinsen so viel verdient, wie ein normaler Arbeitneh- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
mer in einem ganzen Jahr an Lohn oder Gehalt GRÜNEN und der PDS)
bekommt, stehen ihm die Scheunentore für die Zweites Gegenargument: Bei unserem Vorschlag
Steuerflucht weit offen, und die deutsche Kreditwirt- würden Familien mit Kindern angeblich schlecht
schaft steht im Zweifel zur Hilfe bei der Kapital- und behandelt, weil sie genausoviel Steuern zahlen müß-
Steuerflucht bereit. Dies muß endlich ein Ende ten wie Familien ohne Kinder. Auch das ist Unsinn.
haben. Wir sehen ausdrücklich den Abzug von der Steuer-
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schuld vor. Das heißt, daß ein Arbeitnehmer, der zwei
GRÜNEN und der PDS) Kinder hat, im Monat 500 DM weniger Lohnsteuer
zahlen würde als sein Kollege ohne Kinder. Dies wäre
Dies führt nicht nur zu Steuerausfällen in Milliar- auch eine enorme Vereinfachung des Steuerrechts
denhöhe. Für mindestens genauso gefährlich halte ich sowie der Verwaltung. Jeder Bürger würde wissen,
die Stimmung, die sich langsam im Lande verbreitet: wieviel ihm für sein Kind zusteht. Dies spart auch
Der Ehrliche ist der Dumme; wenn er Steuern zahlt, ist Kosten. Die meisten von Ihnen wissen sicher nicht, daß
er eigentlich nicht ganz dicht. Ich sage Ihnen: Eine allein im Haushaltsentwurf 1995 650 Millionen DM
Regierung, die zuläßt, daß der ehrliche Steuerzahler dafür vorgesehen sind, daß der Bund der Bundesan-
meint, er sei der Dumme, untergräbt die Grundlagen stalt für Arbeit die Kosten für die Auszahlung des
unseres Gemeinwesens. Deshalb muß dies schleu- Kindergeldes erstattet.
nigst gestoppt werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der SPD: Unglaublich!)
DIE GRÜNEN) Das ist sicher unsinnig.
Angesichts der Zinsfalle, in die Sie uns hineinma-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das müssen Sie
növriert haben, kommt dem Umschichten im Haushalt
den Ländern sagen!)
eine besondere Bedeutung zu. Als wichtigstes Bei-
spiel für intelligentes und sozial gerechtes Umschich- Drittes Gegenargument: Unser Vorwurf, Kinderfrei-
ten nenne ich die nötige Verbesserung des Familien- beträge seien unsozial, stimme nicht. Dies ist nun ganz
leistungsausgleichs. Die Familien mit Kindern kom- einfach zu widerlegen. Der heutige Kinderfreibetrag
men bei dieser Bundesregierung unter die Räder. in Höhe von etwas über 4 000 DM führt dazu, daß
Auch 1995 werden sie vergeblich darauf warten, daß jemand mit niedrigem Einkommen daraus eine Entla-
die verfassungsrechtlich gebotene Entlastung wirk- stung von 65 DM im Monat erhält, ein Spitzenverdie-
lich stattfindet. ner — das ist nach unserer Definition derjenige, der
Hat nicht gerade erst die Denkschrift der beiden den Spitzensteuersatz zahlt, der im Jahr also mehr als
Kirchen beklagt, daß Kinder immer mehr zu einem 240 000 DM verdienen muß — jedoch für sein Kind
Armutsrisiko für die Familien werden? — Dies ist eine Entlastung von 181 DM im Monat erhält. 65 DM
übrigens ein Armutszeugnis für zwölf Jahre Regie- für das Kind kleiner Leute, 181 DM für das Kind von
rung Kohl. Spitzenverdienern: Da bekommen also die Spitzen-
verdiener 116 DM mehr an Entlastung für ihr Kind im
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Monat. Hier gilt doch der Satz: „Wer hat, dem wird
GRÜNEN und der PDS) gegeben" oder, um es einmal mit Luther zu sagen -
Wir schlagen Ihnen eine Anhebung des Kindergel- — das ist Luther, das bin nicht ich —:" Der Teufel
des auf 250 DM vom ersten Kind an sowie eine scheißt immer auf den größten Haufen." Das ist hier
Erhöhung ab dem vierten Kind auf 350 DM als Abzug offensichtlich der Fall.
von der Steuerschuld vor, solide finanziert durch das
Ersetzen des Kinderfreibetrages bei der Steuer und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
durch eine maßvolle Begrenzung des Ehegattensplit-
PDS)
tings. Die von Ihnen dagegen immer wieder vorge-
brachten Gegenargumente sind nicht stichhaltig. Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe ein Gesetz mit
Erstes Gegenargument: Unser Vorschlag sei angeb- der Überschrift „Entlastung für Familien mit Kindern.
lich nicht verfassungsgemäß, Karlsruhe schreibe Frei- § 1: Eltern mit niedrigem Einkommen erhalten für ihr
beträge vor. Das ist Unsinn. Das Verfassungsgericht Kind im Monat eine Entlastung von 65 DM. § 2: Eltern,
hat mehrfach festgestellt, dem Gesetzgeber stehe es die im Jahr mehr als 240 000 DM verdienen, erhalten
ausdrücklich frei, „die kinderbedingte Minderung der für ihr Kind im Monat eine Entlastung von 181 DM."
Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu Dann würden die Menschen alle meinen, wir hätten
berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht sie nicht mehr alle, es seien in den Paragraphen die
durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Zahlen vertauscht worden.
Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!)
Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das
Kindergeld miteinander zu kombinieren." Das heißt, Aber die Zahlen sind nicht vertauscht worden. Das ist
daß nach unserer Verfassung mehrere Modelle mög- exakt die Wirkung des Kinderfreibetrages. Wenn Sie
lich sind. Verstecken Sie sich also nicht hinter Juriste es uns Sozialdemokraten nicht glauben: Bitte schla-
reien wenn Sie aus ideologischer Verbohrtheit darauf gen Sie in der Denkschrift der beiden Kirchen nach.
beharren, daß Kinder reicher Leute dem Staat fast Dort steht wörtlich:
332 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ingrid Matthäus-Maier
Als eine sozialstaatliche Fehlentwicklung ist es Gunnar Uldall (CDU/CSU): Frau Matthäus-Maier,
auch anzusehen, daß ... Kinderfreibeträge . . . ist Ihnen nicht klar, daß bei unserem heutigen Steu-
die Begünstigten um so mehr entlasten, je höher ersystem bei jeder Progression jeder Freibetrag einen
ihr steuerpflichtiges Einkommen ist. größeren Vorteil bietet, je höher die Steuersätze
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind?
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten
PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Matthäus-
— Nun hören Sie einmal zu! Vielleicht kann ich diese
Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Uldall? erhellende Frage für Ihre Kollegen jetzt einmal zu
Ende stellen.
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Ja. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein)
Wird nicht durch den Solidaritätszuschlag, der von
Gunnar Uldall (CDU/CSU): Frau Kollegin, wäre es den Spitzenverdienern zu zahlen ist, die vermeintli-
dann nicht das einfachste, den Spitzensteuersatz so che Ungerechtigkeit noch größer werden? Der eine
abzusenken, daß die von Ihnen vorgegebene Bevor- muß mehr zahlen und erhält dadurch angeblich einen
zugung dadurch verringert werden würde? größeren Vorteil. Können Sie diese Widersinnigkeit
(Lachen bei der SPD) bitte einmal erläutern?
Um dies zu erläutern: Die von Ihnen vorgegebenen (Unruhe bei der SPD)
Vorteile des Spitzenverdieners mit einem Einkommen
von 240 000 DM kommen — so dürfte Ihnen bekannt
sein, Frau Matthäus-Maier — nur dadurch zustande,
daß der eine eben 19 % und der andere 53 % Steuern Ing rid Matthäus-Maier (SPD): Herr Uldall, da ich Sie
zahlt. persönlich schätze, ist es mir ein bißchen unange-
nehm, daß Sie das, was ich soeben erläutert habe,
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Uldall, daß in nicht verstanden haben.
Ihrem Kopf herumspukt, Spitzensteuersätze zu sen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
ken, und zwar in einer Zeit, in der Sie die kleinen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
Leute verfassungswidrig hoch besteuern, das weiß ich PDS)
schon. Das machen Sie immer so.
Denn Ihr Satz — ich sehe doch , daß alle Steuerpoli-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tiker in Ihrer Fraktion sich schon über Ihre Frage
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) heimlich die Haare raufen —,
Aber jetzt ernsthaft: Sie wollen doch, um es einmal
(Heiterkeit bei der SPD — Joseph Fischer
steuersystematisch auszudrücken, uns die Frage stel-
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
len: Muß es nicht so sein, daß dann, wenn ein
Zum Raufen ist da doch nichts mehr!)
Steuersystem progressiv wirkt, also mit steigendem
Einkommen belastender wird, auch die Entlastung für jeder Steuerfreibetrag würde höhere Einkommen
Kinder progressiv ist? Wieso denn eigentlich? stärker entlasten als kleinere, ist mit dem Beispiel des
Schauen Sie sich doch einmal den Grundfreibetrag Grundfreibetrages nun wirklich widerlegt.
an. Dieser Grundfreibetrag für alle befreit theoretisch (Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Der Grundfrei--
— das reicht bei Ihnen nicht; das müssen wir ändern — betrag ist kein Freibetrag!)
das Existenzminimum von der Steuer. Der Grundfrei-
betrag, der also unser aller Existenzminimum freistel- — Aha. Sie sagen, der Grundfreibetrag sei kein
len soll, wirkt aber nur linear. Auf Deutsch: Die Freibetrag. Deshalb heißt er ja wohl auch „Grundfrei-
Entlastung ist für alle Menschen gleich hoch. Warum betrag", weil er kein Freibetrag ist.
muß denn die Entlastung für alle gleich hoch sein? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Also, Frau Mat des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
thäus-Maier — —) PDS)
— Das paßt Ihnen nicht — das weiß ich wohl —, weil Herr Uldall, ich würde sagen: Setzen, Fünf.
sowohl für jeden mit normalem Menschenverstand als
auch steuersystematisch Ihre Position verkehrt ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
(Beifall bei der SPD —Joseph Fischer [Frank PDS)
furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen!
Sechs! — Abg. Gunnar Uldall [CDU/CSU] Aber da Sie, Herr Uldall, mich nun gereizt haben, in
meldet sich zu einer weiteren Zwischen- die Steuersystematik einzusteigen — nein, nein, blei-
frage) ben Sie ruhig stehen; ich bin noch nicht fertig mit
Ihnen;
— Ja gut, wenn Sie unbedingt noch einmal wollen,
gerne. Ich mache mit Ihnen gerne weiter, bitte. (Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeord-
(Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Wir haben es neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
schon schwer! — Helmut Wieczorek [Duis und der PDS)
burg] [SPD]: Aber so, daß wir es auch verste so geht das ja nicht —, will ich gleich weiterma-
hen!) chen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 333

Ingrid Matthäus-Maier
Das Chaos hat bei Ihnen ja Methode. Wieso? Wir 14 Jahre lang das Kind erziehen, um auf diesen
haben gerade gelernt, der Grundfreibetrag ist für alle verrückten Betrag von 22 842 DM zu kommen, den bei
in gleicher Weise entlastend, Ihnen Spitzenverdiener allein dadurch Jahr für Jahr
(Gunnar Uldall [CDU/CSU]: Der Grundfrei erhalten, daß sie heiraten. Dazu sage ich: Nein, meine
betrag ist kein Freibetrag!) Damen und Herren. Unser Angebot liegt auf dem
Tisch. Beschließen Sie mit uns gemeinsam ein Kinder-
der Kinderfreibetrag ist progressiv entlastend. Jetzt geld in Höhe von 250 DM und den Abzug von der
haben sie ja einen famosen Tarifvorschlag gemacht. Steuerschuld.
Danach soll die Grundentlastung sogar abgebaut
werden. Das nennt man steuertechnisch „regressiv", Wir verlangen das übrigens auch deswegen, damit
Herr Kollege. Das heißt, mit steigenden Einkommen endlich die verfassungswidrige Besteuerung der
nimmt die Grundentlastung sogar ab. Ich frage: Was Familien mit Kindern ein Ende hat.
ist denn das für ein Chaos bei Ihnen: bei den Kindern
progressiv, bei der Grundentlastung regressiv? (Beifall bei der SPD)
Schließen Sie sich doch besser unserem Vorschlag an.
Wir sagen: linear. Das heißt auf deutsch: für alle gleich Denn wir sind der Ansicht, es kann doch nicht länger
hoch. Ich frage Sie: Was haben Sie denn eigentlich angehen, daß die Menschen in diesem Lande zu ihren
dagegen? in der Verfassung verbrieften Rechten erst dann
gelangen, wenn sie nach Karlsruhe gehen. Wissen Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn eigentlich, daß Jahr für Jahr Millionen von
der PDS) Steuerbescheiden nur vorläufig ergehen, und zwar
Es geht mir hier wirklich um Verständigung. deshalb, weil diese Regierung verfassungswidrige
(Das rote Licht am Rednerpult leuchtet auf) Steuergesetze macht? Haben Sie schon einmal in
Ihren Einkommensteuerbescheid geguckt? Stellen
— Nein, Herr Präsident. Sie haben mir das hoffentlich
Sie sich einmal vor, was im Deutschen Bundestag los
alles von meiner Redezeit abgezogen. Es kann nicht
wäre, wenn ein sozialdemokratischer Finanzminister
sein, daß dann, wenn ich hier Nachhilfestunden gebe,
dafür verantwortlich wäre, daß Jahr für Jahr Millionen
das auf meine Redezeit angerechnet wird.
von Steuerbescheiden immer nur vorläufig ergehen?
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Das ist ein unglaublicher Vorgang, den Sie schnell-
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE stens beenden müssen.
GRÜNEN und der PDS — Dr. Wolfgang
Schäuble [CDU/CSU]: Wie geht die denn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
hier mit dem Präsidenten um?) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
PDS)
Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete, die Zu dieser verfassungswidrigen Besteuerung gehört
Uhr ist jedesmal bei Fragen und Antworten angehal- das, was Sie beim Existenzminimum machen. Wie
ten worden. Wenn Sie Ihre Rede als pädagogisch können Sie eigentlich durchs Land laufen und kriti-
auffassen, ist das Ihre Sache. sieren, daß das sogenannte Abstandsgebot zwischen
niedrigen Arbeitseinkommen und Sozialhilfe vor
allem bei Familien mit Kindern nicht eingehalten
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Meine Damen und
werde? Der Grund dafür ist doch nicht, daß die
Herren, lassen Sie uns bitte ernsthaft überlegen.
Sozialhilfe verschwenderisch üppig wäre.
Wenn es bis weit in Ihre Fraktion hinein Stimmen gibt
— Frau Süssmuth, Herr Hintze und Herr Geißler —, -
Der Grund liegt doch vielmehr darin, daß die
die sagen, das gleich hohe Kindergeld sei der bessere Bundesregierung den Menschen wegen des nach wie
Weg, dann frage ich: Warum, um Himmels willen, vor viel zu niedrigen Grundfreibetrags von nicht
können wir es dann im Deutschen Bundestag nicht einmal 1 000 DM im Monat und des viel zu niedrigen
gemeinsam beschließen? Kindergelds auch noch das Existenzminimum weg
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuert. Sie besteuern den Menschen das Gehalt so
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der stark, daß sie in die Nähe der Sozialhilfe rutschen.
PDS) Anschließend darüber zu jammern, daß das Lohnab-
Wir hätten das nötige Geld, wenn wir uns entschlös- standsgebot nicht gewahrt ist, ist nun wirklich Zynis-
sen, ein bißchen von den über 30 Milliarden DM, die mus.
das Ehegattensplitting kostet, umzuschichten — wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
sagen: etwa 12 Milliarden DM —, hin zu den Familien
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
mit Kindern.
PDS)
Ich weiß doch, daß bis weit in Ihre Fraktion die
heutige Wirkung des unbegrenzten Ehegattensplit- Diese viel zu hohe Belastung der Durchschnittsein-
tings als Ärgernis empfunden wird. Wenn z. B. ein kommen mit Steuern ist übrigens einer der Gründe,
Spitzenverdiener eine nichterwerbstätige Frau heira- warum wir Sozialdemokraten fordern, Ihren Solidari-
tet — auch umgekehrt soll es das jetzt schon einmal tätszuschlag für alle ab 1995 durch eine Ergänzungs-
geben —, dann führt allein die Heirat dazu, daß dieses abgabe nur für Einkommen oberhalb von 60 000 DM
Ehepaar im Jahr 22 842 DM spart, auch wenn in der bei Ledigen bzw. 120 000 DM bei Verheirateten zu
Ehe überhaupt kein Kind vorhanden ist. Eine Familie ersetzen. Wir wollen das natürlich mit einem gleiten-
mit niedrigem Einkommen und einem Kind muß, den Übergang. Weil das auch die Massenkaufkraft
wenn man Kindergeld und Kinderfreibetrag addiert, stärken würde und deshalb für die Konjunktur gut
334 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ingrid Matthäus-Maier
wäre, wäre es wirklich vernünftig, wenn Sie sich Spitzenverdiener. Man lebt doch nicht von Prozenten,
diesem Vorschlag anschließen könnten. sondern von D-Mark in absoluten Zahlen.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
Mit dem Vorschlag, den Herr Waigel zur Steuerfrei- Ich sage es daher in absoluten Zahlen. Eine Familie
heit des Existenzminimums gemacht hat, ist die Bun- mit einem zu versteuernden Einkommen von 60 000
desregierung zu kurz gesprungen. Die Kommentare DM würde bei Ihnen eine monatliche Entlastung von
in den Zeitungen sind entsprechend: Waigels Trick, 21 DM erhalten, Menschen mit Einkommen oberhalb
Waigel versucht es mit der Magerversion, Waigels von 240 000 DM aber eine monatliche Entlastung von
Sündenfall usw. 128 DM. Wer aber in einer Zeit, in der der Staat hinten
und vorne kein Geld hat, auch noch eine Steuersen-
Wir Sozialdemokraten kritisieren an Ihrem Tarifvor- kung für Spitzenverdiener vorschlägt, der weiß doch
schlag insbesondere folgendes: Erstens. Ihr Modell ist gar nicht mehr, wie es in den Familien zu Hause
unglaublich kompliziert. Keiner kann danach mehr aussieht.
den Steuertarif durchschauen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Zweitens. Der Steuerabzugsbetrag ist zu niedrig, GRÜNEN und der PDS)
weil er nur ein Existenzminimum von 12 000 DM bei
Alleinstehenden bzw. 24 000 DM bei Verheirateten Wir Sozialdemokraten werden in den bevorstehen-
steuerfrei stellt. Man braucht kein Steuerexperte zu den Gesetzesberatungen unsere konkreten Alternati-
sein, um zu wissen, daß ein Mensch mit 1 000 DM im ven einbringen, wobei besonders wichtig ist: erstens
Monat seinen Lebensunterhalt inklusive Miete nicht die Steuerfreiheit für Einkommen von 13 000 bzw.
bestreiten kann. Das ist Ihr Verfassungsrisiko Num- 26 000 DM. Zweitens. Die breite Masse der Durch-
mer 1. schnittsverdiener muß stärker entlastet werden als bei
Ihnen. Außerdem darf sich das Steuerrecht nicht
(Beifall bei der SPD) verkomplizieren.
Drittens. Der Abbau des Abzugsbetrages bis zu Damit komme ich am Schluß zu Ihren Gewerbesteu-
einem zu versteuernden Einkommen von 30 000 DM erplänen. Auf die Details wird der Kollege Jochen Poß
bei Ledigen bzw. 60 000 DM bei Verheirateten führt eingehen. Eine böse Ahnung beschleicht mich doch:
doch dazu, daß bei den niedrigen Einkommen ein Die Bundesregierung will die Gewerbesteuer ab-
Buckel entsteht. Ich nenne das einmal den „Kleine- schaffen, in Schritten; das ist ihr Ziel. Die Abschaffung
Leute-Belastungsbuckel von Herrn Waigel". der Gewerbesteuer würde zu einem Steuerausfall von
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rund 30 Milliarden DM netto führen. Einige von Ihnen
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — Anke fordern, diesen Steuerausfall durch eine Beteiligung
Fuchs [Köln] [SPD]: Waigel-Buckel!) der Gemeinden an der Mehrwertsteuer auszuglei-
chen. Was heißt das denn? Sie reden immer so
Das hat Karlsruhe verboten. Die Richter haben vornehm von der Beteiligung der Gemeinden. Sie
gesagt: Einen gleichheitswidrigen Progressions können aber nicht von einem Kuchen 30 Milliarden
sprung darf es nicht geben. Ich frage Sie: Wenn das DM abzwacken, ohne daß sich der Kuchen verändert.
kein Sprung ist, was ist dann noch ein Sprung, meine Das heißt doch auf deutsch, daß diese Bundesregie-
Damen und Herren? rung zum Ausgleich die Mehrwertsteuer um minde-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stens drei Prozentpunkte anheben will. Oder aber es
DIE GRÜNEN) geht nach dem Vorschlag von Herrn Schäuble. Er sagt:
Ersatz der Gewerbesteuer durch ein eigenes Hebe- -
Das ist das Verfassungsrisiko Nummer 2. satzrecht bei der Lohn- und Einkommensteuer. Das
Ich persönlich möchte hinzufügen: würde eine dramatische Anhebung bei der Lohn- und
Einkommensteuer bedeuten. Nur, damit man sich das
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ einmal klarmacht, damit würde auf die Lohnsteuer
DIE GRÜNEN]: Ein Höckertier!) und auch auf den 1995 in Kraft tretenden Solidaritäts-
Ich halte die ganze Konstruktion des Auslaufens des zuschlag zusätzlich eine Steuerbelastung in Höhe des
Abzugsbetrags für einen steuersystematischen Feh- Solidaritätszuschlages obendrauf gesattelt.
ler. Um es einmal klar zu formulieren: Wer beim (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das kann doch
Millionär Steuern holen will, der soll das doch bitte nicht wahr sein!)
nicht bei seinem Existenzminimum tun, sondern bei
dem, was der Millionär oberhalb des Existenzmini- Vielleicht haben Sie das nicht durchgerechnet, Herr
mums verdient. Schäuble. Stellen Sie sich doch hierhin und sagen den
Menschen, was Sie mit dem Durchschnittsverdiener
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Lande vorhaben. Diese Steuerbelastung geht
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nicht.
PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Viertens. Die Masse der Durchschnittsverdiener des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der
wird viel zuwenig entlastet. Statt dessen werden beim PDS)
Waigel-Tarif auch noch Spitzenverdiener völlig über-
Bei der Diskussion über die Gewerbesteuer vertre-
flüssigerweise entlastet.
ten wir Sozialdemokraten mehrere Interessen: die
Ich will es einmal in absoluten Zahlen sagen. Sie Interessen der Verbraucher — deswegen lehnen wir
sagen immer: 100 % beim Kleinen und 2 % beim eine Mehrwertsteuererhöhung ab —, die Interessen
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 335

Ingrid Matthäus-Maier
der steuerzahlenden Bürger — deswegen lehnen wir strategischen Ziele erlaubt. Dafür, glaube ich, gebührt
die von Ihnen geplante massive Erhöhung der Lohn- dem Finanzminister Anerkennung.
und Einkommensteuer ab — und die Interessen des
Mittelstandes. Nur 16 % aller Gewerbesteuerzahler (Beifall bei der CDU/CSU)
zahlen überhaupt Gewerbekapitalsteuer, darunter Auf der anderen Seite markieren die Haltung der
z. B. die Banken, denen es offensichtlich finanziell Opposition und die erste Einlassung, die wir soeben
sehr gut geht. Es gibt keinen Grund, diese durch die gehört haben, weiter ein in der Sache lähmendes
Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zu entlasten Festkrallen an den unproduktiven, falschen Klischees
(Beifall bei der SPD) und Angriffsbildern, die wir in den letzten zehn
und dafür z. B. den Mittelstand und das Handwerk Jahren hier vorgeführt bekommen haben.
durch höhere Mehrwertsteuer oder Einkommensteuer (Beifall bei der CDU/CSU)
zu belasten.
Schließlich vertreten wir die Interessen der Bürge- Es gibt schon optisch eine bemerkenswerte Innova-
rinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden. tion in dieser Debatte: Die Plätze hier links von mir, die
Nicht nur durch ihre Gewerbesteuerpläne, sondern in den letzten Monaten von der sogenannten Troika
auch durch die geplante Kürzung der Arbeitslosen- belegt waren, sind erstaunlicherweise heute leer
hilfe will die Bundesregierung die Gemeinden in einer geblieben. Die Sterne sind erst einmal verglüht. Sie,
Milliardengrößenordnung belasten. Es sind doch aber Frau Kollegin Matthäus-Maier, sind wieder als
gerade die Gemeinden, die für die Menschen notwen- Stammspielerin in die Mannschaft gekommen, in Ihre
dige Dienstleistungen erbringen. Wenn z. B. die vertraute Aufgabe.
Gebühren für Büchereien und für Bildungsveranstal-
(Zurufe von der SPD — Joseph Fischer
tungen steigen, den Sportvereinen die Mittel gekürzt
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
werden und das Geld für den Bau und Unterhalt von
Sie sind ein schwarzer Zwerg! Sie wissen
Kindergärten und sozialen Einrichtungen fehlt, dann
alle, was das ist: Da glüht nichts mehr!)
können sich die Menschen in Zukunft bei Finanzmi-
nister Waigel bedanken. Sie hätten uns einen großen Gefallen getan, wenn Sie
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einige Änderungen in Ihrem Repertoire gegenüber
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dem vorgenommen hätten, was Sie in den letzten
Jahren hier vorgetragen haben. Sie haben nichts
Die Sache ist ganz einfach: Bei der Gewerbesteuer
gibt es überhaupt keinen Zeitdruck. Koppeln Sie die ausgelassen von dem, was in vielen Debatten wider-
Gewerbesteuerpläne von Ihrem Gesetzgebungsvor- legt worden ist und uns finanzpolitisch und haushalts-
politisch ja auch in keinem Punkt weiter voranhilft.
haben ab, und konzentrieren Sie sich auf die wirklich
dringlichen Aufgaben. Schichten Sie im Bundeshaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
halt zugunsten zukunftsorientierter Vorhaben und Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war doch sehr
moderner Arbeitsplätze um. Konsolidieren Sie die gut und anschaulich, und die Leute haben es
Staatsfinanzen, damit wir aus der Schuldenfalle her- verstanden!)
auskommen. Entlasten Sie die Familien mit Kindern,
und stellen Sie das Existenzminimum von der Lohn- Sie sind ja schnell bei der Hand mit den Ausdrücken
und Einkommensteuer frei. Das ist es, was die Bürge- „Mogelpackung", „Täuschung" und „Tricks". Wer
rinnen und Bürger in diesem Lande von Ihnen zu Ihre Rede aufmerksam verfolgt hat, hat zwar gele-
Recht erwarten. gentlich zarte Andeutungen über Möglichkeiten zu
(Lange anhaltender Beifall bei der SPD — Einsparungen vernommen, aber Sie haben wieder
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und einmal nicht eine einzige Gelegenheit ausgelassen, in
der PDS) der ganzen Bandbreite politischer Möglichkeiten
Mehrausgabeforderungen in diesem Haus zu präsen-
tieren, vom Arbeitsmarkt über die Kohlesubvention,
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Adolf Roth, vom BAföG über die Meisterkurse, von der Forschung
Sie haben das Wort. bis hin zu Doppelfenstern. Sie haben alles an Mehr-
forderungen aufgetischt.
Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Herr Präsident! (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Doppelfen-
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige ster sind doch schon 20 Jahre her! — Anke
Debatte zum Haushaltsentwurf 1995, zu dem ich jetzt Fuchs [Köln] [SPD]: Doppelfenster sind schon
in der Sache wieder zurückkommen möchte, erscheint lange weg!)
mir in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Der Haus-
halt beinhaltet die klare Botschaft des Bundesfinanz- — Zugleich beklagen Sie, daß angeblich zu wenig
ministers Theo Waigel, daß die schwierigste Phase der gespart wird, daß die Steuern zu wenig abgesenkt
deutschen Finanzpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg werden und daß damit die Verschuldung des Bundes
— die Phase, die geprägt war durch den Prozeß des zu hoch ist. Ich glaube, Sie liegen mit diesem Bild
deutschen Einheitswerks; die Phase, die auch geprägt (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Doppel-
war durch ein Mitleiden in der internationalen welt- fenster sind schon eingebaut, Herr Kol-
wirtschaftlichen Rezession — erfolgreich überstanden lege!)
worden ist. Der Haushalt 1995 markiert eine Wende
hin zu einer zukunftsgerichteten Finanzpolitik, die und dem Stichwort „Mogelpackung" in der falschen
uns in den nächsten Jahren das Erreichen unserer Angriffsrichtung. Dieser Vorwurf und dieser Vorhalt
336 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Adolf Roth (Gießen)


treffen Sie insonderheit und die Politik der SPD in den Meine Damen und Herren, erst groß ankündigen,
letzten Jahren hier. dann schnell alles relativieren, schließlich in einer
entsprechenden Form schrittweise wieder aussteigen
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
und alles zurückziehen — mit einer neuer Strategie,
ordneten der F.D.P.)
mit dem Ansatz neuen politischen Denkens hat dies
Wir hatten ja mit Spannung gerade bei dieser alles herzlich wenig zu tun.
Debatte erwartet — knapp 14 Tage nach dieser (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
berühmten Tutzinger Stegreifrede des SPD-Vorsit- DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht! — Otto
zenden Scharping; nach diesem öffentlichen Kniefall Schily [SPD]: Können Sie etwas zum Bundes-
vor der deutschen Wählermitte — ,
haushalt sagen?)
(Lachen des Abg. Rudolf Scharping [SPD]) Klaus von Dohnanyi, einer der Altmeister der SPD, hat
daß Sie zumindest Ansätze des überfälligen Wende- mit seinem „Spiegel"-Essay vom 28. November recht,
manövers der SPD hier ausbreiten würden. So hat in dem er schreibt:
übrigens die „Süddeutsche Zeitung" diesen Vorgang (Detlev von Larcher [SPD]: Können Sie auch
überschrieben. „SPD rechnete in Tutzingen gnaden- ein bißchen über sich erzählen? — Joseph
los mit sich selbst ab", so titelte die „Westdeutsche Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
Allgemeine Zeitung". NEN]: Herr Roth kommt aus Gießen! Das ist
eine echte Handkäsrede!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Lesen Sie mal vor, was Der Mangel an ... Einsicht in die wirklichen
gestern über die F.D.P. in den Zeitungen Ursachen der Veränderungen der Industriege-
stand!) sellschaft führt daher die SPD noch immer zu
Illusionen und leeren Versprechungen.
Der Kollege Hermann Rappe schob nach: Die SPD
muß endlich raus aus der Neinsagerecke. Sie muß Er fügt hinzu:
offen sein für Innovationen. Er hat hinzugefügt: Der ... nirgends wird soviel verbogen und verklausu-
Parteivorsitzende kann auf Unterstützung rechnen. liert wie in unserer Partei.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Seine Partei stuft er als „veraltet" und „reform-
DIE GRÜNEN]: Der Geist von Gera, Herr scheu" ein. Das ist die Situation. Davon können Sie
Roth! Ich sage: Gera, Gera, Gera!) auch in dieser Debatte nicht ablenken.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —
Meine Damen und Herren, es mag sein, daß er bei
Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir danken für Ihr
einigen dieser Ansätze auf Unterstützung rechnen
Interesse, Herr Kollege!)
kann. Aber ich habe noch keine Unterstützung aus
den Reihen Ihrer Fraktion vernommen, Herr Schar-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth,
ping. Sie tun sich schwer, Fuß zu fassen in Ihrer
Bundestagsfraktion. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Schily?
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt nicht!
So ein Quatsch! — Detlev von Larcher [SPD]: Ott o Schily (SPD): Herr Kollege, haben Sie auch
Zur Sache!) noch die Absicht, zum Bundeshaushalt Stellung zu
Dann können auch solche Debattenbeiträge von dem nehmen?
inneren Zustand der SPD in dieser Situation nicht
ablenken. Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Ich bin im Begriff,-
das zu tun, Herr Kollege Schily. Aber ich kann Ihnen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
nur eines sagen: Wir sind durch diese Rede weit über
Detlev von Larcher [SPD]: Können Sie auch
das Spektrum des Haushalts 1995 hinaus bis an die
etwas zum Bundeshaushalt sagen?)
Grenze des Erträglichen gereizt und provoziert wor-
Wir hätten gerne etwas über die großen Reform- und den. Dann muß es zumindest erlaubt sein, auf den
Modernisierungsfelder der Zukunft gehört, die ange- inneren Zustand der Opposition mit einigen Strichen
sprochen worden sind. einzugehen.
(Detlev von Larcher [SPD]: Wir auch! — Anke (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Fuchs [Köln] [SPD]: Erzählen Sie doch mal
was!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Roth, der
Wenn Sie nicht länger nur Partei der Verteilung, Kollege Jacob würde auch gerne eine Zwischenfrage
sondern auch der Produktion und der Wertschöpfung stellen. — Keine weitere Zwischenfrage.
sein wollen, wenn Sie Gutverdienende nicht länger (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
nur als Lastesel einstufen wollen, wenn Sie Jüngeren DIE GRÜNEN]: Zum Jugendkabinett muß er
ein Feld für Risikobereitschaft und Engagement hier jetzt etwas sagen! Zum Nachwuchskanzler
am Standort Deutschland bieten und den Sozialstaat muß er jetzt etwas sagen! Zur erneuerten
wirklich modernisieren helfen wollen, dann, meine CDU muß er jetzt etwas sagen, zu den jungen
Damen und Herren, hätten Sie ausreichend Gelegen- Pionieren der CDU! — Anke Fuchs [Köln]
heit, nicht nur, aber auch in der Haushaltspolitik [SPD]: Was sagen Sie zur F.D.P.?)
kräftige Akzente zu setzen. Hier wäre die Gelegenheit
für Umkehr, Besserung und Bewährung. Genau dar- Adolf Roth (Gießen) (CDU/CSU): Im übrigen scheint
auf haben wir heute vergeblich warten müssen. Sie zu verblüffen, daß die Tempomacher auf der
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 337

Adolf Roth (Gießen)


Regierungsbank sitzen und nicht bei Ihnen. Die weiter zurückzuführen. Steuersenkungen auf Pump
schnelle Wiedervorlage des Regierungsentwurfs zum wird es mit dieser Koalition jedenfalls nicht geben.
Haushalt 1995 ebenso wie die rasche Regierungsbil- Meine Damen und Herren, ich füge hinzu, daß die
dung und die zügige Verabschiedung des Koalitions- Defizitquote des Bundes von 12 % aus den bekannten
vertrages unterstreichen die Handlungsfähigkeit der Gründen, die sehr viel mit dem Prozeß der deutschen
Koalition, zugleich aber auch unsere Entschlossen- Wiedervereinigung zu tun haben — Frau Kollegin
heit, durch zügige Haushaltsberatung und Verab- Matthäus-Maier hat auf diesen Prozeß übrigens nicht
schiedung des Etats 1995 den Prozeß der vorläufigen mit einem einzigen Wort hingewiesen —, weit höher
Haushaltsführung auf einen relativ kurzen Zeitraum liegt als die der Länder und Kommunen. Daher sind
zu begrenzen und bis Ostern 1995 einen fertigen die Kompensationsforderungen, die aus dem Bundes-
Haushalt zu verabschieden. rat im Zusammenhang mit der Steuergesetzgebung
(Zuruf von der SPD: Haushaltspolitischer erhoben werden, politisch absurd, in der Sache
Geisterfahrer!) unhaltbar und unqualifiziert.

Das ist ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung des Natürlich muß jede Ebene des Staates entsprechend
Aufschwungs und zur Festigung des Arbeitsmarkts dem Steuerverteilungsschlüssel im Zusammenhang
und hat sehr viel mit der Zukunftsfähigkeit unserer mit Steuersenkungsmaßnahmen auch Belastungen
deutschen Politik zu tun. übernehmen. Meine Damen und Herren, was soll man
eigentlich davon halten, wenn der Chef des am
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ höchsten verschuldeten deutschen Bundeslandes, der
DIE GRÜNEN]: In dieser Rede hat er noch Ministerpräsident Oskar Lafontaine, noch im August
nicht ein einziges Mal Theo Waigel gedankt! Steuersenkungen von geradezu historischen Ausma-
Das ist ein Skandal!) ßen angekündigt hat, während jetzt seine neue
Finanzministerin Krajewski bereits bei der Mitbeteili-
Meine Damen und Herren, es bleibt wie im Juli- gung des Saarlandes in einer Größenordnung von
Entwurf bei der ehrgeizigen finanzpolitischen Grund- 100 Millionen DM öffentlich Klage darüber führt, dies
linie dieser Koalition. Konsequente Fortsetzung des überschreite die Grenze des auf der Ebene der Bun-
Sparkurses bei abnehmender Neuverschuldung und desländer Erträglichen und Verkraftbaren.
hoher Geldwertstabilität schafft die Voraussetzung für
schrittweise Erweiterung unserer Handlungsspiel- Meine Damen und Herren, dies ist kein Beweis für
räume und für Steuerentlastungen. eine politische oder intellektuelle Glanzleistung. Ich
glaube, wir müssen hier ein deutliches Signal setzen,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und damit Steuersenkung nun wirklich auch bei den
der F.D.P.) Bürgern ankommt, für die die Steuergesetze beschlos-
Die SPD ist vor der Bundestagswahl gegen die sen werden.
mittelfristige Finanzplanung von Theo Waigel Sturm (Beifall bei der CDU/CSU)
gelaufen. Es gab Schreckensbilder über angeblich
horrende Lücken und Defizite. Ich denke, die heutige Meine Damen und Herren, unsere Politik mit
Einbringungsrede von Theo Waigel der 1993 eingeleiteten Spar- und Konsolidierungsstra-
tegie, verbunden mit unserem Wachstumspaket,
(Konrad Gilges [SPD]: Hat alles das bestä unterstützt übrigens von der Deutschen Bundesbank
tigt!) und den Sachverständigen und politisch durchgesetzt
gegen massive Widerstände aus der Opposition und
hat bewiesen, wer hier festeren Boden unter den dem Bundesrat, zeigt jetzt beachtliche Ergebnisse. -
Füßen hat.
Im laufenden Haushalt 1994 kann die Kreditauf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nahme des Bundes um weitere 10 Milliarden DM auf
der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] 59 Milliarden DM abgesenkt werden. Das steht im
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann ich Gegensatz zu all den unentwegten Prophezeiungen
bestätigen!) aus den Reihen der Opposition, die für dieses Jahr mit
— Das sind nicht die Opponenten von links. einem Bundesdefizit von 80 Milliarden DM oder gar
100 Milliarden DM gerechnet und keinerlei Übertrei-
Das Haushaltsbild 1994 und 1995 hat sich im Blick bungschancen ausgelassen hat.
auf die notwendige Schuldenbegrenzung und auf den
59 Milliarden DM, Frau Kollegin Matthäus-Maier,
Abbau des Finanzierungsdefizits um insgesamt
sind 1,8 %, gemessen am Bruttoinlandsprodukt. Eine
20 Milliarden DM verbessert.
solche Zahl hat es unter der Verantwortung einer
Was noch wichtiger ist, meine Damen und Herren: früheren SPD-Bundesregierung selten gegeben. Sie
Wenn man die steuerpolitischen Vorhaben dieser sollten hier nicht den Eindruck erwecken, als würde
Legislaturperiode berücksichtigt, ergibt sich, daß wir die heutige Defizitquote irgendwelche historischen
jetzt in einer Situation sind, in der der vorgelegte Entwicklungen sprengen, als läge sie über dem
mittelfristige Finanzplan bis 1998 insgesamt die Basis Durchschnitt. Das Gegenteil ist richtig. Mit 1,8 %
dafür abgibt, daß solche Steuersenkungsschritte in die haben wir eine vernünftige Marge erreicht.
Finanzplanung eingebaut werden können, ohne daß
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
die Dinge aus dem Ruder laufen. Der Entwicklungs-
bericht des Kabinetts zur Finanzwirtschaft macht dies Übrigens hat diese Bundesregierung seit der Wie-
im einzelnen deutlich. Es bleibt deshalb auch ein dervereinigung in jedem Haushaltsjahr die gesetzlich
klares Ziel für uns, die Haushaltsdefizite schrittweise bewilligte Nettokreditaufnahme durch s trenge Aus-
338 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Adolf Roth (Gießen)


gabenbewirtschaftung immer unterschreiten können. erwarteten Einnahmen durch den Solidaritätszu-
Insgesamt ist dies eine Summe von über 40 Milliarden schlag nur eine Größenordnung von 26 Milliarden DM
DM. Wir waren und bleiben bei der Haushaltspolitik gegenüber. Meine Damen und Herren, dies ist die
und ihrer Veranschlagung immer auf der sicheren eine Seite.
Seite.
Man muß hinzufügen, daß vor allem auch die
Auch ökonomisch lag die Opposition schief. Die vollständige Übernahme der Ausgabeverpflichtun-
gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist nicht, wie von gen für den Erblastentilgungsfonds und für die Eisen-
Ihnen angekündigt, durch die Spar- und Entlastungs- bahnaltschulden sowie darüber hinaus die Erfüllung
politik in sich zusammengebrochen. Im Gegenteil, die der Aufgaben der Nachfolgeeinrichtungen der Treu-
vertrauensbildende Wirkung der Konsolidierungs- handanstalt den Bundeshaushalt jährlich mit großen
strategie hat die Angebotsbedingungen der deut- Ausgaben belasten, so daß wir allen Anlaß haben,
schen Wirtschaft verbessert und den unerwartet frü- auch in den nächsten Jahren unsere Strategie der
hen und kräftigen Wirtschaftsaufschwung 1994 mit Konsolidierung konsequent fortzusetzen; selbstver-
ermöglicht. ständlich, Frau Kollegin Matthäus-Maier, auch mit
Diesen Weg werden wir mit dem Bundeshaushalt Blick auf die Zinslastendynamik.
1995 konsequent weiter beschreiten. Gegenüber dem Wenn Sie schon mit diesen horrenden Summen
ersten Regierungsentwurf vom Juli sinkt die Ausga- umgehen, darf ich darauf hinweisen, daß das wesent-
benrate auf 0,9 %. Im nächsten Jahr wird die Nettokre- liche Veränderungselement bei den Zinsausgaben
ditaufnahme um über 10 Milliarden DM auf 58,6 Mil- des Bundes nicht etwa in den Zinsen auf Schulden
liarden DM herabgesetzt. Dies alles geschieht bei besteht, die originär in einem Zusammenhang mit der
einem sechzehnprozentigen Zuwachs der Investi- operativen Tätigkeit des Bundes in seinem klassi-
tionsausgaben auf 74,4 Milliarden DM und einer schen Bereich stehen, sondern daß es sich hier um
überproportionalen Aktivierung des Forschungsetats Zinserstattungen für diese historischen Erblasten in
um 2,7 %. Höhe von 37,6 Milliarden DM handelt. Diese Summe
Meine Damen und Herren, wenn von einer Wei- muß bezahlt werden. Sie haben keine Formel dafür
chenstellung in Richtung Zukunft die Rede ist, glaube angegeben, auf welche Weise dies anders geschehen
ich, daß die Berechenbarkeit, die Stabilität und die könnte als durch die Verantwortungsübernahme sei-
Festigkeit der Finanzpolitik hierfür eine unverzicht- tens des Bundes.
bare und wichtige Voraussetzung sind und bleiben. (Beifall bei der CDU/CSU — Bundesminister
(Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Theodor Waigel: So ist es!)
Deutschland wird nach den jüngsten Berechnungen Deshalb bleibt es bei der mittelfristigen Finanzpla-
auch 1995 als einziges Land der Europäischen Union nung, deshalb bleibt es bei den marginalen Zuwachs-
neben Luxemburg die Eintrittsvoraussetzungen für raten bei den Ausgaben in Höhe von nur 1 % bis
die Wirtschafts- und Währungsunion erfüllen, und 1998.
zwar sowohl beim laufenden Defizit von 2,5 % als auch Im Blick auf das von Ihnen immer wieder strapa-
bei einer Gesamtquote der Schulden von unter 60 %, zierte Schuldenthema möchte ich einmal mehr darauf
jeweils gemessen am Bruttoinlandsprodukt. verweisen, daß dieser Haushalt 1995 eine entschei-
Gleichwohl seien alle gewarnt, die sich der Illusion dende Zäsur darstellt. Es wird in Zukunft keine
hingeben, der konjunkturelle Aufschwung löse die Kreditaufnahme außerhalb des Bundeshaushalts ge-
haushalts- und finanzpolitischen Probleme in diesem ben wie etwa im Bereich der Treuhandanstalt oder des
Land von allein. Jetzt müssen — bildlich gespro- Fonds „Deutsche Einheit". Dies ist eine qualitative-
chen — die politischen Stabilisatoren wirken. Da die Veränderung.
Nettokreditaufnahme der letzten Jahre im Gefolge Hören Sie auch endlich auf, dem Bundesfinanzmi-
der Rezession gestiegen ist, müssen nun auch folge- nister all die Schulden in die Schuhe zu schieben, die
richtig die steuerlichen Mehreinnahmen der wirt- sozialdemokratisch regierte Länder aufgenommen
schaftlichen Erholungsphase vorrangig zur Reduzie- haben und die der Kommunismus in der ehemaligen
rung der Neuverschuldung eingesetzt werden. DDR nach 40 Jahren hinterlassen hat.
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der
gen] [F.D.P.]) SPD)
Wir, die Koalition, bleiben deshalb auf der Ausgaben
Offenbar ist Ihnen entgangen, daß das Finanzie-
bremse. Dazu gibt es keine vernünftige politische
rungsdefizit der öffentlichen Hand 1995 nur noch
Alternative.
117 Milliarden DM betragen wird. Das ist das gesamt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) staatliche Finanzierungsdefizit. Das bedeutet eine
Schließlich muß der Bund im Rahmen einer abge- Verbesserung gegenüber diesem Jahr um 50 Milliar-
senkten Kreditaufnahme 1995 sämtliche Zusatzbela- den DM. Einen größeren Konsolidierungsschritt hat es
stungen aus dem Solidarpakt und dem Föderalen überhaupt noch nicht gegeben.
Konsolidierungsprogramm auffangen. Das beginnt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mit der Übertragung höherer Steueranteile und
Ergänzungszuweisungen sowie der Gewährung von In Ihrer Rede haben Sie nicht eine Silbe auf dieses
massiven Investitionshilfen an die Länder. Das macht Thema verwandt.
insgesamt 42 Milliarden DM aus. Dieser Transfer- Es bleibt dabei: Die Steigerung der Ausgaben muß
summe von 42 Milliarden DM steht aber aus den deutlich unter der nominalen Zuwachsrate des Sozial-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 339

