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Plenarprotokoll 12/6

D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

6. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord Möllemann, Bundesminister BMWi . . . 154 C


nung 95 A
Dr. Jens SPD 156C
Rücknahme eines in der 5. Sitzung erteilten Gansel SPD 157B
Ordnungsrufs 95 B
Rühe CDU/CSU 158D
Tagesordnungspunkt 1: Genscher FDP 163A
Aussprache zur Erklärung der Bundesre-
Möllemann FDP 163B, 166D
gierung
Dr. Vogel SPD 95 B Frau Lederer PDS/Linke Liste 163 C

Dr. Dregger CDU/CSU 107 B Roth SPD 165C, 169B

Dr. Schmude SPD 112C Dr. Krause, Bundesminister BMV . . . 169B

Dr. Solms FDP 113 B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . 172A, 177A

Conradi SPD 116D Glos CDU/CSU 174C, 177B

Dr. Modrow PDS/Linke Liste 118B Walther SPD 176A, 180D


Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . . 121D Roth SPD 176D
Dr. Waigel, Bundesminister BMF . . . . 124 C Dr. Briefs PDS/Linke Liste 177 C
Dr. Graf Lambsdorff FDP . . . . 126B, 168C Dr. Weng (Gerlingen) FDP 178D
Frau Matthäus-Maier SPD . . . . 129D, 154B Nitsch CDU/CSU 181 B
Dr. Faltlhauser CDU/CSU 133B, C Dr. Seifert PDS/Linke Liste 183 C
-
Genscher, Bundesminister AA 136B Schäfer (Offenburg) SPD 184B
Gansel SPD 139C, 162C Gibtner CDU/CSU 187B
Dr. Graf Lambsdorff FDP 169A, 174B Baum FDP 188D
Dr. Biedenkopf, Ministerpräsident des Lan Frau Braband PDS/Linke Liste 190D
des Sachsen 145 B
Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 191B
Kühbacher, Minister des Landes Branden
burg 148B, 171C Schäfer (Offenburg) SPD 193A
Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU . . . 150D Dr. Feige Bündnis 90/GRÜNE 193D
Dr. Kohl, Bundeskanzler 152 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA 195C
Dr. Krause (Börgerende) CDU/CSU 154A, 174B Dreßler SPD 198B
II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Cronenberg (Arnsberg) FDP 204 B Frau Becker-Inglau SPD 214B


Dreßler SPD 204C, 209A, 220C Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister
BMBau 217B
Dr. Schumann (Kroppenstedt) PDS/Linke
Liste 206 C Reschke SPD 218B
Frau Rönsch, Bundesminister BMFS . . 207 B Conradi SPD 219A
Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . . . 208A, B Scharrenbroich CDU/CSU 219D
Frau von Renesse SPD 208B, C Dr. Ortleb, Bundesminister BMBW . . . 222D
Schwarz CDU/CSU 209 D Kuhlwein SPD 223 C
Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 210C Nächste Sitzung 224 D
Frau Dr. Merkel CDU/CSU 212 C
Frau Dr. Höll PDS/Linke Liste 213A Anlage

Frau Bläss PDS/Linke Liste 213A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 225* A
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6. Sitzung

Bonn, den 31. Januar 1991

Beginn: 9.01 Uhr

Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine Damen und Her- gefallen. Damals schien es uns, als habe ein neues
ren, die Sitzung ist eröffnet. Zeitalter begonnen, als sei ganz Europa auf dem Wege
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- zu einer neuen Gemeinsamkeit in Frieden, Freiheit
dene Tagesordnung um die jeweils erste Beratung und Selbstbestimmung. Und wir hofften, der irakische
des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP Diktator könne von der Völkergemeinschaft ohne
eingebrachten Gesetzentwurfs zur Änderung der Bei- Krieg gezwungen werden, dem internationalen Recht
tragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung Genüge zu tun und Kuwait zu räumen.
und bei der Bundesanstalt für Arbeit und des Gesetz- Inzwischen sprechen am Golf seit 14 Tagen die
entwurfs zur Änderung des Fünften Buches Sozialge- Waffen. Eine uns nicht bekannte Zahl von Menschen
setzbuch zu erweitern. Die beiden Gesetzentwürfe hat bereits ihr Leben verloren; keiner weiß, wie viele
sollen am Freitag nach Beendigung der Aussprache noch folgen werden. Israel wird trotz seiner bewun-
zur Regierungserklärung mit einer jeweils einstündi- dernswerten Besonnenheit von irakischen Raketen
gen Beratung aufgerufen werden. Sind Sie damit ein- heimgesucht und ist noch immer der Gefahr eines
verstanden? — Ich sehe keinen Widerspruch. Dies ist Gasangriffs ausgesetzt, bei dem viele Menschen in
so beschlossen. grausamster Weise zu Tode kommen würden.
Ich habe gestern dem Abgeordneten Dr. B riefs für Durch die arabische Welt geht gleichzeitig eine
einen Zwischenruf einen Ordnungsruf erteilt. Aus- Welle des Fundamentalismus. Durch den Persischen
weislich des inzwischen vorliegenden stenographi- Golf treibt ein gewaltiger Ölteppich, ein zweiter ist
schen Protokolls kann der Zwischenruf „Heim ins offenbar im Entstehen, und die Gefahr weiterer sub-
Reich! " nicht dem Abgeordneten Dr. B riefs zugeord- stantieller Umweltschäden ist keineswegs gebannt.
net werden; er ist nicht verzeichnet. Ich nehme daher
den Ordnungsruf zurück. Ein Ende von alldem ist ungeachtet aller Anstren-
gungen der Anti-Saddam-Koalition zur Stunde nicht
(Lachen bei der SPD) abzusehen. Der irakische Diktator droht sogar mit
— Ich halte mich an die Ordnung. dem Einsatz bisher unbekannter Waffen, die dem
Wir setzen den Tagesordnungspunkt 1 fo rt : Aus- Krieg — so sagt er mit widerwär tigem Zynismus —
sprache zur Erklärung der Bundesregierung. eine neue Qualität geben würden.
Hierzu liegen zwei Entschließungsanträge der Im Baltikum sind, wie seinerzeit in Prag, Panzer auf-
Fraktionen der SPD auf den Drucksachen 12/40 und gefahren und Menschen bedroht und getötet worden,
12/60 vor. Weitere Entschließungsanträge sind ange- weil sie für ihre demokratischen Institutionen und ihr
kündigt. Recht auf Selbstbestimmung eintreten. Dort, aber
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktio- auch sonst in der Sowjetunion, erheben von neuem
nellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache Kräfte ihr Haupt, von denen wir alle gehofft hatten, sie
elf Stunden, für die Aussprache morgen drei Stunden seien endgültig überwunden. Offenbar witte rn sie
vorgesehen. Die Aussprache wird heute gegen 21 Uhr eine Chance, im Schatten des Golf-Krieges das alte
enden. Für 13 bis 14 Uhr ist eine Mittagspause vorge- System der Unfreiheit und Unterdrückung wiederher-
sehen. — Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es zustellen und der Reformpolitik Michail Gorba-
ist so beschlossen. tschows einen entscheidenden Schlag zu versetzen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Diese weltpolitische Situation gibt der heutigen
ordnete Herr Dr. Vogel. Aussprache über die Regierungserklärung des Herrn
Bundeskanzlers einen besonderen Charakter. Das be-
deutet nicht, daß wir die Unterschiede und Gegen-
Dr. Vogel (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- sätze, die zwischen uns in wichtigen Fragen bestehen,
ehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf die Hoffnun- verschweigen oder als Opposition dort auf Kritik ver-
gen, die unser Volk und viele andere Bewohner des zichten, wo wir sie aus unserer Verantwortung heraus
europäischen Hauses, ja weite Teile der Menschheit für geboten halten. Im Gegenteil, es kann gerade jetzt
im vergangenen Jahr erfüllten, sind dunkle Schatten noch notwendiger sein, sie mit Nachdruck zu äußern.
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Dr. Vogel
Aber wir alle in diesem Hause — die SPD eingeschlos- Ende findet. Ich füge hinzu: Das kann nicht allein der
sen — sind gut beraten, in dieser Situation zu unter- Anwendung militärischer Mittel überlassen bleiben;
scheiden, was jetzt wirklich wichtig und was weniger
wichtig ist, und dort, wo Übereinstimmung besteht, (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
diese auch auszusprechen. GRÜNE)

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vielmehr muß zu diesem Zweck jede Möglichkeit ge-
der CDU/CSU und der FDP) nutzt werden, damit erneut die Politik eine Chance
erhält, das Recht mit gewaltlosen Mitteln wiederher-
Wir waren zu Beginn des deutschen Einigungspro- zustellen.
zesses zur Kooperation bereit. Wir glaubten, die Größe
der Herausforderung erfordere dies. Es war in unseren (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Augen ein gravierender Fehler, daß Sie das damals GRÜNE)
abgelehnt haben. Viele Fehlentwicklungen in den Die Vereinten Nationen sollten deshalb eine Initiative
neuen Bundesländern, die den Menschen dort schwer für einen Waffenstillstand, zumindest für eine Feuer-
zu schaffen machen, haben auch hier ihre Wurzel. Der pause, ergreifen.
Fehler sollte jetzt nicht wiederholt werden.
Wir Sozialdemokraten wissen, daß es keinen einsei-
(Zurufe von der CDU/CSU) tigen Waffenstillstand geben kann.
Die Folgen könnten für unser Volk und seine Stellung (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Alle?)
in der Welt und in Europa noch gravierender sein.
— Meine Damen und Herren, ich will nicht auf das
(Beifall bei der SPD) gestrige Verfahren zurückgreifen. Ich bin durchaus
Zum Golfkonflikt sage ich: Die Gründe, aus denen mit Zurufen und auch mit Zwischenrufen einverstan-
wir uns vor Ablauf des Ultimatums gegen militärische den.
Aktionen und für die Fortdauer der Sanktionen aus-
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sie sind auch
gesprochen haben, sind bis zur Stunde nicht wider-
keine Regierung!)
legt. Die Gefahren und die Risiken, die mit militäri-
schen Aktionen voraussehbar verbunden waren und Aber ich würde vorschlagen, daß wir uns heute in
sind und vor denen kaum jemand so überzeugend einer Art und Weise auseinandersetzen, wie es der
gewarnt hat wie Paul Nitze, einer der erfahrensten gegebenen Situation entspricht.
amerikanischen Konflikt- und Abrüstungsexperten
überhaupt, sind keineswegs gebannt. Im Gegenteil: (Beifall bei der SPD)
Einige seiner Befürchtungen — es sind auch die unse- Wir wissen, daß es keinen einseitigen Waffenstill-
ren — , so die Zunahme des Fundamentalismus in der stand geben kann. Wir wissen auch, daß Saddam mit
arabischen Welt, von Mauretanien bis in die Golfre- seiner andauernden Weigerung, Kuwait zu räumen,
gion, und die Zerstörung der Umwelt durch die Ölka- und seinen andauernden Drohungen die Chance für
tastrophe, sind bereits eingetreten, und die Eupho rie, einen solchen Waffenstillstand minimiert. Aber wir
ja vielerorts Kriegsbegeisterung, der ersten 24 Stun- glauben, daß die politische Vernunft der vermeintli-
den chen Logik des Krieges, von der in diesen Tagen so
(Bohl [CDU/CSU]: Bei wem denn?) viel die Rede ist, nicht einfach das Feld überlassen
darf.
— Entschuldigung, ich spreche nicht von Ihnen;
(Beifall bei der SPD)
(Bohl [CDU/CSU]: Aha!)
Sie muß immer wieder versuchen, diese sogenannte
aber wenn Sie eine gewisse Berichterstattung und Logik zu durchbrechen.
gewisse Zeitungskommentare gelesen haben, dann
werden Sie festgestellt haben, daß das die Wahrheit Es ermutigt uns — ich glaube, es ermutigt uns
ist! — alle — , daß der amerikanische und der sowjetische
Außenminister vorgestern in einer gemeinsamen Er-
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und klärung ausdrücklich von der Möglichkeit einer Ein-
dem Bündnis 90/GRÜNE) stellung der Feindseligkeiten gesprochen haben.
hat inzwischen starker Ernüchterung und tiefer Sorge Der Einsatz deutscher Soldaten im Golfkrieg
Platz gemacht. kommt nicht in Frage. Das wollen wir nicht, und das
Dabei, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kol- läßt unsere Verfassung nicht zu. Auch Sie, Herr Bun-
legen, wird das ganze Grauen des Krieges erst sicht- deskanzler, haben diese Auffassung gestern in Ihrer
bar werden, wenn die Kämpfe auf dem Boden wirklich Regierungserklärung vertreten.
beginnen. Und wenn an die Stelle einer Berichterstat- Eine ähnlich präzise Äußerung hätten wir uns zu
tung, die den Krieg als eine Art chirurgischen Eingriff der Frage gewünscht, ob die Situation in der Türkei
erscheinen lassen will, die ungeschminkte Darstel- und die Entscheidungen der dortigen Regierung zur
lung der Wirklichkeit tritt. Bejahung des Bündnisfalls führen können, so präzise
Die Entscheidungen sind nach dem 15. Januar an- — nämlich: nein — , wie es beispielsweise die spani-
ders gefallen, als wir das gewünscht und befürwortet sche Regierung und auch Herr Kollege Stercken als
haben, und auch eine Opposition kann dann nicht in Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses formuliert
der Vergangenheit verharren, sondern muß sich der haben. Sie, Herr Bundeskanzler, haben — das er-
neuen Situation stellen. Darum sage ich: Jetzt muß es kenne ich an — allerdings auch nichts gesagt, was
darum gehen, daß der Krieg so rasch wie möglich ein unserem Nein widerspricht.
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Dr. Vogel
Deutlicher, als Sie das getan haben — und ich gebe Dazu gehört jedenfalls für mich — das sage ich aus
zu: vielleicht tun konnten —, möchte ich in diesem aktuellem Anlaß — selbstverständlich auch die Pflege
Zusammenhang die unangemessene Kritik des türki- verwundeter und verletzter Soldaten, wenn darum
schen Staatspräsidenten an der Bundesrepublik ersucht wird.
Deutschland zurückweisen. (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Rütt
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten gers [CDU/CSU])
der CDU/CSU und der FDP) Ebenso befürworten wir materielle Hilfen für die von
dem Embargo und den Kriegsfolgen in Mitleiden-
Der türkische Staatspräsident täte besser daran, auf schaft gezogenen Länder.
die Mahnungen der türkischen Opposition und der
türkischen Armee zu hören und den Anschein zu ver- Außerdem — wir sind Realisten — können sich aus
meiden, es gehe ihm in dieser kritischen Situation in unserer Integration in die NATO-Strukturen — diese
erster Linie um die Vergrößerung seines Einflußbe- Integration hat sich in der Vergangenheit durchaus
reichs. Das Wort von der „Ordnungsmacht" in der auch zu unseren Gunsten ausgewirkt — gewisse
Region läßt da aufhorchen. Zwangsläufigkeiten ergeben. Die von Ihnen ange-
kündigten Zusagen, Herr Bundeskanzler, die sich in-
Deshalb sage ich klipp und klar — und das auch an zwischen offenbar auch auf Großbritannien erstrek-
die Adresse von Herrn Wörner — : Ob sich die Bundes- ken, werden wir unter diesen Gesichtspunkten prü-
republik an militärischen Maßnahmen auf der Grund- fen, sobald wir wissen, wofür welche Summen ver-
lage von UNO-Beschlüssen beteiligen kann und wi ll , wendet werden sollen. Ich sage allerdings: Die Erhe-
entscheidet allein sie, und nicht an ihrer Stelle der bung einer Kriegssteuer und die Einführung eines
türkische Staatspräsident oder der Generalsekretär Umlage- und Abruf- — —
der NATO. (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich! —
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Bohl [CDU/CSU]: „Kriegssteuer", was soll
GRÜNE) denn das? — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Eine
Steuer für die Beseitigung des Krieges! —
Und in der Bundesrepublik, so füge ich hinzu, ent- Zuruf von der CDU/CSU: Ein ganz böses
scheidet über Krieg und Frieden und folglich auch Wort!)
über den Bündnisfall, anders als in Diktaturen und
ebenso wie zuletzt in den Vereinigten Staaten, in — Ich bitte um Entschuldigung. Die Einführung einer
Großbritannien, in Frankreich und in Italien die solchen Steuer und die Einführung eines Umlage- und
Volksvertretung. Abrufverfahrens
(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist der Stil, den
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Sie hier erbitten!)
GRÜNE )
für finanzielle Beiträge lehnen wir ab. Ein solches
Zur Wahrung dieser Position, bei der es sich um ein Recht könnte unseres Erachtens allenfalls von den
Kernprinzip der parlamentarischen Demokratie han- Vereinten Nationen als Institu tion in Anspruch ge-
delt, müssen wir uns erneut alle geeigneten Schritte nommen werden.
vorbehalten. Ich anerkenne, daß inzwischen auch (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/
durch Ihre b riefliche Bestätigung sichergestellt ist, CSU]: Haben Sie sich jetzt von der Kriegs
daß, wenn — was keiner hier hofft — eine entspre- steuer distanziert?)
chende Entwicklung eintreten sollte, der Bundestag
seine politische Willensbildung auf jeden Fall vorher Die Solidarität mit Israel
vornehmen kann. (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Üble Spra
che!)
Die Entsendung von Einheiten der Bundeswehr in
die Türkei halten wir angesichts dieser von mir so- haben wir vor wenigen Tagen gegenüber dem israe-
eben erläuterten Sach- und Rechtslage und auch in lischen — —
Anbetracht dessen, was ich an die Adresse des türki- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Eine ganz üble
schen Staatspräsidenten gesagt habe, für politisch Sprache!)
falsch.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) - Präsidentin Dr. Süssmuth: Darf ich bitten, jetzt zu-
zuhören. Ich wiederhole das von gestern: Wir sind in
Sie bringt uns der Gefahr näher, daß die Bundesrepu- der Aussprache. Wir werden unsere Stellungnahmen
blik in solche militärischen Aktivitäten verwickelt abgeben. Versuchen wir, einander anzuhören!
wird, an denen teilzunehmen uns das Grundgesetz
nicht erlaubt. (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber das mit
der Kriegssteuer muß weg, Herr Vogel!)
(Beifall bei der SPD)
Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung mit der Dr. Vogel (SPD): Meine Damen und Herren, ich
Frage finanzieller und anderer Hilfen im Zusammen- habe von der besonderen Situation gesprochen, in der
hang mit dem Golfkrieg beschäftigt. Dazu sage ich, diese Debatte stattfindet. Wenn es Ihnen hilft — ich
daß wir humanitäre Hilfen jeder Art, die geeignet will hier durchaus meinerseits einen Beitrag leisten —,
sind, das Leid der vom Krieg Betroffenen zu lindern dann sage ich: die Erhebung einer Steuer aus diesem
und Leben zu retten, uneingeschränkt befürworten. Grund und in diesem Zusammenhang.
(Beifall bei der SPD) (Bohl [CDU/CSU]: Akzeptiert!)
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Dr. Vogel
Die Bewe rtung, ob der Ausdruck, den ich vorhin ver- Gansel, der für uns unermüdlich auf die schlimmen
wendet habe, die Sachlage trifft oder nicht, können Folgen dieser Haltung hingewiesen hat, sogar persön-
wir dann den Menschen draußen überlassen. Ich sage lich diffamiert.
das nur, damit wir hier zu einer Entspannung kom-
men. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
des Bündnisses 90/GRÜNE)
(Beifall bei der SPD)
Nicht wenigen Repräsentanten der Koalition lag es
Ich bitte jetzt um Aufmerksamkeit, weil ich einen in diesem Zusammenhang offenbar mehr am Herzen,
Punkt behandeln will, in dem ich große, breite Über- die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und die
einstimmung in diesem Hause feststelle. Dabei geht Freiheit des Handels gegen, wie es immer wieder
es um die Solidarität mit Israel. Die Regierung, die hieß, nicht akzeptable Einschränkungen zu verteidi-
Koalition und die Opposition haben die Solidarität mit gen, als dem Geschäft mit dem Tod einen wirksamen
Israel vor wenigen Tagen in Jerusalem gegenüber Riegel vorzuschieben.
dem israelischen Staatspräsidenten gemeinsam be-
kräftigt. Die Gerechtigkeit gebietet es übrigens, dar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
auf hinzuweisen, daß zwei Mitglieder dieses Hauses, des Bündnisses 90/GRÜNE)
nämlich Konrad Weiß und Freimut Duve, dies schon Manch einer wäre heute wahrscheinlich froh, wenn
einige Tage vorher an Ort und Stelle getan haben. das, was er dazu früher gesagt hat, aus den Protokol-
(Klein [München] [CDU/CSU]: Und Herr len gelöscht und getilgt wäre. Wollen Sie denn be-
Gauweiler!) streiten, — —
— Ich spreche von den Mitgliedern dieses Hauses. (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie
Diese Solidarität hat ihre Wurzeln in dem dunklen mal was zu Wischnewski!)
Kapitel unserer Geschichte, an das zu erinnern wir — Auch Sie, Herr Zwischenrufer!
gerade jetzt immer wieder Anlaß haben. Diese Solida-
rität ist jetzt in besonderem Maße gefordert, weil sich (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Gerster!)
die Angriffe und Drohungen Saddams gegen ein Land — Das ist der Herr, der sich nicht in die Regierung
richten, das sich selbst mit einer unglaublichen Diszi- abschieben lassen wollte, wie ich heute gelesen habe.
plin an Kampfhandlungen nicht beteiligt und das Sad- Ja, Herr Gerster!
dam deshalb existentiell bedrohen kann, weil Deut-
sche ihm dazu Hilfe geleistet haben — übrigens, wie (Heiterkeit bei der SPD)
wir seit wenigen Tagen wissen, nicht nur bei der
Wollen Sie denn bestreiten, daß im Fall Rabta erst
Gasproduktion, sondern auch bei der Veränderung
amerikanischer Druck und der Aufstand der öffentli-
der Raketen, damit sie eine Reichweite von 800 km
chen Meinung zu Reaktionen geführt haben? Wollen
haben.
Sie bestreiten, daß die Vorlage, die Ihre Regierung
In Anbetracht dieser besonderen, so nur im Fall Isra- nach Rabta eingebracht hat, in der zweiten und dritten
els gegebenen Situation sind wir damit einverstan- Lesung an wesentlichen Stellen verbessert worden
den, daß Israel auf sein Ersuchen hin aus den Bestän- ist? Ist es nicht die Wahrheit, daß erst im Bundesrat die
den der Bundeswehr solche Geräte zur Verfügung sozialdemokratisch geführten Länder, die damals
gestellt werden, die wie die Partiot-Raketen geeignet über eine Mehrheit verfügten, wenigstens einen Teil
sind, bemannte oder unbemannte Flugkörper zu zer- der Verschärfungen, die die Bundesregierung unter
stören, bevor diese ihrerseits tödliche Zerstörungen dem Eindruck von Rabta der amerikanischen Regie-
bewirken, oder die geeignet sind, Giftgas aufzuspü- rung versprochen hatte, wiederhergestellt haben?
ren. Auf die Lieferung von U-Booten kann sich aller-
dings aus den dargelegten Gründen unsere Zustim- (Beifall bei der SPD)
mung nicht erstrecken. Außerdem — ich sage das ganz ruhig, um dadurch
Die Solidarität, von der ich spreche, schließt Mei- die Bedeutung zu unterstreichen — : Die Meldung,
nungsverschiedenheiten — etwa in der Palästinenser daß noch 1989 die Ausfuhr von Raketenteilen in den
Frage oder in der Frage einer internationalen Konfe- Irak bewilligt und zum Teil sogar mit Hermes-Bürg-
renz — nicht aus. Sie schließt aber aus, daß die Bun- schaften abgesichert wurde, ist ja inzwischen sogar
desregierung ihren bisherigen Kurs in der Frage der vom Bundeswirtschaftsministerium im wesentlichen
- bestätigt worden.
Rüstungsexporte und der Behandlung von Verstößen
gegen die Exportverbote fortsetzt.
(Opel [SPD]: Das war alles illegal!)
(Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/
CSU]: Wie war das mit Wischnewski?) Die Tragweite dieses Vorgangs bedeutet, daß, je-
denfalls — ich drücke mich vorsichtig aus — unter
Es ist leider die Wahrheit, wenn ich feststelle: Die Befassung von Bundesbehörden, deutsche Firmen so-
Bundesregierung und die Koalition haben auf diesem gar noch mit Hermes-Bürgschaften daran mitgewirkt
Gebiet bisher Falsches getan und Notwendiges unter- haben, die Reichweite dieser Raketen — darum geht
lassen. es nämlich — so zu verlängern, daß sie Israel errei-
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Wie war das denn chen können. Diese Tragweite ist uns allen noch nicht
bei Ihnen, Herr Justizminister Vogel?) vollständig bewußt.
Sie haben unsere immer wieder erneuten Vorstöße (Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/
und Vorschläge Mal für Mal abgelehnt und — ich CSU]: Dazu wird der Bundeswirtschaftsmini
bedauere, das sagen zu müssen — unseren Kollegen ster Stellung nehmen!)
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Dr. Vogel
Inzwischen ist offenbar ein Sinneswandel eingetre- höchstens den, daß der Waffenhandel noch gefährli-
ten. Aber es genügt nicht, wenn jetzt alle unserer For- cher ist als der Drogenhandel.
derung zustimmen, die Exporteure des Todes, insbe-
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
sondere diejenigen, die Gas, Israelis, also Juden, und
GRÜNE)
Deutsche wieder in einen furchtbaren Zusammen-
hang gebracht haben, wie Schwerverbrecher zu be- Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Regie-
handeln. Es muß in kürzester Zeit entschieden wer- rungserklärung mit der Friedensbewegung beschäf-
den. Der Antrag, den wir vorgelegt haben, gibt dazu tigt. Ich sage freimütig: Mir hat auch nicht a ll es gefal-
schon morgen erneut Gelegenheit. Die notwendigen len, was in den letzten Wochen von Anhängern der
Gesetzesbeschlüsse müssen sofort folgen. Friedensbewegung gesagt oder geschrieben worden
ist. Auch die Frage, warum wir alle — nicht nur die
Als einer, der damals Justizminister war, sage ich: Friedensbewegung — nicht schon bei früheren Gele-
Wenn es möglich war — ich stehe bei a ll er Skepsis genheiten protestiert haben, kann man gewiß nicht
nach wie vor dazu — , ein Kontaktsperregesetz inner- einfach beiseite schieben. Aber es ist nicht fair, die
halb einer Woche durch die Gesetzgebungsorgane zu Frage, warum z. B. gegen den iranisch-irakischen
bringen, dann muß es möglich sein, auf diesem Gebiet Krieg, bei dem eine Mil li on Menschen, darunter viele
in einer vergleichbar kurzen Zeit zu einer Entschei- Kinder, ums Leben gekommen sind, nicht lauthals
dung zu kommen. protestiert wurde, nur an die Friedensbewegung zu
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ richten;
GRÜNE sowie des Abg. Dr. Dregger [CDU/ (Beifall bei der SPD)
CSU])
die müssen wir an a ll e, auch an Sie, auch an uns, rich-
Die bestürzende Äußerung des Präsidenten des ten.
Bundesverbandes der Deutschen Indust ri e, daß es
sich bei diesen Exporten — ich zitiere jetzt wörtlich — (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
um ganz normale Geschäfte gehandelt habe, zeigt, GRÜNE sowie des Abg. Dr. Geißler [CDU/
wie skandalös unzulänglich das geltende, von der CSU])
Mehrheit zu verantwortende Recht ist. Ich hoffe im Was diese kritischen Bemerkungen angeht, so
übrigen zugunsten des genannten Präsidenten, daß er stimme ich ausdrücklich der Kritik des Kollegen Kon-
sich der Tragweite dessen, was er für normal erklärt, rad Weiß aus der Friedensbewegung zu. Auch
bei dieser Äußerung nicht bewußt war. Joschka Fischer hat sich in ähnlicher Weise geäu-
ßert.
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sehr wahr!)
(Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Gysi auch!)
Ich verstehe, daß die Verwicklung deutscher Fir-
men in solche Geschäfte auch im Ausland kritisiert Die generellen Verurteilungen, die in den letzten
wird. Wir sind die letzten, die die Berechtigung sol- Tagen zu hören waren und denen Sie sich, wenn ich
cher Kritik bestreiten, insbesondere wenn sie von es richtig verstanden habe, in der Regierungserklä-
Israel geübt wird. Diese Kritik unserer ausländischen rung gestern leider angeschlossen haben, und insbe-
Freunde wäre — das füge ich hinzu — allerdings noch sondere die Kritik an der Demonstra tion am letzten
überzeugender, wenn unsere Freunde und Verbün- Samstag hier in Bonn muß ich für die deutsche Sozial-
deten auch ihre eigene Politik auf diesem Gebiet einer demokratie jedoch entschieden zurückweisen.
sorgfältigen Prüfung unterziehen würden; (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr.
(Beifall bei der SPD) Modrow [PDS/Linke Liste])
Man kann ja a ll es das, was diese Menschen sagen,
denn Saddams Waffen stammen nun wahrlich nicht
für falsch halten. Aber wer Krieg für etwas Furchtba-
nur aus der Bundesrepublik. Mancher Soldat am Golf
res hält und ihn für seine Person nicht mehr als Mittel
wird sich seine eigenen Gedanken darüber machen,
der Politik akzeptiert, wer dafür eintritt, daß an die
daß er mit Waffen bekämpft und bedroht wird, die aus
Stelle eines schlimmen Übels nicht ein noch schlim-
seinem eigenen Land geliefert wurden. Wahrschein-
meres gesetzt wird, der ist weder ein Feind Israels
lich wäre es gut, jetzt diese Erkenntnis und das starke
noch ein Feind Amerikas,
Engagement der Öffentlichkeit zu nutzen, daß dieser
ganze Komplex nach Ende des Krieges zum Gegen- (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das hat doch kei-
stand einer internationalen Untersuchung und einer ner behauptet!)
internationalen Aktivität gemacht wird.
sondern einer, der seine respektable Meinung zur
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ Kenntnis bringt;
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ (Beifall bei der SPD)
CSU und der FDP)
der spricht aus — ich glaube, auch die, die anderer
Ich kann jedenfalls zwischen dem internationalen Meinung sind, müssen das zur Kenntnis nehmen —,
Drogenhandel, der ja mit zunehmender Entschieden- was viele Menschen bewegt.
heit bekämpft wird, und dem internationalen Waffen-
handel keinen Unterschied erkennen, Weil von der Sorge um das deutsche Ansehen die
Rede war, sage ich: Das deutsche Ansehen ist durch
(Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ die Giftgas- und Waffenlieferanten und durch die be-
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ schädigt worden, die ihnen nicht rechtzeitig das
CSU und der FDP) Handwerk gelegt haben, nicht aber durch junge Men-
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Dr. Vogel
schen, die auf ihre Weise dem Frieden zu dienen ver- Paul Nitze habe ich zitiert — tagtäglich geäußert wer-
suchen. den.
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
dem Bündnis 90/GRÜNE) des Bündnisses 90/GRÜNE)
Zu den Vorgängen im Baltikum hat sich der Bun-
Das sage ich auch gegenüber ausländischen Kritikern
bei allem Verständnis für rasche Bewegungen in den destag am 14. Januar 1991 in einer nahezu einstimmi-
letzten Tagen. gen Entschließung geäußert. Ich bekräftige die dort
ausgesprochene Verurteilung militärischer Gewalt-
Auch unsere ausländischen Freunde müssen sich anwendung, und ich wiederhole den Appell an alle
daran erinnern lassen, daß sie zum Teil noch vor weni- Verantwortlichen, die Konflikte durch f riedliche Ver-
gen Monaten im Zusammenhang mit der deutschen handlungen zu lösen. Niemand könnte es verantwor-
Einigung davor gewarnt haben, daß hier wieder eine ten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen
— wie soll ich mich ausdrücken? — sehr militante, käme. Ich füge übrigens in Parenthese hinzu: Unser
dem Krieg zugeneigte Stimmung entstehen könnte. Blick richtet sich nur auf das Baltikum. Es gibt aber
Unsere ausländischen Freunde müssen uns sagen, auch andere Republiken im Süden der Sowjetunion,
was sie eigentlich kritisieren wollen. Ich bitte unsere wo sich ähnliche Entwicklungen vollziehen.
ausländischen Freunde, auf der Grundlage unserer Ich sage noch einmal: Niemand könnte es verant-
Geschichte zu verstehen, daß sie vor Deutschen, die worten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergie-
sich — wenn mitunter auch mit falschen Parolen — für ßen käme, die Sowjetunion auf die alten Formen der
den Frieden äußern, weniger Sorge zu haben brau- Machtausübung zurückgeworfen würde und Europa
chen als vor dem, was in der Vergangenheit schon in die Zeiten der Konfrontation zurückfiele.
einmal war.
Michail Gorbatschow weiß — da stimme ich dem
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundeskanzler zu — , daß dabei alles auf dem Spiel
der CDU/CSU, der FDP, der PDS/Linke Liste steht, was er bisher bewirkt hat. Ich glaube nach wie
und des Bündnisses 90/GRÜNE) vor nicht, daß dieser Mann sein eigenes Werk zerstö-
ren will. Wir — und nicht nur wir — sollten a lles tun,
Vielleicht kann das die Oppositon — es gibt ja auch um Gorbatschow zu helfen, damit er stark genug
in anderen Ländern ein Zusammenwirken — noch bleibt, um andere an solchen zerstörerischen Aktivitä-
deutlicher aussprechen, als es anderen möglich ist; ten zu hindern. Der Teilabzug sowjetischer Truppen
das wäre auch eine sinnvolle Aufgabenverteilung. aus dem Baltikum, von dem gestern und heute als
Jetzt noch ein Wort zum deutsch-amerikanischen Folge des Treffens in Washington berichtet wird, ist
Verhältnis. Wir fühlen uns dem amerikanischen Volk immerhin ein Zeichen der Ermutigung.
freundschaftlich verbunden. Ihren Darlegungen zur weiteren Entwicklung der
Europäischen Gemeinschaft, zu unserem Verhältnis
(Zuruf von der CDU/CSU: Lafontaine aber
gegenüber den osteuropäischen Ländern und zur
nicht!)
Nord-Süd-Problematik können wir in einer ganzen
Wir haben nicht vergessen Reihe von Punkten zustimmen. In der Tat ist unsere
Verantwortung, die Verantwortung der Bundesrepu-
(Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!) blik, auf diesen Gebieten durch die Ereignisse der
letzten Jahre noch größer geworden. Wir werden al-
— Sie haben leider zuviel vergessen; ich habe Ihnen
lerdings sorgfältig darauf achten — das ist unsere Auf-
gerade im Zusammenhang mit dem Waffenexport ein
gabe als Opposition — , daß den Worten und den An-
Kapitel vorgetragen —,
kündigungen jeweils auch die Konsequenzen, die Ta-
(Beifall bei der SPD) ten folgen.

was Amerika zusammen mit anderen getan hat, um Am Anfang jeder neuen Legislaturperiode stehen
uns und Europa von der Gewaltherrschaft Hitlers zu Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung.
befreien. Wir haben auch nicht vergessen, wie uns Die Koalitionsverhandlungen — das ist mir von Teil-
nach dem Krieg geholfen wurde. nehmern bestätigt worden — waren quälend.
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Namen nen
Wir bejahen das Bündnis. Es bedrückt -uns, daß nen! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Na! Na!)
amerikanische Soldaten und Soldaten anderer Natio-
nen ihr Leben auch deswegen einsetzen und verlie- — Sie waren nicht dabei. Sie kann ich ausnahmsweise
ren, weil der Diktator über ein Potential gebietet, das nicht nennen.
ihm ohne Mithilfe von Deutschen so nicht zur Verfü- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
gung stünde.
Nachdem er dabei war, hat er gesagt, er wolle nicht
Uns steht auch klar vor Augen, welche Last gerade Parlamentarischer Staatssekretär werden. Da will er
die Vereinigten Staaten auf sich genommen haben. nicht reingehen. Das hat er gesagt.
Aber unsere Verbündeten wußten und wissen, wo
nach unserer Verfassung die Grenzen unserer Betei- (Kraus [CDU/CSU]: Ungeheuer beeindruk
ligung an UNO-Maßnahmen liegen. Und niemand hat kend!)
das Recht, denen Antiamerikanismus vorzuwerfen, Die Koalitionsverhandlungen — ich muß es wieder-
die Argumente verwenden und Ansichten äußern, die holen — waren quälend und in der Beliebigkeit, mit
auch in Amerika — selbst bis in den Kongreß hinein; der immer neue Vorschläge präsentiert und auch
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 101

Dr. Vogel
— ich muß es leider so nennen — Schaukämpfe auf- In diesem Punkt stimme ich nun wieder dem „Bayern-
geführt worden sind, keine Werbeveranstaltung. Und kurier" zu.
das vor allem vor dem Hintergrund der bedrohlichen Hinsichtlich der Qualifikation des Herrn Mölle-
Entwicklung am Golf und im Baltikum. Der Eindruck, mann verweise ich auf die Bekundung eines sachver-
jedenfalls Teilen der Koalitionsparteien seien partei- ständigen Zeugen, der heute leider nicht anwesend
politische Streitereien auch in dieser Zeit wichtiger als
ist, aber auf den ich mich gelegentlich berufen kann,
die Befassung mit Krisen, die der Welt den Atem ver-
nämlich die des Grafen Lambsdorff.
schlugen, wird Ihnen noch einige Zeit anhaften.
Inzwischen gehen diese Streitigkeiten aber offen- (Zurufe von der CDU/CSU: Sie waren doch
bar munter weiter. Die Art und Weise, in der das offi- auch Lehrer und dann Justizminister! Was
zielle Organ der Christlich-Sozialen Union gestern soll denn das?)
über Herrn Genscher hergefallen ist, läßt für die Zu- —Ich muß sagen: Ihre geistigen Anstrengungen über-
kunft noch einiges erwarten. Ich verhehle nicht schreiten heute morgen wirklich das bisher Ge-
— auch wenn es da und dort Stirnrunzeln verursachen wohnte. —
sollte — , auf welcher Seite in dieser Auseinanderset-
zung meine persönlichen Sympathien liegen. (Beifall bei der SPD)

(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ Der sachverständige Zeuge Graf Lambsdorff hat näm-
CSU) lich im Zusammenhang mit dieser Personalentschei-
dung, als er sie noch bekämpfte, — —
Ich füge nun mit einem etwas größeren Ernst hinzu,
meine Damen und Herren: Mir ist wohler, daß in die- (Heiterkeit bei der SPD)
ser Situation ein Mann Außenminister ist, der von der
—Beim Grafen ändert sich das ja manchmal. Wenn er
Seite in der Weise angegriffen wird, als wenn do rt ein
Rechtsauskünfte bekommt, dann ändert sich das ja
Mann militanter Auffassungen zwar den Beifall des
auch gelegentlich.
„Bayernkurier", aber nicht den hier im Hause hätte.
Als er sie noch bekämpfte, hat er der Öffentlichkeit
(Beifall bei der SPD und der FDP)
mitgeteilt — das Zitat steht hier zur Abholung gerne
Die Regierung, die Sie, Herr Bundeskanzler, so- zur Verfügung — , daß bei ihm, also dem Grafen, vor
eben gebildet haben, zeichnet sich — das wird Sie allem von seiten kleiner und mittlerer Unternehmen
selbst nicht überraschen — eher durch Quantität aus. massenhaft Protest eingegangen sei und die Frage
Sie zählt insgesamt 19 Mitglieder und bis zur Stunde aufgeworfen worden sei: Ist die FDP verrückt gewor-
— wir kommen mit dem Zählen gar nicht so schnell den? Offenbar hat der Graf keinen Grund gesehen,
nach — insgesamt 58 Parlamentarische und beamtete diese Frage zu verneinen.
Staatssekretäre. Nach den jüngsten Wasserstands-
meldungen sind es also 77 Regierungspersonen. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei
Diese Aufblähung und wunderbare Vermehrung ver- Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)
ursacht einen Mehraufwand in zweistelliger Millio- In die weitere Entwicklung dieser vom Grafen aufge-
nenhöhe, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie von worfenen Frage mischen wir uns nicht ein; aber zitie-
der Notwendigkeit von Einsparungen an anderer ren dürfen wir sie.
Stelle und sogar von Steuererhöhungen reden.
Originell ist auch, Herr Bundeskanzler, die Beru-
Als ärgerlich empfinden es viele auch, daß die Prä- fung des Herrn Kollegen Spranger zum Bundesmini-
senz der Frauen im Kabinett nur durch einen T rick ster für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
verstärkt worden ist, nämlich durch die Dreiteilung
eines Ressorts, dessen Zuständigkeiten schon bisher (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie aber
eher kärglich waren. zu weit!)
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten — Nein, ich gehe nur bis ins protestantische Franken,
der PDS/Linke Liste) Herr Bötsch. — Welche Überlegungen zu dieser Beru-
fung geführt haben, wird Ihr Geheimnis bleiben. Ich
Wenn gerade die Frauen in dieser Dreiteilung einer bin im Zweifel, ob die Länder der Dritten Welt diese
„Lehr-Einheit" eine Geringschätzung sehen Ernennung als Beweis dafür ansehen, daß der Nord-
- Süd-Problematik besondere Bedeutung beigemessen
(Heiterkeit bei der SPD)
wird.
und fragen, ob so etwas auch mit Männern gemacht
worden wäre, dann kann ich das gut verstehen. (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
der PDS/Linke Liste)
(Beifall bei der SPD)
Meine Damen und Herren, gefreut haben wir uns
Von den personellen Entscheidungen — auch dies ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten dar-
zu würdigen ist die Pflicht der Opposition — sind si- über, daß Herr Kollege Schäuble sein Amt fortführt.
cherlich die Berufung des Herrn Kollegen Möllemann
zum Wirtschaftsminister und seine Betrauung mit der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP,
Bekämpfung des Rüstungsexports die originellste beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abge
Entscheidung. ordneten der PDS/Linke Liste)
(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und beim Das setzt ein beachtliches Beispiel und wird viele, die
Bündnis 90/GRÜNE) sich in vergleichbaren Situationen befinden, ermuti-
102 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Vogel
gen, diesem Beispiel zu folgen und nicht aufzuge- — Hören Sie doch in Ruhe zu; es kommt ja alles.
ben. (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sagen Sie ein
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP mal, wo! Einen Satz darüber, wo!)
und beim Bündnis 90/GRÜNE) — Entschuldigung, Herr Gerster, ich bitte, zur Kennt-
Zum innenpolitischen Teil der Regierungserklä- nis zu nehmen, daß ich meine Rede so halte, wie es mir
rung werden sich meine Kollegen und Kolleginnen im paßt, und nicht so, wie es Ihnen paßt.
einzelnen äußern. Ich konzentriere mich auf vier (Beifall bei der SPD)
Punkte: erstens auf die A rt und Weise Ihres Umgangs
mit den Versprechen, die vor der Bundestagswahl Sie haben sich mit allerlei Spitzfindigkeiten und
gemacht wurden, zweitens auf das Fehlen eines Wortklaubereien über den angeblichen Unterschied
zwischen Steuern, Abgaben und Gebühren oder die
schlüssigen Konzepts für die gesellschaftliche Eini-
gung Deutschlands, die jetzt der staatlichen Einigung Gründe für die Steuererhöhungen herauszureden ver-
sucht.
folgen muß, drittens auf die Frage nach der ökologi-
schen Erneuerung unserer Wi rt schaft und unserer Ge- (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Es gibt doch
sellschaft und viertens auf die Frage nach dem, was in Unterschiede!)
den nächsten vier Jahren geschehen muß, um das täg- Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn Sie vor der
liche Wohlergehen der Menschen zu sichern, die uns Wahl im Herbst folgendes gesagt hätten: Wir sind
ja gerade auch deshalb gewählt haben. dankbar, daß die staatliche Einheit gelungen ist und
Vor der Wahl — ich kann das nicht ausklammern — die Zustimmung unserer Nachbarn, Verbündeten und
haben Sie den Menschen in den neuen Bundeslän- Pa rt ner gefunden hat. Aber — so hätte man fortfahren
dern gesagt, es werde niemandem schlechtergehen können — ihre gesellschaftliche Vollendung wird
als zuvor; Sie selber kennen das Zitat. Den Wählerin- noch große Anstrengungen erfordern.
nen und Wählern in den alten Bundesländern haben (Zurufe von der CDU/CSU: Hat er doch ge
Sie gesagt — wörtliches Zitat — : „Keiner wird wegen sagt! — Logisch!)
der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten
müssen." Jede und jeder in der ehemaligen DDR wird den Über-
gang von dem bisherigen System und seiner schlim-
(Austermann [CDU/CSU]: Nein, weniger ha men Hinterlassenschaft zur neuen Ordnung spüren,
ben!) und vielen wird zunächst an Umstellung und an Ver-
— Entschuldigung, vielleicht können Sie sich nachher änderung der Lebensgewohnheiten sowie an existen-
das Zitat in Fotokopie von mir geben lassen. Aber ich tiellen Unsicherheiten eine ganze Menge zugemutet
lese es Ihnen auf Grund Ihres Zwischenrufes auch werden, bevor es dann wirklich aufwärtsgeht.
gerne noch einmal vor. (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat denn der
Oskar gesagt?)
(Hornung [CDU/CSU]: Wer hat denn heute
schon verzichtet? Niemand!) Die Menschen in den alten Bundesländern — so
hätte man weiter sagen können — werden Verzichte
Das Zitat steht im Bulletin der Bundesregierung — das leisten müssen; denn die Teilung kann nun einmal
ist sicherlich keine Fehlmeldung — : nur durch Teilen überwunden werden. Dafür — so
Und für die Menschen der Bundesrepublik gilt: hätte man fortfahren können — sind große Summen
Keiner wird wegen der Vereinigung Deutsch- erforderlich. Wir werden sie in sozial gerechter Weise
lands auf etwas verzichten müssen. nicht nur durch Einsparungen, sondern auch durch
Steuererhöhungen aufbringen. Zu diesem Zweck
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das stimmt wird zunächst die im Grundgesetz vorgesehene Er-
doch! Wer hat denn bisher verzichtet?) gänzungsabgabe erhoben.
— Würden Sie vielleicht etwas Geduld haben? (Beifall bei der SPD)
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie haben bei Das haben wir gesagt. Sie haben das nicht gesagt.
der Wahl auf Stimmen verzichtet! Das ist al- Sie haben uns und vor allem Oskar Lafontaine deswe-
les!) gen kritisiert.
Graf Lambsdorff hat für seine Partei das- gleiche (Zuruf von der CDU/CSU: Sie doch auch!)
erzählt. Er hat sogar vor wenigen Tagen, am 13. Ja- Sie haben die Größe der Aufgabe beschönigt. Ich
nuar, diesmal kurz vor der Wahl in Hessen, noch ein- glaube, das war ein kardinaler Fehler. Denn die Ge-
mal wörtlich beteuert: schichte zeigt: Die solidarischen Kräfte eines Volkes
Es bleibt dabei, daß Steuererhöhungen zur Fi- weckt man nicht, indem man die Lage verschleiert.
nanzierung der deutschen Einheit nicht notwen- Man weckt die Kräfte zu gemeinsamer Anstrengung,
dig sind. indem man den Menschen die Wahrheit sagt und sie
dann an der Anstrengung teilnehmen läßt.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der SPD)
In aller Ruhe sage ich: Das war nicht redlich. Sie
haben diese Versprechen ja auch nicht halten kön- Jetzt hat Sie die Wirklichkeit eingeholt. Die Men-
nen; Sie haben sie gebrochen. schen in den neuen Bundesländern sind desillusio-
niert. Schlimme Parolen, die unter die Menschen ge-
(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP bracht werden, finden leider nicht sofort und hundert-
— Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo denn?) prozentig Ablehnung. Vor allem die Arbeitslosigkeit
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 103

Dr. Vogel
bedrückt sie. Unter Einschluß der Kurzarbeit sind jetzt zentpunkten die Rede ist. Die Beiträge werden um
schon fast 2,5 Millionen Männer und Frauen in den 60 % erhöht. Das ist im Ergebnis, in der Wirkung eine
neuen Bundesländern davon betroffen. Und wir alle Steuer. Denn die Milderung und Überwindung der
wissen: Wenn am 31. März 1991 die Übergangszah- Arbeitslosigkeit, die sich aus der notwendigen Aufar-
lungen für diejenigen auslaufen, die in großer Zahl beitung der schrecklichen Hinterlassenschaft und der
aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden mußten Umstellung ergibt, ist eine Gemeinschaftsaufgabe,
— das geben wir zu — , dann wird die Arbeitslosigkeit die uns alle angeht und die deshalb von uns allen, von
noch einmal steigen. unserem Gemeinwesen insgesamt finanziert werden
müßte. Sie ziehen allein die Arbeitnehmer und ihre
Die Defizite der neuen Bundesländer und ihrer Ge-
Arbeitgeber heran. Warum eigentlich? Warum blei-
meinden sind von Ihnen stets zu niedrig angesetzt
ben denn alle übrigen, etwa die Selbständigen, die
worden. Ich erinnere mich an die Gespräche von da-
Beamten oder die Besitzer großer Vermögen, ver-
mals, als es um den Einigungsvertrag ging. Herr Kol-
schont?
lege Waigel, als Walter Romberg, der sozialdemokra-
tische Finanzminister der damaligen DDR, die Defizite (Beifall bei der SPD)
im Sommer 1990 mit rund 90 Milliarden DM bezif- Wo bleiben diesmal die Krokodilstränen, die Graf
ferte, haben Sie ihn als Defätist bezeichnet und seine Lambsdorff sonst immer vergießt, wenn von der Erhö-
Ablösung gefordert. Heute sprechen Sie selber schon hung der Lohnnebenkosten die Rede ist?
von 115 Milliarden DM. Das ist aber immer noch zu-
wenig. Sonst würden doch die Ministerpräsidenten Gestern sind Sie einen Schritt weitergegangen und
von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die haben selbst erklärt, Herr Bundeskanzler, daß Sie die
Herren Biedenkopf und Gomolka, und der anderen Steuern erhöhen wollen. Sie sagen, diese Steuererhö-
Bundesländer nicht fast täglich vor der unmittelbar hungen seien jetzt wegen des Golfkrieges notwendig
bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Länder geworden.
und Gemeinden warnen. (Hornung [CDU/CSU]: Stimmt das denn
Herr Romberg hat sehr viel mehr Recht gehabt als nicht?)
Sie, und Sie haben seine Ablösung gefordert. Ich will Herr Bundeskanzler, ich drücke mich vorsichtig aus:
diese gedankliche Logik nicht weiterführen, weil ich Ich sehe darin eine Fortsetzung der Vernebelung.
nicht für solche Forderungen bin.
(Hornung [CDU/CSU]: Billiger geht es wirk
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten lich nicht mehr!)
des Bündnisses 90/GRÜNE) Sie wissen doch genauso gut wie wir, daß der Finanz-
Aber das, was Sie heute sagen, Herr Waigel, wird bedarf zur Vollendung der deutschen Einheit den in-
doch von den Herren Biedenkopf, Gomolka, Kühba- folge des Golfkrieges um ein Vielfaches übertrifft. Da
cher, Stolpe usw. als weit hinter der Wirklichkeit zu- ist es doch geradezu peinlich, daß nun der Golfkrieg
rückbleibend beschrieben. als eine Art Ausrede herhalten soll.
Inzwischen sind Sie übrigens natürlich auch dabei, (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
die Steuern zu erhöhen — ich meine nicht die gestrige der PDS/Linke Liste)
Erklärung, sondern die von vorher — , und zwar — das Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen:
beklagen wir zusätzlich — unter Mißachtung der Ge- Die Wählerinnen und Wähler sind nicht mit der Wahr-
bote der sozialen Gerechtigkeit. Was ist denn die Ver- heit bedient worden.
teuerung des Telefonierens anderes als eine Telefon-
steuer, (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na! Na! Lang
sam!)
(Beifall bei der SPD)
Nach dem 2. Dezember 1990 ist das Gegenteil von
die vor allem Menschen trifft, die auf das Telefonieren dem geschehen, was Sie vorher versprochen haben.
angewiesen sind, weil sie sonst vereinsamen? Herr Das Wahlergebnis in Hessen — keiner weiß das bes-
Schwarz-Schilling hat doch mit jeder wünschenswer- ser als Kollege Dregger — war dafür eine erste Quit-
ten Deutlichkeit gesagt, daß er das Geld nicht für die tung.
Zwecke der Post braucht, etwa dafür — was wir befür-
worten würden — , um in den neuen Bundesländern (Widerspruch bei der CDU/CSU)
noch rascher bessere Leitungen zu bauen, sondern - — Sie meinen, Herr Wallmann war schuld an dem
weil ihm höhere Ablieferungen auferlegt worden Wahlergebnis? Ich bin eher anderer Meinung. Ich
sind. Man kann darüber streiten wie ein Advokat, kann mich täuschen. Ich bin sicher: Weitere Quittun-
aber das ist eine Telefonsteuer. Sie sollten das zuge- gen werden folgen. Übrigens spricht vieles dafür, daß
ben. der starke Rückgang der Wahlbeteiligung und die
(Beifall bei der SPD) Verdrossenheit auch hier ihre Wurzel haben
könnte.
Das ist nun eine der Erläuterungen, die Herr Gerster
haben wollte. (Beifall bei der SPD)
Was ich soeben ausgeführt habe, zeigt, daß die Ko-
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber mangel
alition kein schlüssiges Konzept für die Vollendung
haft!)
des deutschen Einigungsprozesses besitzt. Unklar ist
Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden aber nicht nur die Finanzierung dieses Prozesses.
um rund 60 % erhöht. Dies ist die reale Steigerung. Es Ebenso unklar ist auch nach Ihrer gestrigen Regie-
ist immer ein bißchen täuschend, wenn von 2,5 Pro rungserklärung, was nun konkret geschehen soll. Der
104 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Vogel
Eindruck ist, daß die Hilferufe aus den neuen Bundes- — Lieber Kollege Dregger, ich bin mit meinen inzwi-
ländern und gerade auch Ihrer Parteifreunde verhal- schen höheren Jahren gerne für mein Gesicht verant-
len und daß die Menschen in den neuen Bundeslän- wortlich.
dern den Eindruck gewinnen, zu vieles bliebe offen
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist trau
und in zu vielem blieben sie sich selbst überlassen.
rig!)
Unser Konzept versucht klare und realistische Ant-
worten. Ich will die wichtigsten Elemente vortragen. Ich finde es nicht sehr hilfreich, daß wir uns gegensei-
tig unsere Gesichter vorhalten. Mir würde zu man-
Erstens: bessere finanzielle Ausstattung der neuen
Bundesländer und Gemeinden. Wir halten das für chem Gesicht hier auch eine Menge einfallen.
eine Kernfrage. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten Der besonderen Situation Berlins muß bei all dem
der PDS/Linke Liste) Rechnung getragen werden. Alle Probleme des Zu-
Herr Waigel, in aller Ruhe: Wir haben die 70 Milliar- sammenwachsens treten hier in geradezu exemplari-
den DM, die Sie — zugegebenermaßen in einer scher Weise auf. Deshalb braucht Berlin in der näch-
schwierigen Situation — errechnet haben, schon da- sten Zeit, was das Volumen angeht, eher mehr als
mals für absolut unzureichend gehalten. Deswegen weniger Hilfe. Die Zielrichtung dieser Hilfe muß sich
sagen wir: bessere Ausstattung. Wo finden Sie denn allerdings den veränderten Verhältnissen anpassen.
eine Opposition, die sagt, zu diesem Zweck ist sie Ich glaube, es ist gut, daß Sie, Herr Bundeskanzler,
bereit, der Erhebung der Ergänzungsabgabe zuzu- die Frage des Regierungssitzes und Parlamentssitzes
stimmen und sozial gerecht Steuererhöhungen mitzu- nicht angesprochen haben. Ich will Ihrem Beispiel fol-
tragen? gen. Aber ich glaube, eine sich anbahnende Verstän-
digung darüber feststellen zu können — und darum
(Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/
will ich das aussprechen — , daß die Entscheidung bis
CSU]: Ladenhüter!)
zur Sommerpause getroffen und nicht auf unabseh-
Aber dazu bedarf es auch des Verzichts auf Steuer- bare Zeit weiter hinausgeschoben werden sollte. Dar-
senkungen. Herr Bundeskanzler, die geplante Aufhe- auf haben beide Städte einen Anspruch.
bung — Sie haben diesen Punkt gestern übergangen,
aber so steht es in den Koalitionsvereinbarungen — (Beifall bei der SPD)
der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer Zweitens. Spätestens sobald das Bundesverfas-
auch in den alten Bundesländern mit einem Volumen sungsgericht entschieden hat, müssen die boden-
von 6 bis 8 Milliarden DM im Jahr ist in Anbetracht rechtlichen Regelungen des Einheitsvertrages präzi-
dieses Finanzbedarfes und der angekündigten Steu- siert und die Verfahren gestrafft werden. Es ist uner-
ererhöhungen geradezu absurd. Es darf doch nicht träglich, daß Rückgabeansprüche den wirtschaftli-
Steuererhöhungen geben, damit jetzt die Vermögen- chen Aufschwung auf Jahre verzögern können und
steuer oder die Gewerbekapitalsteuer wegfallen ihn schon jetzt verzögern.
kann.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)
des Bündnisses 90/GRÜNE)
Auch da wird mit falschen Alternativen gearbeitet:
Es mag auf der Bundesratsbank mit gemischten Die einen seien für das Recht, und die anderen vertei-
Gefühlen gehört werden, aber ich sage für die Oppo- digten das Unrecht, das die SED und die damals Re-
sition ausdrücklich: Neben dem Bund müssen sich gierenden zu verantworten hätten. Das ist nicht wahr;
auch die alten Bundesländer stärker engagieren, es geht um eine Abwägung. Die Abwägung muß in all
den Fällen, in denen der wirtschaftliche Aufschwung
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
betroffen ist, dazu führen, daß Entschädigung an die
der FDP)
Stelle der Rückgabe tritt.
und zwar die A-, B-, C- und D-Länder. Das ist keine
parteipolitische Frage. (Beifall bei der SPD)