Adolf Roth (Gießen)


produktes bleiben. Wir werden mit unserem Zielkon- Wenn man sich dann anschaut, was gestern sogar in
zept 2000 die Staatsquote auf das Niveau von 1989 mit der FAZ mit der Überschrift „Waigels Sündenfall"
46 % absenken. Das heißt im Klartext: Nur wenn die stand: „Der Gesetzgeber beschäftigt sich zunehmend
Staatsausgaben jährlich um mindestens zwei Prozent- damit, die eigenen Fehlleistungen durch neue Fehl-
punkte langsamer wachsen als der Zuwachs des leistungen zu ersetzen" , dann muß man sich schon
nominalen Bruttoinlandsproduktes, wird es möglich fragen, ob hier wohl wirklich etwas nicht stimmt.
sein, einen solchen Konsolidierungsfortschritt auch in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einer Verringerung der Staatsquote von jährlich 1 %
umzusetzen. Dies wird dann am Ende der Finanzpla- Auch ein bißchen Entlastung als Ausgleich für die
nungsperiode erreichbar sein. Allerdings müssen wir Mehrwertsteuererhöhung — sie wird kommen; das
bis dahin auch alles daransetzen, die Spielräume zu müssen Sie den Bürgern und Bürgerinnen ehrlich
halten und abzusichern. sagen —, gestiegene Sozialabgaben, die wir hatten,
Der Sachverständigenrat unterstützt unsere politi- Versicherungssteuer, Solidaritätszuschlag — all dies
sche Linie in seinem jüngsten Gutachten, in dem wird über Maßen die niedrigeren Einkommen tref-
übrigens ausdrücklich der Konsolidierungserfolg fen.
1994 als geglückter Stabilisierungsbeitrag hervorge- Ebenso sind Sie mit den Geringverdienern und vor
hoben worden ist. Der Sachverständigenrat sagt, nun allem mit den Familien in den letzten Jahren auf eine
gelte es, die Konsolidierungserfolge nicht zu verspie- Art und Weise verfahren, zu der man einmal ganz
len, sondern bei anhaltendem wirtschaftlichem flapsig sagen muß: Die Sau vom Hof geholt und jetzt
Wachstum den forciert eingeschlagenen Weg fortzu- ein Kotelett zurückgegeben.
setzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vor diesem Hintergrund möchte ich Sie bitten, daß
wir bei der Beratung des Bundeshaushalts 1995 im Wie die katholischen Verbände in den letzten Wochen
Ausschuß zügig vorangehen, daß wir unseren Beitrag geschrieben haben, heißt es auch: „Die Kinder zählen,
leisten, daß der Wirtschaftsstandort Deutschland in und die Eltern zahlen. "
Europa die Nummer eins bleibt, daß wir im Blick auf Die Lösungsansätze dieser Regierung waren sehr
den Einigungsprozeß in Europa ein Beispiel auch kurzsichtig. Sie sind wirkungslos.
hinsichtlich der Stabilisierung der Konvergenzkrite-
rien setzen und daß wir mit unserer Festigkeit in (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Sachen Ausgabenbegrenzung Wachstumsspielräume DIE GRÜNEN]: So ist es!)
für die Zukunft auch für Technologie und Innovation Es sind Schmalspurreformen — das ist das Problem —,
schaffen. und Steuerhinterziehung ist regelrecht zum Volks-
Wir sind auf dem richtigen Weg. Die Koalitionsfrak- sport geworden. 330 Milliarden DM fließen jährlich
tionen unterstützen den Finanzminister auf seinem ins Ausland, laut dem Bund der Steuerzahler werden
Weg, den er heute mit seiner Etateinbringung hier 130 Milliarden DM Steuern hinterzogen. In Bayern hat
skizziert hat. man es ja teilweise vorgemacht. Ich erinnere an Herrn
Vielen Dank. Zwick und Konsorten.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Tandler nicht zu verges-
sen!)
Vizepräsident Hans Klein: Frau Abgeordnete Chri-
stine Scheel, Sie haben das Wort. Man muß sich schon fragen, was hier passiert ist.
Die Familien haben geblutet, es gibt nicht weniger
Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Arbeitslose, den Kommunen steht das Wasser bis zum
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf Hals, und Fakt ist — auch das muß man einmal
den ersten Blick, Herr Waigel, sieht es ganz gut aus; sehen —, daß Bürgerinnen und Bürger heute mit
man muß schon sagen: sehr eindrucksvoll, aber leider durchschnittlich 25 % mehr Steuern und Abgaben
eben nur auf den ersten Blick. Auch das Existenzmi- belastet sind, als dies noch vor 10 Jahren der Fall war.
nimum ist jetzt als eine Art Weihnachtsbescherung Im gleichen Zeitraum stieg, das ist das Fatale, die Zahl
ganz nett und — wie in der Zeitung zu lesen war — das der Millionäre z. B. in Bayern — ich komme aus
doppelte Glück des Theo Waigel. Damit war übrigens Bayern — um 22 %,
nicht Ihre Ehe gemeint — herzlichen Glückwunsch (Michael Glos [CDU/CSU]: Haben Sie lieber
auch von unserer Seite —, sondern eher, daß Sie von Sozialhilfeempfänger? Was haben Sie gegen
einmaligen Sondereinnahmen durch die Privatisie- Millionäre?)
rungserlöse profitieren. Das ist nicht unbedingt auf die
nächsten Haushalte übertragbar. Das wissen Sie sehr von denen ein Teil — auch das muß man leider
gut. sehen — überhaupt keine Steuern bezahlt.
Das helle Strahlen jetzt wird nicht viel nutzen; denn Es ist fazinierend, wie Sie durch die Welt der großen
für die Steuerzahler und -zahlerinnen ziehen in den Zahlen benebelt sind. Es kann doch nicht nur darum
nächsten Jahren sehr finstere Wolken am Himmel auf. gehen, Schulden zu verschieben, Steuern zu erheben
Diese werden auch nicht an der österreichischen oder zu senken, je nachdem, wie es gefällt, der einen
Landesgrenze kurz vor Bayern haltmachen, sondern oder anderen Interessengruppe einmal etwas mehr
sie werden leider die gesamte Bundesrepublik über- oder etwas weniger Geld zuzuweisen. Es kann doch
ziehen. nicht angehen, daß Opposition und Regierung — das
340 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Christine Scheel
sagen wir von der Opposition — sich in ewig gleichen gen beim Strukturwandel in der Industrie und nicht
Ritualen und Schuldzuweisungen ergehen. zuletzt — auch das wissen wir alle — in unserer
Gesellschaft. Damit unsere Jugend, die wir nicht
(Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das ist
vergessen dürfen, eine Perspektive hat und nicht
wahr! — Bundesminister Dr. Theodor Wai
überhaupt nicht mehr weiß, wie sie diesen Wahn-
gel: Das habe ich überhaupt nicht ge
sinnsschuldenberg in den nächsten Jahren auf die
macht!)
Reihe bekommen soll. Deshalb müssen wir Reformen
Müssen wir nicht uns alle einmal grundsätzlich fra- angehen. Dazu ist diese Regierung nicht fähig.
gen, wie unsere ökonomische und finanzielle Lei-
stungsfähigkeit mit den politischen, ökologischen und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
sozialen Herausforderungen für das nächste Jahrtau- SES 90/DIE GRÜNEN)
send zusammengehen können? Das ist die Kernfrage, Eine umfassende Finanzreform ist auch für eine
die der gesamten Situation zugrunde liegt. politische Handlungsfähigkeit notwendig. Wir brau-
Die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haus- chen kein beliebiges Sammelsurium in einem Steuer-
halte wird 1995 auf mehr als 2 Billionen DM — man rechtsänderungspaket, wie Sie es jetzt vorhaben,
kann sich diese Dimension kaum mehr vorstellen — dessen Inhalt Tag für Tag immer mehr an konfuse
steigen. Das ist eine Verdopplung innerhalb von nur Flickschusterei erinnert. Selbst Ihre eigenen Experten
fünf Jahren. Allein die Zinsbelastung des Bundes wird sagen schon, daß das im Steuerchaos endet. Sie wissen
auf mehr als 90 Milliarden DM beziffert. es genauso gut wie wir, geben es bloß leider öffentlich
nicht zu.
(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie müssen
das einmal in Relation bringen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
— Melden Sie sich zu Wort, wenn Sie etwas zu sagen Es geht auch nicht an — das stinkt mir ganz
haben. Dann verstehe ich es besser. besonders —, daß angesichts der Tatsache, daß die
Gerichte überlastet sind und etwa bei den Asylverfah-
Was nutzt denn die Kürzung der Neuverschuldung ren Berge abgebaut werden müßten, das Bundesver-
in Höhe von 10 Milliarden DM gegenüber dem fassungsgericht immer wieder Stück für Stück politi-
Haushaltsansatz von September? Man muß die Optik sche Fehlentscheidungen im nachhinein korrigieren
auch einmal überlegen. Sie wissen, daß durch die muß, womit es der Bundesregierung — das ist nämlich
Erlöse aus den Privatisierungen — ich habe das vorab die Konsequenz — im Prinzip permanent Politikunfä-
schon angesprochen - einige Verfälschungen enthal- higkeit zudiktiert.
ten sind.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Aber es ist ja doch besser als früher!) Sparen heißt die Devise. Darin sind wir uns alle
einig. Auch DIE GRÜNEN wollen keine weitere
Herr Schäuble selbst hat gesagt: Ab 1996 sind Staatsverschuldung. Vielmehr wollen wir sie abbauen
höhere Steuern unausweichlich. Was heißt das denn? helfen. Es ist nur die Frage, wie, auf wessen Kosten
Gibt es eine Mehrwertsteuererhöhung oder nicht? und mit welchen politischen Zielen.
Warum wird das heute nicht gesagt? Warum wird die
Wahrheit den Leuten vorenthalten? Ich denke, es ist Ich möchte Ihnen nur einige Dinge nennen: Da ist
angebracht, Ehrlichkeit walten zu lassen und den zum einen die Fortsetzung des Sozialabbaus zu
Bürgern und Bürgerinnen die Wahrheit zu sagen, Lasten der Arbeitslosen und der kommunalen Haus-
nicht immer so zu tun, als ob Sie alles auf die Reihe halte. Selbst wenn Sie jetzt die Befristung der Arbeits--
bekämen, und dann zwischendurch einfach mal so losenhilfe ausgesetzt haben, führt diese Aussetzung
flapsig wieder die Steuern zu erhöhen. zu einem späteren Zeitpunkt unter dem Strich dazu,
daß die geplanten Kürzungen ab Oktober, auf das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ganze Jahr umgerechnet, den gleichen Kürzungsbe-
Zu den Gesamtschulden in Höhe von 800 Millarden trag wie vorher ausmachen. Das ist der Hammer.
DM müssen Sie seriöserweise die Lasten z. B. der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Bahnreform und einige andere Posten — sie kennen
das ja genauso gut wie ich — hinzuzählen. Dann Obwohl die Bundesanstalt für Arbeit in ihrem
kommen wir schon auf Schulden in Höhe von 1 400 Etatentwurf bereits jetzt mit einem Defizit von
Milliarden DM allein im Haushalt des Bundesfinanz- 14,6 Milliarden DM in 1995 rechnet, senken Sie den
ministers. Das muß man sich einmal vorstellen. Bundeszuschuß. Wir wissen aber aus den vergange-
nen Jahren, welche fatale Auswirkungen das gerade
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Die im Fortbildungs- und Umschulungsbereich hat. Das
Bahnschulden habe ich auch gemacht?) gilt vorwiegend für die neuen Bundesländer, aber
— Ja, ja. — Jeder kleinere Unternehmer stünde mit auch, Herr Waigel, für Teile Bayerns, z. B. für die
dieser betrügerischen Bilanz schon längst vor dem Oberpfalz oder für strukturschwache Regionen in
Kadi bzw. säße eventuell auch in einem viereckigen, Unterfranken.
relativ kleinen Zimmer.
Ein weiterer Punkt: der soziale Wohnungsbau, der
Dieses Land muß wirtschaftlich und gesellschaftlich Städtebau und das Wohngeld. Hierfür wollen Sie
auf das kommende Jahrtausend vorbereitet werden. keine müde Mark mehr ausgeben, obwohl bekannt
Wir brauchen Reformen. Wir brauchen Reformen im ist, daß der Bedarf täglich steigt. Das bedeutet in der
Energiebereich, wir brauchen Reformen in unserem Konsequenz entweder, daß immer mehr Menschen
Sozialsystem, bei der Verkehrspolitik, vor allen Din sich Wohnraum bei steigenden Mieten nicht mehr
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 341

Christine Scheel
leisten können, oder Sie verschieben die Last letzt- Land insgesamt auf die Barrikaden gehen. Wir wer-
endlich auf die Länder und Kommunen. den sie heftigst dabei unterstützen.
Auch die Devise in der Regierungserklärung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Deutschland zukunftsfähig zu machen, kommt nicht Zu unseren Überlegungen: Wir brauchen selbstver-
über. Was nutzt uns denn dieser Zukunftsminister, ständlich den Abbau von Steuervergünstigungen. Wir
wenn gleichwohl die Förderung des wissenschaftli- brauchen mehr Steuergerechtigkeit für die unteren
chen Nachwuchses und der beruflichen Qualifizie- und mittleren Einkommen. Das ist überhaupt keine
rung eingefroren und damit faktisch gekürzt wird? Mit Frage.
dem Zukunftsministerium wird nach außen mit
Mordstrara ein Zeichen gesetzt, aber es wird inhalt- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Wel-
lich, haushaltstechnisch nicht unterfüttert. che?)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) — Jawohl, Herr Schäuble. Wir brauchen auch die
Einpassungen der heimlichen Steuererhöhungen
Auch die nur 1,4 Milliarden DM für Umweltmaß- über die Inflation z. B. Wir brauchen eine Entbürokra-
nahmen sind ein faktisches Eingeständnis, daß tisierung, und wir brauchen eine Vereinfachung unse-
Umweltschutz in diesem Land zum Looser der Nation res Steuerveranlagungssystems bzw. der -praxis. Ich
geworden ist. Es geht auch nicht an, daß Sie hier denke, da sind wir uns alle einig. Das Problem ist aber,
8 Milliarden DM anrechnen, die aus den Einzelplänen daß wir, um diese Reform erst einmal angehen zu
zusammengefaßt werden, dabei aber nicht einmal können, einen gescheiten Kassensturz brauchen, der
merken, daß der Einzelplan 35 überhaupt nicht mehr ehrlich sein muß, der gründlich sein muß, der alle
existiert. Das hat mich sehr verblüfft. Ich nehme Daten offenlegt, damit man überhaupt planen kann,
einmal an, daß die Beamten im Finanzministerium um dann zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zu
nicht mit den Textbausteinen umgehen können. kommen. Dazu sind Sie nicht in der Lage oder auch
nicht gewillt, weil so viel auftauchen würde, was man
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in den letzten Jahren versucht hat zu verstecken, aber
Zum Thema Kohlepfennig. Wir brauchen eine Ener- mittlerweile nicht mehr verstecken kann.
giesteuer — daß DIE GRÜNEN das schon längst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einfordern, ist kein Geheimnis —, die über eine
mittelfristig erforderliche Kohlesicherung hinaus eine Ich muß sagen, wir verdammen nicht alles in Bausch
nachhaltige Energiesparpolitik unterstützt und uns und Bogen, was in den Koalitionsvereinbarungen
langfristig aus der Abhängigkeit von „Dinosaurier steht. Das sind Kindereien; dazu haben wir keine Lust.
ÖEnergien"
l wie Kernkraft, Kohle und auch Der Vorschlag z. B. zur Budgetierung, Verwaltung
befreit. effizienter oder auch kostengünstiger zu gestalten, ist
in Ordnung, aber ich warne davor, es mit der Rasen-
Im übrigen muß diese neuerliche Finanzforderung mähermethode zu versuchen. Man muß dies sehr
an ihren geknebelten Haushaltsansatz letztlich auch differenziert anschauen und darf es dann nicht mit
die CDU/CSU und die F.D.P. zur Verzweiflung brin- einem Prozent oder pauschal durchziehen, sondern
gen. Wo wollen Sie denn für 1996 die 7,5 Milliarden man muß in den einzelnen Abteilungen sehr genau
DM hernehmen? Wissen Sie das überhaupt? Ich überlegen, wo das Leistungsprinzip in unserer Ver-
glaube nicht. waltung gestärkt werden kann.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das ist eine sehr gute Frage!) -
Also: An erster Stelle steht der Kassensturz, an
— Das ist eine sehr gute Frage. Ich weiß. Deswegen zweiter Stelle steht die Offenlegung der staatlichen
stelle ich sie auch. Finanzlage ohne Schönfärberei und drittens keine
weitere Verschiebung von Lasten auf der föderalen
Und dann diese Trickbetrügereien bei der Steuer- Ebene. Es ist das Problem, daß eingespart und dann
freistellung des Existenzminimums. Herr Waigel sagt, wieder umgeschichtet wird.
es ist verfassungskonform. Wir sagen und auch die
Experten und Expertinnen sagen, es ist nicht verfas- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Alles
sungskonform, sehr konkret!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir müssen insgesamt eine Verteilung erreichen,
die sehr ehrlich ist. Da muß der Staat bei den Einspa-
und zwar deswegen nicht, weil Sie Berechnungen rungen bei sich selbst anfangen und kann nicht immer
vom Jahr 1991 bzw. 1990 und nicht die Berechnungen nur fordern, daß die Bürger und Bürgerinnen dies tun.
von 1994 zur Freistellungsgrenze bezüglich des Exi- Wir leisten uns weltweit das größte Parlament. Wir
stenzminimums zugrunde gelegt haben. Auch was die haben eine Regierung: von Entschlackung keine
Progression mit ihrem Buckel anbelangt, verweise ich Spur! Das bißchen am Wolfgangsee wird nichts nut-
im übrigen auf Frau Matthäus-Maier. Dem kann ich zen. Die Reduktion der Ministerien bei gleichzeitiger
mich nur anschließen. Einstellung von mehr Staatssekretären kostet mehr als
zuvor. Das ist auch kein Geheimnis.
Auch der Familienlastenausgleich wird Geld
kosten. Hier liegt das Problem, daß das Existenzmini- Es ist notwendig, daß wir den wirtschaftlichen
mum, das von Ihrer Seite für die Kinder angesetzt Strukturwandel mit allen seinen sozialen, seinen öko-
worden ist, viel zu gering ist. Ich kann nur hoffen, daß nomischen und ökologischen Komponenten bewälti-
die katholischen Verbände, daß die Eltern in diesem gen. Ich rede hier von einer grundlegenden sozialen
342 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Christine Scheel
und auch ökologischen Steuerreform, die zwingend In den kommenden Jahren geht es darum, die
notwendig ist. Wir haben das hier schon ausgeführt. Leistungen für die neuen Bundesländer langfristig
Wir haben dezidierte Vorschläge gemacht, die wir in sicherzustellen, den Haushalt zu konsolidieren und
die parlamentarische Beratung selbstverständlich mit die Staats- und Abgabenquote zu senken, und zwar
einbringen. beides gleichzeitig, Herr Kollege Waigel. Ich bin nicht
Wir sind bereit, am Deutschland der Zukunft mitzu- der Meinung, daß die Konsolidierung der Steuersen-
arbeiten, dies aber mit Offenheit, mit Rücksicht auf die kung vorauslaufen muß. Es muß beides Hand in Hand
Schwächeren in diesem Land, im Hinblick auf eine gehen. Denn die extrem hohen Steuerbelastungen,
ökologisch und ökonomisch verträgliche Zukunft. denen die Bürger und die Unternehmen heute ausge-
setzt sind, können auf Dauer nicht beibehalten wer-
Wir wollen kein Steuerchaos mehr. Wir wollen weg den, wenn die Leistungsbereitschaft nicht sinken
davon, daß Steuern zunehmend zu Dummensteuern soll.
werden. Hier ist Mut angesagt und kein Hofknicks vor
irgendwelchen senilen Interessenverbänden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Herr Waigel, zum Abschluß: Steuerlügen haben ten der CDU/CSU)
nun mal kurze Beine.
Jetzt geht es darum, die Staatsquote wieder auf das
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Maß zurückzuführen, das sie vor der Wiedererlan-
gung der deutschen Einheit gehabt hat, nämlich rund
Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege 46 %, und den Schuldenanstieg zu reduzieren. Mit
Dr. Hermann Otto Solms. einem Haushalt, der eine Steigerung von unter 1 % in
sich birgt, ist das auch machbar. Das ist eine gute Zahl,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mit der wir gut leben können.
DIE GRÜNEN]: Jetzt erfahren wir etwas über
den Geist von Gera!) Jetzt geht es natürlich darum, die Neuverschuldung
weiter zu reduzieren und gleichzeitig die Steuerbela-
stung zu senken. Unsere politische Maxime muß
Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Herr Präsident! bleiben: für leistungsgerechte Steuern, für den soliden
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erlauben Staatshaushalt. Denn die Steuerbelastung muß der
Sie, daß ich vorab die Gelegenheit nutze, um dem Leistungsfähigkeit der Bürger entsprechen. Sie darf
Kollegen Michael Glos zu seinem heutigen 50. Ge- Leistungswillen und Leistungsbereitschaft nicht be-
burtstag zu gratulieren. einträchtigen.
(Beifall)
(Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin-
Politik ist — so hat Hofmannsthal einmal gesagt —
gen] [F.D.P.])
Verständigung über das Wirkliche. Es wäre gerade
bei einer Haushaltsdebatte gut, wenn wir uns hier Kernstück einer Politik für mehr Leistung und zur
einmal über das Wirkliche oder das Mögliche unter- Schaffung von Arbeitsplätzen kann daher nur eine
halten würden und nicht über das Wünschbare. Reform des Steuersystems sein, weil über das Steuer-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ system darauf direkt Einfluß genommen wird. Die
DIE GRÜNEN]: Was war denn nun wirklich Vision ist realisierbar, aber eben nur durch konse-
und was war möglich in Gera, Herr quentes Sparen, durch weitere Privatisierungen,
Solms?) durch weiteren Abbau von Regulierungen, durch
weiteren Abbau der Bürokratie. -
Denn wir wissen: Vieles ist wünschbar, aber nicht alles
können wir erreichen.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Deshalb diskutieren wir über den Haushalt, der ja ten der CDU/CSU)
das Schicksalsbuch der Nation sein soll,
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Frau Kollegin Matthäus-Maier, auch Sie haben als
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Zielsetzung das Konsolidieren betont, aber konkrete
DIE GRÜNEN]: Mit Schicksalsbüchern ha Vorschläge waren nicht vorhanden.
ben Sie es im Moment, Herr Solms!)
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Eine ganze
weil sich in ihm deutlich niederschlägt, wie die Menge!)
politischen Dinge gestaltet werden und wie die füh-
renden Koalitionsparteien die Zukunft gestalten wol- Es geht eben nicht, immer von der Schuldenfalle zu
len: nämlich in Richtung einer Erneuerung der gesell- sprechen, aber nicht gleichzeitig zu sagen, wie man
schaftspolitischen Strukturen und weg von der Ver- sie schließen will.
krustung, die jetzt überwunden werden muß.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wir haben
ten der CDU/CSU) doch ein 20-Milliarden-Paket gemacht!)
Der Bundeshaushalt 1995 ist dafür eine realistische Wirklich etwas kümmerlich fand ich, Frau Mat-
Handlungs an weisung. Anhänger schöngeistiger uto- thäus, den Verweis auf den Sturz von Helmut
pischer Vorstellungen mag er sicherlich nicht befrie- Schmidt.
digen. Aber dafür entspricht er in seiner Offenheit und
konkreten Aussage den Aufgaben, die vor uns liegen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das gefällt
und die wir uns selbst gestellt haben. Ihnen nicht, Herr Solms, das glaube ich!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 343

Dr. Hermann Otto Solms


Es müßte doch mittlerweile selbst bei Ihnen angekom- — Die Ergänzungsabgabe mit Einkommensgrenze,
men sein, daß er damals durch seine eigene Fraktion selbstverständlich; nicht aber den Solidaritätszu-
gestürzt worden ist. schlag mit Einkommensgrenze. —
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist doch
ten der CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier eine Ergänzungsabgabe!)
[SPD]: Das ist doch lächerlich!) Was die SPD darüber hinaus gefordert hat, war eine
Aber es mag sein, daß Sie diese Geschichtsklitterung Arbeitsmarktabgabe. Ich bestätige, daß wir nicht
brauchen, um Ihr schlechtes Gewissen wegen Ihres diese, sondern den Solidaritätszuschlag eingeführt
Parteiübertritts zu beruhigen. haben. Aber als es um die Höhe des Solidaritätszu-
Die Auffassung, die Einsparungen, die wir in den schlags ging, haben die Bundesländer immer höher
letzten Jahren durchgeführt haben, hätten nur die gepokert, weil sie immer mehr Geld haben wollten,
Kleinen betroffen, ist augenscheinlich falsch. Die um selbst entlastet zu werden. Das ist nun einmal ein
Einführung des Solidaritätszuschlags und die Erhö- Faktum.
hung der Vermögensteuer treffen insbesondere die (Beifall bei F.D.P. sowie bei Abgeordneten
Besserverdienenden; das ist nicht zu bezweifeln. Im der CDU/CSU)
übrigen haben die SPD-geführten Bundesländer dem Dies wird uns im nächsten Jahr volkswirtschaftlich
Einsparungs- wie auch dem Steuererhöhungsteil sehr schwer belasten. Wenn nun gerade von Ihrer
zugestimmt. Deswegen ist diese Klage nun wirklich Seite beklagt wird, daß die Nachfrageseite durch den
nicht berechtigt. hohen Solidaritätszuschlag belastet werde, so kann
Der Solidaritätszuschlag, zu dem ich dann auch ich das nur zurückweisen. Wären Sie etwas sparsamer
gleich kommen will, ist gerade ein Produkt der Ver- mit dem Geld der Steuerzahler umgegangen, dann
handlungen zwischen Bund und Ländern. Die Bun- wäre er nicht so hoch und die Nachfrageseite würde
desländer insgesamt, insbesondere auch die SPD- nicht so belastet.
geführten Länder, angeführt von Herrn Lafontaine (Beifall bei der F.D.P.)
aus dem Saarland, haben darauf gedrängt, daß die
Lasten, die ihnen wegen der Transferzahlungen in die Also, Frau Kollegin Matthäus-Maier, so war das; ich
neuen Bundesländer entstehen, größtenteils vom selbst war dabei. Das Ergebnis ist nun einmal, wie es
Bund übernommen werden ist. Wir haben das gemeinsam zu verantworten. Wie
immer auch die Begründungen waren; wir haben dem
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gemeinsam zugestimmt. Sie können sich nicht aus der
ten der CDU/CSU) Verantwortung stehlen.
und daß der Solidaritätszuschlag in dieser Höhe (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
eingeführt wird, was wir ursprünglich nicht wollten. CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
ten der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Solms, die
Kollegin Matthäus-Maier möchte eine weitere Zwi-
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Solms, schenfrage stellen.
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Mat-
thäus-Maier?
Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Bitte.

Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Bitte schön.


Ing ri d Matthäus-Maier (SPD): Herr Solms, da Sie-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie sagen, es sei richtig, daß die SPD eine Ergänzungsab-
fragt normalerweise gar nicht richtig!) gabe mit Einkommensgrenze gefordert habe, nicht
aber einen Solidaritätszuschlag mit Einkommens-
Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Solche Fragen wie grenze: Wollen Sie mir bitte bestätigen, daß der
Herr Uldall stelle ich in der Tat nicht, Herr Kollege. — Solidaritätszuschlag — in der Sache wie auch steuer-
Herr Solms, würden Sie mir zustimmen, daß die SPD systematisch, nach unserer Finanzverfassung —
bei den Verhandlungen über das Föderale Konsolidie- nichts anderes ist als eine Ergänzungsabgabe?
rungspaket bis zum Schluß darauf beharrt hat, beim
Solidaritätszuschlag eine Einkommensgrenze einzu- Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Frau Matthäus-
führen — was allerdings an Ihnen gescheitert ist —, Maier, wir sind hier nicht im volkswirtschaftlichen
daß wir in jeder Verhandlung gesagt haben: „Einkom- Seminar. Sie haben soeben schon Herrn Uldall
mensgrenze "? geschulmeistert, wie es sich eigentlich nicht gehört;
das muß ich einmal sagen.
Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Nein, das kann ich (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
nicht bestätigen. CDU/CSU)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ja wohl Wenn Sie aber schon glauben, das alles so genau zu
nicht wahr!) wissen, dann will ich Ihnen sagen: Was Sie zu den
Ich war bei diesen Verhandlungen dabei. Was die SPD Kinderfreibeträgen gesagt haben, ist in dieser Formu-
gefordert hat, war die Einführung einer Ergänzungs- lierung falsch; Kindergeld wird gegeben, bei Kinder-
abgabe. Das kann ich bestätigen. freibeträgen wird nichts gegeben,
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Mit Einkom (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ich benutze
mensgrenze!) das Wort „entlasten" !)
344 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Hermann Otto Solms


es wird weniger weggenommen. Das ist das Entschei- sozial gerechte, ökonomisch vernünftige Ergänzungs-
dende. Sie haben immer gesagt: Es muß das Gleiche abgabe" auf dem Tisch. Hier geschieht wieder das
gegeben werden. — Es wird überhaupt nichts gege- großangelegte Täuschungsmanöver, den Menschen
ben. Steuerfreibeträge führen dazu, daß Menschen zu beteuern, die Ergänzungsabgabe sei sozial
von dem von ihnen selbst verdienten Einkommen gerecht, der Solidaritätszuschlag jedoch, der auf unse-
etwas weniger an Steuern abgezogen wird. rem progressiven Steuertarif beruht, sei ungerecht.
(Zuruf von der SPD) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genauso ist
— Nein, das ist eine ganz saubere Definition. — Sie es!)
können dann darüber streiten, ob Sie das von der Ich habe Herrn Lafontaine hier schon einmal erklärt,
Bemessungsgrundlage oder von der Steuerschuld daß dies definitiv falsch ist. Sie haben der Steuerre-
abziehen. Dies ist ein politischer Streit, den man form 1990 und damit dem linear-progressiven Tarif,
ausfechten muß. Aber eines muß klar sein: Die Steu- so wie wir ihn gestaltet haben, zugestimmt. Der
erfreibeträge egal, wo sie abgezogen werden — Kollege Poß hat mir damals bestätigt, daß er diesen
führen dazu, daß der Steuerpflichtige weniger Steu- Tarif eigentlich nicht für schlecht hält.
ern von dem, was er verdient hat, abgeben muß. Nur
das Kindergeld bzw. der Kindergeldzuschlag führt zu (Joachim Poß (SPD): Den zerstören Sie doch
jetzt faktisch!)
einer direkten Zuwendung, nämlich aus Steuern auf
Einkommen anderer. — Darauf komme ich gleich noch.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Wenn Sie einen Solidaritätszuschlag einführen,
Die Freibeträge betreffen das eigene Einkommen. dann ist das ein Zuschlag auf die Steuern, die diesem
Das ist der systematische Unterschied. Es ist wichtig, Ta ri f entsprechen. Ein Kleinverdiener zahlt überhaupt
dies zu unterscheiden, weil es für den einzelnen nichts. Er zahlt keine Einkommen- und Lohnsteuer
Betroffenen psychologisch einen Unterschied macht. und auch keinen Solidaritätszuschlag. Mehrverdiener
Dies wirkt sich auf seine Leistungsmotivation aus. zahlen wenig Steuern und einen geringen Solidari-
Daher darf man dies nicht falsch darstellen. tätszuschlag. Hochverdiener zahlen viel Steuern und
einen hohen Solidaritätszuschlag, und zwar genau
Meine Damen und Herren, es gilt jetzt, bei der 4 Prozentpunkte Solidaritätszuschlag auf 53 % Steu-
Steuerpolitik eine Reihe von Zielen gleichzeitig zu ern, also insgesamt 57 %. Der „Geringverdiener" zahlt
verwirklichen. -- Und dies möglichst in einem einzi- 1,4 Prozentpunkte bei einem Eingangssteuersatz von
gen Gesetzgebungsakt. Dies stellt eine Steuerverein- 19 %; das sind insgesamt 20,4 %. Dies ist wirklich
fachung gegenüber einer Regelung in drei oder vier sozial gerecht. Daß es gerechter sein soll, bei einem
verschiedenen Gesetzen dar. — Es geht darum, das Einkommen bis zu 50 000 DM jährlich keinen
Existenzminimum freizustellen, wie dies das Bundes- Zuschlag zu zahlen, danach aber einen um so höheren
verfassungsgericht geboten hat. Es hat genauso gebo- Zuschlag, kann mir niemand erklären.
ten, die Entlastung der Familien fortzuführen. Dies
muß geschehen. Auch muß die Unternehmensteuer- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Partei der
reform fortgesetzt werden. Wir müssen die Standort- Besserverdienenden!)
bedingungen für Arbeitsplätze in Deutschland ver- — Nein, nein. Frau Matthäus-Maier, ich habe mir vor
bessern. Hieran führt kein Weg vorbei. Dazu ist jedoch dieser Rede einmal die Tariflohnstrukturen angese-
von der SPD überhaupt kein Vorschlag gemacht hen. Nahezu alle Facharbeiter in Westdeutschland
worden. und alle Angestellten in Industrie, Handel und
(Beifall bei der F.D.P.) Gewerbe liegen über dieser Einkommensgrenze. -
Gleichzeitig müssen wir alle Kraftanstrengungen (Zuruf von der F.D.P.: Die wissen nicht, was
unternehmen, um den Solidaritätszuschlag so schnell die Deutschen verdienen!)
wie möglich abzubauen und so bald wie möglich Das heißt, daß gerade diejenigen, auf deren Mehrlei-
obsolet zu machen. stung es in unserer Volkswirtschaft ankommt, nicht
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne zusätzlich durch eine leistungserdrückende Steuerbe-
ten der CDU/CSU) lastung belastet werden dürfen.
Auch der Sachverständigenrat hat gesagt, aus (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
volkswirtschaftlichen und insbesondere auch aus Deswegen ist dieser Solidaritätszuschlag das weitaus
finanzpsychologischen Gründen wäre eine Befristung
gerechtere System als die Ergänzungsabgabe.
des Solidaritätszuschlags besser gewesen. Das ist
auch die Auffassung der F.D.P. Dies ist jedoch nicht Damit komme ich auch gleich zu der Frage der
durchsetzungsfähig, weil alle Bundesländer dagegen Entlastung durch sie steuerliche Freistellung des
sind. Sie wollen diesen Finanzausgleich natürlich Existenzminimums. Hier hat Herr Schleußer für die
möglichst lange gesichert wissen. Deshalb müssen wir SPD einen Ta rif vorgeschlagen, der versucht, diese
nun so vorgehen, wie wir es im Koalitionsvertrag verfehlte Ergänzungsabgabe wieder in den Tarif ein-
vereinbart haben, daß nämlich dann, wenn sich die zubauen.
Leistungen aus dem Solidarpakt reduzieren, der Soli- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist ein
daritätszuschlag entsprechend gesenkt wird. NRW-Vorschlag!)
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Gut, NRW-Vorschlag, Entschuldigung. Ich nehme
Morgen haben wir einen Antrag der SPD mit dem das zurück. Trotzdem ist das Ganze interessant, weil
Thema „Ersatz des Solidaritätszuschlages durch eine es ursprünglich hieß, es werde einen Vorschlag für die
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 345

Dr. Hermann Otto Solms


SPD geben. Aber ich nehme das zur Kenntnis. Es ist undenkbar. Die Bausparförderung darf nicht angeta-
ein NRW-Vorschlag. stet werden. Sie muß verbessert werden,
Es war interessant, daß Frau Matthäus auf diesen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Vorschlag überhaupt nicht eingegangen ist. Das hat
jedenfalls mich verblüfft. Das heißt, man hat die Flucht weil sie das beste Instrument ist, Bezieher kleinerer
angetreten, bevor das Modell Wirklichkeit geworden Einkommen schon in jungen Jahren allmählich an das
ist und in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Sparen zur Schaffung von Wohneigentum heranzu-
führen. Das ist in meinen Augen sozial- und gesell-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schaftspolitisch besonders förderungswürdig.
Und warum? — Weil der Bundesfinanzminister ein (Beifall bei der F.D.P.)
erheblich überlegenes Modell vorgeschlagen hat.
Deswegen hat man das andere schnell in den Papier- Ich nenne ferner den Abbau der Begünstigungen im
korb geworfen. Rahmen der Wohnungsbauförderung, die Reduzie-
rung der Abschreibungsbedingungen oder der Förde-
Jedenfalls hat Herr Schleußer versucht, die Ergän- rung der Abschreibungen. Darüber kann man theore-
zungsabgabe über den Tarif wieder einzuführen mit tisch gut diskutieren. Das macht auch einen Sinn.
dem Ergebnis, daß nach Freistellung des Existenzmi- Aber das ist in den Verhältnissen, in denen wir uns
nimums die Steuerentlastung, die bei den unteren befinden, nicht umsetzbar. Soviel Sympathie ich für
Einkommensgruppen entsteht, durch eine erhebliche diesen Tarif mit der Gegenfinanzierung habe: Er ist
Mehrbelastung der Alleinstehenden mit einem Jah- politisch nicht umsetzbar. Das muß man zur Kenntnis
reseinkommen von über 50 000 DM ausgeglichen nehmen.
wird. Dazu ist das gleiche zu sagen, was ich schon
vorher zu der Ergänzungsabgabe gesagt habe: Der Tarif von Bundesfinanzminister Waigel hat
einige große Vorteile. Er führt dazu, daß keiner
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: mehrbelastet wird und daß der lineare Tarif im Prinzip
Außerdem systemwidrig!) erhalten bleibt. Er hat natürlich den Nachteil des
Nein, das geht nicht. Wir müssen das Existenzmini- Buckels, den Frau Matthäus hier angesprochen hat.
mum freistellen. Das muß man zugeben. Aber im Ergebnis wirkt sich
Die Expertenkommission, die Herr Waigel einberu- der Buckel so aus, daß es zu einer Mehrbelastung der
fen hat, hat einen Vorschlag gemacht. Der Vorschlag von dem Buckel beim Grenzsteuertarif Belasteten
ist vom System her eigentlich der beste. Nur, er führt nicht kommt. Keiner zahlt also mehr Steuern. Das
zu Steuerausfällen von knapp 40 Milliarden DM. Existenzminimum wird freigestellt.

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Man muß jetzt noch darüber diskutieren, ob man
Dazu sagt die SPD nichts!) den Buckel mindern kann, ob die Freistellung von
12 000 DM ausreicht. Ich würde es natürlich ungern
Das ist, wie jeder zugeben wird, gegenwärtig und in sehen, daß wir uns hier auf 12 000 DM konzentrieren
naher Zukunft nicht zu realisieren und nicht zu — wohlwissend, daß wir im Bundesrat oder im Ver-
verantworten. Wir würden uns für lange Zeit jeden mittlungsausschuß auf 13 000 DM gehen. Dann würde
finanziellen Bewegungsspielraum nehmen. ich lieber vorschlagen: Wir einigen uns ehrlich vorher
(Beifall der Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlin und machen es dann so. Denn Sie sind in der Mitver-
gen] [F.D.P.] und Michael Glos [CDU/CSU] antwortung. Wir wissen das. Das Ganze dann auf den
— Michael Glos [CDU/CSU]: Das ist der Vermittlungsausschuß zu schieben, obwohl man
Punkt!) schon vorher weiß, was man will, macht keinen-
Sinn.
Das hat natürlich auch die Expertenkommission
erkannt und deshalb eine Reihe von Gegenfinanzie- (Beifall bei der F.D.P.)
rungsvorschlägen gemacht. Das, was sie vorgeschla- Ich würde mich nicht gerne vom Vermittlungsaus-
gen hat, ist theoretisch gut und vernünftig. Aber wenn schuß korrigieren lassen. Auch das muß ich dazu
man es praktisch sieht und die Mehrheitsverhältnisse sagen.
sowie die politischen Motivationen der einzelnen
Parteien kennt, dann weiß man: Das ist nicht realisier- (Beifall bei der F.D.P.)
bar. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme dann
Ich will Beispiele nennen: die Besteuerung der zum Thema Familienlastenausgleich. Dazu habe ich
Lohnersatzleistungen und die Besteuerung des soeben schon einiges gesagt. Auf jeden Fall — das ist
Wohngeldes. Wenn wir das Wohngeld besteuern auch das Verfassungsgebot — müssen Familien mit
würden, müßten wir es entsprechend anheben. Kindern stärker entlastet werden.
Finanzpolitisch wäre das kein Geschäft. Ich nenne
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der
auch die Abschaffung der Steuerbegünstigung für
CDU/CSU)
Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit. Wer seinerzeit
die Vereinheitlichung der Steuerbegünstigung mitge- Hier gibt es verschiedene Wege. Die Expertenkom-
macht hat, der weiß, wie schwierig schon das war. Wir mission, die Herr Waigel einberufen hat, hat vorge-
haben damals zugesagt: Das ist es nun in der Steuer- schlagen, daß man im jetzigen System bleiben soll,
reform. — Jetzt können wir nicht wieder darangehen. welches ohne Zweifel verfassungskonform ist. Das
Ich nenne auch den Wegfall der Begünstigung für die bedeutet, Erhöhung der Kinderfreibeträge und eine
Vermögensbildung. Ich denke dabei an die Bauspar- entsprechende Erhöhung des Kindergeldes. Unser
förderung. Das ist jedenfalls für die F.D.P. völlig Vorschlag geht eher in die Richtung eines Negativ-
346 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Hermann Otto Solms


steuersystems. Das würde auch dem Gedanken eines gefördert. Ich frage: Wieviel Arbeitsplätze könnten
Bürgergeldes näher kommen. woanders mit einer solchen Förderung entstehen?
(Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P.)
Das Kindergeld sollte durch die Finanzämter ausge- Wie viele Arbeitsplätze gehen in den mittelständi-
zahlt werden. schen Unternehmen Jahr für Jahr verloren? Gleichzei-
tig betreiben wir die Erhaltung veralteter Strukturen
(Beifall bei der F.D.P.)
weiter.
Das haben wir damals in der sozialliberalen Koalition
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Es ist ein gemein-
gemeinsam verabschiedet; es ist dann am Widerstand
sames Versprechen!)
aller elf Bundesländer gescheitert. Ich weiß, daß dies
teilweise auch in der SPD Sympathien genießt. Nur — Ich weiß das, Frau Fuchs. Aber jetzt gibt es ein
vermute ich, daß sich wieder sämtliche Bundesländer neues Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Jetzt
dagegen aussprechen werden, nicht aus inhaltlichen sollten wir die Grundlagen überprüfen. Ich bin nicht
Gründen, sondern aus Gründen der Finanzverteilung der Meinung, daß man einfach sagen kann: So, jetzt
zwischen Bund und Ländern. Eigentlich müßte in ersetzen wir das durch diese oder jene Steuer. So
bezug darauf unter vernünftigen Menschen eine Eini- einfach können wir es uns nicht machen, insbeson-
gung zu erzielen sein. dere nicht angesichts der hohen Belastung mit Steu-
ern, die es heute gibt.
(Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Machen wir
das doch mal! Versuchen wir es einmal mit (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Die F.D.P. gibt die
Vernunft!) Steinkohleförderung auf!)
Leider ist das gegenwärtig anscheinend nicht mög- — Ich habe nicht gesagt, wir geben sie auf; ich habe
lich. Das jedenfalls wäre die Zielrichtung, die in gesagt: „schneller abbauen" . Sie müssen genau zuhö-
unseren Augen die höchste Attraktivität hätte. ren.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Es wird mehr
abgebaut, als vereinbart wurde!)
D ann muß man noch über die Frage: Steuerschuld
oder Bemessungsgrundlage reden. Das ist natürlich — Ja, es muß auch weiter abgebaut werden. Das ist
ein politisches Thema. Es sollte aber nicht dazu unsere Überzeugung, weil das Geld falsch ausgege-
führen, daß jede vernünftige Lösung verhindert ben wird.
wird. (Beifall bei der F.D.P.)
Lassen Sie mich noch eine kurze Bemerkung zum Es wird zu viel Geld in die Vergangenheit gesteckt
Kohlepfennig machen. Das Bundesverfassungsge-
und zu wenig in die Zukunft.
richt hat nun diese Sonderabgabe für verfassungswid-
rig erklärt. Jetzt darf doch nicht die erste Frage lauten: (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Wie, durch welche Steuerbelastung, ersetzen wir das? ten der CDU/CSU)
Die erste Frage muß vielmehr lauten: Ist das denn Das hat doch Frau Matthäus-Maier vorher eingeklagt:
zwingend und in dieser Höhe nötig? mehr in die technologische Entwicklung, mehr in die
(Zuruf von der F.D.P.: Sehr wahr! — Dr. Forschungsförderung, mehr in die Bildung. Darm
Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Frau müsenSiwoadrgGelusbn;hift
Matthäus-Maier, Subventionsabbau!) nun einmal nichts.
Ist es nicht richtig, diese volkswirtschaftlich verfehlte (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Förderung der deutschen Steinkohle schneller abzu- DIE GRÜNEN]: Wir müssen die Wahlkampf-
bauen, als das bislang vorgesehen ist? kostenerstattung für die F.D.P. streichen!)
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) — Ich weiß ja, daß Sie, Herr Fischer, sich über unseren
basisdemokratischen Parteitag freuen.
Es kann doch nicht richtig sein, daß wir die in
Deutschland geförderte Tonne Steinkohle zum Preis (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
von 290 DM zur Verfügung haben, die Tonne Stein- NEN sowie bei Abgeordneten der SPD —
kohle aus Australien oder Kanada frei Hafen Ham- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
burg für 70 DM pro Tonne bekommen können. Macht DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch einmal etwas
das denn Sinn? Es werden 7 Milliarden DM allein für zu Gera!)
den Kohlepfennig bereitgestellt. Das kann doch kei- Wenn ich mir die Parteitage der GRÜNEN aus der
nen Sinn machen. jüngsten Zeit anschaue,
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
kommt noch einiges hinzu!) DIE GRÜNEN]: Davon können Sie noch
Dazu kommt die Kokskohleförderung. etwas lernen!)
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: dann stelle ich fest: Das sind harmonische Treffen, ja
Knappschaft!) Weihnachtsfeiern eines katholischen Mädchenpen-
sionats, im Gegensatz zu unseren Veranstaltungen.
— Es kommt die knappschaftliche Versicherung
hinzu. Das kostet unglaublich viel Geld. Der Kumpel (Heiterkeit — Zuruf von der SPD: Was gibt es
wird mit weit über 100 000 DM pro Arbeitsplatz denn dagegen schon wieder?)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 347

Dr. Hermann Otto Solms


— Ich habe nichts dagegen. Ich sage nur: Es tritt eine Wenn die Lkw — einer nach dem anderen — durch die
gewisse Änderung im Erscheinungsbild dieser Partei Dörfer in Nordhessen fahren müssen und dort die
ein. Umwelt verschmutzen und die Menschen gefährden,
dann ist das Ihre Verantwortung, weil Sie den Ausbau
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
der A 44 verhindert haben.
DIE GRÜNEN]: Da lacht Herr Waigel, wenn
hier katholische Mädchen diskriminiert wer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
den!) Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: In Hessen gibt es nur noch
Ich glaube, daß Sie, Herr Fischer, persönlich dafür Trampelpfade für Maultiertreiber!)
verantwortlich sind, weil Sie die GRÜNEN weg von
ihren ursprünglichen Anfängen führen, von der linken Diese Auseinandersetzung führen wir im hessischen
Mitte oder von ganz links hin nach rechts, an die Töpfe Landtagswahlkampf gern.
der Machtbeteiligung. Ich muß zum Schluß kommen und sage daher nur
noch: Wir haben einen verantwortbaren und guten
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Haushaltsentwurf vorgelegt. Wir werden ihn sorgfäl-
DIE GRÜNEN]: Sie sollten doch nicht über
tig beraten und umsetzen. Uns geht es darum, daß wir
die Grünen reden, sondern über Gera, Herr
eine Politik für mehr Arbeitsplätze, für die Erneuerung
Solms!)
der Gesellschaft und für Fortschritt machen. Dann
Wenn bei uns einer so leichtfertig über die Umsetzung wird uns auch der Erfolg wieder zuteil werden.
der eigenen Programmatik reden würde Vielen Dank.
(Erneuter Zuruf des Abg. Joseph Fischer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU —
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
— hören Sie doch mal einen Moment zu —, wie Sie das DIE GRÜNEN]: Zu Gera hat er gar nichts
über Ihre tun, gesagt! Zu Gera hat er eisern geschwie-
gen!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Möllemann!)
dann wären bei uns alle weg. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Barbara
Höll, Sie haben das Wort.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.)
Bei uns beginnt schon bei dem Thema Amt und
Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine
Mandat die Revolution.
Damen und Herren! Herr Waigel, gestatten Sie mir,
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ daß ich Ihnen ebenfalls gratuliere, und zwar zu Ihrer
DIE GRÜNEN]: Bei Ihnen sind demnächst heutigen Rede. Denn Sie haben in Worte gefaßt, was
alle weg, auch wenn ihr nicht leichtfertig Nietzsche mit philosophischer Tiefe als „ewige Wie-
redet!) derkehr" bezeichnete.
— Warten Sie es doch ab! Sie waren weg und sind So verhält es sich in der Tat: Jahr für Jahr bringen
wiedergekommen. Wir gehen gar nicht weg, wir sind Sie die gleiche Rede zum Haushalt ein. Auch die
standhaft. Wir hatten ein schlechtes Jahr, und jetzt heutigen Ausführungen unterscheiden sich wohl nur
haben wir ein gutes Jahr vor uns. in der Anordnung der Textbausteine von den Etatre-
den früherer Jahre. Das einzig Lebendige Ihrer haus-
(Beifall bei der F.D.P.) -
halts- und finanzpolitischen Reden ist das wachsende
Wir werden in Hessen ein gutes Wahlergebnis erzie- Defizit des Bundes.
len. Warum? — Weil Sie dort einen solchen Scherben- Woher, Herr Waigel, nehmen Sie nach dem Schei-
haufen hinterlassen haben, Herr Fischer. tern Ihrer finanzpolitischen Prognosen noch den Mut,
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) vor dem Bundestag zu behaupten, gegenüber dem
ersten Haushaltsentwurf für 1995 werde sich die
Denn Sie haben dort als Umweltminister genau das
veranschlagte Nettokreditaufnahme um rund 10 Mil-
Gegenteil von dem erreicht, was Sie hier verkünden. liarden DM auf rund 59 Milliarden DM reduzieren?
Sie haben dazu beigetragen, daß wichtige Verkehrs-
Seit Jahren schon verkünden Sie Konsolidierungsstra-
wege nicht gebaut worden sind. tegien, die Sie auf dem Rücken der Arbeitnehmerin-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: nen und Arbeitnehmer sowie der Sozialhilfeempfän-
Deswegen ist er ja geflohen!) gerinnen und Sozialhilfeempfänger austragen.
Sie haben ein technologie- und innovationsfeindli- (Beifall bei der PDS)
ches Klima geschaffen. Das strukturelle Haushaltsdefizit ist in Ihrer Amtszeit
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) förmlich organisch gewachsen. Seit Jahren nehmen
Sie für sich in Anspruch, die Nettokreditaufnahme zu
Sie haben die Genforschung aus Hessen in die USA senken. Ebenfalls seit Jahren melden Sie Erfolge,
vertrieben. Ihre Arbeit hat dazu geführt, daß die bevor Sie gehandelt haben. Wahrlich unschlagbar ist
Fabrik in Hanau geschlossen werden mußte. Ihre Formulierung — nachzulesen in den „BMF-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Finanznachrichten 35/93" —: „Bei der Rückführung
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ der Kreditaufnahme wird es bleiben. Nur leider auf
DIE GRÜNEN]: Der einzig richtige Punkt, einem höheren Niveau." Das heißt im Klartext: Ich
den sie genannt haben!) werde sparen und dabei noch mehr ausgeben.
348 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Barbara Höll


Wie sieht das konkret aus? Der Finanzplan 1992 bis betrugen am 3. Oktober 1990 nachweislich 28 Milli-
1995 erwartete für das kommende Haushaltsjahr ein arden DM.
Ausgabevolumen von rund 450 Milliarden DM und
eine Nettokreditaufnahme von 25 Milliarden DM. Zweitens. Laut Monatsbericht der Bundesbank vom
Nach der im Juli vorgelegten und von Ihnen offenbar Juli 1990 war die DDR gegenüber dem Ausland mit
aus guten Gründen nicht mehr aktualisierten Finanz- netto 20,3 Milliarden DM verschuldet. Die aus den
planung für 1994 bis 1998 rechnen Sie für das kom- Wohnungsbaukrediten resultierenden Schulden ma-
mende Jahr mit Ausgaben in Höhe von 484 Milliarden chen noch einmal 38 Milliarden DM aus. Damit ergibt
sich insgesamt eine Summe von 86,3 Milliarden DM.
DM, zu deren Finanzierung die offizielle Neuver-
Das klingt ja wohl etwas anders. Das können Sie
schuldung auf mindestens 59 Milliarden DM verdop-
pelt werden soll. übrigens in der Drucksache 26 des früheren Unteraus-
schusses „Treuhand" nachlesen.
Doch obwohl Ihnen die Finanzplanung völlig aus
Der frühere Bundesbankpräsident Pöhl hat vor dem
dem Ruder gelaufen ist, stellen Sie sich hier vor den Treuhand-Untersuchungsausschuß bezüglich der
Bundestag und rühmen sich einer maßvollen Begren-
Auslandsverschuldung eindeutig Stellung genom-
zung der Ausgaben. Diesen Schein können Sie nur men. Ich zitiere:
deshalb wahren, weil Sie zum einen das über Nach-
tragshaushalte stetig gewachsene Ausgabensoll un- Die DDR hatte ja interessanterweise fast keine
terschlagen und zum anderen absehbare Belastungen Staatsschulden; die Regierung hatte praktisch
kommender Haushalte einfach nicht in der Finanzpla- keine Schulden oder nur geringe Schulden .. .
nung berücksichtigen. So haben Sie z. B. die im Verglichen mit Polen z. B. oder mit anderen
Wahlkampf von der CDU/CSU versprochene und von Ostblockstaaten war es nicht sehr hoch ... Hat
der Koalition vereinbarte Erhöhung der sozial unge- uns auch keine großen Probleme bereitet, weil
rechten Kinderfreibeträge von 4 104 DM auf 7 000 DM wir gesagt haben: Gut, das wird übernommen,
in der Finanzplanung nicht berücksichtigt. Steueraus- erledigt.
fälle in Höhe von insgesamt 12 Milliarden DM, die den
Bund rund 5 Milliarden DM kosten würden, wären die (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist
Folge. Dafür ist keinerlei Vorsorge getroffen. doch was anderes! Der ganze Staat war
pleite!)
Ich halte die Entscheidung des Bundesfinanzmini-
— Herr Faltlhauser, Herr Pöhl sagte das. Herr Pöhl
sters, dem Bundestag keine aktualisierte Finanzpla-
bezeichnete die Währungsunion nicht nur als eine
nung vorzulegen, für eine Mißachtung des parlamen-
„Roßkur", „die keine Wirtschaft aushält", sondern er
tarischen Budgetrechts.
bezeichnete sie vor dem Europäischen Parlament
(Beifall bei der PDS) schlicht als „Desaster".
Denn tatsächlich liegen ja dem neuen Haushaltsent- Der Schuldenberg von jetzt 400 Milliarden DM, den
wurf um etwa 3,5 Milliarden DM höhere Steuerein- nun der Bund abtragen muß, ist die Folge der gegen
nahmen, als im ersten Entwurf ausgewiesen, jeden ökonomischen Sachverstand aus politischen
zugrunde. Der hehre Anspruch, die Nettokreditauf- Erwägungen herbeigeführten Währungsunion.
nahme gegenüber dem Juli-Regierungsentwurf um (Beifall bei der PDS)
10,2 Milliarden DM zu senken, stellt doch wohl keine
„peanuts" dar. Gleiches gilt für die eher beiläufig Hier wuchs nichts zusammen; hier wurde etwas
gemachte Mitteilung, die Neuverschuldung werde zusammengenagelt. 400 Milliarden DM Schulden —
1997 und 1998 höher ausfallen, als im Sommer ver- das ist die Erblast aus vier Jahren christlich-liberaler
kündet. Wirtschafts- und Finanzpolitik im Geiste Günther
Mittags und Erich Honeckers.
Weil die Bundesregierung ganz offensichtlich ver-
sucht, die wahren Folgen ihres Anschlußkurses sowie (Beifall bei der PDS — Lachen bei der CDU/
das volle Ausmaß ihrer chaotischen Finanzpolitik zu CSU und der F.D.P. — Dr. Hermann Otto
verschleiern, verstößt der Entwurf des Bundeshaus- Solms [F.D.P.]: Das glauben Sie doch selber
halts 1995 gegen die Bundeshaushaltsordnung. nicht!)
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) Herr Waigel, Sie können den Bürgern in den neuen
Bundesländern auch nicht die Pro-Kopf-Verschul-
Beträge und Sachverhalte werden verschleiert und dung von 27 000 DM erklären.
vorgetäuscht. Ich frage mich, Herr Waigel: Ist es Ihnen
nicht langsam peinlich, hier wie eine Gebetsmühle (Walter Hirche [F.D.P.]: Lauter überschul-
ständig die gleichen Unwahrheiten zu wiederholen? dete Betriebe! Mangelhafte Infrastruktur!
Alles kaputt!)
Zur Begründung für den dramatischen Anstieg der
Neuverschuldung wird — heute wieder einmal — auf Es ist nicht ersichtlich, wie die Absicht der Bundes-
die angeblichen Erblasten der DDR hingewiesen. Die regierung, durch eine nicht näher definierte Neuord-
DDR soll der reichen Bundesrepublik angeblich einen nung der Bestimmungen zur Arbeitslosenhilfe und
Schuldenberg von 400 Milliarden DM hinterlassen zur Sozialhilfe im Bundeshaushalt ab Oktober 1995
haben. Dieser plumpen Propaganda möchte ich nach- 1 Milliarde DM einzusparen, umgesetzt werden soll.
prüfbare Fakten entgegenhalten. Wir hoffen, daß hier die SPD-regierten Länder wenig-
stens einmal Rückgrat beweisen und daß diese Pläne,
Erstens. Die Schulden des Staatshaushaltes der die in den Schubladen liegen, nicht verwirklicht
DDR, die Teil des Kreditabwicklungsfonds wurden, werden.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 349

Dr. Barbara Höll


Der Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit 670 Millionen DM auf rund 48 Milliarden DM wach-
soll von 1994 auf 1995 um 6,5 Milliarden DM auf sen.
11,5 Milliarden DM gekürzt werden. Nach Ihrem
Juli-Entwurf waren es noch 14,8 Milliarden DM. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Rede-
Keinerlei Tatsachen stehen dahinter, woher Sie diese zeit.
Kürzungen nehmen wollen. Man höre und staune: Sie
bleiben bei Ihrer Zielstellung, bis 1998 die Zuschüsse Dr. Barbara Höll (PDS): Nach NATO-Kriterien wird
des Bundes für die Bundesanstalt für Arbeit auf Null dies dann insgesamt 60 Milliarden DM betragen.
herunterzufahren. Ich frage mich wirklich, wie da Es gäbe noch etliches zu sagen. Lassen Sie mich
noch irgend etwas finanziert werden soll, denn Sie zusammenfassend feststellen: Der Bundesfinanzmini-
glauben doch nicht, daß die Massenarbeitslosigkeit ster ist bestenfalls ein Mann der Halbwahrheiten.
bis dann durch Ihre Politik in den Griff zu kriegen sein Verglichen mit der mittelfristigen Finanzplanung der
wird. Bundesregierung war selbst die Buchführung eines
So ganz nebenbei bedienen Sie sich zur Tilgung Al Capone solide und mustergültig.
Ihrer Haushaltsdefizite dann auch noch aus Dingen, Immer nur weiter so!
die Ihnen eigentlich nicht zustehen. Beispiel: Die zur (Beifall bei der PDS)
bundeseigenen Staatsbank Berlin mutierte ehemalige
Staatsbank der DDR soll wieder als Melkkuh miß- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem
braucht werden. Bereits in diesem Jahr bediente sich Kollegen Joachim Poß.
Herr Waigel mit 1,05 Milliarden DM aus diesem Geld.
Nun soll durch eine Zusammenführung mit der Kre- Joachim Poß (SPD): Herr Präsident! Meine Damen
ditanstalt für Wiederaufbau überschüssiges Eigenka- und Herren! Gestatten Sie mir zunächst ein Wort zum
pital in den Bundeshaushalt fließen. Stillschweigend Kohlepfennig, Herr Kollege Solms. Ich glaube, daß
nimmt Herr Waigel 5,6 Milliarden DM — Geld, das auch nach diesem Urteil klar sein muß, daß sich die
eigentlich die neuen Bundesländer einfordern. 100 000 Bergleute - es waren einmal 600 000 — und
Zu der ungerechten Steuerfreistellung hat Frau ihre Familien auf die Zusagen der Bundesregierung
Matthäus-Maier hier ausführlich gesprochen. aus der Kohlerunde verlassen können müssen;
Ich möchte vielleicht noch darauf hinweisen, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
die westdeutsche Industrie nach Prognosen des Ifo- der PDS — Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht bei
Instituts in diesem Jahr vor einem Gewinnanstieg um dieser Bundesregierung!)
rund 150 % auf etwa 50 Milliarden DM steht. Dennoch denn wir können hier nicht theoretisch über Politik-
beabsichtigt die Bundesregierung, die Unternehmen verdrossenheit reden, aber mit unserem eigenen Tun
um Steuern in Höhe von rund 30 Milliarden DM zu jeden Tag dazu beitragen, daß die Menschen immer
entlasten. verdrossener werden.
Das soll aufkommensneutral geschehen, d. h. durch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Steuererhöhungen an anderer Stelle gegenfinanziert der PDS)
werden, und setzt voraus, daß der Solidaritätszu- Über die Lösungswege werden wir reden müssen. Da
schlag entfällt. Denn der Bund darf diese Abgabe nur hat der Herr Bundeswirtschaftsminister schon Wege
zur Deckung eines wirklich bestehenden zusätzlichen angedeutet.
Finanzbedarfs erheben. Das erklären Sie einmal bei In den nächsten Monaten wird sich zeigen, meine
diesen Zahlen und den Gewinnanstiegen auf der Damen und Herren, ob diese Bundesregierung — —

anderen Seite.
(Beifall bei der PDS) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, gestat-
ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms?
Wenn die Bundesregierung an dieser Absicht fest-
hält, die Unternehmensteuern zu senken, dann muß
sie gleichzeitig den Steuerausfall von 58 Milliarden Joachim Poß (SPD): Ja, bitte schön.
DM als Folge erklären, nämlich wie sie das ohne den
Wegfall des Solidaritätszuschlags machen will. Auf Dr. Hermann O tt o Solms (F.D.P.): Herr Poß, ich
Ihre Buchungstricks hat Frau Matthäus-Maier eben- verstehe ja Ihre besondere Interessenlage als nord-
falls sehr ausführlich hingewiesen. rhein-westfälischer Abgeordneter, sich dafür einzu-
setzen. Aber sehen Sie denn nicht auch, daß beispiels-
Zum Ende: Wenn Sie als Finanzminister sagen, im weise die energieintensive Wirtschaft — auch aus
Haushalt und auch in der mittelfristigen Finanzpla- Nordrhein-Westfalen —, die eben hohe Energieko-
nung muß man sich konzentrieren, so frage ich mich: sten hat, größte Sorgen davor hat, daß jetzt der
Worauf? Auf Bekämpfung der Massenarbeitslosig- Kohlepfennig durch eine Energiesteuer ersetzt wird,
keit? — Nein. Auf Bekämpfung der Armut? Eben- weil sie schon durch den Kohlepfennig zu sehr bela-
falls nein. Entsprechend dem großdeutschen Getöse stet wird und teilweise ihre Arbeits- und Betriebsstät-
konzentrieren Sie sich auf den Rüstungshaushalt. ten schließen muß?
Ausdrücklich wurde im Juli-Finanzbericht mit
offensichtlichem Stolz darauf hingewiesen, daß der Joachim Poß (SPD): Mir ist die Struktur der nord-
Rüstungshaushalt — ich zitiere — „von der Fortschrei- rhein-westfälischen Wirtschaft sehr genau bekannt.
bung der globalen Minderausgabe 1994 sowie sonsti- Ich kenne auch die Vor- und Nachteile einzelner
gen Kürzungen ausgenommen" wird. Der Verteidi- Lösungen. Deswegen habe ich mich zunächst so
gungshaushalt 1995 wird gegenüber 1994 um fast allgemein geäußert. Ich habe in den Vordergrund
350 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Joachim Poll
gestellt, was jetzt wichtig ist: daß die betroffenen Dadurch steigt die Steuerbelastung schlagartig um
Arbeitnehmer und ihre Familien nicht in Panik zwei Punkte an, auf den fast einmaligen Rekordwert
gestürzt werden. von fast 48 %.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Spielball der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Unglaublich! —
F.D.P. werden! — Ingrid Matthäus-Maier Zuruf des Abg. Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/
[SPD]: Aber Herr Rexrodt hat gesagt: Ener CSU])
giesteuer!) Viele Bürger, Herr Faltlhauser, werden sich im neuen
Jahr verwundert die Augen reiben, wenn sie netto
Lassen Sie uns das an dieser Stelle genug sein. noch weniger in der Tasche haben als in diesem
Allerdings meine ich, daß sich eine Energiesteuer Jahr.
nicht allein darauf beziehen darf, sondern wir auch
über kurz oder lang z. B. die Finanzierung von Ener- (Beifall bei der SPD)
gieeinsparung oder regenerativen Energien sehr Die Minderung der Nettoverdienste führt mit einer
sorgfältig prüfen müssen, unabhängig von diesem Verzögerung auch zu einer Minderung der Renten.
Urteil. Die Bürger müssen wissen, wem sie diesen Griff in ihr
Portemonnaie zu verdanken haben: der Steuererhö-
(Beifall bei der SPD) hungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P.
In den nächsten Monaten wird sich zeigen, ob diese (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Bundesregierung noch in der Lage ist, die längst der PDS)
fällige Neuorientierung in der Steuer und Finanzpo-
-

litik vorzunehmen, Nach der wiederholten Erhöhung der Mineralöl-


steuer, der Versicherungsteuer und der Mehrwert-
(Detlev von Larcher [SPD]: Ist sie nicht!) steuer sowie den inflationsbedingten heimlichen
Steuererhöhungen ist dies der vorläufige Höhepunkt
oder ob sie, was leider viel wahrscheinlicher ist, einer Flut von Steuer- und Abgabenerhöhungen.
weiterwurstelt wie bisher. Damit würden Sie keine
Im übrigen steht jetzt fest, daß die Regierungskoali-
Probleme lösen, sondern nur neue schaffen. Am Ende
tion den Solidaritätszuschlag zumindest bis zum Ende
der vergangenen Legislaturperiode wurde unser dieser Periode in voller Höhe erheben will. Entweder
Steuerrecht vielfach als Steuerchaos bezeichnet. hat die F.D.P. ihre Forderung nach einer baldigen
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!) Abschaffung von vornherein nicht ernst gemeint, oder
sie ist vom Bundesfinanzminister bei den Koalitions-
Wenn die Bundesregierung so weitermacht wie bis- verhandlungen über den Tisch gezogen worden.
her, dann zeichnet sich zum Ende dieser Periode eine (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Letzteres!)
Steuerkatastrophe ab.
Denn die vereinbarten Kriterien für ein Absenken des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Solidaritätszuschlags werden, wie der Herr Kollege
der PDS) Waigel in einem Interview mit der „Wirtschaftswo-
che " eingeräumt hat, in den kommenden Jahren nicht
Bei der zukünftigen Ausgestaltung der Steuerpoli- eintreten. Das Aufkommen aus dem Solidaritäts-
tik geht es in ganz besonderem Maße auch darum, daß zuschlag wird nämlich nicht höher, sondern wegen
die Bürger wieder Zutrauen zu unserem Gemeinwe- der beabsichtigten Änderung bei der Einkommen-
sen fassen. Die Bürger haben die große Steuerlüge des steuer niedriger sein, als bisher geplant. Auch hier hat
-
Jahres 1990 nicht vergessen. Sie haben auch die also der Bundesfinanzminister mit falschen Karten
vielen Steuertricks des Bundesfinanzministers satt. gespielt.
Doch offenbar soll alles so weitergehen wie bisher.
Das von Ihnen, Herr Waigel, vorgelegte Modell zum (Hans Georg Wagner [SPD]: Wie immer!)
Existenzminimum und die in den Wind geschlagenen Meine Damen und Herren, durch die bereits vorge-
Warnungen vor einem Solidaritätszuschlag für alle nommenen Steuer- und Abgabenerhöhungen sind die
Steuerzahler sind hierfür zwei aktuelle Beispiele. normalverdienenden Bürger schon bis an die
Schmerzgrenze belastet worden. Daß sie jetzt noch
In den letzten vier Jahren war Ihre Steuerpolitik vor
zusätzlich den Solidaritätszuschlag von 7,5 % zahlen
allem durch eine in wesentlichen Bereichen verfas-
sollen, ist nicht nur sozial ungerecht, sondern auch
sungswidrige Besteuerung und durch einen ständigen
wirtschaftspolitisch unvernünftig.
Anstieg der Steuer- und Abgabenbelastung gekenn-
zeichnet. Darunter leiden in erster Linie die normal (Beifall bei der SPD — Adolf Roth [Gießen]
verdienenden Arbeitnehmer. Auch das vor der Tür [CDU/CSU]: Wer hat das unterschrieben?
stehende Jahr 1995, über dessen Haushalt wir heute Herr Scharping hat das unterschrieben!)
reden, beginnt mit einem steuerlichen Paukenschlag: Hierdurch wird Nachfrage geschwächt. Sehen Sie
mit der Einführung des Solidaritätszuschlags für alle, doch: Trotz aller Zahlen ist das zarte Pflänzchen
also auch für die Bezieher kleiner und mittlerer Konjunkturaufschwung immer noch bedroht und
Einkommen. könnte verkümmern.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt doch Der Verlauf des Weihnachtsgeschäfts zum Beispiel
gar nicht! — Dr. Wolfgang Freiherr von zeigt, daß die geminderte Kaufkraft der Bürger derzeit
Stetten [CDU/CSU]: Das ist doch nicht das größte Problem ist. Auch die Verhandlungen der
wahr!) Tarifparteien werden durch die Einführung des Soli-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 351

Joachim Po ß
daritätszuschlags belastet, da viele Arbeitnehmer Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, gestat-
eine weitere Verminderung ihres Reallohnes nicht ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Faltlhau-
hinnehmen wollen. ser?
Die SPD hat von Anfang an vorgeschlagen, die Joachim Poß (SPD): Bitte, gern.
ohnehin zu hoch belasteten Bezieher kleiner und
mittlerer Einkommen von dem Solidaritätszuschlag Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Faltlhauser,
auszunehmen und statt dessen eine Ergänzungsab- Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
gabe für höhere Einkommen zu erheben. Wir haben
hierzu einen Antrag formuliert und eingebracht, über Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Kollege Poß,
den morgen abgestimmt wird. Ich bitte Sie, stimmen heißt Ihre Kritik an dem Verfahren um das Gutachten
Sie diesem Antrag zu, damit ein erster Schritt hin zu von Herrn Professor Bareis, daß Sie die Gegenfinan-
mehr Steuergerechtigkeit und zur Sicherung des zierungsvorschläge von 33,7 Milliarden DM in diesem
wirtschaftlichen Aufschwungs erfolgt! Umfang mit realisieren wollen? Nehmen Sie das
positiv auf, oder wollen Sie das mit wesentlichen
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Teilen dieser Gegenfinanzierung tun? Falls das nicht
Müller [Berlin] [PDS])
der Fall ist, frage ich Sie, welches Gegenkonzept Sie
Auf Dauer, meine Damen und Herren, sind die haben.
Bürger nur dann bereit, ihre Steuern zu zahlen, wenn
die Steuerlasten gerecht verteilt sind, keine unge- Joachim Poß (SPD): Sie wissen ganz genau: Damit
rechtfertigten Vergünstigungen und Schlupflöcher ist nicht gemeint, daß man diese Gegenfinanzierungs-
bestehen, das Steuerrecht einigermaßen überschau- vorschläge blind aufnimmt. Gemeint ist damit, daß
bar ist und der Staat vernünftig mit den Steuergeldern dieses Gutachten wirklich zur Grundlage von Bera-
seiner Bürger umgeht. In all diesen Punkten hat die tungen gemacht wird, daß man nicht im Kämmerchen
Bundesregierung in den letzten Jahren versagt. Ich schon eine Lösung nur unter Finanzaspekten erarbei-
möchte das an einigen Beispielen belegen. tet hat und sich eine Auftragsarbeit bestellt, die m an
imWahlkpfsAbenutz,mkisf
Das Verfassungsgericht hat schon im September geben zu müssen. Dies ist der Punkt, um den es hier
1992 entschieden, daß der geltende Einkommensteu- geht.
ertarif verfassungswidrig ist, weil das Existenzmini- (Beifall bei der SPD)
mum nicht ausreichend berücksichtigt wird. Statt
diesen elementaren Verstoß gegen die Steuergerech-
Vizepräsident Hans Klein: Lassen Sie eine Zusatz-
tigkeit so schnell wie möglich zu beseitigen, haben
frage zu?
Sie, Herr Bundesfinanzminister, eine Lösung auf die
lange Bank geschoben, auf den letzten möglichen
Zeitpunkt vertagt. Das zeigt, daß Sie an der Herstel- Joachim Poß (SPD): Bitte.
lung von Steuergerechtigkeit gar kein eigenes Inter-
esse haben. Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Heißt das, Herr
Kollege Poß, daß Sie die massiven und fast beleidigen-
(Beifall bei der SPD) den Kritikpunkte und Anwürfe aus den Reihen Ihrer
eigenen Fraktion gegen die Kommission, die nach
Sie müssen vom Verfassungsgericht getrieben wer- dem Vorlegen des Gutachtens geäußert wurden, auf
den. Ihnen fehlt das Engagement für soziale Gerech- diese Weise zurücknehmen wollen?
tigkeit, Herr Dr. Waigel. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Lächerlich!)
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Müller [Berlin] [PDS] — Zuruf von der CDU/ Joachim Poß (SPD): Aus meiner Fraktion wurden
CSU: Das sind Sprechblasen!) einzelne Vorschläge sehr kritisch — teilweise zu
Recht — kommentiert. Das bezog sich aber nicht auf
Da setzen Sie, von Ihnen handverlesen, eine Sach- die Kommission und ihre Arbeit insgesamt.
verständigenkommission ein, geben ihr einen umfas- (Beifall bei der SPD)
send formulierten Auftrag, erzählen in der Öffentlich- Sie haben das als Trick benutzt, Herr Dr. Waigel, um
keit, Sie bräuchten die Arbeitsergebnisse dieser Sach- vor der Wahl behaupten zu können, Sie könnten noch
verständigenkommission. Und wenn die Sachverstän- nicht so genau sagen, wie Ihre Steuerpolitik 1995/96
digen ihre Arbeit auftragsgemäß vorlegen, hauen Sie aussehen wird, weil Sie die Kommissionsergebnisse
sie in die Pfanne, und in welchem Stil! Dies ist abwarten wollten. Sie wollten Ihre eigenen Pläne
Arroganz der Macht.
verstecken.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das war der Hintergrund. Das Bareis-Gutachten war
noch nicht einmal übergeben, da hatten Sie es schon
Aber die politische Wirklichkeit ist noch viel schlim- verurteilt. So kann man mit Gutachtern nicht umge-
mer, wie der gesamte Ablauf deutlich macht. Sie hen. Das war ein Mißbrauch des steuerrechtlichen
haben die Kommission doch nur deswegen so spät Sachverstands der Kommission, ein mieses Spiel und
eingesetzt, damit ihre Arbeitsergebnisse nicht vor der ein lange geplantes Täuschungsmanöver gegenüber
Bundestagswahl herauskommen. der Öffentlichkeit.
(Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr!) (Beifall bei der SPD)
352 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Joachim Poß
Ich werfe Ihnen vor: Mit dem von Ihnen jetzt Die Versprechungen in den Wahlprogrammen von
präsentierten Vorschlag wollen Sie sich an den Vor- CDU/CSU und F.D.P. werden dadurch übrigens
gaben des Verfassungsgerichts vorbeimogeln. Der gebrochen.
von Ihnen selbst in einer Mischung aus Selbstgefällig-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das wundert uns
keit und Eitelkeit als „Quadratur des Kreises" gelobte
nicht!)
Vorschlag erfüllt kein einziges der notwendigen oder
von Ihnen selbst genannten Ziele. Zunächst ist festzu- In diesen Programmen hieß es nämlich: Es gibt keinen
halten: Sie wollen nur ein Einkommen bis zur Höhe Anstieg der Grenzbelastung.
von 12 000 DM freistellen. Dabei hat das Verfassungs- Einen derartigen Tarifverlauf mit willkürlichen und
gericht bereits für den Zeitraum von 1992 bis 1994 gleichheitswidrigen Progressionssprüngen hat das
einen Be tr ag von 12 000 bis 14 000 DM für erforderlich Bundesverfassungsgericht bereits in seinem Beschluß
gehalten. von 1992 ausdrücklich als verfassungswidrig ausge-
schlossen. Der Vorsitzende Ihrer Kommission, Herr
Da nach Ansicht des Verfassungsgerichts das steu- Bareis, hat dementsprechend auch nur ein vernichten-
erfrei zu stellende Existenzminimum sich an dem des Urteil für diesen Tarif übrig. Er erklärte: „Die
Niveau der durchschnittlichen Sozialhilfeleistung zu Pläne sind noch schlimmer, als wir erwartet haben. Sie
orientieren hat, muß, wie auch die von Ihnen selbst gehören zu den schlechtesten denkbaren Lösungen. "
eingesetzte Kommission festgestellt hat, für 1996 von Und: „Ein solch verkrüppelter Tarif wäre bei der
einem Be tr ag von mindestens 13 000 DM ausgegan- Expertenkommission unverzüglich im Papierkorb
gen werden. gelandet. "
Herr Waigel, Ihr Vorschlag führt dazu, daß die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
Bezieher kleiner Einkommen weiter in verfassungs- Müller [Berlin] [PDS])
widriger Weise zuviel Steuern zahlen sollen. Herr Waigel, Ihre „Quadratur des Kreises" ist in
Wirklichkeit ein häßliches Viereck, und zwar ein
(Beifall bei der SPD) Viereck aus vier Täuschungen: Sie besteuern weiter-
hin das Existenzminimum in verfassungswidriger
Sie treten heute morgen hier wie der Weihnachts-
Weise, Sie schaffen de facto den linear-progressiven
mann auf, der den kleinen Leuten eine Vorfreude
Ta ri f ab, Sie erhöhen die Grenzbelastung für ca. 40 %
verkünden kann, als würde er ihnen sozusagen nach
= 8,6 Millionen Steuerbürger, und Sie können den
eigenem Gusto ein Weihnachtsgeschenk offerieren.
Steuerausfall nicht, wie von Ihnen angegeben, auf
Dabei setzen Sie noch nicht einmal das Verfassungs-
15 Milliarden DM begrenzen.
gerichtsurteil um.
Gegenüber den bisherigen Ansätzen in der Steuer-
(Beifall bei der SPD und des Abg. Manfred schätzung für 1996 führt Ihr Modell nämlich zu einem
Müller [Berlin] [PDS]) Steuerausfall von insgesamt fast 20 Milliarden DM.
Der Grund für diesen höheren Steuerausfall liegt in
Das ist aber nicht alles, womit Sie die erstaunte der Tatsache, daß Sie unter dem Deckmantel einer
Öffentlichkeit überrascht haben. Sie stellen auch eine Steuerfreistellung des Existenzminimums eine damit
tragende Säule unseres Einkommensteuerrechts in in keinem inhaltlichen Zusammenhang stehende
Frage. Sie wollen den Grundfreibetrag einfach Tarifsenkung für Spitzenverdiener vorschlagen.
abschaffen. Sie wollen statt dessen einen besonderen Diese verfassungsrechtlich überflüssige Tarifsenkung
Abzugsbetrag einführen. Allerdings soll dieser führt dazu, daß verheiratete Spitzenverdiener jährlich
-
Abzugsbetrag eine Steuerminderung nur bis zu einem um 1 536 DM entlastet werden, während die verhei-
Jahreseinkommen von 30 000 DM bewirken. Der von rateten Normalverdiener eine Entlastung von jährlich
Ihnen vorgesehene schnelle Abbau des neuen nur 250 DM erhalten sollen.
Abzugsbetrags führt zu dem von Frau Matthäus
(Detlev von Larcher [SPD]: Das ist keine
Maier so genannten Buckeltarif mit dem Kleine-
Gerechtigkeit!)
Leute-Berg.
Dies ist nur ein Sechstel der Entlastung der Spitzen-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Waigel-Buckel!) verdiener. Daß ausgerechnet in dieser finanzpolitisch
schwierigen Zeit, in der die Bundesregierung von
Damit geben Sie faktisch den linear-progressiven allen Steuerpflichtigen einen Solidaritätszuschlag
Tarif auf. Die Grenzbelastung steigt für Einkommen erhebt und das Verfassungsgebot der Steuerfreistel-
bis 30 000 DM bzw. 60 000 DM um bis zu acht lung des Existenzminimums unterlaufen will, der
Prozentpunkte gegenüber dem geltenden Recht und Bundesfinanzminister Geld für eine Steuersenkung
sinkt für höhere Einkommen wieder. auf Pump für Spitzenverdiener hat, ist ein Skandal für
sich.
Das heißt, zitiert nach einer für Sie vollkommen
unverdächtigen Quelle, nämlich der „FAZ", in Zah- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred
len: Der Fiskus behält bei Kleinverdienern von jeder Müller [Berlin] [PDS])
zusätzlich verdienten Mark bis zu 33 Pfennig ein, Eine der wenigen konkreten Festlegungen in den
während es bei Personen, die mehr verdienen, nur Koalitionsvereinbarungen lautet: Die Gewerbekapi-
25 Pfennig sind. Dieser Belastungsbuckel ist nicht zu talsteuer soll zum 1. Januar 1996 abgeschafft werden.
rechtfertigen. Aber bis heute haben Sie, Herr Bundesfinanzminister,
nicht dargelegt, wie Sie den hierdurch eintretenden
(Beifall bei der SPD) Steuerausfall von 7 Milliarden DM jährlich — die
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 353

Joachim Poß
Länder sagen 8 Milliarden DM — für die Städte und Der Bundeskanzler muß hier verbindlich erklären, ob
Gemeinden ausgleichen wollen. die Bundesregierung die Lohn- und Einkommen-
steuer oder die Umsatzsteuer zur Finanzierung einer
Das soll nur der Anfang sein. Nach der Koalitions- Senkung der Gewerbesteuer erhöhen will.
vereinbarung will die Regierungskoalition die Ge-
werbesteuer sogar vollständig abschaffen. Das würde Meine Damen und Herren von der Koalition, jetzt
insgesamt einen Steuerausfall von 30 Milliarden DM nach der Wahl können Sie doch offen und ehrlich
bedeuten. Ich habe angesichts der großen Probleme in sagen, was die Koalition in der Steuerpolitik tatsäch-
vielen unserer Städte, gerade in den strukturschwa- lich will — wenn Sie es wissen.
chen Städten, sehr großes Verständnis dafür, daß die (Otto Schily [SPD]: Kneifen! — Ingrid Mat-
Städte und Gemeinden diese Pläne ablehnen und sie thäus-Maier [SPD]: Das wollen sie nach Hes-
als einen schwerwiegenden Angriff auf die kommu- sen sagen!)
nale Autonomie ansehen.
— Sie wollen die Landtagswahlen in Hessen abwar-
Daher frage ich Sie, Herr Finanzminister: Was ist ten; den Eindruck habe ich auch.
Ihre Konzeption? Wie stellen Sie sich den vollen
Ausgleich und den gleichwertigen Ersatz vor? Ist es Unser Steuerrecht droht im Chaos zu versinken. Die
der Vorschlag des Fraktionsvorsitzenden Schäuble, meisten Steuerpflichtigen verstehen die Steuerge-
bei einem Wegfall der Gewerbesteuer die Lohn- und setze nicht mehr. Selbst Steuerbeamte und Steuerbe-
Einkommensteuer um 30 Milliarden DM jährlich rater sind zunehmend nicht mehr in der Lage, das
anzuheben und ein Hebesatzrecht auf die Einkom- steuerrechtliche Regelungsdickicht zu durchschauen.
mensteuer für die Kommunen einzuführen? Herr Obwohl die Bundesregierung von Steuervereinfa-
Schäuble müßte wissen, daß sein Vorschlag im Klar- chung redet, leistet sie keine eigenen Beiträge dazu.
text bedeutet: Eine Lohn- und Einkommensteuererhö- Sie kompliziert das Steuerrecht ständig weiter. M an
hung um 30 Milliarden DM wäre eine Anhebung um riode bei der Schaffung ver- hateindrlzP
rund 9 % und damit eine noch größere Steuererhö- schiedener Einkommensbegriffe usw. nicht selten den
hung als jetzt der Solidaritätszuschlag mit 7,5 %. Eindruck, als seien im Bundesfinanzministerium auch
die letzten steuersystematischen Sicherungen durch-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred gebrannt.
Müller [Berlin] [PDS]
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehr gut!)
Haben sich diese Herrschaften denn schon so weit
Die von Steuerrechtler Professor Lang vorgenom-
von der Lebenswirklichkeit der Bürger entfernt, daß
mene Bewertung „Die Chaoten machen weiter" hat
sie nicht begreifen, daß eine derartige Zusatzbela-
sich also leider bestätigt. Denn auch die in den von
stung für die Bürger einfach nicht mehr zu tragen und
Herrn Waigel vorgelegten sogenannten 20 Punkten
zu ertragen ist?
zur Steuervereinfachung enthaltenen Vorschläge sind
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred nicht dazu geeignet, zu einer tatsächlichen Steuerver-
Müller [Berlin] [PDS]) einfachung beizutragen. Die Vorschläge sind Punkt
für Punkt ein Flop.
Warum soll ausgerechnet die Masse der normal ver-
dienenden Arbeitnehmer milliardenschwere Steuer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
senkungen für eine kleine Zahl gewinn- und kapital- der PDS)
starker Großunternehmen finanzieren? Im übrigen Die SPD dagegen will das Steuerrecht in wichtigen
hat das Bundesfinanzministerium, u. a. auf Fragen Bereichen materiell vereinfachen und nicht nur an
von mir, derartige Modelle in der Vergangenheit Symptomen herumkurieren. Frau Matthäus-Maier
geprüft und verworfen. hat das am Beispiel des Familienlastenausgleichs
Nachdem Herr Schäuble bereits im Frühjahr ange- erläutert; ich kann mir das sparen. Das führt dazu, daß
kündigt hat, er arbeite an einem steuerpolitischen Tausende von Stellen frei werden, die sinnvoller
Konzept, das u. a. eine Erhöhung von Verbrauchsteu- eingesetzt werden können. Auf dieser Ebene muß
ern, eine Anhebung der Vermögensteuer sowie die man reden. Herr Solms hat ja ein solches Angebot hier
Einführung der Straßenbenutzungsgebühr vorsieht, formuliert.
muß man doch nach dem erneuten Vorstoß von Herrn Bei der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und
Schäuble ernsthaft fragen, wer denn nun die Steuer- Steuerflucht ist es ganz ähnlich wie bei der Steuerver-
politik innerhalb der Koalition bestimmt. Finanzmini- einfachung: Die Bundesregierung redet zwar davon,
ster Waigel, der sich in immer chaotischeren Einzel- aber wenn es ernst wird, tut sie nichts. Statt die
regelungen verfängt, ist offensichtlich nicht in der Steuerhinterziehung nur als Kavaliersdelikt zu behan-
Lage, sich gegen die Pläne von Herrn Schäuble zu deln, muß die Bundesregierung endlich ihre Grund-
wehren. einstellung ändern und konkrete Maßnahmen ergrei-
Ich fordere daher den Herrn Bundeskanzler auf, fen.
morgen hier in der Debatte klipp und klar zu sagen, ob (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
seine Zusagen gegenüber den Städten und Gemein- der PDS)
den, daß das Gewerbesteueraufkommen erhalten und
die kommunale Finanzautonomie gewahrt bleiben, Nur so kann die Steuerhinterziehung als Diebstahl an
noch gelten. der Allgemeinheit geächtet werden. Zur wirksamen
Bekämpfung der Steuerflucht ist es auch erforderlich,
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred der Verlagerung von Steuern ins Ausland entgegen-
Müller [Berlin] [PDS]) zuwirken und auf europäischer Ebene entschlossen
354 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Joachim Poß
und glaubwürdig eine Harmonisierung der Zinsbe- Wirtschaftsstandortes Deutschland und damit den
steuerung voranzutreiben. Verlust von Arbeitsplätzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Was uns bei einer rot-grünen Koalition auf Bundes-
ebene erwartet hätte, zeigt die industriefeindliche
Politik der Landesregierung in Hessen,
Joachim Poß (SPD): Herr Präsident, mir wurde
gesagt, ich bekäme von meiner Fraktion noch einige (Beifall bei der CDU/CSU)
Sekunden Redezeit dazu. in der Joschka Fischer Minister war und H an s Eichel
zur Zeit noch Regierungschef ist. Aber das wird sich
Vizepräsident Hans Klein: Das müßte Ihre Fraktion sehr bald ändern. Gentechnik, mit der hochqualifi-
dem amtierenden Präsidenten sagen. Außerdem weiß zierte Arbeitsplätze zusammenhängen, gibt es in
ich gar nicht, ob Ihre Fraktion noch Zeit zur Verfügung Hessen nicht mehr. Auch die Uranbrennelemente
hat. werden nun künftig im Ausland produziert.
(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch)
Joachim Poß (SPD): Leider ist der Bundesfinanzmi-
nister auch hier gescheitert. Großspurig hatte die Ich zitiere die „Frankfurter Neue Presse" vom 10. De-
Bundesregierung vor der Bundestagswahl angekün- zember 1994:
digt, sie werde in der Zeit der deutschen EU- Hessenfürst Hans Eichel kann durchaus stolz
Präsidentschaft eine Harmonisierung der Zinsbe- sein, daß seine Politik Arbeitsplätze schafft, zwar
steuerung durchsetzen. Das Ergebnis, das jetzt vor- nicht bei uns, aber in den USA.
liegt, ist mehr als dürftig. Eine deutsche Tageszeitung
hat mit dem Spruch, den wir alle kennen, treffend (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
kommentiert: „Der Bundesfinanzminister ist gestartet Detlev von Larcher [SPD]: Sie kommen doch
wie ein Löwe und gelandet wie ein Bettvorleger." gar nicht aus Hessen!)
Rot steht in der politischen Farbenlehre für Neid,
Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist abgelau- immer höhere Belastungen der Leistungsträger unse-
fen. rer Gesellschaft — der sogenannten Besserverdie-
ner —, immer mehr Reglementierungen der Bürger
Joachim Poß (SPD): Vielen Dank, Herr Präsident, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
daß ich diesen Satz noch aussprechen durfte. Sonst Recht hat er!)
haben wir hier am Rednerpult gelegentlich schon
positive Erfahrungen machen können. und rückwärtsgewandte sozialistische Ideologie.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Lachen bei der SPD)
der PDS) Wann setzt sich denn endlich bei dem „Be triebsrat der
Nation" die Erkenntnis durch, daß wir die Rahmenbe-
Vizepräsident Hans Klein: Ich muß noch einmal dingungen für den Standort Deutschland verbessern
klarstellen: Die Redezeiten sind vereinbart. Wenn müssen, damit wir Anschluß an die Weltspitze halten,
jemand längere Redezeit beansprucht, muß dies die unsere Indust ri e wieder verstärkt im Inland investiert
-
Fraktion rechtzeitig anmelden. Wenn aber gar keine und wir damit wieder mehr Arbeitsplätze schaffen?
Zeit mehr zur Verfügung steht, dann sehe ich mich mit Die echten Bet riebsräte an der Basis haben diese
Blick auf die anderen Fraktionen außerstande, die Probleme schon längst erkannt. Die überholten
Redezeit zu verlängern. Sie haben eh fast zwei Minu- Umverteilungsideologien sind doch Gift für unsere
ten länger geredet, Herr Poß. Wirtschaft und für die Gesellschaft.
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So einfach ist Die politische Farbe Schwarz und ihr weiß-blaues
das!) Kernstück
Als nächster hat der Kollege Hansgeorg Hauser das (Lachen bei der SPD — Dr. Wolfgang Weng
Wort. [Gerlingen] [F.D.P.]: Er meint „blau-gelb"!)
stehen dagegen für Aufschwung, Schaffung günstiger
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU):
Rahmenbedingungen für die Wirtschaft und mittelfri-
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-
stige Entlastung der Leistungsträger.
nen und Kollegen! In den letzten Wochen haben wir
sehr viel über Farbenlehre lesen und hören können. (Beifall bei der CDU/CSU)
Lassen Sie auch mich an diesen Gedanken anknüp-
Wir werden die Staatsquote bis zum Jahr 2000 auf das
fen: Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Grün die
bereits 1989 mit konsequenter Konsolidierungspolitik
Farbe der Hoffnung, Rot die Farbe der Liebe und
erreichte niedrige Niveau absenken.
Schwarz die Farbe der Finsternis.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem (Beifall bei der CDU/CSU)
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Der Entwurf des jetzt eingebrachten Bundeshaushal
Wie anders stellt sich das in der politischen Farben tes 1995 und die Fortschreibung der Finanzplanung
lehre dar: Da steht Grün für die Behinderung des verfolgen diesen eisernen Weg der Sparsamkeit. Das
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 355

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)


Haushaltsmoratorium gilt für diese Legislaturperiode ausgeführt — für deutsche Unternehmen muß endlich
unverändert weiter. fallen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Zustimmung bei der CDU/CSU)
Sicherlich besteht auch hier Diskussionsbedarf über
Die Kollegen Roth und später auch Austermann den Weg des Ausgleichs: Beteiligung der Gemeinden
haben die weitergehende Konsolidierung dargestellt an der Umsatzsteuer oder Hebesatzrecht der Gemein-
bzw. werden sie darstellen. Ich möchte auf die steu- den an der Einkommensteuer. Jedenfalls darf das
erpolitischen Zielsetzungen eingehen. System nicht kompliziert sein, und es muß auch das
Haushalt — die Ausgabenseite — und Steuerpolitik Interesse der Gemeinden an Gewerbeansiedlungen
— die Einnahmenseite — sind die beiden Seiten einer gewahrt bleiben.
Medaille, deren Glanz wir nicht durch sozialistische Weiterhin müssen Richtlinien und Vorlagen der
Experimente ankratzen lassen. Europäischen Union rechtzeitig vor der Verabschie-
dung beraten werden. Das Parlament muß auch vor
(Lachen bei der SPD) den weiteren Stufen der Währungsunion eingebun-
Was hat doch der Vorsitzende der SPD — er ist jetzt den werden.
leider nicht mehr hier — in seiner Tutzinger Rede Ich lade — das gilt auch für die anderen Themen —
entlarvend über seine eigene Partei gesagt? Ich zitiere die Opposition herzlich ein, im Interesse unseres
aus der „Fr an kfurter Rundschau" vom 2. Dezember Landes und seiner Bürger und Unternehmen eine
1994: vernünftige Politik mitzugestalten. Herr Poß, diese
Aufforderung geht besonders an Sie und Ihre Arbeits-
Wir gruppe „Finanzen". Ich denke, daß wir diese Themen
— damit meint er also seine SPD — in unserer sachlichen Art werden behandeln kön-
nen.
sind ... als Partei noch längst nicht so weit, daß
wir auch nur annähernd als ein Ort wahrgenom- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
men werden, an dem über die Zukunft unseres gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Landes — interessenintegrierend und Konzepte
formulierend — nachgedacht wird. Hansgeorg Hauser (CDU/CSU): Bitte sehr, ja.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn) (BÜNDNIS 90/
Dem braucht man wahrlich nichts hinzuzufügen. DIE GRÜNEN): Herr Kollege Hauser, Sie sprachen
Diese Partei wollte die Regierung übernehmen. Das eben von günstigen Rahmenbedingungen, die durch
wäre eine absolute Katastrophe geworden. die Farbe Schwarz geschaffen würden, und von der
Lage der Städte und Gemeinden. Harsche Kritik an
(Zustimmung bei der CDU/CSU)
der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer übt aber
Meine Damen und Herren, uns Finanzpolitikern der Vorsitzende des Bayerischen Städtetages. Er
steht eine Fülle von Aufgaben in dieser Legislaturpe- spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kampf-
riode bevor. Zentrales Thema für das nächste Halbjahr ansage an die Städte und Gemeinden" . Es reiße
ist das Jahressteuergesetz 1996, auf das ich anschlie- riesige Löcher in die kommunalen Finanzen, sagt er in
ßend noch näher eingehen werde. diesem Monat. Welches ist ganz konkret der vollwer-
tige Ausgleich, und wann greift der Ausgleich? Was
Es stehen an die Folgerungen aus dem Urteil des sagen Sie Herrn Deimer von der CSU, Oberbürger-
Bundesverfassungsgerichts zum Kohlepfennig. Ver- meister in Landsberg?
ehrter Herr Kollege Poß, hierbei geht es ja nicht nur
um die Bergmannsfamilien, die Sie zitiert haben. (Zurufe von der CDU/CSU: Landshut!)
Leider werden von den Subventionen ja noch weit
mehr Menschen erfaßt, und darüber sollten wir uns Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU):
einmal unterhalten. Liebe Frau Kollegin, Herr Deimer ist Oberbürgermei-
ster von Landshut. Wenn Sie sich, wie ich, mit diesem
(Beifall bei der CDU/CSU) Thema schon längere Zeit beschäftigt hätten, dann
Das wird für uns eine gemeinsame Aufgabe für die wüßten Sie, daß es eine Fülle von Vorschlägen des
Zukunft sein. Diese Fragen müssen wirklich sehr Städtetages gibt , der sich sehr wohl für eine Beteili-
sorgsam erörtert werden. Wir können uns in diesem gung an der Umsatzsteuer erwärmen kann. Es gibt
zugegebenermaßen sehr sensiblen Bereich keine auch andere Vorschläge. Diese Vorschläge müssen
Schnellschüsse leisten. wir gemeinsam diskutieren. Wir haben es als Konzept
festgelegt, daß wir die Gewerbesteuer und in einem
Wir erwarten etwa Mitte des Jahres die Entschei- ersten Schritt die Gewerbekapitalsteuer abschaffen
dung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Ein- wollen. Es macht keinen Sinn, daß ein Betrieb, der
heitswerten. Unsere Position dazu steht insoweit fest, Verluste produziert, dafür noch Steuern zahlen muß.
als wir jedenfalls keine Verkehrswerte, keine neuen Das ist eine Wettbewerbsbehinderung ohnegleichen.
Belastungen wollen. Diese Verbesserung der Rahmenbedingungen müs-
sen wir erreichen.
Die Finanzverfassung muß geändert werden, weil
wir den Gemeinden einen fairen Ausgleich für den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wegfall der Gewerbesteuer geben wollen. Diese Son- Zentrales Thema ist, wie schon erwähnt, das Jah-
dersteuer — der Finanzminister hat das auch schon ressteuergesetz 1996 mit den vier Hauptelementen:
356 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)