(Hornung [CDU/CSU]: Dazu können Sie ei Den entscheidenden Gemeinden und Landräten muß
nen guten Beitrag leisten! — Zuruf von Mut gemacht werden, indem die neuen Bundesländer
- der
CDU/CSU: Vielleicht erst für Salzgitter die finanzielle Haftung dafür übernehmen, wenn sie
nachzahlen!) eine solche Entscheidung treffen. Und es muß mit
Sofortvollzug gearbeitet werden.
Meine Damen und Herren, ich habe immer gedacht,
Sie haben die äußerste Höhe Ihrer geistigen Möglich- Drittens. Die Verwaltung in den neuen Bundeslän-
keiten schon erreicht. Aber es geht immer noch hö- dern muß so rasch wie möglich voll handlungsfähig
werden. Dafür bedarf es wirksamerer Anreize für Ver-
her.
waltungskräfte aus den alten Bundesländern, vor-
(Zustimmung bei der SPD — Dr. Dregger übergehend oder für immer in die neuen Bundeslän-
[CDU/CSU]: Diese Arroganz!) der überzuwechseln. Dem Dank, den Sie ausgespro-
chen haben, schließe ich mich an. Aber wir wissen,
— Bei mir sind Zwischenrufe erlaubt. Nur zu!
daß materielle Dinge hier eine Rolle spielen. Mir ist es
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Warum rea lieber, wir geben mehr Geld aus, und die Verwaltun-
gieren Sie dann so sauer? — Dr. Dregger gen drüben werden endlich handlungsfähig; denn
[CDU/CSU]: Mein Gott, dieses Gesicht!) handlungsfähige Verwaltungen sind auch eine unab-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 105
Dr. Vogel
dingbare Voraussetzung für den wirtschaftlichen Auf- Ich möchte, daß wir in diesem Punkt möglichst dicht
schwung. beieinander bleiben.
Außerdem glaube ich, wir kommen überhaupt nicht Achtens. Ein breiter Dialog in Gesamtdeutschland
darum herum: Die Vergütung muß auch für diejeni- ist bisher nur in Ansätzen in Gang gekommen. Wir
gen erhöht werden, die im Verwaltungsdienst der halten den Prozeß, der im Einklang mit dem Eini-
neuen Bundesländer tätig sind. Diese 35 To sind auch gungsvertrag aus dem Grundgesetz die endgültige
eine Bremse. Verfassung der größeren Bundesrepublik werden las-
sen soll, für ein wichtiges Mittel, diesen Dialog zu ver-
(Beifall bei der SPD) breitern und zu verstärken. Meine Damen und Her-
Viertens: absoluter Vorrang für die Finanzierung ren, die intensive Mitwirkung gerade der Menschen
der Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur. in der ehemaligen DDR und die abschließende In-
kraftsetzung der Verfassung durch eine Volksabstim-
Fünftens: Auflegung umfassender Programme zur mung können bewirken, daß sich diese Menschen
Qualifizierung, Fortbildung und Umschulung sowie nicht mehr allein als Aufgenommene verstehen, die
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Beschäftigung zu etwas schon Fertigem und nicht mehr Beeinflußba-
derer, denen Arbeitslosigkeit droht oder die schon rem hinzutreten, sondern als Bürgerinnen und Bürger,
arbeitslos sind. Wir können doch wohl übereinstim- die mit uns gemeinsam die deutsche Einigung vollen-
men, wenn ich sage: Jede Mark, die hier eingesetzt den und die Konstitution dieses neuen Deutschland
wird, bewahrt Menschen vor Hoffnungslosigkeit und mitgestalten und ihre Erfahrungen in diese Konstitu-
steigert auch bereits kurzfristig die Produktivität. tion einbringen.
Sechstens: Erarbeitung eines längerfristigen Pro- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
gramms zum Abbau der ökologischen Altlasten in der des Bündnisses 90/GRÜNE — Hornung
Reihenfolge, die sich aus dem Maße ihrer Gefährlich- [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Die
keit für Mensch und Natur ergibt. Wir wissen, daß die haben doch das Grundgesetz gewählt! Die
schlimme Hinterlassenschaft des SED-Regimes auf wollten doch zu uns kommen!)
diesem Gebiet nicht von heute auf morgen bewältigt
werden kann. Dazu gehört aber, daß man diesen Prozeß ernst nimmt
und nicht nur als eine von jenen Grundgesetzände-
Siebtens. Das gilt auch für die noch schlimmeren rungen ansieht, wie sie immer wieder einmal vorkom-
Zerstörungen, die das Regime mit seinem menschen- men. So aber klang es gestern in der Regierungserklä-
verachtenden Stasi-Praktiken hinsichtlich des wech rung.
selseitigen Vertrauens in die Gesellschaft und der
Selbstachtung derer ange ri chtet hat, die ihm in die Was ich über das Verfassungsrecht sagte, gilt auch
Hände gefallen sind. Hier sollten wir aus den alten für die Erneuerung des Schwangerschaftsrechtes, die
Bundesländern uns zurückhalten und uns von denen den Schutz des vorgeburtlichen Lebens nicht mit
raten lassen, die das selbst über Jahrzehnte am eige- strafrechtlichen Mitteln, sondern mit Rechtsansprü-
nen Leib erfahren haben. Ich folge denen aus den chen auf Hilfe und Beratung und einer Veränderung
neuen Bundesländern, die uns sagen: Die Rehabilita- des Bewußtseins in unserer Gesellschaft erreichen
tion der Opfer muß an erster Stelle stehen; die bishe- will.
rigen Rehabilitationsvorschriften sind ungenügend. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE und der FDP)
der CDU/CSU und der FDP) Auch hier ist ein breiter, die Menschen in den neuen
Bundesländern einschließender Dialog die Vorausset-
Auch muß verhindert werden, daß ehemalige Stasi
zung dafür, daß eine breit akzeptierte Lösung gefun-
Offiziere — ob im besonderen Einsatz oder nicht im
den wird.
besonderen Einsatz, ob gesellschaftliche Kräfte oder
andere Kräfte — ihre destruktive Arbeit unverändert Herr Bundeskanzler, Sie haben auf der Grundlage
fortsetzen können, indem man ihren Denunziationen der Entspannungs-, Ost- und Deutschlandpolitik Ihrer
Gehör schenkt oder ihnen angebliches Mate rial ab- sozialdemokratischen Vorgänger ihren Beitrag zur
kauft, um es zu innenpolitischen Zwecken nutzen zu Herstellung der staatlichen Einheit geleistet. Ich
können. halte es für ein Gebot der Fairneß, das hier an dieser
-
Stelle auszusprechen. Gerade deshalb appelliere ich
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten aber an Sie, sich persönlich für eine ungehinderte und
des Bündnisses 90/GRÜNE) breite Verfassungsdiskussion einzusetzen. Niemand
Wir in den alten Bundesländern sollten uns bei all muß doch im Ernst befürchten, daß dabei die großen
dem vor pharisäerhaften Urteilen hüten, und wichtigen Errungenschaften des Grundgesetzes,
zu denen wir alle beigetragen haben, angetastet wer-
(Sehr gut! bei der CDU/CSU) den oder sogar auf der Strecke bleiben.
insbesondere auch über diejenigen, die mit den (Beifall bei der SPD)
Staatsorganen der ehemaligen DDR in Kontakt stan-
den, weil sie nur so etwas bewirken und Bedrängten Im übrigen besteht unsere Bereitschaft zur Zusam-
helfen konnten. menarbeit bei der Vollendung der deutschen Einheit
auch in anderen damit zusammenhängenden Fragen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fort. Es liegt an Ihnen, ob eine solche Kooperation
der CDU/CSU, der FDP und des Bündnis zustande kommt. Wenn nicht bereits andere Motive
ses 90/GRÜNE) dafür ausreichen, sollte jedenfalls ein Blick auf die
106 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Vogel
Zusammensetzung des Bundesrates die richtige Ant- für eine Kinderhilfe im Hause vom Staat über
wo rt nahelegen. 9 500 DM erstattet bekommt, während der Normal-
verdiener noch nicht einmal die Kindergartenbeiträge
Jeder versteht, daß die Sorge um den Golfkrieg und
für den Kindergartenplatz von der Steuer abziehen
um die Entwicklung im Baltikum und in der Sowjet-
kann. Das ist doch ungerecht!
union die politische Aufmerksamkeit fast vollständig
beansprucht. Schon die Probleme der deutschen Eini- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
gung treten dahinter im Augenblick stärker zurück, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/
als es ihrer Bedeutung für Millionen von Menschen GRÜNE)
entspricht. Deshalb habe ich diese Probleme ausführ- Ich will noch etwas ansprechen — ich weiß, wie
licher angesprochen. Wir dürfen aber auch die ande- schwierig das ist, und man kann das auch nicht
ren innenpolitischen Aufgaben nicht vergessen, von schwarzweiß darlegen — : Es geht darum, wer die we-
deren Bewältigung das Wohlergehen unseres Volkes gen der Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetra-
in besonderem Maße abhängt. Wir dürfen auch nicht ges zuviel gezahlten Steuern zurückbekommt. Ich
so tun, als ob es in den alten Bundesländern nicht auch klage Sie wegen der Verfassungswidrigkeit gar nicht
zu verbessern, zu verändern und zu reformieren an. Ich weiß ja, wann das Gesetz gemacht worden ist.
gäbe. Ich spreche von der Rückerstattung. Nur der bekommt
(Beifall bei der SPD) die zuviel gezahlten Steuern zurück, der sich einen
Steuerberater leisten kann oder eben, weil er dem
Dazu gehören die ökologische Erneuerung unserer Staat mißtraut, in jedem Fall von vornherein Ein-
Wirtschaft und die substantielle Verminderung des
spruch einlegt. Das ist doch nicht das letzte Wo rt. Das
Energieverbrauches. Die Golfkrise hat die Notwen- kann doch nicht so bleiben. Sie laufen nämlich auch
dikgeit, unsere Abhängigkeit vom Öl zu verringern, Gefahr, Herr Finanzminister, daß jeder Steuerzahler
übrigens noch zusätzlich unterstrichen. Unsere Vor- in Zukunft vorsorglich alle Rechtsmittel ausschöpft,
schläge liegen auf dem Tisch. weil er dann bei Rückerstattungen dabei ist, während
Weiter gehören dazu aber auch das Zuwanderungs- der Gesetzesgläubige der Dumme ist.
problem, dessen Lösung — wenn ich es richtig ver- (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
standen habe — bei den Koalitionsverhandlungen
der PDS/Linke Liste)
eher ausgeklammert wurde, und die Pflegeproblema-
tik, deren Regelung Sie vertagt haben, obwohl die Sie Herr Bundeskanzler, haben gestern auf solche
Zahl der Pflegebedürftigen ständig steigt und der Feststellungen einmal mehr mit dem Vorwurf geant-
Pflegenotstand andauert. Wir sind ja bereit, der Einla- wortet, hier äußere sich der Sozialneid. Herr Bundes-
dung zu folgen, an einer erneuten Diskussion teilzu- kanzler, meine Kritik geht von einem aus, der ja von
nehmen. Aber, Herr Bundeskanzler, auf diesem Sek- diesen unmöglichen Bestimmungen begünstigt wird.
tor fehlt es doch nicht an der breiten Diskussion, son- Ich könnte ja, wenn ich wollte, von der Steuerbegün-
dern daran, daß es für die vernünftige Lösung deshalb stigung Gebrauch machen. Ich habe natürlich auch
keine Mehrheit gibt, weil sich Ihre Koalition auf diese einen Steuerberater, der dafür sorgt, daß die Dinge
vernünftige Lösung bisher nicht einigen konnte. berücksichtigt werden. Das ist doch nicht Sozialneid.
Ich spreche doch für andere, nicht für mich.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Trotzdem sind wir zur Diskussion bereit.
Lassen Sie sich bitte sagen: Wer das Streben nach
Ich nenne die Wohnungsnot, die den Menschen im Gerechtigkeit als Neid herabsetzt, der läßt erkennen,
Osten und im Westen unseres Landes zunehmend zu daß er ein Grundelement unseres Zusammenlebens
schaffen macht und die durch Fehlentscheidungen in geringer achtet, nämlich eben die Gerechtigkeit,
den vergangenen Jahren zusätzlich verschärft wor-
den ist. Auch hier laufen die halbherzigen Außerun- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
gen der Koalitionsvereinbarungen und der Regie- GRÜNE — Hornung [CDU/CSU]: So einfach
rungserklärung im Ergebnis auf eine Vertagung und ist das nicht!)
damit eher auf ein Laufenlassen hinaus. Denn diese von der übrigens schon Augustinus gesagt hat — da-
20-Prozent-Entscheidung ist ja nun wirklich auch mit Sie sich nicht wieder aufregen: ich zitiere ihn —,
nicht Fisch und nicht Fleisch. die Staaten seien Räuberbanden, wenn sie der Ge-
- rechtigkeit entbehrten. Und deswegen kämpfen wir
Dann erwähne ich den drohenden Verkehrsinfarkt,
der sich durch immer häufigere und umfassendere für Gerechtigkeit!
Verkehrszusammenbrüche ankündigt und schon jetzt (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Er
Millionen von Menschen täglich das Leben vergällt! hat nur Neue Heimat und Co op dabei ver
Auch die Gleichstellung der Frauen ist noch immer gessen! — Hornung [CDU/CSU]: Ja, da gibt
weit von ihrer Realisierung entfernt. es eine ganze Menge Beispiele!)
Wir werden dabei vor allem auch für die soziale Die Koalitionsvereinbarungen und der Start der
Gerechtigkeit kämpfen. Sie konfrontieren uns immer Bundesregierung sind auf breite Kritik gestoßen, und
wieder mit schlimmen Verstößen gegen diese Gerech- zwar bis hin zu Zeitungen, in denen wir das üblicher-
tigkeit. Einige habe ich schon genannt. Ein weiteres weise nicht feststellen können: „Niederschmetternd
schlimmes Beispiel ist die Ausweitung der Steuerver- mittelmäßig", „Der Start ist mißglückt", „Mit Ge-
günstigung für Hilfen in Privathaushalten. Sie werden burtsfehlern — Kabinett ohne Glanz", „Ohne Phanta-
niemandem klarmachen können, Herr Bundeskanz- sie und Mut", „Auf langer Talfahrt" gehören dabei
ler, es sei gerecht, daß jemand mit 240 000 DM im Jahr noch zu den milderen Urteilen. Es wird niemanden
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 107

Dr. Vogel
verwundern, daß wir Sozialdemokraten zu keinem und einige Passagen, denen ich mit Vergnügen zuge-
anderen Ergebnis kommen. hört habe.
(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ihr kommt zu (Zuruf von der SPD: Das ist etwas ganz
gar keinem Ergebnis!) Neues!)
Unsere Konsequenz ist aber, daß wir unsere Alterna- — Das steht auch nicht im Widerspruch dazu. Ich
tiven noch sorgfältiger entwickeln. möchte feststellen, daß Sie es nicht leicht haben. Ich
(Bohl [CDU/CSU]: Sie haben noch nicht ein nehme an, daß Sie dieser Feststellung zustimmen.
mal die Führungsstruktur in Ihrer Fraktion
geregelt!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Dr. Vogel
[SPD]: Wer hat's denn schon leicht? — Zuruf
— Nun kümmern Sie sich mal nicht um unsere Füh- von der SPD: Mit Ihnen haben wir es nicht
rungsstruktur. Wir machen so etwas in zehn Tagen. leicht!)
Gucken Sie einmal, wie das anderswo zugeht!
Sie sollen die Opposition anführen mit einer Partei im
(Beifall bei der SPD) Rücken, die in allen existentiellen Fragen der deut-
Kümmern Sie sich mal nicht um alles, Herr Bohl! schen Nation zerstritten ist.
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Doch, Sie küm (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei
mern sich ja auch!) der SPD)
Schauen Sie mal, daß Ihre Leute an der richtigen
„SPD in der Bewertung des Golfkriegs heillos zerstrit-
Stelle klatschen und nicht immer die Zurufe erst kom-
ten" ,
men müssen, also bitte!
(Beifall bei der SPD) (Hornung [CDU/CSU]: Und zwar öffent
lich!)
Es wird niemanden verwundern, daß wir zu keinem
anderen Ergebnis kommen. Unsere Konsequenz ist, so eine aktuelle Überschrift in einer der heutigen Ta-
daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwik- geszeitungen.
keln und noch nachdrücklicher vertreten werden. Un- Was für die Bewertung des Golfkriegs gilt, galt auch
sere Aufgabe — die Aufgabe und Funktion der Oppo- für die Bewertung der Chancen, die sich nach dem
sition — ist noch wichtiger geworden. Wir können 9. November 1989 für die Verwirklichung der deut-
nicht an Stelle der Regierung oder der Mehrheit han- schen Einheit boten. Es lag gewiß nicht an der man-
deln, aber wir haben vielfältige Möglichkeiten, auf die gelnden Kooperationsbereitschaft der Bundesregie-
Meinungsbildung und den Entscheidungsprozeß Ein- rung, von der Sie gesprochen haben, wenn die SPD in
fluß zu nehmen. Immer wieder erleben wir ja auch, dieser historischen Stunde der deutschen Geschichte
daß uns Dinge, die wir gegen Ihren Widerstand vor- keine einheitliche Position gefunden hat und nicht mit
schlagen, nach einiger Zeit als Mitteilungen, als alte Nachdruck für die Verwirklichung der Einheit zu dem
Bekannte, in der Regierungserklärung begegnen, Zeitpunkt eingetreten ist, zu dem sie möglich war.
zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für EG-Aus-
länder. Das ist ein alter Bekannter; er sei herzlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
begrüßt! Zurufe von der SPD)
(Beifall bei der SPD) Herr Dr. Vogel, Sie sollen die Opposition gegen
Wir werden all diese Möglichkeiten nutzen, damit eine Regierung anführen, die sich zwar von Zeit zu
die Politik korrigiert wird, damit Schaden von unse- Zeit von der deutschen oder internationalen Presse in
rem Volk abgewendet wird und damit Frieden, Ge- die Mangel nehmen läßt — daß der Zeitpunkt der
rechtigkeit, Freiheit und Solidarität die zentralen Koalitionsverhandlungen dafür besonders geeignet
Grundwerte unseres Gemeinwesens bleiben — im ist, wissen wir auch noch aus einer Zeit, in der die SPD
Streit, wo immer notwendig, im Zusammenwirken, wo an solchen Koalitionsverhandlungen beteiligt war —,
immer möglich. Als die älteste demokratische Partei von der sich dann aber immer schnell herausstellt, daß
Deutschlands kennen wir unsere Verantwortung. Wir sie die erfolgreichste Regierung in Europa ist.
wollen dieser Verantwortung gerecht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD Nach acht Jahren der Kanzlerschaft von Helmut
sowie Beifall bei Abgeordneten der PDS/- Kohl ist Deutschland wiede rvereinigt.
Linke Liste und des Bündnisses 90/
GRÜNE) (Lachen bei der SPD)
— Das haben wir nicht durch Gelächter geschafft, son-
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- dern durch aktive Politik für die deutsche Einheit!
ordnete Dr. Dregger. Nach acht Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl ist
die Wirtschaft im Westen Deutschlands in bester Ver-
(Abgeordnete der SPD verlassen den Saal — fassung, haben die neuen Bundesländer trotz aller
Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Bleibt da, da könnt Schwierigkeiten eine gute Chance eines wirtschaftli-
ihr noch was lernen!) chen Aufschwungs, ist das soziale Netz wieder gefe-
stigt und sind wir Vorreiter des Umweltschutzes in
Europa. Auf diese und andere Erfolge sind wir stolz.
Dr. Dregger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Wir werden unsere bewährte Politik fortsetzen.
Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, es gab Fest-
stellungen in Ihrer Rede, denen ich zustimmen kann, (Zustimmung bei der CDU/CSU)
108 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Dregger
Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers weist setzt sich der wirtschaftliche Aufschwung dagegen
den Weg. fort — nicht trotz, sondern wegen der Wiedervereini-
Wir leben in einer schwierigen Phase der internatio- gung. Die deutsche Einheit ist das beste Konjunktur-
nalen Politik. Die Gewaltanwendung sowjetischer programm, das sich denken läßt.
Truppen gegen die baltischen Republiken und der (Dr. Vogel [SPD]: Ja, für den Westen!)
Krieg in der Golfregion sollten auch der Opposition Die westlichen Bundesländer haben ihretwegen Steu-
die Augen geöffnet haben. Recht und Sicherheit, ermehreinnahmen, weit über die bisherigen Schät-
Freiheit und Einheit werden den Völkern nicht ge- zungen hinaus. Sie sollten diese Mehreinnahmen mit
schenkt. Sie müssen in der politischen Praxis erarbei- den neuen Bundesländern teilen, und zwar sofort und
tet und gegen alle negativen Einflüsse verteidigt wer- nicht erst 1994.
den. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, der sich nie-
mand entziehen kann oder entziehen sollte. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Die deutsche Politik in der vor uns liegenden Legis-
laturperiode steht daher unter einem zentralen Gebot: Herr Kollege Schauerte hat im Landtag von Nord-
dem Gebot der Solidarität. Der Bundeskanzler hat das rhein-Westfalen bemerkenswerte Ausführungen zum
gestern in seiner eindrucksvollen Regierungserklä- Verhältnis von Steuermehreinnahmen der westdeut-
rung im einzelnen begründet. schen Länder und Gemeinden zu ihren Aufwendun-
gen für die deutsche Einheit gemacht. Danach über-
Meine Damen und Herren, in der Tat geht es in steigen nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern
der deutschen Politik um Solidarität: Solidarität in auch in anderen Bundesländern die einigungsbeding-
Deutschland, Solidarität in Europa und Solidarität in ten Mehreinnahmen erheblich die einigungsbeding-
der Welt. ten Mehrausgaben.
(Zuruf von der SPD: Und auf dem Mond!) Ich sage das ohne Vorwurf, aber mit der deutlichen
Zur Solidarität in Deutschland: Viele Menschen in Aufforderung an Länder und Gemeinden in West-
Deutschland sind verunsichert. Zu lange hat es am deutschland, sich nun zu einer großen und wirkungs-
parteiübergreifenden Gesamtwillen zur Einheit ge- vollen solidarischen Leistung an die Länder und Ge-
fehlt. Die SPD im Westen hat den Einigungsprozeß meinden im Gebiet der bisherigen DDR zu entschlie-
des Jahres 1990 mehr erlitten als miterkämpft. ßen.
(Hornung [CDU/CSU]: Und verzögert!) (Beifall bei der CDU/CSU)
Darunter leidet die SPD noch heute. Meine Damen und Herren, es kann doch nicht sein,
daß in den alten Bundesländern noch die letzte Stadt
(Bohl [CDU/CSU]: So ist es!) ihr sogenanntes modernes Spaßbad bekommt, wäh-
Sie, meine Damen und Herren der SPD, hatten — wie rend Dresden und die Ostseestädte zerfallen.
viele Äußerungen Ihres Kanzlerkandidaten und sei- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie
ner Mitstreiter zeigten — bei Abgeordneten der FDP und des Bündnis
(Bohl [CDU/CSU]: Wo ist der eigentlich?) ses 90/GRÜNE)
nicht begriffen, daß unsere nationale Frage für Wir sind ein Volk und ein Land; Wohlstandsunter-
16 Millionen Menschen zugleich die soziale Frage schiede im jetzigen Ausmaß sind nur auf sehr be-
gewesen ist. grenzte Zeit erträglich. Ich unterstreiche, was der
Bundeskanzler gestern gesagt hat — ich zitiere ihn — :
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord „ ... müssen wir in dieser Legislaturperiode zu einer
neten der FDP) Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
Ihnen hat es daher damals nicht nur an politischem kommen, die ... auch die neuen Bundesländer voll
Weitblick gefehlt, sondern ein Stück weit auch an der einschließt" .
Solidarität mit den Unterdrückten. Auch die Sozialpartner sind gefordert. Sie sollten
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — bei ihren Tarifverhandlungen auf zwei Gefahren-
Bohl [CDU/CSU]: So ist es, jawohl!) punkte Rücksicht nehmen. Erstens. Der Abstand der
Realeinkommen zwischen Ost und West darf sich
Oder ging es der SPD und anderen Kritikern zu
- Fenster nicht vergrößern; er muß abgebaut werden. Sonst lau-
schnell? Heute sehen doch wohl alle, daß das fen wir Gefahr, daß immer mehr Arbeitnehmer aus
zur deutschen Einheit nur für kurze Zeit offenstand. den neuen Bundesländern in die alten abwandern.
Dafür, daß Helmut Kohl die unwiederbringliche
Zweitens. Die Einkommensentwicklung in der ehe-
Gunst der Stunde genutzt hat, sollten wir alle ihm maligen DDR muß sich im Rahmen der Produktivitäts-
dankbar sein. entwicklung halten. Geschieht das nicht, dann wer-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den die Konkurse und die Arbeitslosigkeit in den
Die Solidarität muß auch — und damit greife ich neuen Bundesländern zunehmen.
eine Forderung von Jochen Vogel auf — das Verhält- Ich nenne nur die Stichworte „Erfolgsbeteiligung",
nis zwischen den alten und den neuen Bundeslän- „Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand" und „So-
dern bestimmen. Die alten haben dazu auch deshalb lidaritätspakt aller gesellschaftlich wichtigen Grup-
Anlaß, weil sie in mancherlei Hinsicht von der Wie- pen", um deutlich zu machen, daß die von mir gefor-
dervereinigung profitieren. Nahezu überall in der derte Rücksichtnahme durchaus in sozial verträgli-
westlichen Welt gibt es Anzeichen nachlassender cher Weise verwirklicht werden kann. Das muß auch
Konjunktur, ja der Rezession. Im alten Bundesgebiet bei den jetzigen Tarifverhandlungen für den öffentli-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 109
Dr. Dregger
chen Dienst berücksichtigt werden. Die Finanzwirt- Steuererhöhungen sind nicht das erste, sondern das
schaft der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden letzte Mittel, um den Haushaltsausgleich herbeizu-
ist auf das äußerste angespannt. Wer das alles igno- führen. Wir begrüßen es daher, daß der Bundesfinanz-
riert, handelt unsolidarisch und gefährdet den Eini- minister für 1991 einen Haushaltsentwurf ohne Steu-
gungsprozeß, ererhöhungen vorlegen will. Erst wenn wir Dauer und
Kosten des Golfkrieges sowie unsere Beiträge für die
(Dr. Vogel [SPD]: Richtig!) Entwicklung in Ostmitteleuropa, in Südosteuropa und
indem er den noch nicht sehr leistungsfähigen Unter- in der Sowjetunion einigermaßen übersehen, können
nehmen und Verwaltungen in den neuen Bundeslän- wir eine verantwortbare Entscheidung zur Steuerpoli-
dern die Grundlage entzieht. tik treffen.

Daß wir in den Bereichen der Sozialversicherung, (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
Herr Kollege Vogel, in denen Überschüsse erzielt neten der FDP — Zurufe von der SPD)
werden, z. B. in der Rentenversicherung, die Beiträge Die politische Teilungsgrenze ist gefallen. Jetzt
senken, hatten Sie zu erwähnen vergessen. geht es darum — auch darin stimme ich mit Herrn
Vogel überein — , die vielen Barrieren zu überwin-
(Dr. Vogel [SPD]: Das geht auf Kosten der
den, die uns immer noch trennen. Das gilt für die Ver-
Reserven!)
kehrsbarrieren ebenso wie für die Bar rieren im Kom-
Daß wir dort, wo wegen der schlechten Wirtschafts- munikationswesen, einem Bereich, in dem die Deut-
lage in den neuen Bundesländern Defizite entstehen, sche Bundespost bzw. das Unternehmen Telekom zur
nämlich in der Arbeitslosenversicherung, die Beiträge Zeit Hervorragendes leistet. Das gilt noch mehr für die
anheben, ist systemgerecht und, wie ich meine, auch geistigen Barrieren in unseren Köpfen. Um sie abzu-
angemessen. bauen, sind Einfühlungsvermögen und Takt, auch
Mut auf beiden Seiten gefragt.
(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Die anderen
werden Sie auch wieder anheben!) Für die Deutschen in den alten Bundesländern be-
steht kein Anlaß zu Überheblichkeit und Besserwisse-
Erfreulich ist die Tatsache, daß die Neuverschul- rei. Wäre die Geschichte anders verlaufen, wäre nicht
dung des Bundes im Jahre 1990 nicht, wie bisher Mitteldeutschland, sondern Westdeutschland in die
erwartet, 67 Milliarden DM, sondern 50 Milliarden Hand der Kommunisten gefallen, dann wären heute
DM beträgt. Aber auch 50 Milliarden DM sind für die die Westdeutschen auf die Hilfe der Mitteldeutschen
Bundesrepublik Deutschland eine große Summe, die angewiesen.
das Einstehen des Bundes für den Bedarf der neuen
Bundesländer deutlich macht. Um einen Vergleich zu (Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)
haben: die Nettoneuverschuldung des Bundes ist von Daß es heute so ist, wie es ist, sollte die Westdeutschen
1989 bis 1990 immerhin von 19 Milliarden DM auf ca. freuen; denn Hilfe zu leisten ist gewiß schöner, als auf
50 Milliarden DM gestiegen. Hilfe angewiesen zu sein.
Die Opposition erweckt seit Monaten den Eindruck, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
daß sie Steuererhöhungen geradezu herbeisehnt. bei Abgeordneten des Bündnisses 90/
Man kann die Steuerpolitik auch zum Anfachen des GRÜNE)
Sozialneids mißbrauchen. Wer den Sozialneid hier
wie in der alten DDR anheizt, nützt niemandem, am Herr Engholm hat in einem Gespräch mit der Main-
wenigsten dem sogenannten kleinen Mann. Sozial- zer „Allgemeinen Zeitung", nachzulesen in der Aus-
neid lähmt; zur solidarischen Hilfe, auf die es an- gabe vom 17. Januar, zur Berufung des Kollegen Ort-
kommt, motiviert er nicht. Ich empfehle Ihnen, meine leb zum neuen Bundesminister für Bildung und Wis-
Damen und Herren von der SPD, noch einmal den senschaft gesagt — ich zitiere —, ob jemand dieser
Beitrag nachzulesen, den Ihr Mitglied Professor Karl Aufgabe gewachsen sei, der 40 Jahre lang in einem
Schiller bei der Anhörung vor dem Ausschuß Deut- völlig anderen System gelebt habe, müsse sich erst
sche Einheit am 7. November 1990 geleistet hat. Es noch erweisen. Ich frage Sie: Wie sollen wir nach
war auch eine eindrucksvolle Warnung vor dem So- 40 Jahren zueinander finden, wenn allein die Her-
zialneid im Gewand der Steuerpolitik. kunft aus der ehemaligen DDR Grund genug ist,
- (Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Den hört von de
nen keiner mehr!) einem Kollegen aus Rostock die Kompetenz abzuspre-
chen?
Ich meine, auch für 1991 sollten der Bund, die west-
deutschen Bundesländer und ihre Gemeinden alles (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
tun, um ihre Ausgaben und die damit verbundene bei Abgeordneten der SPD, der PDS/Linke
Neuverschuldung in Grenzen zu halten. Daß Nord- Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE und
rhein-Westfalen für 1991 Mehrausgaben von nahezu Beifall auf der Regierungsbank)
7 % plant, Das war ein schlimmer Mißgriff des designierten SPD
(Hornung [CDU/CSU]: Für was denn?) Vorsitzenden. Deswegen habe ich ja so viel Mitgefühl,
Herr Kollege Vogel, zu Beginn meiner Rede zum Aus-
ist, wie ich meine, in dieser Situation absolut unange- druck gebracht.
messen.
(Dr. Vogel [SPD]: Immer dieses Mitgefühl!
(Beifall bei der CDU/CSU) Wo sind wir denn?)
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Dr. Dregger
Die deutsche Einheit auch sozial und ökonomisch diesem wird dieser mit Zustimmung der Sowjetunion
zu vollenden, das ist die große innenpolitische Auf- geführt.
gabe der nächsten Jahre. Aber wir vernachlässigen (Zuruf von der CDU/CSU: Mit Zustimmung
deshalb nicht andere drängende Reformaufgaben. aller!)
Ich nenne: Hilfen für Familien und Alleinstehende mit
Kindern, die weitere Verbesserung unserer Umwelt Das ist das Neue, seitdem der Ost-West-Konflikt — ich
und die Einführung einer Pflegeversicherung. Diese will es einmal vorsichtig ausdrücken — gedämpft
Reformen kommen den Deutschen in beiden Teilen ist.
Deutschlands zugute. Die Welt ist jedenfalls nicht mehr geprägt von der
Zur Familienpolitk: Wir werden das Erziehungs- bipolaren Spannung zwischen den beiden Super-
geld zum 1. Januar 1993 um weitere sechs Monate auf mächten. Das hat die Vereinten Nationen handlungs-
zwei Jahre verlängern. fähig gemacht. Deshalb konnte der Sicherheitsrat Be-
schlüsse fassen, während er früher vom Veto blockiert
(Frau Dr. Götte [SPD]: Viel zu spät!) wurde. Deshalb konnten die USA nach dem Überfall
Der Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie des Irak auf Kuwait zusammen mit Europäern, Ara-
wird zum 1. Januar 1992 auf drei Jahre ausgeweitet. bern, mit asiatischen Staaten, mit Kanada und Austra-
Hinzu kommen wesentliche Verbesserungen beim lien im Auftrage der UNO eine strategische Gegen-
Kindergeld und bei den Kinderfreibeträgen. konzentration gegen Saddam Hussein organisieren.
Damit hat er leider nicht gerechnet. Sonst hätte er den
Im Umweltschutz ist Westdeutschland der Vorreiter Krieg gegen Kuwait möglicherweise nicht begon-
in Europa. Ich nenne drei Beispiele: Der Ausstoß von nen.
Schwefeldioxid ging von 3,5 Millionen t im Jahre 1979
Welche Schlüsse sollen wir daraus ziehen? Ich
auf 0,9 Millionen t im Jahre 1990 zurück. Fast alle
meine, gegen den Aggressor frühzeitig Front zu ma-
neuen Autos mit Benzinmotor haben inzwischen den
chen — frühzeitig! — ist die Lehre, die aus dieser Er-
von uns eingeführten geregelten Katalysator.
fahrung zu ziehen ist.
(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist objektiv (Beifall bei der CDU/CSU)
falsch!)
Der Golfkonflikt macht die Kräfteverhältnisse in der
Wurden in Spraydosen 1989 nur 2600 t Fluorchlorkoh- Welt und die Sicherheitserfordernisse Europas deut-
lenwasserstoffe verwendet, so waren es 1976 noch lich. Zunächst: Wir brauchen weiter eine enge Sicher-
50 000 t. heitspartnerschaft mit den USA. Wir brauchen sie aus
In den fünf neuen Bundesländern fand Umwelt- zwei Gründen: erstens, weil wir auf dem alten Konti-
schutz bis 1989 nicht statt. Heute ist die Umweltsanie- nent das Gewicht der Weltmacht Sowjetunion ohne
rung do rt bereits in vollem Gange. Durch die vom die USA nicht austarieren können. Rußland — in wel-
Bundesumweltminister bereitgestellten Fördermittel cher Gestalt auch immer — wird Weltmacht bleiben.
werden in den neuen Bundesländern Investitionen in Die gegenwärtige Krise der Sowjetunion ändert daran
den Umweltschutz in Höhe von 2,3 Mrd. DM ermög- nichts.
licht. Zweitens. Wir brauchen die USA auch, weil unsere
Eine dritte große innenpolitische Aufgabe — Herr Sicherheit von weltweiten Entwicklungen abhängig
Vogel, Sie haben das angesprochen — möchte ich ist und die USA als einzige westliche Macht zu welt-
hervorheben. Wir werden das letzte große Problem weitem Handeln in der Lage ist.
der Sozialpolitik anpacken, das noch ungelöst ist: die Dieser Golfkonflikt hat uns aber auch drastisch vor
Pflege. Wer heute pflegebedürftig wird, hat vielfach Augen geführt, was uns Europäern fehlt: eine euro-
keine ausreichende Absicherung. Das wollen wir än- päische Sicherheitsunion und ihre Fähigkeit, welt-
dern. weit zu handeln. Erst eine solche Sicherheitsunion bil-
det die Basis, auf deren Grundlage europäische Au-
(Frau Dr. Götte [SPD]: Wann denn?)
ßenpolitik möglich wird.
Die Bundesregierung wird dem Deutschen Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU)
tag, so steht es in der Koalitionsvereinbarung, bis
Mitte nächsten Jahres dazu einen Gesetzentwurf vor- Der Außenminister Saddam Husseins hat die Euro-
legen, päische Gemeinschaft bei ihren" Vermittlungsversu-
chen in keiner Weise ernstgenommen. Ich füge hinzu:
(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Was nicht viel Auch der amerikanischen Administration fiel es
heißt!) schwer, zu einer anderen Einschätzung zu kommen.
und zwar nicht nur vielleicht; das wird so sein. Bisher Das war schon bei den Mittelstreckenraketenver-
haben wir unsere Versprechungen gehalten. handlungen in Reykjavik 1986 so, an denen Europa
nicht beteiligt war, obwohl Europa davon in besonde-
(Dr. Vogel [SPD]: Na, na!)
rer Weise betroffen war. Daran hat sich nichts wesent-
Nun zur Solidarität in Europa. Unsere Solidaritäts- liches geändert. Die europäischen Außenminister
pflicht beschränkt sich nicht auf Deutschland. Sie er- selbst haben vor Weihnachten daraus die Konsequenz
streckt sich wie unser Einfluß und unsere Interessen gezogen, eigene Initiativen hintanzustellen, um der
auf Europa und die Welt. Der Golfkrieg ist der erste amerikanischen Politik den Vortritt zu lassen. Das war
Krieg der Weltgemeinschaft UNO gegen einen Ag- vernünftig. Aber es hat auch gezeigt, daß Europa bis-
gressor seit dem Koreakrieg. Doch im Unterschied zu her ein seiner ökonomischen Bedeutung entsprechen-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 111

Dr. Dregger
des außenpolitisches Gewicht nicht besitzt und daher Lassen Sie mich nun noch einiges zur Solidarität in
in internationalen Fragen nur sehr begrenzt hand- der Welt sagen. So wichtig Europa für uns Deutsche
lungsfähig ist. Zwölf Prinzen ohne Kleider, meine Da- bleiben wird, Frieden und Freiheit können wir nicht
men und Herren, machen eben noch keinen Kaiser. allein in Europa finden. Wir brauchen eine Weltfrie-
densordnung, da wir auch mit den anderen Nationen
Die Konsequenz: Die Europäer müssen sich endlich
der Welt nicht nur wirtschaftlich aufs engste verfloch-
auch sicherheitspolitisch zusammenschließen. Die Rö-
ten sind. Das gilt besonders für den Nahen und Mitt-
mischen Verträge müssen einen militärischen Bei-
leren Osten, für die Welt des Islam, in deren Mitte
standsvertrag einschließen nach der A rt und Qualität
Israel sein Existenzrecht behaupten muß. Wir können
dessen, was einmal im WEU-Vertrag vereinbart
dieser Welt nicht den Rücken kehren. Wir müssen
wurde.
auch im eigenen Interesse die Vereinten Nationen
Wenn wir einmal von der Unfähigkeit der Europäer, stärken und sie mit den anderen Friedensmächten in
ihre Ziele und Mittel in Übereinstimmung zu bringen, die Lage versetzen, Freiheit und Recht gegen Aggres-
absehen, dann stehen wir ja im Unterschied zu den soren zu verteidigen. Das geht nicht mit Demonstra-
80er Jahren glänzend da. Auch Osteuropa wendet tionen allein. Sie sind sogar schädlich, wenn sie unkri-
sich heute nach Westen. Es sind die Ideen des We- tisch den Aggressor Irak, das Opfer Kuwait und die
stens, die sich durchgesetzt haben. Damit das Bestand Friedensstreitkräfte der UNO auf eine Stufe stellen.
hat, damit Europas politischer Einfluß seinem ökono- Unsere Solidarität muß den Angegriffenen gelten, in
mischen Gewicht entspricht und damit sich Europa in diesem Falle insbesondere Kuwait.
der Welt behaupten kann, müssen wir die Politische
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Union schaffen. Europäische Politische Union heißt:
gemeinsamer Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Unsere Solidarität muß dem Bedrohten gelten, also
Währung in gemeinsamer Sicherheit. Das ist unser Israel, das am Krieg nicht beteiligt ist, das aber der
Ziel. Aggressor in seinen Krieg hineinziehen möchte. Un-
sere Solidarität muß den arabischen Staaten gelten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die sich zu Recht fürchten, von Saddam Hussein un-
Alles, was wir allein nicht mehr machen können, terjocht zu werden.
gehört in die suprana tionale europäische Kompetenz. Ich werde jetzt etwas sagen, was möglicherweise
Auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Währungs-, Finanz-
auf Widerspruch stößt; aber es ergibt sich aus dem
und Sozialpolitik zum Beispiel kann noch viel im na-
vorher Gesagten: Wer in dieser Situa tion in den Ruf
tionalen Rahmen gemacht werden, im Bereich der
„Kein Blut für Öl" einstimmt, der verdunkelt die
Sicherheitspolitik dagegen nicht. Daß ausgerechnet
Wahrheit und besorgt — ob gewollt oder ungewollt —
dieser Bereich aus der europäischen Einigungspolitik
das Geschäft des Aggressors.
ausgespart blieb, kann man zwar erklären, aber nicht
begründen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Conradi [SPD]: Wer jahrelang aufgerüstet
Es kann auch in Zukunft na tionale Truppenver-
hat, sollte hier keine Sprüche klopfen!)
bände geben, was ich wegen des inneren Zusammen-
halts für zweckmäßig halte. Aber Logistik, Transpo rt , Zur Solidarität gehört auch, daß das UNO-Embargo
Aufklärung und Opera tion müssen wir in Zukunft ge- gegen den Irak von uns und allen anderen Ländern
meinsam, d. h. natürlich im Rahmen der NATO, euro- strikt eingehalten wird. Verletzungen dieser Pflicht
päisch machen. Geschieht das, dann wird die NATO müssen, selbstverständlich in einem rechtsstaatlichen
ein Bündnis unter Gleichen, ein Bündnis zwischen Verfahren, ha rt bestraft werden. Wer aus Gewinn-
Amerika und Europa, das gemeinsam und arbeitstei- sucht Waffenexportverbote bricht, muß nicht nur be-
lig handeln kann. straft, sondern er muß — ich unterstreiche das, was der
Bundeskanzler gestern gesagt hat — geächtet wer-
Dazu brauchen wir hochbewegliche, teilweise luft-
den,
transportfähige und — um der Solidarität und der Ab-
schreckungsfähigkeit wi llen — multinationale euro- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
päische Verbände mit einer gemeinsamen Strategie.
auch weil er dadurch die Interessen unseres Landes
Diese Verbände müssen ihre Wirkung in alle Him-
aufs schwerste verletzt.
melsrichtungen entfalten können. Unsere Chance, auf
diese Weise eine Krise zu bewäl tigen und dabei den Ebenso deutlich sage ich: Wir Deutschen sind nicht
Krieg zu vermeiden, wird umso größer sein, je größer gewinnsüchtiger als andere. Der Anteil der kriminel-
der Zusammenhalt dieser Verbände im Bündnis ist len Elemente ist bei uns wohl nicht größer als an-
und je flexibler sie operieren können. derswo. Kollektivbeschuldigungen der Bundesrepu-
blik Deutschland oder der deutschen Wirtschaft leh-
Die beiden Regierungskonferenzen, die Ende des
nen wir daher ab.
letzten Jahres ihre Arbeit begonnen haben, geben die
Möglichkeit, beide Ziele zu verwirklichen: die Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schafts- und Währungs- sowie die Sicherheitsunion. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion erwartet von der
Die Notwendigkeit der Parallelität beider Regierungs- Regierung, daß sie jedem Verdacht weiterhin sorgfäl-
konferenzen ist gestern vom Bundeskanzler mit Recht tig nachgeht
hervorgehoben worden. Die in diesen beiden Konfe-
renzen liegende Chance sollten wir in gutem Kontakt (Conradi [SPD]: „Weiterhin?")
mit unseren europäischen Freunden, insbesondere und bei der Wahl der einzusetzenden Inst rumente
mit Frankreich, das in dieser Frage eine Schlüsselrolle
hat, nutzen. (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Wie bisher!)
112 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Dregger
wirklich bis an die Grenze des verfassungsmäßig Zu- ebenso klar für die UNO und den Einsatz ihrer Streit-
lässigen geht. kräfte Stellung zu beziehen.
Nicht nur die Handhabung des Embargos, auch die (Beifall bei der CDU/CSU)
gesamte Rüstungsexportpolitik bedarf der Überprü-
fung bei uns und allen anderen Waffenproduzenten. Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Dr. Dregger, gestat-
Auch darin stimme ich mit Herrn Vogel überein. Nur ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
wenn für alle die gleichen Maßstäbe gelten und wenn Dr. Schmude?
deren Einhaltung international kontrolliert wird, wird
sich die Lage grundlegend verbessern. Ich begrüße Dr. Dregger (CDU/CSU): Bitte!
daher jedenfalls trotz der von Herrn Vogel kritisierten
Äußerungen des Präsidenten des BDI, die ich nicht
Dr. Schmude (SPD): Herr Kollege Dregger, wenn
kenne, daß der Bundesverband der Deutschen Indu-
Sie das Engagement in der Türkei begrüßen, frage ich
strie und der Industrieverband in den USA diese An-
Sie: Schließt das auch die Entsendung von Wehr-
sicht teilen und eine gemeinsame Initiative zur Förde-
pflichtigen ein, die dorthin gezwungen werden sol-
rung der internationalen Zusammenarbeit von Regie-
len?
rungen und Wi rtschaft bei militärstrategisch notwen-
digen Exportkontrollen beschlossen haben.
Dr. Dregger (CDU/CSU): Ich bin dafür, daß wir
Wir Deutschen sind selbstverständlich bereit, ge- Wehrpflichtige einsetzen, die freiwillig dazu bereit
meinsame Rüstungsexportregeln, z. B. der EG, der sind, und es sind nicht wenige, die dazu bereit sind.
NATO oder der UNO, zu akzeptieren und uns ihrer Meine Damen und Herren, Lafontaine und andere
Kontrolle zu unterwerfen. Vorstandsmitglieder der SPD haben es noch in den
Herr Bundeskanzler, wir begrüßen es ganz beson- letzten Tagen — zum Leidwesen von Herrn Vogel —
ders, daß die Bundesregierung Israel die gewünsch- für richtig gehalten, die UNO, die USA und unsere am
ten Defensivwaffen liefert. Dazu gehören die Pat riot- Golf eingesetzten Verbündeten darüber zu belehren,
Abwehrraketen, die es nicht gäbe, wenn nicht Präsi- daß der Kampf gegen den Aggressor — den die UNO-
dent Ronald Reagan das SDI-Programm in Auftrag Allianz führt und nicht wir — falsch sei und daß es
gegeben hätte. besser sei, ihn durch einen Waffenstillstand zu been-
den. Meine Damen und Herren, daß ein solcher Waf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fenstillstand, und was diese Forderung von Lafontaine
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat damals — Sie angeht, so enthielt sie nicht die Forderung nach einem
erinnern sich — den amerikanischen Präsidenten mit Rückzug des Aggressors aus Kuwait
Nachdruck unterstützt — das können nicht alle Frak- (Hornung [CDU/CSU]: Das ist das Traurige
tionen dieses Hauses in gleicher Weise von sich sa- an der ganzen Geschichte!)
gen — , weil SDI ein Abwehrsystem ist. — ja, das ist wirklich das Traurige —, in der gegen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) wärtigen Lage politisch wie militärisch nur dem Ag-
gressor und niemand anderem nutzen würde, liegt auf
Ich nutze die Gelegenheit, Ronald Reagan, der in der Hand.
den nächsten Tagen seinen 80. Geburtstag begeht, Meine Damen und Herren der SPD, Sie haben im
unseren Dank und unsere Glückwünsche auszuspre- vergangenen Jahr in der deutschen Frage in schlim-
chen. mer Weise versagt. Sie laufen Gefahr, nun auch in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Frage der internationalen Solidarität gegenüber der
bei Abgeordneten der SPD) UNO zu versagen.
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
Wir begrüßen es ferner, daß sich die Bundesregie- neten der FDP)
rung entschlossen hat, unsere in der Türkei stationier-
ten Bundeswehrsoldaten mit Waffensystemen auszu- Im Gegensatz zu Ihnen stehen alle anderen sozialisti-
statten, die sie zur Abwehr eines Ang riffs benötigen. schen und sozialdemokratischen Parteien Europas
Wir sehen darin eine Bestätigung unserer Entschlos- eindeutig an der Seite der UNO. Soweit diese soziali-
senheit, unsere Bündnispflichten gegenüber der stischen und sozialdemokratischen Parteien in der
Allianz — in diesem Falle gegenüber dem Opposition sind, unterstützen sie ihre Regierung, um
- NATO
Land Türkei — ebenso zu erfüllen, wie wir als Deut- das ganze Gewicht ihrer Länder gegen den Aggressor
sche in den hinter uns liegenden Jahrzehnten die zur Geltung zu bringen. Herr Vogel, Sie erinnern sich
Bündnissolidarität der NATO jederzeit in Anspruch daran, daß ich am 17. Januar den britischen Opposi-
nehmen konnten. tionsführer Kinnock zitiert habe — ich will das nicht
wiederholen —, und ich habe Sie gebeten zu überle-
(Beifall bei der CDU/CSU) gen, ob Sie nicht seinem Beispiel folgen könnten.
Meine Damen und Herren, Handeln ist besser als (Beifall bei der CDU/CSU)
Reden. Konkrete Hilfeleistungen für Israel, Bündnis- Meine Damen und Herren, Kollege Brandt hat vor
solidarität gegenüber der Türkei und konkrete Maß- einigen Tagen eine Solidaritätsadresse an die Verei-
nahmen zur Kontrolle von Rüstungsexporten sind bes- nigten Staaten unterschrieben. Schon in der Deutsch-
ser als Betroffenheits- und Schamgesten mancher landpolitik hat sich Brandt von der Verweigerungs-
deutscher Politiker, die ohnehin nicht selten den Ein- haltung seiner Partei abgesetzt. So sehr ihn das per-
druck erweckten, sie wollten vom Thema ablenken, sönlich ehrt — vor dem Hintergrund der Haltung sei-
um es sich zu ersparen, klar gegen den Aggressor und ner Partei wirkt das wie eine Doppelstrategie, die
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 113