Freistellung des Existenzminimums, Fortsetzung der welcher Weise er der verfassungsrechtlichen Vorgabe
Unternehmensteuerreform, weitere Verbesserung Rechnung trägt. Erforderlich ist lediglich, daß von den
des Familienleistungsausgleichs und die Steuerver- das Existenzminimum übersteigenden Einkommens-
einfachung. teilen dem Steuerpflichtigen jeweils angemessene
(Zuruf von der SPD: Sprechblasen!) Beträge verbleiben und kein Progressionssprung
stattfindet, der die vertikale Gleichheit geringerer
— Ich weiß nicht, ob Sie sich überhaupt schon einmal Einkommen im Verhältnis zu höheren außer acht läßt.
mit Gesetzen beschäftigt haben. Das ist der Inhalt des Das können Sie in dem Beschluß ausführlich nachle-
Jahressteuergesetzes mit den vier Teilen. So ist das sen.
vorgesehen. Daran werden Sie auch mit Ihren Zwi-
schenrufen nichts ändern. Angesichts dieser klaren gerichtlichen Äußerung
kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Vorschlag
Mit dem vorliegenden Entwurf ist es Finanzminister zur Freistellung des Existenzminimums verfassungs-
Waigel gelungen, die vielschichtige Problematik der konform ist.
steuerlichen Freistellung des Existenzminimums trotz
des vorgegebenen engen Finanzrahmens umfassend (Beifall bei der CDU/CSU)
und gerecht zu lösen. Die Kritik aus den Reihen der Denn die Entlastungsbeträge vermeiden im wirt-
SPD ist offensichtlich ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit. schaftlichen Ergebnis einen Progressionssprung und
Der Finanzminister hat nicht nur der SPD den Wind stellen auch unter Berücksichtigung des Abbaus der
aus den Segeln genommen, sondern auch viele Pessi- Grundentlastung sicher, daß den Steuerpflichtigen
misten überrascht. Mit seinem Konzept ist es ihm jeweils angemessene Beträge im Sinne der Entschei-
gelungen, die Vorgaben des Verfassungsgerichtes dung des Gerichtes verbleiben. Ebenso wird die
voll umzusetzen, die unteren Einkommen freizustel- vertikale Gleichheit beachtet, da die durchschnitt-
len, ohne den Mittelstand zusätzlich zu belasten, wie liche Belastung auch unter Einschluß der Steuerfrei-
es das SPD-Modell vorsieht. stellung kontinuierlich wächst.
Hauptkritikpunkt ist die angeblich zu hohe Pro- Niedrige Einkommen — das ist heute in einer Art
gressionssteigerung bei den unteren Einkommen, die und Weise vom Tisch gewischt worden, die unbe-
als „Geringverdienerbauch" bezeichnet wird. Für schreiblich ist — bis zum Existenzminimum von rund
mich ist es ein durchsichtiges Manöver, weil man hier 12 000/24 000 DM werden zu 100 % entlastet.
auf den Mittelstandsbauch des früheren Tarifs anspie-
len und unterstellen will, daß eine leistungsfeindliche (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: 1,5 Millio-
Besteuerung stattfindet. nen Haushalte!)
Ein Blick auf die Tatsachen entlarvt diese Kritik Man konnte hier den Eindruck bekommen, als wür-
allerdings schnell als pure Vernebelungstaktik. Auch den die niedrigen Einkommen jetzt noch zusätzlich
der neue Tarif bleibt linear progressiv und leistungs- mit Steuern belastet. Das stimmt doch alles nicht.
freundlich, denn die Freistellung des Existenzmini-
mums erfolgt durch eine außertarifliche Steuerentla- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Was reden Sie
stung, eine Grundentlastung, die mit steigendem denn da?)
Einkommen abgeschmolzen wird und bei 30 000 bzw. Mit steigendem Einkommen nimmt dann die Entla-
60 000 DM ausläuft. Diese außertarifliche Regelung stung ab und sinkt bei Spitzeneinkommen auf unter
hat keinen Einfluß auf den linear-progressiven Tarif- 2%.
verlauf.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das haben
Es gibt innerhalb und außerhalb des Steuerrechts wir doch gar nicht gesagt, was Sie da erzäh-
zahlreiche entlastende Regelungen, die mit steigen- len!)
dem Einkommen reduziert werden bzw. bei Über-
schreiten von Einkommensgrenzen völlig entfallen. So beträgt beispielsweise die Entlastung bei einem zu
Niemand ist bisher auf die Idee gekommen, in diesem versteuernden Einkommen von 13 000 DM 74,5 %,
Zusammenhang von einer Progressionsverschärfung bei 20 000 DM sind es immer noch 26 %,
zu reden. Es ist deshalb willkürlich und an den Haaren (Detlev von Larcher [SPD]: Aber von Prozen-
herbeigezogen, in eine graphische Darstellung der ten lebt man nicht!)
Grenzbelastung des Tarifs den außertariflich geregel-
ten Abbau der Grundentlastung hineinzurechnen und bei 50 000 DM sind es 2,4 %, und bei 122 364 DM sind
den so entstehenden kleinen Bauch in einer völlig es 1,8 %.
überzogenen Weise als Mangel des Tarifs anzupran- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie das
gern. Es ist schon bezeichnend, daß man Schaubilder doch einmal in absoluten Zahlen!)
zeigt, auf denen diese Entwicklung überdimensional
dargestellt wird, um zu suggerieren, daß es sich hier — Frau Matthäus-Maier, Sie hatten ausführlich Gele-
um eine riesige Benachteiligung handelt. genheit, sich darzustellen, zu produzieren und eine
Schau abzuziehen. Wir haben die Zahlen auf den
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem
Tisch gelegt. Bei einem zu versteuernden Einkommen
Grundsatzbeschluß vom September 1992 ausdrück-
von 122 364 DM — das ist der Beginn des Spitzen-
lich festgestellt, daß die steuerliche Freistellung des
steuersatzes für Ledige — beträgt die Entlastung
Existenzminimums nicht bedeutet, daß jeder Steuer-
gerade noch 1,8 %.
pflichtige vorweg in Höhe eines nach dem Existenz-
minimum bemessenen Freibetrags verschont werden (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sagen Sie
muß, sondern es dem Gesetzgeber freigestellt ist, in doch einmal absolute Zahlen!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 357
Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)
Die soziale Ausgewogenheit der Regelung zeigt Mein Problem ist, daß wir für die Umsetzung solcher
sich auch darin, daß der weit überwiegende Teil der Vorschläge die Bereitschaft aller Be troffenen ein-
Gesamtentlastung den unteren Einkommen zugute schließlich der Wirtschaft und der Gewerkschaften
kommt. So erhalten die unteren 50 % der Steuerzahler brauchen. Leider herrscht überall das Sankt-Florians-
70 % des Entlastungsvolumens. Die Kritik der SPD Prinzip vor, so daß wir hier nicht zurechtkommen
wegen einer angeblich sozialen Unausgewogenheit können.
der Vorschläge kann angesichts dieser Fakten nur als Ein Problem möchte ich noch ganz kurz ansprechen:
heuchlerisch bezeichnet werden. Das ist die Entwicklung, daß eine immer kleinere
(Beifall bei der CDU/CSU — Ingrid Mat Gruppe von Steuerzahlern einen immer größeren
thäus-Maier [SPD]: Da lachen ja die Hüh Anteil am Steueraufkommen erbringen muß. Mittel-
ner!) fristig müssen wir daher auch die Steuern im mittleren
und höheren Bereich wieder senken, wenn wir die
Der für 1996 vorgesehene Betrag von 12 095 DM Leistungsbereitschaft der Bürger nicht behindern wol-
bzw. 24 191 DM bleibt über dem Existenzminimum. len.
Hierfür spricht auch, daß für 1995 ein Freistellungs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
betrag in einer Größenordnung von 11 000 DM statt
des gesetzlich festgesetzten Freistellungsbetrages
von 11 500 DM ausreichend wäre. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der
Abgeordnete Metzger.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß wir
bereits 1993 mit der Übergangsregelung das Existenz-
minimum von der Steuer freigestellt haben. Es ist Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
deshalb unzutreffend, wenn immer wieder gesagt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus dem
wird, wir hätten den Beschluß des Verfassungsgerich- Mund von Theodor Waigel verlautete am bayerischen
tes nicht rechtzeitig umgesetzt. Wahlabend, nachdem die CSU die absolute Mehrheit
bekommen hatte: Ich bin ein Gottesgeschenk.
Die Neuregelung des Existenzminimums bedeutet,
daß 1,5 Millionen Haushalte völlig aus der Steuer- (Beifall des Abg. Hans-Peter Repnik [CDU/
pflicht herausfallen. Die Kritik an einer angeblichen CSU])
Leistungsfeindlichkeit der vorgeschlagenen Maßnah- Wie viele Gottesgeschenke brauchen Sie als Finanz-
men ist deshalb nicht nachvollziehbar. Es ist gerade minister, Herr Waigel, urn die finanziellen Risiken,
die SPD, die mit ihren Vorstellungen, z. B. dem die über Ihrem Bundeshaushalt 1995 schweben, in
Schleußer-Modell, Steuerpflichtige bereits mit einem Zukunft meistern zu können?
zu versteuernden Einkommen vom 50 000 DM bei Sie haben sich heute morgen in Schale geworfen
Ledigen stärker zur Kasse bitten will. und in Szene gesetzt, indem Sie gesagt haben: Die
(Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Jeder Fach Konjunktur läuft an, die Arbeitslosigkeit sinkt, die
arbeiter!) Steuerquellen sprudeln.
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
Die SPD zeigt auch damit wieder ihren Charakter als CSU]: Richtig! Genauso ist es!)
Steuererhöhungspartei; denn sie will, daß alle, die
mehr als 50 000 DM verdienen, mit höheren Steuer- In Wirklichkeit haben Sie in der Steuerschätzung für
abzügen belastet werden. Gerade das ist für den nächstes Jahr gerade mal 3,5 Milliarden DM zusätzli-
Mittelstand Gift, denn dadurch wird jeglicher Lei- che Einnahmen veranschlagt. Der Sockel an Arbeits-
stungsanreiz genommen. losigkeit, der aus jeder Krise zurückbleibt, wird um ein
-
Vielfaches mehr kosten, als der Aufschwung nach der
(Beifall bei der CDU/CSU) letzten Konjunkturkrise erbracht hat. Wir haben
jedesmal einen Sockel von mindestens 500 000
Alle Kritiker müssen sich die Frage gefallen lassen, zusätzlichen Arbeitslosen.
wie sie ihre weitergehenden Vorschläge mit den
daraus resultierenden weitaus größeren Steuerausfäl- Herr Waigel, wir hätten gerne Antworten, und zwar
len angesichts der engen haushalts- und finanzpoliti- von den Regierungsparteien. Sie stellen sich heute hin
schen Spielräume finanzieren wollen. Das gilt auch und machen aus der Not eine Tugend. Sie sagen:
für manche Wissenschaftler, die vergessen, daß zur Bringt uns doch als Opposition Konzepte! Sie haben
Umsetzung ihrer Vorschläge parlamentarische Mehr- eine so knappe Mehrheit, daß bei jedem Einsparvor-
heiten erforderlich sind. Dabei könnten die Vor- schlag Ihrer Regierung sofort ein betroffener Lobbyist
schläge der sogenannten Bareis-Kommission durch- aufheult und die Regierungsfähigkeit daran schei-
aus bedacht werden, um Spielräume für weiterge- tert.
hende Entlastungen zu gewinnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
Beifall des Abg. Peter Dreßen [SPD])
Ich darf noch einmal in aller Deutlichkeit sagen, daß
der Finanzminister nicht die Bareis Kommission in
-
Das ist doch das Problem. Deshalb hören wir von
irgendwelchen kritischen Äußerungen verdammt hat. Ihnen keine Antworten.
Vielmehr hat er gesagt: Die gemachten Vorschläge Wie wollen Sie eine Unternehmensteuerreform mit
sind in der zur Verfügung stehenden Zeit absolut nicht 30 Milliarden DM Volumen finanzieren? Wie wollen
umsetzbar. Das Problem dabei ist, daß wir einen Sie die Freistellung des Existenzminimums, die insge-
Gegenfinanzierungsbedarf haben, der in dieser kur- samt 15 Milliarden DM kostet, finanzieren? Wie wol-
zen Zeit nicht zu decken ist. Die Einzelvorschläge sind len Sie den Scheck über die Bahnreform, der im Jahre
schon gar nicht in allen Punkten umsetzbar. 1996 mit 6 Milliarden DM noch nicht gedeckt ist,
358 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Oswald Metzger
einlösen? Wie wollen Sie die langfristigen Risiken rung den schlichten Satz gelesen habe: Der Bund will
finanzpolitischer Art in dieser Gesellschaft in den Griff seine Hausaufgaben machen, die die Gemeinden
bekommen, die da lauten: Entschädigungs- und Aus- schon seit zwei Jahren machen, seit ihnen nämlich das
gleichsleistungsfonds für die politisch schwachsin- Wasser bis zum Hals steht, und betriebswirtschaftli-
nige gesetzliche Regelung im Rahmen der deutschen che Elemente bei der öffentlichen Leistungserbrin-
Vereinigung „Entschädigung vor Rückgabe"? Wie gung stärker zur Geltung bringen.
wollen Sie diese Risiken abfedern?
(Dr. Hermann Otto Sohns [F.D.P.]: Wo haben
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denn die Gemeinden ihre Hausaufgaben
gemacht? Nirgends!)
Wie wollen Sie beispielsweise der Tatsache Rech
nun tragen, daß die Pensionsbereitstellungen im Bun- Diese Konzepte, nämlich dezentrale Ressourcen-
deshaushalt wegen der Beamtenpensionen verhält- verantwortung, Abflachung von Hierarchien — in der
nismäßig stark steigen und die Versorgungslasten für Industrie längst erprobt —, müssen wir in die öffentli-
den Bundeshaushalt deshalb in Zukunft eine Erblast che Verwaltung einbringen. Hier gibt es Ressourcen
darstellen? in der Leistungserbringung, die wir erst einmal mobi-
lisieren sollten, bevor wir aus ideologischen Gründen
Für viele dieser Fragen gibt es keine Antworten. Als einfach das Schlagwort der Privatisierung verwen-
jemand, der aus der Kommunalpolitik kommt, weiß den.
ich eine Antwort, die Ihnen auch die CDU-, CSU-
Bürgermeister, -Oberbürgermeister und -Landräte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
singen: Der Bund hat die Möglichkeit, Kosten nach Sie können mit uns eine Haushaltsreform beschlie-
unten, auf die Kommunen, wegzudrücken. Das hat er ßen, die ihren Namen verdient: weg von der Kamera-
in der Vergangenheit mit einer Fülle von gesetzlichen listik, hin wenigstens zur doppelten kaufmännischen
Regelungen gemacht. Buchführung, zu Leistungs- und Kostenbilanzen, zum
Die Planung, die im Bereich der Arbeitslosenhilfe Sparen nicht nach dem Rasenmäherprinzip, sondern
ansteht, besagt nichts anderes, als daß Sie an Ihrer mit Intelligenz und Sachverstand.
ursprünglichen Konzeption festhalten. Dadurch, daß Und was darüber hinaus not tut: endlich einmal eine
Sie das erst im Oktober nächsten Jahres finanzwirk- Philippika gegen die Angriffe, daß im öffentlichen
sam in Szene setzen, haben wir die jährliche Bela- Dienst nur Pflaumen arbeiten. Wir haben im öffentli-
stung der Kommunen von 4 Milliarden DM auf chen Dienst gute Leute beschäftigt, aber die muß man
1 Milliarde DM im Jahre 1995 reduziert. Das heißt von den starren Regelungen des Dienstrechts
doch im Klartext: Man führt eine gespenstische befreien. Stellenobergrenzenverordnungen gehören
Debatte über Sozialmißbrauch — zu der sich jetzt auch beispielsweise in den Orkus geworfen. Darunter lei-
die Sozialdemokraten verführen lassen —, den nicht nur die Kommunen, die ihre guten Leute an
die jeweils nächsthöhere Ebene, die besser bezahlt,
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — ziehen lassen müssen. Darunter leiden auch der Bund
Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Die Ver und die Länder. Hier gibt es einen großen Aufgaben-
nunft siegt überall!) bedarf. Man muß natürlich auch an Besitzständen
um damit einen Generalangriff auf die Kommunen rütteln, die uns allen — im Parlament sitzt ja fast die
vorzubereiten. Wo bleibt der Soziallastenausgleich Hälfte aus dem öffentlichen Dienst — lieb geworden
des Bundes für die Gemeinden, sind. Hier müssen wir auch an die eigenen Pfründe
gehen.
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: -
Haben Sie einmal über die Finanzverteilung Ein weiteres Beispiel: Man kann auch intelligente
nachgedacht?) Politik betreiben, ohne Kosten nach unten abzudrük-
ken. Die Kommunen stehen mehr als wir Bundestags-
die die Kosten der Reparaturpolitik zahlen, weil hier abgeordnete als Zielscheibe der öffentlichen Kritik am
keine Arbeitsmarktpolitik gemacht wird? Pranger. Jedes Bundesgesetz, das wir verabschieden,
das nicht ausgegoren ist und Kosten nach unten
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wegdrückt, müssen die Gemeinderäte und -rätinnen,
Es gibt eine Fülle von Aufgaben, deren Lösung nach Kreisräte und -rätinnen aller Fraktionen ausbaden.
der Fachdiskussion der entsprechenden Gremien (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
einen Konsens erforderlich macht. Joschka Fischer hat
in seiner Rede zur Regierungserklärung gesagt, wir Deshalb gibt es von unten unisono diese Klage.
werden keine Opposition der Dämlichkeit in diesem Ich nenne ein Beispiel: In den Bundesländern wer-
Parlament sein. Deshalb werde ich auch einen Teufel den derzeit die ÖPNV-Gesetze gemacht bzw. sind
tun und hier nur angreifen und keine Konzepte oder teilweise bereits beschlossen. Ein Haupthemmnis
wenigstens Ideen einbringen. Wir werden dies auch eines vernünftigen Mitteleinsatzes im öffentlichen
im Haushalts- und im Finanzausschuß machen. Sie Nahverkehr in strukturschwachen Räumen abseits
können uns dann an unseren Taten messen und nicht der Ballungsräume ist das Personenbeförderungsge-
nur an parlamentarischen Fensterreden. setz des Bundes, das bei anderer Ausgestaltung den
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bis Zugriff der Landkreise auf die Linienkonzessionen der
jetzt machen Sie nichts anderes!) Busunternehmen ermöglichen würde. In unserem
Landkreis beispielsweise — dies ist der schwärzeste
Jetzt komme ich zum Thema „Wo gibt es Rezepte?". Landkreis Baden-Württembergs; der CDU-Kollege
Ich habe mich gefreut, als ich in der Regierungserklä von Waldburg-Zeil kann Ihnen das bestätigen, er hat
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 359
Oswald Metzger
das höchste Erststimmenergebnis seiner Partei in kalkulation erhöht werden. Das alles liegt daran, daß
Baden-Württemberg — beklagt sich der Landrat Sie diese Politik im Bund machen.
Schneider von der CDU, daß nicht einmal die eigenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Leute der CDU-Landtagsfraktion merken, daß hier und bei der SPD — Wolfgang Zöller (CDU/
der Bund den Weg über eine Änderung des Personen- CSU): Das stimmt eben nicht!)
beförderungsgesetzes frei machen muß. Dann kann
mit den bisherigen Subventionen des ÖPNV das Damit möchte ich schließen. Machen Sie Ihre Haus-
Fahrgastangebot um ein Drittel erhöht werden, ohne aufgaben im Bund, und treten Sie dann vor Ihre
daß zusätzliche Finanzmittel geschoben werden müs- Kommunalpolitiker in Ihren heimatlichen Wahlkrei-
sen.
sen. Dies ist ein praktisches Beispiel.
Vielen Dank.
Ein weiteres Beispiel: Führen Sie im Stromeinspei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sungsgesetz des Bundes, das 1991 in Kraft getreten ist, sowie bei Abgeordneten der SPD)
Einspeisevergütungsmindestbedingungen für Kraft-
Wärme Kopplung ein. Sie werden einen Investitions-
-

boom auslösen, der die Kommunen in die Lage Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der
versetzen wird, diese sinnvolle ökologische Technik Abgeordnete Dr. Wolfgang Weng.
einzusetzen, die auch mittelstandsfreundlich ist. Es
würde viele Installationsbetriebe in die Lage verset- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Prä-
zen, solche Dinge für rund 500 000 DM pro Blockheiz- sident! Meine Damen und Herren! Wenn m an neu in
kraftwerk zu bauen. Dann haben Sie eine ökologische diesem Hause ist, ist es natürlich verhältnismäßig
Investition mittelstandsfreundlich verkauft, ohne daß einfach, eine Momentaufnahme aufzuzeigen, die Ent-
der Bund eine zusätzliche Mark zuschießen muß. Dies wicklung zu dieser Momentaufnahme zu unterlassen,
ist eine intelligente Lösung. zu unterbinden und damit diese Entwicklung in ihrer
Wertigkeit auch nicht richtig darzustellen. Mein Vor-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) redner hat natürlich nicht gesehen, daß die Gemein-
den im Westen mit der deutschen Einheit und der
So einfach ist es manchmal, wenn man sich den Kopf
Wirtschafts- und Währungsunion in Wirklichkeit
über etwas zerbricht und nicht nur vordergründig
— trotz der Warnungen aus dem Deutschen Bundes-
nach Milliardensparvorschlägen schielt, sondern
tag — ihre Ausgaben eklatant nach oben gefahren
auch daran denkt, daß das, was wir in diesem Parla-
haben und daß sie in diesen enormen Haushalten
ment machen, Auswirkungen auf die Situation der
heute gefangen sind.
Bürgerinnen und Bürger in ihrem Heimatort hat.
(Widerspruch bei der SPD — Zuruf von der
Ein letztes Wort. Frau Matthäus-Maier hat heute SPD: Das ist doch nicht wahr!)
früh Beispiele dafür genannt, was die Freistellung des Damals gab es ein hohes Steueraufkommen; heute ist
Existenzminimums von der Steuer einem Durch- es überall knapp. Aber wenn man den Appellen von
schnittsverdienerhaushalt pro Monat an Entlastung hier aus, die Haushalte sparsam zu führen, eher
bringt. In einem Beispiel nannte sie als den untersten gefolgt wäre, dann hätte man diese schwierige Situa-
Wert eine Entlastung von 21 DM pro Monat. Ich tion heute nicht.
verfolge derzeit die Presse in Oberschwaben aus der
Auszulassen, daß der Bund im Föderalen Konsoli-
Gegend, aus der ich komme. Ich lese, daß serienweise
dierungsprogramm auf Grund der damaligen Mehr-
Kreise und Gemeinden Abfall- und Abwassergebüh-
heitsverhältnisse gegenüber den Ländern West bei-
ren in einer Größenordnung erhöhen, die beim
den notwendigen Umschichtungen in Richtung der
Abwasser 1,50 DM bis 2 DM pro m 3 im Monat
Länder Ost den kürzeren gezogen hat, und hier zu
ausmacht. Das bedeutet für einen Vierpersonenhaus-
sagen, was alles besser sein könnte, ist unverhältnis-
halt — das ist eine Folge des Wegdrückens von Kosten
mäßig einfach.
vom Bund auf die Länder und Gemeinden — bei
150 m3 Abwasser im Jahr Mehrkosten von knapp Ich will ein Weiteres sagen. Die Worte von seiten der
300 DM im Jahr. Schon ist die Entlastung weg. GRÜNEN, daß sie an Zukunftskonzepten mitwirken
würden, habe ich in den letzten zwölf Jahren so oft und
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU): Was hat an so vielen Stellen gehört — nirgendwo haben sie
Abwassergebühr mit dem Bund zu tun?) wirklich getragen —, daß man sie hinterfragen
muß.
— Das hat damit zu tun, daß die Kämmerer in den (Beifall bei der F.D.P.)
Städten und Gemeinden wegen der Finanzmisere die
kalkulatorischen Kosten in den Gebührenhaushalten Sie wollten immer alles anders machen. Sie wollten
plötzlich bis zum Gehtnichtmehr ausreizen. z. B., je nachdem, wie sich die Dinge darstellen,
unterschiedlich abstimmen. Sie wollten jeder nach
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Entschuldi seiner Auffassung abstimmen. Sie wollten sich nicht
gen Sie, Sie haben keine Ahnung! Sie dürfen verschließen. Sie wollten immer präsent sein und
nur die tatsächlichen Kosten umlegen! Also ähnliches. Das alles hat am Schluß nicht gestimmt. Es
hat das mit dem Bund nichts zu tun!) wird auch in diesem Punkt wieder nicht stimmen. Die
Worte haben wir wohl vernommen; aber sie sind
— Ich weiß, wovon ich rede. Die kalkulatorischen dahergeredet.
Kosten steigen beispielsweise durch die Tatsache, daß Herr Kollege Poß, Sie haben in Ihren Ausführungen
die Anlagekapitalverzinsungssätze in der Gebühren deutlich gemacht, daß Sie einer neuen Unterneh-
360 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)


mensteuerreform nicht zustimmen wollen. Zumindest technische, sondern auch gesetzgeberische Vorarbei-
war es so zu verstehen. An der letzten haben sie ten notwendig. Einen Teil der Aufgabe wird der
mitgewirkt in der Einsicht, daß eine solche Unterneh- Haushaltsausschuß allerdings erfüllen können und
mensteuerreform notwendig war, insbesondere um auch erfüllen. Sowohl der Hinweis darauf, daß der
dem Mittelstand bessere Standortbedingungen zu Zukunftsbereich aus Bildung und Forschung ein Auf-
geben und um Arbeitsplätze im Land zu halten, wärtssignal erhalten muß, als auch die Aussage, daß
(Joachim Poß [SPD]: Erst muß die Verfassung der Haushalt des Verteidigungsministers künftig kein
geändert werden!) Steinbruch für beliebige Einsparungen sein darf,
werden Leitpunkte unserer Arbeit sein. Hier stehen
die bei den Veränderungen in der Wirtschaftsland- wir im Wort, und dieses Wort werden wir halten.
schaft und der -struktur in großem Maße in andere
Länder verlagert worden sind. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Nun sagen Sie, Sie machen solche Änderungen ten der CDU/CSU)
nicht mit, Sie machen keine eigenen Vorschläge, wie Es bleibt aber auch die Aussage wahr, daß in Zeiten
eine solche Reform, wie eine solche notwendige der Sparsamkeit mit weniger Geld mehr Politik
Entlastung aussehen könnte. gemacht werden muß. Das heißt, alle Ministerien
(Joachim Poß [SPD]: Das habe ich auch nicht werden künftig im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für
gesagt!) einen effektiveren Umgang mit dem zur Verfügung
stehenden Geld sorgen müssen.
Da sind Sie meines Erachtens zu kurz gesprungen. Sie
müssen, wenn Sie unsere vorgeschlagenen Entlastun- Ich füge hinzu, daß wir die Stärkung des Mittelstan-
gen ablehnen wollen, deutlich machen, wo Sie selbst des in den Haushaltsberatungen entsprechend den
Entlastungen einräumen und wie Sie sie finanzieren Zielen der F.D.P. zu einem weiteren Schwerpunkt
wollen. Denn das ist der Punkt, an dem Sie sich immer machen wollen. In den letzten Wochen ist ja viel über
ganz schnell verabschieden. Steuerflucht und Steuerflüchtlinge diskutiert worden.
(Beifall bei der F.D.P.) Sie erinnern sich an die Bundesliga-Fußballspieler,
die aus Steuergründen ihren Wohnsitz im benachbar-
ten Ausland nehmen. Von Steffi Graf über Boris
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie Becker führt eine gerade Linie zu Michael Schuma-
eine Zwischenfrage? cher. Die Öffentlichkeit nimmt interessanterweise
diese Steuerflucht bei Spitzensportlern hin. Aber man
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Selbstver- soll sich nicht täuschen: Sie nimmt sie nicht ohne Kritik
ständlich. hin. Sie ist ja auch nicht gut. Wir müssen natürlich alles
tun, daß nicht die Leistungsträger unserer Volkswirt-
schaft nach gleichen Wegen suchen, der drückenden
Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Weng,
Steuer und Abgabenlast zu entgehen.
wollen Sie im Ernst behaupten, daß die Umsetzung -

Ihrer Vorstellungen zur Gewerbesteuer dem Mittel- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
stand zugute kommen wird? en der CDU/CSU)
Mit der falschen Politik, die die Sozialdemokraten
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Ja, Herr jetzt wieder im Zusammenhang mit der Steuerfreiheit
Kollege von Larcher. des Existenzminimums fordern, werden wir am Schluß
(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der den gesamten Mittelstand nach Luxemburg oder
Monaco vertreiben. -t-
F.D.P. und der CDU/CSU — Zuruf von der
SPD: Er hat keine Ahnung!) (Detlev von Larcher [SPD]: Der weiß gar
Meine Damen und Herren, der heute erneut in nicht, wovon er redet!)
erster Lesung debattierte Bundeshaushalt ist der
Steuerfreiheit des Existenzminimums: Wie immer
finanzpolitische Einstieg in die neue Wahlperiode und
in der Politik gibt es Idealvorstellungen; es gibt das
gleichzeitig ein Haushalt des Übergangs. Die Koali-
Machbare, und es gibt Rosinenpicker. Ich sage
tion und die Bundesregierung zeigen Handlungsfä- zunächst in aller Deutlichkeit an die Adresse der SPD:
higkeit. Was wir den Wählern vor der Wahl, auch bei
Wir werden Sie aus Ihrer Gesamtverantwortung, die
der ersten Lesung dieses Haushalts im September und
Sie durch die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat
im Wahlkampf gesagt haben, daß wir einen klaren
haben, nicht entlassen. Wenn Sie glauben, über den
Kurs der Haushaltskonsolidierung fortführen wür- neuen Steuertarif Ihre verfehlten Wahlziele bezüglich
den, wird jetzt schnellstmöglich in Angriff genommen.
massiver Umverteilung und des Schröpfens gerade
Die Bürger sehen, daß sie trotz der knapper geworde-
der mittleren Einkommen noch verwirklichen zu kön-
nen Mehrheit der Koalition Vertrauen in uns setzen
nen, so werden Sie sich täuschen. Wir haben in der
können, und unsere Arbeit dient natürlich auch dem
Koalitionsvereinba rung den haushaltsmäßig vertret-
Ziel, diese Mehrheit künftig wieder zu verstärken.
baren Umfang, den diese Entlastung bei der progno-
(Zuruf von der SPD: Vor allem nach Gera!) stizierten Wirtschafts- und Steuerentwicklung haben
Der neu vorgelegte alte Entwurf — es sind daran ja kann, umrissen. Eine andere Frage ist, wie weit die
keine ganz wesentlichen Änderungen vorgenommen Anregungen der Einkommensteuerkommission noch
worden — kann selbstverständlich noch nicht alle in das Konzept des Bundesfinanzministeriums einflie-
Impulse umsetzen, die sich aus den Wahlprogrammen ßen können. Dieses Konzept bringt eine hochinteres-
der Koalitionsparteien und aus der Koalitionsverein- sante Gesamtdarstellung der Situation, und wenn
barung ergeben. Hierzu sind nicht nur vielfältige nicht die Finanzierungsseite nach erstem Eindruck
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 361
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen)
unter das Stichwort „politisch leider nicht machbar" stungsfaktoren zur Reduzierung der Schulden einzu-
fallen würde, dann wäre vor allem mit Blick auf ein setzen. Hierfür verdient der Finanzminister ausdrück-
schrittweises Vorgehen hier tatsächlich eine steuerpo- lich unser Lob.
litische Zukunftsvision umzusetzen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne-
Gerade hierzu allerdings muß die SPD auch klar ten der CDU/CSU — Jörg Tauss [SPD]: Mehr
Stellung nehmen; denn interessanterweise gab es Beifall! — Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Jetzt
zwar negative Äußerungen zur Haltung von Bundes- freut er sich aber!)
finanzminister Waigel gegenüber den Kommissions-
vorschlägen, aber das Konzept des SPD-Finanzmini-
sters Schleußer berücksichtigt diese Vorschläge prak- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege,
tisch gar nicht — ein Beleg sozialdemokratischer Sie müssen zum Schluß kommen, Ihre Redezeit ist zu
Unwahrhaftigkeit und fast gewohnter Doppelzüngig- Ende.
keit.
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Wir for-
ten der CDU/CSU) dern die Opposition in diesem Hause zu konstruktiver
Meine Damen und Herren, die sehr lebhaften Aus- Arbeit auf. Blockadepolitik schadet dem Land und
führungen des Kollegen Solms sorgen leider dafür, unseren Bürgern. Sie, meine Damen und Herren von
daß meine Redezeit ein bißchen knapper ist, als sie der Opposition, werden für solche Blockadepolitik
eigentlich vorgesehen war. auch nicht honoriert werden.
Wir sichern der Union erneut kooperative Zusam-
(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/
menarbeit zu, die auf der Basis gemeinsamer Ziele in
DIE GRÜNEN: Was? — Lebhaft?)
der Haushalts- und Finanzpolitik dem Wohl aller
Erlauben Sie mir deshalb nur noch eine persönliche Bürger dient.
Anmerkung: Der Beginn der neuen Wahlperiode Die Haushaltsgruppe der F.D.P. in veränderter
bedeutet auch neue Aufgaben. Formation
(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: In verminderter!)
— Der Kollege Fischer jedenfalls ist weggegangen geht mit der Entschlossenheit an die Detailberatung,
und kotzt sich jetzt wahrscheinlich draußen aus, was das Vertrauen der Menschen durch konsequentes
besser ist, als wenn er es immer hier drin tut. Einhalten der im Wahlkampf gemachten Zusagen zu
(Beifall bei der F.D.P.) stärken und auszubauen.
Vielen Dank.
Der Neubeginn bedeutet für jeden von uns neue
Aufgaben und Befassung mit neuen Themen, die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
bisher in anderer Verantwortung lagen. Ich selbst
werde die Berichterstattung meiner Haushaltsgruppe
für den Etat des Bundesrechnungshofes übernehmen, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege
und in diesem Zusammenhang möchte ich heute eine Struck, Sie haben das Wort.
persönliche Aussage machen, von der ich hoffe, daß
das Parlament sie breit unterstützen wird. Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine
Die Föderalismuskommission hat, ohne daß dies Damen und Herren! Die Debatte im Deutschen Bun-
-
eine vertiefende Einzeldiskussion ausgelöst hätte, die destag soll eigentlich so geführt werden, daß die
Verlagerung des Bundesrechnungshofes nach Bonn Redner jeweils auf die Argumente der Vorredner
mit einer Dependance in Brandenburg, die in Potsdam eingehen.
geplant ist, vorgeschlagen. Ich meine, der Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: Schön wär's!)
rechnungshof ist ein so wichtiger Helfer und Partner
des Parlaments, daß der Fehler, ihn 1949 nicht in der Ich will das versuchen.
Bundeshauptstadt Bonn anzusiedeln, beim Umzug Anfangen möchte ich mit dem Beitrag des Kollegen
nach Berlin nicht wiederholt werden sollte. Er gehört Weng. Ich denke, bei der Konstituierung des Bundes-
nach meiner Überzeugung an den Sitz des Parla- tages wäre es richtig gewesen, Herr Weng, wenn Sie
ments. Wer das Gewicht des Parlaments im gesamten sich Ihrer beruflichen Ausbildung entsprechend in
Machtgefüge stark haben will, sollte bereit sein, diese den Gesundheitsausschuß statt in den Haushaltsaus-
geplante Außenstelle gedanklich zum Hauptsitz und schuß begeben hätten.
den Hauptsitz Bonn in Zukunft zur Außenstelle zu (Beifall bei der SPD)
machen. Darüber sollten wir erneut diskutieren.
Zu dem Kollegen Metzger möchte ich sagen:
Meine Damen und Herren, dank unserer Politik ist Respekt vor Ihrer Rede. Sie hat mir sehr gut gefallen,
die Konjunktur in Deutschland im Aufschwung, und insbesondere auch weil Sie frei geredet haben: eigent-
dieser Aufschwung sorgt nicht nur für einen Zuwachs lich der Regelfall im Deutschen Bundestag. Inhaltlich
an Arbeitsplätzen und damit für einen geringeren haben Sie zu dem Thema Gewerbesteuer das gesagt,
notwendigen Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für was ich auch gesagt hätte. Deshalb verzichte ich auf
Arbeit, sondern in der Prognose auch für höhere längere Ausführungen dazu; Respekt also für Ihre
Steuereinnahmen. Rede!
Die Bundesregierung war gut beraten, bei der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
hohen geplanten Nettoneuverschuldung diese Entla BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
362 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie dabei gewesen — ein paar gute Worte jedoch auch.
eine Zwischenfrage des Kollegen Weng? Die will ich nun der Fairneß wegen, lieber Kollege
Waigel, auch zitieren.
Dr. Peter Struck (SPD): Natürlich, wenn ich ihn so (Zuruf von der CDU/CSU: Dann müssen Sie
beleidigt habe, muß ich das schon zulassen. jetzt aber lange reden!)
— Ein Satz auf Seite 20 ist es nur; es war wenig, aber
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- dieser Satz muß schon sein.
lege Struck, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß ich jetzt drei Wahlperioden im Haushaltsausschuß (Heiterkeit bei der SPD)
als Vollmitglied gewesen bin und daß ich mir in dieser Sie haben gesagt: „Wir haben in 40 Jahren konse-
Zeit entsprechend dem, was „Focus" bei einer quenter Stabilitätspolitik einen großen Vertrauens-
Umfrage der Abgeordneten des Deutschen Bundesta- kredit in der Welt erworben." Sehr richtig!
ges veröffentlicht hat, durch meine Arbeit in diesem
Hause ein hohes Ansehen erworben habe? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
der F.D.P.)
(Lachen bei der SPD — Beifall des Abg.
Wolfgang Zöller [CDU/CSU]) — Ja, klatschen Sie mal ruhig, denn von den 40 Jahren
hat die SPD 16 Jahre mitregiert, d. h. Ihr ganzes
Würden Sie auch zur Kenntnis nehmen, daß ich
Gerede von früher — als Sie noch in der Opposition
während meiner ersten Wahlperiode — wo ich sicher-
waren —, wie schlimm alles ist, was die Sozialdemo-
lich noch erheblich weniger Sachkenntnisse hatte — kraten machen, haben Sie jetzt wieder einkassiert und
auf Vorwürfe, wie Sie sie gerade gemacht haben,
haben auch diese Leistung anerkannt. Vielen Dank
gegen Ihre Person, die ja damals im Haushaltsaus-
dafür, Herr Waigel.
schuß war, nicht gekommen bin?
Würden Sie schließlich zur Kenntnis nehmen, daß (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
ich Berichterstatter für das Gesundheitsministerium CSU: Es zählt das Schlußergebnis!)
und auch stellvertretendes Mitglied im Gesundheits- Antworten auf die wichtigen finanzpolitischen Fra-
ausschuß bin? gen haben Sie allerdings nicht gegeben. Das ist aber
bei der Politik, die Sie in den vergangenen Jahren
Dr. Peter Struck (SPD): Das letzte ist ja nicht gemacht haben, auch nicht zu erwarten gewesen. Im
schlecht, Herr Weng. Aber das andere? Wenn Sie Gegenteil, es sind doch immer nur noch inhaltsleere
sagen, „Focus" hält Sie für einen sehr einflußrei- Sprüche, insbesondere wenn ich auf das Thema zu
chen — — sprechen komme, das viele Kommunalpolitiker in
Deutschland interessiert. Wer die Gewerbekapital-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
steuer abschaffen will — so wie Sie das vorhaben, Sie
Nein, die Kollegen sind befragt worden!)
haben das angekündigt, und das ist offenbar auch
— Ach so. Ja, es muß ja nicht alles stimmen, was in Inhalt der Koalitionsvereinbarung —, der muß wissen,
dieser Zeitung steht. daß er damit die Gewerbesteuer ganz erheblich
(Heiterkeit bei der SPD) gefährdet. Das weiß jeder, der sich mit solchen Fragen
Freunde haben mir, als ich ihnen mitteilte, daß ich beschäftigt, vor allem derjenige, der das auch juri-
heute den Ausputzer in der ersten Lesung machen stisch bewertet.
soll, gesagt, es werde mir nicht gelingen, über Borus- Dann kommt die Frage: Was kommt denn an die
sia Dortmund zu reden. Nun will ich das Wort Borussia Stelle der Gewerbesteuer, Herr Kollege Waigel? Da-
Dortmund nicht oft in den Mund nehmen, will aber an gucke ich dann, was Sie zu diesem Thema eigentlich
dieser Stelle sagen: Ich sehe mit hohem Respekt die gesagt haben. Der Satz lautet — ich zitiere wieder
Leistungen von Borussia Dortmund. wörtlich —: „Klar ist, die Gemeinden müssen einen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) vollen Ausgleich erhalten. Sie sollen auch weiterhin
Ich kann diese Leistungen in keiner Weise — Theo ein Interesse daran haben, die Ansiedlung von
Waigel hat auch über „Halbzeit" gesprochen — mit Gewerbebetrieben und damit von Arbeitsplätzen zu
dem Verein vergleichen, dem der Bundesfinanzmini- fördern." So weit, so gut — einverstanden.
ster zuneigt, 1860 München. Vielleicht wird es ja noch Aber was denn nun? Wie denn? Wie geschieht das
besser, lieber Kollege Waigel, aber über Dortmund denn eigentlich? Ich spreche hier nicht nur für sozial-
geht es nicht. demokratische Kommunalpolitiker oder für grüne
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Letz Kommunalpolitiker — F.D.P.-Kommunalpolitiker gibt
ten Sonntag war es schon ganz gut!) es ja nicht mehr —, sondern auch für CDU/CSU-
Kommunalpolitiker.
— Ja, letzten Sonntag war schon nicht schlecht.
Ich habe keine Rede mitgebracht, sondern nehme (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
einfach die von Theo Waigel gehaltene Rede und Nur wenige, leider!)
versuche, sie kurz zu kommentieren, wenn es gestat- — Ja, nur wenige, aber aus meiner Sicht noch viel zu
tet ist. 46 Seiten war sie lang. Ich glaube, eine so lange viele.
Rede haben Sie noch nie gehalten, Herr Bundesfi-
nanzminister, und weniger wäre ganz bestimmt viel (Zustimmung bei der SPD)
besser gewesen. Da helfen dann auch keine Zitate von Ich meine: Wenn Sie so etwas als Bundesminister
Dürrenmatt und Kant; das trägt dann alles nicht, das ist der Finanzen sagen — und zwar auch in Gremien wie
dann allenfalls so ein Aperçu. Es ist viel leeres Gerede Finanzplanungsrat und dergleichen, in denen ja auch
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 363
Dr. Peter S tr uck
die Gemeinden vertreten sind —, dann müssen Sie, 14 Ländern regiert die SPD mit. In den zwei Bundes-
Herr Waigel, schon konkreter werden. Es tut mir leid, ländern, in denen wir noch nicht regieren, kann sich
man kann nicht einfach sagen: Wir werden irgendwie das auch noch ändern.
etwas für die Gemeinden machen. Aber was man
konkret machen will, sagt man nicht. Das ist unver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Lachen
antwortlich gegenüber den Kommunalpolitikern in bei der CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng
Deutschland. [Gerlingen] [F.D.P.]: Es kann sich auch in
anderen Ländern ändern und wird sich
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ändern!)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Manchmal dauert das etwas länger, aber es kann ja
Der Kollege Metzger — ich habe ihn vorhin gelobt, passieren.
da war er gerade draußen; ich hoffe, man hat ihm das
übermittelt — hat ja schon auf die Konsequenzen Wir stellen zehn Ministerpräsidenten. Ich spreche
hingewiesen. Es kann doch nicht nach dem Motto von dem, was passiert, wenn jetzt der Haushalt durch
weitergehen: Der Bund saniert sich zu Lasten der den Haushaltsausschuß geht. Sie haben die steuerli-
Länder. Und was machen die Länder, und zwar egal, chen Maßnahmen — diese Formulierung ist mir neu
ob sie SPD- oder CDU-regiert sind? Die sanieren sich —Jahres teu rges tz'96
genannt. Ich verstehe darun-
zu Lasten der Kommunen über ihre kommunalen ter diese drei Pakete, über die wir zu reden haben:
Finanzausgleichsgesetze. Und den letzten beißen die (Zuruf von der CDU/CSU: Vier!)
Hunde — das sind die Gemeinden.
Kinderleistungsausgleich, Existenzminimum und Un-
Ich mache Ihnen einen konkreten Vorschlag, Herr
Waigel, weil uns dieses Thema noch lange beschäfti- ternehmensteuerreform.
gen wird. So schnell wird das alles nicht durch (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Plus
Bundestag und Bundesrat gehen. Es wäre gut, wenn Steuervereinfachung!)
Sie neben dem Instrument des Finanzplanungsrates,
das ja dafür bestimmt ist, auch die kommunalen — Plus Steuervereinfachung, wobei mich wundert,
Gebietskörperschaften in die Finanzplanung einzu- daß Sie sich da nicht wieder einen gigantischen
beziehen, einen runden Tisch unter Beteiligung der Namen ausgedacht haben. Ihr Haus ist ja sehr stark
Gemeinden, des Städtetages und der kommunalen darin, Namen zu erfinden. Jahressteuergesetz '96, das
Spitzenverbände einrichteten. ist ja relativ harmlos. Aber vielleicht setzen Sie noch
ein paar Leute daran, die sich da wieder etwas
(Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ein „Gigantisches" ausdenken.
verstanden!)
Ich sage nur: Dieses Paket wird den Bundesrat
— Sie sollten auch die SPD — durch einen A- beschäftigen. Das ist uns völlig klar. Es wird zweifellos
Finanzminister oder wen auch immer; darüber kön- der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Ich
nen wir ja in Ruhe reden — einbeziehen. erkläre hier ausdrücklich für die SPD-Bundestags-
Es wäre jedenfalls gut, wenn wir versuchten, das fraktion: Ich werde mich in Zukunft aus gewisser
wichtige Thema „Wie retten wir die Gemeindefinan- Erfahrung hier nicht mehr hinstellen und sagen: Und
zen?", urn das es jetzt geht, im Konsens zu lösen. Das der Bundesrat wird dieses oder jenes tun oder unter-
wäre gut. Wenn es keinen Konsens gibt, dann muß lassen. Es entspricht meinem Verfassungsverständnis
halt entschieden werden. Aber der erste Ansatz wäre und auch den Erfahrungen, die wir gemacht haben,
mit Sicherheit der bessere Weg. daß die Länder ein eigenständiges Interesse zu vertre--
ten haben und nicht ferngesteuert werden aus dem
(Dr, Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Ollenhauer-Haus oder aus der SPD-Bundestagsfrak-
Dann werden Sie aber auch Vorschläge
tion, sondern — das sage ich jetzt auch ganz deut-
machen müssen!)
lich — zunächst einmal ihre eigenen Finanzinteressen
— Ja, natürlich. Ich habe nie Probleme, Herr Weng, zu berücksichtigen haben. Das gilt übrigens nicht nur
Vorschläge zu machen. für sozialdemokratische Ministerpräsidenten. Das gilt
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: auch für die Ministerpräsidenten, die von der CDU
Doch! Doch!) bzw. CSU gestellt werden.
— Nein, nein. Ich habe manche Rede im Deutschen Ich gehe aber soweit, Herr Kollege Waigel, zu
Bundestag — in diesem Plenarsaal, im Wasserwerk sagen: Es ist wohl keine waghalsige Prophezeihung,
und in dem alten Plenarsaal — zu dem Thema daß dieses gesamte Paket mit den vier Elementen im
Gewerbesteuer gehalten. Ich bleibe dabei, daß ein Bundesrat so nicht akzeptiert werden wird, wie Sie es
Satz immer gilt: Die Gewerbesteuer ist die Säule des jetzt wohl einzubringen beabsichtigen. Ich glaube, es
gemeindlichen Finanzsystems. Wenn ich die wegbre- wäre unrealistisch, wenn man nicht einschätzte, daß
che, muß ich eine andere Säule errichten. Sonst geht der Bundesrat zunächst einmal dieses Paket aufschnü-
überhaupt nichts mehr in Deutschland. ren und anhalten wird.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Das wäre bedau-
DIE GRÜNEN) erlich!)
Herr Kollege Waigel, Sie haben sich in Ihrer Rede — Nein, das ist nicht bedauerlich, weil wir nämlich
auch an die von uns regierten Länder gerichtet. Ich schon dann die Möglichkeit haben, eingehend zu
stelle hier einmal mit Stolz fest: Es gibt 16 Bundeslän- prüfen. In manchen Bereichen kann ich mir durchaus
der in der Bundesrepublik Deutschland, und in Kompromisse vorstellen. Das will ich aber den Ver-
364 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Peter Struck


handlungen überlassen, die da zu führen sein wer- Ende des Jahres 1995 entwickeln werden. Es ist nichts
den. zu der Frage gesagt worden, wie der Haushalt 1995 im
Fazit ist: Dieser Haushalt bringt nichts Neues Entwurf tatsächlich beschaffen ist — bei dem Kollegen
gegenüber dem, den wir vor der Bundestagswahl Struck nicht, und bei der Frau Matthäus-Maier hat es
diskutiert haben. Es konnte ja auch nichts anderes, sich hauptsächlich auf das Thema Steuerreform kon-
Neues werden, weil es leider keine neue Regierung zentriert.
gegeben hat. Herr Struck, Sie sagen, daß es bei der Frage der
Der Haushaltsausschuß wird diesen Haushalt mit Gewerbesteuersenkung, die im nächsten Jahr ent-
Sicherheit — das ist jedenfalls meine Erfahrung aus wickelt werden soll, natürlich auch auf die Bundeslän-
dem Haushaltsausschuß — so bearbeiten, daß er nicht der ankommt und daß eine Zusammenarbeit zwischen
so wieder herauskommt, wie er jetzt hereinkommt. den Kommunen, den Bundesländern und dem Bund
Sonst hätten die Haushälter ihre Aufgabe verfehlt. auch bei der Frage der Steuerreform geprobt werden
Aber ich glaube, wir, Herr Kollege Waigel, die SPD- und stattfinden muß. Aber wenn Sie so tun, als gäbe es
Bundestagsfraktion, die SPD-regierten Länder und ein geschlossenes Bild der zehn Ministerpräsidenten
die Bundesregierung, werden uns über die wichtigen der SPD, dann erinnern Sie sich bitte daran, welche
politischen Fragen noch in aller Ausführlichkeit unter- Probleme es bereitet hat, einen Sprecher für den
halten müssen. Ich kündige ausdrücklich an, daß wir Vermittlungsausschuß zu finden. Man konnte sich
auch zu Kompromissen bereit sind, daß wir nicht nicht entscheiden zwischen dem Notar, dem Kämpfer
blockieren wollen. und dem Raufbold. Nachher hat man sich für das
finanzpolitische Schlußlicht entschieden.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ihre Redezeit ist abgelaufen.
(Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] Sie sollten sehen, daß es um andere Dinge geht.
[F.D.P.] meldet sich zu einer Zwischen Dem Bürger geht es um die Frage: Bei welcher Politik
frage) ist mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken? Wo ist mit
Stabilität zu rechnen? Wenn Sie die Umfragen aus den
letzten Tagen sehen, dann wissen Sie, daß der über-
Dr. Peter Struck (SPD): Da will aber jemand eine
wiegende Teil der Bevölkerung in Ost wie in West mit
Zwischenfrage stellen. Das kann er gerne machen.
Zuversicht in die Zukunft guckt, daß der überwie-
gende Teil mit der Entwicklung nach der Vereinigung
Dr. Wo lf gang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- unseres Landes einverstanden ist. Dies kann doch nur
lege Struck, Sie haben gesagt, Sie würden nichts mehr bedeuten — nach der Bundestagswahl hat sich das
unternehmen, den Bundesrat parteipolitisch zu instru- noch verbessert —, daß man davon ausgeht: Diese
mentalisieren. Gilt das für Ihre gesamte Fraktion, Ihre Regierung gewährleistet Stabilität, Stabilität vor allen
Partei und Ihren Parteivorsitzenden auch? Denn der Dingen auch in Haushaltsfragen. Wir sind auf dem
hatte sich gerade anders geäußert. richtigen Wege.
Dr. Peter Struck (SPD): Das müssen Sie mißverstan- Ich will deswegen überhaupt nicht bestreiten — ich
den haben, Herr Kollege Weng. sage das auch ganz klar für die Bürger, weil der
Eindruck entsteht, wir hätten hier etwas zu verheim-
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
lichen —, daß ab dem 1. Januar höhere Steuern
Das freut mich!)
gezahlt werden müssen. Wir müssen den Bürgern
— Ich denke, diese Antwort reicht. zusätzlich einen Solidarbeitrag abverlangen. Damit-
Vielen Dank. auch das ganz klar ist: Je höher die Einkommen sind,
(Beifall bei der SPD) um so höher wird dieser Solidarbeitrag sein. Wir
verlangen zusätzlich einen Beitrag zur Pflegeversi-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat cherung. Dies wird wahrscheinlich im nächsten Jahr
der Herr Abgeordnete Austermann. keine explodierenden Nettolöhne bedeuten. Aber
wer die Wahrheit kennt, muß sie auch vollständig
nennen und sagen, daß sich die Nettoeinkünfte seit
Dietrich Austermann (CDU/CSU): Herr Präsident!
1982 tatsächlich um 40 % nach oben bewegt haben.
Meine Damen und Herren! Der Kollege Struck hatte
sich als Ausputzer seiner Fraktion für die Haushalts- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr wahr! —
debatte angekündigt. Es ist erstaunlich, daß er bis auf Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
den letzten Satz zum Haushalt praktisch nichts gesagt DIE GRÜNEN]: Wessen Nettoeinkünfte? —
hat. Das ist die Frage!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und — Auch die der Kleinverdiener, nicht nur Ihre.
der F.D.P. — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen]
[F.D.P.]: Nicht überraschend!) Man muß vor allen Dingen auch erkennen, daß die
— Das überrascht natürlich auch nicht, da er offen- Entscheidungen zum Thema Pflegeversicherung,
zum Thema Steuererhöhung und zum Solidarbeitrag
sichtlich kein Konzept mitgebracht hatte, sondern
lediglich die Rede des Bundesfinanzministers. Er im Bundesrat mit der Mehrheit der SPD-regierten
hätte etwas Gutes leisten können, wenn er Teile Länder beschlossen worden sind. Es ist einfach schä-
big, jetzt so zu tun, als hätte man mit all dem nichts zu
davon vorgelesen hätte.
tun.
Hier ist lediglich über die Kommunalfinanzen gere-
det worden, wie sie sich möglicherweise nach dem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 365

Dietrich Austermann
Damit bringt man auch das wirklich wertvolle Thema Die Leistungen für die neuen Bundesländer werden
Pflegeversicherung in Mißkredit. Hier ist eine großar- sich im kommenden Jahr vor allen Dingen aus diesem
tige soziale Leistung vollbracht worden. Wir danken Bundeshaushalt auf 200 Milliarden DM belaufen, d. h.
den Bürgern dafür, daß sie sich an dieser großartigen um 60 Milliarden DM über den Leistungen des Jahres
Leistung je nach Finanzkraft beteiligen. 1991 liegen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Wenn man die Rednerin der PDS zu diesem Thema
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gehört hat, hat man den Eindruck, es sei überhaupt
DIE GRÜNEN]: Die Frage ist, ob die Bürger nicht nötig, daß angesichts des brillanten Zustandes,
Ihnen dafür danken! — Das wird entschei in dem die DDR zurückgelassen wurde, eine einzige
dend sein!) Mark fließt. Lafontaine sprach ja damals von der
zehntgrößten Industrienation. Weshalb dann eigent-
Meine Damen und Herren, es geht in Deutschland
lich ständig neue Forderungen gerade von den Kom-
heute nicht darum, einen größeren Kuchen auf ver-
munisten, von der Partei des Stacheldrahts, wenn die
schiedene Ebenen der öffentlichen Hand zu verteilen.
Situation so ideal ist?
Wenn man hört, was Sie zur Finanzsituation sagen,
hat man den Eindruck, die Ärmsten im Lande seien die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Kommunen. Das mag in Teilbereichen, bei einzelnen
Großstädten, zutreffen. Aber man muß auch eindeutig Der Nettotransfer nach Abzug der Steuern wird
erkennen, daß der kommunale Finanzausgleich ein 155 Milliarden DM betragen, davon 106 Milliarden
Thema ist, das in erster Linie die Länder angeht, das DM aus dem Bundeshaushalt, 40 Milliarden von
unter die Länderhoheit fällt und dort entschieden Ländern und Gemeinden und immerhin 7 Milliarden
werden muß. von der EG — ein gewaltiges Programm für die neuen
Bundesländer, das zeigt, daß wir die Verantwortung
Man muß vor allen Dingen auch erkennen, daß der für die Erreichung der gleichen Lebensverhältnisse im
Bund in erheblichem Maße Leistungen erbracht hat, ganzen Bundesgebiet übernehmen.
um die Kommunen besserzustellen und sie zu entla-
sten. Ich nenne das FKPG, das Spar-, Wachstums- und Man sollte auch darauf hinweisen, welche Leistun-
Konsolidierungsprogramm, den Abbau von Steuer- gen direkt an die Bürger im Osten gehen: durch
vergünstigungen, das Thema Zinsabschlag, das Kriegsopferversorgung, aktive Arbeitsmarktpolitik,
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, die zusätz- Vorruhestand, Altersübergangsgeld, Sozialversiche-
lich eingenommene Konzessionsabgabe, die Entla- rung, Erziehungsgeld und Kindergeld 47 Milliarden
stung bei der Pflegeversicherung, die Entlastung DM!
durch die Postreform, den Rückgang der Asylbewer- Von Frau Matthäus-Maier ist vorhin der Eindruck
berzahlen, den Wegfall der Beteiligung am Fonds erweckt worden, wir würden Leistungen bei Arbeits-
Deutsche Einheit — alles Entlastungen für die Kom- beschaffung, Fortbildung und Umschulung ein-
munen. schränken. Der Entwurf des Bundeshaushalts für 1995
Gleichzeitig haben die Länder durch die Entschei- sieht höhere Leistungen bei Fortbildung und
dungen des letzten Jahres deutliche Zuwächse bei Umschulung vor. Und in diesem Jahr geben wir die
den Einnahmen. Ich nehme als Beispiel das Land ABM-Mittel nicht einmal voll aus. Wer da hergeht und
Schleswig-Holstein. Es wird im Jahre 1995 nach sagt, wir sollten ständig neues Geld geben, der
jetziger Schätzung 14 % mehr Gemeinschaftssteuern verkennt offensichtlich die tatsächliche Situation.
einnehmen. Die Gemeinden werden an dieser Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge
wicklung leider nicht entsprechend beteiligt. Selbst ordneten der F.D.P.)
-
nach Abzug der geringen Ergänzungszuweisungen ist
davon auszugehen, daß die Einnahmen der Länder Ich habe gesagt, Stabilität drücke sich auch darin
fast zweistellig zunehmen. aus, daß wir keine unnötigen Versprechungen
machen, sondern den Bürgern sagen, daß es im
Zu den Einnahmen und zur Finanzsituation der nächsten Jahr voraussichtlich keine Nettolohnerhö-
Kommunen habe ich etwas gesagt. Ich glaube, wir hung geben wird. Wenn man aber den Leuten sagen
sollten die Erklärung, es ginge heute nur darum, sich kann, es werde zumindest so bleiben, wie es ist, wäre
über die kommunalen Finanzen zu unterhalten, in das im Vergleich für viele Länder der Welt ein
etwas anderem Licht sehen. Wenn man tatsächlich die hervorragender Zustand.
Verschuldung, die Belastung des Bundes, der Länder
und der Gemeinden sieht, wird das Ganze bestätigt. Meine Damen und Herren, die Bürger der Bundes-
republik haben deshalb Vertrauen und Zuversicht in
Man muß auch erkennen, welche gewaltigen Son- diese Bundesregierung, weil sie in manchen anderen
derleistungen aus dem Bundeshaushalt in den letzten Bereichen ihre Erfahrungen mit SPD-geführten
vier Jahren erbracht worden sind, und zwar durch Regierungen gemacht haben. Ich nehme dafür gar
UNO-Einsätze, die zusätzliche Kosten verursacht nicht das Beispiel von 1969 bis 1982. Wir wissen alle, in
haben, durch den Abzug der Russen, durch Katastro- welchem Zustand das Land hinterlassen wurde.
phenfälle, durch Soforthilfen für eine Fülle von Län-
dern an allen Ecken und Enden der Erde. Man sollte (Zuruf von der SPD: Etwas besser als jetzt war
diese gewaltigen Leistungen nicht kleinreden und die es!)
eigene Arbeit richtig einschätzen.
— Das kann man sicher nicht sagen; denn selbst die
Ich möchte einige wenige Sätze zu den neuen Arbeitslosenquote lag damals wesentlich höher als
Bundesländern sagen — früher ein Hauptthema, das heute, und das ist ein ganz entscheidendes Kriterium,
heute meines Erachtens etwas zu kurz gekommen ist. Regierungsarbeit zu messen. Auch wenn Sie hier den
366 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dietrich Austermann
Rekord im Wettbrüllen auch noch schlagen wollen, Es ist vorhin kritisiert worden, daß die Ausgaben im
das schaffen Sie nicht! Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit im kommen-
den Jahr in Teilbereichen geringer sind. Die Lösung
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ist ganz einfach: Das hängt mit dem Aufschwung
DIE GRÜNEN]: Nehmen Sie doch einmal
zusammen, das hängt damit zusammen, daß die
Hessen!)
Bundesanstalt weniger Kurzarbeitergeld bereitstellen
— Auch Ihr Gebrüll, Herr Fischer, wird daran nichts muß, das hängt damit zusammen, daß sie weniger
ändern. Arbeitslosengeld bereitstellen muß.
Auf der einen Seite wird es offensichtlich Mode, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
davon zu reden, man müsse der Wirtschaft mehr Sehr gut!)
helfen, die Standortbedingungen verbessern — Herr Dies ist der entscheidende Grund, nicht etwa, daß wir
Scharping hat das in Tutzing ganz kurz einmal sagen sparen wollen, um die Arbeitslosigkeit zu finanzie-
dürfen —; gleichzeitig aber stellen wir fest, daß in den ren.
Bundesländern von Ihnen das Spießrutenlaufen der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wirtschaft geübt wird. Ob das in Hamburg, in Gorle-
ben, in Hanau oder woanders ist: Es gibt 30 Fälle Als letzten Punkt möchte ich die Frage ansprechen:
juristischen Spießrutenlaufens, das Sie der Wirtschaft Geht es bei der Diskussion um Kinderfreibeträge,
durch Ihr Verhalten zumuten. Kindergeld oder Ausgaben der Gemeinden darum,
daß man dem einen oder anderen mehr Geld zukom-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ men lassen möchte? Dabei wird immer verschwiegen,
DIE GRÜNEN]: Spießrutenlaufen — sehr daß der Besserverdienende nur ein begrenztes Kin-
gut! Sie wissen, wie das geht!) dergeld bekommt.
offenbar macht das dem Schläger, Herr Fischer, Es geht ganz einfach um die Frage: Wem nützt es?
Freude. Es nützt den Bundesländern, wenn man mehr Kinder-
geld zahlt und weniger abschreibt, weil die Länder
(Joseph Fischer [Frankfurt] (BÜNDNIS 90/ dann bei der Einkommen- und der Lohnsteuer höhere
DIE GRÜNEN]: Allemal!) Einnahmen haben. Es nützt den Menschen aber
Auf SPD-Parteitagen werden ständig neue Forde- nichts, wenn sich unter dem Strich nichts ändert.
rungen erhoben. Ich glaube, daß man auch feststellen Sie wollen mehr Kindergeld und geringere
muß, daß die SPD in vielen Bereichen die Schlachten Abschreibungsmöglichkeiten nur deshalb, weil Sie
der Vergangenheit schlägt. In einer Zeit, da sich die die Situation der Länderhaushalte verbessern wollen.
Tarifvertragsparteien bereits über Ganzjahrestarif- Dabei geht es den Ländern ohnehin wesentlich besser
verträge unterhalten, beantragt die SPD im Bundes- als dem Bund. Es geht Ihnen überhaupt nicht um die
rat, die Schlechtwettergeldregelung müßte ab 1996 Familien mit Kindern. Es geht um diese einzige
fortgeführt werden. Die SPD hat offensichtlich nicht Frage.
erkannt, wie die Entwicklung über sie hinweggeht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Das gilt für jedes Thema, das heute angesprochen
Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.])
wurde.
Nein, die Bürger wollen Rechtsstaat, Stabilität,
Frau Matthäus-Maier redet noch von den Doppel- Zuversicht und Perspektive. Dieser Bundeshaushalt
fenstern des Jahres 1975. Vor drei Monaten mußten vermittelt Zuversicht. Er ist besser als vor einem
wir aber feststellen, daß sich die SPD im Bundesrat halben Jahr, was nicht bedeutet, Herr Kollege Weng,
geweigert hat, den erneuerbaren Energien neue da ja auch gute Dinge noch verbessert werden kön--
Chancen zu geben. nen, daß wir im Haushaltsausschuß das eine oder
(Beifall bei der CDU/CSU) andere nicht noch verbessern werden. Warum denn
nicht? Es ist die Frage, ob wir unter Umständen zu
Wir haben im Bundesrat mehr Chancen für erneu- einem Nullwachstum kommen, was relativ beschei-
erbare Energien gefordert, zusätzlich zu den 300 Mil- dene Einsparmöglichkeiten bedeuten müßte.
lionen DM, die für diesen Bereich im Bundeshaushalt
bereitstehen. Wir unterstützen den Bundesfinanzminister in dem
Bemühen, die Stabilitätspolitik fortzusetzen und
(Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll damit Zuversicht beim Bürger zu erzeugen.
mer) Herzlichen Dank.
Dasselbe gilt für Themen wie UN-Solidarität. Was (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sagt da Ihr Seniorenbeauftragter? Wie redet Herr
Scharping? Was sagen Sie zum Thema PDS? Welches
Thema man auch nimmt: Die SPD ist zu einer „ARD"- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin
Partei verkommen: alles rennt durcheinander. Matthäus-Maier wollte eine Zwischenfrage stellen.
Das war nicht mehr möglich, weil die Redezeit abge-
Während Herr Scharping in Tutzing von der Not- laufen war. Deswegen erhält sie das Wort zu einer
wendigkeit einer Modernisierung sprach und politi- Kurzintervention.
sche Thesen vortrug, die, als die CDU sie vertrat, im
(Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Muß das sein?)
Wahlkampf noch verteufelt wurden, zeigte die Reak-
tion der Partei im Hinblick auf die beabsichtigte
Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, daß es Ihnen Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Austermann, ich
überhaupt nicht ernst ist mit der Entlastung der muß Ihre Behauptung zurückweisen, die SPD sei für
Wirtschaft. das Kindergeld, weil dann der Bund über die Bundes-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 367

Ingrid Matthäus-Maier
anstalt für Arbeit die Kosten tragen müßte. Ich habe Denn Kommunen in Not heißt immer auch Menschen
nicht nur hier heute morgen, sondern auch in anderen in Not. Im Ergebnis der finanziellen Knebelung der
Debatten, z. B. in der Debatte über die Familienpolitik Kommunen werden in einem bisher nicht gekannten
und in der Debatte über die Regierungserklärung auf Ausmaß Kindertagesstätten, Jugendfreizeiteinrich-
eine Intervention von Herrn Schäuble hin, sehr klar tungen und Schwimmbäder geschlossen oder müssen
dargelegt: Wir Sozialdemokraten wollen ein Kinder- ihren Betrieb stark einschränken. Dringend notwen-
geld als Abzug von der Steuerschuld und die Finanz- dige Investitionen in die kommunale Infrastruktur
amtslösung.. können nicht wie vorgesehen durchgeführt werden.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph Bekanntlich sind Investitionen immer der kurzfristig
Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ flexible Teil öffentlicher Haushalte. Sie lassen sich
NEN]) leichter strecken, aufschieben oder streichen als die
meisten laufenden Ausgaben.
Das bedeutet, daß der Bund das selbstverständlich
nicht allein bezahlt. Das wäre eine völlig unzulässige Damit läßt sich die Investitionsquote als ein guter
Verschiebung der Kosten auf den Bund. Das wollen Indikator für die Finanzlage der kommunalen Haus-
wir nicht. halte heranziehen. In den 60er Jahren lag diese
Investitionsquote im Altbundesgebiet bei den Ge-
Im Gegenteil: In unserem Programm steht aus-
meinden noch bei rund 40 %. Derzeit beträgt sie 21 %
drücklich, daß die Länder und die Gemeinden, weil
— ein spürbarer Rückgang. Die Kommunen können
sie dann ja mehr belastet werden, einen entsprechen-
damit ihrer Verantwortung als größter öffentlicher
den Ausgleich erhalten. Ich möchte Sie wirklich
Auftraggeber und somit auch als eine wichtige Kon-
bitten, Herr Austermann, daß Sie, nachdem wir das
junkturlokomotive immer weniger gerecht werden.
hier 27mal klargestellt haben, nicht mehr eine solche
Unwahrheit wiederholen. In dieser für die Kommunen dramatischen Lage holt
die Bundesregierung zu einem Rundumschlag aus.
(Beifall bei der SPD)
Zum 1. Januar 1996 sollen die Gewerbekapitalsteuer
vollständig liquidiert sowie die Gewerbeertragsteuer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der weiter reduziert werden. Den Kommunen wird für den
Kollege Herr Dr. Rössel das Wort. Ausfall des Gewerbesteueraufkommens ein fairer
Ausgleich versprochen. Doch wie dieser aussieht,
(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Geben Sie
steht in den Sternen, wie auch die heutige Rede des
doch die Gelegenheit, auf die Kurzinterven
Herrn Bundesfinanzministers zeigt.
tion zu reagieren!)
Die Bundesregierung setzt mit den neuerlichen
Einschnitten bei der Gewerbesteuer ihren Kurs der
Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel (PDS): Sehr geehrte Frau steuerlichen Entlastung der Großunternehmen auf
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Kosten der Kommunen fort. Nach der Abschaffung der
ren! Wie die einkommensschwachen Bürgerinnen Lohnsummensteuer noch unter der sozialliberalen
und Bürger haben auch die Kommunen offenkundig Koalition wurde die Gewerbesteuer unter der Kohl-
keine Lobby in der Bundesregierung. Anders kann ich Regierung vor allem durch die drastische Reduzie-
die heutige Rede des Bundesfinanzministers nicht rung ihrer Bemessungsgrundlagen zunehmend aus-
sehen. Herr Kollege Austermann, es gehört schon Mut gehöhlt.
dazu, das Gegenteil zu behaupten. Sie erbringen den
Beweis nicht. Mit dem zum Jahresbeginn in Kraft getretenen
Standortsicherungsgesetz finanzieren die Kommunen
Die Kommunen sind die letzten in der Reihe der durch die Erhöhung der Gewerbesteuerumlage die-
öffentlichen Haushalte. Herr Struck, Sie haben völlig Unternehmensteuerentlastung in einem Umfang von
recht: Den letzten beißen die Hunde. Die Verschul- 1,1 Milliarden DM pro Jahr. Der Vorschlag von
dung der Kommunen hat sich vor allem in den 90er Kollege Dr. Schäuble, als Ersatz für den Gewerbesteu-
Jahren in einem schwindelerregenden Umfang ent- erausfall ein kommunales Hebesatzrecht auf die
wickelt. Die Kreditmarktschulden liegen derzeit Lohn- und Einkommensteuer einzuführen, würde
bereits bei 170 Milliarden DM. Besorgniserregend ist nach Ansicht des Deutschen Städtetages zum Krieg
die Lage in Ostdeutschland: Die Pro-Kopf-Neuver- zwischen den Gemeinden sowie zu einem drastischen
schuldung der ostdeutschen Städte, Gemeinden und Anstieg der Einkommensteuer führen.
Landkreise ist bereits doppelt so hoch wie die im
Altbundesgebiet. Ihre desolate Haushaltslage bringt Auch einer teilweisen Substitution der Gewerbe-
die Kommunen vielerorts an den Rand ihrer Hand- steuer durch eine direkte Beteiligung der Kommunen
lungsfähigkeit. an der Umsatzsteuer steht die Bundestagsgruppe der
PDS kritisch gegenüber.
Der Bund und auch die Länder — diese im Rahmen
ihrer Finanzausgleichsgesetze — tragen dafür eine (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
große Verantwortung. Beide sorgen dafür, daß die DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)
vielgepriesene kommunale Finanzautonomie immer Ein solcher Vorschlag würde in seiner Konsequenz
mehr zur Farce und die kommunale Selbstverwaltung nämlich weg von der direkten Kapital- und Unterneh-
damit überhaupt in Frage gestellt wird. mensbesteuerung und hin zu einer indirekten
Die Bundestagsgruppe der PDS und die 6 000 Besteuerung des privaten Konsums führen.
PDS-Kommunalabgeordneten wenden sich entschie- Ein weiteres Argument gegen den Vorschlag, die
den gegen derartige Praktiken. Kommunen direkt an der Umsatzsteuer zu beteiligen,
(Beifall bei der PDS) ist folgendes: In einer Zeit anhaltender Knappheit der
368 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel


öffentlichen Finanzen ist kaum zu erwarten, daß Bund vorsieht. Es sollte im Gegenteil wieder enger geknüpft
und Länder ungefähr 3 % ihrer derzeitigen Beteili- werden. Dazu ist es erforderlich, die Gewerbesteuer
gung an den Einnahmen aus der Umsatzsteuer an die wiederzubeleben. Bestimmte Maßnahmen, die zu
Kommunen weitergeben werden. Deshalb liegt eine ihrer Demontage geführt haben, sollten schrittweise
entsprechende Erhöhung der Mehrwertsteuer in der zurückgenommen werden. Die Gewerbekapital-
Luft, steuer darf 1996 nicht abgeschafft werden. Geprüft
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ werden sollte, auch die freien Berufe ab einer ange-
DIE GRÜNEN]: Was sagt die Kollegin Luft messenen Einkommensgrenze zur Gewerbesteuer-
dazu?) zahlung heranzuziehen.
die wir im Interesse vor allem der einkommensschwa- (Abg. Frederik Schulze [CDU/CSU] meldet
chen Bürgerinnen und Bürger ablehnen müssen. sich zu einer Zwischenfrage)
(Beifall bei der PDS)
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, daß entschei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
dende technische Fragen bei der Beteiligung der gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Kommunen an der Umsatzsteuer ungeklärt sind. Das
betrifft vor allem die Art und Weise der Verteilung des Dr. Uwe Jens Rudi Rössel (PDS): Nein, momentan
-

Umsatzsteueraufkommens auf die Gemeinden. Die nicht. — Die heutigen Freibeträge für die Gewerbe-
Ermittlung der Schlüsseldaten kann nach jüngsten steuer sollten aufgehoben werden. Sie könnten durch
Erkenntnissen von Finanzexperten frühestens im Jahr gleitende Freigrenzen ersetzt werden, um auf diese
2000 erfolgen. Das heißt im Klartext: Die Bundesre- Weise Kleinunternehmungen und Handwerkern die
gierung will die Gewerbekapitalsteuer bereits in Steuerbefreiung von der Gewerbesteuer zu gewäh-
einem Jahr vollständig abschaffen, obwohl die Daten- ren, ohne daß gleichzeitig Großunternehmen von
basis zur Ausarbeitung vernünftiger Ausgleichsmaß- einer Art Mitnahmeeffekt profitieren.
nahmen für die Kommunen erst in sechs Jahren
vorliegen kann. Das ist fürwahr eine Meisterlei- Des weiteren schlägt unsere Gruppe vor, zur weite-
stung. ren Stärkung der Finanzkraft der ostdeutschen Kom-
munen im Finanzreformgesetz langfristig eine kom-
Solche Praktiken, meine sehr verehrten Damen und munale Investitionspauschale zu verankern. Eine
Herren, können nicht anders als mit dem Begriff solche kommunale Investitionspauschale sollte sich
„steuerpolitische Luftnummern" betitelt werden. an der Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ orientieren und sollte darauf gerichtet sein, die In-
DIE GRÜNEN]: Frau Luft, jetzt müssen Sie vestitionskraft der ostdeutschen Städte und Gemein-
einmal protestieren! Sie werden hier ständig den sowie der Landkreise zu sichern.
vereinnahmt!) (Beifall bei der PDS)
— Jawohl, Herr Kollege Fischer, dafür wird sich eine Gegenwärtig ist vor allem die mangelnde Planungssi-
passende Gelegenheit ergeben. cherheit ein Manko, das Kommunalpolitikerinnen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ und Kommunalpolitiker in Ostdeutschland besonders
DIE GRÜNEN]: Das ist die Waigel-Nummer, drückt.
keine Luft-Nummer!) Wir schlagen vor, daß als erster Schritt zur Wieder-
— Ich sprach von einer steuerpolitischen Luftnummer, einführung einer kommunalen Investitionspauschale
Herr Fischer. eine solche Maßnahme im Haushalt 1995 geprüft-
wird, mit dem Ziel, die Finanzkraft der ostdeutschen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Kommunen in einem Umfang von etwa 5 Milliarden
DIE GRÜNEN]: Das ist eine Waigel-Num DM zu stärken. Wir werden dazu bei den Haushalts-
mer!) beratungen einen Entwurf einbringen, der auch
Die Leidtragenden wären wiederum die Schwachen. Finanzierungsgrundlagen umfaßt. Beiträge zu einer
Die Städte, Gemeinden, Landkreise, ihre Einwohne- soliden Finanzierung der öffentlichen Finanzen zu
rinnen und Einwohner wären betroffen. leisten ist ein besonders großes Anliegen des Bundes-
tages.
Die PDS-Bundestagsgruppe fordert die Bundesre-
gierung auf, endlich eine umfassende Reform der Ich fordere im Namen meiner Gruppe den Bundes-
Kommunalfinanzierung in Angriff zu nehmen, die finanzminister auf, einen energischen Kampf gegen
kein bloßes Anhängsel einer Unternehmensteuerre- die Steuerhinterziehung und gegen Subventionsbe-
form ist. Wir unterstützen nachhaltig den Vorschlag trug zu führen. Die Zahlen sind genannt.
der kommunalen Spitzenverbände, dafür eine En- (Lachen bei der CDU/CSU Zuruf von der
quete-Kommission beim Deutschen Bundestag einzu- CDU/CSU: Gegen das PDS-Vermögen!)
richten.
Wir forde rn eine radikale Besteuerung der Speku-
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Schon lationsgewinne und erachten es auch für notwendig,
wieder eine Kommission!) die Spekulationsgewinne auch aus dem Handel mit
Von welchen Eckpunkten sollte eine umfassende sogenannten Finanzderivaten, wie Termingeschäften
Reform der Kommunalfinanzierung nach Ansicht mei- und Optionen, heranzuziehen.
ner Gruppe ausgehen? Vor allem kommt es darauf an, (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
das Band zwischen Wirtschaft und Kommunen nicht DIE GRÜNEN]: Sie können mit Hungerstreik
weiter zu zerschneiden, wie das die Bundesregierung rechnen, wenn Sie das zu radikal fordern!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 369

Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel


Diese Summen in einer Größenordnung von zig Mil- zwischen Parteien trennen kann, zu bemerken
liarden könnten zur Finanzierung der öffentlichen wäre.
Haushalte einen gewichtigen Beitrag leisten.
Das Verbrechensbekämpfungsgesetz stellt nach
Die PDS-Bundestagsgruppe sieht auch in der rigo- meiner Überzeugung einen ersten bedeutenden
rosen Privatisierung von kommunalen Unternehmun- Schritt dar. Es werden weitere Maßnahmen folgen
gen keinen geeigneten Weg zur Sanierung der Kom- müssen, um dem Anstieg der Kriminalität und dem
munalfinanzen. damit verbundenen materiellen, aber auch gesell-
(Beifall bei der PDS — Zuruf von der CDU/ schaftlichen Schaden mit der erforderlichen Konse-
CSU: Das habt ihr doch 40 Jahre nicht quenz entgegenzutreten. Sonst drohen angesichts der
geschafft!) rasanten weltweiten Kriminalitätsentwicklung infolge
Internationalisierung und Technisierung des organi-
sierten Verbrechens gewaltige Schäden. Wir müssen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Sie
verstärkt dazu kommen, die präventiven, die vorbeu-
müssen zum Schluß kommen.
genden Möglichkeiten der Kriminalitätsbekämpfung
zu nutzen. Es darf nicht so bleiben, daß sich die
Dr. Uwe-Jens Rudi Rössel (PDS): Wir sehen in der Verbrecher zwar modernster Kommunikationsmittel
Privatisierung von Kommunalvermögen keinen ge- bedienen können, international arbeiten und die
eigneten Weg, weil — das ist analytisch nachgewie- neuesten Managementmethoden aus der Wirtschaft
sen — sich Ausgaben und Einnahmen hier in etwa die abgucken,
Waage halten. Wir sind lediglich dafür, im Rahmen
einer Einzelfallprüfung einer Privatisierung dann zu (Beifall bei der CDU/CSU)
folgen, wenn sie tatsächlich Vorteile für die Kommu- die Sicherheitsbehörden aber nicht gleichermaßen in
nen und ihre Einwohnerinnen und Einwohner hat und der Lage sind, z. B. mit modernster Technik zu arbei-
eine kontinuierliche Aufgabenerfüllung gewährlei- ten.
stet.
Ich danke Ihnen recht schön. (Zuruf von der SPD: Ja, dann machen Sie es
doch!)
(Beifall bei der PDS)
Deshalb ist das Abhören von Gangsterwohnungen
eine ebenso unentbehrliche Maßnahme wie etwa die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Damen
Verwendung von Ermittlungsergebnissen der Ge-
und Herren, wir kommen damit zum Haushaltsplan
heimdienste im Kampf gegen das Verbrechen oder die
des Bundesministers des Innern, Einzelpläne 06, 33
Verlängerung der Kronzeugenregelung.
und 36. Das Wort hat der Bundesminister des Innern,
Manfred Kanther. (Beifall bei der CDU/CSU)
Technische Sicherungen gegen den bandenmäßi-
Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Frau gen Kraftfahrzeugdiebstahl, den Mißbrauch von Kre-
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine ditkarten oder drohende Gefahren im Bereich elektro-
Herren! Die Kriminalitätsbekämpfung ist eine der nisch gesteuerter Dienstleistungen beweisen neue
wichtigsten Aufgaben der Innen- und natürlich auch Chancen der Technik in der Verbrechensbekämp-
Rechtspolitik. Weil sich die Kriminalitätslage in unse- fung. Ich sage voraus, daß sich sogar neue Chancen
ren Zeiten so schnell wandelt wie noch nie, haben wir wirtschaftlicher Art für diejenigen erweisen werden,
schnelle und unterschiedliche Antworten zu geben. die zuerst den werblichen Faktor der Sicherheit in
Wir erleben eine erschreckende Zunahme an Bru- Produkten und Dienstleistungen richtig erkennen.
talität im Alltag, die auf Menschen keine Rücksicht
nimmt. Wir müssen mit neuen Formen der Bedrohung Die Koalition stellt sich diesen Herausforderungen,
leben: neuen Rauschgiftrouten, ungeahntem Waffen- die sich für den Rechtsstaat aus der weiter ansteigen-
handel sowie Plutoniumschmuggel, einer Form von den Bedrohung durch das Verbrechen ergeben. Daß
Kriminalität mit ungeahnter Gefährlichkeit für die wir in der Koalition nicht in allen Punkten völlig einig
Zukunft. Zudem haben die politischen Veränderun- sind, ist offenkundig. Wir werden dieses Einverneh-
gen in Osteuropa dazu geführt, daß Deutschland men im Laufe der Zeit herstellen. Wir befinden uns im
wieder zu einem Tor zwischen Ost und West gewor- ersten Monat der Legislaturperiode, und ich meine,
den ist, leider aber auch mit negativen Begleiterschei- wir werden ein anderes Ergebnis in ihrem letzten
nungen: nämlich zu einem Tor, durch das zunehmend Monat haben, nämlich eines, das der Verbrechensbe-
die grenzüberschreitende Kriminalität, die sich stän- kämpfung mit modernsten Methoden weiteren Raum
dig verstärkt, ihren Weg gefunden hat. gegeben hat.
Das verlangt Zusammenarbeit zwischen den demo- Wir werden also die jetzt geschaffenen Vorschriften
kratischen Parteien in der Bekämpfung dieses Phäno- des Gesetzes zur Bekämpfung des organisierten Ver-
mens und Zusammenarbeit weit über unsere Grenzen brechens oder des Verbrechensbekämpfungsgeset-
hinaus. Daß wir das intern, wenn es not tut, leisten zes bis Anfang 1996 sorgfältig analysieren, praktische
können, ist mit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz Erfahrungen in diese Überprüfung einfließen lassen
bewiesen worden. Es wäre durchaus wünschenswert, und dies alles in einem nationalen Kriminalitätsbe-
wenn es in Zukunft mit weniger Gezerre geleistet kämpfungsplan unterbringen, unter Beteiligung von
werden könnte, weil es auf die Bürger überzeugender Bund und Ländern, die dabei unverzichtbar mitwir-
wirkt, wenn ein gemeinsamer politischer Wille zum ken müssen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung
Handeln in diesen Fragen, die man nicht sonderlich in einer Vielzahl von Punkten den dringlichsten
370 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Bundesminister Manfred Kanther


Handlungsbedarf angesprochen: z. B. Verfahrensbe- mühsam zu bewegen sind. Solche Schritte sind getan
schleunigung, Opfer- und Zeugenschutz, die Notwen- und werden weiter getan.
digkeit, die Untersuchungshaft bei Jugendlichen und
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
den Jugendstrafvollzug zu überprüfen. Das alles wird
DIE GRÜNEN]: Die haben beg ri ffen, daß sie
schnell angepackt. Wir werden haushaltsmäßig durch
ihre Souveränität nicht so schnell aufgeben
eine entsprechende Prioritätensetzung wirksame Be-
wollen!)
dingungen für die Verbrechensbekämpfung schaffen.
Der Haushalt der Sicherheitsbehörden steigt deutlich Von besonderer Bedeutung ist das Zusammenwir-
höher, wofür ich dankbar bin, als der Haushalt im ken mit den Ländern in der Kriminalitätsbekämpfung
Ganzen. ebenso wie anderen Fragen des inneren Friedens, in
der Frage der Ausländerpolitik ganz besonders. Es
Deutschland ist keine Insel bei der Kriminalitätsbe- geht nicht an, daß die Länder freihändig, je nachdem,
kämpfung, sondern Deutschland ist durch seine zen- wie es einem gerade am bequemsten ist, der eigenen
trale Lage ein schlimmes Betätigungsfeld für interna- Verantwortung auszuweichen, ihre Abschiebestopps
tional operierende Straftäter. Insbesondere die verhängen und damit den Asylkompromiß durch die
Grenzöffnungen zu unseren östlichen Nachbarn Hintertür unterlaufen. Das geht nicht.
haben auch die Kriminalitätsszenerie in Deutschland
nachhaltig verändert. Es ist leider wahr, daß die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Gruppen der Asylbewerber oder Pseudotouristen DIE GRÜNEN]: Sie verbieten die PKK und
besonders kriminalitätsbelastet sind, und zwar dieje- zwingen jeden Kurden, sich zur PKK zu
nigen, die nur kurze Zeit in unserem Land verweilen, bekennen, wenn er abgeschoben wird! Was
kriminell hineingeschleppt werden, häufig schon zum für eine groteske Situation!)
Zwecke illegaler Arbeit oder von Straftatenbegehung. Ich bin in der letzten Innenministerkonferenz von
Dies kann niemanden freuen. Hier zeigt sich eine den Abschiebestoppvorschlägen betreffend Aser-
schlimme Verbindung zwischen grenzüberschreiten- baidschan, Armenien, türkische Christen, Kurden,
der Schleuserkriminalität, weltweit wirkenden Ver- Togo, Zaire und sämtliche Altfälle heimgesucht wor-
brecherorganisationen und den Reflexen im Inland. den. Sie müssen sich nur einmal an einem Beispiel die
Auf diese Wechselwirkungen stellen wir uns ein, sozialdemokratische Politik vorführen lassen.
insbesondere durch den Ausbau der Grenzsicherung, Da wird von Bremen ein Abschiebestopp für Togo
was den BGS vor besonders wichtige Aufgaben stellt. verlangt. Weil sich dafür niemand erwärmt, wird der
Das findet sich übrigens auch im Haushalt wieder. Antrag in der Sitzung zurückgenommen. Heute mor-
Wir müssen die europäische Seite der Verbrechens- gen lese ich in der Zeitung, daß Schleswig-Holstein
bekämpfung stärken. Wir haben dort einen erhebli- die Abschiebung nach Togo wieder gestoppt hat.
chen Nachholbedarf im Bewußtsein unserer Partner. In der vorigen Woche habe ich die Visumfreiheit für
Unsere Bemühungen in dieser Präsidentschaft sowohl Togo — und einige andere schwarzafrikanische Staa-
zum Thema Europol wie zum Thema burden sharing ten — aufheben müssen, weil übelstes Schlepperwe-
im Bereich von Asyl- und Flüchtlingswesen, wie in der sen die Visumfreiheit in Togo und die Tatsache, daß
Frage von Wegfahrsperren für Kraftfahrzeuge werden Rußland nicht sicheres Herkunftsland ist, zum Ein-
nun einmal zu meinem Bedauern nicht gleichermaßen schleppen von Tausenden von Togolesen von Togo
von all unseren Partnern beantwortet. Ich bin froh, daß über Moskau nach München — weil es da ein Togo-
der Gipfel in Essen wichtige Leitentscheidungen zum Generalkonsulat gibt benutzt hat. Das ist die
Thema Europol oder auch z. B. zum Ausbau der EDE Realität einer Länderpolitik, die der Verantwortung-
(Europäische Drogeneinheit) als Vorstufe von Europol ausweicht. Das geht nicht.
gegeben hat, um Menschenhandel, um Nuklearkrimi-
(Beifall bei der CDU/CSU)
nalität und gewerbsmäßigen Kraftfahrzeugdiebstahl
in einen großen Straftatenkatalog aufzunehmen, der Wir werden in dem derzeit wichtigsten Fall der
schrittweise in die Arbeit von Europol hineinführt. Abschiebeproblematik bis zum 20. Januar einen
Kein Zweifel, Herr Kollege, mir wäre mehr lieber Abschiebestopp miteinander beachten. Dem habe ich
gewesen. Aber ich kann nicht darüber hinweg, daß es zugestimmt, weil das türkische Abgeordnetenurteil
in Europa immer noch Staatsmänner gibt, die sich in der Tat von so besonderer Bedeutung auch für die
über die Frage der Rechnungsprüfung bei Europol beidseitigen Beziehungen unter den Aspekten von
tagelang mit anderen streiten können und das für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist, daß es gründ-
wichtiger halten als die Bekämpfung von Terrorismus lich geprüft werden möge.
oder organisiertem Kraftfahrzeugdiebstahl. Das zu Wenn es hingegen lediglich Bezüge zum Thema
ändern liegt nicht in der Hand der Bundesregie- PKK hat, was nicht unser reales Abschiebeproblem
rung. darstellt, und keine Bezüge zum allgemeinen Kurden-
thema besitzt — Herr Schnoor hat mir erklärt, daß er
(Johannes Singer [SPD]: Dafür ist Überzeu im vergangenen Jahr 1 000 Kurden als normale Asyl-
gungskraft nötig!) bewerber abgeschoben hat, die keinen Berechti-
— Ich glaube nicht, daß es an meiner Überzeugungs- gungsstatus in Deutschland gewinnen konnten —,
kraft gelegen hat. In anderen alten Nationalstaaten dann ist es selbstverständlich, daß die Abschiebung
haben die Fragen der Souveränität bei der Verbre- wieder aufgenommen werden muß.
chensbekämpfung und bei Angelegenheiten von Poli- Denn wenn wir in der Welt den Eindruck entstehen
zei und Justiz einen derart herausgehobenen Stellen- lassen, daß man nach Deutschland nur hereinkommen
wert, daß sie selbst zu kleinen weiteren Schritten nur muß, um dann vor Abschiebung sicher zu sein, kann es
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 371