Dr. Dregger
nicht nur die SPD, sondern uns alle ins Zwielicht zu ern vom Krieg am Golf und von den Entwicklungen im
bringen droht. Wo steht Deutschland in diesem Kon- Baltikum sowie darüber hinaus in der ganzen Sowjet-
flikt: auf der Seite der UNO oder auf der Seite des union überschattet.
Aggressors?
Die Opposition wirft uns und unseren Verbündeten
(Zurufe von der SPD: So ein Blödsinn! — So vor — Herr Vogel hat das anklingen lassen — , daß die
ein Quatsch! — Dr. Vogel [SPD]: Das darf Möglichkeiten der Verhandlungen und der Diploma-
doch wohl nicht wahr sein!) tie nicht ausreichend genutzt worden seien. In Wahr-
Diese Frage muß von uns Deutschen klar beantwortet heit — das ist unsere Überzeugung — sind alle Mög-
werden. lichkeiten der Verhandlungen, alle Möglichkeiten der
(Anhaltende Zurufe von der SPD) diplomatischen Initiativen bis zur letzten Minute ein-
gesetzt worden, um die kriegerische Auseinanderset-
Ich wiederhole, was ich bereits am 17. Januar in die-
zung zu verhindern.
sem Hause dazu gesagt habe,
(Dr. Vogel [SPD]: Fast ein Ordnungsruf! — Heute muß man feststellen: Der irakische Diktator
Zuruf von der SPD: Da macht sie keinen! — Saddam Hussein wollte den Krieg. Er war durch nichts
Dr. Vogel [SPD]: Das ist fast so schlimm wie zu bewegen, seine Kriegsbeute vom 2. August letzten
„Heim ins Reich!" !) Jahres wieder herauszurücken;
und ich wiederhole es heute nicht nur für meine Frak- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
tion, sondern auch — davon bin ich überzeugt — im der CDU/CSU)
Namen der großen Mehrheit unseres Volkes: Wir
standen immer und stehen auch heute an der Seite der denn begonnen hat dieser Krieg schon mit dem Ein-
UNO, greifen und Einrücken der irakischen Kräfte in Ku-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — wait.
Dr. Vogel [SPD]: Das war ja wohl ein starkes Ich glaube, in dieser Frage doch nationaler Trag-
Stück!) weite könnte man von der großen Oppositionspartei,
an der Seite Israels und an der Seite unserer Verbün- der SPD, eindeutige — nicht mehrdeutige — Erklä-
deten. rungen zu dem Handeln der Alliierten und zu dem
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verhalten der Bundesrepublik Deutschland erwar-
Ich füge hinzu: Wir wünschen, daß der Krieg bald ten.
und mit möglichst geringen Opfern auf allen Seiten (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
mit einem Sieg der UNO über den Aggressor Saddam der CDU/CSU)
Hussein endet.
Es stimmt mich traurig, daß dieses eindeutige Verhal-
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Dr. Dregger, ge- ten, wie es sozialistische Oppositionsparteien in ande-
statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten ren europäischen Länder zeigen, hier nicht herzustel-
Dr. Heuer? len ist. Ich glaube, es ist kein Zeichen von Regierungs-
fähigkeit, wenn man nicht auch die Verantwortung in
teils unpopulären Fragen übernimmt, Posi tion zu be-
Dr. Dregger (CDU/CSU): Nein, jetzt nicht mehr. —
Wir wissen, daß der Krieg den Aggressor nur in die ziehen.
Schranken weisen, nicht aber die Probleme der Golf- Das erinnert mich an 1982. Wenn die SPD damals
region und des Nahen Ostens lösen kann. Das muß den NATO-Nachrüstungsbeschluß bestätigt hätte
nach Beendigung der Kampfhandlungen tatkräftig und wenn sie die Wende in der Finanzpolitik mitge-
angepackt werden. tragen hätte, hätte sie die Regierungsfähigkeit nicht
Zur Abwehr der Aggression in Kuwait und zum Auf- verloren.
bau einer gerechten Friedensordnung im Nahen
Osten, die allen Menschen und Völkern dieser Region (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das wäre ja nicht
ihre freie Existenz sichert, im Rahmen unserer Mög- zum aushalten!)
lichkeiten beizutragen, dazu sind wir, die CDU/CSU Wenn Sie regierungsfähig werden wollen, müssen Sie
Bundestagsfraktion bereit, auch wenn uns diese Bei- nun endlich die Lehren daraus ziehen.
träge noch mehr als bisher in Anspruch nehmen.- Denn
es geht in der Tat um den Frieden, um den Frieden in (Beifall bei der FDP — Dr. Vogel [SPD]:
Freiheit: für die Golfregion, für uns und für die Wenn wir der Amnes tie zugestimmt hätten!
Welt. Das haben Sie nicht erwähnt! Da war doch
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU — etwas! Peinlich!)
Beifall bei Abgeordneten der FDP)
Der Krieg am Golf kann nur durch Saddam Hussein
selber unterbrochen und beendet werden. Ein Wort
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- der Bereitschaft zum Rückzug aus Kuwait, und der
ordnete Herr Dr. Solms. Waffenstillstand wäre möglich. Als Deutsche sollten
wir aus unserer eigenen Geschichte wissen, daß ein
Dr. Solms (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- Diktator, der entschlossen ist, mit kriegerischen Mit-
ehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte, die teln die Ausdehnung seiner Macht zu erreichen, von
sich eigentlich mit den Aufgaben für die nächsten vier dieser Absicht durch nichts, aber auch durch gar
Jahre befassen soll, wird zu unserem großen Bedau- nichts abzuhalten ist.
114 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Solms
Wenn er darüber hinaus ankündigt, er wolle den Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit
Staat Israel vernichten, dann sind gerade wir Deut- Scham erfüllt uns allerdings, daß die Vorwürfe, daß
schen zu entschlossener Hilfe verpflichtet. sich deutsche Firmen und Fachleute an der Aufrü-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) stung des Irak beteiligt hätten und daß gerade durch
ihre Hilfe ein Ang riff mit ABC-Waffen erst möglich
Der zweite Vorwurf richtet sich gegen die man- geworden sei, offenbar berechtigt sind. Auch die
gelnde Bereitschaft der Bundesregierung zur Unter- Reichweite der Scud-Raketen soll durch Mithilfe
stützung der alliierten Kräfte. Dieser Vorwurf ist un- deutscher Spezialisten so erhöht worden sein, daß
gerechtfertigt. Die Bundesregierung hat nämlich be- Israel ge troffen werden kann. Zwar haben die jewei-
reits Leistungen in Höhe von mehr als 5 Milliarden ligen Bundesregierungen seit 30 Jahren keine Waf-
DM erbracht. Sie hat der amerikanischen Regierung fenlieferungen in den Irak genehmigt, gleichwohl
allein für das erste Quartal dieses Jahres weitere Lei- sind teils legale, teils illegale Lieferungen und Lei-
stungen in Höhe von mehr als 8 Milliarden DM zuge- stungen erfolgt.
sagt. Hinzu kommen finanzielle Unterstützungen in
Höhe von rund 800 Millionen DM, die Großbritannien (Conradi [SPD]: Die Wirtschaftsminister wa
gestern vom Bundesaußenminister zugesichert wor- ren immer von der FDP!)
den sind. Das zeigt, daß die Bundesregierung zu ei- Trotz der Verschärfung der Gesetze konnte dem kein
nem solidarischen Beitrag bereit ist. Einhalt geboten werden.
Es mag sein, meine Damen und Herren, und es ist zu Meine Damen und Herren, jetzt muß alles Men-
vermuten, daß all diese Lasten nicht aus dem vorhan- schenmögliche getan werden, um zu einer rechtlichen
denen Etat zu finanzieren sind. Dann müssen Einnah- und — was vielleicht noch wichtiger ist — darüber
meverbesserungen beschlossen werden. Ich weise hinaus auch zu einer moralischen Ächtung solcher
nur darauf hin — das ist der entschiedene Wille der Taten wie auch der Verantwortlichen zu kommen.
FDP-Fraktion —, daß vor einer solchen Entscheidung, Deutsche, die sich an solchen Machenschaften betei-
die im übrigen auch erst dann ge troffen werden ligen, sollten ihren Fuß in Zukunft nicht wieder guten
könnte, wenn der Bundesfinanzminister seinen Haus- Gewissens auf deutschen Boden setzen können.
halt Ende Februar vorgelegt haben wird, noch einmal (Beifall bei der FDP)
alle Einsparungsmöglichkeiten überprüft werden;
denn sonst ginge die Disziplin verloren. Gerade weil die deutsche Wi rtschaft mehr als die
Wirtschaft anderer Länder auf Expo rte angewiesen
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten ist, muß sie für solche Entwicklungen besonders sen-
der CDU/CSU) sibel sein. Wo bleibt ein Verhaltenskodex verbunden
Darüber hinaus ist die Bundesregierung bereit, dem mit der dazugehörigen Selbstkontrolle der deutschen
Staat Israel Verteidigungswaffen und -systeme zur Wirtschaft? Noch habe ich nicht gehört, daß der Auf-
Verfügung zu stellen, obwohl dies der traditionellen sichtsrat eines Konzerns, dessen Tochtergesellschaft
Waffenexportpolitik der Bundesregierung wider- der Mittäterschaft bezichtigt wird, den Gesamtvor-
spricht. Die besondere deutsche Verantwortung für stand zur Rede und gegebenenfalls zur Verantwor-
die Existenz des Staates Israel und seiner Bewohner tung gezogen hätte. Ich meine, hier sind sichtbare
rechtfertigt diese Maßnahme jedoch. Maßnahmen dringend notwendig.
Die FDP-Fraktion hat auch der Verlegung der Ein- (Vorsitz: Vizepräsident Klein)
heiten der Abwehrsysteme Roland und Hawk in die Dies möchte ich gerade als Vertreter einer Partei sa-
Türkei zugestimmt. Dies gilt insbesondere dem gen, die der Wirtschaft nicht fernsteht. Deshalb will
Schutz der dort stationierten italienischen, belgischen ich das entschieden anmahnen.
und deutschen Verbände.
(Beifall bei der FDP)
Ich habe den Eindruck, daß genau die gleichen Leit-
artikler der „Welt", die noch vor wenigen Monaten Meine Damen und Herren, es ist für mich eine
vor dem Zu-stark-Werden Deutschlands gewarnt hat- schöne und ehrenvolle Aufgabe, an dieser Stelle für
ten, uns jetzt vorwerfen, daß wir uns nicht als stark die FDP-Bundestagsfraktion zu Ihnen sprechen zu
genug erweisen könnten. Das zeigt auch die Doppel- dürfen. Besonders freue ich mich, daß ich die zahlen-
züngigkeit dieser Argumenta tion in der internationa- mäßig größte FDP-Fraktion in der Geschichte dieses
len Presse. Hauses vertreten darf.
-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
bei Abgeordneten der SPD) der CDU/CSU)
Den kritischen Anmerkungen in unseren Bündnis- In der Größe der Fraktion sehe ich das Ergebnis des
ländern muß darüber hinaus entgegengesetzt wer- gewachsenen Vertrauens der Wähler in die FDP.
den, daß wir zur Verbesserung der Sicherheit in ganz Ausschlaggebend war sicherlich das Vertrauen in die
Europa gewaltige Leistungen erbringen. Allein die erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik wie in die
Bereitstellung von mehr als 14 Milliarden DM zur Er- verantwortungsvolle Außen- und Sicherheitspolitik
möglichung des Abzugs von mehr als 300 000 Solda- der Freien Demokratischen Partei und der sie reprä-
ten der Roten Armee aus Ostdeutschland ist ein ein- sentierenden Personen.
zigartiger Beitrag zur Sicherheit Europas und des (Beifall bei der FDP)
Bündnisses.
Dieses Vertrauen bedeutet Anerkennung und An-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten sporn zugleich. Dieses Vertrauen bedeutet aber vor
der CDU/CSU) allem Verantwortung. Wir — übrigens wir alle —
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 115
Dr. Solms
müssen durch unser politisches Handeln das Ver- Es kommen nun Kommentare aus dem „Bayern-
trauen unserer Wähler rechtfertigen. In vier Jahren kurier" . Ich weiß nicht, ob man ihn überhaupt zitieren
müssen wir unseren Wählern Rede und Antwort ste- sollte. Dazu kann ich nur sagen: Was stört es den
hen. Dies ist im Interesse unserer Glaubwürdigkeit Mond, wenn ihn die Hunde anbellen.
durchaus wörtlich zu nehmen. Das gilt für alle Seiten (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
dieses Hauses. der CDU/CSU)
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich muß Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler und
zugeben, in der Zeit zwischen dem 2. Dezember und der Bundesaußenminister haben verstanden, daß Eile
dem 15. Januar hat die Führungsmannschaft der FDP geboten war, weil die plötzlich von außen aufgesto-
ein anderes Bild geboten. Doch ich kann Ihnen versi- ßene Tür zur deutschen Einheit ebenso plötzlich wie-
chern — manche mögen enttäuscht sein — , das der ins Schloß fallen konnte. Heute wissen wir, daß auf
Schauspiel ist beendet. Unser personalpolitisches An- Grund der Entwicklung in der Sowjetunion die Tür
gebot steht; der Generationenwechsel ist vollzogen; bereits wieder ins Schloß gefallen wäre.
die FDP-Bundestagsfraktion wird sich nun in großer
Geschlossenheit den Aufgaben zuwenden, die sich Die Kritiker, auch auf seiten der Opposi tion, denen
der deutschen Politik stellen. Wir werden diese Ge- alles zu schnell gegangen ist, sollten so ehrlich sein,
schlossenheit vier Jahre durchhalten. endlich zu bekennen, daß die Politik der Bundesregie-
rung die einzig richtige war.
(Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Ihre spöttischen Bemerkungen, Herr Kollege Vogel, Die deutsche Einheit wird erst dann vollzogen sein,
über den Kollegen Möllemann möchte ich in folgen- wenn in beiden bisherigen Teilen Deutschlands ein-
der Weise kommentieren: „Respice finem. " Am An- heitliche Lebensverhältnisse herrschen. Dies zu errei-
fang der letzten Legislaturperiode hat man, als der chen ist das vorrangige Ziel unserer gegenwärtigen
Kollege Möllemann Bundesbildungsminister gewor- Politik. Auf dem Weg dorthin ist allerdings noch eine
den war, ähnliche Worte gehört. Diese sind zum Vielzahl von großen Problemen zu lösen. Diese Pro-
Schluß verstummt. Man soll immer auf das Ende war- bleme, meine Damen und Herren, sind unser a ller
ten. Probleme. Es kommt ausnahmsweise einmal nicht
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten darauf an, welche Partei sich mit ihren Lösungsvor-
der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Wir haben schlägen durchsetzt, sondern es kommt darauf an, daß
ja nur zitiert, was der Graf sagt!) das Notwendige schnell geschieht. Die politische Ein-
heit Deutschlands ist hergestellt. Jetzt kommt es dar-
Ich sagte, wir müssen dem Wähler Rede und Ant- auf an, die ökonomischen und sozialen Trennungen
wort stehen. Denn Sprache ist nun einmal, wie es mein zu überwinden und zu einer Gemeinschaft zusam-
hessischer Landsmann Jacob Grimm im letzten Jahr- menzuwachsen.
hundert ausdrückte, das Gedächtnis eines Volkes.
Wie richtig und wichtig diese Grimmsche Erkenntnis Notwendig ist es, in den neuen Bundesländern
ist, zeigt sich bei dem fundamentalen Problem, im ver- durch Investitionen neue Arbeitsplätze zu schaffen
einten Deutschland zu einer gemeinsamen Sprache und damit Einkommen und soziale Sicherheit herzu-
zu finden. Die meisten Menschen, die von der politi- stellen. Dafür sind Investitionen die fundamentale
schen Vergangenheit der früheren DDR geprägt sind, Voraussetzung. Investiert wird jedoch nur do rt, wo die
werden noch lange brauchen, um sich von der Last der Eigentumsverhältnisse gesichert sind. Klare Eigen-
Worte dieses Regimes zu befreien. tumsregeln sind Voraussetzung für die Funktionsfä-
higkeit einer Marktwirtschaft. Nur Eigentum schafft
Schon Grimm hat vor der formelhaften Erstarrung persönliche Verantwortung. Die FDP bekennt sich zur
der Sprache, vor der Aneinanderreihung beliebig ver- Garantie des privaten Eigentums. Aber offene Eigen-
setzbarer Beg riffe, mit denen man alles, aber auch gar tumsfragen dürfen keine Investitionen be- oder ver-
nichts sagen kann, gewarnt. Vor dieser Gefahr sind hindern.
übrigens auch wir im Westen nicht gefeit. Erst wenn
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
sich mit den gleichen Beg riffen hier wie dort gleiche
der CDU/CSU)
Vorstellungen verbinden, wird die Einheit im Denken
wirklich vollzogen sein. Deshalb ist es richtig, daß im Zweifelsfall der mögliche
Eigentümer entschädigt und einem konkreten Investi-
Zunächst einmal müssen wir für das Erreichte dank- tionsprojekt der Vorrang eingeräumt wird.
bar sein, das noch vor zwei oder drei Jahren kaum
einem von uns erreichbar schien: die politische Ver- (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
wirklichung der deutschen Einheit. Unser Dank gilt der CDU/CSU)
in diesem Zusammenhang sowohl dem Herrn Bundes- Für die unrechtmäßigen Enteignungen in der DDR
kanzler, der die Verantwortung für die schnelle Ent- zwischen 1945 und 1949, für die der Einigungsvertrag
wicklung übernommen hat und trägt, als auch dem wegen des Drucks der Regierung der damaligen DDR
Bundesaußenminister, der durch seine Beharrlichkeit und der Sowjetunion keine Rückgabe vorsieht, müs-
und sein diplomatisches Geschick das angeblich Un- sen durch den gesamtdeutschen Gesetzgeber mög-
mögliche möglich gemacht hat. lichst bald Ausgleichsleistungen beschlossen werden.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Nach unserer Überzeugung können angemessene
Ausgleichsleistungen nicht nur in Geldzahlungen,
Meine Damen und Herren, sie haben beide den histo- sondern auch in Vorkaufsrechten, Pachtrechten,
rischen Augenblick erkannt. Rückgaben an und von Grund und Boden und ande-
116 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Solms
ren Gegenständen bestehen, wo immer das technisch Das Konzept des Niedrigsteuergebiets muß also gege-
möglich ist und wo immer keine gutgläubig erworbe- benenfalls weiter ausgebaut werden.
nen Nutzungs- und Eigentumsrechte Dritter verletzt (Beifall bei der FDP)
werden.
In der Familienpolitik hat die Koalition in den ver-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten gangenen Jahren große Fortschritte erzielt. Diese
der CDU/CSU) Politik wird fortgesetzt. Der Familienlastenausgleich
wird erheblich verbessert, und das auf der Grundlage
Die FDP ist trotz der erzwungenen Vereinbarung im des Verfassungsgerichtsurteils vom letzten Jahr.
Einigungsvertrag nicht bereit, die Enteignungen in
den Jahren vor 1949 als rechtmäßig zu akzeptieren. (Beifall bei der FDP)
Die Kinderfreibeträge werden stufenweise angeho-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten ben. Das Kindergeld wird entsprechend den Notwen-
der CDU/CSU) digkeiten der Steuergerechtigkeit ausgebaut. Die
Die enteigneten Familien haben mit ihrem Besitz die FDP stimmt der Verlängerung der Zahlung von Erzie-
Basis und die Wurzeln ihrer Existenz, wenn nicht gar hungsgeld auf zwei Jahre zu. Der Erziehungsurlaub
ihr Leben verloren. Dieses Unrecht ist nicht wieder- wird auf drei Jahre ausgedehnt.
gutzumachen. Durch eine Reihe von weiteren Maßnahmen soll es
den Frauen ermöglicht werden, den Wunsch nach
Die unzulänglichen Eigentumsregeln sind für die Kindern mit dem Wunsch nach beruflicher Tätigkeit
Arbeit der Treuhandanstalt eine schwere Belastung. zu verbinden.
Die Bundesregierung wird in Kürze Entscheidungen
Herr Kollege Vogel, Ihre Bemerkungen zu der
treffen, damit die Treuhandanstalt ihren Aufgaben Haushaltshilfe gehen nun wirklich in die falsche Rich-
besser gerecht werden kann.
tung. Die Steuerbegünstigung trifft ja nicht die direkt
Die Privatisierung der Betriebe ist die zentrale Auf- Begünstigten, sondern die bei ihnen Beschäftigten.
gabe der Treuhandanstalt. Jede Verzögerung zerstört Denn nur im Falle sozialversicherungspflichtiger Ar-
die wirtschaft liche Basis. Eile ist geboten. beitsverhältnisse wird diese Steuerbegünstigung ge-
währt.
(Beifall bei der FDP) (Dr. Vogel [SPD]: Wer kann sich das denn
Alle Maßnahmen, die geeignet sind, Investitionen an- leisten?)
zureizen, müssen ausgeschöpft werden. Im vergange- Damit erreichen Sie zumindest, daß Tausende von
nen Jahr hat die Koalition mit den ERP-Programmen, Schwarzarbeitsverhältnissen, die es heute gibt, in le-
der Investitionszulage und den Sonderabschreibungs- gale, sozialversicherungs- und steuerpflichtige Ar-
regeln einen Grundstock geschaffen. In den Koali- beitsverhältnisse umgewandelt werden.
tionsvereinbarungen haben wir Zusätzliches erreicht: (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
die rückwirkende Abschaffung der Gewerbekapital- der CDU/CSU)
steuer und der Vermögensteuer für die fünf neuen
Bundesländer. Aus welcher Substanz sollten denn die Ich meine, das ist gerade für Familien, in denen die
Unternehmen und Betriebe dort diese Steuer bezah- Frauen
len, meine Damen und Herren? Die Substanz ist doch (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Die Ungerech
gar nicht da. tigkeit sozial verbrämen! — Dr. B riefs [PDS/
Linke Liste]: Unsozial ist das, was Sie da sa
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten gen!)
der CDU/CSU)
den Wunsch nach Berufstätigkeit mit dem Wunsch
Die Gemeinden in den fünf neuen Bundesländern, verbinden wollen, Kinder zu haben und aufzuziehen,
die von diesen Maßnahmen betroffen sind, brauchen ein ganz wesentlicher Beitrag.
zusätzliche Unterstützung, so z. B. durch die Auswei- (Beifall bei der FDP)
tung des Gemeindekreditprogramms, die in diesen
Tagen erfolgt. Weiter wurden zusätzliche Sonderab-
schreibungen im Ausmaß der bisherigen Zonenrand- Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter Solms, ge-
förderung beschlossen. Außerdem wird ein Freibetrag statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten
bei der Lohn- und Einkommensteuer in Höhe- von 600 Conradi?
bzw. 1 200 DM bei Verheirateten gewährt. Der Frei-
betrag war ein Kompromiß. Das will ich ganz offen Dr. Solms (FDP): Wenn sie nicht auf meine Redezeit
gestehen. Er sorgt dafür, daß die Arbeitnehmer in Ost- angerechnet wird.
deutschland erst später in die Steuerprogression hin-
einwachsen. In unseren Augen ist jedoch die Absen-
kung bei der Lohn- und Einkommensteuer nicht aus- Conradi (SPD): Herr Kollege, habe ich die Koali-
reichend, um auch westdeutsche Arbeitnehmer zur tionsvereinbarungen richtig nachgerechnet, wenn ich
Übersiedlung in den Osten und zum dortigen Tätig- zu dem Ergebnis komme, daß eine Anhebung des
werden zu veranlassen. Das technische und kaufmän- nicht zu versteuernden Betrags auf 6 000 DM für die
nische Wissen sowie wirtschaftliche Erfahrung und Haushaltshilfe für Sie und mich und andere, die wir
Praxis der Westdeutschen werden dort jedoch drin- bei einem Grenzsteuersatz von etwa 40 Prozent lie-
gend gebraucht. gen, eine jährliche Einsparung von 2 400 DM bedeu-
tet, während meine Sekretärin für ihr Kind zwölfmal
(Beifall bei der FDP) 20 DM, also 240 DM im Jahr bekommt, d. h. ein Zehn-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 117

Conradi
tel von dem, was Sie uns zugebilligt haben? Habe ich Infolge der Vollendung des Nationalstaats hat es
das richtig gerechnet? seine kulturelle Vielfalt vergessen und sich der
(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Geben Sie Machtentfaltung verschrieben. Als Land der Kugeln
Ihrer Sekretärin doch mehr!) und Kanonen hat es die Welt mit zwei schrecklichen
Kriegen überzogen. Nach dem Zusammenbruch be-
gann die Phase der politischen Abstinenz. Als Land
der Krämer und Kaufleute — ich meine das nicht ab-
Dr. Solms (FDP): Ihre Rechnung ist richtig, dem wertend; ich bin selbst Kaufmann —
Sinn nach aber falsch.
(Conradi [SPD]: Unter Beibehaltung der
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Richter und Henker!)
Denn Sie gehen davon aus, daß das Geld frei zu Ihrer
eigenen Verfügung wäre. In Wirklichkeit sind das haben sich die Deutschen der Steigerung ihres Wohl-
standes hingegeben. Auch diese Phase ist jetzt vor-
Mittel, die Sie einsetzen, um eine Arbeitskraft zu be-
über. Mit der deutschen Einheit sind wir zur Gesamt-
schäftigen, und die dieser Arbeitskraft zufließen. Das
ist eben keine besondere Begünstigung. verantwortung in Europa und darüber hinaus aufge-
rufen.
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
der CDU/CSU) Es wäre erfreulich, wenn wir zu unseren Anfängen
zurückkehren könnten und als Kulturnation im weite-
Durch eine Reihe von weiteren Maßnahmen wird ren Sinne diese Verantwortung übernähmen, nicht
die Familienpolitik verbessert. Zur Schaffung einer nur für unser Land, sondern für den Zustand in der
kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft sind ganzen Welt.
noch eine Reihe zusätzlicher Maßnahmen erforder-
lich. Insbesondere die Kinder brauchen die notwen- (Beifall bei der FDP)
dige Geborgenheit, um gerechte Chancen für ein er- Wir können uns nicht länger aus den internationalen
folgreiches Leben zu erhalten. Konflikten heraushalten. Unsere Schonzeit, die Nach-
(Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie machen kriegszeit, ist seit Erreichung der Souveränität, also
doch ausschließlich Politik für die Reichen, der Mündigkeit, vorbei. Das mag für manchen
Herr Solms!) schmerzlich sein — wie die Vertreibung aus einem
Paradies. Doch wir müssen von nun an als vollwertige
In beiden Teilen Deutschlands gab es unterschiedli-
Mitglieder der Staatengemeinschaft agieren, wir müs-
che rechtliche Grundlagen zum Schutz des werden-
sen Verantwortung übernehmen. Wir müssen vor al-
den Lebens. Es geht jetzt darum, möglichst bald eine
lem daran mitwirken, daß die Organisa ti on der Ver-
in Gesamtdeutschland einheitliche rechtliche Grund-
einten Nationen als Weltordnungs- und -friedens-
lage zu schaffen, die dem Schutz des ungeborenen
macht den großen Aufgaben der Zukunft gewachsen
Lebens dient und der Frau eine verantwortungsvolle
ist. Andernfalls wird sie bald so bedeutungslos wer-
Gewissensentscheidung ermöglicht.
den wie ehedem der Völkerbund.
(Beifall bei der FDP)
Dem vergrößerten Deutschland kommt — natürlich
Nach Meinung der FDP ist das nur durch eine Ausge- immer im Rahmen seines Rechtssystems — auch grö-
staltung als modifizierte Fristenregelung mit obligato- ßere Verantwortung zu. Unsere Verantwortung liegt
rischer Beratung zu erreichen. allerdings vor allem in Europa. Wir brauchen ein eini-
(Beifall bei der FDP) ges, starkes Europa. Die FDP setzt sich deshalb voll
und ganz für die Schaffung eines europäischen Bin-
Der schwangeren Frau wollen wir wirksame Hilfen
nenmarktes bis zum Ende des kommenden Jahres ein.
anbieten, die die Entscheidung zugunsten des Kindes
Wir unterstützen den Plan einer europäischen Wäh-
erleichtern. Denn das werdende Leben kann am be- rungsunion mit einer stabilen gemeinsamen europäi-
sten mit den Müttern und nicht gegen sie geschützt
schen Währung und einer unabhängigen, auf das Ziel
werden. der Geldwertstabilität festgelegten europäischen
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten Währungsbehörde. Ziel ist die Schaffung der politi-
der CDU/CSU) schen Union in ganz Europa. Die Gemeinschaft muß
Meine Damen und Herren, wir werden einen Ge- allen europäischen Ländern offenstehen.
setzentwurf vorlegen. Wir werden Sie auffordern, mit (Zustimmung bei der FDP)
uns darüber zu beraten. Wie Sie wissen, gibt es zu
diesem Thema keine Koalitionsabsprache, sondern Wir Deutschen wollen dabei eine besondere Verant-
hier soll jeder Abgeordnete frei und nur seinem Ge- wortung für Osteuropa übernehmen. Wir müssen die-
wissen verpflichtet entscheiden. sen Ländern, die sich gerade vom Joch der kommuni-
stischen Zwangsherrschaft befreien, beim Aufbau ei-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP — Dr. ner sozialen und marktwirtschaftlichen Ordnung hel-
Heuer [PDS/Linke Liste]: Das steht sowieso fen, damit sie die noch jungen freiheitlichen und de-
in der Verfassung!) mokratischen Strukturen befestigen können.
Deutschland galt vor etwa 150 Jahren als das Land Viele Probleme sind heute national nicht mehr zu
der Dichter und Denker. Das ist übrigens ein Ge- lösen; sie müssen grenzübergreifend angepackt wer-
danke, den der Herr Bundeskanzler vor kurzem in den. Wie Luft, Regen oder Wind nehmen sie ihrerseits
einem Koalitionsgespräch ebenfalls geäußert hat. auf Grenzen keinerlei Rücksicht. Dies gilt natürlich
(Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Es gab eine vor allem für die Probleme des Umweltschutzes. Die
Zeit, da waren es die Henker!) Erhaltung unserer Lebensgrundlagen ist auf Dauer
118 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Solms
nur international zu gewährleisten. Die Umweltbe- Die „Frankfu rt er Allgemeine" überschreibt am
schlüsse der Koalitionsvereinbarung scheinen uns 17. Januar ihren Leitartikel zur Entwicklung in den
eine gute Grundlage für weitere ökologische Fort- ostdeutschen Ländern mit folgenden Worten: „Auf
schritte zu bieten. Die FDP besteht auf der konsequen- langer Talfahrt" und stellt fest:
ten Anwendung des Verursacherprinzips und dem Die Stimmung ist gedrückt, der große Geldstrom
gezielten Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente. nach der Währungsunion verebbt, Produktion
(Beifall bei der FDP) und Beschäftigung sinken weiter, die Zukunft be-
Um das ehrgeizige nationale Ziel der Reduzierung der steht vorwiegend aus Verheißungen, deren Rea-
CO2-Emissionen um 25 % bis zum Jahr 2005 zu errei- litätsgehalt schwer zu prüfen ist.
chen, setzen wir insbesondere auf das Konzept einer Meine Damen und Herren, wenn die PDS im Bun-
europäischen Klimaschutzsteuer. destagswahlkampf so etwas gesagt hat, beschuldig-
Ohne eine florierende Wirtschaft ist übrigens eine ten Sie uns stets der Schwarzmalerei.
erfolgreiche Umweltpolitik nicht zu verwirklichen. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie können nur
Diese wiede ru m kann nur in einem freiheitlichen Sy- rotmalen!)
stem gedeihen, weil nur do rt der persönliche Einsatz Aber wie man sieht: Nach den Wahlen dürfen auch
aller Bürger zum Tragen und zum Wirken kommt. diejenigen, die den Regierungsparteien nahestehen,
Deshalb ist es in unserem eigenen Interesse, allen die Realitäten zur Kenntnis nehmen.
Ländern zu helfen, die — sei es nun in Ost oder West,
in Nord oder Süd — den Weg zu einer freiheitlich (Breuer [CDU/CSU]: Sie sind die Täter!)
demokratischen Ordnung eingeschlagen haben und Nun haben Sie, meine Damen und Herren von der
auf unsere Hilfe angewiesen sind. Die höchsten Werte Koalition, für diese Misere immer eine sehr einfache
der Freien Demokratischen Partei sind nun einmal Erklärung zur Hand:
Freiheit und Demokratie. Wir Freien Demokraten wis- (Zuruf von der CDU/CSU: Modrow!)
sen, daß die Freiheit anderer Nationen auch unsere
Freiheit ist, daß Freiheit und Demokratie nicht nur die vierzigjährige Kommandowirtschaft.
unzertrennlich, sondern auch unteilbar sind. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU, der SPD
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. und der FDP)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Diese Formel kennzeichnet schon eine wesentliche
Ursache. Aber sie gibt keine Antwort darauf, warum
es nicht gelungen ist, in den ostdeutschen Ländern
Vizepräsident Klein: Ich erteile dem Abgeordneten den für die Zeit nach der Währungsunion versproche-
Dr. Modrow das Wort. nen, dann für die Zeit nach dem Beitritt zur BRD zuge-
sicherten und schließlich aber ganz bestimmt für die
Zeit nach den Bundestagswahlen vorausgesagten
Dr. Modrow (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! Wirtschaftsaufschwung zustande zu bringen.
Meine Damen und Herren! Unsere Debatte findet in
einer Zeit statt, in der die Menschheit durch den Krieg (Zurufe von der CDU/CSU)
am Golf an den Rand eines vernichtenden Weltbran- Da muß man doch die Frage stellen — sie muß erlaubt
des gestoßen wird. Aber es ist auch an der Zeit, auf die sein — , ob das bewußt falsche Versprechungen waren
Bedrohung des inneren Friedens zu achten. Im Osten oder ob die Regierung diesen Aufschwung nicht zu-
Deutschlands wird die Wirtschaft zerstört, werden stande bringen konnte.
Millionen Bürgerinnen und Bürger ihrer sozialen Exi- Wenn man immer davon spricht, man habe den
stenzgrundlage beraubt. Wunsch, die Weichen richtig zu stellen, muß ich Sie
(Zuruf von der CDU/CSU: Von wem? — Wei fragen: Wer hat denn bisher überhaupt die Strecke
tere Zurufe von der CDU/CSU und der dafür gelegt?
FDP)
Im Westen unseres Landes werden die sozialen und Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter Dr.
finanziellen Folgen der Anschlußpolitik von Woche zu Modrow, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Woche deutlicher.
(Büttner [Garbsen] [CDU/CSU]: Brandstif
ter! ) - Dr. Modrow (PDS/Linke Liste): Nein. Da auch der
PDS vorhin Zwischenfragen abgewiesen wurden,
In einer solchen Zeit ist die Regierung in besonderem werden wir es gleichermaßen so halten.
Maße verpflichtet, für den äußeren und inneren Frie-
den unseres Landes zu wirken. Dieser hohen Ver- Realität ist jedenfalls, daß trotz Boom im Westen des
pflichtung wird die Regierungserklärung leider nicht Landes die Talfahrt im Osten weitergeht. Das sind
gerecht. zwei Seiten einer Medaille. Man kann sich schwer des
Eindrucks erwehren, daß dahinter Absicht steht. Die
Nach der Herausbildung einer Zweidrittelgesell- einen verdienen, die anderen verlieren.
schaft in den alten Bundesländern ist die Politik der
Bundesregierung auf dem besten Wege, in den ost- (Dr. Jobst [CDU/CSU]: So war es früher bei
deutschen Bundesländern sogar eine Eindrittelgesell- euch!)
schaft zu Ungunsten von zwei Dritteln der Bevölke- Alles, was aus der ehemaligen DDR stammt, ob
ru ng zustande zu bringen, was natürlich seine negati- schlecht oder gut, alles, was an sie erinnert, soll
ven Rückwirkungen auf die anderen Bundesländer gründlich beseitigt werden. Kurz und leider nicht gut:
hätte. Die Regierungserklärung ist ein Programm der För-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 119

Dr. Modrow
derung der Reichen, deren Interessen diese Koalition Es darf insbesondere keine Änderung des Grundge-
vertritt — der letzte Redner hat es noch einmal bestä- setzes geben, die einen solchen Einsatz zulassen
tigt — , und sie ist, was die Außenpolitik angeht, auch würde.
das Programm einer so gut wie nicht veränderten
NATO, mit deren Hilfe eine besondere Rolle des ver- (Zurufe von der CDU/CSU: Tschechoslowa
einigten Deutschlands in Europa angestrebt wird. kei!)

(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) Sechstens. Verabschiedung eines konkreten Abrü-
stungsprogramms durch den Deutschen Bundestag,
Mit der Vereinigung ist Deutschland objektiv zu das die Abschaffung der Wehrpflicht einschließt.
einer Großmacht geworden. Welche Chance für unser
Volk und die Weltgemeinschaft, wenn sich dieses grö- (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
ßere Deutschland zu einer aktiven Neutralitäts- und
Friedenspolitik bekannt hätte! Doch wie wurde diese Meine Damen und Herren von der Koalition, wir
Chance vertan! Nichts zeigt dies deutlicher als die hörten heute wiederum: Ein Glück, daß die Vereini-
Haltung der Bundesregierung zum Golfkrieg. Sie hat gung so schnell gekommen ist. Bei der jetzigen Kri-
diesen Krieg zwar ohne Zweifel offiziell bedauert, was senlage der Sowjetunion hätten wir sie nicht bekom-
sie aber nicht davon abhält, ihn mitzufinanzieren, men. — Daran ist nur eines richtig, daß nämlich die
deutsche Soldaten und Kriegsgerät in die Türkei zu Sowjetunion die Vereinigung vorbehaltlos toleriert
schicken. Dabei war doch absehbar, daß die USA den hat.
sogenannten Bündnisfall für das NATO-Mitglied Tür- Ich hatte Gelegenheit, darüber am 30. Januar
kei selbst auslösen und damit Deutschland unmittel- — wohlgemerkt, am 30. Januar! — mit Michail Serge-
bar in den Konflikt hineinziehen könnten. jewitsch Gorbatschow eine sehr gründliche Ausspra-
(Zuruf von der CDU/CSU: Nehmen Sie die che zu führen; alle Grundprobleme, die auf diesem
UNO ernst?) Gebiet lagen, sind zwischen uns zu diesem Zeitpunkt
beraten worden. Am 1. Februar 1990 habe ich dazu
Mit alledem wird die Gefahr eines dritten Weltkrieges meine Positionen erklärt.
immer mehr heraufbeschworen. Die UNO hat keine
Pflicht, sondern die Möglichkeit zu diesem Einsatz (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)
erklärt.
Aber was haben die Deutschen aus dem gemacht,
Wir bekräftigen unsere Verurteilung der Aggres- was im Kaukasus vereinbart worden ist?
sion des Irak und fordern:
(Zurufe von der CDU/CSU und FDP)
Erstens. Die Bundesrepublik Deutschland scheidet
sofort aus der Golfkriegskoalition aus. Wäre nicht die Situation von Präsident Gorbatschow,
dessen Perestroika die Bundesregierung angeblich so
(Beifall bei bei der PDS/Linke Liste)
inständig unterstützt, und deren Erfolg gewünscht
Sie setzt sich für die unverzügliche Beendigung der wird, besser, wenn die vereinbarten Vertragsbezie-
Kampfhandlungen, den Abzug der Interventionstrup- hungen von der Bundesregierung zielstrebiger ausge-
pen und die Einberufung einer Nahost-Friedenskon- staltet würden? Auch notwendige Kritik am Baltikum
ferenz ein. gehört dazu.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) Aber das ändert nichts an pharisäerhaften Eindrük-
Zweitens. Deutsche Soldaten und Waffen werden ken, die hervorgerufen werden,
sofort aus der Türkei und dem gesamten Konfliktge-
(Zurufe von der CDU/CSU)
biet zurückgezogen.
Drittens. Waffenexporte deutscher Rüstungsfirmen wenn man den Kopf über den so gewandelten Gorba-
werden verboten und wirksam unterbunden. Die tschow schüttelt und philosophiert, aber die verein-
rechtswidrigen Waffenlieferungen werden geahn- barten wirtschaftlichen Beziehungen nur sehr lang-
det. sam vorankommen, was übrigens Hunderttausenden
in den östlichen Ländern den Arbeitsplatz kostet. Der
(Zuruf von der SPD: Stasi!) Zwei-plus-Vier-Vertrag ist im Obersten Sowjet noch
Viertens. Jede Unterstützung für den Golfkrieg, ob nicht verhandelt worden. Wir sollten dagegen keine
- sofort
mit Geld, Waffen, Munition oder Logistik, wird falschen Zeichen und Herausforderungen setzen.
eingestellt. Das deutsch-sowjetische Verhältnis wird künftig
Fünftens. Es werden rechtliche Regelungen ge- daran gemessen werden, wie der Partnerschaftsver-
schaffen, die für alle Zukunft den Einsatz deutscher trag mit seinen Nichtangriffsverpflichtungen erfüllt
Streitkräfte außerhalb des Hoheitsgebietes der DDR und in den Dienst des europäischen Friedens gestellt
(Lachen und Zurufe von der CDU/CSU und wird.
der FDP) Meine Damen und Herren, die PDS-Fraktion hat
— der BRD ausschließen. — Die DDR ist darin mit dem Einigungsvertrag in der Volkskammer ihre Zu-
einbezogen, aber leider bisher immer noch nicht ge- stimmung verweigert, vor allem weil er den ökonomi-
nügend konsequent. schen und sozialen Niedergang in Ostdeutschland
vorprogrammiert hat.
(Kraus [CDU/CSU]: Früher war das anders!
1968! — Zuruf von der FDP: Der alte (Widerspruch bei der CDU/CSU und der
Geist!) FDP)
120 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Modrow
Jetzt stehen wir vor der Notwendigkeit, selbst die abgewickelt werden. Was mich anlangt, so galt ich vor
minimalen Möglichkeiten dieses Vertrages einzukla- der Wende als Reformer. Mancher Politiker der BRD
gen, der immer mehr ausgehöhlt werden soll. wollte mich darin in vielfachen Gesprächen bestär-
ken. In meiner Amtszeit als Ministerpräsident waren
(Zurufe von der CDU/CSU)
solche Gespräche von nationaler Verantwortung ge-
Wo bleiben z. B. die in Art. 28 dieses Vertrages be- tragen. Wer das vergessen machen will, muß es mit
schworenen konkreten Maßnahmenprogramme zur sich selbst austragen.
Beschleunigung des wirtschaftlichen Wachstums und
des Strukturwandels für die neuen Bundesländer? Ich sage es ohne Wertung: Auch manche der hier
Tatsache ist, daß fast drei Millionen um eine sinnvolle anwesenden und andere Politiker der BRD sollten
Tätigkeit gebracht wurden nicht verdrängen, daß es für sie im vergangenen Jahr-
zehnt wichtig war, vom langjährigen ersten Mann der
(Dr. Jobst [CDU/CSU]: Meinen Sie Stasi-Tä DDR empfangen zu werden, lange und intensive Ge-
tigkeit? — Kraus [CDU/CSU]: Genauer spräche mit ihm zu führen,
bitte!)
und soziale Ängste sie belasten. Für das laufende Jahr (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU —
geht es allein in den neuen Bundesländern um rund Dr. Vogel [SPD]: Jetzt hört ihm doch mal
50 Milliarden DM, die für die Finanzierung der Ar- zu!)
beitslosigkeit eingesetzt werden müssen oder als
was mir — das muß ich sagen — nicht zuteil wurde.
Steuereinnahmen wegen fehlender Erwerbstätigkeit
ausfallen. Wenn weiterhin vorwiegend Arbeitslosig- Zu Toleranz, Achtung und Vertrauen fordert uns
keit finanziert wird, geht das auch zu Lasten der Steu- der Bundespräsident bei der Vereinigung der beiden
erzahler in den alten Bundesländern. Drastisch zeigt deutschen Staaten auf. Wir sollten eines nicht überhö-
sich, daß die ungelösten Wirtschaftsprobleme in den ren und nicht vergessen: Es gibt nur einen Weg zum
neuen Bundesländern auch auf die Lohnabhängigen inneren Frieden:
im Westteil unseres Landes zurückschlagen.
Während in der Koalitionsvereinbarung nur eine (Zurufe von der CDU/CSU)
bescheidene Umlenkung von Investitionen in die Wo das Recht zur Anwendung kommen muß, soll das
neuen Bundesländer vorgesehen ist, wird der Treu- geschehen. Andersdenkende sollen sich gegenseitig
handanstalt eine klare Aufgabe gestellt, nämlich die ertragen und tolerieren. Ich muß das mit vielen von
Privatisierung so rasch und so weit wie möglich vor- Ihnen auch.
anzutreiben. Zu diesem Konzept gehört, die ganze
ostdeutsche Wirtschaft marode zu reden und die Filet- (Zurufe von der CDU/CSU)
stücke möglichst zum Nulltarif westdeutschen Unter-
nehmern zu übergeben. Machen Sie sich deshalb dieses Prinzip auch zu eigen.
Damit könnte der Bundestag in dieser Frage im Lande
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von
hunderttausendfach ein Beispiel geben.
der CDU/CSU: Ihr habt sie marode gemacht!
— Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, bereits bei der Beratung
Erst wenn die Betriebe übernommen sind, hört man des Einigungsvertrages hatte die PDS nachdrücklich
plötzlich von den neuen Besitzern: Die technische erklärt, daß die vorgesehenen Finanzausstattungen
Ausrüstung ist gar nicht so schlecht; Gewinne kann der Länder und Kommunen Ostdeutschlands völlig
man damit ganz gut machen. unzureichend sind. Das Leben hat es bestätigt. Die
Finanzlage in den neuen deutschen Ländern hat sich
(Zuruf von der CDU/CSU: Von welchen Be dramatisch zugespitzt. Das bestätigt auch Minister-
trieben reden Sie? — Weitere Zurufe von der präsident Stolpe mit der Feststellung, daß die für das
CDU/CSU) erste Quartal 1991 bereitgestellten Mittel nur bis Ende
Anstatt die bestehenden Bet riebe bei der Strukturan- Februar reichen werden. Wir erinnern uns sehr wohl
passung zu unterstützen, werden viele durch Verwei- daran, wie Finanzminister Waigel den ehemaligen
gerung von Entschuldung und Exportförderung zu SPD-Finanzminister Romberg der DDR abkanzelte,
Produktionsstillegungen und in den Konkurs getrie- als dieser forderte, das gesamte Steueraufkommen auf
ben. - dem Gebiet Ostdeutschlands diesen Ländern bis 1994
zu belassen. Heute stehen die Länder vor fast unlös-
Auch die Träume von über 500 000 zusätzlichen
baren Problemen.
Arbeitsplätzen noch 1990 im Mittelstand sind vom
Winde verweht. Analoges vollzieht sich im Bereich Nach den Festlegungen des Einigungsvertrags soll-
von Wissenschaft, Bildung, Kultur und Gesundheits- ten die Mieten in den neuen Bundesländern nur unter
wesen der ehemaligen DDR. Was hier unter dem Berücksichtigung der Einkommensentwicklung er-
Stichwort „Abwicklung" läuft, spricht allen Ansprü- höht werden. Nun sollen sie noch in diesem Jahr rigo-
chen der Grundordnung der BRD auf Freiheit, Men- ros bis auf das Dreifache erhöht werden.
schenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
Hohn. (Zuruf von der CDU/CSU: Wohngeld!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr Vorschlag Sieht man noch die rapide Erhöhung der Energie-
auch!) preise, der Verkehrstarife und anderer Gebühren,
Die DDR hatte vom November 1989 bis Oktober dann wird immer offensichtlicher: Die Gewinne der
1990 zwei Ministerpräsidenten. Auch sie sollen wohl Einheit Deutschlands werden privatisiert, und ihre
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 121
Dr. Modrow
Kosten werden auf die Bevölkerung abgewälzt. Der nach Ost zu erreichen; er muß möglichst durch eine
innere Frieden wird damit auf das höchste belastet. eigene wirtschaftliche Entwicklung geschaffen wer-
den.
(Zurufe von der CDU/CSU: Sie sind ein Fos
sil! — Gebt die PDS-Millionen heraus!) Unseres Erachtens sind dafür vor allem notwendig:
erstens eine durchdachte und nach Prioritäten geord-
Den deutschen Steuerzahlern und den Menschen in nete Strukturpolitik. Bestandteil eines solchen ge-
der ehemaligen DDR wäre viel erspart geblieben, samtdeutschen Konzepts muß ein beschäftigungs-
Herr Bundeskanzler, wenn der Solidarbeitrag zur orientiertes Förderprogramm sein.
Ankurbelung der ostdeutschen Wirtschaft zustande
gekommen wäre. Ich hoffe, Sie erinnern sich an un- Vizepräsident Klein: Herr Abgeordneter, Ihre Rede-
sere Willenserklärung von Dresden. Von Schritt- und zeit ist abgelaufen.
Augenmaß war damals noch die Rede. Der über-
stürzte Anschluß forde rt nun einen immens hohen (Zustimmung bei der CDU/CSU — Zuruf von
Preis. der CDU/CSU: Nicht nur die Redezeit!)
Jetzt wird sichtbar, daß die damaligen Argumente, Dr. Modrow (PDS/Linke Liste) : Dann ein letztes
daß man sehr schnell handeln müsse, um den Massen- Wort. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, gestern erklär-
exodus aus der DDR stoppen zu können, auch nur die ten, daß es darum geht, Millionen Menschen in den
halbe Wahrheit waren. Die Tatsachen haben dies ein- neuen Bundesländern ermutigende Zukunftsper-
deutig widerlegt. Von Januar bis Ende Oktober 1990 spektiven zu geben, dann kann man Ihnen nur zu-
sind 255 000 Menschen in die Altbundesländer über- stimmen. Aber mit der Zerstörung der Wirtschaft und
gesiedelt, davon allein 73 000 nach der Währungs- der Existenzgrundlagen von Millionen, mit Intoleranz,
union. Wir alle wissen: Dieser Strom hält weiter an. „Abwicklung" und hunderttausendfachen Ausgren-
Mit Sorge sehen wir, daß nicht nur der Einigungs- zungen ist diese Perspektive nicht zu schaffen, weder
vertrag ausgehöhlt, sondern auch am Zwei-plus-Vier- im Osten noch in der gesamten Bundesrepublik. Hal-
Vertrag gerüttelt wird, nunmehr auch an den unwi- ten Sie ein auf diesem Weg, die von den Bürgerinnen
derruflich festgeschriebenen Enteignungen auf be- und Bürgern zu tragenden Lasten werden zu groß
satzungsrechtlicher Grundlage der Jahre 1945 bis sein!
1949. Die PDS fordert im Interesse der ohnehin in ihrer (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Existenz bedrohten ostdeutschen Bäuerinnen und
Bauern Vizepräsident Klein: Das Wort hat der Herr Abge-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihr habt Ihnen die ordnete Schulz.
Existenz genommen!)
Schulz (Berlin) (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsi-
und im Geiste der Vertragstreue gegenüber der
UdSSR, jegliche Angriffe auf die Bodenreform zurück- dent! Meine Damen und Herren! Nein, Herr Modrow,
zuweisen und den Einigungsvertrag strikt einzuhal- bei allem ehrlichen Bemühen um eine neue Identität,
ten. Ich appelliere an Sie, Herr Bundeskanzler: Been- Sie und Ihre Partei, die wie ein Phoenix aus der Asche
den Sie sofort die unsinnige Diskriminierung der Ge- der SED entstanden ist, täten, glaube ich, besser
nossenschaften in den ostdeutschen Ländern. Es ist daran, sie würden sich voll und ganz der Vergangen-
doch gegen jegliche wirtschaftliche Vernunft entge- heitsaufarbeitung stellen, als sich hier in flotten
gen dem mehrheitlichen Willen der ostdeutschen Schuldzuweisungen zu üben.
Bäuerinnen und Bauern, ihr Poten tial an wettbe- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der
werbsfähigen, zukunftsorientierten landwirtschaftli- CDU/CSU, der SPD und der FDP — Zuruf
chen Betrieben aus politischen Gründen zu zerstören, von PDS/Linke Liste: Sie sollten sich etwas
statt sie zu rekonstruieren. Neues einfallen lassen; das wird langwei
lig!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Es gibt doch gar
keine Bauern mehr, sondern nur noch Spe — Ich denke, Sie haben das erstmal zu bringen.
zialisten!) Wir stehen vor der Jahrhundertaufgabe, die Einheit
Deutschlands zu verwirklichen, also gleiche Lebens-
Es entspricht auch dem Auftrag der Wählerinnen chancen im Osten wie im Westen herzustellen, und
und Wähler Ihrer Partei, die Kosten der Einheit -durch gleichzeitig befindet sich Deutschland am Rande ei-
eine vernünftige Nutzung alles Entwicklungsfähigen nes Krieges. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen,
in der ehemaligen DDR zu begrenzen. denn die Bundesregierung ist dabei, weitere Truppen
Man sollte sich auch, meine Damen und Herren von und Ausrüstungen an den Rand des Golfkrieges zu
der Koalition, an ein Wo rt mit Aufmerksamkeit erin- verlegen. Schon jetzt ist dieser Krieg außer Kontrolle.
nern, das jetzt immer häufiger in den östlichen Län- Die Bilder vom sauberen Telekrieg haben uns nur ein
dern ausgesprochen wird, nämlich: So, wie es jetzt paar Tage blenden können. Wenn die Militärs bewei-
läuft, haben wir es nicht gewollt. sen wollen, daß ein Krieg führbar ist, demonst rieren
sie doch eher das Gegenteil. Der Krieg ist nicht be-
(Dr. Jobst [CDU/CSU]: Meinen Sie ! ) grenzbar, nicht auf strategische Ziele, nicht auf kon-
Meine Damen und Herren, angesichts der sehr ern- ventionelle Waffen, nicht auf den Irak. Saddam Hus-
sten wirtschaftli chen und sozialen Lage in den neuen sein ist in diesem Krieg der Aggressor, und der Irak
Bundesländern sind Maßnahmen für einen wirtschaft- muß Kuwait umgehend freigeben.
lichen Aufschwung besonders dringlich. Er ist nicht Dennoch war die Entscheidung der USA und ihrer
nur durch einen anhaltenden Finanztransfer von West Alliierten für eine militärische Lösung, sofern es eine
122 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Schulz (Ber li n)
solche überhaupt gibt, falsch und verhängnisvoll. Die- Jahren wohlbekannt. Die GRÜNEN haben in den letz-
ser Krieg muß so schnell wie möglich beendet werden, ten beiden Wahlperioden wiederholt darauf hinge-
und deutsche Politik darf nicht den militärischen Sieg, wiesen und sind immer wieder auf taube Ohren gesto-
sie muß einen baldigen Waffenstillstand zum Ziel ha- ßen. Jetzt, wenn es brennt, kündigt der Wirtschaftsmi-
ben. Frieden ja, nur Krieg um jeden Preis darf es nicht nister, Herr Möllemann, Maßnahmen an. Wir können
geben. nur hoffen, daß er nicht nach Herrn Töpfer zum zwei-
Die jetzt beginnende Hatz auf einen grausamen und ten Ankündigungsminister des Kabinetts Kohl wird.
fanatischen Diktator in seinem bombensicheren deut- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Zurufe
schen Betonbunker ist es nicht wert, daß dafür unzäh- von der CDU/CSU)
lige Menschen sterben, eine Region zerstört, Ressour-
cen vernichtet werden und unabsehbare Umwelt- Wir werden in den nächsten Tagen Anträge in den
schäden eintreten. Bundestag einbringen, in denen wir erste Antworten
auf das Scheitern der Politik am Golf geben wollen.
Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Dregger, haben Wir werden ein Gesetz einbringen, das es den Bür-
kein Recht, die Friedensbewegung zu tadeln. gern und Bürgerinnen ermöglichen soll, sich gegen
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei die zwangsweise Veranlagung zur Rüstungsfinanzie-
der SPD — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das hat rung zur Wehr zu setzen und die Zweckbindung ihrer
er nicht getan!) Steuerzahlung für f riedliche Zwecke zu erreichen. Wir
haben bereits jetzt die Einsetzung eines Untersu-
Es sind Bürgerinnen und Burger, die es mit der Be- chungsausschusses beantragt, der das Gebaren der
wahrung der Schöpfung ernst meinen und sich nicht Bundesregierung im Hinblick auf Waffenexporte und
hinter Lippenbekenntnissen verstecken. Das ist kein den Export von waffenfähigen Technologien untersu-
Antiamerikanismus, sondern die Überzeugung, daß chen soll. Wir kündigen außerdem jetzt schon eine
Krieg, egal von welcher Seite er begonnen wird, kein Initiative an mit dem Ziel, den Export von Kriegswaf-
Mittel der Politik sein darf. fen radikal zu beschränken und dies auch im Grund-
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei gesetz zu verankern.
Abgeordneten der SPD)
Im Schatten des Golf-Krieges hat sich die Lage in
Es geht um die politische Beilegung des Golfkon- der Sowjetunion, insbesondere im Baltikum, zuge-
fliktes, die Einberufung einer Nah-Ost-Konferenz, spitzt. Wir dürfen dem verschärften Druck Moskaus
den Wiederaufbau einer Region, sichere Grenzen für auf die baltischen Republiken nicht untätig zusehen.
Israel ebenso wie für einen palästinensischen Staat. Sowjetisches Stillhalten gegenüber dem Golf-Krieg
Wir sind nicht bereit, den Golfkrieg durch die Zu- mit westlichem Stillhalten gegenüber den sowjeti-
stimmung zu Steuererhöhungen zu unserem Krieg zu schen Militäraktionen zu verbinden — dieses Kalkül
machen. Andererseits wissen wir, daß dieser Krieg mit darf nicht aufgehen. Auf die flagrante Verletzung der
jedem Tag mehr Leiden und größere Schäden hervor- Menschenrechte — so hat die Parlamentarische Ver-
ruft. Um diese Schäden soweit wie möglich zu besei- sammlung des Europarats den Eingriff der Sowjetar-
tigen oder zu mindern, für humanitäre Hilfe zur Ein- mee in den Ostseerepubliken jüngst zu Recht bezeich-
dämmung der ökologischen Katastrophe, sollten wir net — hat der Westen noch keine angemessene Ant-
Deutsche bereit sein, finanzielle Opfer zu bringen. wort gefunden. Bisher haben, mit unterschiedlichen
Akzenten, alle im Bundestag vertretenen Parteien die
Aber eine Kriegssteuer — ich weiß, Sie werden sie Auffassung vertreten, daß der Prozeß der Perestroika
anders nennen, das war heute schon der Fall — leh- durch vielfältige Unterstützungsmaßnahmen für die
nen wir ab. Die Bundesrepublik und auch die DDR Sowjetunion nach Kräften gefördert werden sollte.
haben bei der Aufrüstung des Irak von Anfang an Doch eine pauschale Unterstützung der Sowjetunion,
kräftig mitgeholfen. Die Bundesregierung hat immer nur um die Position Gorbatschows nicht zu gefährden,
wieder die Verhältnisse im Irak verharmlost, und die das kann heute nicht mehr ausreichen. Jetzt ist vor
deutsche Industrie mehr oder weniger direkt ermu- allem praktische Solidarität mit denen notwendig, die
tigt, dorthin waffenfähige Technologien zu liefern. unter Berufung auf die Menschenrechte demokrati-
Jetzt erleben wir, wie lebensbedrohend es ist, wenn sche Entfaltungsmöglichkeiten suchen, wie dies die
Schwerter nicht umgeschmiedet, sondern verkauft baltischen Republiken tun, und zwar sowohl Litauer,
werden. Letten, Esten als auch dort lebende Russen und Po-
Heute vergießt die Bundesregierung Krokodilsträ- len.
nen angesichts der Tatsache, daß Saddam Hussein Außenpolitik, so scheint es, ist in dieser Regierung
diese Technologie gegen Israel einsetzt. Die angekün- nicht eine Angelegenheit der Koalition, sondern die
digten deutschen Lieferungen von Abwehrwaffen an persönliche Sache des Außenministers. So hat es sich
Israel, auch wenn sie heute unausweichlich erschei- wohl erübrigt, in der Koalitionsvereinbarung Festle-
nen, bewegen sich doch auf der tödlichen Spirale des gungen hierfür zu treffen. Das ist bedauerlich. Gern
Waffenexports. Wir unterstellen ausdrücklich nicht, hätten wir erfahren, ob die Bundesregierung konzep-
daß dies Ihre Absicht ist. Dennoch macht sich die Auf- tionell auf die dramatischen Umwälzungen in Mittel-
rüstung des Irak heute für bestimmte deutsche Unter- und Osteuropa reagieren wird, ob sie aus dem Zerfall
nehmen doppelt bezahlt. des Warschauer Paktes Schlüsse auf die Sicherheits-
Die Bundesregierung kündigt jetzt verschärfte politik zu ziehen gedenkt. Dann müßte sie z. B. etwas
Maßnahmen zur Rüstungskontrolle an. Das wirkt wie sagen über die politische Zukunft der NATO und über
eine Frisch-Adaption von „Biedermann und die die Rolle der KSZE, der gegenwärtig einzigen gesamt-
Brandstifter" . Schließlich ist das Problem doch seit europäischen Organisation.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 123
Schulz (Berlin)
Nach jüngsten Meinungsumfragen fühlen sich fast den Leistungsfähigen, die zwischen Rostock, Erfu rt
zwei Drittel der Westdeutschen durch den Golf-Krieg undGörlitzgebauchwrdn,omei
bedroht, während sich die Mehrheit der Ostdeutschen den Westen abwandern. Diese Abwanderung hält un-
vor allem auf Grund der wirtschaftlichen Schwierig- begrenzt an. Auch der beabsichtigte Steuerfreibetrag
keiten in den neuen Bundesländern besorgt zeigt. wird daran nichts ändern.
Das charakterisiert die gespaltene Bewußtseinslage
der Nation. Je länger der Aderlaß der fünf ostdeutschen Länder
anhält, desto schlechter sind die Ausgangssituationen
Die Koalitionsvereinbarung vermittelt den Ein- für einen baldigen Aufschwung und desto höher wird
druck, die Dramatik der deutschen Vereinigung liege auch der Bedarf an personellen und finanziellen Hil-
Jahre zurück oder es habe sie überhaupt nie gegeben. fen aus den alten Bundesländern. Nur schnelle Hilfe
Es ist ein Trugschluß zu glauben, einem großen Wahl- ist auch wirksame Hilfe. Ohne massive Unterstützung,
sieg müsse große Politik folgen. Alles läuft wie gehabt. die über das bisher angekündigte Maß deutlich hin-
Es ist die 12. Legislaturperiode des Bundestags und ausgeht, haben die Landesregierungen, gleich wel-
nicht die 1. eines gesamtdeutschen Parlaments. cher Couleur, keine reelle Chance, der Abwärtsent-
Die Koalition hat für ihr Programm, die Einheit ohne wicklung gegenzusteuern.
Steuererhöhung zu ermöglichen, eine klare Mehrheit Schon der Aufbau leistungsfähiger Verwaltung
erhalten. Ein Konzept dafür ist sie schuldig geblieben. wird ihnen schwer genug gemacht. Wer für doppelte
Wo ist das Aufbauprogramm, das Zukunftsprogramm Arbeit und dreifache Schwierigkeiten nur ein Drittel
für die deutsche Integra tion, das den Bürgerinnen und des Gehalts bei schlechterer Einstufung anbieten
Bürgern in den neuen Bundesländern Perspektiven kann, wird nicht die Leute bekommen, die er
eröffnet, die kommenden Jahre zu bestehen? braucht.
Ständig ist — um einen Ihrer Allgemeinplätze zu
verwenden — von Weichenstellung die Rede, ohne (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
daß — um in der Metapher zu bleiben — die finanzi- der SPD)
ellen, wirtschaftlichen und sozialen Schienen erkenn- Das Bedrückende dabei ist: Die Misere ist Ihnen
bar sind. Die Situa tion wird mit den 50er Jahren ver- bestens bekannt. Ihre eigenen Parteifreunde, Herr
glichen. Aber wo bleibt der Marshallplan, wo ist der Bundeskanzler, allen voran der sächsische Minister-
Lastenausgleich? Offensichtlich wollen Sie vergessen, präsident Biedenkopf, haben deutlich vernehmbar
daß die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland Alarm geschlagen, haben eine bessere Finanzausstat-
45 Jahre lang ihren Rücken hingehalten haben, um tung der Länder auch um den Preis von Steuererhö-
gemeinsame Geschichtsverantwortung abzutragen. hungen gefordert. Die Antwort Ihrer Regierung und
Jetzt fällt, wenn wir nicht aufpassen, endgültig aus- ihrer Koalitionsvereinbarung ist mehr als mager. Auf
einander, was doch zusammengehören so ll. der einen Seite stehen Wirtschaftsboom, volle Auf-
Just am Tag Ihrer hoffnungsvollen Regierungser- tragsbücher, Steuermehreinnahmen und neue Ar-
klärung, Herr Bundeskanzler, stellt das „Handels- beitsplätze; auf der anderen Seite, im Osten, schließen
blatt" kühl und sachlich fest, daß sich die Hoffnungen die Betriebe, und die öffentlichen Kassen sind leer. Es
auf einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in wird Zeit, nach der Abwicklung der DDR und ihrer
Ostdeutschland zerschlagen haben. Institutionen nun den westdeutschen Egoismus abzu-
wickeln.
Die deutsche Vereinigung ist kein sich selbst finan-
zierender Prozeß. Die Dezember-Zahlen der Bundes- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
anstalt für Arbeit weisen 642 000 Arbeitslose, 1,8 Mil- der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/
lionen Kurzarbeiter für Ostdeutschland aus. Umge- Linke Liste)
rechnet auf Vollzeit-Arbeitslose entspricht das etwa
1,5 Millionen Arbeitslosen. Das heißt mit anderen Über die unzureichenden Regelungen des Eini-
Worten: Die wirkliche Arbeitslosenquote liegt ver- gungsvertrages hinaus haben Sie den ostdeutschen
mutlich bei mehr als 15 %. Ländern nicht viel anzubieten. Die sofortige uneinge-
schränkte Einbeziehung dieser Länder in den Länder-
Die Länder und die Kommunen in Ostdeutschland finanzausgleich ist aus materiellen wie aus verfas-
befinden sich in einem beklagenswerten Zustand. sungsrechtlichen Gründen dringend geboten. Zusätz-
Ihre eigene Steuerkraft ist noch nicht entwickelt; der liche Mittel müssen nach unserer Auffassung durch
Einigungsvertrag schließt sie vom Länderfinanzaus- eine Solidarabgabe der deutschen Wi rtschaft bereit-
gleich aus. Die Zuweisungen aus dem Fonds Deutsche gestellt werden. Aber auch Wohlhabende und Besser-
Einheit decken nicht einmal den geringsten Bedarf. verdienende müssen ihren Beitrag leisten.
Dabei sind die Herausforderungen, die auf die (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei
neuen Länder zukommen, ungleich größer, als sie von der SPD)
den alten Bundesländern zu bewältigen sind. Denken
Sie nur an die Schaffung einer leistungsfähigen Infra- Und was machen Sie? Sie wollen die Vermögen-
struktur, an die Neustrukturierung und den Aufbau steuer abschaffen. Sie haben Recht, wenn Sie die Ko-
des Schul- und Hochschulwesens, an die Gesund- stenbelastung der Unternehmen in den fünf neuen
heitsversorgung. An allen Stellen muß gleichzeitig Ländern niedrig halten wollen. Das hilft auch den
angepackt, müssen neue Orientierungen geschaffen Betrieben, die nur wenig oder gar nicht investieren
werden, müssen die Probleme gleichzeitig schnell können. Aber in einer Zeit, in der die Solidarität der
und wirksam gelöst werden. Es ist keine Zeit. Wenn Wohlhabenden gefordert ist, können Sie nicht die
sich die Verhältnisse nicht rasch bessern, werden von Vermögensteuer streichen und gleichzeitig von den
124 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Schulz (Berlin)
Arbeitnehmern höhere Beiträge zur Arbeitslosenver- Vizepräsident Klein: Das Wo rt hat der Herr Bundes-
sicherung kassieren. finanzminister.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei
Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Herr Prä-
Liste) sident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Abschließend einige Bemerkungen zur Wirtschafts- Schulz, Sie haben gesagt, wir hätten nicht das Recht
politik: zur Kritik an der Friedensbewegung. So kann es doch
wohl nicht sein, daß Sie das Recht haben, uns überall
Erstens. Die Bundesrepublik schätzt die Dimension zu kritisieren, aber daß wir nicht das Recht haben, Sie
der Aufgabe, die ostdeutschen Länder wirtschaft li ch zu kritisieren!
wieder in Gang zu bringen, offenbar falsch ein. Was
hier an Förderungsmaßnahmen vereinbart ist, würde (Beifall bei der CDU/CSU — Schulz [Berlin]
nicht ausreichen, westdeutsche strukturschwache Ge- [Bündnis 90/GRÜNE]: Zu tadeln!)
biete auf den Bundesstandard zu bringen. Ein Zweites. Sie haben dieser Bundesregierung un-
terstellt, sie habe mit dazu beigetragen, daß hier die-
Zweitens. Die Bundesregierung verkennt den not- ser Waffenexport erfolgt sei.
wendigen Zusammenhang von wirtschaftlichem Auf-
bau und ökologischem Umbau in den ostdeutschen (Conradi [SPD]: Zu Recht!)
Ländern. Sie setzt auf wi rt schaftliche Expansion zu Das ist eine Unterstellung, die Sie niemandem in die-
Lasten der Umwelt und verschreibt sich erneut dem ser Regierung und in früheren Regierungen zumuten
Teufelskreis von Umweltzerstörung und Umweltrepa- können. Das ist eine Unterstellung, die ich zurück-
ratur. Ein deutlicher Hinweis darauf ist die geplante weise.
Einschränkung der Beteiligung der Öffentlichkeit bei Wenn wir hier unsere Empörung äußern, dann sind
der Planung von Infrastrukturmaßnahmen. das keine Krokodilstränen. Auch diese Unterstellung
Drittens. Der Glaube an die Segnung des uneinge- gegenüber dieser Bundesregierung weisen wir zu-
schränkten Wirkens der Marktkräfte und an den un- rück.
bedingten Sinn der Privatisierung von Staatseigen- (Beifall bei der CDU/CSU)
tum und Staatsaufgaben ist ungebrochen. Ich kann
Das Aufbaukonzept, ein umfangreiches Förderin-
mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ideolo-
strumentarium zum Aufbau in den neuen fünf Bun-
gisches Denken an die Stelle sachgerechter Abwä- desländern, liegt vor. Es wurde schon vor den Koali-
gung getreten ist. tionsvereinbarungen festgelegt und ergänzt. Alle
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE) denkbar möglichen Instrumentarien der bewährten
und erprobten Steuer- und regionalen Wirtschafts-
Viertens. Die Hoffnung auf die Aufrechterhaltung politik haben wir hier angewendet in einer, wie ich
und sogar den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen meine, guten Kombination der Investitionszulage, der
mit den bisherigen RGW-Staaten ist unrealistisch. Abschreibungsverbesserungen, der entsprechenden
Dieser Handelsaustausch ist schon vor der Umstellung Programme und allem, was es in der regionalen Struk-
des Handels auf konvertible Währung drastisch zu- turpolitik gibt. Wenn Sie hier schon jetzt wieder ver-
rückgegangen. Viele der ostdeutschen Unternehmen suchen, in Sachen Vermögensteuer so etwas wie eine
haben kein besonderes Interesse an Importen aus dem Neiddiskussion aufzubauen, dann frage ich: Macht es
RGW-Raum, weil sie westlichen Standards meist nicht eigentlich Sinn, eine Steuer zu erheben, für die ich
genügen. Nach dem Auslaufen der großzügigen Ex- vorher die Einheitswerte, die es kaum gibt, feststellen
portregelung des Staatsvertrages sind sie auch in müßte, wofür ich Tausende von Finanzbeamten benö-
Osteuropa gegenüber westlichen Firmen zumeist tigen würde? Ich meine, es ist sehr sinnvoll, auf die
nicht mehr konkurrenzfähig. Die anfänglich erhoffte Erhebung dieser Steuer und auch der Gewerbekapi-
Stütze der ostdeutschen Wirtschaft ist bereits zusam- talsteuer zu verzichten. Wenn wir das übrigens dann
mengebrochen. auch in der ersten Stufe der Unternehmenssteuerre-
Schon im vergangenen Sommer war für Kurt Bie- form in ganz Deutschland tun, steht dabei auch die
denkopf klar — ich zitiere — : Gegenfinanzierung über eine Verringerung der Ab-
schreibungsbedingungen zur Debatte. Ich bitte, das
Wir haben den Deutschen in der DDR zuviel ver- nicht zu übersehen. Auch das gehört zu dem Gesamt-
sprochen. Wir haben gesagt, es gebe ein Wi rt konzept, auf das wir uns verständigt haben.
-schaftwunder.Wibgsat,Enheiko- Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen
ste nichts. Wir haben hohe Wachstumsraten vor- Sie mich — weil man das einfach nicht so stehenlassen
ausgesagt. Namhafte Bonner Politiker gingen so- kann — ein paar Bemerkungen zu Herrn Modrow
gar so weit, die DDR-Bürger zur Dankbarkeit dar- machen. Ein Mann, der vorher und vor allen Dingen in
über aufzufordern, daß wir ihnen die D-Mark als seiner Zeit als Ministerpräsident so versagt hat und
das Kostbarste, das wir haben, auf dem Silberta- die Zeit nicht genützt hat, hat kein Recht, hier anderen
blett präsentieren. Mit solchen Reden haben wir Vorwürfe zu machen.
unerfüllbare Erwartungen geweckt.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Regierungserklä-
Er und die anderen SED-Machthaber, die damals
ru ng verstärkt die Ernüchterung.
nach dem Sturz von Honecker angetreten sind, haben
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei offensichtlich mehr Zeit und Kraft für die Strukturer-
der SPD) haltung der SED und ihres Vermögens verbracht, als
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 125
Bundesminister Dr. Waigel
sich um die Menschen in der früheren DDR zu küm- Was übrigens den Beitrag zur Arbeitslosenversi-
mern. cherung anbelangt, habe ich davon von dieser Stelle
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie aus vor der Bundestagswahl gesprochen. Ich habe
bei Abgeordneten der SPD) ausdrücklich gesagt, daß die Kosten, die durch die
Arbeitslosigkeit entstehen, do rt gedeckt werden müs-
Wir hätten schon ganz gerne einmal Auskunft dar- sen, wo sie entstehen, und nicht dem Bundeshaushalt
über erhalten, was Herr Modrow früher als Bezirks- aufgelastet werden können. Insofern ist diese Maß-
sekretär der SED alles gewußt hat, was er getan hat nahme systemkonform; sie ist marktkonform. Sie
und wofür er Verantwortung trägt. kann dann wieder reduziert werden, wenn die Pro-
(Zuruf von der CDU/CSU: Stasi!) bleme in den neuen fünf Bundesländern gelöst sind.
Wenn er von „pharisäerhaft" gesprochen hat, frage (Beifall bei der CDU/CSU)
ich ihn einmal: Wo war er 1968, als die Tschechoslo- Herr Kollege Vogel, ich will auch ganz offen zu dem
wakei überfallen wurde, und wo hat er gegen Waffen- Stellung nehmen, was Sie zur Rückerstattung im Falle
lieferungen protestiert, die von der DDR offiziell nach der bestandskräftigen Bescheide im Zusammenhang
Afrika und überall in die Welt hinausgegangen mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes ge-
sind? sagt haben: Natürlich wäre es mir — und ich glaube,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie jedem anderen auch — lieber, wir könnten diese
bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Rückerstattung auf alle Betroffenen ausdehnen. Ich
Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE] — Poß habe auch von dieser Stelle aus gesagt: Es ist schwer
[SPD]: Wo war denn die Ost-CDU?) zu vermitteln, daß nur diejenigen etwas zurückbe-
kommen, die Einspruch eingelegt haben, und andere
Dieser Mann, der sich gerne als Biedermann ausgab nicht.
und ausgibt, ist ein Brandstifter in der Politik der letz-
ten Jahre und Jahrzehnte gewesen. (Conradi [SPD]: Es ist nicht zu vermitteln!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Ich habe das hier gesagt.
Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Und Ihre Ost Nur meine Damen und Herren: Bei den Kosten, die
CDU-Freunde haben alles mitgemacht!) insgesamt entstehen, nämlich in der Größenordnung
Nach wie vor stehe ich dazu: Diesem Mann und seiner von 14 Milliarden DM bis 17 Milliarden DM, bei den
Umgebung konnte man damals im Januar 15 Milliar- Problemen, die dadurch entstehen, daß etwa 11 Mil-
den DM nicht anvertrauen. lionen Fälle neu aufgerollt werden müßten, und ange-
sichts der Tatsache, daß, was den Lohnsteuerjahres-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ausgleich angeht, zum Teil die entsprechenden Lohn-
Ich möchte mich nun mit einigen Bemerkungen des steuerkarten nicht mehr zur Verfügung stehen,
Kollegen Vogel beschäftigen, aber dies in einer ande- glaube ich es vertreten zu können, daß wir für die
ren Weise als der, die jetzt notwendig war, weil ich Zukunft den Familienlastenausgleich entscheidend
dem Kollegen Vogel trotz einiger Attacken und Kriti- verbessern, nachdem wir schon in den letzten Jahren,
ken, die zum Ritual gehören, einen sachlichen Beitrag was die Freibeträge anbelangt, in eine Größenord-
in dieser ernsten Situation bestätigen möchte. nung gekommen sind, die das Bundesverfassungsge-
Aber von Ihnen als einem guten Ju risten, Herr Vo- richt angemahnt hat. Ich glaube, das ist eine vertret-
gel, hätte ich erwartet, daß Sie den Unterschied zwi- bare Lösung, mit der die große Mehrheit auch der
schen Abgabe und Steuer etwas genauer ausführen, Betroffenen einverstanden ist. Wichtiger ist es, für die
als Sie das zu tun beliebt haben. Zukunft das Notwendige und Mögliche zu tun, als für
die Vergangenheit das korrigieren zu wollen, was uns
(Lachen bei der SPD — Dr. B riefs [PDS/Linke das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich nicht auf-
Liste]: Taschenspielertricks!) gegeben hat.
Darf ich Sie, Herr Kollege Vogel, daran erinnern, daß (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
in einer SPD-geführten Bundesregierung in den Jah- neten der FDP)
ren 1979 und 1980 eine Sonderablieferung stattgefun-
den hat, eine Erhöhung der Abgabe um 50 % , nämlich Lieber Kollege Solms, ich verbinde mit Ihrem ersten
von 6 2/3 auf 10 %, und daß dies ab 1981 insgesamt ein Auftritt als Fraktionsvorsitzender die Hoffnung und
Volumen von etwa 18,8 Milliarden DM ergeben - die Zuversicht auf eine gute Zusammenarbeit. Ihre
hat? Sachlichkeit und Ihre Fairneß bieten dazu eine gute
Voraussetzung.
Wir haben das auf 2 Milliarden DM begrenzt und —
temporär — auf nur vier Jahre. Ich meine, das ist ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
tretbar und auch der Normalfamilie durchaus zumut- Zuruf )
bar. Dazu stehen wir. Das ist keine Telefonsteuer, son- — Ich pflege es so zu machen: zunächst das Lob.
dern eine temporär begrenzte stärkere Ablieferung
der Bundespost an den Bundeshaushalt in einer (Heiterkeit)
schwierigen Situation. Ich möchte noch etwas hinzufügen — ich glaube,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und auch das ist angebracht — und Ihrem Vorgänger, Kol-
der FDP sowie des Abg. Weiß [Berlin] [Bünd legen Mischnick, unsere große Hochachtung und un-
nis 90/GRÜNE] — Dr. Diederich [Berlin] seren Dank für die großartige Zusammenarbeit mit
[SPD]: Das ist ein Salto mortale, den Sie ma ihm aussprechen.
chen, Herr Waigel!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
126 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Waigel