Bundesminister Manfred Kanther


nicht zweifelhaft sein, daß wir den Zugang nicht Privatisierung als das Allheilmittel zur Modernisie-
beherrschen werden und erneut die innenpolitischen rung des Staates an.
Probleme wie in der Zeit vor dem Asylkompromiß
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das sagt doch
haben werden.
keiner!)
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das scheint mir ein falscher Weg zu sein.
Es sind zu viele und aus aller Welt, die überwiegend
kriminell geschleppt in dieses Land drängen, als daß (Beifall bei der SPD)
wir unter bevorzugt humanitären Aspekten dieses Es geht vielmehr — hören Sie gut zu — um die
dulden könnten. Das wird nicht geschehen. Handlungsfähigkeit unseres Staates, um die Zukunft
Das Ausländerrecht hat nicht nur die Funktion, für unsere nachfolgenden Generationen. Wir müssen
ausländerrechtliche Probleme im Sinne von Rechtsan- bei unseren Vorstellungen weg davon, daß es aus-
sprüchen der Ausländer zu regeln, sondern natürlich schließlich um Kosten und Köpfe geht. Auch stellt sich
auch die Funktion, die inländische Gesellschaft vor die Frage, wie der Staat zukünftig seine neu zu
einem solch unbeherrschbaren Zustrom von Auslän- bestimmenden Aufgaben in öffentlich-rechtlicher
dern oder gar rechtswidrigen Verhalten im Inland zu Verantwortung wahrnimmt: durch Privatisierung oder
sichern. Beide Komponenten des Ausländerrechts beispielsweise durch die Delegation an privatrechtli-
werden diese Bundesregierung und diese Koalition che Organisationen.
weiter wesentlich beachten. Bei der Modernisierung des Staates, bei einer Ver-
Ich danke Ihnen. änderung unserer Verwaltungsstrukturen geht es
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer nicht in erster Linie um das Sparen, nicht nur um die
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da Erhaltung finanzieller Spielräume des Bundes, der
klatscht ja keiner von der F.D.P.! Was ist Bundesländer und der Kommunen. Nein, es geht um
denn los?) eine moderne, effiziente und sparsame Verwaltung
als Standortvoraussetzung für unsere Bundesrepublik
Deutschland als investitionsfreundliches Land. Es
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nun geht hierbei um Bürgerfreundlichkeit und Bürger-
der Abgeordnete F ri tz Rudolf Körper. nähe der Verwaltung, die zu jeder Zeit deutlich
machen muß, daß sie für die Bürgerinnen und Bürger
da ist und nicht umgekehrt.
Fritz Rudolf Körper (SPD): Frau Präsidentin! Meine (Beifall bei der SPD)
Damen und Herren! Wenn man die Rede des Bundes-
Ich sage ganz deutlich: Alle denkbaren Reformbemü-
innenministers hört, stellt sich einem insbesondere bei
hungen müssen davon ausgehen, daß eine Reform nur
dem Thema der Verbrechensbekämpfung die Frage:
mit den Beschäftigten und nicht gegen sie möglich
Wer regiert hier eigentlich?
ist.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Man kann Ihnen, Herr Kanther, auch etwas zurufen:
Machen Sie es doch! Herr Kollege Kanther, das Zurückschneiden von
Vorschriften und die Verbesserung von Qualität,
(Beifall bei der SPD) allerdings auch mit der notwendigen Personalkosten-
Offensichtlich — ich werde nachher noch darauf reduktion, sind zu verbinden. Ich halte das in der
eingehen — haben Sie einige Probleme innerhalb Koalitionsvereinbarung beschlossene Personalwirt-
Ihrer Koalition. Die Kolleginnen und Kollegen von der schaftskonzept für außerordentlich dürftig. Die Forde-
CDU sollten, wenn es um das Thema „Innere Sicher- rung, den Personalbestand in den Bundesbehörden in
heit" geht, nicht in Richtung der SPD-Fraktion sehen. den nächsten vier Jahren um insgesamt 1 % jährlich zu
Sie sollten sich vielmehr an die Kolleginnen und senken, wird im Grunde genommen der von uns
Kollegen aus der F.D.P.-Fraktion wenden, die hier eingebrachten Zielvorstellung zur Modernisierung
eine andere Position vertreten. unseres Staates nicht gerecht. Hier wird mit der
(Ina Albowitz [F.D.P.]: Schlimm genug, daß Rasenmähermethode vorgegangen. Hier wird nicht
Sie sie nicht vertreten!) darauf geachtet, wie Staat und staatliche Aufgaben
verändert, ja angepaßt werden müssen.
Herr Kollege Kanther, Sie haben gesagt, daß Sie
heute aus bestimmten Gründen nicht ausführlich über Kostendenken und Kostenbewußtsein sind gefragt;
Ihre Koalitionsvereinbarung reden. Ich will aber ein- weg von der Kameralistik, hin zum betriebswirtschaft-
mal einen Punkt aufgreifen. Wenn man Ihre Koali- lichen Denken. Dazu müssen aber bessere Feststel-
tionsvereinbarung liest, kann man sehr viel zu den lungsmethoden und Kontrollmechanismen entwickelt
Themen „Bürokratie abbauen" , „Verwaltung straf- werden, mit denen auch der erforderliche Personal-
fen", „Verfahren vereinfachen" oder „Rechtsschutz aufwand ermittelt und ein Überaufwand vermieden
konzentrieren" zur Kenntnis nehmen. Angesichts wird.
Ihres vorgebrachten, notwendigen Veränderungsbe- Ich möchte ein paar Bemerkungen zum Dienstrecht
darfs zum Thema „Modernisierung des Staates" stellt machen. Was das Dienstrecht anbelangt, möchte ich
sich für mich die Frage: Wer hat eigentlich in den kurz skizzieren, worum es nach meiner Überzeugung
letzten zwölf Jahren regiert? geht. Wir brauchen eine funktionsgerechte Bezah-
Mein Eindruck ist, daß diese Bundesregierung ihre lung. Die heutigen Stellenobergrenzen sind leistungs-
alten Privatisierungsideologien beibehält. Sie sieht feindlich. Statt ein mangelhaftes Beurteilungswesen
372 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Fritz Rudolf Körper


partiell außer Kraft zu setzen, muß das Beurteilungs- — Vielen Dank. Ich freue mich, wenn Sie gut aufpas-
wesen reformiert werden. Die Personalsteuerung sen. Das erleichtert es dem Redner, seine Rede zu
sollte im Rahmen einer Personalentwicklungsplanung halten.
erfolgen. Nach meiner Auffassung verkennen das
Meine Damen und Herren, die Aussage der Regie-
Bundesinnenministerium und die Bundesregierung,
rung in ihrer Koalitionsvereinbarung, erst auf der
daß eine grundlegende und umfassende Reform des
Grundlage eines Erfahrungsberichtes 1996 den mög-
Laufbahnrechts notwendig ist. Im Prinzip muß künftig
lichen Gesetzgebungsbedarf festzustellen, ist be-
der Aufstieg ebenso wie der Laufbahnwechsel nach
zeichnend. Es steht nämlich jetzt schon fest, daß die-
Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung möglich
ses Geldwäschegesetz in der Praxis unbrauchbar
sein.
— schlicht gesagt: eine Farce — ist.
(Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD)
Herr Bundesinnenminister, Sie haben sich sehr Da brauche ich keine sozialdemokratischen Experten
stark mit der Verbrechensbekämpfung und der Krimi- zu zitieren.
nalität auseinandergesetzt. In den letzten zwölf Jah-
ren — das stellen Sie auch fest — hat insbesondere die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
organisierte Kriminalität unbekannte Dimensionen DIE GRÜNEN]: Gibt es so einen?)
erreicht. Im Jahre 1992 waren in Deutschland 641 Ich verweise nur auf die Aussage des BKA-Präsiden-
Ermittlungsverfahren im Bereich der organisierten ten Zachert, der sagt: Ganze 2,4 Millionen DM wurden
Kriminalität anhängig. In diesen Verfahren wurden in den letzten zwölf Monaten beschlagnahmt. Präsi-
insgesamt 60 564 Einzeldelikte erfaßt. Die Bandbreite dent Zachert sieht weiteren Reformbedarf.
dieser Delikte erstreckte sich auf nahezu den gesam-
ten Straftatenkatalog der polizeilichen Kriminalstati- Wenn Sie, meine Damen und Herren, dem BKA-
stik. Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität Präsidenten keinen Glauben schenken, sehen Sie sich
erfordert eine Gesamtstrategie, die die Bundesregie- doch einmal ein wenig in anderen Erfahrungsberich-
rung nicht hat und auch heute nicht aufgezeigt hat. ten um. Wir sind der Auffassung: Wer nicht am
Hauptpunkt der wirksamen Geldwäsche ansetzt, ver-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ urteilt im Grunde genommen Polizei und Justiz zur
DIE GRÜNEN) Statistenrolle.
Wer dem widerspricht, den möchte ich auf die (Beifall bei der SPD)
Koalitionsvereinbarung verweisen. Zu dem Thema
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung
„Innere Sicherheit" stehen sage und schreibe zwei
hat auch in ihrer repressiven Drogenpolitik versagt
nichtssagende Sätze in fünf oder sechs Zeilen. Dies
und damit den gewaltigen Bereich der Beschaffungs-
zeigt die Wichtigkeit, die Sie diesem Thema beimes-
kriminalität maßgeblich mitzuverantworten.
sen. Ich meine, dies wird der Sache nicht gerecht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD)
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das Schlimme ist, daß Sie, Herr Kanther, mit Ihren
Wer das Strafrecht für ein geeignetes Mittel der
Positionen handlungsunfähig sind, weil Sie in Ihrer
Drogenpolitik hält, sollte der Ehrlichkeit halber zuge-
eigenen Koalition für Ihre Vorstellungen keine Mehr- ben, daß es ihm nicht um die Hilfe für verelendete
heiten bekommen.
Menschen geht, sondern um eine repressive Ord-
(Beifall bei der SPD) nungspolitik und die Demonstration exekutiver
-
Potenz.
Dies wird beispielsweise an dem Zustandekommen
des Geldwäschegesetzes deutlich. Obwohl die Bun- (Beifall bei der SPD — Norbert Geis [CDU/
desregierung erkannt haben soll, daß die Bekämp- CSU]: Aber jetzt werden Sie wieder links! —
fung der organisierten Kriminalität bei der wirtschaft- Vorher war er rechts!)
lichen Attraktivität ansetzen muß, hat sie entgegen Wir wollen den Grundsatz „Hilfe statt Strafen"
unseren Forderungen das Zustandekommen eines stärken und erweitern. Ich sage auch, Herr Geis: Der
wirksamen Geldwäschegesetzes verhindert. Man Verelendung langjährig Abhängiger ist mit sozialthe-
beachte, daß nach vorsichtigen Schätzungen des Bun- rapeutischen Maßnahmen zu begegnen, anstatt sie
desnachrichtendienstes jährlich in Deutschland sage mit repressiven Mitteln zu verstärken. Daher muß das
und schreibe 100 Millionen DM gewaschen werden — organisierte Rauschgiftwesen richtig und gut be-
ich wiederhole: 100 Milliarden DM. kämpft werden.
(Ina Albowitz [F.D.P.]: Man muß sich schon Meine Damen und Herren, ich will auch der Wirt-
entscheiden! — Joseph Fischer [Frankfurt] schaftskriminalität hier noch kurze Beachtung schen-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In der Bun ken. Ich sage ganz deutlich: Mit der SPD wird es keine
desrepublik Deutschland ist beides mög Politik geben nach dem Motto, die Kleinen zu hängen
lich!) und die Großen laufen zu lassen.
— Entschuldigung, Milliarden. Herr Fischer, wenn ich (Beifall bei der SPD)
mich versprochen haben sollte, korrigiere ich: Milliar-
den. Es geht nicht um lächerliche Millionen. Ich will das ein bißchen konkret machen, lieber Erwin
Marschewski. Es ist unfaßbar und auch unverantwort-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ lich, daß diese Bundesregierung noch immer nicht in
DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) der Lage ist, die längst überfällige Novellierung der
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 373

Fritz Rudolf Körper


gesetzlichen Grundlagen für die Arbeit des Bundes- rung der Einbürgerung mit Zulassung der doppelten
kriminalamtes vorzulegen. Staatszugehörigkeit einsetzen.
(Dieter Wiefelspütz [SPD]: Schämen Sie (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
sich!) DIE GRÜNEN]: Der Entwurf von der Frau
Hier liegt bis heute kein ernstzunehmender Entwurf Schmalz-Jacobsen ist hervorragend! Dem
stimmen wir gemeinsam zu! — Gegenruf des
vor.
Abg. Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Taugt
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nichts!)
nicht!)
— Wenn Sie den Dialog beendet haben, mache ich
Dies ist im Hinblick auf Schengen und den geschei- weiter.
terten Verhandlungen mit der EU zur Verabschie-
dung der Europol-Konvention unverantwortlich und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
zeigt nach meinem Dafürhalten deutlich das Desinter- DIE GRÜNEN]: Machen Sie ruhig weiter!)
esse und das Unvermögen dieser Bundesregierung. Kommen Sie uns jetzt bitte nicht mit Ihrer Mißgeburt
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Maßlos übertrie einer sogenannten Kinderstaatszugehörigkeit. Die-
ben, Herr Kollege!) sem merkwürdigen Konstrukt haben Sie in Wahrheit
selbst doch nur eine Lebensdauer von ca. 48 Stunden
Ich sage, Herr Kanther: Sie können im Grunde zugedacht, die Zeit zwischen der Veröffentlichung der
genommen über den EU-Gipfel in Essen sagen, was Koalitionsvereinbarung und der Wahl des Kanzlers.
Sie wollen. Thema bleibt, daß Europol im Moment Jetzt können Sie dieses Ausstellungsstück aus dem
versagt. Unsere Aufgabe ist es — ich will die Schwie- Kuriositätenkabinett dorthin tun, wo es hingehört,
rigkeiten überhaupt nicht wegdiskutieren —, gemein- nämlich in den Papierkorb.
sam die nationalen Egoismen in der Verbrechensbe-
kämpfung beiseite zu schieben und damit wirksamere (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ina
Methoden an den Tag zu legen. Albowitz [F.D.P.]: Schwacher Beifall bei den
Sozialdemokraten!)
Ich will auch ein paar Sätze über die Kulturpolitik
verlieren, die ebenfalls zu dem Bereich der Innenpo- Meine Damen und Herren, was den europäischen
litik gehört. Lieber Herr Kanther, es ist schon erstaun- Vergleich anbelangt, ist Ihre Kinderstaatszugehörig-
lich, daß Sie das Thema Kulturpolitik, das auch im keit ein nationaler Irrweg. Wie erklären Sie uns, daß
Zuge dieser Haushaltsberatungen letztendlich eine das einzige greifbare Ergebnis zum Schengener
Rolle spielen sollte, nicht erwähnt haben. Aber in den Abkommen eine weitere Verschiebung seines Inkraft-
Koalitionsvereinbarungen wurde sich ja auch nur tretens war? Wo sind die Ansätze einer gerechten
mühsam etwas abgerungen. Ich will in diesem Zusam- Verteilung der Flüchtlinge und der mit ihrer Auf-
menhang Richard von Weizsäcker zitieren. Er bat in nahme zusammenhängenden Lasten?
seiner Abschiedsrede am 1. Juli 1994 die Haushälter
Ihre Erfolglosigkeit in Europa paart sich mit Ideen-
und Finanzverantwortlichen in Bund, Ländern und
losigkeit und Reformunwilligkeit auf nationaler
Kommunen, sich auch in diesen finanziell schwierigen
Ebene. Das betrifft nicht zuletzt die Asyl- und Flücht-
Zeiten für die Kultur einzusetzen. Denn — so sagte
lingspolitik. Ich werde Ihnen jetzt nicht den Gefallen
er — „Kultur ist eben kein entbehrlicher Zierat,
tun, den mittlerweile zwei Jahre alten Asylkompromiß
sondern humane Lebensweise der Bürger". Dem habe
in Frage zu stellen, im Gegenteil. Dazu stehen wir. Sie
ich nichts hinzuzufügen.
aber verschanzen sich hinter ihm. Sie wollen nicht
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wahrhaben, daß Asylpolitik eine lebendige Materie-
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist, weil sie mit lebendigen Menschen zu tun hat.
Meine Damen und Herren, ich komme zur Zuwan- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Für tote Menschen
derungspolitik. Ob wir wollen oder nicht, wir tragen braucht man keine!)
hierbei auf zwei Schultern. Das eine ist die Steuerung
und Begrenzung des Zuzuges, und das andere betrifft Sie stellen sich taub gegenüber der Kritik zahlreicher
die Integration der auf Dauer mit uns und unter uns Flüchtlingsorganisationen am neuen Asylrecht. Sie,
lebenden ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbür- die Sie das große „C" im Parteinamen führen, wollen
gern. den Kirchen nicht zuhören. Richtig ist: Die Politik muß
sich dieser Kritik stellen.
Um mit letzterem zu beginnen: Die alte wie die neue
Bundesregierung zeigt hierbei eine — lassen Sie es (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Wollen Sie es
mich einmal so sagen erbärmliche Kontinuität, die nun ändern oder nicht?)
in einem Wort zusammenzufassen ist: Fehlanzeige. Ich wäre einstweilen ja schon damit zufrieden,
(Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) wenn der Herr Bundesinnenminister ab und an auf
seine Kollegen Innenminister in den Ländern hören
Fehlanzeige vor allem bei der überfälligen Reform des
würde. Dann gäbe es beispielsweise einen richtigen
Staatsangehörigkeitsrechts. Insbesondere die verehr-
Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden aus der
ten Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. können
Türkei und nicht nur ein halbgares Moratorium über
sich schon einmal darauf einstellen, daß sie erneut
die Festtage bis zum 20. Januar.
Gelegenheit bekommen werden, den traurigen Spa-
gat zwischen hehren Parteitagsbeschlüssen einerseits Auch beim Aufenteltsstatus für Kriegs- und Bürger-
und Koalitionsdisziplin andererseits vorzuführen, kriegsflüchtlinge müssen Sie Ihre Sprachlosigkeit
indem wir uns konkret für eine deutliche Erleichte überwinden und den Ländern ein vernünftiges finan-
374 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Fritz Rudolf Körper


zielles Angebot unterbreiten, damit dieser soge- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin!
nannte B-Status endlich angewandt werden kann. Meine Damen und Herren! Glückwunsch, Herr Kol-
(Beifall bei der SPD — Dr. Burkhard Hirsch lege Körper, für diese erste Rede als innenpolitischer
[F.D.P.]: Können die Länder vielleicht auch Sprecher Ihrer Fraktion! Ich wünsche Ihnen alles
einmal ein vernünftiges Angebot machen?) Gute. Nur, Ihre Kritik an der Innenpolitik der Bundes-
regierung geht voll ins Leere.
— Herr Kollege Hirsch, ich bin der Auffassung, daß
Ich will einmal sagen, was das Ausland über den
auch die Bundesländer ihren Beitrag dazu leisten
Essener Gipfel in bezug auf die Innenpolitik geschrie-
müssen. Darüber haben wir überhaupt keinen
ben hat. „Le Figaro" schreibt: gefestigte Demokratie.
Streit.
Die „Financial Times" schreibt: Sieg der Union hat
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Unsicherheit beseitigt.
Ich will noch einen Satz zu dem Thema der Aussied- Meine Damen und Herren, die Zeitungen haben
lerpolitik sagen. Leider muß ich feststellen, daß die recht; denn gerade im Bereich der Innenpolitik kön-
Aussiedlerpolitik gerade in den letzten beiden Jahren nen wir auf große Erfolge zurückblicken.
aus den Fugen geraten ist, deshalb, weil die Balance (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
zwischen Zuzug und Integration der Spätaussiedlerin- Ich denke an das Gesetz zur Bekämpfung der organi-
nen und Spätaussiedler nicht mehr stimmt. Einst sierten Kriminalität. Dazu hat die SPD nein gesagt. Ich
wurde das System der Aussiedlereingliederungslei- denke an das Geldwäschegesetz. Da hat die SPD erst
stungen als Modell für eine erfolgreiche Integration im Bundesrat oder im Vermittlungsausschuß zuge-
von Einwanderern schlechthin gepriesen. Heute kann stimmt, nachdem sie hier nein gesagt hatte. Ich denke
davon keine Rede mehr sein. Das Tor bleibt offen, an das Bundesgrenzschutzgesetz. Dazu hat die SPD in
verkünden Sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. diesem Hause nein gesagt. Ich denke an das Verbre-
Aber Sie kümmern sich nicht darum, was hinter der chensbekämpfungsgesetz.
Tür passiert. Damit lassen Sie die Spätaussiedler
allein; das lassen Sie die Sozialhilfeträger und andere (Zuruf des Abg. Johannes Singer [SPD])
ausbaden. — Herr Kollege Singer, das ist ein Gesetz gegen
Sie sollten zugeben, daß die Hilfen für die deut- Gewalt, gegen Extremismus, ein Gesetz, mit dem wir
schen Minderheiten in Rußland und anderswo nur den Gangstern den Kampf angesagt haben. Da haben
mäßig wirksam sind. Sie sollten sich eingestehen, daß Sie erst im Vermittlungsausschuß zugestimmt, zu spät
der Auswanderungsdruck unverändert hoch ist. Erst zugestimmt. Auch da, meine Damen und Herren, das
dann sind die Voraussetzungen für eine notwendige klare Bekenntnis!
Neubesinnung in der Aussiedlerpolitik dieser Bun-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
desregierung geschaffen.
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Sin-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ina ger, wenn Sie ihn schon angesprochen haben?
Albowitz [F.D.P.]: Spärlicher Beifall bei den
Sozialdemokraten!) Erwin Marschewski (CDU/CSU): Bitte schön, natür-
Immerhin knirscht es schon im Gebälk der Bundes- lich.
regierung, und ich habe aufmerksam registriert, daß
sich der Kollege Blüm als Angehöriger der Bundesre- Johannes Singer (SPD): Herr Kollege Marschewski,
gierung jüngst aus arbeitsmarktpolitischen Gründen haben Sie vergessen, daß wir zum Geldwäschegesetz
für eine Begrenzung des Aussiedlerzuzugs ausge- und Verbrechensbekämpfungsgesetz in der ersten
sprochen hat. Ich bin der Auffassung, darüber muß -
Fassung nein gesagt haben, weil die beiden von Ihnen
man weiter nachdenken. vorgelegten Gesetze noch zahnloser und wirkungslo-
ser waren als das, was endgültig verabschiedet wor-
Meine Damen und Herren, die Innenpolitik kann
mit Sicherheit auf vielen Feldern zum notwendigen den ist?
sozialen Frieden beitragen. Innerer Friede und innere (Beifall bei der SPD — Ina Albowitz [F.D.P.]:
Sicherheit können nicht ausschließlich mit staatlichen Das sind die wahren Hüter des liberalen
Maßnahmen gewährleistet werden. Nein, es ist eine Rechtsstaats!)
gemeinsame, eine gesellschaftspolitische Aufgabe, in
der wir uns klar und deutlich mit Gewalt und Aggres- Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Kollege Sin-
sion auseinandersetzen müssen. ger, ich denke, daß das jetzt verabschiedete Verbre-
chensbekämpfungsgesetz, dem Sie zugestimmt ha-
Aber Zivilcourage zu stärken, solidarisches Han-
ben, ergänzungsbedürftig ist. Wenn Sie mit der Polizei
deln zu fördern und persönliches Engagement zu
reden, dann ist ein Punkt natürlich von ausgesproche-
unterstützen ist notwendiger denn je. Sie, Herr Kan-
ner Wesentlichkeit. Ich will das ganz vorurteilslos
ther, haben aber mit Ihrer Politik dazu bisher nicht viel
sagen, auch zu Herrn Kollege Dr. Hirsch: Wir müssen
beigetragen.
einmal darüber nachdenken, das zu tun, was Sie
Schönen Dank. sicherlich gesagt haben und was wir auf dem Parteitag
(Beifall bei der SPD und des Abg. Rolf Kutz der CDU auch beschlossen haben, nämlich an die
mutz [PDS]) Umkehr der Beweislast heranzugehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wenn wir das gemeinsam tun, dann wird dieses
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt Gesetz sicherlich noch effektiver sein. Ich wiederhole:
der Kollege Marschewski. Wir haben Gesetze beschlossen, mit denen wir den
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 375

Erwin Marschewski
Kampf gegen die Gangster angesagt haben. Das sind, in denen Sie oft das Sagen haben. Ich weiß, daß
wollen wir auch weiterhin tun. wir als Bund Gesetze zu beschließen haben, und wir
Meine Damen und Herren, ich darf die Liste der werden dies tun.
erfolgreichen Vorhaben fortsetzen: Wir haben das Meine Damen und Herren, wir brauchen z. B.
Ausländerrecht neu geordnet. Wir haben das Asyl- dringend eine gesetzliche Regelung der Hauptver-
recht novelliert. Zum Asylrecht: Unser Asylrecht ist handlungshaft. Warum haben Sie dem im Vermitt-
weiterhin das großzügigste in der Welt, nur dem lungsausschuß nicht zugestimmt? Sie wollen darüber
Mißbrauch wird ein Riegel vorgeschoben, und wirk- nachdenken. Unser Ziel: Sofort festzunehmen, sofort
lich politisch Verfolgten ist Schutz sicher. Aber, Herr zu verurteilen, sofort zum Strafantritt zu kommen. So
Kollege Körper, ich weiß doch, wie schwer es gerade Dinge wie in Oberhof dürfen sich nicht wiederholen.
Ihrer Fraktion gefallen ist, diesem Gesetz letzten Das hat diese Koalition beschlossen.
Endes mit einer Handvoll Stimmen zuzustimmen. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
bedanke mich dafür. Aber Sie können doch auf Grund ordneten der F.D.P.)
der Mehrheit im Bundesrat nicht sagen: Wer regiert
Ich fordere Sie auf, darüber nachzudenken und es
hier denn eigentlich?
uns gleichzutun. Wir brauchen — richtig, Herr Kollege
Ich meine, unser Asylrecht ist ein großzügiges Körper — eine Novellierung des BKA-Gesetzes. Da ist
Recht. Das wird auch durch die Entscheidung des eine effektive Verbrechensbekämpfung erforderlich.
Bundesinnenministers hinsichtlich der Abschiebung Ich verstehe nicht, warum die großen Länder sich
der Kurden bestätigt. Damit eines klar ist: Die türki- dagegen sperren, dem BKA die Vorfeldbeobachtung
schen Urteile gegen ihre eigenen kurdischen Abge- zu übertragen. Aber dies, meine Damen und Herren,
ordneten sind ein schlimmes Zeichen für die Einschät- wird nicht ausreichen.
zung der demokratischen Ordnung in der Türkei; sie
Was ich Ihnen vorschlage, ist etwas, was wir bereits
verlangen eine neue Bewertung des Verhältnisses zu
als Koalition beschlossen hatten. Ich halte es für
diesem NATO-Partner. dringend vonnöten, das G-10-Gesetz zu erweitern.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir setzen den Bundesnachrichtendienst zum Einsatz
Aber ich denke, daß der Abschiebestopp bis zum gegen Terrorismus, gegen Drogen und gegen Handel
20. Januar genügend Gelegenheit gibt, darüber nach- mit spaltbarem Material ein. Warum beziehen wir
zudenken. Deswegen entbehren alle Vorwürfe an den nicht die individuelle Verbrechensbekämpfung ein?
Innenminister jeder Grundlage. Es kann doch nicht sein, daß ein Gangster hier
überwacht wird, weil er mit Drogen oder mit radioak-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tivem Material handelt; dieser Gangster hat eine
Denn bisher — Sie wissen dies — ist kein einziger zweite Wohnung in Frankreich, und er zieht dorthin
PKK-Anhänger von Deutschland an die Türkei ausge- und betreibt sein verbrecherisches Geschäft von dort.
liefert worden. Das ist auch die Linie des Innenmini- Dieser Gangster muß überwacht werden, meine
sters. Wir wollen im Einzelfall entscheiden. Eine -Damen und Herren. Ich bitte Sie herzlich, das G
Einzelfallentscheidung ist letzten Endes generellen 10-Gesetz mit uns entsprechend zu ändern.
Regelungen vorzuziehen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Meine Damen und Herren, im Bereich der inneren DIE GRÜNEN]: Ein Deutscher, der nach
Sicherheit müssen wir das Ausländer- und Asylrecht Frankreich geht, ist dort ein Ausländer und
weiterentwickeln; denn der Friede, das wissen wir, fällt unter Ausländerkriminalität!?)
beginnt im eigenen Haus. Im innenpolitisch geistigen — Ich spreche ja nicht von Ihnen, Herr Kollege
Kampf um die Herrschaft muß die Gesinnung der Fischer. Ich spreche von Gangstern. Wissen Sie, Sie
Friedlosigkeit, die die Gewalt wollen würde, wenn sie werden noch Gelegenheit haben, mit uns gemeinsam
nur könnte, verschwinden. Ich meine, der Etat des unverkrampft, ohne Überspanntheiten und ohne
Finanzministers zeigt auf, daß wir im Bereich der Übertreibungen an die Reformierung von Gesetzen zu
Gewährleistung der inneren Sicherheit zufrieden sein gehen.
können.
Ich denke erstens daran: Wir werden bis 1996 die
Lücke im Bundesgrenzschutz geschlossen haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
Herzlichen Dank, Herr Bundesfinanzminister, herzli- gestatten Sie eine Zwischenfrage?
chen Dank, Herr Bundesinnenminister! Wir werden
damit den Schleppern den Kampf angesagt haben.
Das Schleppertum ist ein schlimmes Verbrechen. Wir Erwin Marschewski (CDU/CSU): Ja, Herr Kollege
müssen deswegen die Zahl an Grenzschutzbeamten Hirsch, bitte schön.
erhöhen.
Als zweites werden wir das Bundeskriminalamt Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Mar-
personell und finanziell besser ausstatten. Ich meine, schewski, Sie haben, ebenso wie der Bundesinnenmi-
die Verbrechensbekämpfung beim, BKA hat sich nister an verschiedenen Stellen, von der Überwa-
bewährt. chung von Gangstern gesprochen. Müßten Sie nicht
Schließlich wollen wir weiterhin die Länder bei den richtiger von Bürgern oder von Leuten sprechen, die
Bereitschaftspolizeien unterstützen. Das kostet Geld. berechtigt oder unberechtigt in einen Verdacht gera-
Das wissen wir. Wir wissen auch, daß für die innere ten sind, und davon, daß es um die Aufklärung eines
Sicherheit in erster Linie die Länder verantwortlich Verdachtes geht? Ist es nicht so, daß Sie jemanden,
376 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Burkhard Hirsch


von dem Sie wissen, daß er ein Gangster ist, verhaften Erwin Marschewski (CDU/CSU): Jetzt möchte ich
müßten und nicht weiter zu überwachen bräuchten? zu Ende ausführen. Die Zeit eilt auch ein bißchen,
(Beifall bei der F.D.P. und der SPD) lieber Johannes Singer.
Ein zweiter wichtiger Bereich ist der Bereich des
Staatsangehörigkeitsrechts. Wir sind uns einig, daß
Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Kollege wir dieses Gesetz, aus dem Jahre 1913 stammend,
Hirsch, ich gebe Ihnen folgenden Sachverhalt: Es wird ändern wollen. Wir wollen den Grundcharakter
jemand auf richterliche Anordnung hin als Drogen- (Zuruf von der SPD: Wann?)
händler überwacht. Er geht nach Frankreich. Wir sind
dabei, ihn festzunehmen. Wir schaffen dies nicht. Wir der Einbürgerungstatbestände ändern. Wir wollen an
wollen ihn auch von Frankreich aus, wo er seine die Stelle des Ermessens die Anspruchsentscheidung
zweite Wohnung hat, weiter überwachen. Dies ist im setzen. Wir wollen Erleichterungen der Einbürgerung
Augenblick wegen der derzeitigen Formulierung des vornehmen, insbesondere bei den Fristen.
G-10-Gesetzes nicht möglich. Das möchte ich Aber, meine Damen und Herren, wir müssen auch
ändern. die Gründe für den Verlust der deutschen Staatsange-
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Gilt denn das hörigkeit regeln. Wer freiwillig eine fremde Staatsan-
G-10-Gesetz in Frankreich? — Lachen bei gehörigkeit erwirbt, obwohl er dauernd bei uns lebt,
der SPD) oder wer endgültig in sein ursprüngliches Heimatland
zurückkehrt, der soll die deutsche Staatsbürgerschaft
— Meine Damen und Herren, Sie wissen doch, daß die wieder verlieren.
Möglichkeit besteht, durch den Bundesnachrichten-
dienst diese Gangsterwohnung abzuhören. Wenn Sie Meine Damen und Herren, bei der Reform werden
das nicht wissen, Herr Kollege Hirsch, dann sage ich wir an zwei bewährten Prinzipien festhalten: am
Ihnen dies. Das wollen wir tun, um den Gangstern Abstammungsprinzip und an der grundsätzlichen
keinen Spielraum in Europa zu geben. Das ist unsere Vermeidung doppelter Staatsangehörigkeit. Denn,
Politik, meine Damen und Herren. meine Meinung: Wer Mitglied unserer staatlichen
Gemeinschaft werden will, soll es ohne Wenn und
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer Aber tun. Deutscher Staatsangehöriger zu werden
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: heißt, sich zu dieser Schicksalsgemeinschaft zu
Jetzt aber! Das europäische Gangstertum bekennen, aus der man nicht nach Belieben ein- und
zittert vor Marschewski! Das Gangstertum austreten können soll, meine Damen und Herren.
verkrampft!)
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer
— Ich habe gerade gesagt: Wir wollen unverkrampft
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
und ohne Überspanntheiten an die Bewältigung die-
Herr Marschewski! Was wollen Sie?)
ser wichtigen Probleme gehen, meine Damen und
Herren. Ich spreche ganz bewußt den Einsatz techni- — Ich bin im Gegensatz zu Ihnen zutiefst davon
scher Mittel in Wohnungen an, den sogenannten überzeugt, daß die grundsätzliche Gewährung einer
Lauschangriff, meine Damen und Herren. Es ist doch doppelten Staatsbürgerschaft die Integration unserer
nicht einzusehen, daß Gangster in Hinterzimmern ausländischen Mitbürger im Ergebnis nicht fördert,
sondern beschädigen wird.
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Wieder Gang
ster!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
ihre Verbrechen besprechen können. Ich bin natürlich DIE GRÜNEN]: Sind Sie für mein Schicksal -
dafür: Die Wohnung ist unverletzlich. Aber dies darf verantwortlich? — Mit Fischer in einer
nicht für diese Leute gelten, meine Damen und Schicksalsgemeinschaft!)
Herren. Meine Damen und Herren, ein dritter Bereich, der
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Burkhard die Innenpolitik angeht, ist der Bereich der Reform
Hirsch [F.D.P.]: Ab wann ist denn jemand des öffentlichen Dienstes. Wir sind uns einig: Eine
Gangster?) Reform an Haupt und Gliedern tut not. Dabei wissen
wir schon jetzt — ich habe Ihre Rede beim letzten Mal
— Herr Kollege Hirsch, was in Italien richtig ist, was in natürlich gehört, Herr Kollege Schily —, daß viele
England richtig ist, was in der Schweiz praktiziert Private auch ohne Einbuße öffentliche Aufgaben bes-
wird, in Dänemark und in den Vereinigten Staaten, ser erfüllen können.
das ist doch hier in Deutschland nicht verfassungswid-
rig. Wir wollen dem Verbrechen in seiner Gänze den Mit einem bin ich wohl nicht einverstanden: mit
Kampf ansagen, und das tun wir mit diesen Gesetzen, einer reinen Organisationsprivatisierung. Denn dies
meine Damen und Herren. führt, das ist die Erfahrung, die ich als Kommunalpo-
litiker habe, dazu, daß die entsprechenden Vorstands-
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Ab wann ist mitglieder vielleicht eine höhere Gehaltssumme
jemand Gangster?) bekommen. Ich kann Ihnen Beispiele aus dem Ruhr-
Ein zweiter Bereich wird sicher im Bereich gebiet liefern. Ansonsten ändert sich wenig.
der —
Ich bitte in diesem Zusammenhang die Bundesre-

gierung dringend, über den sogenannten Perspektiv-


bericht hinaus ein Reformkonzept „Öffentlicher
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Dienst 2000" vorzulegen. Hier tut Handeln wirklich
noch eine Zwischenfrage des Kollegen Singer? not, meine Damen und Herren.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 377

Erwin Marschewski
Zum Schluß ein Wort zur Parlamentarischen Kon- Cern Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau
trollkommission oder, genauer, zur Mitwirkung von Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor wenigen
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an der Kontrolle unserer Tagen wurden zwei Vorstandsmitglieder der angese-
Geheimdienste: Wir wollen Ihre Beteiligung, meine henen Menschenrechtsstiftung der Türkei vor dem
Damen und Herren, an diesen parlamentarischen Staatssicherheitsgericht in Ankara angeklagt. Der
Gremien. Wir akzeptieren Ihre volle Teilhabe, aber eine, Yavuz Önen, hatte eine Politik kritisiert, die „die
mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Hieran kurdische politische und demokratische Bewegung
hegen wir Erwartungen. Wollen Sie immer noch wie verbietet" . Der andere, Fevzi Argun, hatte von einer
vor zwei Jahren die existierenden Verfassungsschutz- „sich vertiefenden Kluft zwischen dem kurdischen
behörden auflösen — ich habe dies gelesen — oder und dem türkischen Volk" gesprochen. Für diese
„die kasernierten Polizeieinheiten" — Sie meinen Äußerungen droht ihnen eine empfindliche Geld-
damit Bereitschaftspolizei und Grenzschutz — ab- strafe sowie eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren in
schaffen? Wollen Sie immer noch V-Leute verbieten? der Türkei.
Wollen Sie immer noch keine Gefängnisstrafe für
Derzeit laufen in der Türkei über 2 000 ähnliche
kriminelle Heranwachsende verhängen, obwohl,
Verfahren, und 117 Schriftsteller, Wissenschaftler und
Herr Kollege Fischer, diejenigen, die in Frankfurt
gerade hundert Autos aufgebrochen haben, nur zu Gewerkschafter der Türkei befinden sich deswegen
dem Zweck nach Deutschland gebracht worden sind, im Gefängnis.
um diese kriminellen Dinge zu tun? Wollen Sie den (Ina Albowitz [F.D.P.]: Mehr! An die 200!)
Tatbestand des § 129a, Bildung terroristischer Verei-
nigungen, immer noch streichen, Herr Kollege — Das sind die, die von der Menschenrechtsstiftung
Fischer? Wollen Sie das immer noch tun? belegt sind. Ich nehme bewußt die Zahlen der Men-
schenrechtsstiftung, weil das Zahlen sind, die, wie Sie
(Abg. Jelena Hoffmann [Chemnitz] [SPD]
wissen, international Anerkennung genießen. — Die
meldet sich zu einer Zwischenfrage)
meisten dieser 11 7 haben mit der PKK nicht den
Hauch einer Gemeinsamkeit, nicht den Hauch einer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Übereinstimmung.
Marschewski, hier ist ein Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage. Auch einige Tage nach der Urteilsverkündung
gegen die ehemaligen Abgeordneten der Großen
Nationalversammlung der Türkei sind wir in diesem
Erwin Marschewski (CDU/CSU): Jetzt will ich gerne Haus über alle Fraktionsgrenzen hinweg betroffen
zu Ende ausführen. Ich bin kurz vor dem Schluß. und fassungslos ob der unversöhnlichen Haltung des
Wollen Sie dies immer noch tun, Herr Fischer? Generalstaatsanwalts, der Regierungsmehrheit und
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ des Militärs in der Türkei.
DIE GRÜNEN]: Wollen wir alles!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
— Hoffentlich nehmen Sie Abstand von diesen Vor- der SPD, der F.D.P. und der PDS sowie bei
schlägen. Diese Vorschläge schaffen keine innere Abgeordneten der CDU/CSU)
Sicherheit. Sie fördern keinen inneren Frieden.
Als jemand, der deutscher Staatsbürger türkischer
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Herkunft ist, sage ich: Die Türkei ist viel zu wichtig, als
DIE GRÜNEN]: Prügelstrafe! Pranger! Schul daß wir es uns leisten könnten, daß die Türkei in
gebet! Eisenkugel! Alles!) fundamentalistische, in nationalistische Fahrwasser-
Zu dem inneren Frieden, den ich meine — hören Sie abdriftet.
zu —, gehören natürlich Spannungen und Konflikte
und sicherlich ein unvermeidliches Maß an Unruhe. (Beifall im ganzen Hause)
Damit dies klar ist: Ich will keinen inneren Frieden
Ich denke, gerade als Europäer müssen wir alles
ohne Einspruch, ohne Widerspruch, ohne jeden Anta-
daransetzen, daß diese Kräfte in der Türkei nicht
gonismus. Das geht doch auch gar nicht.
mehrheitsfähig werden.
Nur: Unser Ziel ist eine Politik, die das Verbrechen
von seiner Wurzel an bekämpft. Unser Ziel ist, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
zeigen, was Recht ist, was Unrecht ist, was man darf sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der
und was man lassen muß. Manches, was ich in diesem SPD und der F.D.P.)
Hause gehört habe, macht den inneren Frieden nicht
Ich füge aber hinzu: Wer die Türkei nicht den
sicherer, sondern eher notleidend. Dies ist nicht
Islamisten und Nationalisten aller Couleur überlassen
gerade die Aufgabe derjenigen, die für die innere
möchte, muß sich anschauen, welche Freunde und
Sicherheit zu stehen haben.
Freundinnen er in der Türkei hat und unterstützt.
Herzlichen Dank.
Es gibt ein türkisches Sprichwort, das ich an dieser
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. —
Stelle zum besten geben möchte. Es lautet türkisch:
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Die Mentalität eines Fried „Dost aci söyler" und deutsch: „Ein guter Freund sagt
stets die Wahrheit". In diesem Sinne würde ich mir
hofsgärtners!)
wünschen, Herr Marschewski, daß wir als bundes-
deutsche Politikerinnen und Politiker in dieser Frage
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich gebe jetzt die bittere Wahrheit aussprechen und in aller Deut-
dem Kollegen Cem Özdemir das Wort. lichkeit zum Ausdruck bringen, daß nur eine Politik,
378 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ce rn Özdemir
die auf Gewaltfreiheit setzt, die ausschließlich auf heit der Bundesrepublik Deutschland haben, verant-
Menschenrechte setzt, eine Zukunft hat. wortlich. So einfach sollte man es sich nicht
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das haben machen.
wir ganz eindeutig gesagt!)
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Dies wird in der Türkei von der Mehrzahl der Men-
der SPD und der PDS)
schen kurdischer und türkischer Abstammung auch so
gesehen.
Ich würde auch einen Blick in die „Frankfurter
(Beifall im ganzen Hause) Rundschau" von heute empfehlen. Dort steht einiges
Der Herr Bundeskanzler sitzt hier. zu einem Thema, zu dem ich mir heute Ausführungen
gewünscht hätte. Da ist z. B. die Tatsache, daß jeder
(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Der Herr zwanzigste Deutsche als suchtkrank gilt, daß wir in
Bundeskanzler sitzt nicht hier!) Deutschland 2,5 Millionen Menschen haben, die alko-
— Nein, nein, er ist hier. Der Bundeskanzler schwebt holabhängig sind. Wir haben 1,4 Millionen Medika-
stets über uns. mentenabhängige, 150 000 Menschen sind von har-
ten Drogen abhängig. Ich hätte mir Ausführungen
Es müßte Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, doch selt-
dazu gewünscht, wie wir an dieses Problem herange-
sam berühren, wenn in türkischen Tageszeitungen
hen, anstatt daß hier ein Horrorszenario aufgebaut
wenige Tage vor der Bundestagswahl die Schlagzeile
wird, das mit der Realität nichts, aber auch gar nichts
„Çiller betet für Kohl" zu lesen war.
gemein hat.
Ich glaube, es ist auch ein Armutszeugnis für
unseren Außenminister, wenn ihn einer der nationali- (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
stischsten türkischen Kolumnisten über alle Maßen der SPD und der PDS sowie bei Abgeordne
lobt und in einer türkischen Tageszeitung deutsch ten der F.D.P.)
schreibt: „Danke, Herr Kinkel! " Das sagt einiges
darüber aus, wie deutsche Außenpolitik in der Türkei Meine Damen und Herren, ich begrüße den vorlie-
wahrgenommen wird, wie sie ankommt. genden Antrag zur Verlängerung des Abschiebe-
(Ina Albowitz [F.D.P.]: Für den Kolumnisten stopps für Kurdinnen und Kurden. Es ist ein erster
können wir nichts!) Schritt zu einer konsequenten Menschenrechtspolitik,
Das Versagen in der Außenpolitik paßt sehr gut zu die ich mir wünsche. Lassen Sie uns aber morgen um
der Humanität willen noch einen weiteren kleinen
der Politik, mit der Innenminister Kanther auf dem
Schritt tun: Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem
Rücken der Schwächsten vermeintliche Stärke
demonstriert. Antrag, einen Abschiebestopp für Wehrdienstverwei-
gerer aus dem ehemaligen Jugoslawien zu erlassen.
(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es wäre ein schönes Signal, das von diesem Hause
und der SPD sowie bei der Abg. Dr. Dagmar angesichts dessen ausgehen sollte, was im ehemali-
Enkelmann [PDS]) gen Jugoslawien zur Zeit passiert. Lassen wir nicht zu,
Es ist bezeichnend: Während bei Flüchtlingen an allen daß diese Menschen der Kriegsmaschinerie wieder
Ecken und Enden gespart und geknausert wird, hat ausgeliefert werden!
der Bundesinnenminister genug Geld, um in den
nächsten vier Jahren über 400 Millionen DM für ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
erkennungsdienstliches System für Asylbewerber der SPD und der PDS) -
auszugeben, mit dem Fingerabdrücke verglichen
werden können. Es genügt nicht, wie der F.D.P.-Generalsekretär
All dies zeigt: Statt Fluchtursachen zu bekämpfen wolkig und fern jeder realpolitischen Analyse zu
und mit Flüchtlingen in unserem Land trotz — zuge- erklären, was wäre, wenn seine Partei die Mehrheit im
gebenermaßen — aller Schwierigkeiten human Bundestag hätte, was sie dann alles gern tun würde. Es
umzugehen, werden Menschen bekämpft, und dafür geht hier nicht um irgendeine Milchkannenverord-
scheut man keine Mühen und Kosten. nung der Europäischen Union, sondern hier geht es
um das Schicksal von Menschen. Es liegt an Ihnen,
Ich möchte an dieser Stelle, wenn Sie gestatten, meine Damen und Herren von der F.D.P.— an die ich
auch ein paar Bemerkungen zum Schreckensszenario mich ganz besonders richte —, zu zeigen, ob Sie
machen, das Bundesinnenminister Kanther im Be- gewillt sind, etwas Konkretes für die Menschen zu tun
reich der inneren Sicherheit an die Wand gemalt hat. und sich nicht aus der praktischen Politik zu verab-
Ich habe schon die Angst gehabt: Was droht mir, wenn schieden, weil die Regierungsvereinbarung anderes
ich dieses Gebäude verlasse? Wartet dann schon die angeblich nicht zugelassen hat.
Mafia vor der Tür? Warten die Schlepperbanden? Was
passiert dann?
Ich denke — hier wende ich mich wieder gezielt an
Man sollte in aller Deutlichkeit sagen: Trotz aller die Mehrheit dieses Hauses, an die Vertreterinnen
Schwierigkeiten im Bereich der inneren Sicherheit und Vertreter, die Kolleginnen und Kollegen von
gibt es nicht den archimedischen Punkt, mit dem die Union und F.D.P. —, diesem Parlament, diesem Hohen
Frage der inneren Sicherheit zu klären wäre. Die Welt Hause, stünde es gut zu Gesicht, wenn es uns gelänge,
ist eben etwas komplizierter, als daß man sagen in dieser Legislaturperiode einen interfraktionellen
könnte, die Ausländer und das Ausland seien quasi für Kompromiß — ich rede bewußt von einem Kompro-
alle Probleme, die wir im Bereich der inneren Sicher miß — in bezug auf die Erleichterung der Einbürge-
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 379