Das gilt menschlich, das gilt persönlich, und das gilt Zum zweiten bestand da ja immer mehr Übereinstim-
politisch. mung, als das manchmal nach außen hin in Erschei-
Was nun den „Bayernkurier" anbelangt, so hat nung trat. Drittens bekommen Sie natürlich ein Jah-
auch der das Recht auf Kritik. Sogar die FDP hat sich resabonnement. Die Exemplare, die bisher bei Ihnen
in vergangenen Zeiten herausgenommen, den Bun- noch nicht eingegangen sind, werden Ihnen nachge-
deskanzler zu kritisieren, sogar den Finanzminister zu schickt.
kritisieren. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
(Heiterkeit — Zuruf von der CDU/CSU: Das
ist ja unglaublich!) Graf Lambsdorff, so wie ich Sie keime, sind Sie bereit,
ihn ab nächstem Jahr — bei diesen großartigen Bei-
Der Kollege Weng hat dies damals, zwei Tage, bevor trägen, die Sie dann vor allem auch von mir lesen
ich den ersten Haushalt vorgelegt habe, getan. Das ist können — selber zu bezahlen.
damals in der Koalition trotzdem nicht als unbotmäßig
bezeichnet worden. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Was nun die Erwähnung anbelangt: Wir sind immer der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Und
für Auflagensteigerung, selbstverständlich. häufig zu zitieren!)
(Heiterkeit) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ge-
Dazu haben auch Sie in dieser Debatte beigetragen. stern vom Bundeskanzler vorgetragene und begrün-
dete Regierungsprogramm ist eine umfassende Ant-
(Dr. Graf Lambsdorff [FDP] meldet sich zu wort auf die gewaltigen Herausforderungen, die sich
einer Zwischenfrage) uns in den kommenden vier Jahren stellen. Dieses
— Ich nehme an, der Kollege Lambsdorff will danach Programm baut auf den Fundamenten einer seit mehr
fragen, wann bei ihm nun endlich die Exemplare ein- als acht Jahren erfolgreichen Politik auf, die jetzt allen
laufen, weil wir ihm ja ein Freiexemplar zugesagt ha- Deutschen in Ost und West Vorteile bringt.
ben.
Wie in den Koalitionsvereinbarungen der Jahre
(Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Nein, nein,
1983 und 1987 ist auch diesmal die Handsch rift der
nein!)
Christlich-Sozialen Union deutlich erkennbar. Wir ar-
Das Beispiel mit dem Mond und dem Hund trifft nicht beiten in dieser Koalition und in dieser Regierung
zu. Wir müssen uns all der Kritik stellen, Herr Kollege konstruktiv mit.
Solms, die es in den letzten Tagen gegeben hat, in
deutschen Zeitungen, im „Wall Street Journal" , in der Im Mittelpunkt unserer Aufgaben und Ziele steht
„Times" und in vielen anderen Zeitungen. Wenn Sie die Vollendung der Deutschen Einheit. Aber die Ko-
die dann auch mit „Mond und Hund" vergleichen alitionsvereinbarungen reichen wesentlich weiter.
würden, wäre das, glaube ich, nicht gut für die weitere Wir haben nicht nur gespart und umgeschichtet, son-
Diskussion auch im Ausland. dern wir haben die Voraussetzungen für ein umfas-
sendes Zukunftsprogramm entwickelt.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Diese Bundesregierung hat im historischen Jahr
Vizepräsident Klein: Herr Bundesminister, sind Sie 1990 Stehvermögen unter Beweis gestellt. Wir haben
bereit, noch die Frage zu hören, die Sie offenbar schon die Wiedervereinigung innerhalb kürzester Fristen er-
beantwortet haben? reichen können, weil die wirtschafts- und finanzpoli-
tischen Fundamente stabil waren. Schon heute zeigt
sich, wie richtig es war, die wohl einmalige historische
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Minister, in dieser Chance zur Vollendung der Einheit mutig zu ergrei-
Beantwortung war schon wieder eine Minimierung fen und nicht — wie es der gescheiterte Kanzlerkan-
enthalten. Darf ich Sie deswegen korrekterweise an didat der SPD wollte — zu zögern. Wer würde heute
das erinnern, was Sie mir zugesagt haben, nämlich ein noch für das Prinzip Langsamkeit eintreten? Alle Stu-
freies Jahresabonnement des „Bayernkurier" fenpläne, die es damals gegeben hat, wären heute
(Heiterkeit) längst steckengeblieben, ohne daß wir das posi tive
und nicht nur ein Freiexemplar, und darf ich Sie dar- Ende in der Zeit erreicht hätten.
auf aufmerksam machen, daß das immer noch nicht (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
angekommen ist, und darf ich der Hoffnung -Ausdruck neten der FDP)
geben, daß Sie in der Einhaltung Ihrer finanzpoliti-
schen Zusagen zuverlässiger sind als in dieser Auch angesichts der Dominanz der deutschland-
Frage? politischen Aufgaben war die Solidität unserer Fi-
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der nanz- und Haushaltspolitik zu keinem Zeitpunkt ge-
fährdet. Statt den seit Frühjahr 1990 immer wieder
CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD
erhobenen Forderungen nach Steuererhöhungen
und der PDS/Linke Liste)
nachzugeben, haben wir alle Spielräume für Ausga-
benbegrenzungen ausgenützt.
Dr. Waigel, Bundesminister der Finanzen: Sie kön-
nen sich erstens darauf verlassen, daß wir in der Fi- (Lachen bei der SPD)
nanz- und Steuerpolitik noch zuverlässiger sind als Bereits im Nachtragshaushalt 1990 und im ursprüng-
Sie und Ihre Partei. lichen Entwurf für den Bundeshaushalt 1991 wurde
(Heiterkeit bei der CDU/CSU — Lachen bei der Ausgabenrahmen um 12,5 Milliarden DM redu-
der SPD) ziert.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 127
Bundesminister Dr. Waigel
Im Ergebnis ist der Finanzierungssaldo im Bundes- Der Haushaltsabschluß 1990 ist eine gute Aus-
haushalt 1990 um rund 17 Milliarden DM unter dem gangsbasis für die noch größer werdenden Anforde-
ursprünglichen Ansatz geblieben. Insgesamt haben rungen der kommenden Monate, auf die der Bundes-
die öffentlichen Haushalte im letzten Jahr statt kanzler gestern eingegangen ist. Das Bundeskabinett
120 Milliarden DM nur rund 95 Milliarden DM an hat vorgestern entschieden, zusätzlich zu den bereits
Krediten aufgenommen. Mit einem Anteil des Finan- geleisteten 5,3 Milliarden DM weitere 8,3 Milliarden
zierungssaldos von rund 3,5 % am Bruttosozialpro- DM zur Finanzierung der multinationalen Golftrup-
dukt blieb die Belastung der Finanzmärkte in engen pen zur Verfügung zu stellen. Wir sind zur Finanzie-
Grenzen. rung dieses zusätzlichen Engagements bereit. Wären
wir im Jahre 1990 statt des steinigen Pfades zur Aus-
(Zuruf von der SPD: Viel zu hoch!) gabenbeschränkung allerdings den breiten Weg zur
— Auch mir wäre es lieber, wenn die Belastung nied- Steuererhöhung gegangen, dann hätten wir schon die
riger wäre. Nur muß in einem Jahr der Einheit, das es zweite oder dritte Steuererhöhung hinter uns und hät-
nur einmal in einem Jahrhundert gibt, auch diese ten nun nicht die Möglichkeit, auf diese neue Heraus-
Kraftanstrengung geleistet werden. Wir belasten den forderung hin — und zwar nicht nur im Nahen Osten,
Kapitalmarkt weniger als andere Länder durch struk- sondern auch zum Aufbau der Demokratien und der
turelle Defizite den nationalen oder internationalen Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa — das
Kapitalmarkt. Notwendige und Sinnvolle zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU)
Die vorsorglich aufgenommenen Kredite des letzten Angesichts der absehbaren und möglicher weiterer
Jahres stehen für die Haushaltsfinanzierung dieses Anforderungen aus dem Golfkonflikt und der Ent-
Jahres zur Verfügung. Das ist ein wichtiges Signal für wicklung im östlichen Teil Europas werden Steuerer-
die Finanzmärkte, die wie bisher auf die Solidität der höhungen nicht zu vermeiden sein. Es wird allerdings
deutschen Finanzpolitik vertrauen können. keinen steuerpolitischen Schnellschuß geben. Wir
werden die künftigen Belastungen sorgfältig kalku-
Der günstige Haushaltsabschluß 1990 zeigt auch lieren und die Finanzierungsoptionen genau prüfen.
folgendes: Es liegt nicht in erster Linie am Mangel an Und: Es muß bei allen Sparbeschlüssen bleiben, die
finanziellen Mitteln, wenn Verzögerungen bei Infra- wir in der Koalition und in der Regierung vereinbart
strukturinvestitionen in den neuen Bundesländern haben. Es darf kein Abweichen von dieser Linie für
auftreten. Noch wichtiger ist es, die administrativen die Jahre 1991 bis 1994 geben.
Voraussetzungen zu schaffen, damit die ausreichend
bereitgestellten Mittel auch dort investiert werden (Beifall bei der CDU/CSU)
können, wo sie am dringendsten benötigt werden.
Das deutsche Unterstützungspaket läßt keinen
Bei allem Verständnis für die Sorgen der finanzpoli- Zweifel an unserer Bereitschaft zur Verantwortung.
tisch Verantwortlichen in den Ländern und Gemein- Die Bundesregierung hat sich in der gegenwärtigen
den, vor allem in den neuen Bundesländern, möchte Situation nicht auf ein kleinliches Feilschen um finan-
ich sagen: Es gibt keinen Grund, die Situation der zielle Solidarität denjenigen gegenüber eingelassen,
öffentlichen Haushalte zu dramatisieren. Die westli- die uns gegenüber im letzten Jahr und in den letzten
chen Bundesländer haben im letzten Jahr wachstums- Jahrzehnten ebenfalls nicht kleinlich gewesen sind.
bedingte Steuermehreinnahmen von über 1 Milliarde
DM erzielen können. Die Defizite der Länder und (Beifall bei der CDU/CSU)
Gemeinden im ursprünglichen Bundesgebiet werden
Die Schuld am Golfkrieg trägt einzig und allein der
mit insgesamt rund 20 Milliarden DM deutlich niedri-
Irak durch seinen Überfall auf Kuwait. Nahezu ein
ger ausfallen als ursprünglich erwartet.
halbes Jahr lang wurde auf diplomatischem Weg von
Die Finanzausstattung der neuen Bundesländer US-Präsident Bush über den UNO-Generalsekretär
liegt natürlich noch unter dem Niveau im ursprüngli- bis hin zu Michail Gorbatschow der Versuch einer
chen Bundesgebiet. Sie erreicht aber schon 1991 gut friedlichen Lösung unternommen. Alle diese Initiati-
72 % dieses Niveaus, viel mehr, als es der relativen ven waren ebenso erfolglos wie die Gespräche von
Wirtschaftskraft entspricht. Der Bund leistet einen er- Wi lly Brandt. Ich beziehe das nur auf den Frieden,
heblichen Finanztransfer an diese Länder. 76 Milliar- nicht auf die Bemühungen um die Freilassung.
den DM sind es allein im Jahre 1991.
Wir müssen jetzt unsere Solidarität mit den Alliier-
Ich freue mich auch über die grundsätzliche Bereit- ten unter Beweis stellen, die die äußere Sicherheit der
schaft der westlichen Bundesländer, einen höheren Bundesrepublik Deutschland 40 Jahre lang garantiert
Anteil am Umsatzsteueraufkommen der Länder be- und entscheidende Beiträge zur Vollendung der Ein-
reitzustellen. Ich hoffe, daß wir im Februar bei den heit unseres Vaterlandes geleistet haben.
Gesprächen der Finanzminister und dann auch beim
Gespräch des Bundeskanzlers mit den Ministerpräsi- Wer in diesen Tagen aber wie Teile der SPD die
denten zu einer Lösung kommen werden. Es wird Amerikaner und ihre Verbündeten wegen ihres Ge-
höchste Zeit. Dieser Weg ist der beste. Eine weitere genschlages kritisiert, der handelt verantwortungslos.
Aufstockung des Fonds über Kreditfinanzierung kann Er trägt damit — ob gewollt oder ungewollt — zu ei-
für uns aus geldpolitischen Gründen nicht in Frage nem Antiamerikanismus bei. Der Art. 5 des NATO-
kommen. Vertrages gilt für alle, auch für uns. Wer in diesen
Tagen und Wochen die Bündnistreue Deutschlands
(Beifall bei der CDU/CSU) leichtfertig in Frage stellt, der darf sich nicht wundern,
128 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Waigel


wenn er die Bündnisfähigkeit mittelfristig verlieren liegt einzig bei Saddam Hussein, der seine Besat-
könnte. zungstruppen aus Kuwait abziehen muß.
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dregger (Conradi [SPD]: Das ist doch euer Lieblings
[CDU/CSU]: So ist es!) diktator!)
Das, was die Amerikaner bisher getan haben, darf Meine Damen und Herren, wir sind uns sicher alle
nicht als Provokation bezeichnet werden, sondern sie einig in den Bemühungen, alle noch vorhandenen
haben das getan, was die Völkerfamilie beschlossen Möglichkeiten zur Verschärfung der Kontrolle von
hat. Das ist nicht eine Provokation. Die Provokation Waffenexporten auszuschöpfen. Daß bei der Bekämp-
hat der irakische Diktator vorgenommen und sonst fung nicht genehmigter, i llegaler Exporte die bloße
niemand. Verschärfung von Strafrechtsbestimmungen erfolg-
versprechend ist, wage ich zu bezweifeln. Es spricht
(Beifall bei der CDU/CSU) auch nicht für die Glaubwürdigkeit, wenn jahrelang
Die Situation am Golf zeigt: Wir benötigen auch in über die COCOM-Liste in der Art und Weise disku-
Zukunft eine leistungsfähige Bundeswehr und eine tiert und strittig debattiert wurde, wie es hier ja auch
NATO, die über ein glaubwürdiges Maß an nuklearer immer wieder von der SPD erfolgt ist.
Abschreckung verfügen und in der Lage sind, die
(Duve [SPD : Das ist ja ein tolles Argument,
sicherheitspolitischen Belange des Westens weltweit
]

ein unverschämtes Argument in diesem Zu


durchzusetzen.
sammenhang!)
(Dr. Heuer [PDS/Linke Liste]: Weltweit!)
Deutschland hat durch die f riedliche Wiederverei-
Wer die europäische Integration bejaht, muß auch nigung, durch die Hilfe für die ehemaligen RGW-
bereit sein, die sicherheitspolitischen Konsequenzen Staaten und die Finanzierung des sowjetischen Trup-
daraus zu ziehen. Wer wie Oskar Lafontaine und seine penabzugs aus Mitteleuropa entscheidend zur Been-
Freunde die heutigen Nationalstaaten Europas als digung des Kalten Krieges beigetragen. Über unser
Provisorien bezeichnet und für die Zukunft auf die unmittelbares nationales Interesse hinaus haben wir
europäische politische Union setzt, hat den Anspruch insgesamt an direkten und indirekten Leistungen
auf Glaubwürdigkeit verloren, wenn er gleichzeitig 37 Milliarden DM für die Staaten des ehemaligen
den Einsatz der Franzosen, Briten, Italiener und Nie- Ostblocks bereitgestellt. Fast die Hälfte des westli-
derländer am Golf ablehnt. chen finanziellen Engagements in unseren östlichen
Nachbarstaaten entfällt auf Deutschland.
Ich danke dem Kollegen Klose für seinen mutigen
Beitrag in seinem bekanntgewordenen B rief, mit dem Meine Damen und Herren, ein Rückfall der Sowjet-
er die innere Zerrissenheit der SPD in dieser existen- union in die Politik der Konfrontation würde uns und
ziellen Frage dargelegt hat. die Sowjetunion teuer zu stehen kommen. Es ist viel
wichtiger, die vernünftige wirtschaftliche Kooperation
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fortzusetzen.
der FDP)
Aber wir dürfen gegenüber Moskau auch keine
Meine Damen und Herren, als Deutsche haben wir
Zweifel an unserer entschiedenen Verurteilung der
eine besondere Verantwortung gegenüber Israel. Die Militäraktion im Baltikum lassen.
Solidarität mit diesem Land muß sich gerade jetzt be-
währen. Wir haben deshalb Israel umfassende Unter- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
stützung angeboten. neten der FDP)
Wer als Gesinnungspazifist für den Frieden demon- Diese Aktion ist ein Schlag gegen das neue Denken
striert, verdient unseren Respekt. Aber mit gesin- und den Frieden in Europa. Man kann nicht eine freie
nungsethischen Haltungen kann weder die Freiheit Marktwirtschaft und ein marktwirtschaftliches Sy-
Kuwaits hergestellt noch die äußere Sicherheit Israels stem aufbauen wollen, ohne daß dem freiheitliche
garantiert werden. Die sogenannte Friedensbewe- Demokratie, Willensbildung und Pluralismus gleich-
gung demonstriert zum falschen Zeitpunkt, am fal- zeitig folgen.
schen Platz und gegen die falschen Ziele.
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — FDP)
Conradi [SPD]: Ein sogenannter Demokrat
-
An der Einhaltung unserer vertraglichen Ver-
spricht hier!) pflichtungen gegenüber der Sowjetunion darf es kei-
Ein bedingungsloser Waffenstillstand würde es dem nen Zweifel geben. Die weiteren Hilfen der Europäi-
irakischen Diktator nur erlauben, neue militärische schen Gemeinschaft zur Unterstützung der Wirt-
Kraft zu schöpfen. Dies liegt nicht in unserem Inter- schaftsreformen in der UdSSR müssen allerdings den
esse. Wir können doch keine Politik betreiben nach Vorgängen in Litauen und Lettland auf geeignete
dem Motto: Stoppt den Golfkrieg; freie Hand für Sad- Weise Rechnung tragen. Das haben der EG-Minister-
dam Hussein! rat und die übrigen Räte ebenfalls zum Ausdruck ge-
bracht.
Wer heute auf Äquidistanz zum Irak und zu den
Alliierten gehen will, der gerät in die Gefahr einer Auch nach Anerkennung der polnischen West-
weltweiten Selbstisolierung. Schon heute befinden grenze tragen wir, meine Damen und Herren, Verant-
sich die deutschen Sozialdemokraten in der Sozialisti- wortung für unsere Landsleute jenseits von Oder und
schen Internationale in der Rolle eines alleinstehen- Neiße. Ein deutsch-polnischer Grundlagenvertrag
den Außenseiters. Der Schlüssel zum Frieden am Golf muß deshalb umfassende Volksgruppen- und Min-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 129

Bundesminister Dr. Waigel


derheitenrechte für die Deutschen in Polen enthal- Verzahnung mit der Umweltpolitik, wichtige Fo rt
ten. -schritendRuIpolitk,enSur-
politik für Wachstum und Beschäftigung und eine
(Beifall bei der CDU/CSU) Steuerentlastung der Bet riebe und Arbeitsplätze in
Meine Damen und Herren, das große Engagement dieser Legislaturperiode mit der Gegenfinanzierung,
Deutschlands im östlichen Teil Europas findet auch die wir ebenfalls in Gang setzen werden. Das alles ist
international zunehmende Anerkennung, zuletzt ein konkludentes, in sich geschlossenes Programm für
beim Treffen der Finanzminister und Notenbankprä- diese Legislaturperiode, das an die großen steuerpoli-
sidenten der größten Industrienationen in New York tischen Leistungen und Erfolge anknüpft, die in der
und in der letzten Woche beim Rat der Finanzminister letzten Legislaturperiode erreicht worden sind.
in Brüssel. Wir haben einen ganz wich tigen Beitrag (Beifall bei der CDU/CSU)
zum weltweiten wirtschaftlichen Wachstum erbracht.
Wir sind Wachstumsexporteur. Wir bauen unsere Meine Damen und Herren, wir haben vom Wähler
Überschüsse ab. Wenn andere Partner in Europa in den Auftrag erhalten, ein einiges Deutschland zu
diesem Zeitraum ihre Exporte uns gegenüber erhö- schaffen. Wir werden darüber hinaus die Posi tion un-
hen, z. B. Spanien um 31 0/e, Italien um 16 %, Frank- seres freien Vaterlandes in einem zusammenwach-
reich um 14 %, andere um über 20 %, dann tritt genau senden Europa und in der Welt neu bestimmen. Wir
das ein, was unsere Partner immer von uns gefordert haben zusätzlichen Gestaltungsspielraum im nationa-
haben. Wir schaffen damit auch zusätzliches Wachs len wie im internationalen Bereich gewonnen. Zu-
tum, zusätzliche Produktion und zusätzliche Arbeits- gleich tragen wir zusätzliche Verantwortung in der
plätze bei unseren Handelspartnern. internationalen Gemeinschaft der Völker. Wir wollen
und können die Erfahrungen der Geschichte, vor al-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lem die Verantwortung für die Katastrophe des Zwei-
Wir sind uns mit unserer Haushaltspolitik der Ver- ten Weltkriegs, nicht zu den Akten legen. Aber nie-
mand in der Welt würde verstehen, wenn wir unsere
antwortung für die internationale Zinsentwicklung
bewußt. Nur, meine Damen und Herren, die weltweit Vergangenheit als Grund für eine Sonderrolle
hohe Nachfrage nach Kapital, auch in vielen Ländern Deutschlands in der internationalen Völkergemein-
mit einem geringeren Sparaufkommen, ist keine Kon- schaft anführten. Deutschland ist keine Großmacht.
sequenz der deutschen Wiedervereinigung. Im Ge- Aber wir gehören zu den führenden Ländern eines
gensatz zu den meisten anderen bedeutenden Indu- Europas, das zunehmend Verantwortung auf der
strieländern deckt die Bundesrepublik Deutschland Weltbühne übernehmen muß. Vom französischen
auch nach der Vereinigung nicht nur ihren Kapitalbe- Dichter Molière stammen die Worte:
darf vollständig aus eigener Ersparnis, wir leisten dar- Wir sind nicht nur für das verantwortlich, was wir
über hinaus immer noch erhebliche Beiträge, im letz- tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.
ten Jahr rund 70 Milliarden DM, zur Finanzierung von (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
Wachstum und Investitionen in anderen Ländern. GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/
Das ausgewogene „policy m ix " zwischen Geld- und CSU)
Finanzpolitik in Deutschland ist nicht in Gefahr. Die — Ich bedanke mich für den Beifall, der nur ein Vor-
Verpflichtung der Bundesbank zur Stabilitätssiche- schuß für den Endbeifall ist, den ich dann von Ihnen
rung wird durch die Finanzpolitik der Bundesregie- ebenfalls erwarte.
rung nicht in Frage gestellt. Die vorübergehend hö-
In diesen Wochen und Monaten entscheidet sich,
here Kreditaufnahme der öffentlichen Haushalte in
welche Rolle Deutschland in der Welt spielen wird
diesem Jahr ist kein Anzeichen struktureller Schwä-
und welches Ansehen es gewinnen kann. Wir werden
che oder ungezügelten Ausgabenwachstums. Im Ge-
nicht straucheln, sondern unseren Platz in der solida-
genteil: Wir haben den Ausgabenpfad für die kom-
rischen Gemeinschaft der freien, demokratischen und
menden Jahre im Bundeshaushalt auf nur 2 % jährlich
friedliebenden Völker einnehmen.
festgeschrieben. Wir bleiben bei dem Eckwertebe-
schluß, den wir bereits vor den Wahlen dem deut- Ich danke Ihnen.
schen Volk mitgeteilt haben. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der FDP)
-
Neben dem Beitrag, der die Arbeitnehmer und Be-
triebe trifft, muß es auch zu einem Solidarbeitrag aller Vizepräsident Klein: Das Wort hat Frau Abgeord-
anderen, die nicht unter die Bemessungsgrenze fal- nete Matthäus-Maier.
len, im Rahmen der Tarifverträge, aber auch im Rah-
men des Subventionsabbaus kommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Selten ist eine wiedergewählte
Diesem zumutbaren und begrenzten Opfer stehen
Bundesregierung so schnell nach der Wahl vom Alltag
Verbesserungen gegenüber: Vorrang für die Fa-
eingeholt worden wie die jetzige. Das ist nicht allein
milie , Familienlastenausgleich, Erziehungsgeld, Er-
die Sicht der Opposition, sondern das allgemeine Ur-
ziehungsurlaub, ein tragfähiger Mietrechtskompro-
miß, auf den wir stolz sind, Erhalt der bäuerlichen teil, wie einige Zitate aus großen Zeitungen zeigen.
„Der Fehlstart" schreibt die „FAZ". „Koalition ohne
Landwirtschaft,
Konzept" schreibt die „Frankfurter Rundschau",
(Zuruf von der SPD: Kapituliert habt ihr!) „Steuerschnickschnack" die „Süddeutsche", „Fal-
130 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Matthäus-Maier
sche Signale" die „Welt". „Ein kläglicher Neube- rungsbeiträge werden wir Sozialdemokraten nicht zu-
ginn" , so schreibt die „Zeit". stimmen.
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ (Beifall bei der SPD)
CSU: „Regierung ohne Opposi tion"!)
Drittes Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht hat
Besonders bedrückend war es, mitzuerleben, wie die im letzten Sommer festgestellt, daß alle Familien mit
Bundesregierung nur eine Woche nach der Bundes- Kindern in den Jahren 1983 bis 1985 zuviel Steuern
tagswahl ganz ungeniert daran ging, ihre Verspre- zahlen mußten. Die Wahlkämpfer der Union haben
chen von vor der Wahl zu brechen. Dafür nur drei vor der Bundestagswahl landauf, landab versichert,
Beispiele. daß nicht nur die Familien eine Rückzahlung bekom-
Erstens. Wir haben noch im Ohr, wie die Redner von men, die Einspruch eingelegt haben, sondern auch
Union und FDP versichert haben, man wolle sparen; die, die kein Rechtsmittel eingelegt haben.
Steuererhöhungen werde es nicht geben, jedenfalls (Zustimmung bei der SPD — Widerspruch
nicht für die deutsche Einheit. Schon unmittelbar nach bei der CDU/CSU und der FDP)
der Wahl wollte die Koalition von ihrem Versprechen
nichts mehr wissen. Da wurde in der A rt von Winkel- — Ich habe es selber mit mehreren von Ihnen im Fe rn
advokaten zwischen Steuererhöhungen, gegen die -sehng.Jtz,acderWhlgis
man sei, und Abgabenerhöhungen, die man nicht aus- nicht mehr. Jetzt bekommen nur die etwas, die durch
geschlossen habe, feinsinnig unterschieden. Statt zu ihren Steuerberater rechtzeitig Einspruch eingelegt
sparen, begann eine fieberhafte Suche nach Einnah- haben, und das sind nun leider überwiegend nur Un-
meerhöhungen. Erst sollten es die Autobahngebühren ternehmer und Freiberufler. Hier wird Steuerpolitik
sein. Dann entschied man sich für die Anhebung der nach dem Motto bet rieben: Wer rechtzeitig und brav
Telefongebühren um 2 Milliarden DM im Jahr. In seine Steuern zahlt, ist selber schuld.
Wahrheit ist das nichts anderes als eine Telefon- (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der
steuer, da dieser höheren Belastung des Bürgers CDU/CSU)
keine zusätzlichen Leistungen der Post gegenüberste-
hen. Wir Sozialdemokraten werden uns dafür einsetzen,
daß auch die Familien berücksichtigt werden, die kei-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ nen Einspruch eingelegt haben. Das gebieten die Ge-
GRÜNE) rechtigkeit und die politische Glaubwürdigkeit.
Deshalb gehört diese neue Telefonsteuer in das Kapi-
(Beifall bei der SPD — Dr. Faltlhauser [CDU/
tel Steuerlüge, vor der viele, auch aus Ihren eigenen
CSU]: Und die 17 Milliarden beschaffen Sie
Reihen, Sie vor der Wahl gewarnt haben. Meine Da-
mit dem Jäger '90?!)
men und Herren, diese Telefonsteuer trifft ganz be-
sonders die kleinen Leute, die Schwachen, die Behin- Dieser klare Bruch von Wahlversprechen bedrückt
derten und die Rentner. Sie ist ungerecht. Mit uns mich sehr weit über die Parteipolitik hinaus. Denn
Sozialdemokraten wird es diese Verteuerung des Te- damit beschädigen Sie die politische Kultur und ver-
lefonierens nicht geben. ursachen einen Glaubwürdigkeitsverlust von Politik
(Beifall bei der SPD) und Politikern insgesamt.
Zweites Beispiel: die Anhebung der Arbeitslosen- (Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Richtig!)
versicherungsbeiträge. Als im Oktober hier im Bun- Viele Bürger fragen schon fast resignierend, was man
destag der Verdacht geäußert wurde, Sie wollten denn dagegen tun könne; man sei doch machtlos. —
diese Beiträge um zwei Punkte anheben — — Dies ist falsch. Wer als Wahlbürger folgenlos hin-
(Unruhe) nimmt, daß Politiker lügen, daß Politiker nach der
Wahl etwas anderes tun, als sie vor der Wahl verspro-
chen haben, der gibt den Politikern einen Freibrief,
Vizepräsident Klein: Frau Kollegin, darf ich Sie ei- auch in Zukunft so zu handeln. Nein, meine Damen
nen Moment unterbrechen. — Meine Damen und und Herren, gegen Wählertäuschung gibt es eine
Herren, wichtige Gespräche können auch in der Wan- wirksame Selbstverteidigung und nur eine, und das
delhalle geführt werden. ist die Quittung mit dem Stimmzettel. Die haben Sie in
Hessen schon erhalten, und ich nehme an, das geht in
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis - 90/ Rheinland-Pfalz weiter so.
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/
CSU) (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/
Ich darf Sie wirklich bitten, Platz zu nehmen und der CSU)
Kollegin zuzuhören. Gestern hat der Bundeskanzler nun hier bekannt-
gegeben, daß er die Steuern erhöhen will. Jetzt ist die
Katze also aus dem Sack. Steuererhöhungen für den
Frau Matthäus-Maier (SPD): Als wir vermuteten, Golfkrieg, heißt es, aber nicht für die deutsche Ein-
Sie würden die Arbeitslosenversicherungsbeiträge heit. Diese Argumenta tion macht nun sehr betroffen.
um zwei Punkte anheben, wurde das hef tig demen- Was ist denn das für ein Ausdruck von Solidarität mit
tiert. Jetzt werden sie um zweieinhalb Punkte ange- den Menschen in den neuen Bundesländern,
hoben. Das ist schlecht für die Arbeitnehmer. Das ist
auch für die kleinen und mittleren Unternehmen (Beifall bei der SPD)
schlecht, denn dadurch erhöhen sich die Lohnneben- wenn man sagt: für die viel größere finanzielle Her
kosten. Dieser Anhebung der Arbeitslosenversiche ausforderung des Aufbaus in den neuen Bundeslän-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 131
Frau Matthäus-Maier
dern keine Steuererhöhungen, wohl aber welche für nalen Ansehen der Bundesrepublik Deutschland
den Golfkrieg! Da hat doch wohl die „Stuttgarter Zei- nicht abträglich.
tung" recht, die in diesen Tagen schreibt:
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/
Als es um die deutsche Einheit ging, haben Kohl, GRÜNE und der PDS/Linke Liste — Kittel
Waigel und Lambsdorff Steuererhöhungen zum mann [CDU/CSU]: Da müssen Sie die fal
Tabu erklärt. Lassen sich nun Steuern für Bom- schen Zeitungen lesen! — Dr. Geißler [CDU/
ben auf Bagdad plausibler begründen als Steuern CSU]: Weil die Veranstalter auf uns gehört
für Straßen, Städtebau und Arbeitsplätze in Ost- haben!)
deutschland?
Daß Deutsche, die in diesem Jahrhundert zweimal
(Beifall bei der SPD — Hinsken [CDU/CSU]: Unglück über ihre Nachbarn gebracht haben, einen
Primitiver geht es nicht! — Weitere Zurufe Waffengang nicht mit Säbelrasseln begleiten, sondern
von der CDU/CSU: Billig! — Primitiv! — Un immer wieder Friedensbemühungen forde rn und vor
erhört!) I Krieg und seinen schlimmen Folgen wa rn en, wird
doch gerade von denen im Ausland positiv gesehen,
Und dann fährt die „Stuttgarter Zeitung" fo rt :
die bei der deutschen Einheit vor einem Jahr noch
Wohl kaum. Der Verdacht, der Krieg werde ge- Angst hatten vor einem Wiedererstarken deutscher
nutzt, um sich end li ch über ein lästiges Wahlver- Großmannssucht.
sprechen hinwegzusetzen, ist so leicht nicht von
Das heißt nicht, daß wir Sozialdemokraten uns mit
der Hand zu weisen.
allen Forderungen identifizieren, die auf dieser De-
Meine Damen und Herren, ich glaube, die „Stutt- monstra ti on erhoben worden sind. Wir ziehen aus der
ga rt er Zeitung" hat recht. Das Tempo, mit dem die Geschichte des Dritten Reiches und des Zweiten Welt-
Koalition wenige Stunden nach der amerikanischen krieges die Lehre, daß der Satz „Wir wollen nie mehr
Bitte um finanzielle Unterstützung auf Steuererhö- Täter sein" auch bedeutet: Die Völkergemeinschaft
hungen hüpfte und nur noch darüber diskutierte, wel- darf nicht zulassen, daß andere zu Tätern werden. Das
che Steuer, wann, wie lange und mit welchem Ziel, heißt für uns: Saddam Hussein muß gestoppt werden,
zeigt, daß die Koalition nun durch die Hintertür des er muß Kuwait verlassen, er ist der Verantwortliche
Golfkrieges die Steuererhöhungen durchführen wi ll, für den Krieg, der am 2. August und nicht am 17. Ja-
die sie längst vor der Bundestagswahl ins Auge gefaßt nuar begonnen hat.
hatte.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
(Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der FDP — Kittelmann [CDU/CSU]: Das sagen
CDU/CSU) Sie mal Ihren Genossen!)
Um es klar zu sagen: Wir Sozialdemokraten sagen Wir sind solidarisch mit der UNO und ihren Resolutio-
ja zu einem finanziellen Beitrag im Rahmen der inter- nen und tragen auch durch finanzielle Hilfe zu ihrer
nationalen Solidarität, um die UNO-Resolu ti on zum Verwirklichung bei.
Golf durchzusetzen. Wir Deutschen sind auch deshalb
dazu verpflichtet, weil es nicht nur, aber in besonde- (Zuruf von der CDU/CSU: Das hätten Sie
rem Maße auch deutsche Unternehmen waren, die schon viel früher sagen müssen!)
Saddam Hussein aus reiner Gewinnsucht durch ver- Nein, meine Damen und Herren, die Kritik des Aus-
brecherische Waffenexporte aufgerüstet haben und landes richtet sich nicht gegen Friedensdemonstran-
deshalb am Golfkrieg mitschuldig sind. Diese Golf ten, sie richtet sich gegen diese Bundesregierung.
Hilfe gebietet auch unsere besondere Verpflichtung
gegenüber Israel. Die „Bonner Rundschau" schreibt zu Recht:
Die Art und Weise, mit der die Bundesregierung das Zu verantworten haben den rapiden Verlust an
Thema Hilfe der Bundesrepublik Deutschland behan- internationalem Ansehen und gelegentlich fast
delt hat, war allerdings außerordentlich unglücklich. schon peinlicher Häme aus dem Ausland die
Das internationale Ansehen ist in den letzten Tagen neue Bundesregierung und die Koalitionspar-
rapide gesunken. teien insgesamt; denn während die Menschen in
aller Welt sorgenvoll auf die Entwicklung der
(Kittelmann [CDU/CSU]: Meinen Sie mehr Golfkrise und das ablaufende Ultimatum der UN-
die inneren Auseinandersetzungen in der -
Resolu ti on gegen den Irak star rt en, waren CDU/
SPD? Das ist doch wohl eine Frechheit!) CSU und FDP mit Koalitionsverhandlungen be-
Die Bundesregierung versucht, die Verantwortung schäftigt, feilschten die Koalitionäre um Posten
dafür auf die Friedensdemonstrationen abzuschie- und Positionen.
ben. Meine Damen und Herren, das ist der Grund für das
(Hört! Hört! bei der SPD) gesunkene Ansehen.
Das überzeugt nicht. (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
CSU: Falsch!)
(Beifall bei der SPD)
Der Bundeskanzler hat seinem Vorgänger Helmut
Friedensdemonstrationen gab es in diesen Tagen Schmidt einmal Mangel an geistiger Führung vorge-
in fast allen westlichen Ländern. Gerade der Ablauf worfen.
und das Erscheinungsbild der großen Friedensde-
monstration vom letzten Samstag war dem internatio- (Feilcke [CDU/CSU]: Zu Recht!)
132 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Matthäus-Maier
Helmut Schmidt hatte nie den Anspruch erhoben, gei- Damit keine Mißverständnisse entstehen: Wir sind
stig führen zu wollen. Aber er hätte — das weiß hier bereit, unseren Beitrag zu leisten. Wir sind aber nicht
jeder — in dieser Krisensituation politisch geführt. bereit, jede Forderung unbesehen zu akzeptieren.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben weder geistig noch Auch Deutschland muß für sich das Recht in Anspruch
politisch geführt. Und das haben die Menschen ge- nehmen, sich die Höhe seines Beitrages und den Ver-
spürt. wendungszweck genau anzusehen.
(Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/ (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
CSU]: Ist das der Herr Schmidt, den Sie ab GRÜNE — Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Also
geschossen haben, oder von wem reden doch Groschenschacher!)
Sie?)
Die Bundesregierung sagt, ohne Steuererhöhungen
Während am Golf geschossen wurde, waren Sie gehe es nicht, es sei kein Geld da. Das glaubt Ihnen
vollauf damit beschäftigt, aus Proporzgründen das Fa- keiner. Wenn an der gestrigen Rede des Herrn Bun-
milienministerium zu dritteln und jede Menge neue deskanzlers etwas auffällt, dann das: Der Bundes-
Staatssekretäre einzustellen. kanzler hat in den zweieinhalb Stunden seiner Rede
(Beifall bei der SPD) das Wort Sparen nicht ein einziges Mal über seine
Lippen gebracht.
Ihr Postengeschacher war der Bundesregierung wich-
tiger, als unseren internationalen Freunden und Pa rt (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Dafür hat er
-nerklazumch,wodiBnesrpublk den Theo Waigel!)
Golfkrise steht. Es war diese Unterlassung und nicht Das ist kein Zufall; denn die Bundesregierung hat
die Friedensdemonstration, die die Bundesrepublik in beim Sparen bisher kläglich versagt.
der westlichen Solidargemeinschaft interna tional ins
Abseits gebracht hat. (Beifall bei der SPD)