Cern Özdemir
rung und bezüglich der großzügigeren Zulassung der Vielen Dank.
doppelten Staatsbürgerschaft zu finden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der PDS)
F.D.P. und der PDS)
Ich denke, dieses Haus braucht die Koalition der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Damen
Vernunft. Als Angehöriger der ersten Generation von und Herren, es ist Sitte in diesem Hause, zu einer
„neuen Inländern" — oder wie man gemeinhin sagt: Jungfernrede — das ist ein komischer Name — zu
der zweiten Einwanderergeneration, wobei das auf gratulieren. Ich gratuliere dem Kollegen Özdemir zu
mich nicht zutrifft, da ich nie eingewandert bin, dieser Rede.
sondern immer hier war; nicht in diesem Hohen
Hause, aber immer in diesem Lande — kann ich mir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
nicht vorstellen, was die Phrase von dem „zurück in und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der
die Heimat", die offensichtlich nach wie vor in man- CDU/CSU)
chen Köpfen herumspukt, bedeuten soll. Das hieße für Jetzt hat das Wort die Kollegin Frau Ina Albowitz.
mich: zurück nach Bad Urach.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) Ina Albowitz (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Kollege Özdemir, ich kann
Sie völlig beruhigen: Meine Partei und meine Fraktion
haben keine Lust, sich aus der Politik zu verabschie-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Redezeit ist den. Sie haben auch keine Lust, Wolkenschieberei zu
abgelaufen. betreiben.
(Zurufe von der SPD)
— Natürlich gibt es nettere Tage; das habe ich mir in
Cern Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
der letzten Zeit auch vorgestellt. Aber manchmal muß
größte Flop der Koalitionsvereinbarung, die soge- man es halt nehmen, wie es kommt. Es war bei euch
nannte Kinderstaatszugehörigkeit, ist für meine auch schon einmal besser.
Begriffe medial genug gewürdigt worden. Ich möchte
es Ihnen ersparen, hierzu weitere Kommentare anzu- Ich hatte eben bei manchen Reden streckenweise
fügen. Ich denke, Sie haben alle die Kommentare den Eindruck — das sage ich mit aller Ernsthaftig-
gelesen. Es wurde in diesem Hause genügend gewür- keit —, als lebte ich in einem anderen Land. Für das
digt. Kein weiterer Verriß an dieser Stelle; keine Land, in dem ich lebe, stimmen ein Teil der Szenarien,
Sorge. die hier dargestellt worden sind, nicht.
(Zustimmung bei der F.D.P.)
Allerdings möchte ich meinerseits nochmals den
Appell an die Kolleginnen und Kollegen richten: Darauf komme ich noch einmal zurück.
Zeigen auch Sie Ihre Bereitschaft zum Kompromiß. Die Koalitionsvereinbarungen im Bereich der
Lassen Sie uns ein gemeinsames Signal an die Gesell- Innen- und Rechtspolitik sind von dem Gedanken
schaft aussenden. Mit „Gesellschaft" meine ich alle getragen, den liberalen Rechtsstaat zu stärken, die
Menschen, die hier leben, egal über welchen Paß sie Bürgerrechte zu verteidigen, aber auch die Sicherheit
verfügen. der Bürger zu gewährleisten. Die liberale Bürgerge-
Lassen Sie uns die Brücke schlagen durch die sellschaft stellt an die Regierenden hohe Anforderun-
Erleichterung der Einbürgerung, durch eine großzü- gen. Der Bürger will wissen, daß er am demokrati-
gigere Zulassung der doppelten Staatsbürgerschaft, schen Staatsleben teilhaben kann, daß er sich sicher
um den Prozeß der Integration zu erleichtern. fühlen kann und daß ihm aus einer möglichen Bedürf-
tigkeit herausgeholfen wird. Fragen der inneren
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sicherheit, die Behandlung kultureller Angelegen-
und bei der SPD) heiten sowie die Politik für Minderheiten als Bestand-
teile der inneren Verfassung unseres Staates bieten
Abschließend möchte ich bemerken: Ich denke, Maßstäbe, mit denen sich die Ausrichtung der Regie-
dieses liegt auch im Interesse der Union. Wie ich rungskoalition feststellen läßt.
meine „Landleute" kenne — ich rede jetzt von den
Landsleuten, die nicht deutscher, sondern türkischer Die Sicherheit der Bürger ist nicht zum Nulltarif zu
Abstammung sind —, wären sie, wenn sie wählen haben. Ein Bürger, der ständig in Angst vor Bedro-
dürften, mit Sicherheit eher in Ihrem Lager zu finden hung lebt, kann seine Freiheit nicht ausleben. Aber
als in dem Lager, das meine Partei vertritt. Daran niemand darf glauben, daß man Sicherheit erkaufen
sehen Sie, daß es uns nicht darum geht, Wählerstim- kann. Es nützt nichts, eine immer weiter gehende
men zu bekommen. Ich denke, es ist ein Akt der technische Aufrüstung der deutschen Sicherheitsbe-
demokratischen Standortbestimmung, daß es Zeit ist, hörden zu betreiben. Ein wesentliches Merkmal bei
hier Reformen vorzunehmen. der Entwicklung technischer Geräte ist nämlich die
Tatsache, daß in relativ kurzer Zeit die Entwicklung
In diesem Sinne wünsche ich uns allen: Kolay schon wieder überholt ist. Diese unendliche Spirale
gelsin! Das heißt auf deutsch: Auf gutes Gelin- produziert meiner Ansicht nach ein ungesundes
gen! Kosten-Nutzen-Verhältnis.
380 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Ina Albowitz
Meine Auffassung von innerer Sicherheit definiert Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das als
sich anders. Insoweit, glaube ich, Herr Bundesinnen- persönliche Bemerkung noch mit einfügen: Es geht
minister, ist ein Teil der Szenarien, die Sie eben hier um ein Land, in dem ein Mann verhaftet wird, weil er
dargestellt haben, überzogen. Ich hatte den Eindruck, eine Rede vor dem Europarat gehalten hat, nämlich
Sie wollen den Bürgern in diesem Land ein bißchen der Mann von Leyla Zana. Leyla Zana ist selbst zu
Angst machen. Ein Teil Ihrer Darstellungen ist Län- 15 Jahren Haft verurteilt worden, und seit wenigen
dervollzugsangelegenheit. Wir sind weniger gefor- Tagen weiß ich, daß inzwischen auch ihr Sohn verhaf-
dert. tet worden ist, weil er seine Mutter im Gefängnis
besucht hat und sich dort natürlich auch zur Autono-
(Beifall bei der F.D.P.)
mie der Kurden geäußert hat. Ich denke, wir können
Neben einer staatlichen Pflicht zur Kriminalitätsbe- das so nicht hinnehmen. Je lauter wir von hier aus
kämpfung ist vor allem der innere Frieden einer reden, desto besser ist das.
Gesellschaft wichtig. Die innere Sicherheit hängt (Beifall im ganzen Hause)
dann davon ab, daß die Polizeibehörden bei der
Herr Innenminister, es geht uns dabei nicht um die
Prävention und bei der Verbrechensbekämpfung die
Aufweichung des Asylkompromisses, sondern um die
erforderliche Unteistützung erhalten, sowohl in finan-
Wahrung der Menschenrechte im Fall der Bedrohung
zieller und personeller als auch in ideeller Hinsicht.
von Leib und Leben.
Hier greift die Aufstockung der Mittel für den Bun-
desgrenzschutz. Damit kann die noch bestehende (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!)
Personallücke geschlossen werden. Dieser Verantwortung kann sich kein Politiker entzie-
Beim Bundeskriminalamt wird beim AFIS-Fin- hen. Das Verfahren nach dem 20. Januar werden wir
gerabdrucksystem ein erheblicher Betrag zur Effi- in diesem Hause mit aller Ernsthaftigkeit zu prüfen
zienzsteigerung aufgebracht. Ich denke, das ist zwin- haben und dann unsere Entscheidung zu treffen
gend erforderlich. Im übrigen hoffe ich, daß das neue haben.
Personalkonzept des Bundesministers des Innern (Beifall bei der F.D.P.)
Erfolg hat, damit beim BKA endlich wieder Ruhe Der innere Frieden in diesem Land ist auch wesent-
einkehrt. Ein bißchen weniger Pressekonferenzen lich vom Zustand einer Kultur bestimmt. Ich möchte
und ein bißchen mehr Eigenarbeit ständen dem BKA hier ganz kurz noch einmal betonen, daß radikale
durchaus gut an. Kürzungen im Kulturbereich fast nie mehr umkehrbar
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Insbesondere sind. Die Diskussion, die wir vor einem halben Jahr
dem Präsidenten desselben!) hier gehabt haben und in deren Verlauf die Bedeu-
tung der Kulturförderung des Bundes deutlich heraus-
Ebenso wichtig für mich und für meine Partei ist gestrichen wurde, gibt mir Hoffnung, daß alle den
aber der innere Zusammenhalt der Bevölkerung. Eine Stellenwert von Kultur in unserem Land verstanden
gute Innenpolitik muß darauf achten, daß die Ränder haben. Dies muß auch in Zeiten knapper Haushalte
nicht ausfransen, daß sich einzelne nicht ausgeschlos- und Mittelbereitstellungen gelten. Ein Staat, der die
sen fühlen und der Staat ihnen die kalte Schulter zeigt. Kultur vernachlässigt, schickt seine Bürger in die
Wir brauchen ein Klima der Toleranz in unserem Orientierungslosigkeit. Kulturförderung ist keine
Land, damit die Gesetze im Bereich der inneren fehlgeleitete Subvention, deren Abbau zur Diskussion
Sicherheit dann auch akzeptiert werden können. steht, sondern sie ist notwendig, um die gesellschaft-
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!) lichen Kräfte zu erhalten. Neue Initiativen, Kreativität
und das gemeinsame Bemühen aller zeigen, wie -
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, der Bundesre- Kürzungen und Einsparungen auch im Kulturbereich
gierung und vornehmlich dem Herrn Bundeskanzler vermieden werden können.
dafür zu danken, daß sie bei der wirklich schwierigen
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Menschenrechtslage in der Türkei einen sofortigen
Abschluß noch etwas zum Beitrag der demokratischen
Abschiebestopp für Kurden bis zum 20. Januar verfügt
Kultur sagen — das ist, so glaube ich, in diesem Hause
hat.
zu kurz gekommen —, nämlich der politischen Bil-
(Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ dung. In diesem Bereich kann, wenn wir uns ein
DIE GRÜNEN) bißchen intensiver damit beschäftigen, schon viel
erreicht werden, was zur staatsbürgerlichen Bewußt-
Diese Reaktion auf die unglaublichen Urteile gegen seinsbildung insbesondere junger Menschen gehört.
acht Kollegen von uns — es sind Kollegen von uns — Unerwünschten radikalen Tendenzen, Ausländer-
hat die volle Zustimmung meiner Partei und meiner feindlichkeit, aber auch Politikverdrossenheit kann
Fraktion. Burkhard Hirsch und ich haben sie kurz vor durch die wirklich wichtige Arbeit der Bundeszentrale
Prozeßbeginn in Ankara besucht. Ich bin so depri- für politische Bildung entgegengewirkt werden. Wir
miert, daß ich es Ihnen überhaupt nicht beschreiben sollten sie dabei nicht alleine lassen, auch wenn uns
kann. Ich bin noch heute deprimiert, obwohl das die eine oder andere Publikation nicht gefällt.
inzwischen ein Vierteljahr her ist. Wir können einen
solchen Anschlag auf die parlamentarische Demokra- Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
tie gerade in mit uns befreundeten Staaten nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
schweigend hinnehmen. ten der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und
dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
Abgeordneten der SPD) die Kollegin Ulla Jelpke.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14 Dezember 1994 381

Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Wie eiskalt der Innenminister sein kann, hat er
und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Im kürzlich vorgeführt, als er ausgerechnet an dem Tag,
Bundeshaushalt des BMI ist Bescherung angesagt. So als herauskam, daß sechs Menschen unter den Augen
erhält beispielsweise der Verfassungsschutz fast der polnischen und deutschen Grenzsicherer in der
5 Millionen DM mehr, um weiterhin schonend — ich Oder ertrunken sind, dort vier Patrouillenboote für
betone: schonend — mit dem Rechtsextremismus den BGS einweihte.
umgehen zu können. Ein Blick in den Verfassungs- Zurück zum Haushalt: Wärmebildgeräte und Boote
schutzbericht reicht, um das zu belegen. Aber auch verursachen millionenschwere Sachkosten. Insge-
die Antworten der Bundesregierung auf die vielen samt erhält der BGS mit diesem Haushalt 400 Millio-
parlamentarischen Anfragen in diesem Bereich zei- nen DM mehr als im Haushalt zuvor. Darin sind noch
gen dies. nicht die 35 Millionen DM für die Maßnahmen nach
Es paßt meiner Meinung nach auch wie die Faust dem Schengener und dem Dubliner Abkommen oder
auf das Auge, daß die mit 5 Millionen DM aus die 1,7 Millionen DM für Europol-Beiträge enthal-
Steuergeldern gesponserte Zeitung „Das Parlament" ten.
den sogenannten neurechten Geschichtsrevisionisten Meine Damen und Herren, daß 14 Millionen DM bei
im November gleich eine Doppelnummer zur Verfü- den betroffenen Asylsuchenden eingespart werden,
gung gestellt hat. Ansgar Graw, der diese Ausgabe wenn es darum geht, daß für sie Sachverständigengut-
des „Parlaments" mit konzipiert hat, tritt immerhin für achten geschrieben werden, das verwundert uns
die Regermanisierung Ostpreußens ein und dafür, überhaupt nicht mehr. Mit diesem Haushalt wird eine
unter die deutsche Nazivergangenheit einen Schluß- Politik fortgesetzt, die Flucht- und Migration zur
strich zu ziehen. Jetzt werden diese rechten Antwor- Hauptbedrohung der inneren und äußeren Stabilität
ten auf die selbstaufgeworfenen deutschen Streitfra- hochstilisiert hat und weiterhin hochstilisieren wird.
gen kostenlos an Schulen und Bildungsstätten verteilt. Das findet auf keinen Fall unsere Zustimmung.
Was ist schon die Gründung einer rechtsextremisti- Ich möchte zum Abschluß noch einen Satz zu den
schen Zeitung gegen die komplette Übernahme einer hier angesprochenen Urteilen in der Türkei und den
Regierungszeitung, kann man da in Abwandlung Abschiebestopps sagen. Die heute bereits geäußerten
eines Brechtzitats nur sagen! Verurteilungen der Geschehnisse in der Türkei unter-
Wie heißt es doch so schön im Vorspann zum stützte ich größtenteils, glaube aber, daß es nicht nur
Haushalt der Bundeszentrale für Politische Bildung bei moralischen und politischen Verurteilungen blei-
— Zitat —: ben darf, sondern daß nach Jahren die Bundesregie-
Die Politische Bildung ist wesentlicher Teil des rung endlich Konsequenzen ziehen muß, indem sie
die Waffenlieferungen dorthin stoppt und indem der
gesamten Bildungssystems, als Lernprinzip
Abschiebestopp — entgegen der jetzigen Absicht —
durchdringt sie alle Bereiche des Systems.
über Januar hinaus verlängert wird. Allerdings glaube
Da ist es nur logisch, daß die sowieso schon kläglichen ich nicht, daß der Druck auf die türkische Regierung
und manchmal auch dubiosen Ausgaben für die damit schon groß genug ist. Es muß mehr politischer
Aufklärungskampagne über die Gefahren des Extre- Druck her. Nur so kann die Türkei wirklich zu neuen
mismus und der Fremdenfeindlichkeit erneut um demokratischen Schritten gezwungen werden.
1 Million DM gestrichen werden.
(Beifall bei der PDS)
Meine Damen und Herren, die Grenzen zwischen
Außen- und Innenpolitik zerfließen immer mehr, ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Weitere Wort-
kündet der letzte und jetzige Fraktionsvorsitzende der meldungen zum Geschäftsbereich des Bundesmini-
Union. Er hat den Einsatz der Bundeswehr im Innern steriums des Inneren liegen nicht mehr vor.
gefordert und gesagt, die Bundeswehr solle auch an
den Grenzen eingesetzt werden. Damals sekundierte Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
der jetzige Zukunftsminister Rüttgers, daß dies ein desministeriums der Justiz, Einzelpläne 07 und 19.
Thema sei, an dem die Union festhalten werde. Man Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Frau
sieht es dem Haushalt an. Grenzsicherheit, so läßt Leutheusser-Schnarrenberger.
Innenminister Kanther bei dieser Gelegenheit verlau-
ten, gewinne eine Bedeutung, die weit über das Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Bundesmi-
-

polizeiliche Vorgehen an der Grenze selbst hinaus- nisterin der Justiz: Frau Präsidentin! Meine sehr
geht. Verbrechensbekämpfung im Inland und Grenz- verehrten Damen! Sehr geehrte Herren! „Der Rechts-
sicherheit sind untrennbar miteinander verbunden. staat ist", wie schon Gustav Radbruch festgestellt hat,
Das läßt er sich in diesem Haushalt etwas kosten. „wie das tägliche Brot, wie das Wasser zum Trinken,
Dazu nur einige wenige Zahlen: Allein das soge- wie die Luft zum Atmen, und das beste an der
nannte roulierende System, mit dem BGS-Einheiten Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist,
zum Einsatz kommandiert werden, verursacht Mehr- den Rechtsstaat zu sichern. " Man kann den letzten
kosten in Höhe von 27 Millionen DM. Die Kosten für Satz aber mit Thomas Dehler auch umkehren und
Abschiebungen steigen um 1,5 Millionen DM. Das sagen, daß nur der Rechtsstaat geeignet ist, die
sind alles nur Teile, sozusagen Peanuts des von Herrn Demokratie zu sichern.
Kanther beschworenen — ich zitiere — „Netzwerks Wenn das so ist — ich bin sicher, Sie werden mir
polizeitaktischer, organisatorischer, personeller und darin alle zustimmen —, dann müssen wir alles tun,
ausstattungsmäßiger Maßnahmen", die ständig „an diesen Rechtsstaat als liberalen Rechtsstaat zu erhal-
die jeweils neuen Herausforderungen angepaßt wer- ten. Das heißt, daß nicht beliebig in vorhandene
den" . Strukturen eingegriffen werden darf und bereits
382 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


getroffene Entlastungsmaßnahmen auf ihre Wirksam- von den Ländern zunehmend praktisch umgesetzt
keit hin untersucht werden müssen. wird. In einer Modernisierung der Geschäftsabläufe
und der inneren Organisation der Gerichte und
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Staatsanwaltschaften sehe ich ein wesentliches und
ten der CDU/CSU)
zudem rechtstaatliches Mittel, unsere Justiz auf die
In einem Rechtsstaat, meine Damen und Herren, ist Herausforderungen auch des nächsten Jahrhunderts
die Justiz kein Luxus, den man je nach Haushaltslage vorzubereiten.
ausbauen oder schrumpfen lassen kann. Nur wenn
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
der Staat gewährleistet, daß der Bürger zu seinem
ten der CDU/CSU)
Recht gelangt, daß die schützenden Förmlichkeiten
des Strafprozesses dem Verdächtigen, für den die Die Organisation der Justiz muß beweglicher, wirt-
Unschuldsvermutung auch künftig streiten soll, ein schaftlicher und transparenter werden.
faires Verfahren garantieren, Man muß einfach sehen: Innerhalb der traditionel-
(Beifall bei der F.D.P.) len Justizorganisationen sind die gesetzgeberischen
Maßnahmen zur Verfahrensstraffung doch weitge-
daß die Grund- und Freiheitsrechte notfalls auch
hend ausgeschöpft, weil wir diesen Weg schon lange
gerichtlich durchgesetzt werden können, wird der
beschritten haben. Deshalb müssen wir auch über
Rechtsstaat von den Bürgerinnen und Bürgern akzep-
strukturelle Reformen verstärkt nachdenken, auch
tiert werden.
wenn sie nicht in allen Fällen einen kurzfristigen
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann muß er Ertrag erwarten lassen.
allerdings auch geschützt werden!) In der vergangenen Legislaturperiode haben Krimi-
In allen ihren Zweigen muß die Justiz den Standard nalitätsbekämpfung und insbesondere auch das Straf-
an rechtsstaatlichen Gewährleistungen wahren. Sie recht wie nie zuvor die politische Diskussion
darf ihre Orientierung an der Gerechtigkeit nicht bestimmt. Es hat den Anschein, als ob diese nicht
vorschnell einem überzogenen Effizienzdenken op- immer ganz sachlich geführte Diskussion in gleicher
fern. Auch bei einer angespannten Haushaltssituation Weise auch in dieser Legislaturperiode fortgesetzt
darf der schmale Justizetat des Bundes und der Länder werden soll. Ich sehe das mit großer Skepsis. Denn
keine beliebige Verfügungsmasse sein. Er ist, gemes- jetzt geht es wirklich darum, daß die gerade erst in
sen an allen anderen Haushalten der öffentlichen Kraft getretenen Gesetze angewandt und nicht schon
Hände und an der Bedeutung der Justiz für die wieder, zwei Wochen nach Inkrafttreten, geändert
Rechtsstaatlichkeit, bescheiden genug. werden.
Es ist Gegenstand der Koalitionsvereinbarung, daß (Beifall bei der F.D.P.)
wir Verfahrensvereinfachungen in allen Gerichts-
Gesetze müssen auf Dauer angelegt sein. Sie brau-
zweigen erreichen und die Gerichtsverfahren für die
chen Zeit, um ihre Wirksamkeit entfalten zu können.
Bürger zeitlich überschaubar machen wollen. Es darf
Rechtssicherheit kann nur dort entstehen, wo es
nicht sein, daß der Bürger, wie eine jüngste Umfrage
Verläßlichkeit der Geltung von Gesetzen gibt. Auch
ergab, lieber zum Zahnarzt als zur Justiz geht. Ich
dies ist eine notwendige Bedingung unseres Rechts-
werde einen Entwurf vorlegen, der im Bußgeldverfah-
staates.
ren alle Entlastungsmöglichkeiten ausschöpft und
den Bagatellcharakter der Ordnungswidrigkeiten Auf der kriminalpolitischen Agenda stehen die
besser Rechnung trägt. Überprüfung und Harmonisierung von Strafrahmen
sowie des Sanktionenkatalogs, und wir wollen eine-
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Verbesserung des Opfer- und des Zeugenschutzes.
ten der CDU/CSU)
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
Im neuen Betreuungsrecht zeigt eine dreijährige Pra-
ten der CDU/CSU)
xiserfahrung Vereinfachungsmöglichkeiten auf, die
wir bei der bevorstehenden Novellierung nutzen Vor allem aber müssen wir Prävention und Ursachen-
werden. Auch im Zivil- und Strafverfahren werde ich bekämpfung stärker ins Blickfeld rücken und dürfen
gemeinsam mit den Ländern vertretbare Möglichkei- uns nicht nur auf das repressive Strafrecht und auf
ten von Verfahrensvereinfachungen und -entlastun- seine abschreckende Kraft verlassen.
gen ausloten. Aber gerade hier dürfen wir die schüt-
(Beifall bei der F.D.P.)
zenden Förmlichkeiten des Verfahrens nicht in Frage
stellen. Sie dienen dem in ein Strafverfahren verstrick- Ich bin sicher, daß eine solche Politik, die sich nicht auf
ten Bürger ebenso wie dem Tatopfer. die herkömmlichen Felder der Kriminalpolitik be-
schränken darf, besser als ständige Forderungen nach
Demgegenüber sollten wir die Entlastungsmöglich-
Strafverschärfungen in der Lage ist, für den Schutz der
keiten nutzen, die den Rechtsschutz unangetastet
Menschen vor Kriminalität zu sorgen.
lassen. Ich denke an den Ausbau der außergerichtli-
chen Streitbeilegung. Und ich freue mich, daß sich In diesem Zusammenhang möchte ich kurz eine
auch die Länder auf meinen Vorschlag hin entschlos- Bilanz der deutschen Präsidentschaft in der Europäi-
sen haben, das vorgerichtliche Streitschlichtungspo- schen Union zum justitiellen Bereich ziehen.
tential auszubauen, besser zu koordinieren und auch Wir sind auf dem Weg zu einer funktionierenden
der Öffentlichkeit besser bekanntzumachen. dritten Säule von Maas tr icht in den letzten Wochen
Ebenso freue ich mich, daß die von meinem Mini- ein erhebliches Stück weitergekommen. Nach inten-
sterium veranlaßte Strukturanalyse der Rechtspflege siven Beratungen ist es gelungen, einige Staaten zur
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 383

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


Aufgabe ihrer traditionellen Vorbehalte gegenüber des alttürkischen Osmanischen Reiches politisch und
gemeinsamen Regelungen im schwierigen Bereich rechtlich noch heute prägt.
des Auslieferungsrechts zu veranlassen. Wir haben Es ist also nachvollziehbar, daß die Türkei die
eine politische Einigung erzielt, die den Abschluß unbedingte Einheit des Staates im Sinne des kemali-
eines Teilübereinkommens im Frühjahr 1995 reali- stischen Nationalismusprinzips als übergeordnete,
stisch macht. mit einer Ewigkeitsgarantie ausgestattete Bestim-
Damit wird die vereinfachte Auslieferung mit mung in ihrer Verfassung verankert hat.
Zustimmung des Betroffenen — und das sind in Auch wissen wir um die Bedeutung der parlamen-
Deutschland etwa 60 % aller Fälle — künftig zwischen tarisch demokratischen Verfassung der türkischen
allen Mitgliedstaaten sehr viel schneller funktionie- Republik als Bollwerk gegen fundamentalistische,
ren. dem freiheitlichen westlichen Wertekanon grundsätz-
Ich bin auch froh, daß die europäischen Justiz- und lich widersprechende Tendenzen. Wir wissen dies,
Innenminister mit ihrem Zwischenbericht zur Be- und wir waren und wir sind bereit, dies auch zu
kämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit würdigen.
einen wichtigen Beitrag zu einer europaweiten Es darf jedoch nicht sein, daß das an sich berechtigte
Gesamtstrategie geleistet haben. Neben den gerade Festhalten an der Einheit des Staates als Grundlage
auch hier wichtigen präventiven Maßnahmen brau- für willkürliche Beschränkungen politischer Betäti-
chen wir ein europaweit gut funktionierendes Straf- gung und als Basis für ein politisches Gesinnungsstraf-
recht. Wir müssen Lücken schließen, die in einigen recht herangezogen wird.
Ländern bestehen, damit der Druck und die Verbrei-
(Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Sehr wahr!)
tung gerade dieses hetzerischen Propagandamateri-
als über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinaus Deshalb fordern wir, die auch in der türkischen
erfolgreich bekämpft und dann auch bestraft werden Verfassung vorhandenen Verständnis- und Interpre-
können. tationsspielräume auszuschöpfen und den Minderhei-
tenproblemen mit politischen statt mit strafrechtlichen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mitteln zu begegnen.
Die Bemühungen einiger Mitgliedstaaten, ent- (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/
deckte Lücken auf Grund einer Bilanz, die wir in DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
dieser Präsidentschaft erstellt haben, zu schließen, CDU/CSU)
machen deutlich, daß die Bereitschaft besteht, unge-
achtet aller nationalen Traditionen mitzuwirken und Ich begrüße es, daß der Deutsche Bundestag mor-
ein Verständnis zu entwickeln, das sich an den gen durch eine Erklärung der Bundestagspräsidentin
Bedürfnissen eines zusammenwachsenden rechts- zu diesen Urteilen Stellung nehmen wird.
staatlichen Europas ausrichtet und zu einer Verbesse- Die Urteile haben die Bundesregierung veranlaßt,
rung gerade auch der strafrechtlichen Bestimmungen die Abschiebung von Kurden unverzüglich auszuset-
führen wird. zen. Es wird intensiv geprüft werden müssen, ob und
Daß dies ein wirklicher Fortschritt und keine Selbst- wann diese Aussetzung aufgehoben werden kann;
verständlichkeit ist, wurde uns durch das jüngst in der denn die Urteile gegen die kurdischen Parlamentarier
Türkei gefällte Urteil gegen acht kurdische Parla- lassen die Menschenrechtssituation in der Türkei auf
eine deutliche Weise in einem neuen, leider sehr
mentarier drastisch vor Augen geführt. Ich denke, daß
es gerade von seiten einer Justizministerin einer trüben Licht erscheinen.
-
klaren Stellungnahme bedarf. Die Urteile sind wirk- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und des
lich mehr als ein unerfreuliches Zeichen. Wie auch BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
immer sie im einzelnen juristisch begründet sein
Es geht nicht, schon jetzt, heute und hier, die Feststel-
mögen, sie widersprechen in nicht hinnehmbarer
lung zu treffen, daß die Aussetzung mit Sicherheit am
Weise den rechtsstaatlichen Grundlagen einer demo-
20. Januar wieder aufgehoben wird. Wir werden das
kratischen, parlamentarischen und freiheitlichen Ord-
sorgfältig und unter Abwägung aller Gesichtspunkte
nung und damit eklatant dem Wertesystem all jener
gemeinsam prüfen.
europäischen Staaten, denen die Türkei sich zugehö-
rig fühlt und mit denen sie verbunden sein möchte. Asylbewerbern ein Bleiberecht zu geben, meine
Damen und Herren, selbst wenn dies im Einzelfall zu
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Unrecht in Anspruch genommen werden mag, muß
sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS für uns letztlich besser sein, als einen einzigen abzu-
SES 90/DIE GRÜNEN) schieben, der in seinem Heimatland menschenrechts-
Gerade als das mit der Türkei historisch so ausgeprägt widrig behandelt wird.
verbundene und befreundete Land können wir diese (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem
Urteil nicht kritiklos hinnehmen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ordneten der CDU/CSU)
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Auch der mit der Opposition vereinbarte Asylkompro-
miß befreit uns nicht davon, das Bleiberecht von
Auf dem Hintergrund unserer eigenen Geschichts-
Asylbewerbern mit großer Sorgfalt zu prüfen.
erfahrung wissen gerade wir Deutsche sehr gut um die
in die Gegenwart hineinreichenden Wirkungen eines (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Wir tun
historischen Traumas, das die Türkei mit dem Zerfall das in jedem Einzelfall!)
384 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


Ich stehe zu dieser Verpflichtung sowie auch zu den die Vereinfachung des Bußgeldsystems. Es muß mög-
anderen Vereinbarungen, die Gegenstand des Asyl- lich sein — und es ist auch möglich —, durch Entbü-
kompromisses geworden sind. rokratisierung zu vereinfachen, ohne den Sanktions-
Wir brauchen und wollen eine Politik, die nicht nur zweck aufzuheben.
das Asyl, sondern auch die Zuwanderung regelt, Wir unterstützen Sie auch in einem anderen Punkt,
kontrolliert und begrenzt und Einbürgerungen Frau Leutheusser-Schnarrenberger, den Sie heute
erleichtert. Die deutsche Politik darf nicht allein auf nicht ausdrücklich erwähnt haben, der aber mitver-
die Restriktion der Zuwanderung beschränkt sein; handelt wird. Es handelt sich um den deutschen
denn sie ist der Humanität verpflichtet und muß die Beitrag dazu, daß der Internationale Gerichtshof zur
integrativen Elemente stärken, die für ein harmoni- Verfolgung der Kriegsverbrechen im ehemaligen
sches Zusammenleben von Menschen verschiedener Jugoslawien in Den Haag endlich seine Arbeit auf-
Herkunft unabdingbar sind. nehmen kann.
Sie können sicher sein, daß wir uns der Aufgabe (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
stellen werden, die dazu in der Koalitionsvereinba- DIE GRÜNEN)
rung getroffenen Vereinbarungen in Angriff zu neh-
men und umzusetzen. Ich halte das für eine sehr gute Sache: nicht wegen der
technischen Einzelheiten des vorgelegten Gesetzes,
Vielen Dank.
sondern deswegen, weil die Kriegsverbrecher, Mör-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der, Folterer und Vergewaltiger sowie ihre militäri-
schen und politischen Hintermänner bald am eigenen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Damen Leibe erfahren müssen, daß sie in der zivilisierten Welt
und Herren, ich möchte Ihnen etwas mitteilen: Die geächtet sind und es auf Dauer bleiben und nie mehr
Geschäftsführer sind übereingekommen, die Aus- irgendwo in Ruhe leben können, so als sei nichts
schüsse jeweils erst eine Stunde später einzuberufen, gewesen.
damit die Debatte hier zu Ende geführt werden kann. Meine Damen und Herren, die haushaltspolitische
Sie können also hier bleiben und weiter zuhören. Debatte gerade auch zur Rechtspolitik gibt uns Anlaß,
Das Wort hat jetzt die Kollegin Frau Herta Däubler über die Aufgaben des sozialen Rechtsstaates und
Gmelin. damit auch der Rechtspolitik nachzudenken und zu
prüfen, ob das, was die Regierungsmehrheit in den
vergangenen zwölf Jahren gemacht hat, Erfolg hatte
Dr. Herta Däubler Gmelin (SPD): Frau Präsidentin!
-
und ob das, was Sie jetzt vorhaben, Erfolg haben
Meine Damen und Herren! Frau Leutheusser-Schnar- kann.
renberger, ich habe Ihren Ausführungen heute sehr
aufmerksam und mit großer Freude zugehört. Dabei komme ich zu den Zweifeln, die ich vorhin
schon angedeutet habe. Die Aufgabe einer guten
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kann ich mir Rechtspolitk muß doch sein, in einer sich ständig
vorstellen!) wandelnden und verändernden Welt die Grundwerte
— Ja, Herr Geis. — Ich möchte Ihnen ausdrücklich unseres Grundgesetzes zur Geltung zu bringen,
sagen, daß Sie in einigen der Punkte, die Sie genannt durchzusetzen und zu sichern.
haben, sehr wohl mit unserer Unterstützung rechnen
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
können. Gleichwohl erklärt dies, Herr Geis, warum
CSU]: Da sind wir uns einig!)
unser sozialer Rechtsstaat und damit auch die Rechts-
politik Ihrer Koalition insgesamt nicht in so gutem — Natürlich, ich hoffe, daß es auch bei Ihnen eine-
Zustand sind, wie wir es gerne hätten. Menge vernünftiger Leute gibt, mit denen wir über so
Die Justizministerin blockiert Gott sei Dank — da etwas reden können. — Die Grundwerte sind der
hat sie meine volle Unterstützung — einen Großteil Grundkonsens unserer Gesellschaft. Sie gilt es zu
des Unsinns, der aus Teilen der Koalition kommt. erhalten. Aber die Rechtspolitik muß dann auch
— genau wie Gesellschaftspolitik — die veränderte
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Wirklichkeit wenigstens steuern und erhalten wollen
CSU]: Von hier kommt nie Unsinn!) und können.
Auf der anderen Seite verweigert dieser Teil der Und jetzt schauen Sie sich doch einmal an, Herr von
Koalition, nämlich die Kolleginnen und Kollegen aus Stetten, Frau Leutheusser-Schnarrenberger und Sie,
der CDU/CSU, die notwendigen Erneuerungsmaß- meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wie es mit
nahmen auf dem Feld der Rechtspolitik. Das bringt der Wirklichkeit heute aussieht: Die Wirklichkeit ist
uns, meine Damen und Herren, in eine schwierige Ihrer rechtspolitischen Gestaltung längst entglitten.
Situation. Das stellen Sie fest, wenn Sie sich mit Ihren
Nachbarn, mit Berufskollegen und anderen Men- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das meinen nur
schen darüber unterhalten. Sie!)
Ich komme darauf noch zurück, werde Ihnen aber — Ich meine das keineswegs allein, Herr Geis. Wenn
zuerst sagen, wo wir Ihnen zustimmen, Frau Bundes- Sie sich einmal die Mühe machen würden, sich die
justizministerin. Das fängt an bei Ihrem Vorhaben, die Veränderungen bei der Kriminalität, bei den techni-
außergerichtliche Streitschlichtung stärker in den schen Neuerungen oder im Arbeitsleben wirklich
Vordergrund zu stellen und geht weiter mit der genau anzusehen und darüber nachzudenken, dann
Harmonisierung des Sanktionensystems. Wir unter- wissen Sie auch, wieviel an Erneuerungsbedarf sich
stützen, um einen dritten Punkt zu nennen, auch das, hier aufgehäuft hat. Dann würden auch Sie die Worte
was z. B. der Richterbund vorgeschlagen hat, nämlich meines Kollegen Fritz Rudolf Körper unterstreichen,
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 385
Dr. Herta Däubler-Gmelin
daß das, was Sie in den Koalitionsvereinbarungen zur Gebiet, ganz zu schweigen von der Angleichung z. B.
Innen- und Rechtspolitik geschrieben haben, außeror- der Strafgesetze oder des Datenschutzes, steckt doch
dentlich schwach ausgefallen ist. noch in den Kinderschuhen. Sie wissen auch alle, was
Herr Kanther zu Europol gesagt hat. Das war die
Zur Kriminalitätsbekämpfung: Ich beginne einmal
Übertreibung des Jahrhunderts!
mit der organisierten Kriminalität, über die schon
gesprochen wurde. Richtig ist, daß die einzige Trieb- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Da haben
feder dieser besonderen Kriminalitätsform das Geld wir mit der Arbeit gerade erst begonnen!)
ist. Richtig ist auch, daß alle unsere Initiativen und Die EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands wäre ein
Mahnungen bei dieser Triebfeder, nämlich beim Anlaß gewesen, die Existenzgründungsphase von
Geld, anzusetzen, nicht gefruchtet haben. Weil Sie Europol endlich zu Ende zu bringen und in die
sich, meine Damen und Herren der Koalition, gegen- Arbeitsfähigkeit einmünden zu lassen.
seitig blockieren, wird da nichts aufgegriffen und in
die Tat umgesetzt. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Hat er doch
geschafft!)
Herr Marschewski, welches sind denn die Schlupf-
löcher, die — wie es vorhersehbar war — das Geld- — Nein, er hat es nicht geschafft,
wäschegesetz nicht zur vollen Funktionsfähigkeit (Beifall bei der SPD)
haben kommen lassen? Zum einen die Tatsache, daß
unsere Banken Auslandsdienststellen haben, die sich sondern die entsprechenden Beschlüsse sind auf die
prächtig als Schlupflöcher für Geldwäsche eignen. Zeit der französischen Ratspräsidentschaft verscho-
Das wissen Sie. Aber Sie haben es nicht abgestellt, ben worden. Es wäre gut, wenn Sie hier im Bundestag
obwohl wir Sie dazu aufgefordert haben. wenigstens die Wahrheit sagen würden.

Zum Zweiten geht es nicht nur um die Umkehr der Dazu kommt ein Zweites: Wenn Sie heute einen
Beweislast. Wenn Sie mit Praktikern, mit Polizeibe- Amtsrichter in Baden-Baden dazu auffordern, zusam-
amten reden, sagen die Ihnen genau das gleiche wie men mit einem Kollegen im Elsaß Strafverfolgung zu
mir, nämlich daß Mafia-Geld, Geld das — um es betreiben, dann sehen Sie, daß wir heute noch nicht
juristisch korrekt auszudrücken — mafiös bemakelt sehr viel weiter sind als vor zehn Jahren, obwohl
sein könnte, zunächst einmal aus dem Verkehr gezo- Frankreich seit langen Jahren unser Partner und
gen und beschlagnahmt werden kann — zunächst Freund ist.
wenigstens einmal vorläufig! Lassen Sie uns das doch Dies sind die Punkte, die eine wirksame Kriminali-
machen! Damit überwindet vielleicht auch die Koali- tätsbekämpfung und damit auch den sozialen Rechts-
tion die Gefahr, sich gegenseitig zu blockieren. Dann staat behindern. Hier haben Sie versagt!
wären wir im Bereich der organisierten Kriminalität, Herr Marschewski, wenn Sie als Forderung großar-
die wir gemeinsam bekämpfen müssen und wollen, tig herausstreichen, daß man nationalen Geheim-
einen Schritt weiter. diensten, die im Ausland arbeiten, mehr Kompeten-
(Beifall bei der SPD) zen zur Verbrechensbekämpfung einräumen sollte,
dann bitte ich Sie, noch einmal darüber nachzuden-
Jetzt komme ich zum zweiten Bereich, den auch ken. Das ist nun wirklich der größte Unfug.
Herr Kanther und Frau Leutheusser-Schnarrenberger
angesprochen haben, zur Kriminalität, die über die (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Jetzt bin
Grenzen zu uns kommt. Herr Marschewski und Herr ich aber dran! Jetzt kriege ich aber nur
Kanther, es ist ein wenig traurig, daß Sie in diesem Prügel!)
Zusammenhang immer so unterschwellig auf Asylbe- Wenn Sie schon keine rechtsstaatlichen Bedenken
werber oder die ausländische Wohnbevölkerung in haben, dann prüfen Sie das Ganze doch einmal unter
Deutschland abheben, obwohl Sie ganz genau wissen, dem Gesichtspunkt der Effizienz. Es muß doch darum
daß dies nicht richtig ist. gehen, daß die Zusammenarbeit der Strafverfol-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gungsorgane, also Polizei, Staatsanwaltschaften und
DIE GRÜNEN) Gerichte, über die Grenzen hinweg besser wird. Wenn
aber jedes Land seinen jeweiligen nationalen Aus-
Zu dem Bereich der Kriminalität, die über die lands-Geheimdienst mit größeren Kompetenzen aus-
Grenzen zu uns kommt, gehört der internationale stattet, dann gibt es immer mehr Abstimmungspro-
Autodiebstahl mit Versicherungsbetrug, Waffenhan- bleme, schon deshalb, weil Geheimdienste nach
del, Drogenhandel, Prostitutionshandel und Organ- anderen Grundsätzen arbeiten und auch in Zukunft
handel. Dies alles sind Bereiche, in denen sich z. B. anders arbeiten werden als Strafverfolgungsorgane.
durch die unterschiedlichen Gesetze, die wir in unse- Das tut dem gemeinsamen Ziel der Kriminalitätsbe-
rem Teil der Welt haben, Geld verdienen läßt, sei es kämpfung mit Sicherheit nicht gut.
bei uns oder woanders. Jeder von Ihnen weiß genau
wie wir, daß dagegen nur eines wirklich hilft: die (Norbert Geis [CDU/CSU]: Gegen die Durch-
effiziente Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbe- setzung haben Sie sich gesträubt!)
hörden über die Grenzen hinweg und eine Abstim- — Zu Recht, Herr Geis!
mung der materiellen Gesetzeslage auf der Basis
Die Wirklichkeit ist Ihnen in einem weiteren Punkt
gemeinsamer Grundsätze.
sehr entglitten, der uns allen zunehmend Schwierig-
Sehen Sie sich doch einmal an, wie weit Sie es in den keiten macht. Die Korruption breitet sich aus. Mittler-
letzten zwölf Jahren gebracht haben! Die Abstim- weile greifen dieses Thema immer mehr Juristen,
mung der internationalen Grundsätze auf diesem Juristentage und auch Journalisten auf. Ich habe es
386 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Herta Däubler-Gmelin


wirklich bedauert, daß Sie, Frau Bundesjustizmini- sage Ihnen: Wir werden Sie hier nicht aus der Verant-
sterin, und auch der Herr Bundesinnenminister kein wortung entlassen; wir werden darauf drängen, daß
einziges Wort dazu gesagt haben. Hier fehlt nicht nur man nicht nur dann, wenn es Ihnen paßt, über
Ihre Gesamtstrategie wie bei der Bekämpfung der schwindendes Rechtsbewußtsein redet, sondern wir
organisierten Kriminalität; hier haben Sie überhaupt werden mit großer Sicherheit Wert auch darauf legen,
keine Strategie. daß Sie, auch wenn es Ihnen nicht paßt, etwas für das
Und dabei haben wir es Ihnen einfach gemacht. Wir Rechtsbewußtsein tun.
haben Ihnen ein Fünf-Punkte-Programm vorgelegt, (Beifall bei der SPD)
das relativ präzise sämtliche Ebenen des Gesamtstaats
einbezieht. Die Entwicklung in der Technik ist Ihnen entglitten.
Rechtspolitik zur Steuerung findet in diesem Zusam-
(Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: „Rela menhang nicht mehr statt. Tele-Banking, Tele-Shop-
tiv"! ) ping, auch z. B. TeleArbeit, Faxe, Telekommunika-
— Herr Kleinert, es ist sehr viel präziser als alles, was tion, Datennetze, Internet — all das bestimmt viel-
Sie zu diesem Punkt jemals gesagt haben. leicht nicht das Leben der Menschen, die hier im
Bundestag sitzen
(Beifall bei der SPD)
(Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/
Mir ist überhaupt nicht bewußt, daß Sie sich jemals DIE GRÜNEN]: Parlakom! — Ina Albowitz
dazu geäußert hätten. Das ist natürlich bedauerlich, [F.D.P.]: Sie weiß gar nicht, womit wir uns
weil Sie ganz genau wissen: Die Bekämpfung von jeden Tag quälen!)
Korruption ist keineswegs nur eine Frage der Moral,
sondern zunehmend auch eine Frage des Geldes, das — so schlimm wird's nicht sein —, aber es prägt das
den Steuerzahler belastet. Sie wissen alle mittler- Geschäftsleben und vor allen Dingen das tägliche
weile, daß durch Auftragsabsprachen, verbunden mit Leben der Bürgerinnen und Bürger immer mehr. Aber
Bestechlichkeit, auf allen Ebenen staatlicher Ent- der Verbraucherschutz, das Verbraucherrecht, der
scheidungen dreistellige Millionenbeträge in jedem Datenschutz, das Arbeitsrecht und das Arbeitsschutz-
Jahr zuviel gezahlt werden. recht sind nicht weiterentwickelt worden und nicht
auf der Höhe dessen, was uns die technische Wirklich-
Wo ist denn nun Ihre Gesamtstrategie? Was tun Sie keit ständig aufgibt. Meine Bitte ist: Es wäre wirklich
denn dafür, daß hier durchgegriffen wird? Meine sinnvoll, daß sich der Bundestag in den kommenden
Damen und Herren, Sie hätten es in der Hand, nicht vier Jahren diesen Fragen stellt. Probleme und Ver-
nur im Innenbereich durch eine vernünftige Effekti- zerrungen zeigen sich jetzt schon an manchen Ecken.
vierung der Kontrollmechanismen, sondern auch im Ich denke, daß die Kolleginnen und Kollegen, die sich
Rechtsbereich — da allerdings weniger beim Straf- hier mit dem Schutz von Kindern oder von Frauen oder
recht; da sind Änderungen nicht mehr so notwendig — auch mit rechtspolitischen Fragen beschäftigen,
eine Menge zu veranlassen. davon schon etwas gehört haben. Heute werden
Mich bedrückt dieses Thema noch aus einem ganz Datennetze, Telekommunikationssysteme für die
anderen Grund. Wir alle beklagen gelegentlich, daß übelsten Auswüchse von Kinderpornographie und
in unserer immer individualistischer und pluraler Kinderprostitution, von Frauenhandel und ähnlichem
werdenden Gesellschaft nicht nur der Wertekonsens genutzt, alles, was in den Medien, in den Zeitungen
schwindet, sondern auch das Rechtsbewußtsein. Rich- und im Fernsehen sicher schon längst verboten
tig! Dagegen müssen wir etwas tun. Zum Wertebe- wäre.
wußtsein gehört auch, daß in dieser Gesellschaft -
(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das können wir
wieder Konsens darüber hergestellt werden muß, daß
doch bestrafen!)
sich niemand bestechen lassen darf und daß niemand
bestechen darf — beides! — Nur, Herr Geis, jetzt kommt es doch darauf an:
Diese Netze entziehen sich dank Ihrer Untätigkeit
(Beifall bei der SPD)
nicht nur der Kontrolle; vielmehr kann sich jeder,
Wie soll sich denn ein Wertekonsens in der Gesell- jeder, der's auf solche schmutzigen Geschäfte anlegt,
schaft bilden oder auch stärken lassen, solange Sie die auch der gesetzlichen Schlupflöcher bedienen.
steuerliche Abzugsfähigkeit von Schmiergeldern
Ich sage Ihnen: Wenn wir es damit ernst meinen, daß
nicht streichen?
rechtspolitische Gestaltung und Rechtspolitik den
(Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig! Sehr gut!) Auftrag haben, unsere Grundwerte in veränderten
Wie soll denn ein Unternehmen, das seine Leute Wirklichkeiten umzusetzen, dann muß man an das
Problem herangehen.
geradezu dazu ausbildet, wie mit Schmiergeldern
umzugehen ist, im Ausland ohne jede Kontrolle und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
im Inland — so wie die Erlasse des Finanzministeriums des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
aussehen — mit sehr begrenzter Kontrolle, dem
Grundkonsens verpflichtet sein, daß man sich nicht Ich hoffe, daß wir hier mit Ihrer Unterstützung rechnen
bestechen lassen darf und nicht bestechen darf? können. Aber wir werden auch ohne Sie weiter darauf
drängen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Lassen Sie mich zur Technik noch dies sagen: Ich
Meine Damen und Herren, an diesem Punkt wird hätte mich gefreut, wenn es nicht so lange gedauert
sich dann auch zeigen, ob das, was Sie hier im hätte, bevor sich unsere Bundesregierung im Zusam-
Parlament sagen, auch von Ihnen gewollt wird. Ich menhang mit der Bioethikkonvention eindeutig
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 387