(Dr. Diederich [Berlin] [SPD]: Sehr richtig!) Wie wollen Sie den Bürgern eigentlich klarmachen,
daß Steuererhöhungen nötig sind, wenn Sie gleichzei-
Statt berechtigte deutsche Interessen wahrzunehmen, tig Geld aus dem Fenster werfen für die Dreiteilung
ist die Bundesregierung deshalb, um den Schaden zu eines Ministeriums und für viele neue Staatssekre-
begrenzen, in überstürzten Aktionismus verfallen. Es täre?
war diese Position der selbstverschuldeten Schwäche,
in der der Bundeskanzler die finanziellen Nachforde- (Beifall bei der SPD)
rungen der USA in Höhe von mehr als 8 Milliarden Was ist mit den Kosten der Teilung? Herr Bundes-
Dollar ohne weitere Diskussionen binnen Stunden ak- finanzminister Waigel, Sie haben doch im letzten Jahr
zeptiert hat. ununterbrochen die Kosten der Teilung auf 40 Milliar-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das war richtig so! den DM beziffert, aus denen man Gelder für die Ein
— Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Hätten Sie heit freimachen könnte. Tatsächlich haben Sie hier-
50, 70 DM weniger bezahlt?) von bisher nur 2 Milliarden DM Einsparungen in die-
sem Jahr vorgesehen. Die Bundesregierung muß
Das Parlament, das die Mittel bereitstellen muß, und daran erinnert werden, daß sie hier ein von ihr selbst
die Opposition hat er nicht einmal gefragt. Es war die- genanntes Einsparvolumen bisher fast ungenutzt ge-
ses Wegtauchen, die Sprachlosigkeit der Bundesre- lassen hat.
gierung, die sie daran gehindert hat, die guten Argu-
mente in der internationalen Diskussion vorzutragen, (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Es sind im letz
daß die Bundesregierung, die Bundesrepublik ten Jahr schon 4 Milliarden DM eingespart
Deutschland, bereits einen erheblichen Anteil an der worden!)
internationalen Lastenteilung erbringt. Auch beim Subventionsabbau hat die Koalition
Meine Damen und Herren, ich vermisse ein deutli- wieder einmal versagt. Die Bundesregierung will nun
ches Wort des Bundeskanzlers, daß sich die arabi- eine Kommission einsetzen, die Vorschläge zum Ab-
schen Ölstaaten, die durch die gestiegenen Ölpreise bau von Subventionen mit einem Volumen von rund
riesige zusätzliche Einnahmen haben, stärker als bis- 5 Milliarden DM bis zum Sommer vorlegen soll. Selbst
her an den finanziellen Lasten beteiligen. bei diesem bescheidenen Subventionsabbauziel ergä-
ben sich zusätzliche Mittel, die an die Stelle von Steu-
(Beifall bei der SPD — Dr. Faltlhauser [CDU/ ererhöhungen treten können. Nach unserer Auffas-
-
CSU]: Nennen Sie doch einmal die Zah sung muß dringend Subventionsabbau erfolgen. Ich
len!) habe Ihnen mehrfach Vorschläge gemacht,
Ich habe auch vermißt, daß Sie unsere Partner da- (Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Sagen Sie end
von überzeugen, daß der Vergleich mit Japan nicht lich, wo!)
stimmt, daß Deutschland allein 14 Milliarden DM für
den Abzug der sowjetischen Truppen und damit für nämlich bei der zivilen Nutzung der Kernenergie,
die militärische Entspannung in Europa erbringt. Da- beim Schnellen Brüter, bei der industriellen Agrarpro-
durch ist es übrigens erst möglich geworden, Ressour- duktion, beim Flugbenzin, beim Dienstmädchenprivi-
cen freizumachen, ohne die es zu den UNO-Resolutio- leg, bei den Bewirtungsspesen, beim bet rieblich be-
nen wahrscheinlich gar nicht gekommen wäre. Der nutzten Pkw und, und, und. Ich kann Ihnen die Listen
Vergleich mit den Leistungen der Japaner zieht auch geben, meine Damen und Herren.
schon deswegen nicht, weil diese im Unterschied zu (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/
uns nicht von Jahr zu Jahr einen Verteidigungsetat CSU — Dr. Faltlhauser [CDU/CSU]: Alles
von über 53 Milliarden DM haben. populistisch!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 133
Frau Matthäus-Maier
Sagen Sie nicht, Herr Waigel, Sie hätten bereits 15 Milliarden mehr ausgeben. Das tun wir nicht; folg-
genug eingespart. Von den 35 Milliarden DM Haus- lich haben wir 15 Milliarden DM gespart.
haltsentlastungen, welche die Koalition für 1991 be- (Heiterkeit bei der SPD — Zurufe von der
schlossen hat, sind tatsächlich nur 4 Milliarden DM CDU/CSU: Die Rechnung paßt zu Ihnen! —
Einsparungen. Mehr als 20 Milliarden DM sind dage- Das ist ja unse ri ös, was Sie da machen!)
gen reine Abgabenerhöhungen bei der Telefonsteuer
und bei der Arbeitslosenversicherung. — Herr Kollege, das ist eine Einsparung, wie eine Zei-
tung schrieb, nach dem Modell des netten Schotten-
Über Ihre angebliche Einsparung beim Verteidi- witzes, den Sie hoffentlich kennen: Ein kleiner Schot-
gungshaushalt von, wie Sie immer sagen, 7,6 Milliar- tenjunge hat den Bus verpaßt. Er läuft hinter dem Bus
den DM hatte selbst die konservative Presse nur noch her. Als er nach Hause kommt, sagt er zu seiner Mut-
Vokabeln wie „Augenwischerei" und „Luftbuchung" ter: Ich habe einen Penny gespart, weil ich hinter dem
übrig. Die Rechnung ist einfach. Der Verteidigungs- Bus hergelaufen bin. Seine Mutter sagt: Du bist
haushalt betrug im letzten Jahr etwas über 53 Milliar- dumm. Warum bist du nicht hinter dem Taxi herge-
den DM. In diesem Jahr wird er knapp unter 53 Mil- laufen? Dann hättest du ein Pfund gespart. So rechnen
liarden DM liegen. Das ist fast die gleiche Höhe. Sie.
(Zurufe von der FDP: Das ist unzutreffend! — (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
Und die Nationale Volksarmee?) CSU: Der Witz hat einen ganz langen Bart! —
Ich bin der Meinung, in der aktuellen Lage müßten Unruhe)
doch wirkli ch alle Anstrengungen unternommen wer-
den, um Mittel aus dem Verteidigungsetat in einen
Vizepräsident Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie
Solidarbeitrag für den Golf umzulenken.
eine weitere Zwischenfrage? —
(Beifall bei der SPD — Dr. Faltlhauser [CDU/
CSU]: Da ist doch die Nationale Volksarmee
mit drin!) Dr. Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich will
— Vielleicht möchten Sie auch Zwischenfragen stel- ja nicht annehmen, daß Sie die Zwischenfrage provo-
len, wenn Sie immer so rufen? ziert haben, um diesen Witz loszuwerden, den Sie sich
aufgespart haben.
(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Nein!)
Vizepräsident Klein: Entschuldigung, ich folge der Ich darf mit Ihnen darin übereinstimmen, daß Sie uns
Anregung der Kollegin Matthäus-Maier in der Tat diese Milchmädchendarlegungen vorgetragen ha-
und frage, ob denn jemand, der so viele Zwischenrufe ben, damit wir besser beweisen können, daß Sie den
macht, die Gelegenheit nutzen möchte, eine Zwi- Gesamtzusammenhang in sachlicher Weise über-
schenfrage zu stellen. haupt nicht zur Kenntnis genommen haben.
(Heiterkeit) (Beifall bei der CDU/CSU)
Frau Matthäus-Maier, sind Sie bereit, eine Zwischen- Es geht nicht um die Finanzierung desselben Sachver-
frage des Kollegen Dr. Faltlhauser zu beantworten? haltes, sondern um die Finanzierung zweier großer
Einheiten, nämlich der Bundeswehr und der NVA.
Das kostet unter dem Strich jetzt genausoviel. Ich bitte
Dr. Faltlhauser (CDU/CSU): Frau Kollegin, wenn Sie, sachlich und ohne Witze darauf einzugehen.
ich von Ihnen so freundlich aufgefordert werde, eine (Beifall bei der CDU/CSU)
Zwischenfrage zu stellen, dann tue ich das gerne. Ist
Ihnen denn entgangen, daß im Etat für die Bundes-
wehr die ganze Nationale Volksarmee integriert ist Frau Matthäus-Maier (SPD): Erstens habe ich Ihnen
und daß auf diese Weise tatsächlich unter dem Strich das alles vorgerechnet. Witze erhellen aber manchmal
7,6 Milliarden eingespart sind? Haben Sie den Um- einen Sachverhalt besser als ernste Ausführungen.
stand übersehen, daß wir mittlerweile die ehemals Zweitens halte ich es nicht für gut, daß Sie durch
zwei deutschen Staaten und damit auch die beiden den Ausdruck „Milchmädchenrechnung" die Milch-
Armeen integriert haben? mädchen beleidigen. Das, was Herr Waigel hier vor-
legt, ist schon eher in der Art eines Milchmänn-
- chens.
Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Faltlhauser, Sie
werden mir nicht unterstellen, daß ich das nicht weiß. (Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der
Das ist richtig. CDU/CSU: War das die Antwort auf eine se
riöse Frage? Das ist unerhört! Herr Vogel,
(Zuruf von der CDU/CSU: Aber Sie wollen es wechseln Sie Ihre finanzpolitische Spreche
verschweigen!) rin aus!)
Wir haben aber international vereinbart, unsere Soll- Meine Damen und Herren, weil diese Bundesregie-
stärke auf 370 000 Mann zu reduzieren. Damit kann rung keine Kraft zum Sparen hat, greift sie lieber den
man doch sehr gut anfangen. Dann muß der Verteidi- Bürgern erneut in die Tasche. Die erste Runde — bitte
gungshaushalt nicht eine Höhe von 53 Milliarden DM nicht zu vergessen — war die Erhöhung der Sozialab-
haben. gaben und der Telefongebühren. Wer es nicht glaubt:
Sie wollen als Einsparungen verkaufen, was einfach Der einzige Gesetzentwurf, den wir in dieser Woche
Nicht-Mehrausgaben sind. Demnächst werden Sie sa- behandeln, ist eben dieser Gesetzentwurf zur Anhe-
gen: Statt 53 Milliarden DM wollten wir eigentlich bung der Sozialabgaben. Jetzt soll offensichtlich in
134 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Matthäus-Maier
der zweiten Runde eine kräftige Erhöhung der Mine- Meine Damen und Herren, in der Finanzpolitik blei-
ralölsteuer folgen. ben in dieser Koalition leider auch die Familien mit
Kindern wieder auf der Strecke. Nichts geschieht für
(Zuruf von der CDU/CSU: Warten Sie ab!) sie im Jahre 1991. Erst 1992 soll das Kindergeld ange-
Sie benutzen die zeitlich bef ristete Belastung durch hoben werden, und zwar um ganze 20 DM für das
den Golfkrieg für eine dauerhafte Steueranhebung. erste Kind. Dies ist mehr als kläglich. Dabei ist Geld
Das kennen wir doch schon aus der Geschichte. Kaiser für eine sehr viel stärkere Anhebung des Kindergelds
Wilhelm benutzte Anfang des Jahrhunderts die Sekt- vorhanden.
steuer zur Finanzierung der deutschen Kriegsflotte. (Kittelmann [CDU/CSU]: Frau Kollegin,
Seine Kriegsflotte ist längst untergegangen, aber die wann hatte die SPD die Kürzung vorgenom
Sektsteuer gibt es immer noch, meine Damen und men?)
Herren.
— Wir haben nach der Bundestagswahl 1980 Kürzun-
Wozu Sie Ihre Steuererhöhung benutzen wollen, gen vorgenommen. Daraus, Herr Kollege, habe ich
ergibt sich sonnenklar aus den Koalitionsvereinbarun- gelernt — ich habe damals dazu auch gesprochen —,
gen. Es ist gerade zwei Wochen her, daß die Regie- daß man vor der Wahl nie Dinge ankündigen darf, bei
rungskoalition milliardenschwere Steuervergünsti- denen man nachher das Wort bricht, wie Sie das jetzt
gungen für die wenigen Spitzenverdiener und Groß- getan haben.
unternehmen in unserem Lande beschlossen hat. Sie
wollen die Vermögensteuer und die Gewerbekapital- (Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/
steuer abschaffen. Das bedeutet Steuerausfälle von CSU] : Wir halten Versprechungen ein!)
etwa 9 Milliarden DM im Jahr. Das ist für die Länder Wir haben Geld für eine stärkere Anhebung des
und Gemeinden ein völlig unakzeptabler Steueraus- Kindergelds, meine Damen und Herren. Ich muß den
fall, denn das sind Gemeinde- und Ländersteuern. Sachverhalt hier noch einmal vortragen, weil insbe-
Das ist etwa soviel, wie die Bundesregierung jetzt für sondere viele Menschen in den neuen Bundesländern
den Golf zugesagt hat. Allein damit läßt sich die Golf- ihn nicht kennen werden. Wie wollen Sie, Herr Wai-
hilfe ohne Steuererhöhungen finanzieren. gel, den Menschen eigentlich erklären, daß ein Spit-
zenverdiener, der eine nicht erwerbstätige Frau heira-
(Kittelmann [CDU/CSU]: So infan til können
tet — oder umgekehrt — , dafür im Monat eine Steu-
Sie doch nicht sein!)
erentlastung von 1 900 DM erhält, den sogenannten
Von diesen 9 Milliarden DM fließen etwa 8 Milliar- Splittingvorteil?
den DM an Unternehmen und Spitzenverdiener in Diese Entlastung tritt Monat für Monat ein, auch
Westdeutschland. Diese Maßnahme ist also auch völ- wenn überhaupt kein Kind vorhanden ist, während
lig ungeeignet, den Aufbau in den neuen Bundeslän- Otto Normalverbraucher für das erste Kind ein Kin-
dern zu fördern. Die westdeutsche Wi rtschaft boomt. dergeld von 50 DM und dann in einem Jahr von
Da gibt es keine Notwendigkeit für Steuersenkungen. 70 DM erhalten soll. Es gibt eine Menge Menschen,
Das wissen Sie auch, und deswegen werden wir unse- vor allem in den neuen Bundesländern, aber auch in
ren entschiedenen Widerstand dagegen ankündigen, den alten, die nicht einmal diese 1 900 DM verdienen,
daß Sie einerseits Steueranhebungen unter dem die Sie Spitzenverdienern im Monat für die pure
Deckmantel Golf wollen und andererseits damit Steu- Eheschließung zur Verfügung stellen.
ersenkungen für Spitzenverdiener finanzieren.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD — Kittelmann [CDU/
CSU]: Das war doch nur, um ein bißchen Bei Ich weiß doch, daß viele in Ihren eigenen Reihen
fall von links zu bekommen!) diesen Zustand als skandalös ansehen. Wann können
wir uns denn endlich gemeinsam hinsetzen und die-
Ein besonders bedrückender Mangel der Koali- sen maßlosen Splittingvorteil zugunsten der Familien
tionsvereinbarung ist es, daß für Sie der Aufbau der mit Kindern zurückführen?
neuen Bundesländer und die Angleichung der Le-
bensverhältnisse unserer Mitbürger im Osten an die (Beifall bei der SPD)
im Westen nicht tatsächlich eine zentrale Aufgabe ist. Dann erhöhen Sie weiter die ungerechten Kinder-
Ministerpräsident Biedenkopf hat das vor einer Wo- freibeträge. Die Zahlen sprechen eine deutliche Spra-
che in der „Süddeutschen Zeitung" deutlich- gesagt: che. Ihre ungerechten Kinderfreibeträge führen dazu,
daß ein Spitzenverdiener mit einem Jahreseinkom-
Die zentrale Aufgabe dieser Legislaturperiode, men von über 240 000 DM für sein Kind heute 86 DM
die Verwirklichung der inneren Einheit Deutsch- mehr bekommt als ein Geringverdienender für sein
lands, ist in ihr kaum behandelt. Soweit sie darin Kind. Das kommt dadurch zustande, daß derjenige mit
angesprochen ist, steht dies in keinem Verhältnis dem kleinen Einkommen eine Entlastung aus dem
zu dem, was hier eigentlich geleistet werden Steuerfreibetrag von monatlich 48 DM hat, während
muß. der Spitzenverdiener eine Entlastung von 134 DM
Hans-Jochen Vogel hat heute morgen unsere Einzel- hat. Die Differenz beträgt 86 DM.
kritik vorgetragen und zugleich unsere detaillierten Diese krasse Ungerechtigkeit wird durch Ihre Ent-
Vorschläge, die wir zum Teil seit Monaten — leider scheidung, die Kinderfreibeträge aufzustocken, noch
vergeblich — äußern. weiter vergrößert.
(Kittelmann [CDU/CSU]: Bei aller Kritik, (Abg. Dr. Faltlhauser [CDU/CSU] meldet
Herr Vogel war besser!) sich zu einer Zwischenfrage)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 135
Frau Matthäus-Maier
—Ich warne Sie, Herr Faltlhauser! Wollen Sie es noch Monat sogar 114 DM mehr Entlastung bekommen als
einmal versuchen? die „kleinen Leute" für ihre Kinder. Wenn Sie das in
(Kittelmann [CDU/CSU]: Haben Sie noch ei ein offenes Zuschußgesetz schreiben und nicht hinter
nen Witz?) dem komplizierten Steuerrecht verbergen würden,
dann hätten Sie hier zu Recht einen Aufstand, weil die
Durch die Aufstockung der Kinderfreibeträge — —
Menschen das nicht akzeptieren würden.
(Hinsken [CDU/CSU]: Haben Sie keinen
Witz mehr?) (Beifall bei der SPD)
— Doch! Wir haben ein Konzept vorgelegt, das solide finan-
ziert und gerecht ist. Wir sind der Ansicht: 200 DM
Vizepräsident Klein: Frau Kollegin, sind Sie zur Be- Kindergeld vom ersten Kind an mindestens, für jedes
antwortung einer weiteren Zwischenfrage bereit? Kind gleich hoch. Denn wir sind der Ansicht, daß die
Kinder eines jeden Menschen, ob reich oder arm, dem
Frau Matthäus-Maier (SPD): Bitte. Staat gleich lieb und damit auch gleich we rt sein sol-
len.
Dr. Faltlhauser (CDU/CSU): Darf ich Sie, Frau Kol- Meine Damen und Herren, Ihre Interessenpolitik
legin, an dieser Stelle nur an den Wortlaut des Bun- für Spitzenverdiener setzt sich auch in der übrigen
desverfassungsgerichtsurteils vom 29. Mai letzten Familienpolitik fort, indem Sie das sogenannte
Jahres hinweisen, in dem ausdrücklich darauf hinge- Dienstmädchenprivileg ausweiten wollen. Diejeni-
wiesen wird, daß es zur Herstellung der horizontalen gen, die sich eine Haushaltshilfe privat leisten können
Gerechtigkeit notwendig ist, eine abgewogene Rege- — Voraussetzung sind zwei Kinder unter zehn Jah-
lung im Verhältnis zwischen Familien mit Kindern ren —, sollen dabei bis zu 18 000 DM von der Steuer
und Familien ohne Kinder sicherzustellen — — abziehen können. Das bringt Spitzenverdienern im
Jahr einen Vorteil — bar — von über 9 500 DM.
Vizepräsident Klein: Die Frage, Herr Kollege!
(Dr. Solms [FDP]: Eben nicht!)
Dr. Faltlhauser (CDU/CSU): — — ich habe gefragt, Ich muß Ihnen sagen, dies führt zu einem ganz schi-
Herr Präsident — , und daß die ho ri zontale Gerechtig- zophrenen Zustand. Die meisten Kinder — jedenfalls
keit nicht über die vertikale Gerechtigkeit zu stellen hoffen wir das — zwischen drei und sechs Jahren sind
ist. in einem Kinderga rt en. Da muß man einen Kindergar-
tenbeitrag zahlen. Dieser Kindergartenbeitrag ist
Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Faltlhauser, die nicht von der Steuer absetzbar.
Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur
vertikalen und horizontalen Gerechtigkeit habe ich (Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das
sehr sorgfältig studiert. Wenn Sie das auch getan ha- hat Herr Vogel schon gesagt! — Dr. Vogel
ben, müßten Sie eigentlich auch die Sätze des Karls- [SPD]: Das ist wichtig; das muß man wieder
ruher Gerichts gelesen haben, das für die Entschei- holen!)
dung, ob die Steuerfreiheit des Existenzminimums Wenn aber reiche Leute am Nachmittag die Kinder-
durch Kinderfreibeträge oder durch Kindergeld oder gärtnerin vom Vormittag privat für ihre beiden Kinder
durch ein duales System gewährleistet ist, der Politik einstellen, dann kann man da im Jahr 18 000 DM ab-
ausdrücklich Gestaltungsfreiheit gibt. setzen und 9 500 DM vom Staat zurückbekommen.
(Beifall bei der SPD — Dr. Freiherr von Stet Nein, meine Damen und Herren, das gab es nicht mal
ten [CDU/CSU]: Beides!) bei Kaiser Wilhelm, daß man sich sein Dienstpersonal
Das ist der Unterschied zwischen uns beiden. vom Staat bezahlen ließ. Das werden wir rückgängig
machen.
Sie wählen bewußt den Weg der Kinderfreibeträge,
weil die Menschen bei dem komplizierten Steuerrecht (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
nicht merken, was sich hinter den Kinderfreibeträgen des Bündnisses 90/GRÜNE)
versteckt.
Allein dieses Privileg kostet fast 600 Millionen DM im
(Beifall bei der SPD) Jahr. Dieses Geld würde ausreichen, um jährlich
Ich habe hier einmal eine Diskussion geführt, und-
da 35 000 neue Kindergartenplätze zu schaffen. Auch
sagte Frau Süssmuth zu mir, damals noch Familienmi- diese Zahlen zeigen: Der Koalition geht es nicht um
nisterin: Frau Matthäus — ich hatte das Gefühl, sie die Familien mit Kindern, sondern um die Begünsti-
war davon überzeugt —, warum regen Sie sich auf; gung ihrer Klientel.
der Kinderfreibetrag ist doch für jedes Kind gleich
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die „Zeit"
hoch. Dies ist allerdings zutreffend; aber die Auswir-
schrieb in der letzten Woche: „Noch nie zuvor stand
kungen sind eben so ungerecht, wie ich das darge-
der Ertrag von Koalitionsverhandlungen in einem der-
stellt habe.
art krassen Mißverhältnis zur politischen, wirtschaft-
(Beifall bei der SPD) lichen und psychologischen Herausforderung des Au-
Lassen Sie mich in meinen Zahlen fortfahren. Durch genblicks. " — Recht hat sie. Steuererhöhungen sind
die von Ihnen geplante Anhebung der Kinderfreibe- jetzt unter dem Denkmantel des Golfkrieges vorgese-
träge sollen für das Kind eines Spitzenverdieners hen. Interessenpolitik und Umverteilung von unten
178 DM im Monat Steuerentlastung gewährt werden, nach oben werden in fast allen Bereichen der Finanz-
aber für das Kind eines Geringverdienenden nur politik durchgeführt. Die Koalitionsvereinbarungen
64 DM, d. h. in Zukunft sollen Spitzenverdiener im zeigen ein beschämendes Desinteresse an den exi-
136 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Matthäus-Maier
stentiellen Sorgen und Nöten unserer Mitbürger in Historische und moralische Verantwortung verbin-
den neuen Bundesländern. det uns Deutsche in dieser tödlichen Bedrohung Isra-
(Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das ist els in besonderer Weise mit dem jüdischen Volk. Wir
doch wohl unerhört!) stehen in dieser existenzbedrohenden Lage ohne jede
Einschränkung an der Seite Israels.
Das entspricht nicht dem Auftrag, den Ihnen die
Wähler gegeben haben. Unsere Bürger und unser (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD
Land haben Anspruch auf eine bessere Politik, als sie und dem Bündnis 90/GRÜNE)
der Herr Bundeskanzler gestern hier vorgetragen hat.
Die Abwehrwaffen, die es braucht, um sich zu
Stellen Sie sich endlich den großen Herausforderun-
schützen, stellen wir im Rahmen des uns Möglichen
gen unserer Zeit und werden Sie end lich Ihrer Verant-
zur Verfügung. So habe ich das bei dem Besuch in
wortung für die Zukunft unseres Landes gerecht!
Israel mit den Kollegen Spranger und Rühe zugesagt.
(Zuruf von der CDU/CSU) Wir konnten uns übrigens auch auf die Meinung der
Wir Sozialdemokraten sind zu konstruktiver Zusam- Kollegen von der SPD stützen. So geschieht dies
menarbeit bereit. jetzt.
(Beifall bei der SPD) Die Einmaligkeit unserer historischen Verantwor-
tung und die Einmaligkeit und Schwere der akuten
Vizepräsident Klein: Meine Damen und Herren, wir Gefährdung Israels können allerdings diese Unter-
treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird stützung Israels nicht zum Berufungsfall für eine Aus-
um 14 Uhr fortgesetzt. weitung unserer Waffenexportpolitik machen.
Ich unterbreche die Sitzung. (Beifall bei Abgeordneten der FDP — Zu
(Unterbrechung von 13.07 bis 14.00 Uhr) stimmung des Abg. Rühe [CDU/CSU])
Deutschland hat seit 30 Jahren keine Waffenex-
Vizepräsidentin Schmidt: Liebe Kollegen! Liebe porte in den Irak genehmigt. Deutsche haben aber
Kolleginnen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder unter Bruch unserer Gesetze, unter Täuschung der
eröffnet. Behörden an der Giftgasproduktion Saddam Husseins
mitgewirkt. Sie zu ächten ist eine gesamtgesellschaft-
Wir fahren mit der Aussprache zur Regierungser-
liche Aufgabe.
klärung fort. Ich erteile dem Minister des Auswärti-
gen, Herrn Dr. Genscher, das Wort. Ich begrüße sehr, daß Sie, Herr Kollege Solms, vor-
(Heiterkeit) geschlagen haben, die deutsche Wirtschaft möge
auch durch einen Verhaltenskodex dazu beitragen,
das Bewußtsein der Verwerflichkeit eines solchen
Genscher, Bundesminister des Auswärtigen: Frau Handelns zu stärken.
Präsidentin, nachdem Sie mich promoviert haben,
möchte ich Ihnen zu Ihrer Wahl herzlich gratulieren. Dies alles ist geschehen nach dem, was Juden in der
Vergangenheit durch Deutsche angetan wurde. Das
(Heiterkeit) ist eine Last, an der wir alle tragen, die deutsche Au-
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! ßenpolitik zuallererst.
Meine Herren! Nach dem Ende des West-Ost-Gegen-
satzes richten sich die Hoffnungen der Menschheit auf Um so wichtiger ist es, daß wir durch eine weitere
eine neue Weltordnung der Freiheit, des Friedens und Verschärfung der Gesetze alle Schlupflöcher für ille-
der sozialen Gerechtigkeit. Der Krieg am Golf, die gale Waffenexporte und für die Mitwirkung von
Krise in der Sowjetunion, vor allem in den baltischen Deutschen schließen.
Staaten, werfen einen dunklen Schatten auf diese Liebe Kolleginnen und Kollegen, am Golf ist Krieg,
Hoffnungen. Dennoch, diese neue Weltordnung wird und wir sind Partei in diesem Krieg an der Seite der
kommen. Präsident Bush hat es vor dem amerikani- Koalition zur Durchsetzung der Entschließung des Si-
schen Parlament eindrucksvoll bekräftigt. cherheitsrates, auf der Seite des Völkerrechts und der
Deutschland stellt sich nach seiner Vereinigung der Selbstbestimmung. Wir sind solidarisch mit den USA,
neuen und der größeren Verantwortung in der Welt. Großbritannien und Frankreich sowie mit allen, die
Am Golf steht Recht gegen Unrecht, steht- die Welt- mit ihren Soldaten die Last dieser Aktion der Völker-
gemeinschaft gegen einen Aggressor, der zum zwei- gemeinschaft zur Wiederherstellung des Rechts und
ten Mal innerhalb eines Jahrzehnts einen Nachbarn zur Abwendung einer letztlich die ganze Welt bedro-
überfallen hat — ein Aggressor, der weder vor Geisel- henden Gefahr tragen. So haben es der Herr Kollege
nahme noch vor Umweltkriegsverbrechen zurück- Stoltenberg und ich am Tag nach Beginn der Kampf-
schreckt, ein Aggressor, der mit dem Einsatz von Gift- handlungen mit der Westeuropäischen Union er-
gas droht. klärt.
Saddam Hussein hat alle Möglichkeiten zur Ver- Unsere Solidarität und unser Dank gelten den Sol-
meidung des Krieges ausgeschlagen. Er will die Vor- daten unserer Verbündeten am Golf in besonderer
herrschaft im Nahen und im Mittleren Osten, und er Weise, und ihren Familien gilt unsere Verbundenheit.
will die Vernichtung Israels. Damit hat die irakische Sie sichern hier bei uns seit Jahrzehnten zusammen
Aggression eine neue schreckliche Dimension be- mit den Soldaten unserer Bundeswehr den Frieden in
kommen. Völkermord wird als politisches Ziel propa- Europa. Wir werden auch nicht vergessen, daß es Sol-
giert, Völkermord gegen dasselbe Volk, das schon daten dieser Verbündeten waren, die in den Monaten
einmal Opfer war. der höchsten Bedrängnis, der Blockade Westberlins,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 137
Bundesminister Genscher
mit der Luftbrücke für das Überleben Westberlins ge- ganzen Hauses finden. Niemand kann die Verantwor-
sorgt haben. tung dafür übernehmen, daß unsere Soldaten ohne
Schutz ihren Solidaritätsdienst in der Türkei verse-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
hen.
Daß bei uns wie in vielen anderen Staaten Men-
schen für den Frieden auf die Straße gehen, sollte nie- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
manden wundern. bei Abgeordneten der SPD)
Die Weltordnung, nach der sich die Menschheit
(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr
sehnt, kann nur entstehen, wenn die Weltgemein-
wahr!)
schaft der Aggression und dem Streben nach Vorherr-
Unsere Straßen haben schon Aufmärsche ganz ande- schaft keine Chance läßt. Deutschland ist Mitglied der
rer Art erlebt. Weltgemeinschaft. Wir sind bereit, unsere Verant-
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD wortung in der Weltgemeinschaft zu erfüllen.
und dem Bündnis 90/GRÜNE) Die noch bestehende verfassungsrechtliche Ein-
Die Sorge um den Frieden ehrt die Deutschen. Wir schränkung unserer militärischen Mitwirkung bei
sollten dabei nicht vergessen, daß auch diejenigen für UNO-Aktionen ist ganz gewiß nicht Ausdruck von
den Frieden eintreten, die ihre Solidarität mit Israel Verantwortungsmangel oder gar Drückebergerei.
und den Staaten, die es auf sich genommen haben, Diese Beschränkung war als Konsequenz aus unserer
dem Aggressor Einhalt zu gebieten, bekunden. Geschichte und für ein geteiltes Land wohlbegrün-
det.
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der
Sie hatte übrigens auch Erfahrungen und auch Äng-
SPD)
ste unserer Nachbarn berücksichtigt. Bis in das letzte
Niemand darf vergessen, daß Saddam Hussein es Jahr hinein reichte in manchen Ländern die Sorge vor
war, der den Frieden gebrochen hat. Wir alle müssen einem — auch militärisch — übermächtigen Deutsch-
uns fragen, warum es nicht schon damals Demonstra- land, das mit der Vereinigung entstehen könnte.
tionen gab. Er ist der Aggressor; nicht diejenigen, die
Es hat für uns gleichwohl nicht des irakischen An-
ihm entgegentraten. Der Krieg am Golf hat am 2. Au-
griffs auf Kuwait bedurft, um zu erkennen, daß wir
gust mit dem brutalen Überfall auf Kuwait und nicht
Deutschen, eingebettet in die Weltgemeinschaft, in
am 16. Januar 1991 mit der bewaffneten Aktion der
das westliche Bündnis und die Europäische Gemein-
Staatengemeinschaft begonnen.
schaft, künftig auf der Grundlage von Entschließun-
Zu den Lehren aus unserer eigenen Geschichte ge- gen des Sicherheitsrates an der Sicherung des Frie-
hört, daß Nachgiebigkeit gegenüber dem Aggressor dens und der Durchsetzung des Völkerrechts auch
schließlich einen weit höheren Preis an Opfern und militärisch mitwirken müssen. Die dafür notwendige
Zerstörung abverlangt als Festigkeit. Ergänzung der Verfassung sollte die Zustimmung des
Unsere Solidarität drückt sich nicht nur in Worten ganzen Hauses finden.
aus. Schon vor der Entscheidung des Kabinetts vom Wenn der Krieg am Golf mit der Erreichung der
Dienstag dieser Woche hatte sich Deutschland mit fast Ziele des Sicherheitsrates beendet ist, gilt es, dort den
sechs Milliarden DM — finanzielle Leistungen und Frieden zu gewinnen. Der bewaffnete Konflikt wird
Sachleistungen — an den Lasten des Golfkonflikts be- vieles in der Region verändern. Diese Zäsur muß als
teiligt. Die Bundesregierung wird auch weiterhin Chance und Ausgangspunkt für eine grundlegende
einen angemessenen Teil der gemeinsamen Lasten und umfassende Friedensregelung für den Nahen
übernehmen. und den Mittleren Osten genutzt werden. Das Exi-
Es hat niemand an der Verläßlichkeit Deutscher und stenzrecht Israels gehört genauso dazu wie dasjenige
Deutschlands als Bündnispartner zu zweifeln. Das gilt der arabischen Staaten und das Selbstbestimmungs-
auch für die Türkei, und das gilt für uns. Einen Auto- recht des palästinensischen Volkes.
matismus für das, was man den Bündnisfall nennt, Die Zurückhaltung Israels ist in einer lebensbedro-
gibt es deshalb nicht. Jedes Land muß an der Ent- henden Lage angesichts der täglichen Ang riffe ein
scheidung mitwirken, ob der Bündnisfall eintritt. Wir wichtiger Beitrag zu zukünftiger Vertrauensbildung.
haben vorgesehen, daß dazu auch das Parlament Wir sollten diese Zurückhaltung nicht vergessen.
seine Entscheidung zu treffen hat.
Mit ihrer gewiß nicht leichten Entscheidung für die
Wir begrüßen es, daß der türkische Präsident Özal Teilnahme an der Anti-Irak-Koalition stellen Ägypten
nun auch öffentlich festgestellt hat, daß die Türkei und Syrien ein hohes Maß an Verantwortung unter
keine Gebietsansprüche gegen den Irak hat. Nach Beweis, das auch für die Zukunftsgestaltung der Re-
manchen Diskussionen in der Türkei war das eine gion wirksam genutzt werden kann.
begrüßenswerte Klarstellung.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie
(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der bei Abgeordneten der SPD)
SPD)
Es geht um Frieden und Sicherheit, um Stabilität
Die Entsendung des deutschen Luftwaffenanteils durch Vertrauensbildung, um Abrüstung, um politi-
an der AMF in die Türkei ist Ausdruck unserer Soli- schen Interessenausgleich und um wirtschaftliche Zu-
darität im Bündnis. Der Schutz der deutschen Solda- sammenarbeit am Golf wie im Nahen Osten. Was in
ten und der anderen Verbündeten auf dem zweiten Europa erreicht wurde, kann zum Modell des friedli-
Flugplatz gegen Luftangriffe durch Entsendung von chen Zusammenlebens auch im Nahen und Mittleren
Luftabwehreinheiten sollte die Unterstützung des Osten werden.
138 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Genscher
Das setzt aber auch voraus, daß überall im Nahen Das bedeutet aber: Dann, wenn wir über diese La-
und Mittleren Osten wirtschaftliche Stabilität und so- stenverteilung bei uns sprechen, nicht zu vergessen,
ziale Gerechtigkeit verwirklicht werden. Ich denke, es daß die Deutschen in den neuen Bundesländern noch
ist Zeit, daß der Reichtum einiger arabischer Staaten lange die Lasten der Teilung zu tragen haben wer-
nicht mehr für Aufrüstung, den.
(Dr. Vogel [SPD]: Ja!) Erhöhte Verantwortung, und zwar weltweit, bedeu-
tet für uns übrigens auch, daß wir Anwälte eines
sondern für die Entwicklung der ganzen Region ver- freien Welthandels sein müssen. Hier geht es um zen-
wendet wird. trale weltwirtschaftliche Fragen mit einer großen au-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie ßenpolitischen Bedeutung. Um in letzter Minute einen
bei Abgeordneten der SPD und des Bündnis erfolgreichen Abschluß der Uruguay-Runde zu er-
ses 90/GRÜNE) möglichen, müssen alle Verhandlungspartner jetzt
Flexibilität und Erfolgsorientierung zeigen.
Die Milliarden, die in der Vergangenheit für die Auf-
rüstung der Region, vor allem auch des Irak, ausgege- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
ben wurden, könnten die Region zu einem blühenden In den baltischen Staaten und in anderen Teilen der
Weltteil machen. Sowjetunion macht sich der Selbstbestimmungswille
Die gewachsene Verantwortung Deutschlands wird geltend, der durch ein diktatorisches System über
in Zukunft für die Entwicklung in Mittel- und Osteu- Jahrzehnte unterdrückt wurde. Die Schlußakte von
ropa mit Blick auf die Dritte Welt und für den Wieder- Helsinki und die Cha rt a von Paris geben auf diese
aufbau in der nah- und mittelöstlichen Region zum Fragen die Antwort: Das legitime Streben nach natio-
weltweiten Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen naler Selbstbestimmung muß sich in dem Rahmen,
von uns noch größere Beiträge verlangen. Ich warne den die Cha rt a gesetzt hat, entwickeln können. Der
vor der vereinfachenden Ansicht, erhöhte Verantwor- Einsatz von Gewalt gegen Freiheit, Demokratie und
tung drücke sich vor allem in militärischem Einsatz Selbstbestimmungsrecht ist damit unvereinbar.
aus. Die Notwendigkeit dafür wird — wie ich hoffe — Die schwierigen inneren Probleme der Sowjetunion
die Ausnahme bleiben. können nur durch Dialog und Verständigungsbereit-
schaft gelöst werden. Niemand im Westen kann ein
Gewachsene Verantwortung verlangt von uns aber
Interesse daran haben, daß dieses riesige Land in sei-
politische und materielle Beiträge. Dem wollen und
nen inneren Gegensätzen versinkt. Als Europäer
dem müssen wir gerecht werden. Die Bürger unseres
wünschen wir uns, daß die Sowjetunion Gorba-
Landes sollen wissen, daß diese materiellen Beiträge
tschows, von der so viel für die Freiheit der Völker in
des vereinigten Deutschlands für europa- und welt-
Mittel- und Osteuropa ausgegangen ist, diesen Weg
weite Aufgaben zusätzliche Lasten für jeden einzel-
bewahren kann, daß sie Kurs halten kann.
nen bedeuten werden. Dies offen zu erklären ist die
Verantwortung der politischen Führung. (Beifall bei der FDP)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist falsch, die Die geschichtliche Erfahrung zeigt: Rückschläge
vom Bundeskanzler angekündigten Steuererhöhun- und Fehlentwicklungen werden nicht immer ver-
gen allein im Zusammenhang mit dem Golfkrieg zu meidbar sein. Eduard Schewardnadse hat bei seinem
sehen. Das vereinigte Deutschland wird auch nach Abschied erklärt: „Niemand im Westen wi ll die
Abschluß des Golfkrieges Aufgaben zu erfüllen haben Schwierigkeiten der Sowjetunion ausnutzen, um ihr
— bei der Entwicklung der Dritten Welt, beim welt- zu schaden. " Ich wünsche mir, daß diese Erkenntnis
weiten Umweltschutz, bei der Hilfe für Mittel- und alle Kräfte in der Sowjetunion haben. Wenn sie am
Osteuropa — , die wir aus den gegenwärtigen Beträ- Reformkurs festhalten, setzen sie den Westen, uns, in
gen nicht werden aufbringen können. Das muß aus- die Lage, so zu helfen, wie wir das wollen. Das „neue
gesprochen werden, und das muß auch begründet Denken" in der Politik, das die Abrüstung, die Demo-
und politisch vor der Öffentlichkeit vertreten wer- kratisierung Mittel- und Osteuropas und die deutsche
den. Einheit ermöglicht hat, muß im gemeinsamen Inter-
esse Europas bewah rt werden.
(Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU —
Zuruf von der SPD: Vor den Wahlen!) Die besorgniserregende Entwicklung in der Sowjet-
- union mindert die Bedeutung der Pariser Cha rt a
Wir nehmen an den internationalen Lasten entspre- nicht. Sie ist auch kein Anlaß, die Grundlagen unserer
chend unserer Leistungsfähigkeit teil. Wir müssen bei Politik zu korrigieren. Diese Cha rt a hat die Zukunft
uns darauf achten, daß diese Lasten auch bei unseren des Kontinents untrennbar mit den Prinzipien der par-
Bürgern sozial gerecht verteilt werden. lamentarischen Demokratie, der Marktwirtschaft und
(Frau Matthäus-Maier [SPD]: Gerade die der sozialen Verantwortung verbunden.
FDP muß das sagen!) Weder die Entwicklungen am Golf noch die Ver-
werfungen in Mittel- und Osteuropa sind Anlaß, zu
— Frau Kollegin, da werden Sie noch Ihre Wunder
den alten Denkmustern zurückzukehren. Die KSZE-
erleben. Ich hätte mir gewünscht, daß Sie unsere Vor-
Staaten dürfen sich nicht abhalten lassen, ihren Weg
schläge, die Arbeitnehmer in den neuen Bundeslän-
konkret weiterzugehen. Die instabile Entwicklung in
dern bei der Steuer stärker zu entlasten, unterstützt
Mittel- und Osteuropa verlangt im Gegenteil eine Be-
anstatt kritisiert hätten.
schleunigung des Ausbaus eines gesamteuropäi-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten schen Stabilitätsrahmens; und das ist der KSZE-Pro
der CDU/CSU) zeß.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 139
Bundesminister Genscher
Es bleibt unsere Verantwortung, zusammen mit den päischen Gemeinschaft, im westlichen Bündnis, mit
anderen Staaten Mittel- und Osteuropas sowie der den Vereinigten Staaten.
Sowjetunion weiter am europäischen Haus zu bauen. Europa trägt heute eine größere Verantwortung —
Die Cha rt a von Pa ri s bleibt dafür der Bauplan. nicht nur wir Deutschen. Aber wir Deutschen stehen
Das neue West-Ost-Verhältnis, das wir Deutsche an der Schwelle dieses Jahres vor einem Zeitabschnitt
maßgeblich mitgestaltet haben, hat uns nicht nur in unserer Geschichte mit einer größeren Verantwor-
einer Sternstunde der europäischen Geschichte die tung. Wir wollen sie allerdings nicht in einem natio-
Einheit gebracht, sondern es hat auch die Vereinten nalstaatlichen Sinne. Wir wollen diese größere Ver-
Nationen in der Golfkrise handlungsfähig gemacht. antwortung nicht in einem Alleingang ausüben, son-
dern wir wollen sie ausüben als gute Europäer.
Auch heute wieder haben wir Kritik gehört, die Ein- Ich danke ihnen.
heit sei übereilt herbeigeführt worden. Das kann nur
jemand sagen, der sie eigentlich nicht wollte; denn (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
heute wäre sie nicht mehr zu haben.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Vizepräsidentin Schmidt: Ich erteile das Wo rt dem
bei Abgeordneten der SPD) Abgeordneten Gansel.
Ohne das neue Verhältnis stünden wir am Golf vor
der Gefahr eines neuen Ost-West-Weltkrieges. Heute Gansel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und
aber kann kein Aggressor mehr hoffen, unter Ausnüt- Herren! Herr Bundesaußenminister! Die Bundesrepu-
zung des Ost-West-Konflikts ungehindert und unge- blik befindet sich heute als Folge von Rüstungsexpor-
straft seinen Eroberungsplänen nachzugehen. ten in einer schweren außenpolitischen Krise. Sie hat
auch ihre innenpolitische Seite.
(Zustimmung des Abg. Dr. Dregger [CDU/
CSU]) Wir Sozialdemokraten haben wie Sie, wie Herr
Spranger, wie Herr Rühe vor wenigen Tagen bei ei-
Hier zeigen sich die Konturen einer neuen Weltord- nem Besuch in Israel die Wut und auch die Verach-
nung. Aus guten Gründen sind die USA und die So- tung der Menschen erlebt, die von Saddam Hussein
wjetunion um die Bewahrung und Entwicklung ihres mit Giftgas und Raketen bedroht werden. Daß wir
strategischen Verhältnisses bemüht. Wir müssen uns Sozialdemokraten die Bundesregierung vor diesen
von dem gleichen Interesse leiten lassen. Gefahren seit Jahren gewarnt haben, machte das Er-
lebnis für uns nicht leichter. Die Vorwürfe trafen uns
Wir müssen dabei wissen, daß die Stabilität Euro-
ja als Deutsche. Es gibt eben wieder Anlaß zu Kollek-
pas, die Stabilität im Norden der Weltkugel, wesent-
tivscham. Ich finde es gut, daß Sie, Herr Solms, es
lich von der Funktionsfähigkeit des westlichen Bünd-
genauso empfunden haben wie wir.
nisses und seinem Bestand abhängt. Es ist heute nicht
mehr ein Bündnis gegen ein anderes, sondern es ist Wir haben uns in Israel nicht mit Ang ri ffen auf die
ein Faktor weltweiter Stabilität geworden; eine Ein- Bundesregierung verteidigt. Die innenpolitische Aus-
sicht, die auch die sowje ti sche Führung nicht in Frage einandersetzung soll nach Möglichkeit nicht im Aus-
stellt. land geführt werden. Aber hier im Deutschen Bundes-
tag muß sie geführt werden.
Wir müssen erkennen, daß es heute um so dringli-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
cher ist, die europäische Einheit durch Schaffung der
Politischen Union zu vollenden. Niemand kann sich GRÜNE)
mit den Mängeln, die in Europa angesichts des Golf- Da geht es um die Klärung von Sachverhalten und
konflikts aufgetreten sind, aus seiner Verantwortung um Konsequenzen. Es geht aber auch um die politi-
herausreden, die Politische Union zu schaffen. Das, sche Verantwortung der Mitglieder der Bundesregie-
was wir jetzt an mangelnder europäischer Handlungs- ru ng. Ich beginne deshalb mit einem Zitat aus der
fähigkeit zu beklagen haben, ist in Wahrheit ein zu- Rabta-Debatte vom 18. Januar 1989. Sie werden sich
sätzlicher G rund, möglichst schnell diese Politische erinnern. Damals versuchte die Bundesregierung , die
Union mit einer politischen, einer sicherheitspoliti- Berichte amerikanischer Zeitungen über die Beteili-
schen, einer finanz- und wi rt schaftspolitischen gung deutscher Firmen beim Bau einer Giftgasfabrik
Dimension herbeizuführen. in Libyen als eine antideutsche Pressekampagne
- wegzuwischen. Das war Antiamerikanismus, Herr
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Bundeskanzler; denn die Wirklichkeit, der wir durch
bei Abgeordneten der SPD) den sogenannten Schäuble-Bericht im Bundestag nä-
Wir Deutschen wissen, daß wir in diesem Prozeß her kamen, übertraf jede Reportage.
europäischer Einigung eine besondere Verantwor- Ich beginne mit einem Zitat; denn wir haben es mit
tung dafür haben, daß die Staaten östlich von uns einem Wiederholungsfall zu tun, also auch mit Wie-
erkennen: Sie gehören dazu, wenn von Europa ge- derholungstätern, und zwar in der Bundesregierung.
sprochen wird. Nur diese Perspektive kann die not- Was haben Sie gewußt, und wann haben Sie es ge-
wendigen Energien mobilisieren und die Kraft geben, wußt?
schwierige Übergangszeiten durchzustehen. (Beifall bei der SPD — Lowack [CDU/CSU]:
Der polnische Präsident Lech Walesa hat Deutsch- Welche Ministerien waren denn beteiligt?)
land als Tor der Freundschaft zu Europa bezeichnet. So lautet die Frage in einem berühmten Kommentar
Ja, das wollen wir sein. Wir wollen es sein in einer eines amerikanischen Journalisten, der überschrie-
engen Verbindung mit unseren Partne rn in der Euro ben war: „Auschwitz im Wüstensand?"
140 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Gansel
Inzwischen ist ein Teil dieser Horrorvision Wirklich- mit einer Reichweite von 900 km nicht nur Tehe-
keit geworden. Die Überlebenden der Gaskammern ran, sondern auch Jerusalem und Tel Aviv errei-
Nazideutschlands, ihre Kinder und Enkelkinder flüch- chen können.
ten sich in die versiegelten Schutzräume und legen
Staatssekretär Riedl antwortete damals, daß es sich
Gasmasken an, weil sie Angst haben müssen in ihrem
nach seinen Informationen — ich zitiere wiederum —
Land vor Raketen und Giftgas, an denen deutsche Fir-
men und Deutsche mitgewirkt haben, aus der Bundes- offensichtlich um Raketen zur Luftverteidigung
republik und aus der ehemaligen DDR, aus kapitali- Bagdads handle.
stischer Profitgier und im Auftrage des Stasireiches.
Im übrigen wies er bezüglich der Reisetätigkeit
Gewiß, niemand hat das gewollt. Wer aber Warnun-
deutscher Raketentechniker in den Irak darauf hin
gen in den Wind geschlagen hat, wer Gefahren ver-
— ich zitiere wieder —,
harmlost hat und wer nicht alle Mittel des Rechtsstaa-
tes mobilisiert hat, der hat versagt. daß Bürger der Bundesrepublik Deutschland eine
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ völlige Bewegungsfreiheit haben und von der
GRÜNE) Ausreisefreiheit, die durch das Grundgesetz ge-
Er hat auch die Lehre aus der deutschen Geschichte währt wird, natürlich ungebrochen Gebrauch
vergessen, die Willy Brandt nicht zufällig am 9. No- machen.
vember 1988 in dem Satz zusammengefaßt hat: „Nie Immer wieder haben wir nach den Scud-Raketen im
mehr wegschauen, wenn Unrecht geschieht. " Bundestag gefragt, und wir haben schnelle Maßnah-
(Zurufe von der CDU/CSU) men angemahnt. Beschleunigt wurde die Gesetzge-
„Was haben Sie gewußt, und wann haben Sie es bungsarbeit des Bundestages aber erst durch einen
gewußt?" Seit 1984, dem ersten Giftgaseinsatz durch Mahnbrief der amerikanischen Regierung vom Mai
Saddam Hussein im Krieg gegen den Iran — ihm folg- 1990 an die Bundesregierung. Welch eine Souveräni-
ten weitere Giftgaseinsätze gegen die Kurden — , be- tät!
saß die Bundesregierung Hinweise auf die Beteili- Dann ging es etwas schneller. Aber die Verord-
gung Deutscher bei der Giftgasproduktion im Irak. nung, die die Tätigkeit deutscher Raketentechniker
Seit 1984 haben Sozialdemokraten und die GRÜNEN unter Genehmigungspflicht stellt, trat erst eine Woche
im Bundestag in Debatten und in parlamentarischen nach dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait in
Anfragen, mit Anträgen und Gesetzentwürfen auf die Kraft. Welch ein Zufall!
Gefahren hingewiesen und Gegenmaßnahmen ver-
langt. Die Bundesregierung meint, das seien alles Zufälle;
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Unglaub sie habe alles ihr Mögliche getan. Aber wir wollen die
lich!) Aufklärung dieser Vorgänge nicht auch noch dem
Der Bundesaußenminister war noch nicht einmal Zufall überlassen.
bereit, den Irak beim Namen zu nennen, als er Giftgas (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/
verwendet hatte. Vielmehr haben Sie, Herr Minister, GRÜNE)
die Verwendung von Giftgas im Krieg allgemein ver-
urteilt. Es reicht aber nicht aus, nur das Verbrechen zu Deshalb beantragen wir heute, daß dem Bundestag
bezeichnen, wenn der Täter identifiziert und in aller wie im Falle Rabta ein schriftlicher Be richt zum iraki-
Brutalität auch noch geständig ist wie Saddam Hus- schen Raketen- und Giftgaskomplex vorgelegt wird.
sein. Wir werden die von der Bundesregierung angekün-
digten Gesetzesinitiativen auf der Grundlage dieses
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Berichtes sorgfältig prüfen. Dann werden wir ent-
GRÜNE)
scheiden, ob die Einsetzung eines Untersuchungsaus-
Wegen der Beteiligung Deutscher an der Giftgas schusses erforderlich ist.
entwicklung im Irak wurde seit 1984 durch eine Ober-
finanzdirektion ermittelt, als ob es sich dabei um den (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Schmuggel von Zigaretten handelte. Erst 1987 wurde GRÜNE)
eine Staatsanwaltschaft eingeschaltet. 1990 wurden
Wir haben auf diesem Gebiet nämlich Spezialisten
die ersten Manager in Untersuchungshaft genommen.
und ein gutes Gedächtnis.
Das war vier Tage nach dem Einmarsch Saddam Hus
seins in Kuwait. Welch ein Zufall! -
Der Bundeskanzler hat gestern gesagt — ich zi-
Wir wissen nicht genau, seit wann die Bundesregie- tiere — , auch die Verantwortlichen der Wirtschaft
rung vom Export deutscher Raketentechnologie in müßten das Ihrige tun, um diejenigen zu ächten, die in
den Irak weiß. In der Bundestagssitzung vom 18. Mai illegale Rüstungsgeschäfte verwickelt seien. Dabei
1988 ist die Bundesregierung jedenfalls von uns zu fällt mir jetzt zufällig der Auftritt des Bundeskanzlers
nachrichtendienstlichen Hinweisen befragt worden. im U-Boot-Untersuchungsausschuß ein. Ich erwarte
Ich habe seinerzeit gefragt — ich zitiere aus dem Bun- vom Bundeskanzler keine Selbstächtung, aber eine
destagsprotokoll —, ob die Bundesregierung die Hin- Entschuldigung könnte nicht schaden; denn verwik-
weise des Geheimdienstes eines mit ihr befreundeten kelt war er in ein illegales Rüstungsgeschäft alle-
Landes nicht aufgenommen hat, mal,
daß diese (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
— deutschen — GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
Raketentechniker im Irak die sowjetischen Scud Linke Liste — Kittelmann [CDU/CSU]: Uner
Raketen so modernisiert haben, daß diese nun hört!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 141
Gansel
übrigens in ein Rüstungsgeschäft, das mit dem Bruch Lassen Sie mich, weil es dazugehört, an dieser Stelle
des UN-Embargos gegen Südafrika zu tun hatte, ei- sagen — ich wiederhole das, was ich in einer anderen
nes Rüstungsembargos, das die gleiche Qualität hatte Debatte des Bundestages ein Jahr nach dem Beginn
wie das Rüstungsembargo gegen den Irak. Im Bun- des Intifada-Aufstandes in den besetzten Gebieten
deskanzleramt haben Staatssekretäre und Chefbera- gesagt habe — : Unsere Aufgabe muß es sein, eine
ter monatelang die Frage geprüft, ob ein ganzes U- Politik zu machen, die proisraelisch und propalästi-
Boot wohl eine Kriegswaffe sei, die unter ein Rü- nensisch ist.
stungsembargo fallen könnte.
(Zuruf von der PDS/Linke Liste)
(Heiterkeit bei der SPD)
Deshalb ist das, was wir jetzt zu leisten haben, keine
Das Versagen der Bundesregierung in der Rü- Parteinahme gegen das Recht der Palästinenser auf
stungsexportkontrolle zwingt die Sozialdemokratie Selbstbestimmung.
heute dazu, von ihrer ständigen Forderung „Keine
Rüstungsexporte in den Nahen Osten" abzuweichen. (Beifall bei der SPD — Lowack [CDU/CSU]:
Wir bekennen uns zu diesem Widerspruch. Sagen Sie einmal, wie das aussehen so ll !)
Seit Tagen und Nächten ist Israel Ziel von Raketen- In der Presse gibt es Spekulationen über die Hal-
angriffen Saddam Husseins und Adressat von Dro- tung der SPD zum Golf-K rieg.
hungen mit Giftgas. Die Bundesrepublik Deutschland (Kittelmann [CDU/CSU]: „Spekulationen"
muß Israel bei seinem Schutz und bei seiner Verteidi- ist nett untertrieben!)
gung helfen. Das ergibt sich aus der besonderen Ver-
pflichtung Deutschlands gegenüber Israel und zusätz- Herr Dregger hatte das heute morgen ausgebreitet. Es
lich daraus, daß die Bundesregierung durch ihre ver- gebe Meinungsunterschiede, die Haltung sei nicht
antwortungslose Rüstungsexportpolitik die gegen- klar.
wärtige Notlage mit verursacht hat. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!)
Das vereinigte Deutschland trägt nicht nur die Politik beginnt damit, daß man sagt, was ist und was
Bürde der deutschen Vergangenheit. Es haftet auch man will. Es ist Krieg. Wir wollen Frieden. Wer will
für die Fehler seiner Regierung aus der jüngsten Ge-
vonalde,iusjtzhörncaude
genwart. Und wir haften mit, auch mit unseren Grund- Frieden? Wir sind unsicher in der Frage, wie wir zu
sätzen. einem sicheren Frieden baldmöglichst kommen kön-
Unser Vorschlag, ein Rüstungsexportverbot in nen, zur Einstellung der Kampfhandlungen, zum
Staaten außerhalb des eigenen Bündnisses im Grund- Ende des Tötens und des Sterbens, das mit anzusehen
gesetz zu verankern, bleibt bestehen. Aber es muß die Zensur der Kriegsberichterstattung uns nicht er-
klar sein, daß die Verteidigungshilfe für Israel nicht laubt.
dazu führt, daß nun auch die Schranken für Waffen-
Der Krieg schafft jeden Tag neue Fakten und neue
exporte in andere Länder des Nahen Ostens geöffnet
Bedrohungen. Täglich werden politische Optionen
werden: erst Israel, dann Saudi-Arabien, Ägypten,
zerstört. Der französische Staatspräsident hat schon
Syrien und in zwei Jahren wieder der Irak. Man kennt
vor Monaten vor der Logik zum Kriege gewarnt. Jetzt
die Methoden der deutschen Rüstungsexportlobby.
scheint die Logik des Krieges zu herrschen. Wenn wir
(Sehr gut! bei der SPD) dieser furchtbaren Logik nicht widerstehen, dann be-
Solidarität mit Israel wird übrigens auch zu finanzi- steht die Gefahr, daß sich das politische Handeln end-
ellen Hilfen führen müssen. Das öffentliche und wirt- gültig den vermeintlichen militärischen Sachzwängen
schaftliche Leben Israels ist durch die tägliche Bedro- unterordnet. Das können wir nicht mitmachen.
hung gefährdet und gestört. Da reicht die peinliche (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Präsentation von wohltätigen Schecks auf Pressekon- GRÜNE)
ferenzen nicht aus.
Die Bundesrepublik Deutschland ist an der K rieg-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ führung nicht beteiligt. Noch nicht? Die SPD ist in der
GRÜNE) Opposition.
Die deutschen Banken können übrigens auch eini- (Zuruf von der CDU/CSU: Gott sei Dank!)
ges tun, um den angeschlagenen Ruf der deutschen -
Wirtschaft wiederherzustellen, indem sie die norma- Aber wir ringen so um unsere Position, als ob wir voll
len Geschäftsbeziehungen in dieser Situation nicht in der Verantwortung wären.
dadurch erschweren, daß sie unter Berufung auf das (Lachen bei der CDU/CSU)
Kriegsrisiko in Israel zusätzliche Sicherheiten verlan-
gen. Herr Kollege Dregger, wenn Sie schon bei den Ich meine, das ehrt meine Partei, und das stärkt sie,
Rüstungsexporten und ihren Wirkungen keine Scham solange es sie nicht zerreißt.
empfinden — wie Herr Solms und ich das tun —, dann (Lowack [CDU/CSU]: Ihr seid voll in der Ver
bitte ich Sie: Nutzen Sie Ihre Schneidigkeit wenig-
antwortungslosigkeit!)
stens dazu, die Herren in den Vorstandsetagen der
Banken dazu zu bringen, daß Israel in dieser Situation Am 7. August 1990, wenige Tage nach dem Ein-
nicht noch zusätzliche Schwierigkeiten kriegt. marsch Saddam Husseins in Kuwait, hat die SPD-
Bundestagsfraktion erklärt — ich zitiere — :
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Und (Zuruf von der CDU/CSU: Aber auf der
was ist mit Ministerpräsident Schröder?) Straße waren Sie nicht!?)
142 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