Dr. Herta Däubler-Gmelin


äußerte und wenn es nicht so mühsam gewesen wäre, Nehmen Sie nur den Umgang mit den Opfern von
diese Stellungnahmen aus ihr herauszukitzeln. Verbrechen in unserem Staat. Man hat zwar jetzt
endlich den ersten Schritt zum Täter-Opfer-Ausgleich
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ gemacht. Wenn Sie aber sehen, was Opfer und Zeu-
CSU.]: Damit haben wir überhaupt keine gen, seien es mißbrauchte Kinder oder vergewaltigte
Probleme!) Frauen, heute noch an Quälereien, weniger bei der
Es gibt eine ganze Menge sehr guter Aspekte in Polizei, sondern vor Gericht, erleiden müssen, dann
dieser Bioethikkonvention, die dem Erfordernis der wissen Sie genau: Wir werden unter voller Wahrung
Abstimmung im europäischen Bereich entsprechen. der Rechte der Beschuldigten hier mehr tun und auch
Daß man allerdings an Embryonen nicht forschen ins Verfahrensrecht eingreifen müssen.
lassen darf, daß in menschliches Keimgut nicht einge- Wenn Sie dazunehmen, daß die Opferentschädi-
griffen werden darf, daß wir menschliches Leben nicht gung, die ohnehin zu gering ist, jetzt auch noch auf die
kategorisieren lassen dürfen und daß Eingriffe, zu Sozialhilfe angerechnet wird und daß sich Öffentlich-
welchen Zwecken auch immer, ohne Zustimmung bei keit und Justizsystem insgesamt mehr um die Täter als
hilflosen Menschen nicht erfolgen dürfen, all das um die Opfer kümmern, dann ist klar: Auch hier hakt
sollte eigentlich klar sein. es in Ihrer Rechtspolitik. Und das müssen wir
ändern.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN)
Ich denke, das ist ein klassischer Fall für den
Umgang unserer Rechtspolitik mit der Technik in Uns alle hat der Satz von Bärbel Bohley: „Wir haben
diesem Haus. In diesem Haus haben die Bioethik- Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekom-
konvention und die Haltung der Bundesregierung men" deswegen so geärgert, Herr Marschewski, weil
keine Rolle gespielt, und als dann einige Kollegen sie wir vermutet haben, diesem Satz liege ein giganti-
noch in die Debatte einbringen wollten, wurde das auf sches Mißverständnis von Rechtsstaat zugrunde, weil
einen Zeitpunkt verschoben, an dem alles zu spät Rechtsstaat nach unserem Verständnis ohne Gerech-
gewesen wäre. So mußten wir mit Hilfe der Öffent- tigkeit ja nicht funktionieren kann, keiner ist. Aber ist
lichkeit — leider nicht mit Ihrer Unterstützung — die es nicht doch so, daß Bärbel Bohley den Finger auf
Notbremse ziehen. eine blutende Wunde gelegt hat? Sie drückt damit
immer noch das Lebensgefühl vieler Menschen im
Ich komme zum Arbeitsleben. Wir alle wissen, daß Osten aus, die sich außerordentlich stark überfahren
unser Grundgesetz die folgenden drei Elemente als fühlen!
Essentialia umschließt: die Tatsache, daß Arbeitneh-
mer Rechte haben und auch Möglichkeit, sie durch- Die Forderung, dies endlich zu verändern, richtet
zusetzen, Arbeitsschutzrechte und Mitbestimmungs- sich keineswegs nur an die neuen Länder selber,
rechte. Bezogen sind alle diese Rechte auf eine sondern geht auch uns hier im Bundestag an. Wir
Organisation der Arbeit, die sich bei uns längst in werden Beratungshilfe unterstützen und die Gesetze
Auflösung befindet. Es gibt mittlerweile TeleArbeit, weiter vereinfachen müssen, wir werden mit Geduld
Teilzeitarbeit, ungeschützte Beschäftigungsverhält- und Hilfe auch den institutionellen Aufbau unterstüt-
nisse in Millionenzahl. Immer mehr Menschen wer- zen müssen. Das muß sein.
den in die sogenannte unechte Selbständigkeit oder in Wenn es Kritik am Zustand des Rechtsstaats nur im
Verträge der sogenannten freien festen Mitarbeit Osten gäbe, wäre das nicht so schlimm. Aber wir
abgedrängt. Wo sind denn eigentlich Ihre Vorschläge, haben im Westen unseres Landes mittlerweile eine
um genau für diesen wachsenden Personenkreis vergleichbare Lage. „Man geht lieber zum Zahnarzt
Recht und Schutz zu sichern? Das alles muß in als vor Gericht" war der Ausspruch, den Sie, Frau
unserem Parlament aufgegriffen, besprochen und Leutheusser-Schnarrenberger, zitiert haben. Er ist die
beschlossen werden, auch das gehört zur Sicherung Überschrift über dem Bericht von einer Tagung, die
des sozialen Rechtsstaats. Das halten wir für eine jetzt in Triberg stattgefunden hat. Da haben sich lauter
Aufgabe der kommenden vier Jahre. Praktiker, nicht irgendwelche Spinner getroffen. Die
(Beifall bei der SPD) wissen, wovon sie reden.
Sie wissen ganz genau, daß nicht nur Beschleuni-
Lassen Sie mich einen Punkt hinzufügen: Wir alle
gung und rechtsstaatliche Vereinfachung, sondern
sind immer stolz darauf, daß wir unseren Rechtsstaat
auch die Rechtsdurchsetzung in unserem Staate drin-
loben können und sagen können, er sei verteidigens-
gend wieder aufpoliert werden müssen.
wert und schützenswert, weil das Recht bekanntlich
das Schwert des Schwachen und das geschriebene Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben
Recht seine Magna Charta sei und das Schutzsystem heute nicht erwähnt, daß Sie dabei sind — ich hoffe,
des Rechtsstaats dem Schwachen Recht und Gerech- mit der Unterstützung der Kolleginnen und Kollegen
tigkeit garantiere. der Union — die Dreistufigkeit in unserem Gerichts-
system wieder ernsthaft anzustreben.
Nur, meine Damen und Herren der Regierungs-
mehrheit, wenn Sie sich einmal umhorchen, was Ich sage Ihnen ganz deutlich: Wir wollten sie schon
daraus nach Ihren zwölf Jahren Rechtspolitik gewor- seit Anfang der 70er Jahre. Wir fordern Sie auf, diesen
den ist, dann werden Sie uns zustimmen müssen, daß Weg endlich zusammen mit uns einzuschlagen, wenn
auch von dieser Seite her der Druck auf die Erneue- Sie es mit der Erneuerung des sozialen Rechtsstaats
rung des sozialen Rechtsstaats ständig steigt. ernst meinen.
388 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Dr. Herta Däubler-Gmelin


Ich denke, ich sollte Ihnen am Ende meiner Ausfüh- schöner ist, zum Zahnarzt zu gehen als zur Justiz,
rungen noch einmal den Satz von Gustav Heinemann obwohl dabei sicherlich auch andere Momente eine
in Erinnerung rufen, den ich bereits beim letzten Mal Rolle spielen mögen.
in diesem Hause zitiert habe. Heinemann hat in voller
Wir müssen — das ist richtig — das Prozeßrecht
Erkenntnis des Wertes unseres Grundgesetzes und
gemeinsam erneut in dieser Legislaturperiode anpak-
dessen, was Rechtspolitik bedeutet, darauf hingewie-
ken. Wir müssen das Prozeßrecht sowohl im Strafpro-
sen, daß nur derjenige bewahren kann, der zu verän-
zeß als auch im Zivilprozeß neu durchleuchten und
dern bereit ist.
abklopfen, ob wir nicht da und dort Erleichterungen,
Meine Bitte lautet: Es wäre klug, in diesem Haus Straffungen, Beschleunigungen durchführen kön-
mehr über die — positiven und negativen — Erfahrun- nen.
gen mit den Gesetzen der letzten Jahre und mehr über
die Ziele zu reden, die wir im Zuge der Erneuerung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
des sozialen Rechtsstaats anstreben müssen, als stän- Es wird auch darauf ankommen, daß wir im mate-
dig diese vordergründigen Schlammschlachten zu riellen Recht nicht erneut den Gerichten zu viele
führen, an denen wahrscheinlich nicht einmal mehr Aufgaben zuweisen. Wir haben in der letzten Legisla-
die Kollegen, die sie be treiben, Spaß haben. Die turperiode das Insolvenzrecht neu geschaffen. Das
Zuhörer an den Radios oder Fernsehschirmen, die Insolvenzrecht wird zweifellos — so notwendig es
haben ihn schon lange nicht mehr. ist — zu einer neuen Belastung der Richter und der
Herzlichen Dank. Gerichte führen. Das gleiche gilt für das Betreuungs-
recht, das wir in der vorletzten Legislaturperiode
(Beifall bei der SPD)
bereits beschlossen haben und das vor drei Jahren in
Kraft getreten ist; es hat natürlich ebenfalls zu einer
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt großen Belastung der Gerichte geführt.
der Herr Kollege Norbert Geis.
Es ist auch nicht einzusehen, daß beispielsweise
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ dann, wenn die Betreuung ganz offensichtlich not-
DIE GRÜNEN]: Ein bewährter innenpoliti wendig ist, eigens eine Verfahrensbetreuung ange-
scher Schlammringer!) ordnet werden muß oder daß wir dann, wenn die
Gebrechlichkeit ganz offensichtlich ist, ausgiebige
Norbert Geis (CDU/CSU): Keine Vorschußlorbee- gerichtliche Gutachten brauchen, obwohl eine einfa-
ren! — Meine sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine che fachärztliche Bestätigung ausreichen würde.
sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland
Redner stimmen heute alle darin überein und jeder ungefähr 500 000 Personen, die derzeit einen
beginnt seine Rede damit, daß der Rechtsstaat eine Betreuer haben. Diese Zahl wird wachsen und damit
der größten Errungenschaften der letzten 200 Jahre natürlich zweifellos die Belastung der Gerichte. Das
ist, weil er die Freiheit des einzelnen am ehesten erfüllt uns mit Sorge. Das heißt aber nicht, daß wir das
gewährleistet. Wir stimmen auch darin überein, daß Betreuungsrecht nicht für eine im Prinzip gute gesetz-
die Justiz im Rechtsstaat eine entscheidende Rolle liche Maßnahme halten, gerade angesichts der Alters-
spielt, weil sie dem Bürger aus dem Gewirr der struktur unserer Gesellschaft. Es ist gut und richtig,
Gesetze zu seinem Recht verhelfen muß. daß die älteren Bürger wissen, daß ihnen ihre Rechte
Frau Ministerin, ich habe mit Interesse gehört, daß nicht einfach genommen werden können, sondern
Sie gesagt haben, Sie wollten sich mit uns zusammen daß dazu jeweils ein richterlicher Beschluß und ein
Gedanken darüber machen, wie es gelingen könnte, gewisses Verfahren notwendig sind. -
die Belastung der Justiz, die zweifellos vorhanden ist,
Die Fachleute sagen uns aber, daß einige Regelun-
abzubauen. In der Tat haben die Justizminister der
gen nicht praktikabel genug sind. Wir müssen daran-
Länder Ende November dieses Jahres einstimmig
gehen, gerade beim Betreuungsrecht, weil uns dies
beschlossen, dem Bundestag und der Bundesregie-
ständig in der Diskussion vorgehalten wird, über
rung Vorschläge im Hinblick auf Abbau, auf Straffung
Möglichkeiten nachzudenken, um Regelungen zu
und Verbesserung des Prozeßrechts zu machen. Wir
verbessern. Ich meine überhaupt, daß wir vielleicht in
wissen, daß dies die Rechtspolitiker natürlich nicht in
der jetzigen Legislaturperiode mehr darauf achten
Begeisterung ausbrechen läßt, lieber Herr Kleinert.
müssen — auch unter der Überschrift schlanker
Wir haben erst in der vergangenen Legislaturperiode
Staat —, daß wir eher Regelungen streichen als neue
mit großer Mühe das Justizentlastungsgesetz durch
fassen.
die parlamentarischen Beratungen gebracht. Wir wis-
sen auch, daß bei allzu starker Straffung und allzu Ein weiteres Feld ist uns bereits jetzt vorgegeben.
großer Beschleunigung des jeweiligen Prozesses Wir haben natürlich durch die mögliche Schaffung der
Rechte des einzelnen nicht so geachtet werden kön- kleinen AG noch nicht die Notwendigkeit der Trans-
nen — jedenfalls besteht diese Gefahr —, wie wenn parenz der AG-Organe geregelt.
der Prozeß eine gewisse Zeit lang dauern kann.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Auf der anderen Seite wissen wir aber auch, daß DIE GRÜNEN]: Was ist eine kleine AG?)
viele Rechtsuchende sehr lange, oft jahrelang, auf die
richtige richterliche Entscheidung warten müssen. — Aktiengesellschaft, Herr Fischer, falls Sie das nicht
wissen.
Dies ist mit Sicherheit ein untragbarer Zustand. Der
rechtsuchende Bürger verliert so das Vertrauen in die (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Justiz. Daher kann es schon passieren, daß eine DIE GRÜNEN]: Ich bin doch kein Fach
Überschrift in eine Zeitung gesetzt wird, wonach es mann!)
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 389

Norbert Geis

dige
Na gut!Neuerungen
Ich nehme ja gern Ihren Zwischenruf
sperren werden, was das Kind-
entgegen, um Ihnen klarzumachen, was wir unter AG schaftsrecht angeht. Natürlich können wir uns Gedan-
verstehen. AG heißt Aktiengesellschaft. ken darüber machen, ob es richtig ist, daß im Falle der
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir Scheidung die elterliche Sorge nur auf einen Elternteil
brauchen eine größere Transparenz in den Vorstands- bezogen werden soll, oder ob es nicht besser wäre,
etagen. Wir brauchen eine Regelung, die die Interes- zunächst einmal diese elterliche Sorge beiden Eltern-
senkollision in den Vorstandsetagen verhindert. Aber teilen zu belassen; im Sinne des Kindes wäre dies ganz
wir müssen auch dafür sorgen, daß nicht zu viele sicher. Darüber können wir reden.
Vorstandsmitglieder in dem einen und dem anderen (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover]
Unternehmen im Vorstand sitzen. [F.D.P.])
Allerdings beteiligen wir uns nicht an der Polemik
gegen die Banken. Wir können auch darüber reden, wie wir es beim
nichtehelichen Kind halten, etwa ob dem Vater nicht
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ stärkere Rechte einzuräumen sind. Wir wissen ja, daß
DIE GRÜNEN]: Aha!) es darüber eine breite Diskussion im Land gibt. Der
Die Banken sind notwendig, und sie werden immer Vater hat bislang überhaupt keine Rechte. Die elter-
dann gerufen, wenn die Not am größten ist. Sie sind liche Sorge steht allein der Mutter zu.
notwendig auch für Investitionen. Wir beteiligen uns
nicht an dieser Polemik gegen die Banken. Sicher wäre eine Regelung richtig, daß dem Vater
dann die elterliche Sorge übertragen wird, wenn die
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das sind doch Mutter aus irgendeinem Grund ausfällt und wenn dies
keine karitativen Organisationen!) im Interesse des Kindes ist. Das gilt auch für das Recht
Wir sind der Auffassung, daß es richtig ist, wenn die des Vaters auf Umgang mit seinem nichtehelichen
Banken auch in den einzelnen Aufsichtsräten sit- Kind, obgleich auch hier ganz b risante Fragen auftau-
zen. chen, nämlich wie es ist, wenn das Kind in einem
Familienverband ist und die Mutter partout nichts
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mehr mit dem Vater zu tun haben will.
DIE GRÜNEN]: Wenn die Not am größten ist,
kommt das Rote Kreuz und nicht die Deut Hier müssen wir ganz vorsichtig vorgehen. Hier
sche Bank!) dürfen wir nicht Strukturen durch gesetzliche Rege-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein lungen — nur, weil wir meinen, das müßte unbedingt
weiteres wichtiges Thema in der Rechtspolitik wird gemacht werden — zerstören. Da werden wir entspre-
das Kindschaftsrecht sein. Hier haben wir ja bereits chend reagieren. Wir werden in der Beratung darauf
Gesetzentwürfe vorliegen, die in der letzten Legisla- achten, eine gute Regelung zu finden.
turperiode sogar schon der Bundesregierung vorgele-
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ob es
gen haben.
jemandem paßt oder nicht paßt: Wer über das Kind-
Hier ist eine Vorbemerkung notwendig: Wir werden schaftsrecht nachdenkt, kann natürlich nicht am Recht
keiner Gesetzgebung, Frau Ministerin, zustimmen, der ungeborenen Kinder vorbeigehen; zumal dies
die auch nur im entferntesten die Familien schwächen derzeit rechtspolitisch höchste Brisanz hat, wie Sie alle
wird. Wir haben im Wahlkampf verkündet, daß wir die wissen. Ich glaube aber, daß die geplante Fristenre-
Familien stärken wollen. Wir werden dies auch in der gelung, meine sehr verehrten Damen und Herren von
kommenden Legislaturpe riode halten. Das steht auch der SPD, den jetzigen bedauernswerten Zustand, den
im Regierungsprogramm. -
wir mit 300 000 Abtreibungen im Jahr haben, nur noch
Es besteht ein langer Kampf gegen die Familien. Ich mehr zementieren wird.
erinnere an den 2. Familienbericht der Bundesregie-
Nach wie vor ist eine der größten Aufgaben, die wir
rung aus dem Jahr 1975, in dem den Eltern vorgewor-
in der Rechtspolitik haben — da stimmen wir mit den
fen wird, sie seien Ungelernte, sie seien Erziehungs-
Innenpolitikern überein —, die Sorge um die innere
amateure, Sicherheit. Das Verbrechensbekämpfungsgesetz war
(Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ ein erster Schritt, und so haben wir es immer gese-
DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) hen.
und man müsse ihnen bei der Kindererziehung helfen; Die Sorge des Deutschen Anwaltsvereins, wir hät-
ja, man müsse ihnen die Kindererziehung abneh- ten mit der Verbesserung des beschleunigten Verfah-
men. rens den Rechtsstaat gefährdet, teilen wir nicht.
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Wer hat so etwas geschrie (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Absurd!)
ben?) Wir teilen auch nicht die Sorge eines Hamburger
Wir meinen, daß wir diesem späten Kulturkampf Juraprofessors, der gegen das Verbrechensbekämp-
endlich ein Ende machen sollten. fungsgesetz Verfassungsbeschwerde mit der Begrün-
(Beifall bei der CDU/CSU — Joseph Fischer dung eingereicht hat, es handele sich hier um einen
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verfassungsumsturz. Wenn Professoren in solche
Wer hat so etwas geschrieben?) Hysterie verfallen,
Das heißt nicht, meine sehr verehrten Damen und (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
Herren, Frau Ministerin, daß wir uns gegen notwen- CSU]: Publicitysüchtig!)
390 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994

Norbert Geis
dann darf man sich nicht wundern, daß sich Studenten berg als ohnmächtiger Staat! Wo waren Sie
ihr Examenswissen nicht in der Uni, sondern bei denn im Geschichtsunterricht?)
Repetitoren holen. Daß die Kriminalität und insbesondere die organi-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sierte Kriminalität heute in der Tat eine Gefahr
der F.D.P. — Joseph Fischer [Frankfurt] darstellen, können und dürfen wir nicht verschwei-
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber, Herr gen. Wir müssen dies sehen und müssen entsprechend
Geis!) reagieren. Wer das nicht tut, der handelt nach meiner
Auffassung verantwortungslos.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rah-
men der inneren Sicherheit spielt natürlich der Kampf Natürlich geht es uns dabei auch um das Abschöp-
gegen die Mafia eine entscheidende Rolle. Die Mafia fen der Gewinne der Mafia. Auch hier läuft allerdings
agiert international. Deutschland ist für sie ein hervor- nichts ohne internationale Zusammenarbeit. Was hilft
ragender Standort. uns alle berechtigte Kritik am Geldwäschegesetz, und
was hilft uns das schönste Geldwäschegesetz, wenn
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ die Verbrecher ihr Kapital ins Ausland transferieren
DIE GRÜNEN]: Es ist eine schwere Kritik an und die Ursprungskriminalität bei uns verbleibt?
Kohl, wenn die Mafia hier einen hervorra Nach wie vor stehen wir fassungslos vor der Gewalt-
genden Standort hat! In Aschaffenburg vor kriminalität vor allem bei Jugendlichen.
allem!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
Sie ist deshalb ein hervorragender Standort, weil wir DIE GRÜNEN]: „Fassungslos" ist gut!)
eine ausgezeichnete Infrastruktur haben. — Mein
lieber Herr, wir haben in Aschaffenburg immerhin die Wir erschrecken bei manchem jungen Täter über
höchste Aufklärungsrate in der ganzen Bundesrepu- dessen Grausamkeit und Unempfindlichkeit, mit
blik Deutschland, nämlich 67 %. denen er die Taten begeht. Die Frage, woher dieser
Vandalismus an manchen unserer Schulen kommt, ist
(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ sehr schnell mit der Behauptung beantwortet, es seien
CSU]) die schlechten sozialen Verhältnisse.
Wir liegen weit vor Hessen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Privatfernsehen!)
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Ein Hort des Verbrechens! Wenn wir aber genau hinblicken und wenn wir vor
Wir haben viele unterfränkische Kriminelle allen Dingen die ausländerfeindlichen Taten betrach-
in Hessen! Grenzüberschreitende Kriminali ten, dann sehen wir, daß die Täter aus sehr guten
tät!) Familienverhältnissen gekommen sind, jedenfalls
nach unseren Maßstäben.
Aber das wird sich in Kürze ändern, wenn Herr
Kanther Ministerpräsident in Hessen wird. (Zuruf von der PDS: Ein bißchen differenzie-
ren!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube auch nicht, daß die irrationale Gewaltbe-
Ohne internationale Zusammenarbeit wird diese reitschaft, die zweifellos da ist, auf ein Aufflackern des
Gefahr für unsere Zivilisation kaum zu bannen sein. Nationalsozialismus zurückgeführt werden kann, was
Deswegen ist es notwendig, daß wir unsere Ermitt- immer wieder behauptet wird. Es mag viele Ursachen
lungsorgane in die Lage versetzen, die die Ermitt- haben.
lungsorgane in anderen Ländern haben. -
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege,
F.D.P., auch ich würde lieber in einem Staat ohne gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Häf-
technische Überwachung von Wohnraum oder ohne ner?
den verdeckten Ermittler leben. Aber ich meine, man
darf um rechtspolitischer Ideale willen nicht die
Sicherheit aufs Spiel setzen. Norbert Geis (CDU/CSU): Nein; danke. — Ganz
(Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ sicher ist eine der Ursachen, daß wir in bestimmten
CSU) Ländern schon vor Jahren die Erziehung einfach
abgeschafft haben.
Die Weimarer Republik ist nicht zugrunde gegangen,
weil die Deutschen große Sehnsucht nach Hitler (Lachen des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt]
gehabt hätten, sondern weil der damalige Staat nicht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
in der Lage gewesen ist, die gestellten Aufgaben zu Die Erziehung an den Schulen wurde in diesen
lösen. An der Ohnmacht des Staates sind die Men- Ländern in den 70er Jahren abgeschafft. Das ist
schen verzweifelt. Deswegen kam es zur Diktatur. sicherlich ein Relikt aus dem Jahre 1968, lieber Herr
Fischer.
(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND- (Joseph Fischer [Fr ankfurt] [BÜNDNIS 90/
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Der ohnmächtige DIE GRÜNEN]: Ja! Genau! Ihr Ideal sind
Staat und die Harzburger Front! Deutsch Arnold Schwarzenegger und der Termina-
Nationale Volkspartei als ohnmächtiger tor!)
Staat! Ich lache mich tot, Herr Geis! Das ist Denken Sie einmal an die Frankfurter Schule, die die
doch albern! Die Herren Krupp und Hugen Emanzipation geradezu vergöttert hat!
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 391

Norbert Geis
Die Abschaffung der Erziehung ist ein großer Fehler Jugendgerichtsgesetz im Jahre 1953 eingeführt. Er
gewesen. Die Erziehung in den Schulen wurde diskri- hat sich bewährt, und wir werden auch daran festhal-
miniert. Sie wurde als Indoktrination hingestellt. ten.
(Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
CSU]) DIE GRÜNEN]: Sie sollten die Prügelstrafe
Dann hatten die Lehrer Angst und haben aufgehört zu wieder einführen, Herr Geis!)
erziehen. Aber Jugenderziehung in den Strafvollzugsanstal-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ten muß immer auch wissen, daß die Strafvollzugsan-
DIE GRÜNEN]: Bravo! Reine Panikreaktion stalt Endstation einer langen Kette von unglücklichen
der Lehrer! Anders kann man es sich nicht Zusammenhängen und Verfehlungen ist und daß dort
erklären!) Erziehung oft sehr schwer möglich ist.
Sicherlich liegt ein zweiter Grund darin, daß wir es (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
mit einer Krise unserer Familie zu tun haben. Nichts NEN]: Wiedereinführung der Prügelstrafe!)
kann die erzieherische Kraft einer Familie ersetzen. Man muß der Realität ins Auge schauen. Wer oft
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ genug in Jugendstrafvollzugsanstalten gewesen ist,
DIE GRÜNEN]: Mut zur Erziehung! — Ing ri d wird das bestätigen.
Matthäus-Maier [SPD]: Deswegen lassen Sie Deshalb müssen wir neben den Erziehungsgedan-
die auch unter die Räder kommen!) ken, den wir voll bejahen — daran soll kein Zweifel
Die Familie ist — vor allen Dingen dann, wenn sie aufkommen —, gleichbedeutend den Gedanken der
intakt ist — immer noch der Ort, an dem die Erziehung Sicherheit unserer Bürger stellen.
am ehesten und am besten geleistet werden kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein
Darauf kann die Gesellschaft nicht verzichten. weiteres Thema der kommenden Jahre wird zweifel-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — los die Entkriminalisierungsdebatte sein, die immer
Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wieder angezettelt wird. Ich scheue mich nicht, dar-
DIE GRÜNEN]: Die Verhältnisse in Bay über zu sprechen. Es gibt in Schleswig-Holstein eine
ern!) ganze Reihe von Richtern, die den Diebstahl, solange
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hinzu er unter einem Wert von 50 DM liegt, aus dem
kommt natürlich die verheerende Wirkung der Mas- Strafgesetzbuch herausnehmen wollen.
senmedien. Es gibt ja kein Tabu mehr, das nicht von (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Unter
den Massenmedien in die Wohnzimmer eingestrahlt 100 DM!)
wird.
Sie wollen dem Geschädigten im Bürgerlichen
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Gesetzbuch einen Anspruch auf pauschalierten Scha-
DIE GRÜNEN]: Nicht die Tabus werden densersatz geben, als wäre es so leicht, gegen einen
eingestrahlt, sondern die Tabubrüche!) jugendlichen Täter, der in der Regel ja pfandlos ist,
Wir erschrecken vor Kindern, die andere Kinder Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Der
ermorden — wie es in England passiert ist — und auf Jugendliche wird den Geschädigten auslachen und
die Frage, warum sie das getan hätten, antworten, sie um die Ecke in den nächsten Laden gehen, um sich
hätten einmal ausprobieren wollen, wie es ist, wenn dort zu holen, was er braucht, aber im Wert von unter
man Menschen umbringt. 50 DM, damit er nicht bestraft wird. An diesem-
Beispiel wird die ganze Lächerlichkeit des Vorschla-
(Zuruf von der SPD: Daran seid ihr doch ges von Richtern deutlich, die ernstgenommen wer-
schuld mit eurer Privatisierung!) den wollen.
Angesichts der Jugendkriminalität können wir es Mit immer neuen Varianten wird in dieser Diskus-
uns nicht leisten, im Jugendstrafrecht und im Jugend- sion über die Entkriminalisierung auch die Legalisie-
strafvollzug einer weichen Welle nachzugeben. rung des Besitzes von Drogen vorgetragen. Lübecker
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND Richter sehen in dem Besitz von 4 kg Hasch kein
NIS 90/DIE GRÜNEN) Verbrechen mehr, sondern nur noch eine geringe
— Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt. Zum Jugend- Verfehlung, die auch nur geringfügig zu bestrafen sei.
strafvollzug gehört eine gewisse Härte. So weit sind wir bereits gekommen.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
DIE GRÜNEN]: Neandertal, kann man da SES 90/DIE GRÜNEN — Joseph Fischer
nur sagen!) [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
Ein Faß Bier hingegen ist straffrei!)
Die Jugendlichen müssen wissen, daß sie nicht im
Hotel untergebracht sind. Die Sozialministerin desselben Landes will nun auf
Tageskarten in bestimmten Restaurants Hasch anbie-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ten,
DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Setzen Sie den
Stahlhelm mal ab!) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)
Das heißt nicht, daß der Erziehungsgedanke von der
Tagesordnung gestrichen werden müßte. Nein, wir als hätten wir mit diesen Vorgängen in den Nieder
selbst haben den Erziehungsgedanken durch das landen nicht furchtbare Erfahrungen gemacht. Aber
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Norbert Geis
offenbar
marer will diese Dame aus
Zeit habendem einstmals
nichtkonser-aus lauter Sehnsucht nach
vativen Land ein progressives Drogenmusterland Hitler die Demokratie aufgegeben, sondern sie sind
machen. Es scheint jedenfalls so. an der Ohnmacht des Staates gegenüber den Proble-
(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ men verzweifelt, die sich damals zweifellos aufge-
DIE GRÜNEN]: Haschisch auf dem Oktober türmt haben. Das können Sie wohl auch nicht ver-
fest!) schweigen.
Wir werden eine solche Irrfahrt nicht mitmachen. Deswegen kam es zur Diktatur. Es mögen dabei
auch noch viele andere Gründe eine Rolle gespielt
In Frankfurt sollen jetzt Gesundheitsräume einge-
haben. Sie werden mir zugestehen, daß ich das nicht
richtet werden. Schon die Bezeichnung ist absurd,
alles im Rahmen einer Rede erklären kann.
wenn man überlegt, was da passiert.
Ich wollte damit sagen, lieber Herr Häfner, daß jede
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir
Zeit ihre Aufgaben hat und daß heute zweifellos
halten dies letztlich für die Kapitulation vor der
neben vielen anderen Aufgaben eine der wichtigsten
Drogenmafia, denn die hat dann noch leichteres Spiel.
Aufgaben die Gewährleistung der inneren Sicherheit
Wir werden allerdings alles tun, um den Drogenkran-
ist. Solange wir es zulassen, daß sich Leute mit Geld
ken zu helfen, frei zu werden von ihrer Krankheit und
private Sicherheitskräfte leisten können, während
ihrer Sucht und zu einem ordentlichen, geordneten,
andere täglich um ihr Vermögen zumindest bangen
vernünftigen Leben zurückzufinden.
müssen, bereiten wir den Boden dafür, daß Extremi-
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. sten bei uns im Lande leichteres Spiel haben. Darauf
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. wollte ich hingewiesen haben.
Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg.
Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.])
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu einer
Kurzintervention hat der Kollege Häfner.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt
der Abgeordnete Volker Beck.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr
Abgeordneter Geis, wie Sie bin ich fassungslos, wenn
Kinder Kinder ermorden. Aber anders als Sie war ich Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
fassungslos auch über Ihre Rede und bin ich fassungs- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
los, wenn Kinder beispielsweise aus Euthanasiegrün- Herren! „Unseren Segen haben Sie" — so lautete ein
den ermordet werden, wenn Millionen Menschen Slogan der F.D.P. im letzten Wahlkampf. Wenn ich mir
ermordet werden, wie es im Nationalsozialismus Ihre Koalitionsvereinbarungen zur Rechtspolitik an-
geschehen ist. schaue, kann ich nur sagen: Unseren Segen bekom-
Damit so etwas nie wieder geschieht, sollten wir uns men Sie dafür nicht.
in diesem Hause einig sein darüber, was die Ursache (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
war. Wenn in diesem Hause gesagt wird, die Ursache Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
sei nicht die Schwäche der Demokraten gewesen, CSU]: Den wollen wir auch gar nicht
sondern die Schwäche des Staates angesichts des haben!)
Verbrechens, dann ist das eine Verhöhnung unserer Bisher funktionierte Ihr Rollenspiel noch halbwegs:
eigenen Geschichte. In diesem Fall war der Staat der Die F.D.P. diente als liberales Feigenblatt dieser
Verbrecher, der Staat der Gewalttäter. Regierung und gleichzeitig als Sparringspartner der-
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, CSU. Das haben wir ja gerade erlebt. Jetzt ist sie kurz
der SPD und der PDS — Bundeskanzler vor dem K. o.
Dr. Helmut Kohl: Das ist absurd!) Das ZDF-Programm hat es am Montag auf den
Sie sollten sich hüten, sich mit Worten wie „Schluß Punkt gebracht. Es zeigte ein Lehrstück an liberaler
mit der weichen Welle, die Jugend braucht eine starke Rat- und Profillosigkeit in der Sendung „Was nun,
Hand" und auch mit Schritten wie der Kronzeugenre- Herr Kinkel?"; gleich im Anschluß folgte der Film
gelung und der Vermischung der Aufgaben von „Glück im Grünen". Meine Damen und Herren von
Polizei und Geheimdienst usw. dem anzunähern, was der F.D.P., das sehen die Wählerinnen und Wähler
in unserer Geschichte einmal passiert ist. Das wollte inzwischen genauso.
ich hier gesagt haben. Die Reden von Herrn Geis und Herrn Kanther
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zeigen: Sie, Frau Ministerin, und Ihre Partei stehen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der offensichtlich mit dem Rücken zur Wand. „Bürger-
PDS — Zurufe von der CDU/CSU: Sie haben rechte" tauchen im Koalitionsvertrag gerade noch in
doch keine Ahnung! — Dummes Zeug!) der Überschrift auf. Dann kracht gleich die erste Salve
in die Reihe derjenigen, die den starken Staat ableh-
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu einer nen und statt dessen nach den Ursachen für Miß-
kurzen Antwort erteile ich dem Abgeordneten Geis. stände fragen. Man kommt sich vor wie in Alexander-
von-Stahl-Gewittern.
Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege Häfner, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
wenn Sie richtig zugehört hätten, hätten Sie nicht „Kriminalität bekämpfen" heißt es da. Dies soll
gesagt, was Sie eben gesagt haben. Ich habe nämlich durch einen „nationalen Kriminalitätsbekämpfungs-
wörtlich folgendes erklärt. Die Menschen in der Wei plan" geschehen. Solche nationalen Bekämpfungs-
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Volker Beck (Köln)


pläne kennen wir von dieser Bundesregierung schon. Zum Schluß: „Unseren Segen haben Sie" — mit
Vor gut vier Jahren wurde der „nationale Rauschgift- diesen Worten haben Sie von der F.D.P. im Wahl-
bekämpfungsplan" geboren. Der „Erfolg" des kampf behauptet, sich für Gleichberechtigung
Rauschgiftbekämpfungsplans: Immer mehr junge schwuler und lesbischer Lebensgemeinschaften ein-
Menschen greifen zu allen möglichen Drogen. Der zusetzen. Und dann stimmt in der Verfassungsdebatte
Gesetzgeber kommt beim Verbieten der neuen Gift- ein Großteil Ihrer Fraktion gegen den eigenen Antrag,
cocktails in der Szene kaum noch nach. Ihre ideolo- auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften in Art. 6
gisch verblendete Drogenpolitik der totalen Prohibi- des Grundgesetzes wenigstens „achten" zu wollen.
tion gefährdet das Leben und die Gesundheit nicht nur Das ist echt F.D.P. ... Ja, auf Ihrer Partei ruht wirklich
der Abhängigen, sondern auch aller anderen Bürge- kein Segen mehr.
rinnen und Bürger, nämlich durch die zwangsläufige Vielen Dank.
Beschaffungskriminalität.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Für die organisierten Händlerbanden ist Ihre Dro- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Da das für den
genpolitik eine willkommene Arbeitsbeschaffungs- Abgeordneten Volker Beck ebenfalls die erste Rede
maßnahme. Herr Geis, Ihre Drogenpolitik ist das war, möchte ich auch ihm im Namen des Hauses dazu
eigentliche Sicherheitsrisiko in dieser Gesellschaft. gratulieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN —
sowie bei Abgeordneten der SPD und der Zuruf von der CDU/CSU: So toll war das nun
PDS) nicht!)
Aber Sie halten wider alle Vernunft an dem fossilen Das Wort hat nun der Abgeordnete Uwe-Jens
Rauschgiftbekämpfungsplan fest. Jetzt muß endlich Heuer.
Schluß sein mit dieser bankrotten Planwirtschaft. Ich
fordere Sie auf: Beginnen Sie endlich eine intelligente
Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Frau Präsidentin! Meine
Kriminalpolitik. Hören Sie auf, Augenwischerei durch Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner
den Abbau von Bürgerrechten zu betreiben, wie Sie es Regierungserklärung die Reduzierung des Staates auf
kürzlich in Ihrem Verbrechensbekämpfungsgesetz seine originären Aufgaben gefordert.
vorexerziert haben!
(Zuruf von der SPD: Das ist ja unglaub-
(Zuruf von der CDU/CSU: Viel zu harm lich!)
los!)
Das Interesse der Politik konzentriert sich damit auf
Meine Damen und Herren, Sie beklagen hohe repressive Kriminalitätsbekämpfung einerseits und
Eigentumskriminalität, wachsende Gewaltbereit- den Einsatz von Krisenreaktionskräften andererseits.
schaft und internationale Kriminalität, und das seit Wir haben das hier in den Reden von Herrn Kanther
nunmehr zwölf Jahren, seitdem Union und F.D.P. und jetzt von Herrn Geis sehr eindrucksvoll vorgeführt
regieren. Sie behaupten, Sie wollen das Vertrauen der bekommen.
Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat stärken;
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
gleichzeitig richten Sie diesen Rechtsstaat scheib-
CSU]: Das war eine gute Rede!)
chenweise zugrunde, indem Sie den vergilbten
Wunschzettel der Sicherheitsstrategen, Polizeitakti- Mich erinnert das fatal an Definitionen des bürger-
ker und von Herrn Beckstein abarbeiten. lichen Staates durch Stalin als Unterdrückungsinstru-
ment nach innen und außen. Ich meine allerdings, daß-
Mit dem Holzhammer schlugen Sie den sinnvollen diesem Staat in den letzten Jahrzehnten mit dem
und moderaten Vorschlag des Deutschen Anwaltsver- Sozialstaats- und Rechtsstaatsprinzip unverzichtbar
eins platt, Ladendiebstahl, Schwarzfahren und andere neue Aufgaben zugewachsen sind. Das ist ein Fort-
Bagatelldelikte nach dem Grundsatz „Schadensersatz schritt. Ich sehe jetzt das Problem der Rücknahme
vor Strafe" zu entkriminalisieren bzw. vom Strafrecht dieses Fortschritts.
in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu überführen.
Kriminalitätsbekämpfung war eines der Hauptthe-
Ich sehe da auch eine deutliche Gerechtigkeits- men im Wahlkampf, und es bewegt die Bürger zwei-
lücke: Wenn Wirtschaftsverbrechen wie im Fall fellos sehr. Wir sind durchaus dafür, daß dafür gesorgt
Schneider begangen werden, Existenzen von Unter- wird, daß sich die Bürger nach Einbruch der Dunkel-
nehmen und Beschäftigten gefährdet werden, dann heit auch auf der Straße noch sicher fühlen können,
wird das als „Peanuts" abgetan. Wer aber tatsächlich daß in ihre Wohnungen nicht eingebrochen wird.
ein Päckchen Erdnüsse oder einen Lippenstift ein- Aber zweierlei zeigt sich bei näherer Betrachtung.
steckt, bekommt die ganze Härte des Gesetzes zu
Erstens weist die Kriminalstatistik auf den Gebie-
spüren. Da wird doch mit Kanonen auf Spatzen
ten, die die Bürger in ihrer Mehrheit unmittelbar
geschossen.
betreffen, keine außergewöhnliche Steigerung der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Straftaten aus. Zweitens lassen die Veränderungen,
Dieser Vorschlag der Anwälte und eine Wende in die von der Union beabsichtigt sind, auf den für die
der Drogenpolitik wären auch ein wichtiger Beitrag Mehrheit der Bürger wichtigen Gebieten keine oder
zur Justizentlastung — auf jeden Fall erfolgverspre- nur marginale Verbesserungen erwarten.
chender als Ihr gescheitertes Justizentlastungsgesetz. Heute ist wieder einmal von dem Abhören von
Aber Sie haben einfach nicht mehr die Kraft, nach Gangsterwohnungen als Hauptlösung gesprochen
solchen Erkenntnissen zu handeln. worden. Herr Hirsch hat dankenswerterweise ver-
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Dr. Uwe-Jens Heuer


sucht, Herrn Kanther und Herrn Marschewski darauf eine effektive, bürgernahe Erledigung der Dienstlei-
hinzuweisen, daß es sich eben nicht um Gangsterwoh- stungen. Aber wenn die Privatisierung zu einer dra-
nungen handelt, sondern um Wohnungen, bei denen matischen sozialen Unsicherheit vieler öffentlich
der Verdacht besteht. Bediensteter führt, dann können wir das nicht guthei-
ßen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Gangster, alles
Gangster!) In der Regierungserklärung ist — damit komme ich
zum dritten Punkt — die Forderung des Bundespräsi-
Ich bin gegen eine solche Ausdrucksweise. Ich bin der denten nach einer Vereinfachung des Rechts aufge-
Meinung, daß der Innenminister eines Rechtsstaates griffen worden. Die Regierung wäre gut beraten,
die Pflicht hat, rechtsstaatliche Sprache zu spre- wenn sie bestimmte Erfahrungen der DDR wenigstens
chen. in Erwägung gezogen hätte.
(Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das ist (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/
wohl wahr!) CSU]: Nein!)
Wir sehen uns in der Frage des Schutzes von 1990 hat es unter Juristen in beiden deutschen Staaten
Errungenschaften auf diesem Gebiet in Übereinstim- ernstzunehmende Stimmen gegeben, die dies damals
mung mit der Vereinigung der Strafverteidiger. Wir für wünschenswert hielten. Es gab in der DDR viele
sind durchaus für Verfahrensbeschleunigung; aber Kodifikationen, die den Bürgern zugänglich waren.
Verfahrensbeschleunigung darf nicht auf Kosten der Ich weiß, wie kompliziert die Gesetzgebungsmaschi-
strafprozessualen Rechte der Beschuldigten gehen. nerie in der Bundesrepublik ist. Das liegt am Einfluß
Eine wesentliche Entlastung der Strafgerichte wäre verschiedener Interessengruppen. Es liegt auch am
— darüber ist hier heute schon gesprochen worden — juristischen Perfektionswillen der Referenten des
durch eine Entkriminalisierung bestimmter Personen- Justizministeriums.
gruppen zu ermöglichen. Wir sollten meiner Meinung nach versuchen,
In diesem Zusammenhang noch ein Wort an Herrn gemeinsam ein Beispiel zu schaffen, das der Forde-
Geis. Herr Geis hat hier, wenn ich das recht verstan- rung nach einem für die Verbraucher verständlichen
den habe, gesagt: Wenn wir nicht bereit sind, dem Recht besser Rechnung trägt. Dafür würde sich das
großen Lauschangriff zuzustimmen, droht ein neuer Wohnungsmietrecht anbieten.
Hitler. Ich halte das für eine radikale — — Herr Geis war ja so freundlich, von der „Hyste rie der
(Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ Rechtsprofessoren" zu sprechen. Ich möchte ihm
CSU]: Er hat den großen Lauschangriff über sagen: Wir sollten versuchen, nicht ein Recht zu
haupt nicht genannt! Sie haben Ihre Rede schaffen, das von Rechtsanwälten für Rechtsanwälte
schon vorher fertig gehabt!) gemacht ist, sondern ein Recht für Bürger.
— Natürlich hat er darüber geredet. Herr Geis redet (Beifall bei der PDS)
jedesmal darüber, wenn er das Wort hat. Der Rechtsprofessor Uwe Wesel hat zu Recht darauf
hingewiesen, daß die Verständlichkeit der Sprache
Der zweite Gegenstand ist das Gebiet der Deregu-
des Rechts und die Demokratie eng zusammengehö-
lierung, der Verschlankung des Staates, der Verfah-
ren und daß sich die Sprache des deutschen Rechts
rensvereinfachung. Dieses Vorhaben der Regierung
noch im vordemokratischen Raum befindet. Ich
ist janusköpfig. Wir begrüßen alle Vorhaben und
meine, daß es die Aufgabe wäre, in der Zusammenar-
Projekte, die zu einer Vereinfachung von Genehmi-
beit über Fraktions- und Gruppengrenzen hinweg zu
gungsverfahren, zu größerer Verständlichkeit des
versuchen, ein bürgernahes Recht zu schaffen. Dafür-
Rechts, zu mehr Bürgernähe der Verwaltung führen.
wünsche ich uns viel Erfolg.
Wir sehen aber das Problem, daß es in vielen Fällen
nicht um eine solche Entwicklung geht, sondern um Danke schön.
eine Stärkung des Staates auf Kosten der Demokratie. (Beifall bei der PDS)
Wir fürchten, Verfahrensvereinfachung bedeutet
überwiegend, daß die Mitwirkungs- und Einwir-
kungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Meine Damen
bzw. von Bürgerinitiativen eingeschränkt werden. und Herren, weitere Wortmeldungen liegen für die
Das werden wir bekämpfen. Wir erleben in Berlin, daß heutige Sitzung nicht vor. Wir sind damit am Ende der
Bezirksverwaltungen von einigen Aufgaben befreit heutigen Sitzung.
werden sollen, z. B. von der Verantwortung für die
Schulen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, 15. Dezember
Das gilt sinngemäß auch für die Privatisierung 1994, 9 Uhr ein.
wesentlicher Teile des öffentlichen Dienstes. Natür-
lich begrüßen wir die Beseitigung ungerechtfertigter Die Sitzung ist geschlossen.
Privilegien der Beamten, und natürlich sind wir für (Schluß der Sitzung: 16.44 Uhr)

Berichtigung

7. Sitzung, Seite 307 A, Zeile 22: Statt „15 %" ist


„50 %" zu lesen.
Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 8. Sitzung. Borm, Mittwoch, den 14. Dezember 1994 395*

Anlage zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage
Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis
Abgeordnete(r)
einschließlich
Antretter, Robert SPD 14. 12. 94 *
Borchert, Jochen CDU/CSU 14. 12. 94
Conradi, Peter SPD 14. 12. 94
Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 14. 12. 94
90/DIE
GRÜNEN
Heym, Stefan PDS 14. 12. 94
Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 14. 12. 94
Iwersen, Gabriele SPD 14. 12. 94
Sauer (Stuttgart), Roland CDU/CSU 14. 12. 94
Schmidt-Zadel, Regina SPD 14. 12. 94
Schumann, Ilse SPD 14. 12. 94
Vergin, Siegfried SPD 14. 12. 94
Wallow, Hans SPD 14. 12. 94
Warnick, Klaus-Jürgen PDS 14. 12. 94
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm-
lung des Europarates

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