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Niemand darf sich der Täuschung hingeben, daß so wie Willy Brandt noch am 14. Januar 1991 mit sei-
Saddam Hussein durch die Eroberung Kuwaits nem beschwörenden Appell den Versuch gemacht
gewissermaßen saturiert sein könnte. Wer aus der hat, die Logik zum Krieg zu durchbrechen.
Geschichte lernen will, muß wissen, daß Saddam Die Bundesrepublik Deutschland ist an den Kampf-
Hussein sich nach einem internationalen Arran- handlungen des Golfkrieges mit Soldaten nicht betei-
gement über Kuwait nicht anders verhalten ligt.
würde als Hitler nach dem Münchener Abkom-
men. (Dr. Graf Lambsdorff [FDPJ: Deswegen kön
nen Sie auch so reden!)
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)
— Graf Lambsdorff, wenn Sie satisfaktionsfähig wä-
Wir haben deshalb die Sanktionsbeschlüsse des
ren, würde ich Sie für diesen Zwischenruf fordern.
UN-Sicherheitsrates begrüßt und am selben Tag er-
klärt — ich zitiere — : (Dr. Fell [CDU/CSU]: Unverschämt! — Un
ruhe bei der CDU/CSU)
... von der Bereitschaft, diese Sanktionen dauer-
haft bestehenzulassen und sie vor allen Dingen Die Bundesrepublik Deutschland ist an den Kampf-
lückenlos einzuhalten, wird es abhängen, ob es handlungen des Golfkrieges mit Soldaten nicht betei-
gelingt, eine militärische Eskalation des Krieges ligt.
zu verhindern. (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sind denn solche
Heute quält mich die Frage, ob die Eskalation des Beteiligungen möglich? — Schmitz [Baes
Krieges nicht deshalb erfolgte, weil sich der Westen weiler] [CDU/CSU]: Wo sind Sie eigentlich
ein länger dauerndes Embargo nicht durchzuhalten gelandet, Herr Gansel?)
traute.
Da rief Graf Lambsdorff dazwischen: Deswegen kön-
Ein Arrangement mit Saddam Hussein kann es nen Sie hier auch so reden.
heute weniger denn je geben, nachdem er die kriege-
rische Eskalation willentlich herausgefordert hat, sie Verteidigungsminister Stoltenberg hat sich gestern
mit einer Kette von Völkerrechtsverstößen begleitet in einem Fernsehinterview auf unsere Verfassungsbe-
und versucht, auf das an der UN-Aktion nicht betei- stimmungen berufen. Damit auch das klar ist: Wir ver-
ligte Israel das Kriegsgeschehen auszudehnen. stecken uns nicht hinter dem Grundgesetz nach der
Devise: Wir wären gerne dabei, aber wir dürfen
Wir sind gleichwohl für eine Feuerpause, damit jetzt nicht.
nach zwei Kriegswochen erneut der Politik Raum ge-
geben wird. Es müssen alle Chancen für einen Frie- (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Aber hin
den genutzt werden, auch wenn sie noch so gering ter Grobheiten verstecken!)
erscheinen mögen; denn von der Forderung nach dem Denn das Grundgesetz ist schließlich eine Lehre dar-
Abzug von Kuwait können wir, dürfen wir nicht abge- aus, daß unsere Nachbarvölker in diesem Jahrhundert
hen. zweimal Opfer deutscher Armeen geworden sind. Ob
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ wir in den letzten 40 Jahren für die neuen Pflichten
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ des geeinten Deutschlands in den Vereinten Nationen
CSU und der FDP) dazugelernt haben, bedarf einer ernsthaften Selbst-
prüfung.
Es muß auch gewährleistet sein, daß Saddam Hussein
eine Feuerpause nicht mißbraucht, um sich neue mili- Der NATO-Vertrag ist ein regionales Verteidi-
tärische Optionen zu eröffnen und Israel erneut anzu- gungsbündnis, das ausschließlich der Verteidigung
greifen. bei Angriffen dient. Es ist kein Instrument zur Kriegs-
führung außerhalb des Bündnisbereiches. Es ist auch
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten nicht dazu da, militärische Rückendeckung für krie-
der CDU/CSU) gerische Operationen außerhalb des Bündnisberei-
Aber ich sage Ihnen: Das Wagnis einer Feuerpause, ches zu geben, auch wenn diese durch das Völker-
einer Besinnungspause für eine politische Lösung recht und jetzt durch die Beschlüsse des UN-Sicher-
kann unter den Bedingungen der alliierten Luftherr- heitsrates gedeckt sind.
schaft eingegangen werden. Der Versuch muß doch (Kittelmann [CDU/CSU]: Sie widersprechen
gewagt werden. - führenden Vertretern der SPD! Ihr solltet
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ euch einigen, was ihr eigentlich wollt!)
GRÜNE — Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Das Manche sprechen in diesem Zusammenhang von
kostet das Leben amerikanischer Soldaten! einem gerechten Krieg. Im Zeitalter der Massenver-
— Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nichtungsmittel kommt es auf den Unterschied zwi-
lächerlich!) schen dem gerechten und dem ungerechten Krieg
Für diesen Versuch hat sich mein Partei- und Frak- nicht mehr an.
tionsvorsitzender Hans-Jochen Vogel mit einem er-
(Widerspruch bei der CDU/CSU)
neuten Appell an die UNO eingesetzt. Es geht schlicht
und einfach darum, die Logik des Krieges zu durch- Es geht darum, ob ein Krieg vermeidlich oder unver-
brechen, meidlich ist.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
GRÜNE — Lowack [CDU/CSU]: Die Logik GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
Saddam Husseins zu durchbrechen!) Linke Liste)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 143
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Unvermeidliche Kriege dürfen auch nicht als Schick- renzieren nicht, Herr Gansel, das ist das
sal oder als Verhängnis hingenommen werden. Es Schlimme!)
wäre das Ende unserer Welt. Ich habe in diesen Tagen — wahrscheinlich wie Sie
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ auch — viele nachdenkliche und besorgte Stimmen
GRÜNE) aus der Bundeswehr gehört. Da war kein Ton von
Hurra-Gefühl oder gar von Kriegslüsternheit.
Ich bin nicht sicher, ob dieser Krieg vermeidbar war.
Hätte das Embargo mehr Zeit gehabt, hätte es seine (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch
strangulierende Wirkung erzielen können — übri- gut!)
gens auch Gewalt —, so wäre nicht ausgeschlossen Daß sich Soldaten zu dieser besorgten Nachdenklich-
gewesen, daß Saddam Hussein zu einem militärischen keit öffentlich bekennen, ist die Zivilcourage des Bür-
Verzweiflungsschlag ausgeholt hätte. gers in Uniform, und ich finde das gut.
(Kittelmann [CDU/CSU]: Sprechen Sie für (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
die SPD oder für sich?) des Bündnisses 90/GRÜNE)
Mich quält die Frage, ob ihm ein langdauerndes Em- Die Sozialdemokratie, die sich zur Landesverteilung
bargo nicht möglicherweise die Zeit gegeben hätte, bekennt, hat immer für das Recht auf Kriegsdienst-
die Atombombe zur Einsatzreife zu bringen, bei der verweigerung gekämpft. Das ist eine individuelle Ge-
auch Deutsche mitgeholfen haben. wissensentscheidung und muß es bleiben. Für man-
(Zustimmung bei der SPD) chen Soldaten mag sich diese Gewissensentschei-
dung jetzt eindringlicher stellen als je zuvor. Schon im
Aber falsch war es, ihm ein Ultimatum zu setzen, weil
Vorfeld solcher Entscheidungen — das fordere ich aus
sich die UNO-Koalition dadurch selbst unter militäri-
ganz aktuellem Anlaß — sollte die Bundesregierung
schen Zugzwang setzte.
wenigstens keine Wehrpflichtigen ohne deren aus-
(Zustimmung bei der SPD) drückliches Einverständnis in die Türkei schicken.
Das ist Geschichte, und sie ist nur noch so viel wert, (Zustimmung bei der SPD)
wie wir daraus für die Zukunft lernen können. Des-
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Dregger, Sie
halb frage ich die Bundesregierung: Wo waren Sie, als
haben das auch so gesehen.
diese Entscheidung in den Vereinten Nationen fiel?
(Zuruf von der CDU/CSU: Und gesagt, nicht
(Zuruf von der CDU/CSU: In ständigem Kon
nur so gesehen!)
takt!)
Vielleicht können wir helfen, daß es so geschieht.
Der Herr Bundeskanzler hat gestern gesagt — ich
zitiere — : „Ich habe Verständnis für die Angst, die Meine Damen und Herren, die Gefahr des Krieges
manchen bei uns angesichts der Entwicklung am Golf und das Erlebnis des Krieges führen zu existentiellen
erfaßt." Es ist gut, daß er das gesagt hat. Besser wäre Situationen, in denen übrigens auch mancher Kriegs-
es gewesen, er hätte auch Verständnis für die Men- dienstverweigerer zum Kriegsfreiwilligen geworden
schen gezeigt, die in diesen Tagen zu hunderttausen- ist. Mancher Emigrant, der von Hitler seines Pazifis-
den gegen den Krieg demonst riert haben. mus wegen verfolgt wurde, hat in einer Armee gegen
Hitler gekämpft, als es keine andere Alterna tive mehr
(Beifall bei der SPD, bei der PDS/Linke Liste zum Appeasement gab.
und beim Bündnis 90/GRÜNE)
Die individuelle Gewissensentscheidung muß re-
Warum sagt er nicht ein Wort der Entschuldigung spektiert werden, in jedem Fall. Sie darf nicht organi-
dafür, daß Sprecher der Bundesregierung und seiner siert werden. Die SPD wird sich an keiner Kampagne
Partei die Demonstrationen als antiamerikanisch und zur Kriegsdienstverweigerung oder Desertion beteili-
antiisraelisch diffamiert hatten, bevor diese überhaupt gen.
stattfanden?
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
(Zuruf von der CDU/CSU: Man muß doch die der CDU/CSU)
Wahrheit noch sagen können!)
Wir werden deshalb den sich abzeichnenden Ver-
Antiamerikanisch und antiisraelisch war im Ergebnis fassungskonflikt auch nicht auf den Schultern der Sol-
eine Rüstungsexportpolitik, die es zugelassen hat,
- daß daten austragen. Wir bleiben bei unserer Auffassung,
Saddam Hussein so stark wurde, daß ihm jetzt ameri- daß über den Bündnisfall und den damit verbundenen
kanische Soldaten und israelische Zivilisten zum Op- Einsatz deutscher Streitkräfte der Bundestag mit
fer fallen. Zweitdrittelmehrheit entscheiden muß.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Zuruf von der CDU/CSU: Abwägen!)
GRÜNE)
In dem Fall, der hoffentlich nicht eintritt, muß gege-
Sie haben das gewiß nicht gewollt, und ich bin auch benenfalls das Bundesverfassungsgericht eine juristi-
überzeugt, daß Sie das Entsetzen über die Folgen von sche Entscheidung vor der parlamentarischen treffen.
Unterlassung und Verharmlosung ergriffen hat. Aber Aber der Klarheit wegen stelle ich fest: Der Streit über
die Friedensbewegung hat seit vielen Jahren davor die Verfassung und über die richtige Politik darf nicht
gewarnt, und das kann durch bösartige Antikampag- Soldaten gegenüber zum Anlaß für eine Verweige-
nen nicht verdrängt werden. rungskampagne genommen werden. Für die Soldaten
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ der Bundeswehreinheiten, die jetzt verlegt werden, ist
GRÜNE — Kittelmann [CDU/CSU]: Sie diffe die Belastung ernst genug. Wir wünschen für sie und
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ihre Familien, daß sie bald gesund und heil zurück- der Bundesrepublik als Bündnispartner für die Bünd-
kommen, und die gleichen Wünsche gelten für die nisfälle, für die die NATO geschaffen ist. Diese Zuver-
britischen und amerikanischen Soldaten aus der Bun- lässigkeit gilt auch für die Pflichten, die sich nicht aus
desrepublik. dem Bündnisvertrag sondern aus der faktischen Ver-
bindung der Bündnispartner ergeben. Einen provo-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
zierten Bündnisfall aber, wie der FDP-Fraktionsvorsit-
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/
zende Solms in einem Presseinterview gesagt hat, darf
CSU und der FDP)
es in der Türkei nicht geben.
Die SPD hat es als eine Fehlentscheidung bezeich-
(Beifall bei der SPD — Lowack [CDU/CSU]:
net, daß Flugzeuge und Soldaten der Bundesluftwaffe
Was ist denn der „provozierte Bündnis
im Rahmen eines NATO-Verbandes Anfang Januar in
fall" ?)
die Türkei entsandt worden sind. Eine Bedrohung
durch irakische Übergriffe gab es für die Türkei nicht. Meine Damen und Herren, die Sorgen über den
Wenn es sie gegeben hätte, dann hätte man multina- Krieg und über die Gefahren seiner weiteren Eskala-
tionale Bodenstreitkräfte schicken müssen. tion versperren den Blick auf die Zeit danach und auf
andere Probleme der Gegenwart, die ja nicht schon
(Zuruf von der CDU/CSU: Man hätte ...!) dadurch gelöst sind, daß mit dem Krieg ein noch grö-
Das hat die Türkei ausdrücklich nicht gewollt. ßeres Problem dazugekommen ist. Dazu hätte ich
gerne im einzelnen noch etwas gesagt. Bei anderen
Jetzt gibt es Anlaß zur Sorge über manche Äußerun-
Debatten wird dazu Gelegenheit sein.
gen türkischer Politiker, ob die Türkei durch eine Be-
teiligung an der UNO-Aktion nicht auch eigene Inter- (Lowack [CDU/CSU]: Nicht zu lange, Kol
essen verfolgen sollte. Dazu darf die NATO nicht miß- lege Gansel! Karsten Voigt ist schon rausge
braucht werden. gangen!)
Mit der Entsendung weiterer Bundeswehreinheiten Aber ich möchte doch sagen, daß wir auch in dieser
— jetzt zur Flugzeugabwehr — in die Türkei setzt die Stunde an die Menschen in der Sowjetunion denken,
Bundesregierung die Kette ihrer Fehlentscheidungen die für ihr Recht auf Selbstregierung und auf Selbst-
fort. Die eine ist die Konsequenz der anderen. So be- bestimmung kämpfen.
ginnt die Logik zum Kriege. Wo hört sie auf? (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
Die Entscheidungen der Bundesregierung sind ha- des Bündnisses 90/GRÜNE)
stig und unter Druck von außen getroffen worden. Das Wir sind am Zusammenhalt der Sowjetunion inter-
ist nicht die Souveränität, die Deutschland braucht. essiert. Wir ermuntern keine Republik zur Sezession,
Wir halten die Entscheidungen der Bundesregierung aber im gemeinsamen Haus Europa darf es nieman-
für falsch. Sie können sich verhängnisvoll auswirken. den geben, der in einen Seitenflügel eingesperrt
Saddam Hussein will eine Ausweitung des Konflikts. wird.
Die nächste Dimension des Krieges ist nach seiner
Strategie der revolutionäre und militärische Flächen- (Beifall bei der SPD und des Abg. Ullmann
brand im Nahen Osten. Diese Dimension kann auch [Bündnis 90/GRÜNE])
durch eine Beteiligung der NATO erreicht werden. Meine Damen und Herren, wir diskutieren heute im
Aus einem Krieg der UNO-Koalition gegen den Irak Bundestag das erste Mal im geeinten Deutschland
würde dann ein Konflikt zwischen westlichen und über das Programm einer Bundesregierung, die aus
arabischen Staaten werden. Aber es geht nicht um gemeinsamen Wahlen hervorgegangen ist. Diesen
West gegen Ost, es geht nicht um Nord gegen Süd, es gemeinsamen Grund zur Freude — bei allen Gegen-
geht nicht um Abendland gegen O rient, es geht um sätzen zwischen Regierung und Opposition — wollen
die Befreiung Kuwaits und die Wiederherstellung des wir uns durch die Sorgen über den Golfkrieg nicht
Völkerrechts. nehmen lassen. Unsere gemeinsame Verantwortung
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten ist gewachsen. Ihr müssen wir auch in der öffentlichen
der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Debatte des Bundestages gerecht werden.
Das ist doch bei euch unklar, Norbert (Kittelmann [CDU/CSU]: Das merkt man an
Gansel!) Ihrem Beitrag nicht!)
Deshalb ist die Eindämmung des Krieges- jetzt das Es gibt auch Situationen, Herr Bundesaußenmini-
erste Ziel. Die Bundesregierung kann dazu einen Bei- ster, in denen Konsultationen erforderlich sind. Es gibt
trag leisten, wenn sie sich nicht weiter in ein militäri- Konflikte, die außen- und innenpolitisch Schaden an-
sches Engagement hineinziehen läßt. richten, die aber hätten vermieden werden können,
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten wenn man rechtzeitig Informationen und Meinungen
ausgetauscht hätte.
des Bündnisses 90/GRÜNE)
Ich weiß, daß die Verbündeten in der NATO diese (Zuruf von der FDP: Das müssen Sie sich mal
Sicht nicht teilen. Wir nehmen die Bundesregierung überlegen, gerade Sie!)
aber vor ungerechtfertigter ausländischer Kritik in Die Opposition wird sich von der Bundesregierung
Schutz. durch Vertraulichkeit nicht vereinnahmen lassen. Der
Platz der Entscheidung ist das Plenum des Bundesta-
(Lamers [CDU/CSU]: Wie großzügig!)
ges. Wo Gemeinsamkeit helfen kann, den Frieden zu
Daß sich die Bundesrepublik nicht militärisch am bewahren, sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Wo
Golfkrieg beteiligt, berührt nicht die Zuverlässigkeit aber kriegerische Gefahren in Kauf genommen wer-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 145

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den oder Chancen zur Friedensstiftung vertan wer- ren! Die Deutschen im östlichen Teil Deutschlands
den, da werden Sie auf unseren entschlossenen Wi- sind von den Problemen, die wir heute in der Debatte
derstand stoßen. bisher vorwiegend behandelt haben, genauso bewegt
(Beifall bei der SPD) und getroffen wie die Menschen im Westen. Sie haben
in der gleichen Weise Angst und Sorge; Angst und
Herr Bundesaußenminister, es sind schwere Zeiten. Sorge, die sich — in vielen Friedensgebeten ist dies
Wir wünschen Ihnen eine glückliche Hand. Das sind deutlich geworden — auch mit der Bereitschaft mi-
Wünsche einer Partei, die in ihrer langen internatio- schen, darüber nachzudenken, welchen Beitrag man
nalen Geschichte nie vor Diktaturen kapituliert hat selbst zu dieser Entwicklung geleistet hat.
und die doch immer ihr Gewicht — mal größer und
mal weniger groß — für den Frieden in die Waag- (Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)
schale geworfen hat.
Aber die Menschen im Osten beschäftigt auch ein
(Anhaltender Beifall bei der SPD und Beifall
anderes großes Problem. Ich meine, daß in der De-
bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)
batte über die Regierungserklärung bei aller Bedeu-
tung des alles überschattenden Krieges am Golf auch
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort zu einer Kurzin- dieses Problem behandelt werden muß. Der Bundes-
tervention hat Graf Lambsdorf. kanzler hat es in seiner Regierungserklärung als die
(Abg. Dr. Graf Lambsdorff [FDP] geht zum Aufgabe bezeichnet, die innenpolitisch absolute Prio-
Rednerpult.) rität hat, nämlich die Herstellung gleicher Lebensver-
— Graf Lambsdorff, darf ich bitten: Die Kurzinterven- hältnisse für die Menschen in ganz Deutschland. Die-
tion findet im Regelfall vom Saal aus statt. ses Ziel ist nur gemeinsam zu erreichen; das hat der
Bundeskanzler zu Recht festgestellt. Er hat gefordert,
(Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht ist das daß sich die Solidarität und die gesamtstaatliche Ver-
kein Regelfall!) antwortung aller deutschen Bürger dieser Aufgabe
zuwenden. Denn, so wörtlich: Es geht um eine Auf-
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Frau Präsidentin! Meine gabe aller Deutschen.
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gan-
sel, Sie haben einen Zwischenruf von mir nicht beant- Diese Tatsache ist von großer Bedeutung für die
wortet und als Begründung dafür angegeben, wenn Menschen, etwa im Freistaat Sachsen, aber auch in
ich denn satisfaktionsfähig wäre, dann würden Sie allen anderen ostdeutschen Bundesländern; denn,
dies tun. Die beleidigende Absicht in dieser Formulie- meine Damen und Herren, unbeschadet der großen
rung ist nicht zu übersehen. Anstrengungen, die im Grunde genommen seit über
einem Jahr, aber vor allem in den Monaten seit der
(Zurufe von der CDU/CSU: Sehr richtig! —
Herstellung der deutschen Einheit für die Menschen
Pfui! )
und den Wiederaufbau im östlichen Teil Deutsch-
Sie haben ganz offensichtlich zwei Zwischenrufe lands geleistet wurden, ist die Aufgabe, die noch vor
nicht verstanden. Sie haben ausgeführt, daß Sie für uns liegt, gigantisch.
einen Waffenstillstand im Irak-Krieg seien. Sie wis-
sen, daß es darüber unterschiedliche Meinungen in Herr Modrow, der Sie ja vorhin von der zu schnellen
Ihrer Partei gibt. Sie brauchen ja nur Ihren rechten Einheit und dem, wie Sie meinten, Herunterwirtschaf-
Nachbarn und Parteivorsitzenden anzusehen. ten der Wirtschaft gesprochen haben,
Ich bin der Auffassung, daß ein Waffenstillstand
(Zuruf von der CDU/CSU: Gerade der!)
Saddam Hussein Anlaß und Möglichkeit gibt, sich neu
zu formieren, und habe den Zwischenruf „Ihr Vor- erst jetzt entdeckt sich uns langsam und allmählich
schlag kostet amerikanische Soldaten das Leben!" die ganze Dimension der katastrophalen Lage im
gemacht. Osten Deutschlands.
(Gansel [SPD]: Nein, nein!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Dann kam Ihre Bemerkung: „Deutsche Soldaten bei Abgeordneten der SPD)
sind nicht dabei." Ich habe weiter zwischengerufen:
„Deswegen können Sie so reden, weil deutsche Sol- Erst jetzt entdeckt sich uns allmählich nicht nur der
daten nicht betroffen sind! Aber amerikanische und wirtschaftliche und der ökologische Schaden,
-
alliierte Soldaten sind betroffen von Ihren Vorschlä-
gen! " (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Und der gei
stige!)
(Beifall bei der FDP und CDU/CSU — Zurufe
von der CDU/CSU: Das haben wir alle mit sondern vor allem der ungeheure Schaden, der von
gehört! — Entschuldigen Sie sich wenig einer sozialistischen Zwangsherrschaft in den Köpfen
stens! — Gansel [SPD]: Das nächste Mal sage und Herzen der Menschen ange richtet worden ist,
ich „Herr Baron"!)
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
Vizepräsidentin Schmidt: Ich erteile dem Minister-
SPD)
präsidenten des Freistaates Sachsen, Herrn Professor der Schaden, der etwa bei jungen Studenten dadurch
Biedenkopf, das Wort. angerichtet wurde, daß man sie in der Rechtswissen-
schaft dazu erzogen hat zu glauben, das Recht diene
Ministerpräsident Dr. Biedenkopf (Sachsen): Frau nicht als herrschendes, sondern als Instrument der
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her Macht, und man dürfe das Recht brechen, wenn die
146 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Ministerpräsident Dr. Biedenkopf (Sachsen)


Macht der Arbeiter- und Bauernklasse dies erforder- bensbedingungen, mit sehr viel geringeren Gehäl-
lich mache. tern , in einer zum Teil ökologisch verwüsteten Land-
(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!) schaft, in sehr viel schlechteren Wohnungen und mit
einer sehr viel schlechteren Infrastruktur Leistungen,
Die unglaubliche Zerstörung all dessen, was zur Kul- auch politische Anpassungsleistungen zu erbringen,
tur, zur Rechts- und Wirtschaftskultur eines freiheitli- die im Westen schlicht als politisch undurchsetzbar
chen Landes gehört — das ist der eigentliche Scha- und deshalb politisch unmöglich gekennzeichnet
den. würden.
(Lowack [CDU/CSU]: Leider wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
Der Schaden besteht auch da rin, daß aus dem östli- SPD)
chen Teil Deutschlands in den letzten 40 Jahren über Man muß sich klarmachen, was von den Menschen
4 Millionen Menschen vertrieben wurden, die alle ihr verlangt wird, die sich nun in einer völlig neuen
Land nicht freiwillig verlassen haben, die ihre Heimat Rechtsordnung, in einer neuen Wirtschaftsordnung, in
nicht deswegen zurückgelassen haben, weil sie sich einer neuen Wirtschafts- und Finanzstruktur zurecht-
do rt nicht mehr zu Hause fühlten, sondern weil man finden sollen. Die Bürgermeister — im Freistaat Sach-
ihnen ein Leben nach ihren eigenen Vorstellungen sen 1 600 an der Zahl — , die vor einem knappen Jahr
und in Freiheit unmöglich gemacht hatte. Wir sehen durch die Kommunalwahl in ihr Amt kamen, werden
heute, welche Lücken diese Abwanderung gerissen plötzlich mit administrativen Aufgaben überschüttet,
hat. die zu erledigen jede Gemeinde und jeder Kreis in der
Meine Damen und Herren, es geht um die Aufgabe Bundesrepublik sich schlicht weigern würden, weil
aller Deutschen. Das heißt, daß es eine Gemein- diese Aufgaben zusätzlich auf sie zukämen. Diese
schaftsaufgabe ist, den Osten Deutschlands wieder Bürgermeister erledigen diese Aufgaben dennoch,
aufzubauen und gleiche Lebenschancen und Lebens- und das bei einem Einkommen von 1200 oder
verhältnisse für alle Deutschen zu gewinnen. 1 300 DM im Monat; bei einem Oberbürgermeister
sind es 2 200 oder 2 500 DM im Monat. Dieselben
(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr rich
Leute lesen morgens in der Straßenbahn oder im Auto
tig!)
im Anzeigenblatt die Stellenangebote aus dem We-
Eine Gemeinschaftsaufgabe bedeutet nach unserem sten, in denen das Drei- bis Vierfache geboten und
Verfassungsrecht und nach unserem politischen Ver- zusätzlich eine Wohnung versprochen wird. Trotzdem
ständnis — ich glaube, da gibt es keine Meinungsver- bleiben die Leute do rt und bauen Deutschland im
schiedenheit —, daß sich alle daran beteiligen müs- Osten auf!
sen,
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD
(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: So ist es! — und beim Bündnis 90/GRÜNE)
Bundeskanzler Dr. Kohl: Sehr gut!)
Dies ist eine Leistung, die in unsere Leistungsbilanz
und zwar alle nach ihrer Leistungsfähigkeit. zur Bewertung der Beiträge zur Erfüllung der Ge-
(Zustimmung bei der CDU/CSU und der meinschaftsaufgabe eingehen muß, wenn die ganze
SPD) Sache nicht von vornherein wieder ungerecht sein
soll.
So halten wir es in der Europäischen Gemeinschaft, so
halten wir es im Verhältnis der Bundesländer unter- Deshalb ist es ein großes Anliegen von uns allen
einander in der alten Bundesrepublik, und so müssen — das möchte ich hier in der Debatte über die Regie-
wir es auch im geeinten Deutschland halten. rungserklärung für diese Legislaturperiode ausdrück-
lich sagen — , daß diese Leistungen im Zusammen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
hang mit der Entwicklung der nächsten Monate und
Dazu gehört, daß man sich Maßstäbe setzt oder ver- Jahre, in denen die Weichenstellungen für die gesell-
schafft, wie man diese Beiträge mißt. Hier ist es mir ein schaftliche Einheit — wie Herr Vogel es genannt
wichtiges Anliegen, daß wir nicht nur das Geld als hat — oder die innere Einheit der Deutschen — wie
Maßstab nehmen, sondern insbesondere auch das mit wir es nennen — erfolgen, mit bewertet werden.
einbeziehen, was die Deutschen im östlichen Teil
Deutschlands an politischen und menschlichen Lei- Die Menschen werden immer wieder gefragt: Was
stungen erbringen und auch erbringen müssen, - wenn bringt ihr in diesen Prozeß ein? Sie bringen, meine
das Werk der Einheit gelingen soll. Damen und Herren, sich selbst ein, und zwar mit einer
Leistungsbereitschaft, an der man sich im Westen ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Vorbild nehmen kann.
Die Einheit wird — das ist die Beobachtung vie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
ler — zu sehr als ein rein ökonomisches und finanz- bei Abgeordneten der SPD)
politisches Problem diskutiert.
Damit kommen wir zum Beitrag im Westen. Auch
(Zustimmung bei der SPD — Bundeskanzler hier werden wich tige menschliche, persönliche Bei-
Dr. Kohl: Sehr gut!) träge geleistet. Wir könnten in allen ostdeutschen
Meine Damen und Herren, alles Geld das der wohl- Bundesländern die Arbeit des Aufbaus ohne die Un-
habende Teil Deutschlands dem neuen Teil Deutsch- terstützung aus dem Westen nicht mit Erfolg bewälti-
lands zur Verfügung stellt, wäre nutzlos zur Verfü- gen, ohne die Unterstützung von Frauen und Män-
gung gestellt, wenn dort nicht Millionen von Men- nern, die bereit sind, für Monate oder Jahre eine neue
schen bereit wären, unter sehr viel schlechteren Le Aufgabe zu übernehmen, und zwar unter sehr viel
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 147
Ministerpräsident Dr. Biedenkopf (Sachsen)
schwierigeren Bedingungen, als sie es zu Hause ge- men, also Steuereinnahmen der Länder und Gemein-
wohnt sind, unter Inkaufnahme einer Menge Ein- den und Leistungen aus dem Fonds Deutsche Einheit,
schränkungen und Widrigkeiten, die sie aber — das zwischen 1991 und 1994 insgesamt nicht zunehmen,
ist meine Erfahrung mit Mitarbeitern — in wenigen sondern abnehmen. Wenn man die Steuerschätzun-
Monaten vergessen, weil sie sich mit der neuen Auf- gen vom Dezember zugrunde legt, dann werden die
gabe identifizieren. ostdeutschen Länder im Jahre 1991 — einschließlich
Fonds Deutsche Einheit — rund 46 Milliarden DM
(Zustimmung bei der CDU/CSU) und im Jahre 1994 rund 39 Milliarden DM einneh-
Ich möchte meine Rede vor diesem Hohen Hause nut- men. Das heißt, obwohl die Aufgaben wachsen, ob-
zen, um den Männern und Frauen, die nach Osten wohl die Gehälter notwendigerweise steigen, obwohl
kommen und mithelfen, ausdrücklich zu danken. die Investitionsansprüche zunehmen, nehmen die
projektierten Einnahmen ab.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
SPD) Dies hat die Finanzminister der ostdeutschen Län-
der bereits im Dezember zu der Feststellung veranlaßt
Ich möchte auch allen denen danken, die mit der — ich möchte sie mir hier zu eigen machen — , daß wir
echten Bereitschaft kommen, zu investieren und mit einen Fall des Art. 7 des Einigungsvertrages vor uns
ihrem Kapital Mitbürger im Osten Deutschlands zu haben. Art . 7 des Einigungsvertrages erlaubt den Par-
werden. Das macht eine wirk liche Investition aus; teien, eine Neuverhandlung mit Hinweis auf eine
nicht nur ein schneller Einmarsch, um schnelles Geld nachhaltig veränderte Grundlage des Vertrages zu
zu verdienen. fordern.
Aber der dritte und wichtigste Beitrag — das kann
So, wie die Projektionen jetzt sind, werden die Pro-
angesichts der ökonomischen und der zahlenmäßigen
Kopf-Einnahmen in den neuen Bundesländern im
Verhältnisse nicht anders sein — ist der Beitrag zur
Verhältnis zu den Pro-Kopf-Einnahmen in den alten
Finanzierung. Meine Damen und Herren, es ist viel
Bundesländern 1991 61 %, 1992 55 %, 1993 50 % und
über die Finanzen gesprochen worden. Ich sehe
1994 43 % be tragen. Es ist offensichtlich — ich wi ll Sie
meine Aufgabe jetzt hier nicht da rin, Einzelheiten zur
nicht weiter mit Zahlen langweilen —, daß aus diesen
Bewältigung der finanziellen Dimension dieser Auf-
gabe vorzutragen, sondern ich möchte die Dimension Zahlen keine Perspektive erwachsen kann. Wir brau-
selbst kurz vortragen. Denn wenn es so ist, daß wir ein chen diese Perspektive aber, wenn wir die Menschen
geeintes Deutschland sind, dann gibt es zur Bewälti- für die Aufgabe gewinnen wollen, wenn wir die Inve-
storen gewinnen wollen, wenn wir Wissenschaft und
gung dieser finanziellen Aufgabe keine Alternative,
Kultur erhalten und sichern wollen und wenn wir da-
so daß im Unterschied zu vielen anderen Fällen in
mit das Erbe sichern wollen, das in großem Umfang
diesem Fall die Notwendigkeiten, nicht die Bereit-
schaften oder die politischen Entschlossenheiten das auch als historisches Erbe durch die Wiedervereini-
gung mit den ostdeutschen Ländern wieder nach
Volumen bestimmen.
Deutschland gekommen ist.
Die Notwendigkeiten werden nicht durch Partei-
politik, sondern durch die Wirklichkeit bestimmt. Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
Wirklichkeit sagt, daß die ostdeutschen Bundesländer der SPD)
in den nächsten Jahren nur mit sehr geringen Steuer- Dieses kulturelle, geistige und wissenschaftliche
einnahmen rechnen können. Es gibt aus dem Dezem- Erbe muß erhalten und gemehrt werden, die Infra-
ber Steuerschätzungen, die den ostdeutschen Län- struktur muß erneuert werden, und es darf nicht zuge-
dern und den Gemeinden zusammen für das Jahr lassen werden, daß die ostdeutschen Länder und Ge-
1991 etwa 16 Milliarden DM, für das Jahr 1992 etwa meinden bereits in zwei Jahren höher als die west-
20 Milliarden DM, für das Jahr 1993 etwa 26 Milliar- deutschen Länder verschuldet sind und daß sie in drei
den DM und für das Jahr 1994 etwa 30 Milliarden DM Jahren praktisch nicht mehr leistungsfähig sind, auch
Einnahmen voraussagen. was die Kreditaufnahme betrifft, weil sich dann ein
Dazu kommen die Einnahmen bzw. die Zuschüsse Teufelskreis in Gang setzt. Den müssen wir vermei-
aus dem Fonds Deutsche Einheit. Bei der Anlage des den! Der Teufelskreis wird dadurch ausgelöst, daß
Fonds Deutsche Einheit ist man offenbar davon aus- Investoren in hochverschuldete und sich ständig wei-
gegangen, daß die Steuereinnahmen der ostdeut- ter verschuldende Länder nicht gehen und daß dieje-
- nigen, die eine zukunftsweisende, das Land erneu-
schen Länder sehr viel schneller steigen würden, als
sie nach den jüngsten Steuerschätzungen voraus- ernde unternehmerische Arbeit leisten wollen, eine
sichtlich steigen. Deshalb hat man den Fonds so ange- solche Region verlassen. Indem sie sie aber verlassen,
legt, daß die größten Zahlungen 1991 und die gering- tragen sie zur weiteren Verzögerung der Entwicklung
sten 1994 kommen. Das war, wenn ich so sagen darf, bei, was wiederum eine Verzögerung der Investitio-
weil es auch die Diskussion über die Korrektur dieser nen zur Folge hätte, usw.
Lösung erleichert, ein überparteilicher Konsenz, der
Ich möchte deshalb zusammenfassend sagen: Die
vor allem auch von den Ländern, und zwar von den
Weichenstellung für die innere Einheit Deutschlands
CDU- und den SPD-Ländern, als Voraussetzung für
deren Zustimmung zum Einigungsvertrag nachhaltig wird in den nächsten Monaten stattfinden, und sie
wird geprägt sein durch die Kraft dieses hohen Hauses
gefordert wurde.
und der Bundesländer, in Änderung und Weiterent-
Die Wirklichkeit wird nun voraussichtlich anders wicklung der bisherigen Grundlagen soviel Mittel in
verlaufen; zumindest müssen wir uns darauf einrich- diesem Jahr zur Verfügung zu stellen, daß die Dinge
ten. Voraussichtlich werden die aggregierten Einnah in Gang kommen, d. h. daß nicht diese Negativspirale
148 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Ministerpräsident Dr. Biedenkopf (Sachsen)


einsetzt und wir nicht die wertvollsten Menschen ver- Ihnen, gestützt durch eine Landtagsentschließung,
lieren, die wir haben. die gestern einstimmig von allen Parteien beschlossen
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der wurde und mit der ich die Bundesregierung und die
SPD) Öffentlichkeit auffordern will, uns zu helfen. Um Ih-
nen zu erläutern, in welcher Situation wir uns tatsäch-
Meine Damen und Herren, ich habe im Februar lich befinden, lese ich Ihnen das Telegramm eines im
1990 als Mitglied des Deutschen Bundestages in die- Besitz des Bundes befindlichen Bet riebes vor:
sem Hohen Hause gesagt, daß wir für die Finanzie-
rung der deutschen Einheit voraussichtlich den Zu- Auf Grund der durch schriftliche Informationen
wachs des Bruttosozialprodukts in den nächsten Jah- von der Kraftverkehr Fürstenwalde/Spree
ren brauchen würden. Der Zuwachs des Bruttosozial- GmbH
produkts im Jahr 1990 war sehr eindrucksvoll. Der
Bundeskanzler hat darauf hingewiesen, daß ein we- — ein Treuhandbetrieb —
sentlicher Teil dieses Zuwachses aus dem Prozeß der
deutschen Einheit resultiert. Ich unterstreiche seine angekündigten Stillegung des ÖPNV
Feststellung, daß dieser Zuwachs dorthin gehört, wo — öffentlicher Personennahverkehr —
er eigentlich entstanden ist.
(Beifall im ganzen Hause) mit Bussen und Straßenbahnen bei ausbleiben-
der Subventionszahlung beruft die Geschäftslei-
Dies gilt aber auch für die weitere Entwicklung. tung ... den Aufsichtsrat zum 31. Januar 1991,
Andernfalls wird es in diesem Jahr und in den kom- 17 Uhr
menden Jahren eine nachhaltige Verschiebung der
wirtschaftlichen Aktivitäten von Ost nach West geben — also heute abend —
mit der Folge, daß das, was wir im Osten brauchen,
nämlich der Aufbau der Produktion, dort nicht statt- in Fürstenwalde ein. Thema: ausgebliebene Sub-
findet. ventionszahlungen, Stillegung des ÖPNV ab
Ein letzter Punkt zu den Ländern. Die Länder, aber 31. 01. 91, 24 Uhr; Kurzarbeit für 322 Arbeitneh-
mer als Folge.
auch der Bund müssen ein Interesse daran haben, daß
die ostdeutschen Bundesländer 1995 in der Lage sein Davon habe ich noch eine ganze Reihe von Telegram-
werden, sich reibungslos in den horizontalen Finanz- men dabei.
ausgleich nach unserer Verfassung einzufügen.
(Sehr richtig! bei der SPD) Die Situation, mit der wir es in Brandenburg zu tun
haben, ist, daß 22 der Bundesrepublik Deutschland
Wenn sie das nicht können, entstehen für die Altbun- gehörende Betriebe, nämlich Bet riebe der Treuhand,
desländer Verteilungsforderungen bzw. -verpflich- die Zahlung deshalb einstellen, weil der Zentralstaat,
tungen, die sie in ihren Haushalten zwischen 1994 vertreten durch den Bundesverkehrsminister, ab
und 1995 überhaupt nicht verkraften können. Das 1. Januar seine Zahlung, die er bis dahin aus dem
heißt, wir würden in einem solchen Fall sehenden Bundeshaushalt 1990 geleistet hat — da waren die
Auges nicht nur auf eine Finanz-, sondern sogar auf Mittel vorhanden — , nicht mehr leistet. Die Ge-
eine Verfassungskrise zumarschieren, weil nämlich schäftsführer sind nach der Rechtslage verpflichtet,
die Altbundesländer nicht in der Lage wären, ihrer zum Konkursrichter zu gehen, wenn sie sich nicht
verfassungsrechtlichen Pflicht zum horizontalen Fi- strafbar machen wollen. Es sind aber Geschäftsführer
nanzausgleich zur Sicherung gleicher Lebensverhält- der Treuhand und damit Geschäftsführer des Bundes-
nisse zu entsprechen. finanzministers. Das ist die Lebenswirklichkeit.
Wenn das aber voraussehbar 1995 so sein wird und
praktisch 1994 schon abgewickelt werden müßte, Aber was haben die Menschen davon? Sie errei-
dann liegt es im Interesse aller Beteiligten — auch der chen ihre Arbeitsplätze nicht mehr; denn die Men-
westdeutschen Bundesländer — , bereits in diesem schen in Brandenburg, in Fürstenwalde, sind dabei
Jahr einen Prozeß mit zu befördern bzw. in Gang zu auf diese Busse und Straßenbahnen angewiesen.
setzen, der diese Einfädelung 1995 in reibungsloser Wie sollen wir denn weiterhin verfahren? Ich habe
Weise gestattet. Genau das wäre die Perspektive, die die herzliche Bitte, daß wir uns dieser wirk lichen Le-
die Menschen im Osten dazu bewegen würde, dort zu benslage zuwenden. Wie gesagt: 22 von 25 Bet rieben
bleiben, die Ärmel aufzukrempeln und das große im Land Brandenburg sind bundeseigene Bet riebe,
Werk der deutschen Einheit, von dem wir hier spre- die vom Bund selber — ich sage: durch unkoordinier-
chen, vor Ort zu leisten. tes Regierungshandeln — in den Konkurs get rieben
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD werden. Das ist die Lebenswirklichkeit.
und beim Bündnis 90/GRÜNE)
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
der FDP)
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Minister
der Finanzen des Landes Brandenburg, Herr Kühba- Herr Bundeskanzler, ich bin zum Streiten aufgelegt,
cher. weil es die Sache wert ist. Diesmal geht es mir nicht
nur, wie ich es in früheren Reden hier immer vertreten
mußte, um Sparen, ich möchte vielmehr, daß nicht an
Minister Kühbacher (Brandenburg): Frau Präsiden- der falschen Stelle gespart wird, wie ich das eben
tin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute beschrieben habe, und daß dies mit dem normalen
stehe ich als Anwalt der Bürger Brandenburgs vor Menschenverstand gelöst wird und nicht nach irgend-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 149
Minister Kühbacher (Brandenburg)
welchen Passagen im Einigungsvertrag, die hin und Gemeinden in Bayern, die wie in Ottobrunn an dem in
her geschoben werden. den Irak Verschifften von MBB glänzend verdient ha-
ben.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und beim
Bündnis 90/GRÜNE) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der
FDP)
Ich möchte die Bundesregierung, aber auch Sie,
meine Damen und Herren Abgeordneten hier in — Ja, das ist so.
Bonn, an die Lebenswirklichkeit in den neuen Län-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
dern erinnern. Für die Menschen in den neuen Län-
GRÜNE)
dern, gestützt auf eine einstimmige Beschlußlage der
sechs Ostfinanzminister und meines Parlaments, das Wer etwas anderes hören möchte, den bitte ich, den
mich hierher geschickt hat, erkläre ich: Mit der Koali- Einkommensteueranteil der Gemeinde Ottobrunn mit
tionsvereinbarung, die die Grundzüge der Regie- ihren Einwohnern mit dem Einkommensteueranteil
rungspolitik der nächsten vier Jahre festlegt, können der Stadt Frankfurt an der Oder zu vergleichen. Das ist
die neuen Länder und die Gemeinden nicht leben. der Punkt.
(Hört! Hört! bei der SPD) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
GRÜNE)
Diese Koalitionsvereinbarung ist unverbindlich, wo
die Menschen konkrete Wegweisungen erwarten. Sie Auch wenn es Ihnen nicht paßt: Das ist die Lebens-
ist halbherzig, wo eindeutiges Einstehen und Stel- wirklichkeit, meine Damen und Herren.
lungnahme zu unseren Problemen gefordert ist. Sie Die Lebenswirklichkeit ist es auch, daß die Berech-
bürdet zusätzliche Belastung auf, wo wir ganz im Ge- nungen des Bundesfinanzministers selbst die Behaup-
genteil dringend auf Entlastung und materielle Unter- tung widerlegen, es sei genug Geld da und wir scheu-
stützung angewiesen sind. Dieses Telegramm beweist ten vor einer Verschuldung zurück. Das Zahlen-
es. tableau Ihres eigenen Hauses weist aus, Herr Finanz-
Herr Bundeskanzler, besser waren da schon einige minister, daß die neuen Bundesländer 22 Milliarden
aktuelle Passagen Ihrer gestrigen Regierungserklä- DM neue Schulden aufnehmen müssen gegenüber —
rung. Aber, Herr Bundeskanzler, worauf sollen sich wie Sie selbst geschätzt haben — 13 Milliarden DM
denn die Menschen in Frankfurt an der Oder stützen? eigenen Steuereinnahmen, die, wie ich befürchte, für
Auf die dort jetzt vorgelegte schriftliche Koalitionsver- unseren Teil der Länder noch geschönt sind.
einbarung, die Sie als Parteivorsitzender der CDU un- Zum Vergleich: Die Neuverschuldung der Bundes-
terschrieben haben, oder auf Ihre besseren Passagen republik, die Sie mit diesem Haushalt wohl beschlie-
in der gestrigen Regierungserklärung? Ich hoffe auf ßen wollen, soll 70 Milliarden DM betragen. Diesem
das Gestrige. Betrag stehen aber immerhin 300 Milliarden DM ei-
(Bundeskanzler Dr. Kohl: Mit Recht!) gene Steuereinnahmen gegenüber. Bei den Altlän-
dern — ich sage das quer über die Bahn — ist es noch
Herr Bundeskanzler, ich setze da meine Hoffnungen besser: 18 Milliarden DM Schuldenaufnahme bei
auf Sie. 210 Milliarden DM eigenen Steuereinnahmen. Wäh-
Meine Damen und Herren, diese Koalitionsverein- rend die Steuereinnahmen bei uns in den Ostländern
barung zementiert im Kern den derzeitig unhaltbaren 70 % niedriger sind als unsere geplante Verschul-
Zustand gespaltener Lebensverhältnisse. Sie behan- dung, sind die Steuereinnahmen bei den Altländern
delt die neuen Länder nicht fair, sondern wie lästige zehnmal so hoch wie die geplante Neuverschuldung.
Kostgänger. Das ist inakzeptabel. Das ist Gleichheit der Lebensverhältnisse? Ich denke,
dieser einfache Vergleich, den Sie mitrechnen konn-
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und ten, rückt einiges zurecht. Allerdings sind das nur die
beim Bündnis 90/GRÜNE) offiziellen Statistiken des Bundesfinanzministers und
Die Koalitionsparteien haben den Vertrauensvor- nicht einmal die halbe Wahrheit. Die Wirklichkeit ist
schuß, den die Mehrheit der Menschen im Osten ih- doppelt so schlimm, weil Sie und ich — ich beziehe
nen am 2. Dezember eingeräumt haben, enttäuscht. mich da ein — beim Einheitsvertrag die Gemeinden
Ihr Finanzminister, Herr Dr. Waigel, betreibt fortwäh- schlichtweg vergessen haben.
rend Beschwichtigungspolitik, wenn er wie am 19. Ja-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
nuar im „Handelsblatt" erklärt, in den neuen Ländern
GRÜNE)
sei Geld da, es bestünde nur die Scheu, sich zu ver-
schulden; er müsse die indifferenten Forderungen Wir werden im Land Brandenburg und in den neuen
nach mehr Geld deshalb zurückweisen. Bundesländern zusammen mit den Gemeinden über
50 Milliarden DM neue Schulden machen. Das sind
Ist das, was Herr Biedenkopf als Ministerpräsident
3 000 DM pro Kopf der Bevölkerung. Das ist die
vorgetragen hat, indifferent, Herr Finanzminister? Ich
Summe auf einen Schlag, die in der alten Bundesre-
kann Sie persönlich nur herzlich einladen: Besuchen
publik von 1949 bis 1982 insgesamt aufgelaufen ist.
Sie uns einmal in Brandenburg. Sehen Sie sich ein
Das muten Sie uns mit dem Einheitsvertrag und den
oder zwei Tage an, mit welchen Problemen die Men-
Folgen innerhalb eines Jahres zu. Das kann doch wohl
schen ringen, wie groß die Unsicherheit über die ei-
nicht angehen. So wollen Sie einheitliche Lebensver-
gene wirtschaftliche Zukunft, um den Erhalt des Ar-
hältnisse schaffen?
beitsplatzes ist. Tauchen Sie ein in den Alltag einer
brandenburgischen Kleinstadt. Lösen Sie sich, Herr (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/
Finanzminister, einmal von dem Bild Ihrer reichen GRÜNE und der PDS/Linke Liste)
150 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Minister Kühbacher (Brandenburg)


Nun zu der von Ihnen bejubelten Koalitionsverein- wirklich Bedürftigen über Wohngeld und Sozialhilfe
barung. Dort heißt es: Aus dem Bundeshaushalt wer- helfen, aber nicht über diesen getürkten Weg.
den keine Ausgleichszahlungen an die Länder und (Beifall bei der SPD)
Gemeinden geleistet. Der Bund empfiehlt jedoch den
Ländern und Gemeinden, diese Preisstützungen unter Die Bundesregierung blockiert zur Zeit eine zu-
Berücksichtigung der zu erwartenden Einkommens- kunftsweisende Reform. Sie nimmt den Ländern und
entwicklung in Stufen bis 1994 abzubauen. Gemeinden damit das Geld, das dringend für Infra-
strukturmaßnahmen und Wirtschaftsförderung ge-
(Zuruf von der SPD: Das ist ja ein Hohn!) braucht wird, wenn wir in diese Subventionen ein-
springen müssen, wie Sie es offensichtlich vorhaben;
Sie halten die Gemeinden fest — inzwischen sind ja denn wir können jede Mark nur einmal ausgeben. Bei
alle Wohnungsgesellschaften auf die Gemeinden
50 Milliarden DM Schulden und nur 13 Milliarden
übertragen worden — bei einer Miete, die keine Miete DM erhoffter eigener Steuereinnahmen ist es heute
ist, die nicht einmal die Nebenkosten deckt. Ich habe schon so, daß von jeder Mark, die wir aus eigenen
eine Wohnungsgesellschaft untersuchen lassen. Die Mitteln in den Ländern aufbringen, 74 Pfennig ge-
Mieteinnahmen der GeWoBau in der Stadt Potsdam borgt sind; 74 Pfennig der eigenen Mittel; die wir für
beträgt nach Ihrer Festlegung mit den in der Koali- Investitionen und konsumtive Ausgaben ausgeben,
tionsvereinbarung angegebenen Sprüngen für dieses sind geborgt.
Jahr 28 Millionen DM. Diesem Betrag stehen Forde-
rungen einer größeren Gesellschaft allein für Fern- Vizepräsidentin Schmidt: Gestatten Sie eine Zwi-
wärme in Höhe von 35 Millionen DM gegenüber, die
schenfrage des Abgeordneten Schmitz (Baesweiler)?
natürlich kostendeckende Preise verlangen muß,
wenn sie nicht selbst in Konkurs gehen will.
Minister Kühbacher (Brandenburg): Lassen Sie
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Die Alt mich diesen Punkt noch zu Ende bringen.
schulden aber!) Die neuen Länder und Gemeinden werden auf
— Nein, ich rede jetzt nur von dem Bezug der Fern- diese Weise schon im ersten Jahr ihres Bestehens von
der Schuldenlast erdrückt. Wir müssen im ersten Jahr
wärme. Lieber Herr Kollege Schmitz, nach der Koali-
tionsvereinbarung — das wird ja hoffentlich korrigiert unseres Bestehens mit über 3 000 DM pro Kopf soviel
zusammen Schulden machen wie die alten Länder
— dürfen wir die Fernwärme erst zum 1. Oktober um-
legen. Das steht in Ihrer Koalitionsvereinbarung. Ha- 1982 nach insgesamt 33 Jahren. Bei den Gemeinden
ben Sie sie noch nicht gelesen? wird die Pro-Kopf-Verschuldung noch schlimmer
kommen. Dahin treibt uns die Koalitionsvereinba-
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Nein, rung.
nein, das hat damit nichts zu tun!) Herr Kollege.
Das steht da genau d rin.
Schmitz (Baesweiler) (CDU/CSU): Herr Kollege
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Sie lesen Kühbacher, ich kann es Ihnen nun leider nicht erspa-
nur den Teil, der Ihnen paßt!) ren: Sie wissen sehr genau, daß der Bundeskanzler
gestern in der Regierungserklärung gesagt hat
— Ich habe hier doch die Wahrheit an den Tag zu
bringen, Herr Kollege Schmitz. (Zuruf von der SPD: Frage!)
— das kommt gleich — , daß die einigungsbedingten
(Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ Mehreinnahmen aller Länder übertragen werden soll-
GRÜNE und der PDS/Linke Liste) ten. Wie beurteilen Sie dann eigentlich die Situa tion
Ich setze das noch fo rt : Diese Wohnungsbaugesell- des Landes Nordrhein-Westfalen, das zwischenzeit-
schaft mit einer geschlossenen Miete von 28 Millionen lich 1,2 bis 1,3 Milliarden DM einigungsbedingte
DM bezahlt neben den 35 Millionen DM für den Fern- Mehreinnahmen hat, sich aber weigert, sich an diesen
wärmebezug auch noch 21 Millionen DM für das be- Kosten zu beteiligen? Das gleiche gilt auch für Schrö-
zogene Frischwasser. Das kann sie auch nicht mehr der in Niedersachsen. Wie ist da Ihre Polemik zu ver-
bezahlen. Sie soll der Stadt Potsdam auch noch das stehen?
Abwasser bezahlen, das vernünftig ökologisch verrie-
selt wird. Wie soll das denn gehen? Auch dieser Ge- Minister Kühbacher (Brandenburg): Herr Kollege
schäftsführer muß zum Konkursrichter. Denn- der Bun- Schmitz (Baesweiler), ich vertrete hier die Interessen
desfinanzminister hat es der Frau Bundeswohnungs- der Menschen aus Brandenburg. Weil ich das beant-
bauministerin untersagt, die bis zum 31. Dezember worten will, lege ich die Seiten, die ich vorbereitet
gezahlten Stützungen weiterhin zu gewähren. Auch habe, beiseite.
diese Wohnungsbaugesellschaften müssen zum Kon- (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Dann müssen
kursrichter. Wollen Sie das wirklich, Herr Finanzmini- Sie mit Ihren Parteifreunden reden!)
ster? Das ist die Lebenswirklichkeit, die ich Ihnen — Das muß ich eben nicht, Herr Kollege Scharren-
schildern muß. Das ist nur die nackte Wahrheit. Ich broich! Ich bin Brandenburger, und Sie sortieren mich
dramatisiere das gar nicht. Ich bin nur im Ton etwas bitte im Interesse der Menschen von Brandenburg
aufgeregt, Herr Kollege Schmitz, weil Sie das im nicht in die reichen Bundesländer A oder B ein.
Haushaltsausschuß offensichtlich nicht sehen wollen.
Ich bringe keine Übertreibungen. (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/
Wir wollen, daß die Subventioniererei aufhört. Wir Linke Liste — Scharrenbroich [CDU/CSU]:
wollen gerechte Lebensbedingungen. Wir wollen den Aber Sie kommen aus Niedersachsen!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 151

Minister Kühbacher (Brandenburg)


Damit es völlig klar ist: Ich vertrete die Interessen der dort ausgeführt hat. Herr Bundeskanzler, wir nehmen
Menschen im Lande Brandenburg und nicht diejeni- Sie beim Wort.
gen der reichen oder armen Bundesländer.

Vizepräsidentin Schmidt: Herr Minister Kühbacher, Vizepräsidentin Schmidt: Herr Kollege Kühbacher,
gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin es sollen noch zwei Zwischenfragen gestellt werden.
Matthäus-Maier? Lassen Sie die noch zu oder nicht?

Minister Kühbacher (Brandenburg): Entschuldigen


Sie, Frau Matthäus-Maier, ich muß jetzt noch auf die-
Minister Kühbacher (Brandenburg): Nein, die lasse
sen Gedankengang eingehen, weil er offenkundig ist. ich im Moment nicht zu, weil ich den Gedankengang
Wenn Sie noch einen Moment Zeit haben, gerne. zu Ende bringen muß. Herrn Krause plagt ohnehin das
Wir sind es leid: Die Menschen in Brandenburg oder schlechte Gewissen.
in Frankfurt an der Oder — damit Sie eine genaue
Ortbestimmung haben — haben nichts davon, wenn (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)
der reiche Bund — so empfinden wir das — seine Ver- Herr Minister Krause, ich erwarte von Ihnen konkrete
antwortung an die reichen Länder — alt — ab- Hilfen und nicht Zwischenfragen von der Bank aus.
schiebt, Machen Sie Ihre Arbeit als Minister!
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: So war (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/
das nicht gemeint!) GRÜNE und der PDS/Linke Liste)
die reichen Länder — alt — ihre Verantwortung an Herr Bundeskanzler, auf der Seite 10 Ihrer Regie-
den Bund schieben, dieser Ball also dauernd wie auf rungserklärung haben Sie gesagt: Die Bundesregie-
einer Bank hin- und hergeschoben wird und wir dabei rung wird entsprechende Vorschläge für die notwen-
in Konkurs gehen. digen Steuererhöhungen vorlegen. — Wir, Herr Bun-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ deskanzler, die Finanzminister der sechs Ost-Länder,
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ die gestern unter der Federführung von Herrn Pieroth
Linke Liste und der FDP) getagt haben, fordern Sie auf: Beenden Sie die kunst-
vollen Rechenkunststücke zwischen dem Bund, ver-
treten durch den Bundesfinanzminister Waigel, und
Vizepräsidentin Schmidt: Herr Minister, gestatten
den reichen Ländern, vertreten durch Baden-Würt-
Sie nunmehr eine Zwischenfrage der Abgeordneten
temberg und Hessen — kein Widerspruch; ist wich-
Frau Matthäus-Maier?
tig —,
(Heiterkeit bei der SPD — Zuruf von der
Minister Kühbacher (Brandenburg): Nein, ich will CDU/CSU: Es hat auch keiner was gesagt!)
den Gedanken zu Ende führen.
Die Antwort auf dieses offenkundige Dilemma, und bringen Sie endlich ein Instrument ins Spiel, das
diese Schiebetaktik, die dem Bundeskanzler ja Gott wirklich trägt! Herr Bundeskanzler, ich fordere Sie
sei Dank auch zuwider ist, kann nur im Teilen beste- auf: Erhöhen Sie die Steuerart Umsatzsteuer, und die
hen. Sie — ich sage das prononciert — , die Reichen im 12 Milliarden DM, die dabei zu erzielen sind, lenken
Westen, der Bund und die reichen Länder, müssen Sie, Herr Bundeskanzler, entsprechend Ihren Zusa-
etwas für die Armen im Osten tun. gen als Mehrertrag bitte nur in die neuen Länder und
deren Gemeinden! — Herr Bundeskanzler, ich wie-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derhole, weil Sie abgelenkt worden sind: Erhöhen Sie
der CDU/CSU und der FDP) die Steuerart Umsatzsteuer, erzielen Sie 12 Milliarden
Wir brauchen schnellstens eine Verbesserung DM Mehrertrag, und lenken Sie diese 12 Milliarden
der — — DM durch Verrechnung in die neuen Bundesländer
(Anhaltende lebhafte Zurufe von der CDU/ und deren Gemeinden!
CSU) (Beifall bei der SPD)
— Können Sie jetzt mal bitte mit dieser Schreierei auf- Die Zustimmung der sechs Finanzminister aus Ost-
hören! Wir können ja nachher unten noch einen trin- deutschland haben Sie.
ken.
Meine Damen und Herren, da Sie hier ja so schnell
(Heiterkeit) Gesetzgebung machen können, wenn Sie es denn
Wir brauchen schnellstens eine Verbesserung der wollen, ist es für Sie auch machbar, dieses Umsatz-
Finanzausstattung der neuen Länder und ihrer Ge- steuergesetz innerhalb von 14 Tagen ins Parlament
meinden, wobei es uns im Grunde egal ist, ob das über einzubringen, so daß es zum 1. Ap ril greifen kann.
eine Aufstockung des Fonds Deutsche Einheit, über Nicht reden hilft; der Gesetzgeber — das sind Sie,
eine Veränderung des Finanzausgleichs, der kommen meine Damen und Herren — ist sofort gefordert.
muß, oder über eine Steuererhöhung geht. Deshalb
erinnere ich Sie, Herr Bundeskanzler, an Seite 9 Ihrer (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Regierungserklärung. Ich könnte das alles vorlesen. Die Zustimmung, meine Damen und Herren, wer-
Da steht bei mir: „Bitte wiederholen — eine sehr gute, den Ihnen die Menschen bringen. Denen muß gehol-
hilfreiche Passage". Ich bitte die Presse ausdrücklich: fen werden; denn wir müssen die Infrastruktur moder-
Lesen Sie das doch mal nach, was der Bundeskanzler nisieren und auf westdeutschen Standard bringen.
152 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Minister Kühbacher (Brandenburg)


Wir müssen die völlig heruntergekommenen Woh- Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Herr
nungen und Städte wieder bewohnbar machen. Bundeskanzler.
(Zuruf von der CDU/CSU: Richtig! Sehr
gut!)
Deshalb muß die Subventionierung — so sage ich ein- Dr. Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Meine
mal — dieser Kostenblöcke durch den Wohnungsbau- sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin eben mit
minister bestehenbleiben. Wir müssen die vergiftete Recht persönlich angesprochen worden. Deswegen
und verseuchte Umwelt sanieren. Wir müssen das will ich die Reihenfolge der Redner kurz unterbrechen
Gesundheits- und Bildungssystem mit Milliardenauf- und nur wenige Bemerkungen machen. Herr Kollege
wand renovieren. Kühbacher, ich will auf das antworten, was Sie hier
mit Leidenschaft vorgetragen haben, und ich will ein
(Zuruf von der CDU/CSU: Das steht alles in
paar Bemerkungen auch zu dem machen, was Kurt
der Regierungserklärung d rin!)
Biedenkopf gesagt hat.
Wir müssen mit dieser SED-Mißwirtschaft, die über
einen Zeitraum von 30 Jahren bis 40 Jahren bet rieben Ich will nicht auf Ihre Empfehlungen eingehen, wel-
worden ist, endgültig aufräumen und damit Schluß che Steuern erhöht werden sollen und wer nach Ihrer
machen. Philosophie, Herr Kollege Kühbacher, bestraft werden
soll. Das nützt überhaupt niemandem und ist, wie Sie
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
sehr genau wissen, sachlich auch nicht begründet.
FDP)
Mir geht es darum, noch einmal festzustellen, daß
Vizepräsident Schmidt: Herr Minister, denken Sie
für die Bundesregierung die Regierungserklärung
bitte an Ihre Redezeit! gilt, die ich gestern hier abgegeben habe, — und zwar
Seite für Seite. Sie haben die Freundlichkeit gehabt,
einiges zu erwähnen. Ich sage noch einmal: Diese
Minister Kühbacher (Brandenburg) : Ich komme Regierungserklärung gilt.
gleich zum Schluß. — All das müssen wir tun, damit
die Leute, die so lange so viel erdulden mußten, ein Kurt Biedenkopf hat mit Recht darauf hingewiesen,
Jahr nach der Vereinigung nicht doch noch aufgeben daß auch ich das Problem — weit über das Materielle
und ihre Koffer packen. Wir müssen hier handeln und hinaus; ich habe das gestern ausgeführt — darin sehe,
dürfen nicht theoretische Diskussionen führen. wie die Menschen in Deutschland zueinanderkom-
men. Das hängt zusammen mit der Erblast des SED-
Meine Damen und Herren, ich muß es bitter nen- Regimes, der Stasi-Hinterlassenschaft etwa, um nur
nen, daß die Finanzierung des Golfkriegs als Grund eines der Stichworte zu nennen. Es hängt aber vor
für die Erhebung einer Steuer offenbar auch bei der allem auch damit zusammen, daß wir jetzt mit ganz
Bevölkerung als einleuchtender angesehen wird als unterschiedlichen Erfahrungen in einem vereinten
die Erzielung zusätzlicher Einnahmen zum Aufbau Vaterland zusammenleben. Da gibt es auf der einen
eines geeinten, sozial gerechten und ökologisch wie Seite jene, die vierzig Jahre das Glück hatten nicht
ökonomisch blühenden Deutschlands. nur in Frieden und Freiheit, sondern auch in einem
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ beachtlichen Wohlstand zu leben. Daran haben sie
GRÜNE) sich gewöhnt — auch diejenigen, die dem Wohlstand
Wenn Sie denn für diesen letzten Teil auch Steuerer- sozialkritisch begegnen.
höhungen brauchen, dann empfehle ich Ihnen solche, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
die in jedem Falle ziehen: Erhöhen Sie die Körper- bei Abgeordneten der FDP)
schaftsteuer, erhöhen Sie die Vermögensteuer, und
erhöhen Sie die Gewerbekapitalsteuer! Es trifft die Auf der anderen Seite müssen wir nicht nur die mate-
Unternehmen und die Banken, die am Golfkrieg riellen, sondern auch die psychologischen Vorausset-
schon prächtig verdient haben. zungen schaffen, um die innere Einheit des Landes zu
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ verwirklichen. Nach dem Bankrott des SED-Regimes
GRÜNE) ist die F ri st verständlicherweise kurz bemessen; wir
haben keine Zeit zu verlieren; ich stimme Ihnen da
ausdrücklich zu.
Vizepräsidentin Schmidt: Herr Minister, denken Sie
bitte an Ihre Redezeit! (Zuruf der Abg. Frau Jelpke [PDS/Linke
Liste))
Minister Kühbacher (Brandenburg): Meine Damen — Ich verstehe nicht, daß Sie dazwischenrufen. Wir
und Herren, noch läßt sich alles korrigieren, aber die setzen uns im Moment mit Ihrer Erblast auseinan-
Zeit drängt. Bundesregierung, Bundestag und Bun- der.
desrat sind zu einer gemeinsamen Anstrengung auf- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
gefordert, das bisher Versäumte wiedergutzumachen. bei Abgeordneten der SPD)
Ich bitte Sie, liebe frühere Kolleginnen und Kollegen
sowie liebe neue Kollegen des Deutschen Bundesta- Ohne das unselige Regime, das Sie vierzig Jahre ei-
ges, um der Menschen willen in den ostdeutschen nem Teil unseres Vaterlandes aufgezwungen haben,
Ländern: Helfen Sie uns! hätten wir heute doch nicht diese Diskussion.
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der FDP bei Abgeordneten der SPD — Zuruf der Abg.
und der PDS/Linke Liste) Frau Jelpke [PDS/Linke Liste))
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 153
Bundeskanzler Dr. Kohl
Aber wir sollten bei der Sache bleiben und nicht be- länder — vorzutragen. Ministerpräsident Biedenkopf
sonders beachten, was hier dazwischengerufen war vor ein paar Tagen Zeuge, wie im Gespräch zwi-
wird. schen den Ministerpräsidenten aller Bundesländer
Es muß uns jetzt darum gehen, den Menschen in und der Bundesregierung bis spät in die Nacht hinein
den neuen Bundesländern, in der bisherigen DDR, zu miteinander gerungen worden ist. Wer dort dabei war,
erklären, wenn sie in einer Notsituation sind, wenn sie der weiß genau, welches meine Position ist. Deswe-
arbeitslos werden oder sich in einer Umstellungssitu- gen halte ich mich an das, was ich gestern hier gesagt
ation am Arbeitsplatz, befinden — wir reden so ein- habe.
fach von Qualifizierung und müssen immer beden- (Abg. Frau Matthäus-Maier [SPD] meldet
ken, was das im Einzelfall heißt; Sie haben Beispiele sich zu einer Zwischenfrage)
aus der praktischen Kommunalpolitik gebracht —,
daß ein solcher Prozeß nicht über Nacht abläuft. Im
übrigen müssen wir auch erklären, daß der Wohlstand Vizepräsidentin Schmidt: Herr Bundeskanzler — —
auf dem bisherigen Gebiet der Bundesrepublik eben-
falls nicht über Nacht entstanden ist, sondern daß es
seine Zeit gebraucht hat. Das ist das eine.
Dr. Kohl, Bundeskanzler: Nein, danke.
(Zuruf von der SPD: Worauf wollen Sie hin
aus? — Weitere Zurufe von der SPD) (Zurufe von der SPD)
— Sie wissen doch genau, daß es so ist. — Ich bin der Meinung, daß zum Parlamentarismus
eine direkte Antwort gehört. Hier wurden leiden-
Das andere ist, daß die Deutschen im Westen unse- schaftliche Appelle von zwei Verantwortlichen aus
res Landes — ich sage bewußt: alle, die das Glück den neuen Bundesländern vorgetragen. Nach mei-
hatten, in den vergangenen Jahrzehnten in der bishe- nem Verständnis gehört es sich, daß ich darauf jetzt
rigen Bundesrepublik zu leben — sowohl im Psycho- sofort antworte.
logischen als auch im Materiellen jetzt auf unsere
Landsleute zuzugehen haben und daß wir fähig sein (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
müssen, zu teilen. Das ist das richtige Wort; ich habe Mir geht es überhaupt nicht um irgendeinen polemi-
das gestern mit anderen Beg riffen umschrieben. schen Unterton. Mir geht es — ich sage Ihnen das
auch bewußt als Bundeskanzler — vielmehr darum:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Ich weiß genau wie Sie, daß wir wenig Zeit haben, daß
Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Konkrete Ant
wir jetzt und in den nächsten Monaten handeln müs-
worten, Herr Bundeskanzler! Wo bleiben die
sen. Wir wußten alle, daß wir eine Talsohle erreichen
konkreten Zusagen?)
würden, aber wir haben eine gute Chance, den Weg
— Ich habe nicht den Eindruck, daß Sie im Moment aufwärts zu finden, wenn jetzt die Weichen richtig
wirklich wissen, wovon Sie sprechen. gestellt werden.
(Duve [SPD]: Wissen Sie es denn?) Kurt Biedenkopf — das ist das letzte, was ich sagen
will — hat eben noch einmal ein ganz wichtiges Argu-
— Sie wissen so gut wie ich, denn Sie waren sogar
ment angeführt, das auch ich gestern schon vorge-
beteiligt: Wir führen z. B. mit Blick auf die Probleme
bracht habe. Wer in der Bundesrepublik jetzt auch
der Kommunen in den alten und den neuen Bundes-
immer in der Verantwortung steht — ob im Bund oder
ländern Gespräche, um das zu tun, was jetzt getan
in den Ländern; letztlich gilt das auch für die Gemein-
werden muß — auch was den Bund angeht. Das muß
den — , der muß wissen: Wenn wir die Weichen nicht
ohne Zweifel mehr sein, Herr Finanzminister des Lan-
jetzt im Jahre 1991 richtig stellen, dann werden nicht
des Brandenburg, als das, was bisher erörtert worden
nur die neuen Bundesländer nahezu unlösbare Pro-
ist. Das sieht angesichts einer Reihe von Fakten inzwi-
bleme haben, sondern dann müßte auch der Finanz-
schen jeder ein.
ausgleich des Jahres 1995 zu einem Verfassungsnot-
(Beifall bei der CDU/CSU) stand führen. Ich finde, das ist — auch wenn man
Es bringt aber nichts — ich nehme Ihnen ja Ihr En- sonst gar kein Argument anerkennt — ein Tatbe-
gagement ab — , wenn Sie die Verhältnisse von Ge- stand, den eigentlich jeder begreifen muß. Wer jetzt
meinden in Brandenburg mit denen einer Gemeinde nicht handelt, der wird erleben, daß auch die westli-
in Bayern vergleichen. Die Realität in dieser -
Ge- chen Bundesländer im Jahre 1995 keines der anste-
meinde in Bayern ist zutreffend beschrieben. Realität henden Probleme werden lösen können.
ist aber auch das, was Sie über Gemeinden in Bran- Deshalb sage ich Ihnen, was ich auch gestern schon
denburg gesagt haben. Was wir erreichen müssen gesagt habe: Sie können darauf rechnen, daß ich und
— um es einmal vereinfacht bildlich auszudrücken —, die Bundesregierung das Menschenmögliche tun
ist, daß die Schere nicht weiter auseinander-, sondern werden. Wenn Sie dabei auch noch im Gespräch mit
immer weiter zusammengeht. Das ist doch — auf ei- Ihren Kollegen in den westlichen Bundesländern be-
nen knappen Nenner gebracht — das Problem. hilflich sein werden, wenn in den Kommunen unseres
Landes die Erkenntnis wächst, daß diese oder jene
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Investition — so nützlich sie auch sein mag — viel-
Das setzt — das wissen Sie doch auch — in einer fö- leicht auch erst im Jahre 1994 begonnen werden
deralen Verfassungsordnung die Mitwirkung aller kann, dann kommen wir ein gutes Stück weiter. Ich
Beteiligten voraus. Ich kann Sie nur dazu einladen, habe Ihre Inte rv ention und die Inte rv ention des Kolle-
das, was Sie hier eben gesagt haben, so auch einmal gen Biedenkopf — bei allen Zwischentönen — als
Ihrem Kollegen — den Finanzministern der Bundes eine Inte rv ention empfunden, die uns darauf ein-
154 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


stimmt, daß dies eine Stunde zum gemeinsamen Han- aktive — auch finanzielle — Hilfe für die neuen Bun-
deln ist. Ich bin dazu bereit. desländer geht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
beim Bündnis 90/GRÜNE)

Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort zu einer Kurzin-


Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Bundes-
tervention hat der Abgeordnete Krause.
minister für Wirtschaft, Herr Möllemann.
Vorher möchte ich Sie vorsorglich darauf hinwei-
Dr. Krause (Börgerende) (CDU/CSU): Frau Präsi- sen, daß es infolge der Bauarbeiten um 16.00 Uhr eine
dentin! Herr Kollege, Sie haben mich direkt mit Na- Sprengung in der Gronau geben wird. Das sage ich
men angesprochen. Es freut mich, daß Sie sich als nur, damit Sie keinen Schrecken bekommen.
Brandenburger fühlen. Allerdings wäre es wohltuend (Heiterkeit)
gewesen, wenn Sie in Ihrer Eigenschaft, die Sie hier in
der vorigen Legislaturperiode hatten, nämlich als
Herr Möllemann, Sie haben das Wort.
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, seinerzeit bei
den Vertragsverhandlungen den Länderfinanzaus-
gleich ebenso unterstützt hätten. Sie wissen, daß wir Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Frau
damals als DDR-Regierung den Länderfinanzaus- Präsidentin, ich bin Ihnen dankbar dafür.
gleich durchsetzen mußten, weil ein erheblicher Teil (Erneute Heiterkeit)
der damaligen Bundesländer den Länderfinanzaus-
gleich nicht wollte. Insofern freue ich mich, daß wir
Vizepräsidentin Schmidt: Es ist zwar erheiternd;
jetzt insgesamt erkannt haben, daß der Weg des Län-
trotzdem hat jetzt der Herr Bundeswirtschaftsminister
derfinanzausgleichs der einzig gangbare ist.
das Wort.
Danke schön.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte gerne, anknüpfend an das, was
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort zu einer weite-
der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen und der
ren Kurzintervention hat die Frau Kollegin Matthäus
Kollege Kühbacher angesprochen haben, zunächst
Maier. ein paar Bemerkungen zu der großen nationalen Her-
ausforderung machen, vor der wir in dieser Legislatur-
Frau Matthäus-Maier (SPD): Herr Bundeskanzler, periode in wirtschaftspolitischer Hinsicht stehen, auch
ich finde es gut, daß Sie nach den bewegenden Reden wenn auf Grund der aktuellen Ereignisse am Golf der
von Herrn Biedenkopf und von Herrn Kühbacher hier Eindruck entsteht, als könne diese Herausforderung
das Wort ergriffen haben. Aber ich glaube, das, was auch in unserem Bewußtsein in den Hintergrund ge-
Sie gesagt haben, läßt die beiden Kollegen mit leeren schoben werden. Insofern waren die Beiträge der Ver-
Händen zurückgehen. Das ist traurig. treter der verschiedenen Landesregierungen sicher
geeignet, unser Augenmerk auch wieder etwas zu
(Beifall bei der SPD und bei der PDS/Linke einem Themenbereich zurückzuführen, der uns ge-
Liste) wiß über die nächsten Jahre nachhaltig beschäftigen
Sie sprachen die Bereitschaft der alten Bundeslän- wird.
der zur Hilfe an. Da muß zweifellos mehr getan wer- Wir stehen vor der Aufgabe, eine Strategie „Auf-
den. schwung Ost" für die neuen Bundesländer auszuge-
(Zustimmung bei der CDU/CSU) stalten und umzusetzen. Wir brauchen dazu ein breit
Ich weiß von Ministerpräsidenten — z. B. vom Mini- angelegtes Konzept, um die Wachstumskräfte in allen
sterpräsidenten des Landes, aus dem ich komme, Wirtschaftsbereichen der neuen Länder zu fördern.
Herrn Rau — daß sie dazu bereit sind. Eine ungeschminkte Beschreibung der Ausgangslage
zeigt uns, wo die Aufgaben liegen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Niedersachsen!
Schröder!) Erstens. Die Wirtschaft im Osten befindet sich in
- einer tiefen Strukturkrise. Die Industrieproduktion
Aber, Herr Bundeskanzler, können Sie denn nicht der ostdeutschen Wirtschaft ist trotz massiver Liquidi-
verstehen, daß die alten Bundesländer sehr zögerlich tätshilfen der Treuhandanstalt erheblich geschrumpft.
sind, Ihnen auch nur eine Mark in die Hand zu geben, Hinzu kommt, daß sich die Nachfrage der Bürger in
wenn Sie gleichzeitig in die Koalitionsvereinbarun- den neuen Ländern überwiegend auf westliche Pro-
gen hineinschreiben, daß die Vermögensteuer und dukte richtet, auf die sie jahrzehntelang verzichtet
die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft werden, haben.
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Mit der Umstellung des Osthandels auf eine konver-
Liste) tible Währung sind die Lieferbeziehungen zu den Ost-
mit der Folge, daß Sie sich, da das eine eine Landes- märkten weitgehend zusammengebrochen. Das war
und das andere eine Kommunalsteuer ist, zu Lasten zum Teil auch auf die internen Umstellungsschwierig-
Dritter bereichern und daß davon nicht eine müde keiten dort, vor allem in der Wirtschaft der Sowjet-
Mark in die neuen Bundesländer geht. Stellen Sie sich union, zurückzuführen. Die dramatischen Rückgänge
hierhin und sagen Sie: Darauf verzichten wir. — Dann der Exportzahlen stellen besonders ehemalige volks-
werden Sie uns an Ihrer Seite haben, wenn es um eigene Betriebe vor erhebliche Probleme. Schon mit
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 155

Bundesminister Möllemann
der Öffnung der Märkte im Westen und der Einfüh- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Vorrang
rung der D-Mark konnte niemand mehr an der Tatsa- muß der Aus- und Aufbau der wirtschaftsnahen Infra-
che vorbeisehen, daß die meisten ehemaligen Kombi- struktur haben, damit Engpässe bei der Entfaltung
nate nicht wettbewerbsfähig sind. Das Deutsche Insti- neuer wirtschaftlicher Aktivitäten schnell beseitigt
tut für Wirtschaftsprüfung hält 1991 einen Rückgang werden. Aber bei allem, was wir im Interesse der
der Export e auf etwa ein Drittel gegenüber dem Vor- Menschen an Aufbauhilfe für die neuen Bundeslän-
jahr für wahrscheinlich. der leisten, werden wir um Einsichten in unbequeme
Wahrheiten nicht herumkommen. Dazu sind die Pro-
Zweitens. Die Aufgabe, eine in 40 Jahren sozialisti- bleme zu zahlreich und zu vielfältig. Wir vergeben uns
scher Kommandowirtschaft ruinierte Wirtschaft in ja nichts, wenn wir einräumen, daß wir in diesem Pro-
eine funktionierende Marktwirtschaft zu überführen, zeß — jedenfalls zu Beginn — die Dimension der Pro-
ist eben weder in Monats- noch Jahresfrist zu lösen. bleme vielleicht etwas unterschätzt haben. Sie treffen
Die Hypothek planwirtschaftlicher Verzerrungen muß uns alle: in der Politik und in den Bet rieben, die Tarif-
abgebaut werden, damit die Marktkräfte wirksam partner ebenso wie die Steuerzahler.
werden können. Trotz massiver Unterstützung aus der
bisherigen Bundesrepublik ist der Wiederaufbau in
Die Stillegung unrentabler Produktion und die Be-
den neuen Bundesländern schwieriger als in West-
lebung der Wachstumskräfte, die Überwindung bü-
deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, weil sich
rokratischer Hindernisse, der Aufbau einer modernen
insbesondere marktwirtschaftliches Denken und
und leistungsfähigen Infrastruktur sowie der Wieder-
Handeln auf breiter Basis erst wieder neu entwickeln
aufbau in den Städten fordern den Einsatz aller gesell-
müssen und eine funktionierende Privatrechtsord-
schaftlichen Kräfte. Deshalb schlage ich erneut vor,
nung verwirklicht werden muß.
die Erarbeitung der Strategie für den Aufschwung Ost
Drittens. Es gibt natürlich nach wie vor das Problem mit einem Dialog für den Aufschwung Ost zu verbin-
der alten Seilschaften, die in den Bet rieben und Ver- den. Vertreter der Gewerkschaften und der Spitzen-
waltungen ihr Unwesen treiben. Das Problem wird verbände der Wirtschaft werden zu einem regelmäßi-
sich für die Betri ebe am ehesten mit der Veräußerung gen Gedankenaustausch über die Fragen eingeladen,
an neue p rivate Eigentümer lösen. Auch deshalb muß die für die Verbesserung der Lebensbedingungen und
die Treuhandanstalt die Privatisierung weiter voran- die Entwicklung von Wachstum und Beschäftigung
treiben. Mit „Privatisierung", meine Damen und Her- maßgebend sind. Die gemeinsame Erklärung von
ren — das sei an die Adresse von Herrn Modrow ge- DGB bzw. DAG und BDA vom Herbst vergangenen
richtet — , meinen wir natürlich nicht jene Verschie- Jahres könnte ein Anknüpfungspunkt für solche Ge-
bungen von Betri eben und Firmen an Altgenossen, spräche sein. In diesen Dialog möchte ich die wirt-
die es auch gegeben hat. schaftspolitischen Absichten und Konzepte für die
neuen Bundesländer einbringen und sie mit den Be-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) teiligten diskutieren. Angesichts der Dramatik der
Im Bereich der öffentlichen Verwaltungen müssen Probleme, von denen wir hier sprechen, bin ich zuver-
die Städte und Gemeinden darum kämpfen, daß nicht sichtlich, daß diese Einladung zum Strategiedialog
der Geist von gestern überlebt und der marktwirt- Aufschwung Ost angenommen wird.
schaftlichen Erneuerung entgegenläuft. Das Festhal-
ten an überholten Vorstellungen von der Notwendig- (Beifall bei der FDP)
keit öffentlichen Eigentums widersp richt dem Ziel,
neue Arbeitsplätze zu schaffen, und schadet damit Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Hinter-
den Gemeinden selbst. Hier treten Investitionshinder- lassenschaft der Planwirtschaft im Osten hat uns allen
nisse zutage, die sich nicht per Gesetz oder Anord- deutlich gemacht, wohin Verschwendung auf wirt-
nung von heute auf morgen beseitigen lassen. Ich schaftlichem und ökologischem Gebiet führt. Die
begrüße deshalb die Aufbauhilfe, die die Länder mit Marktwirtschaft hat ihre Überlegenheit gezeigt, wenn
der Entsendung von Verwaltungsfachleuten leisten, es um die effiziente und sparsame Nutzung der Güter
aber sie muß noch verstärkt werden. geht. Die dauerhafte Überlegenheit im Vergleich der
Systeme schließt aber die Lösung der Umweltfrage
Die Bundesregierung wird ihre Anstrengungen dar-
ein. Ohne sie hätte Marktwirtschaft keine Zukunft.
auf konzentrieren, die Bedingungen für Unterneh-
Versöhnung von Ökologie und Ökonomie muß des-
mensinvestitionen weiter zu verbessern. Die vielen
halb die entscheidende Orientierung für die Weiter-
eingeleiteten Fördermaßnahmen müssen zu einem
entwicklung unserer Sozialen Marktwirtschaft sein.
Gesamtpaket für die neuen Länder gebündelt wer-
Unsere Wirtschaftsordnung ist offen für die Gestal-
den. Es ist wahr, Herr Biedenkopf und Herr Kühba-
tung und Ergänzung der ökologischen Dimension.
cher, die Investitionsmittel zur Modernisierung der
Marktorientierte Umweltpolitik und das Vorsorge-
Infrastruktur müssen gezielt und stärker in die neuen
prinzip zur Erhaltung unserer natürlichen Lebens-
Bundesländer umgelenkt werden. Ich hoffe sehr, daß
grundlagen sind eben kein Widerspruch. Es geht um
die Entschlossenheit, die im Beifall bei der entspre-
die Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen un-
chenden Passage vorhin zum Ausdruck kam, auch
serer Kinder und Enkel. Arbeitgeber, Arbeitnehmer
aufrechterhalten bleibt, wenn es denn dann bei der
und das Management der Unternehmen müssen ihre
Aufstellung des Haushalts um das Umverteilen geht.
technischen Fähigkeiten und ihre Kreativität noch
Ich hoffe sehr, daß die alten Bundesländer bei der
stärker als bisher in den Dienst der Umwelt stellen.
kommenden Konferenz beim Bundeskanzler auch
Die deutsche Industrie muß sich noch stärker als bis-
mitziehen werden.
her bei Forschung und Entwicklung dem Gedanken
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) öffnen, daß die Vermeidung künftiger Umweltlasten
156 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Möllemann
sinnvoller ist, als hinterher der Allgemeinheit die ko- handlungspartnern ein deutliches Bekenntnis der EG
stenträchtige Beseitigung zu überlassen. zu einem liberalen Welthandel geben.
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
der SPD) der CDU/CSU)

Meine Kolleginnen und Kollegen, Voraussetzung


für weitere Fortschritte ist allerdings, daß wir Umwelt- Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, sind Sie
politik nicht primär und mit dem moralischen Zeige- bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jens
finger glauben betreiben zu können. Wir müssen sie zuzulassen?
mit marktwirtschaftlichen Instrumenten besser kom-
binieren, d. h. Preis- und Kostensignale setzen. Um-
Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Ich
weltbelastungen müssen sich in den Gewinnrechnun-
möchte den Gedanken erst abschließen.
gen und Kalkulationen der Wirtschaft, aber auch im
Verbraucherverhalten niederschlagen. Zur Durchset- Die Grundlagen unseres Gemeinwohls und unseres
zung dieser Ziele sind auch Steuern und Abgaben Wohlstandes stehen auf dem Spiel. Ich werde deshalb
sinnvoll, wenn sie auf Bereiche mit gravierenden Um- mit aller Kraft dafür kämpfen, daß es bald zum erfolg-
weltproblemen konzentriert werden. reichen Abschluß der Uruguay-Runde und zur Bestä-
tigung des GATT kommt.
Frau Präsidentin, meine Kolleginnen und Kollegen,
wir müssen die Prozesse der europäischen Einigung (Beifall bei der FDP)
und die Genfer Verhandlungen für ein freiheitliches Bitte schön, Herr Jens.
Welthandelssystem weiter voranbringen. Die Regie-
rungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion
Dr. Jens (SPD): Herr Minister, bisher hatte ich das
im Dezember hat uns gezeigt, daß marktwirtschaftli-
Gefühl, daß es auch an der Bundesregierung liegt, daß
che Orientierung in der Europäischen Gemeinschaft
die Verhandlungen über die GATT-Fragen nicht vor-
überall an Boden gewinnt.
ankommen. Plädieren Sie denn jetzt dafür, daß end-
(Vorsitz: Vizepräsident Cronenberg) li ch die Exportsubventionen für die Agrarwirtschaft
ein- für allemal aufgehoben und beseitigt werden?
Ich sehe darin eine Bestätigung des Kurses, den die
Bundesregierung seit langem beharrlich verfolgt. Ich
werde mich dafür einsetzen, daß wir uns zu einer ech- Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Ich plä-
ten Stabilitätsgemeinschaft weiterentwickeln. Große diere dafür und setze mich dafür ein, daß es zu einer
Erwartungen — das konnte man in diesen Tagen im- Einigung kommt, die das GATT bestätigt. Daß dabei
mer wieder auch an den Erklärungen der Interessier- die von Ihnen angesprochene Frage geregelt werden
ten nachvollziehen — richten sich auf die EG, wenn es muß, ist klar, und daß die bestehende Regelung nicht
um die Neuauflage der Charta eines freien Welthan- unverändert bestehenbleiben kann, weiß auch je-
dels in Genf geht. Die Länder in Mittel- und Osteu- der.
ropa und in der Dritten Welt brauchen ein klares Si- (Beifall bei der FDP — Zuruf von der SPD:
gnal, das sie in ihrem Kurs der beginnenden markt- Das war sehr gehaltvoll!)
wirtschaftlichen Reformen weiter stärkt.
Wir stehen darüber in Verhandlungen mit Partner-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten staaten, unmittelbaren Nachbarstaaten, und ich hoffe,
der CDU/CSU) daß diese Verhandlungen ein Ergebnis bringen.
Die Bundesrepublik verdankt ihre Stellung als Ex- (Zustimmung bei der FDP — Roth [SPD]: Der
portnation Nummer 1 wie kein anderes Land einem Staatssekretär klatscht! Das reicht ja auch! —
liberalen Welthandelssystem mit offenen Märkten. Heiterkeit bei der SPD)
Sie hat diese Chancen für die Entwicklung einer inter- — Na immerhin.
national wettbewerbsfähigen und arbeitsteiligen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte gern
Wirtschaft seit über 40 Jahren konsequent genutzt. — ich hoffe, daß Herrn Kollegen Gansel das über-
Deshalb müssen wir mit aller Entschlossenheit den bracht wird; ich fände es gut, wenn er da wäre, nach-
Rückfall in Protektionismus und Abschottung verhin- dem er Attacken gegen die Bundesregierung gerich-
dern. - tet hat — — Entschuldigung, er kommt jetzt. Ich
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) möchte gern auf das eingehen, was der Kollege Gan-
sel hier vorgetragen hat. Herr Kollege Gansel, Ihr Bei-
Wir Deutschen dürfen uns dieser Verantwortung nicht trag war ein erneuter Beleg dafür, daß moralischer
entziehen. Ein Scheitern der Verhandlungen in Genf Rigorismus eine besonnene und konsequente außen-
hätte erhebliche Turbulenzen für die deutsche Ex- politische Konzeption nicht ersetzen kann.
portwirtschaft zur Folge.
(Zustimmung bei der FDP)
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) Er gibt Ihnen auch nicht das Recht und die Rechtfer-
Jeder dritte Arbeitsplatz in der Bundesrepublik hängt tigung dafür, politisch Andersdenkende in eine unmo-
davon ab. Vor allem in der EG müssen und werden wir ralische Ecke zu drängen. Ich möchte das an drei Bei-
daher mit aller Kraft dafür eintreten, die Beratungen spielen belegen.
über die noch offenen Themen in Genf abzuschließen. Sie haben diejenigen, die wie die Bundesregierung
Die Kommission muß offensiv die Reformbestrebun- den Befreiungsk ri eg der Allianz, die Kuwait wieder
gen in den Mitgliedstaaten aufnehmen und den Ver befreien will, unterstützen und die Ihre Forderung
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 157
Bundesminister Möllemann
nach einem Waffenstillstand ablehnen, einer gewis- Fraktionen, aller Parteien, auch mit Saddam Hus-
sen moralischen Unbedenklichkeit geziehen. sein.
(Gansel [SPD]: Überhaupt nicht! — Schäfer (Gansel [SPD]: Nicht mit Saddam Hussein!)
[Offenburg] [SPD]: Kein Wort davon!)
— Natürlich! Ich bin ganz sicher. Wenn Sie sich der
— Das klang so. Ich möchte hier in aller Klarheit Mühe unterziehen, ein intensives Gespräch mit Hans-
sagen: Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob Sie die Jürgen Wischnewski zu führen, dann wird er Ihnen
gleiche These im Rahmen der Sozialistischen Interna- bestätigen können, daß es in den 80er Jahren bei ver-
tionale vertreten würden, wo Felipe Gonzalez und schiedenen Gelegenheiten auch Gespräche von Kol-
François Mitterrand nur zwei promimente Sozialisten leginnen und Kollegen dieses Hauses mit der iraki-
sind, die sich an der Aktion beteiligen und jede Unter- schen Führung gegeben hat
brechung nachdrücklich ablehnen, und ob Sie dort
auch so wie in diesem Saal hier argumentiert hätten. (Gansel [SPD]: Nicht mit Saddam Hussein!)
Ich glaube, daß der Hinweis von Graf Lambsdorff au- — auch mit Saddam Hussein — , so wie es sie auch mit
ßerordentlich begründet war: Alles, was Saddam Hus- Leonid Breschnew in der Zeit gegeben hat, als die
sein an Verhaltensweisen in den letzten Wochen an Sowjetunion Afghanistan überfallen hatte, und zwar
den Tag gelegt hat, läßt die Vermutung sehr begrün- doch wohl nicht zu dem Zwecke, ihn in seiner Politik
det erscheinen, daß er jede Atempause zu nichts an- zu bestärken, sondern um ihn davon abzubringen. Ich
derem nutzen würde, als Verwüstung, Tod und Zer- glaube nicht, daß Sie mit dem Hinweis: Mit dem kann
störung anschließend um so intensiver zu betreiben. man nicht reden, durfte man nicht reden! und der
Deswegen finde ich Ihre Forderung nicht logisch. Argumentation, die Sie daran angeschlossen haben,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sehr überzeugend wirken. Nein, das beeindruckt
mich nicht.
Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, der Ab- Sie haben ein zweites Beispiel dafür gebracht, daß
geordnete Gansel möchte eine Zwischenfrage stel- sie außenpolitisch nicht konsequent argumentieren.
len. Sie haben erklärt, die Bemühungen der Bundesregie-
rung um eine stärkere Bekämpfung des i llegalen Rü-
stungsexports seien aus Ihrer Sicht nicht zureichend.
Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Natür- Was erforderlich sei, sei eine Begrenzung jeglichen
lich. Bitte! Rüstungsexports auf die NATO-Mitgliedstaaten. —
Am selben Tag haben Sie hier — ich stimme Ihnen
Gansel (SPD): Herr Kollege Möllemann, können Sie darin ausdrücklich zu — gebilligt, daß wir an Israel zu
sich vorstellen, daß diejenigen, die seit Beginn des dessen Verteidigung Waffen liefern. Am selben Tag,
irakisch-iranischen Krieges darauf hingewiesen ha- an dem Sie ein vermeintlich konsequentes Konzept
ben, daß Saddam Hussein diesen Krieg begonnen hat, vorstellen, geben Sie ein Beispiel dafür, daß es aus
die darauf hingewiesen haben, daß er der brutalste außenpolitischen Gründen zweckmäßig sein kann,
und gleichzeitig intelligenteste Diktator im Nahen von dieser Linie abzuweichen.
Osten ist, daß also diejenigen, die so analysiert haben (Gansel [SPD]: Nein, nicht aus außenpoliti
wie ich zum Beispiel, Saddam Hussein vielleicht rea- schen Gründen!)
lisitischer beurteilen als diejenigen, die sich wie Sie
— Doch! Sie werden doch zugeben, daß es eine Frik-
auch während des irakisch-iranischen Krieges immer
tion ist, zu sagen: nur an NATO-Staaten, es sei
für besonders gute Wirtschaftsbeziehungen mit dem
denn ... — und dann kommt die Ausnahme, wobei
System eingesetzt haben? Wenn ich mich nicht irre,
ich ausdrücklich sage: Ich begrüße es, daß die SPD
waren Sie oder wollten Sie doch im Sommer 1986 nach
diese Ausnahme mitträgt.
Bagdad fahren. War das nicht so? Haben Sie auf dem
Höhepunkt des iranisch-irakischen Städtekrieges, als (Gansel [SPD]: Für Sie ist das doch nur der
Raketen und Giftgas eingesetzt wurden, als Sie Türöffner! — Kittelmann [CDU/CSU]: Für
Staatsminister im Auswärtigen Amt waren, jemals wen? Diese dauernden Unterstellungen,
eine Protestnote überreicht? Oberstaatsanwalt außer Diensten! — Da
werdet ihr euch noch ärgern, daß ihr den
gewählt habt! — Zuruf von der CDU/CSU:
Vizepräsident Cronenberg: Herr Kollege verwech--
Dagegen war der Voigt noch Gold!)
seln Sie nicht zufällig die Zwischenfrage mit der Kurz-
intervention? — Ich würde Sie bitten, die Antwort auf — Nein, ich habe hier gesagt, daß es nicht logisch ist,
die Frage stehend entgegenzunehmen, wie das im wie Sie argumentiert haben.
Hause üblich ist. Meine Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zu
einem dritten Punkt, der hier immer wieder unter-
Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft: Auch schwellig von Ihnen, Herr Kollege Gansel, einge-
das war wieder ein Beispiel für das, was ich mit dem bracht worden ist, etwas klarstellen: Diese Bundesre-
untauglichen Versuch meinte, moralischen Rigoris- gierung hat sowenig wie Ihre Vorgängerinnen auch
mus an die Stelle vernünftiger Politik zu setzen. nur einen einzigen Export nach dem Kriegswaffen-
kontrollgesetz an den Irak genehmigt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Zurufe von der SPD) (Kittelmann [CDU/CSU]: So ist es!)
Ich will das erklären. Es gab in den 80er Jahren eine Was wir erleben, ist, daß Mitarbeiter von Unterneh
ganze Reihe von Gesprächen von Politikern aller men oder gar Unternehmen als Ganze gegen gelten-
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Bundesminister Möllemann
des Recht, an den Behörden vorbei Export von Kriegs- chen, das Thema auch zum Gegenstand in der KSZE
waffen oder kriegswaffenähnlichen Gütern bet rieben zu machen.
haben. Wir haben sofort nach Beginn unserer Amts- (Beifall bei der FDP)
zeit, ich selber als Bundesminister für Wirtschaft un-
mittelbar nach Antritt meines Amtes, deswegen eine Natürlich macht es Sinn, wenn wir mit einer restrikti-
Gruppe von Staatssekretären gebeten, einen Maß- ven Exportpolitik beginnen, wenn wir eine Politik des
nahmenkatalog auszuarbeiten, der eine wirkungsvol- guten Beispiels betreiben. Aber wirkungsvo ller ist es
lere Bekämpfung solcher Praktiken ermöglicht. natürlich, wenn andere nachziehen.
(Zuruf von der CDU/CSU: Es ist nur wichtig,
(Zuruf von der FDP: Richtig!)
daß die Voraussetzungen funktionieren!)
Das ist innerhalb der ersten Woche meiner Amtszeit Ich hoffe, daß alle diejenigen nachziehen, deren
geschehen, und am nächsten Mittwoch wird das Kabi- Presse in diesen Tagen mit besonderem Genuß immer
nett die Entwürfe für die notwendigen Gesetzesnovel- nur den Blick auf die Bundesrepublik Deutschland
len und Verordnungen vorgelegt bekommen und be- richtet.
schließen. Dann kann das Parlament ebenfalls, so wie
angemahnt, beraten und beschließen. Einen letzten Punkt in diesem Zusammenhang.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kol-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) legen, es ist notwendig, daß neben allen Anstrengun-
Niemand wird behaupten können, daß dies ein verzö- gen im Bereich von Gesetzesänderungen, von Verord-
gerndes Tempo sei. nungen die Wirtschaft mitspielt. Es ist notwendig, daß
sich die Verbände der Wirtschaft, aber auch die Unter-
(Zuruf von der SPD) nehmen an einer Kampagne der Ächtung derer betei-
— Innerhalb einer Woche finde ich schon angemes- ligen, die gegen geltendes Recht Rüstung exportieren
sen. und damit unser Ansehen in aller Welt schwer beschä-
digen und darüber hinaus natürlich auch die Interes-
(Beifall bei der FDP) sen der Wirtschaft beeinträchtigen.
Ich bitte Sie hier im Hohen Haus um Unterstützung Ich hoffe sehr, daß es hier zu einer kooperativen
für die Hauptanliegen. Haltung kommt. Äußerungen wie etwa die von Herrn
Diese Hauptanliegen sind: erstens eine Erhöhung Stihl, dem Präsidenten des DIHT, stimmen mich da
der strafrechtlichen Abschreckung durch Strafvor- hoffnungsfroh. Ich hoffe, sie werden auch in der Breite
schriften für Verstöße bei Embargobeschlüssen mit angewandt.
einem Strafrahmen bis zu 10 Jahren Freiheitsstrafe, Zum Schluß wollte ich mich für die sehr spezielle
zweitens ein Strafrechtsänderungsgesetz, mit dem die Form des Glückwunsches bedanken, die Jochen Vo-
Abschöpfung aller Erlöse aus illegalen Rüstungsge- gel heute morgen für meinen Amtsantritt gewählt hat.
schäften ohne Gegenrechnung von Kosten ermöglicht Ich verspreche ihm, daß ich seine Bemerkungen wie
wird — das heißt unmittelbar damit verbunden die die anderer sehr verdienter Staatsmänner, die mich
Existenzgefährdung illegal handelnder Firmen —, tief beeindruckt und ermutigt haben, als Ansporn nut-
drittens die konsequente Einsetzung des bestehenden zen werde, meine Arbeit erfolgsorientiert und um
Sanktionsinstruments der Gewerbeuntersagung ge- Durchsetzung bemüht fortzusetzen.
gen unzuverlässige Unternehmen in besonders Vielen Dank.
schweren Fällen, viertens neue Genehmigungspflich-
ten besonders für Exporte von nicht auf den Listen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
stehenden und nicht besonders für die Rüstung kon-
struierten Waren, wenn der Exporteur vom Einsatz in
einem Rüstungsprojekt oder Einbau in eine Waffe Vizepräsident Cronenberg: Nun hat der Abgeord-
weiß, fünftens eine Einzeleingriffsermächtigung für nete Rühe das Wort.
den Bundesminister für Bildung, (Roth [SPD]: Jetzt darf er ja!)
(Heiterkeit)
— für den Bundesminister für Wirtschaft — man muß Rühe (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kollegin-
sich doch noch an die neue Aufgabe gewöhnen. nen und Kollegen! Ich bitte um Entschuldigung, die
-
Sechstens. Das Bundesamt für Wirtschaft, das ja Debatte verläuft thematisch etwas erratisch. Ich muß
nicht für die Verfolgung illegaler Exporte, sondern für auf das zurückkommen, was die Kollegen Gansel und
die Ausstellung von Ausfuhrgenehmigungen zustän- Vogel heute gesagt haben.
dig ist, wird umgebaut. Die bisherige Kontrollabtei- (Zuruf von der SPD: Gehen Sie doch einmal
lung soll zu einem Exportkontrollamt ausgebaut wer- zur Wirtschaft!)
den. Es sollen Möglichkeiten geschaffen werden, be-
sonders kompetente Mitarbeiter auch einstellen zu — Ja, nächstes Mal vielleicht zur Wirtschaft.
können. Hans-Jochen Vogel hat heute morgen eine beson-
nene Rede gehalten, auch mit dem Angebot zur Ge-
Daneben soll ein Versuch unternommen werden,
meinsamkeit. Man fragt sich: Was ist diese Rede we-
der wohl dringend notwendig ist. Ich will dazu nicht
nige Stunden später noch wert, wenn man dann die
mehr sagen. Wenn man sich die Realitäten der Be-
waffnung der irakischen Streitkräfte anschaut, ist es Angriffe von Herrn Gansel gehört hat?
notwendig, über einen restriktiven Kurs in der Export- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
politik auch mit unseren westlichen Partnern zu spre- neten der FDP)
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Insofern spiegeln beide Reden ganz eindeutig wider, [SPD]: Haltet den Dieb, das ist die Me
daß es wirklich schwer ist zu entscheiden, wer das thode!)
Sagen in dieser Sozialdemokratischen Partei hat: die
Ich frage Sie auch: Sind Sie bereit, beim Datenschutz
besonnenen Kräfte oder diejenigen, die wie Herr Gan-
so vorzugehen, daß die Zusammenarbeit zwischen
sel in diesem Punkt eine wilde und unverantwort liche
Behörden erleichtert wird? Sind Sie bereit, eine Politik
Polemik gegen die Bundesregierung gestartet ha-
zu korrigieren, die den Datenschutz zum Täterschutz,
ben. auch in diesem Feld, gemacht hat?
Ich habe in Israel und auch hier in den letzten Tagen
Hans-Jürgen Wischnewski in Schutz genommen. Ich (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei
bin nicht einfach bereit, in ihm im nachhinein einen der SPD)
unmoralischen Menschen zu erkennen. Ich habe ge- — Wir sollten uns auf die Dinge konzentrieren, die
sagt: Es nützt uns überhaupt nichts, wenn wir den jetzt und in Zukunft getan werden können. Der par-
Parteienstreit über die Frage dieser illegalen teipolitische Streit hat wenig Sinn.
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Fortgesetzte Zurufe von der SPD)
Ausfuhr von Waffen und dieser illegalen Technolo- Jetzt noch einmal zum Thema Golfkrise! Hans-Jo-
gie-Söldner führen. Es nützt uns überhaupt nichts. Es chen Vogel hat dazu gesagt, daß die politische Ver-
wird uns allen gemeinsam angerechnet Herr Gan- nunft eine neue Chance haben müsse.
sel.
(Zuruf von der SPD: Leider ist der Innenmi
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dregger
nister nicht da!)
[CDU/CSU]: Und dem deutschen Volk!)
Ich könnte ja sagen, weil es stimmt, daß die Regierung Für die politische Vernunft brauchen Sie aber einen
des Bundeskanzlers Kohl das Außenwirtschaftsgesetz Partner, und den sehe ich nicht. Im Präsidium der
verschärft hat, daß sie das Kriegswaffengesetz ver- Sozialdemokratischen Partei wurde gesagt, man
schärft hat — es ist schärfer als das seines sozialdemo- müsse einen Waffenstillstand ohne Bedingungen for-
kratischen Vorgängers — , bloß nützt es uns interna- dern.
tional gar nichts, das zu sagen. Ich möchte Sie an Gespräche erinnern, die wir ge-
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) meinsam in Israel geführt haben. Sie waren dabei;
jedermann weiß, welches gemeinsame Gespräch das
Deswegen ist es töricht, wenn Sie solche Ang riffe auf war. Unser israelischer Gesprächspartner wurde ge-
die Bundesregierung richten. fragt: Was passiert bei einem Waffenstillstand, wenn
Im übrigen, ich könnte auch sagen, Herr Gansel, es nicht vorher zu einem Abzug aus Kuwait und zu
daß es zwar keinen Kriegswaffenexport gegeben hat, einer Zerstörung der Angriffsmittel des Irak gekom-
aber im März 1982 zuletzt einen Auftrag in einer Grö- men ist? Ich glaube, auch Ihnen ist bekannt, daß die
ßenordnung von 200 bis 300 Millionen DM für gepan- Scud-Raketen nicht von Kuwait abgeschossen wer-
zerte Fahrzeuge in den Irak. Aber ich sage: Es nützt den, sondern aus dem Irak selbst. Der israelische Ge-
nichts, das zu sagen und zu sagen, das sei unter sozi- sprächspartner hat darauf geantwortet: Wer in dieser
aldemokratischer Verantwortung gemacht worden. Situation einen Waffenstillstand ohne Bedingungen
Es wird uns allen zugerechnet. Deswegen ist es so fordert, der trifft Israel und seine Existenz auf das här-
töricht, wenn Sie den Versuch machen, die Schuld auf teste.
andere abzuschieben. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Dregger
(Beifall bei der CDU/CSU) [CDU/CSU]: So ist es!)
Das nützt auch den Israelis überhaupt nichts, die von Deswegen muß ich Ihren Freunden sagen: Gefor-
den Scud-Raketen bedroht werden. Die fragen sich: dert ist eine konkrete Friedenspolitik. Sie müssen
Was unternimmt dieses deutsche Parlament ganz konkret die Frage beantworten: Wie finden die
(Gansel [SPD]: Das fragen die seit fünf Jah Menschen in den Straßen, in den Wohnungen von Tel
ren!) Aviv wieder ihren Frieden? Nicht durch die Be-
schlüsse Ihres Präsidiums, sondern nur, wenn Sie sich
— ich stelle jetzt gleich zwei Fragen an Sie —, um mit ohne Vorbehalte hinter die internationale Koalition
-
aller Konsequenz dafür zu sorgen, daß in Zukunft die stellen, Herr Gansel.
Schlupflöcher noch enger gemacht werden. Das kann
nicht alles an der Grenze durch Zollbeamte gesche- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr.
hen. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)
Deshalb lautet meine Frage an Sie, Herr Gansel, an Zur Türkei: Hans-Jochen Vogel hat zu Recht An-
die Sozialdemokraten: Sind Sie bereit, durch die Vor- griffe von Özal auf uns zurückgewiesen, die völlig
feldkontrolle, zum Beispiel durch den Einsatz nach- unangemessen waren. Ich muß auch sagen, es hat
richtendienstlicher Mi ttel, gegen diese Leute vorzu- zunächst auf der türkischen Seite osmanische Töne
gehen? Wer den Schaden sieht, der für Deutschland gegeben. Ich bin froh, daß das beseitigt worden ist.
angerichtet wird, darf vor solch konsequenten Maß- Herr Gansel, ich muß Ihnen auch sagen, daß ich bei
nahmen nicht zurückschrecken. den Einlassungen von Ihnen und von Hans-Jochen
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Jens [SPD]: Vogel den Eindruck habe, daß Sie zwar 40 Jahre lang
Sprechen Sie erst einmal mit Ihrem Koali akzeptiert haben, daß die NATO eine Ostgrenze hat
tionspartner darüber! — Schäfer [Offenburg] und wir dort Schutz gefunden haben, aber daß Sie erst
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Rühe
jetzt zu Ihrem Schrecken entdecken, daß die NATO — Beifall von kommunistischer Seite, Herr Bischof
auch eine Südgrenze hat. Forck! —, wenn er wörtlich von der Fahrlässigkeit der
Deswegen sage ich Ihnen: Wenn Sie abschrecken amerikanischen Politik und der UNO spricht, die — so
wollen — eine wesentliche Aufgabe der NATO ist wörtlich — ein Unrecht mit einem noch größeren Un-
natürlich auch die Abschreckung von Gegnern, aus recht beantwortet hat, dann möchte ich Bischof Forck
welcher Himmelsrichtung sie auch immer kom- fragen, ob er vergessen hat, daß es alliierte Soldaten
men — , dann müssen Sie in der jetzigen Situation waren, die die Gewaltherrschaft Hitlers beseitigt ha-
sagen: Ein Angriff auf die Türkei wäre ein Ang riff auf ben, die das Morden in den KZs in Deutschland ge-
dieses Bündnis. stoppt haben und die uns dennoch die Möglichkeit
gegeben haben, wieder ein freies Gemeinwesen auf-
(Beifall bei der CDU/CSU) zubauen.
Dann hat der Außenminister hier zu Recht gesagt,
daß es keinen Automatismus gibt. Das ist natürlich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
richtig; die Bundesregierung ist ja auch kein Automat, Das waren nicht Antikriegsdemonstranten in London,
sondern es gibt die Entscheidung im Bündnis, die Ent- in Paris oder New York oder wo auch immer, sondern
scheidung der Bundesregierung und noch davor eine es waren alliierte Soldaten, die das gemacht haben.
Beratung des Parlaments. Es darf aber kein Zweifel Das sollte man nicht vergessen.
daran entstehen — denn das wäre eine Einladung für
einen Aggressor — , daß, wer die Türkei angreift, das (Dr. B riefs [PDS/Linke Liste]: Einschließlich
Bündnis angreift und damit uns alle miteinander. Das der kommunistischen Roten Armee!)
sollte ein klares Signal sein. — Einschließlich der kommunistischen Roten Armee;
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das ist richtig. Aber das, was die in den nächsten
40 Jahren gemacht haben, das unterscheidet sich
grundlegend von dem, was unsere Alliierten hier im
Vizepräsident Cronenberg: Gestatten Sie eine Zwi- Westen gemacht haben. Unter den Folgen haben wir
schenfrage des Abgeordneten Gansel? ja noch zu leiden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Zuruf von der SPD)
Rühe (CDU/CSU): Er kommt gleich dran.
Jetzt noch ein Wort zu den deutschen Soldaten, die —Ich bedanke mich sehr, daß Sie das ansprechen. Ich
dort sind: Hans-Jochen Vogel — ich habe mir das auf- muß Ihnen sagen, die Deutschen sind nicht feige, wie
geschrieben — hat hier einfach, nüchtern und lieblos das manche behaupten.
erklärt, die Entscheidung sei falsch, unsere Soldaten (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Oh, das sind
jetzt in die Türkei zu schicken, ja böse Töne!)
(Zurufe von der SPD) — Ich weiß nicht, was daran böse ist.
obwohl deutlich geworden ist, daß die Soldaten, die
Sie hassen den Krieg, sie lieben den Frieden, aber
jetzt mit „Roland" oder „Hawk" dorthin gehen, die sie wissen eben auch, daß es wirklichen Frieden nicht
Luftwaffensoldaten schützen sollen, auch die Belgier
ohne Freiheit und Gerechtigkeit gibt. Deswegen bin
und Italiener. Ich muß Ihnen sagen: Wenn der engli-
ich auch überzeugt, daß viele Mitbürger in den neuen
sche Oppositionsführer — Herr Dregger hat das im-
Bundesländern wissen, worum es jetzt geht. Sie haben
mer wieder angesprochen — ganz konkret gesagt hat, sich nämlich 40 Jahre nicht mit dem Frieden, den es ja
unsere Soldaten stärken den Frieden in der Welt, sie
gab, abgefunden. Das war ja Frieden. Aber es war
machen die Welt sicherer, und wir sind stolz auf sie,
Frieden ohne Freiheit und ohne Gerechtigkeit. Das
dann möchte ich nicht aus dieser Debatte herausge-
war der Stacheldrahtfrieden, Herr Modrow, an den ich
hen ohne ein Wort der Zuwendung — auch von seiten Sie gerne einmal erinnern möchte.
der Opposition — an die Soldaten, die jetzt in die Tür-
kei gehen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deswegen bin ich ganz sicher, daß sie uns verstehen
Auch als Opposition schulden Sie das unseren Solda- und daß sie die Auffassung teilen, daß zum Frieden
ten, die dort in unser aller Auftrag tätig sind, um die Freiheit und Gerechtigkeit gehören.
Welt sicherer zu machen. Wir sind stolz auf sie. Im übrigen: In dieser Situation müssen wir die Ver-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einten Nationen doch stärken. Seit 40 Jahren können
Es ist hier über Demonstrationen gesprochen wor- sie erstmals richtig arbeiten, weil der Ost-West-Kon-
den. Es wird gesagt, es sei besser, daß die Deutschen flikt überwunden ist.
für den Frieden demonst rieren und daß es keine Auf- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)
märsche für den Krieg gibt. Das ist eine solche Selbst-
verständlichkeit, daß man sich darüber wirklich nicht Auch hier gibt es einen Zusammenhang mit der deut-
viel unterhalten muß. schen Frage. Wie kann man denn da auf die Idee kom-
men, in einer Situation, in der die Vereinten Nationen
Aber man sollte sich die Demonstration in Bonn eine Autorität haben, wie sie sie 40 Jahre nicht gehabt
schon ein bißchen genauer anschauen. Wenn ein haben, weil es nicht mehr das ständige Njet gibt, die
deutscher Bischof wie Bischof Forck Präsident Bush Vereinten Nationen anzugreifen und zu sagen, sie
und Saddam Hussein gleichsetzt hätten sich noch schlimmer benommen als Saddam
(Zustimmung bei der PDS/Linke Liste) Hussein. Das ist doch geradezu unglaublich. Wir müs-
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Rühe
sen sie nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts Bundeskanzler hier gestern über die zukünftige inter-
doch stärken. nationale Rolle Deutschlands gesagt hat. Wir alle soll-
ten parteiübergreifend versuchen, darauf hinzuwir-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ken, daß wir eine Akzeptanz in unserer Bevölkerung
Hier ist schon zu Recht zurückgewiesen worden, erreichen, daß es eben keine weltpolitische Idylle für
was aus einigen befreundeten Ländern an Kritik ge- uns geben kann, keine Nische in der Weltpolitik. Das
kommen ist. Da ich nächste Woche mit dem Kollegen ist eine Aufgabe, die sich über die Parteien hinweg
Lamers in Pa ris und London sein werde, will ich schon stellt.
jetzt sagen: Es gab einige Leute, die haben im Som-
mer dem Deutschen die Pickelhaube und jetzt die Die Europäische Gemeinschaft — ich bin da etwas
Schlafmütze aufgesetzt. Dann fügen sie noch hinzu: freimütiger in der Analyse, ich bin ja auch etwas freier
Wir haben es ja immer gesagt. Sie merken gar nicht, als Diplomaten — hat in der Krise nicht stattgefunden,
welch inkonsequente Position sie vertreten. Das müs- nur solange verhandelt wurde, und dort auch als Tritt-
sen wir uns nicht gefallen lassen. brettfahrer, wenn ich das etwas undiplomatisch sagen
darf. Ich finde, daß man auch zu kurz sp ringt, wenn
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) man sagt, strukturell hätte die Europäische Gemein-
Aber natürlich müssen wir schon analysieren, schaft Defizite, und sie wäre nicht in der Lage, mit
warum wir in eine relativ schwierige Diskussionslage einer solchen Krise fertigzuwerden.
gekommen sind. Man kann auch nicht so tun, als ob (Roth [SPD]: Das nach acht Jahren Europapo
das alles nur ungerecht wäre, was uns do rt an inter- litik der CDU!)
nationaler Diskussion widerfährt. Richtig ist natürlich,
daß es im letzten Jahr immer nur aufwärts gegangen Wenn wir also nur die richtigen Organisationen schaf-
ist, in Richtung deutscher Einheit, Frieden und Frei- fen, dann werden wir das schon hinkriegen. Ich
heit, so daß wir geglaubt hatten, wir hätten länger glaube, daß man da zu kurz tritt.
Zeit, um das wiede rv ereinigte Deutschland psycholo-
Ich frage mich wirklich, wie man eine europäische
gisch auf die gewachsene weltpolitische Verantwor-
Schicksalsgemeinschaft schaffen will, in der sich alle
tung einzustellen. Und diese Zeit haben wir eben
Welt darum kümmert, eine gemeinsame Währung zu
nicht.
schaffen, und die Erregung ganz hoch ist — schon
Aber ist es nicht auch richtig, daß wir in der Diskus- jetzt beim Europäischen Währungssystem — , wenn
sion hier in Deutschland selektiv an den Beschluß der die Bandbreite der Währung ein bißchen zu sehr
Vereinten Nationen herangegangen sind, daß wir nur schwankt. Aber wenn ich dann sehe, wie die Band-
den Verhandlungsteil betont und die Menschen nicht breite des Empfindens der Menschen oder der Abge-
darauf vorbereitet haben, daß auch der andere Teil ordneten hier in diesem Bundestag im Vergleich zur
dazugehört, notfalls mit dem Mandat und der Autori- Kammer in Paris oder zum Unterhaus in London in
tät der Vereinten Nationen auch Gewalt anzuwenden, einer Schicksalsfrage schwankt, dann sage ich, wir
um die internationale Rechtsordnung wiederherzu- würden zu kurz springen, wir würden zu technokra-
stellen? Ich glaube, daß das zu unseren Schwierigkei- tisch an dieses Europa herangehen, wenn wir nicht
ten beigetragen hat. auch umfassender unseren Beitrag leisten würden,
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr richtig!) und da müssen sich vor allem die Deutschen bewe-
gen.
Es ist ja so, daß Mitterrand hier große Unterstützung
gefunden hat, der bis in die letzte Minute eine Frie- (Beifall bei der CDU/CSU)
densinitiative gestartet hat, und auch noch darüber
Man kann nicht sagen: Ihr müßt eine so stabile
hinaus. Das ist richtig. Aber der Mitterrand, der dann
Währung schaffen, wie wir das wollen, und die Euro-
am nächsten Tage seinen Truppen den Einsatzbefehl
päische Zentralbank muß genauso aussehen wie die
gegeben hat, der hat in der deutschen Politik nicht
Deutsche Bundesbank, und in den anderen Feldern
stattgefunden, jedenfalls nicht lobend.
sagen: wir unterscheiden uns von euch, und das müßt
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord ihr halt zur Kenntnis nehmen.
neten der FDP)
Ich sehe eigentlich nur einen Weg, psychologisch
Deswegen glaube ich, daß, wenn man versucht, zu schneller und besser zusammenzufinden — der Kol-
-
analysieren, wie es aussieht, wir nicht darum herum- lege Lamers hat das schon seit längerem vorgeschla-
kommen, zu sagen, wo auch Schwächen in unserer gen — , daß wir, wenn deutsche Verbände für die Ver-
eigenen Diskussion gelegen haben. einten Nationen tätig werden — ich hoffe, daß es da-
Nach der Wiedervereinigung ist immer wieder ge- für in der Zukunft einen Weg gibt — , man das nicht
sagt worden, die Deutschen würden keine größere rein national macht, sondern wirklich multinationale
Macht haben, sondern größere Verantwortung. Ich Verbände in Europa schafft, daß sich Europäer Schul-
glaube, das Wort „Verantwortung" muß jetzt ausge- ter an Schulter wirk lich diesen Herausforderungen
füllt werden, es darf keine leere Worthülse bleiben. stellen können. Dann wird ein gemeinsames Bewußt-
Verantwortung kann man nicht nur mit Geld wahr- sein — ich glaube, auch hier in Deutschland — wach-
nehmen, das ist überhaupt keine Frage. sen, und dann werden die Debatten im Deutschen
Bundestag vielleicht ähnlich wie die in Pa ris und Lon-
Deutschland — so schrieb vor wenigen Tagen die don verlaufen, und in diese Richtung sollten wir alle
„Financial Times" — ist die stärkste Wirtschaftsmacht miteinander wirken.
in Europa, und es ist auch die größe Demokratie in
Europa. Ich glaube, es war sehr, sehr wichtig, was der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
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Rühe
Gefragt sind jetzt von uns Deutschen Verantwortung, Vizepräsident Cronenberg: Zu einer kurzen Inter-
Eindeutigkeit — das an die Sozialdemokraten — und vention gebe ich das Wort dem Abgeordneten Gan-
Solidarität; gefragt sind vor allem auch Taten. Natür- sel.
lich ist es auch richtig, daß wir schon jetzt über eine
möglichst dauerhafte Friedensordnung im Nahen
Osten nachdenken müssen. Aber zunächst müssen
Gansel (SPD): Herr Präsident! Ein Teil der Rede von
die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, indem
der Aggressor auch militärisch besiegt wird. Herrn Rühe hätte unter der Überschrift „CDU: für
soziale Gerechtigkeit in Saudi-Arabien" stehen kön-
Ich hoffe, daß die Vorbereitungen für den Frieden nen.
mindestens so intensiv bet rieben werden wie die Vor-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber lu
bereitungen, die für den Krieg do rt betrieben worden
stig!)
sind. Simon Perez — Sie sehen, ich zitiere Sozialisten
aus Israel — hat ein gutes Wo rt gefunden: Nach die- Mich hat sehr überrascht, daß Sie erst auf Grund des
sem Krieg können die Reichen nicht einfach wieder in Golf-Krieges feststellen, welche soziale Ungerechtig-
ihre Paläste zurückkehren und die Armen in ihre Hüt- keit dort herrscht, was für ein feudales System das
ten. — Das ist richtig. ist.
(Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der CDU/CSU)
Das gilt für die Reichen in Kuwait und in Saudi-Ara- Ich habe nie gehört, daß das in Ihrer Einschätzung
bien, aber das gilt natürlich auch für diesen superrei- Saudi-Arabiens bisher eine Rolle gespielt hat.
chen Irak. Das ist ja der eigentliche Skandal: nicht (Kittelmann [CDU/CSU]: Mit Ihnen wird die
nur, daß er diese Region mit Krieg überzogen hat und SPD noch ihr Glück machen! — Bohl [CDU/
den Frieden verhindert, sondern auch, daß er Millio- CSU]: Das ist eine gute Wahl für uns, die mit
nen von Menschen gezwungen hat, aufs ärmlichste in Ihnen getroffen wurde!)
den Hütten zu leben, weil der Reichtum, der durch das Nun möchte ich dem Kollegen Möllemann hinsicht-
Öl erarbeitet wurde, in Waffen gegossen worden ist. lich der Beziehungen zu anderen Staaten nicht un-
Das ist doch der Skandal, über den wir alle uns aufre- recht tun; er ist ja Staatsminister im Auswärtigen Amt
gen und für den wir keine Entschuldigung finden soll- gewesen. — Natürlich können wir unsere Beziehun-
ten. gen nicht auf demokratische Staaten beschränken,
(Gansel [SPD]: Wo kommen die Waffen und natürlich haben wir es immer wieder mit Staaten
her?) zu tun, in denen es Menschenrechtsverletzungen gibt;
aber eine Außenpolitik, die auf Menschenrechtsver-
Das muß man doch auch den Demonstranten sagen. letzungen in den Ländern, mit denen sie Beziehungen
(Beifall bei der CDU/CSU) pflegt, nicht reagiert, kann zur Kumpanei werden.
Die zwischen den Staaten bestehenden wirtschaftli- (Bohl [CDU/CSU]: Entsetzlich! — Kittelmann
chen und sozialen Gegensätze müssen abgebaut wer- [CDU/CSU]: Durch Wiederholung werden
den. Im Augenblick ist es angesichts des Fundamen- Sie nicht besser!)
talismus, den es do rt gibt, wie eine Utopie, trotzdem Das ist mein Vorwurf, daß in all den Jahren, in denen
muß man es sagen: Es muß auch wieder einen Dialog zwischen dem Irak und dem Iran ein schrecklicher
zwischen den Religionen und den Kulturen geben. Krieg tobte, in dem der Irak Giftgas einsetzte und die-
Deswegen brauchen wir soziale und wirtschaftliche sen Krieg auf die eigene Bevölkerung, auf die Kurden,
Veränderungen; wir brauchen aber auch den wirkli- ausdehnte, bei allem, was die Bundesregierung im
chen Versuch, end lich eine Sicherheits- und Friedens- wirtschaftlichen und im außenpolitischen Bereich ge-
balance herzustellen. macht hat, wir nie haben feststellen können, daß die
Deswegen möchte ich am Ende noch einmal sagen: Menschenrechtssituation im Irak oder die Völker-
Der Besuch in Israel, den der Außenminister, mein rechtswidrigkeit des Krieges eine Rolle gespielt hat.
Kollege Spranger und ich sowie die Kollegen von der (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/
Opposition durchgeführt haben, war weiß Gott nicht CSU)
einfach für uns. Dem, was wir do rt gesagt haben, müs- Ich sage Ihnen, Herr Möllemann, genau diese Poli-
sen jetzt auch konkrete Taten folgen. Die Scud-Rake-
- tik war eine Form von Appeasement, die Saddam
ten halten Sie nicht auf mit Demonstra tionen hier. Hussein stark gemacht hat, die ihn in die psychische
Wenn man die Scuds mit Demonstrationen aufhalten Verfassung gebracht hat zu glauben, er könne sich
könnte, dann wären schon alle Israelis auf den Stra- alles leisten, auch noch den Überfall auf Kuwait, und
ßen, um gegen die Scuds zu demonst rieren. Sie kön- der Westen würde nicht reagieren. Es bedurfte ja auch
nen sie auch nicht mit Geld aufhalten. mehr als einer Schrecksekunde, bis eine Reaktion
Deswegen sind wir wirklich zu konkreten Schritten kam.
gefordert, wie sie die Bundesregierung vorgeschlagen Ich frage mich manchmal, ob die dann einsetzende
hat. Ich hoffe, daß diese Maßnahmen und auch die Reaktion wirklich so entschlossen gewesen wäre,
Maßnahmen, die zum Schutz unserer Soldaten in der wäre Kuwait nicht ein Land mit soviel 01 gewesen.
Türkei dienen und die signalisieren: „Das ist das
Bündnis, und die Abschreckung wird funktionieren", Ich erinnere mich, Kollege Möllemann, daß, als wir
auch über die Parteien hinweg Zustimmung finden. 1982 über die Frage debattierten, ob der Leo-2-Panzer
nach Saudi-Arabien geschickt werden sollte oder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht — —
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 163

Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter Ich weise das hier auf das Entschiedenste zurück.
Gansel, der Präsident kann — er muß nicht — das Ich halte es für legitim, auch mit solchen Politikern zu
Wort zur Kurzintervention erteilen. sprechen, die eine andere Position einnehmen,
(Gansel [SPD]: Kann ich noch den Satz zu (Gansel [SPD]: Ja!)
Ende bringen?) wenn man dabei für den eigenen Standpunkt wirbt.
Zwei Minuten darf sie aber nicht überschreiten. Ich Das ist so geschehen. So wie ich Ihnen zubillige, daß
wäre dankbar, wenn Sie sich daran hielten. Sie bei Ihren Gesprächen mit kommunistischen
Machthabern gewiß nicht für deren Politik eingetre-
Gansel (SPD): Herr Kollege Möllemann, als wir ten sind, so nehme ich es für mich in Anspruch, daß ich
1982 die Problematik von Panzer-Expo rt en nach bei meinen Gesprächen für eine liberale menschen-
Saudi-Arabien diskutierten — Leo 2 für Saudi-Ara- rechtsorientierte Politik eintrete.
bien — , haben Sie das mit dem Hinweis begründet, Es ist unbestritten richtig — aber ich verbitte mir,
Leo lese sich von rechts nach links: Öl!, und darum daß das in einen bestimmten Zusammenhang ge-
ginge es. Ich sage Ihnen: Wer so argumentiert hat, der bracht wird — , daß ich öffentlich auf einem Landes-
hat jedes Recht verloren, die Schüler, die unter den parteitag meiner eigenen Partei abweichend von der
Plakaten „Kein Blut für Öl" demonstrieren, zu kritisie- Meinung meines damaligen Bundesvorsitzenden,
ren. Hans-Dietrich Genscher, in der Frage des Expo rts
(Beifall bei der SPD) nach Saudi-Arabien dafür plädiert habe — so, wie
damals auch Helmut Schmidt. Ich nehme an, die Ver-
Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter suche, Helmut Schmidt moralisch in eine bestimmte
Gansel, bringen Sie mich nicht in Verlegenheit. ' Ecke zu setzen, die ein anderer in Ihrer Partei schon
exzellent praktiziert hat, werden Sie auf mich nicht
Nun erteile ich dem Abgeordneten Genscher zu ei-
weiter anwenden wollen. Ich verbitte mir das.
ner Kurzintervention das Wo rt.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Genscher (FDP): Herr Abgeordneter Gansel, Sie
sind gut genug informiert, um zu wissen, daß in der Vizepräsident Cronenberg: Nun hat das Wort die
Zeit, in der wir eine gemeinsame Koalition hatten, der Abgeordnete Lederer.
Export von Leopard-Panzern nach Saudi-Arabien an
meinem Widerstand gescheitert ist und nicht an Ihren
Kollegen im Kabinett. Frau Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident!
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren! Zunächst kurz zu dem Hin
Herr Kollege Gansel — — und Her, das gerade an den Mikrophonen ablief. Vor
dem, was da als moralischer Rigorismus bezeichnet
Ich möchte gerne erst dann sprechen, wenn der Kol-
wurde, kann ich nur meinen Respekt bekunden. —
lege Gansel mir seine Aufmerksamkeit schenken
Das vorweg.
kann, auf die ich in diesem Fa ll besonderen Wert lege,
Herr Präsident. Herr Rühe, wenn Sie davon reden, was viele Men-
schen in den neuen Bundesländern wollen, kann ich
Herr Kollege Gansel, Sie wissen auch, daß sich die
Ihnen versichern: Aus meiner Kenntnis sind es Arbeit,
Bundesregierung fast allein geweigert hat, in der Zeit
soziale Sicherung und keine Kriegsbeteiligung.
des Krieges des Irak gegen den Iran den Irak als das
kleinere Übel gegenüber dem Iran zu unterstützen. Frieden um jeden Preis kann und darf es nicht ge-
Das erklärt, daß wir Kriegswaffenexporte in den Irak ben:
nicht genehmigt haben. Es kann keine Rede davon (Feilcke [CDU/CSU]: Um jeden Preis!)
sein, daß unsere Politik den Irak in die Lage versetzt Das war gestern der Regierungserklärung des Herrn
hätte, seine Aggression gegen Kuwait zu begehen Bundeskanzlers zu entnehmen, und das in einer Si-
und andere zu bedrohen. Ich habe mich damals er- tuation, in der der Krieg im Nahen Osten täglich, ja
heblicher internationaler und auch innenpolitischer stündlich eskaliert wird,
Kritik ausgesetzt, als ich als einziger Außenminister
eines westlichen Staates den Irak als den Aggressor (Zuruf von der CDU/CSU: Plustern Sie sich
im Krieg gegen Iran bezeichnet habe. nicht auf!)
- ein Krieg, für den vermutlich bereits Hunderttausende
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
mit ihrem Leben bezahlen mußten,
Vizepräsident Cronenberg: Nun erteile ich dem Ab- (Feilcke [CDU/CSU]: Welcher Fraktion ge
geordneten Möllemann das Wort; denn der Präsident hören Sie an? Können Sie das noch einmal
soll nach einer Kurzintervention dem Angesproche- laut sagen?)
nen die Möglichkeit zur Erwiderung geben. Das in einer Situa tion, in der die aktive Beteiligung der
möchte ich damit tun. Bundeswehr an diesem Krieg immer wahrscheinlicher
wird. Was letzte Woche noch nur zu vermuten war,
Möllemann (FDP): Herr Präsident, der Kollege Gan- wird jetzt Gewißheit: Die entfachte Spekulation um
sel hat soeben den dritten Beleg in Reihe dafür gelie- den möglichen Bündnisfall, die Entsendung bundes-
fert, daß er aus seinem moralischen Rigorismus das deutscher Waffen und Soldaten in einen multinationa-
Recht ableitet, andere, die anderer Meinung sind, in len Krieg soll als Wahrnehmung deutscher Verant-
eine bestimmte Ecke zu drängen. Er hat das mit dem wortung gerechtfertigt werden. In der Tat, es gibt eine
Begriff „Kumpanei" versucht. besondere deutsche Verantwortung. Diese besteht
164 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Lederer
allerdings ausschließlich in der Pflicht, alles für ein Menschen haben nämlich offensichtlich die Realität
sofortiges Ende dieses Krieges zu tun, erkannt. Sie lassen sich auch nicht von diffamatori
schen Unterstellungen beirren, wonach sie mit Nus-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
sein paktierten oder etwa die Angriffe gegen Israel
jede militärische Unterstützung sofort einzustellen — die scharf zu verurteilen sind — rechtfertigten. Es
und die Bündnispartner unter Druck zu setzen, damit war beispielsweise gerade die Friedensbewegung,
diese Katastrophe ein Ende findet. die schon seit Jahren keinen Zweifel an ihrer Ableh-
Statt dessen beteiligt sich die Bundesrepublik mit nung des irakischen Regimes und seiner Völker-
weit mehr als 15 Milliarden DM am Krieg gegen den rechtsverletzungen gelassen hat.
Irak. Die Präsenz deutscher Truppen in einem multi- Herr Präsident, meine Damen und Herren, wenn Sie
nationalen Krieg soll offenbar anerkennenswert sein. meinen, mit dem Schlagwort vom Antiamerikanis-
Deutsche Rüstungsgüter werden entgegen dem ein- mus die Antikriegsaktionen diskreditieren zu können,
deutigen Verbot nicht nur in Spannungs-, sondern in dann lassen Sie sich gesagt sein: Soweit Sie unter
Kriegsgebiete exportiert. Da reibt sich die Rüstungs- Amerikanismus die Politik des Pentagon verstehen,
industrie die Hände. Die Aktien steigen, wie wir kann ich mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus gut
wahrnehmen konnten. Gegen im Irak stationierte und leben. Denn diese Politik bedeutet jedenfalls zur Zeit
von deutschen Firmen gelieferte oder modernisierte offensichtlich blutigen Krieg. Gegen die Bevölkerung
Waffen sollen ebenfalls deutsche Waffen in der Türkei der USA richtete sich die Friedensbewegung zu kei-
zum Einsatz kommen. Für dieses Geschäft mit dem nem Zeitpunkt, sondern immer gegen die Feldherrn,
Tod soll, wie gestern dankenswert offen angekündigt die jetzt beispielsweise die berüchtigten B-52-Bomber
wurde, die Bevölkerung in der Bundesrepublik hö- gegen die irakische Zivilbevölkerung einsetzen.
here Steuern zahlen. Ich scheue mich nicht davor, zu
Das Argument, die Bundesrepublik müsse ihre Son-
benennen, was außerhalb dieses Parlaments wahrge-
derrolle vor dem Hintergrund der deutschen Einheit
nommen wird, was diese Steuern bedeuten: Es han-
und einer damit gewachsenen außenpolitischen Ver-
delt sich um eine Kriegssteuer.
antwortung aufgeben, zieht nicht; denn wenn Mitma-
(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke chen Kriegführen bedeutet und das Eintreten für eine
Liste — Bohl [CDU/CSU]: Reden Sie nicht sofortige Beendigung des Krieges und eine friedliche
solch einen Unsinn! Reden Sie mal vom Blut innerarabische Lösung eine Sonderrolle begründen
am Stacheldraht!) soll, dann sehen wir die Bundesrepublik allerdings
gerne in einer solchen Sonderrolle.
In einer Situation, in der sich auf dem internationa-
len Parkett niemand mehr dem US-amerikanischen Welche Logik in solchen militärischen Einsätzen
Präsidenten Bush entgegenstellt, solidarisieren jeden- liegt, zeigt sich ganz konkret an der Verlegung von
falls wir, die Fraktion der PDS/Linke Liste, uns mit Bundeswehreinheiten in die Türkei. Da sind erst Mi-
denen, die den Kriegsdienst verweigern und sich ge- nensuchboote im Mittelmeer, dann sind es deutsche
gen Waffenexporte und -transporte engagieren. Teile der AMF-Truppe, die Alpha-Jets, die in die Tür-
kei verlegt werden. Jetzt werden — angeblich zum
Präsident Bush hat in seiner Erklärung zur Lage der
Schutz dieser Jets und ihrer Piloten — weitere Waffen
Nation gesagt, worum es geht. Makaber genug be-
und Soldaten in die Türkei, aber nicht einmal nur nach
zeichnet er den Krieg als Chance, die Grundlagen
Erhac, sondern an einen weiteren türkischen Ort ver-
einer neuen Weltordnung zu schaffen, wobei selbst-
legt.
redend die Führung der USA in dieser neuen Weltord-
nung unverzichtbar sei. Für eben diese führende Rolle Am Ende dieses Eroberungskrieges wird sich der
der USA und ihrer westlichen Verbündeten wird die- NATO-Einflußbereich auf die Golfregion ausgeweitet
ser Krieg gegen den Irak geführt. haben.
„Kein Blut für Öl! " — das sage ich insbesondere zu Wenn Sie, die Kolleginnen und Kollegen von der
Herrn Dregger — ist noch immer die Parole, die das SPD, inzwischen die Verlegung der Alpha-Jets für
eigentliche Interesse treffend beschreibt, aus dem eine politische Fehlentscheidung halten, können doch
heraus dieser Krieg geführt wird. nicht etwa weitere Waffenlieferungen diese Fehler
korrigieren. Konsequenz muß also dann auch für Sie
(Feilcke [CDU/CSU]: Unerhört! Es geht um sein, daß alles, was an militärischem Mate ri al bis jetzt
Menschenrechte!)
- in die Türkei verbracht worden ist, wieder zurückbe-
Es geht hierbei nicht um die Durchsetzung des Völ- ordert wird. Ringen Sie sich bitte deshalb endlich auch
kerrechts. Wo waren denn die empörten Aufschreie, zu dieser Forderung, die wir bereits in einem Ent-
als die irakische Führung Tausende Kurden mit deut- schließungsantrag formuliert haben, durch!
schem Giftgas ermorden ließ,
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
(Zuruf von der CDU/CSU: Habt ihr die Iraker
In diesem Kontext ist die entstandene Diskussion
Gaskrieg üben lassen auf euren Übungsplät um eine Grundgesetzänderung fatal, die den Einsatz
zen?)
bundesdeutscher Soldaten außerhalb des NATO-Ge-
und wo waren die Rufe nach Embargos gegen die bietes ermöglichen soll. Manche von den Damen und
USA, als diese Vietnam zerbombten, Grenada und Herren der SPD-Fraktion haben ihre Bereitschaft zu
Panama überfielen? Da haben es die Menschen, die einer solchen Änderung signalisiert, wenn damit Bun-
gegen diesen Krieg am Golf auf die Straße gehen, deswehr im UNO-Rahmen zum Einsatz kommt. Aber
nicht nötig, sich von dem Herrn Bundeskanzler als auch was das bedeutet, bekommen wir heute täglich
lautstarke Minderheit diffamieren zu lassen. Diese vor Augen geführt: Vor dem Hintergrund der deut-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 165
Frau Lederer
schen Einheit ist eine Grundgesetzänderung auch in Roth (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Her-
dieser Richtung keinesfalls Ausdruck besonderer Ver- ren! Ich hätte mich ganz gern mit dem Wirtschaftsmi-
antwortung. Wir lehnen jeglichen Einsatz von Bun- nister unterhalten; vielleicht kommt er ja noch.
deswehr ab. Wir werden uns mit allen Mitteln gegen (Zurufe)
eine solche Grundgesetzänderung zur Wehr setzen,
jeden und jede respektieren, die sich diesem Ansin- — Ich finde, Zwischenrufe sind da nicht am Platze. —
nen widersetzen. Übrigens steht hier: 9 Minuten Redezeit. Das ist völlig
falsch.
Schließen Sie sich der Forderung nach einer sofor-
tigen Beendigung dieses Krieges an, damit überhaupt
die Voraussetzungen, damit überhaupt ein Spielraum
geschaffen wird, der eine f riedliche Lösung möglich Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter,
macht und nicht nur eine Pause; denn „Pause" impli- nun warten Sie einmal ab! Das wird eingestellt, und
ziert begrifflich, daß sie irgendwann vorbei ist. Das das wird auch korrekt eingestellt. Vertrauen Sie auf
würde dann bedeuten: Der Krieg geht weiter. Es muß die Objektivität derjenigen, die einstellen! — Nun
aber um eine Beendigung dieses Krieges gehen. haben Sie das Wo rt .
Nach dem Ende des Kalten Krieges kann nur die voll-
ständige Entmilitarisierung die Antwort sein.
Wir machen kein Hehl daraus: So begrüßenswert Roth (SPD): Meine altmodische Vorstellung von De-
eine Verankerung des Verbotes des Rüstungsexportes batte ist die, daß ein Minister dann, wenn er geredet
im Grundgesetz ist, so begrüßenswert auch ein Unter- hat, wenigstens noch den Oppositionssprecher zu die-
suchungsausschuß ist, wie er gestern beantragt wor- sem Thema anhört.
den ist: Diese Debatte genügt nicht, diese Maßnah- (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
men genügen nicht, weil sie sich nur auf illegale
Rüstungsexporte konzentrieren. Das kann einfach Dehalb werde ich, solange er nicht anwensend ist,
nicht ausreichen. Es kann nicht nur um illegale Rü- (Zuruf von der CDU/CSU: Schweigen!)
stungsexporte gehen, die zu unterbinden sind, son- ein paar Worte zu Herrn Rühe sagen.
dern Rüstungsexporte müssen generell verboten wer-
den als ein Anfang zur Beendigung von Rüstungspro- Meine Damen und Herren, wie Herr Rühe die De-
duktion und mit dem Ziel der Konversion auf friedli- monstration vom vergangenen Wochenende behan-
che Produktion. delt hat, ist absolut unangemessen.

(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke (Beifall des Abg. Dr. Vogel [SPD])
Liste) Die Behauptung, diese jungen Leute, die da demon-
striert haben, seien in ihrer Versammlung antiameri-
Auch die Rüstungsexporte in die Türkei und nach
kanisch gewesen, ist eine böse, eine böswillige Unter-
Israel werden keinen Krieg beenden, geschweige
stellung.
denn auch nur ein einziges Problem in dieser Region
lösen, und zwar auch nicht die Bedrohung Israels (Beifall bei der SPD)
durch die scharf zu verurteilenden Ang riffe des Irak. Ich schildere einmal — vielleicht ist das eine ganz
Schutz und Sicherheit für Israel kann die Bundesre- lebendige Darstellung — , das wir, meine Tochter mit
gierung nur dadurch schaffen, daß sie sich bei ihrem ihren 18 Jahren, die an der Demonstration teilgenom-
Bündnispartner Bush für eine sofortige und bedin- men hat, und ich, diskutiert haben, über verschiedene
gungslose Beendigung des Krieges einsetzt. Transparente usw. Sie hat gesagt: Wir haben demon-
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Israels Tod! striert in Richtung auf die Vereinigten Staaten von
Das ist doch Quatsch!) Amerika.
Die Gefahr einer Einbeziehung Israels in den Krieg (Minister Möllemann tritt demonstrativ vor
war den USA bei ihrer Entscheidung, am 16. Januar das Rednerpult — Heiterkeit und Beifall)
den Krieg zu beginnen, bewußt. — Herr Minister, Sie können nicht wissen, daß das
Fernsehen nicht mehr da ist. Der Gag kommt gar nicht
(Zurufe von der CDU/CSU: Den Krieg hat
mehr in die Medien.
Hussein begonnen! — Damit geben Sie Sad
-
dam Hussein recht! — Sie wollen freie Hand (Minister Möllemann: Ich wollte Ihnen nur
für einen Mörder!) sagen, daß ich da bin! — Feilcke [CDU/CSU]:
Aber ins Protokoll kommt es auf diese
Heute wird ganz deutlich: Die Mitgliedschaft in der Weise!)
NATO führt in den Krieg. Die Fraktion der PDS/Linke
Liste fordert daher den Austritt der BRD aus der — Danke. Aber ich freue mich, daß Sie jetzt da
NATO als ersten Schritt zu deren Auflösung und die sind.
Abschaffung der Wehrpflicht. Meine Tochter hat also gesagt: Wir wenden uns an
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) die amerikanische Politik, den Kongreß, den Senat
und das Repräsentantenhaus. Wir haben gesehen,
daß dort von 100 Senatoren etwa 47 unserer Meinung
waren und gegen den jetzigen Krieg gestimmt haben.
— Sie hat weiter gesagt: Mir ist völlig klar, daß der
Vizepräsident Cronenberg: Nun hat der Abgeord- Diktator seine Politik nicht verändern wird, aber ich
nete Roth das Wort. bin der Auffassung, daß nur ein verbranntes Land,
166 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Roth
eine verbrannte Region übrigbleibt, wenn wir nicht sondern daß es die Empfindungen der jungen Men-
unsere Stimme gegen diesen Krieg erheben. schen sind.
(Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Li (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
ste) der PDS/Linke Liste)
Jetzt sage ich aus meiner eigenen Erfahrung etwas Ein Wort zu Ihnen, Minister Möllemann, bezogen
dazu. Es ist ja nicht so, daß ich nicht demonstrations- auf die Waffenexporte. Erster Punkt: Ich bin froh, daß
erfahren wäre. Ich bin stolz darauf, daß ich in den Sie bei den zehn Punkten in etwa acht Punkten in
Jahren 1965/66 und folgende gegen den Vietnam- unsere Vorschläge eingeschwenkt sind. Wir haben
krieg demonstriert habe. Ich bin froh darüber, daß der noch mehr Vorschläge zu machen. Wir werden entwe-
ein Ende gefunden hat. der einen eigenen Gesetzentwurf oder eine Ergän-
zung zu Ihren Vorschlägen bringen; das ist auch in
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste Ordnung. Es wird dann im Wirtschaftsausschuß und
sowie des Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/ im Parlament darüber lebhafte Auseinandersetzun-
GRÜNE]) gen geben.
Ich muß hinzufügen — deshalb bin ich auch gegen Nur, eines kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Möl-
diesen Krieg im Nahen Osten — : Ich habe beim Viet- lemann. Ich sage noch einmal den Satz, auf den Gan-
namkrieg gelernt, Jahr für Jahr — ich war ursprüng- sel rekruriert hat. Sie haben im Juni 1982, als es die
lich ein Bewunderer nicht zuletzt von John F. Ken- Auseinandersetzung über das Thema Leopard II für
nedy und anderen seiner Administration — , daß die- Saudi-Arabien gab, folgenden Satz geschrieben
ser Krieg eine verbrannte, moralisch, sozial, wirt- — ich habe die Presseerklärung in meinem Büro;
schaftlich, politisch verbrannte Region hinterließ, die wörtliches Zitat — :
sich bis heute noch nicht erholt hat. Meine große Leo — das lautet von rechts nach links gelesen
Angst ist die: Im Nahen Osten wird eine verbrannte, Oel.
zerstörte Region übrigbleiben, die nichts von den Genau dieser Zynismus beim Waffengeschäft ist der
Kriegszielen erreicht, die jetzt bekundet werden. — Krebsschaden der Versäumnisse der letzten Jahre ur-
Deshalb bin ich an der Seite der Demonstranten. sächlich gewesen — genau dieser Zynismus!
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und (Beifall bei der SPD)
dem Bündnis 90/GRÜNE)
Daß wir alle uns in dieser Frage nicht Leichttun, das
Noch ein Wort dazu, was die moralische Verantwor- sieht man; ich bin da kein Pharisäer. Obgleich wir in
tung anbetrifft. — Es zeichnet unsere parlamenta- der SPD-Fraktion den Grundsatz haben, außerhalb
risch-politische Demokratie ja gerade aus, daß wir des Bündnisses nicht zu liefern, entscheiden wir uns in
nicht nur in diesem Saal hier reden, sondern auch in dieser bedrohlichen Situation jetzt dafür, Sie darin zu
vielfältiger Weise unterstützt werden durch die Bür- unterstützen, daß Abwehrwaffen nach Israel geliefert
gerinnen und Bürger mit ihren Argumenten, mit ihren werden dürfen. Das zeigt das Dilemma, in dem wir in
Aktionen, mit ihren Hinweisen. Herr Rühe, ich bin kritischen schwerwiegenden Fragen stehen. Das gilt
nicht gerade abonniert auf Beschimpfungen oder ne- aber nicht für die Frage, daß man im reichsten Export-
gative Bewe rtungen — ich tue das selten in diesem land der Welt gerade mit diesen Waffen Geschäfte
Hause —, machen muß. Das ist der Punkt, und genau bei diesem
Punkt haben Sie nach meiner Auffassung damals der
(Zuruf von der FDP: Das stimmt!) Moral einen großen Schaden zugefügt. Dieser Zynis-
aber ich muß sagen: Die Art und Weise, die Arroganz, mus hat lange fortgewirkt.
mit der Sie über die jungen Leute gesprochen haben, (Beifall bei der SPD)
die macht mich in der Tat atemlos. Man müßte doch
darüber nachdenken, warum sich 200 000 ganz Junge
plötzlich in dieser Weise mobilisieren und über Zu- Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter
kunft nachdenken. Roth, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten
Möllemann zu beantworten?
Meine größte Angst, meine Damen und Herren von
der Koalition, ist die, daß wir zwei, drei, vier Genera-
tionen in den arabischen Ländern bekommen, die in Roth (SPD): Ja, natürlich.
-
voller Konfrontation, in voller Leidenschaft gegen das,
was sie „Westen" nennen, aufwachsen. Das ist viel-
leicht die bitterste Folge dieses Krieges. Vizepräsident Cronenberg: Bitte sehr, Herr Abge-
ordneter Möllemann.
Die junge Generation denkt darüber nach und hat
Ängste; sie redet miteinander in den Schulen über
diese Ängste. In manchen Schulen in der Bundesrepu- Möllemann (FDP): Herr Kollege Roth, könnten Sie
blik Deutschland war tagelang kein Unterricht mehr sich vorstellen, daß das Motiv Helmut Schmidts, in die
möglich, weil die 17-, 18-, 19jährigen so bewegt wa- Koalitionsverhandlungen 1980 — an dieser Sitzung
ren. war ich beteiligt — den Vorschlag einzubringen, den
Leopard an Saudi-Arabien zu liefern, mit der strategi-
(Zuruf von der CDU/CSU: Und die Lehrer!)
schen Rolle dieses Landes im Zusammenhang mit der
— So ist Ihr Menschenbild! Wenn Sie mit 17-, 18jäh Energieversorgung begründet war? Oder könnten Sie
rigen einmal diskutieren würden, dann wüßten Sie, mir erklären, welche andere als genau jene Begrün-
daß es sich nicht um manipulierende Lehrer handelt, dung Helmut Schmidt gehabt haben könnte?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 167

Roth (SPD) : Es geht hier darum, daß wir damals in Nun hätte ich allerdings erwartet, daß in dieser
unserer Fraktion — auch das gehört zur Wahrheit — Koalitionsvereinbarung und in der Regierungserklä-
über diese Frage schwer gerungen haben und mit rung ganz konkret gesagt wird, wie es für die sich in
überwältigender Mehrheit im Juni 1982 nein zum einer wirklichen Krisenspirale befindenden Regionen
Leopard II gesagt haben. der neuen Bundesländer industriepolitisch weiterge-
hen soll. In welchen Punkten? Nur ein Fall: Wenn ich
(Glos [CDU/CSU]: Wie war denn Ihre Posi höre, daß das auf dem Gebiet der früheren DDR ange-
tion damals?) siedelte viel gerühmte Industrieunternehmen Carl
Das zeigt, daß es auch bei uns Diskussionen gegeben Zeiss, Jena, von 29 000 Beschäftigten 19 000 entlassen
hat. Aber wir haben uns zuletzt richtig entschieden. muß und nur 10 000 übrig bleiben, dann bedeutet das,
daß der beste Teil der früheren DDR-Wirtschaft in die-
Übrigens erinnere ich mich lebhaft an die Diskus-
ser Weltwirtschaft überhaupt nicht überlebensfähig
sionsbeiträge von Helmut Schmidt. Daß Helmut ist. Nun ist das so. Man kann nicht auf der einen Seite
Schmidt aus regionaler Sicht, aus energiepolitischer ja sagen zur Weltwirtschaft und sich auf der anderen
Sicht und auf Grund vieler anderer Faktoren sich eine
Seite anschließend aber wundern, wenn man nicht
andere Entscheidung vorstellte, als sie die SPD-Bun- wettbewerbsfähig ist. Meine Damen und Herren, wir
destagsfraktion letztlich getroffen hat, ist zutreffend.
haben auch im Westen nach der Währungsreform in
Ich erinnere mich an die Ausführungen von Schmidt.
den Jahren 1948/49 eine handfeste Industriepolitik
Sie waren nicht von diesem Zynismus geprägt, man
betrieb en, um derartige selbstzerstörerische Prozesse
müsse „Oel" von rechts lesen, dann komme „Leo" aufzufangen, die im marktwirtschaftlichen Wettbe-
heraus. Vielmehr hat er sich diese Entscheidung weiß
werb — insbesondere dann, wenn er international
Gott schwer gemacht, und er hat sie nach der lebhaf- ist — durchaus vorkommen können.
ten Auseinandersetzung in unserer Partei auch korri-
giert. Ich nenne jetzt nur ein einfaches Beispiel, um ein-
mal diesen Punkt verständlich zu machen. Die Region
Meine Damen und Herren, ich wollte mich vor allem
Braunschweig/Wolfsburg östlich von Hannover hätte
— das wird jetzt in dem beabsichtigten Umfang aber nie eine Erholungsphase bekommen, wenn der Staat
nicht mehr möglich sein — mit den neuen Bundeslän- damals nicht gesagt hätte: Wir finanzieren und akti-
dern und der wirtschaftlichen Entwicklung dort aus- vieren VW in Wolfsburg und die Firma Salzgitter in
einandersetzen. Mich hat schon bewegt, wie unser Salzgitter durch staatliche industriepolitische Maß-
früherer verehrter Kollege Biedenkopf, der jetzt Mini- nahmen. Das ist übrigens durch Ludwig Erhard ge-
sterpräsident von Sachsen ist, und unser früherer Kol- schehen; um daran einmal zu erinnern. Ludwig Er-
lege Kühbacher, der jetzt Finanzminister von Bran- hard hat damit auch die Idee verbunden, daß sich der
denburg ist, die Lage auf dem Gebiet der neuen Bun- Staat schrittweise zurückzieht, wenn sich eine markt-
desländer dargestellt haben. wirtschaftliche Belebung dieser Region ergibt. Das ist
Meine Damen und Herren, jetzt hilft es nichts mehr, geschehen. Das Dreieck Hannover, Salzgitter, Wolfs-
wenn wir sagen: Was dort ist, ist das Ergebnis von burg ist heute keine Armutsregion mehr. VW wurde
45 Jahren Mißwirtschaft. Das stimmt auch. Jetzt aber privatisiert; im letzten Schritt noch Teile von Salzgit-
sind wir gefordert. ter. Meine Damen und Herren, warum gönnen Sie
diese industriepolitische Strategie eigentlich den
Wie haben Sie im letzten Jahr hier in diesem Hause
neuen Bundesländern nicht? Warum diese chaotische
noch von einem an der Schwelle stehenden Wirt-
Entscheidungssituation in der Treuhand? Die Treu-
schaftswunder geredet? Sie haben gesagt, noch im
hand ist ein großer Klotz.
Jahre 1990 gebe es einen Umschwung. Man müsse
nur die D-Mark bringen, und dann sei ein wirtschaft- Schlau ist er ja, der Bundeskanzler. An die Spitze
liches Aufleben auf dem Gebiet der neuen Bundeslän- hat er einen Sozialdemokraten gesetzt in der Hoff-
der schnell zu erwarten. So haben Sie geredet. Ich nung, dann könnten wir ihn nicht kritisieren. Mir geht
habe andere Reden gehalten. Ich habe gesagt: Ich es nicht um Rohwedder; mir geht es darum, daß man
halte es für unvermeidlich, daß wir die Währungs- mit diesem Körper nicht einmal einen mittelständi-
union durchführen. Darüber gab es bei uns ja eine schen Bet rieb leiten könnte. Dieses Versäumnis ha-
Diskussion. Für mich war klar: Ohne harte Währung ben Sie zu verantworten, seit dem letzten Jahr.
gibt es dort überhaupt keinen Start. Mir war aber auch
(Beifall bei der SPD)
sehr bewußt, daß diese Maßnahme für die damalige
-
DDR-Industri e einen Streß mit sich bringen wird, der Oder nehmen wir die Frage des Bodenrechts und
eine ganz entschlossene und entschiedene Industrie- des Eigentumsrechts. Es ist ja auch seltsam, daß zu
und Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer einem Sozialdemokraten, zu mir da oben im Büro,
verlangt. viele Industrielle kommen und fragen: Können Sie
uns nicht helfen und nicht ein gutes Wort bei Rohwed-
Daraufhin hat der damalige Wirtschaftsminister der und anderen einlegen? Wir kommen nicht zu-
Haussmann, der ja zum Teil auch deshalb jetzt nicht
recht. Wir haben etwas vor, und wir kommen nicht an
mehr auf seinem Posten sitzt, gesagt, das sei die Aus- geschlossene Industriegrundstücke.
sage von Kassandra, das sei Schlechtmachen, das sei
Runtermachen. Wenn nur einmal die Unternehmer Ich habe Sie letztes Jahr bei der Debatte über den
aus dem Westen hineinfahren könnten, dann würde Staatsvertrag gewarnt. Ich habe nämlich einmal in
sich das schnell bewegen. — Die Wahrheit ist: Wir Berlin eine Erfahrung gemacht; diese ist ganz schlicht.
haben recht behalten. Ich muß ehrlich sagen: Ich bin Das Haus, in dem ich wohnte, hatte auf Grund von
traurig, daß ich recht behalten habe. Es wäre viel Erbfällen vier Eigentümer. Ein Eigentümer war in Tel
schöner, wenn es anders gekommen wäre. Aviv, ein anderer Eigentümer — es war eine jüdische
168 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Roth
Familie — war in Südamerika, ein dritter war in New gen, neu nachdzudenken, ob eine Neuinvestition
York und ein vierter in London. Die Eigentumsver- nicht im Osten gewagt wird. Würde er es nicht tun,
hältnisse waren ungeklärt. Das Haus, ein herrliches müßte er hier mehr Steuern zahlen.
Gründerzeithaus, eigentlich ein Baudenkmal, ist ver- (Beifall bei der SPD)
kommen, weil sich die vier nie über Investitionen und
Entscheidungen einigen konnten. Sie haben eine der- Zweitens habe ich vorgeschlagen eine pauschale
artige Situation im Staatsvertrag geradezu festge- Investitionszulage von 25 % ohne Versteuerung zu
schrieben. geben — Sie besteuern ja immer noch die I-Zulage —
und, wenn das nicht ausreicht, noch etwas dazuzuge-
Wir mußten für bessere Lösungen für die neuen ben. Sie machen hier Rechentricks. Es ist nicht viel
Bundesländer kämpfen. Herr Krause hat unter dem mehr als im Westen. Meine Meinung ist, Sie müssen
Einfluß von Herrn Kinkel an dieser Stelle die Ideologie an dieser Stelle umdenken, und zwar auch im Inter-
des Liberalismus umgesetzt. Er war in der Auseinan- esse der westdeutschen Bevölkerung.
dersetzung nicht wirklich an unserer Seite. Wir haben
dann letztlich einen Kompromiß akzeptiert, damit es
überhaupt fertig wurde. Aber es hat nicht funktioniert. Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter
Dafür gibt es Beispiele. Roth, dies veranlaßt den Grafen Lambsdorff, eine
Frage zu stellen, die Sie sicherlich beantworten wer-
Ein schlimmes Beispiel ist, daß Sie die Gemeinden den.
auf dem Gebiet der neuen Bundesländer so schlecht (Roth [SPD]: Ihre Prognosen waren immer
ausstatten; Kühbacher hat es gesagt. Ich meine, jeder- richtig!)
mann von uns weiß, daß die Infrastruktur und die Lei-
stungsfähigkeit der Gemeinde die wichtigste Voraus- Graf Lambsdorff!
setzung ist, wenn man Mittelstand will. In welcher
komischen Welt lebe ich zur Zeit? Dr. Graf Lambsdorff (FDP): So schwierig ist die Pro-
gnosetätigkeit in diesem Fall nicht, Herr Kollege
Da treten auf Verbandskongressen in allen mögli-
Roth.
chen Bereichen, im Metallbereich und im Chemiebe-
reich, Geschäftsführer als Redner auf das Podium und Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir
erklären, das schlimmste Investitionshemmnis auf über die steuerfreie I-Zulage aus meiner Sicht gern
dem Gebiet der neuen Bundesländer sei, daß die Ver- miteinander sprechen können — das ist nur eine
waltung nicht funktioniere. Na, vor Tische haben wir Frage, wie das vom Finanzaufkommen her gesehen
es anders gehört. Vor Tische haben wir gehört, daß wir werden kann — , daß ich aber erhebliche Bedenken
viel zuviel Staat haben. Jetzt sagen sie: Uns fehlt der habe, eine Sonderabschreibung, gar eine volle Ab-
Staat mit seiner ordnenden Macht. Das Geheimnis der schreibung auf Investitionen in den fünf neuen Bun-
westdeutschen Sozialen Marktwirtschaft war ja im- desländern in den Bilanzen der westdeutschen Fir-
mer, daß staatliche Leistungsfähigkeit, schnelle Ent- men zuzulassen? Das, Herr Roth, würde dazu führen,
scheidungen der öffentlichen Verwaltung und auch daß Sie westdeutschen Investoren einen totalen Wett-
Voraussetzungen der öffentlichen Verwaltung für pri- bewerbsvorteil im Vergleich zu japanischen, belgi-
vate Investitionen, für den marktwirtschaftlichen Pro- schen oder englischen Investoren einräumen würden.
zeß gegeben waren. Aber diese Bundesregierung hat Dies hielte ich allerdings für falsch.
sich aus irgendwelchen ideologischen Gesichtspunk-
ten heraus gar nicht dazu bereit gefunden, das Fun- Roth (SPD): Verehrter Graf Lambsdorff! Es gibt auf
dament der öffentlichen Verwaltung und der Einzel- der Welt einige Steuersysteme mit Sofortabschrei-
entscheidung für Investoren, nämlich die Gemeinden, bungen. Dort ist dasselbe Problem vorhanden. Ich
so auszustatten, daß es funktioniert. würde das aber nicht auf Dauer machen. Ich würde
Meine Damen und Herren, ich komme noch einmal das zeitlich befristen, auf vier, fünf Jahre. Das ist eine
zu meiner Aussage — dazu stehe ich auch — : Natür- Situation, die mit der aller anderen Länder unver-
lich war das Ergebnis der letzten 45 Jahre verheerend. gleichbar ist, daß nämlich eine Region in eine andere
Niemand von Ihnen hat zu verantworten, daß Zeiss Region integriert wird, die 40 % der Produktivität und
(Jena) so viel schlechter ist als Zeiss (Oberkochen). der Leistungsfähigkeit der anderen Region hat. Meine
Das ist völlig richtig. Aber darüber hatten wir uns ver- Damen und Herren, das bedeutet doch, wenn ich
ständigt. Statt daß Sie jetzt Förderungsvorsprünge für nicht mit drastischen Instrumenten herangehe, daß
-
die neuen Bundesländer schaffen, die einen west- die Leute abwandern. Ihr Gerede von den niedrigen
deutschen Unternehmer geradezu zwingen, im Osten Löhnen ist doch die beste Droge zum Abwandern. Die
zu investieren, haben Sie eine minimale Differenz sagen sich: Auch in einigen Jahren verdiene ich noch
zwischen dem Zonenrand und anderen regional be- so viel weniger für dieselbe Leistung.
nachteiligten Gebieten im Westen und den neuen Im Nordschwarzwald, woher ich komme, gibt es zur
Bundesländern. Zeit keinen Arbeitskräftebedarf mehr im Gastrono-
miegewerbe. Vor zwei, drei Jahren konnten sie kaum
(Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Das stimmt offenhalten, weil sie keine Leute fanden. Woher kom-
doch gar nicht! — Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: men sie jetzt? Alle sprechen entweder thüringisch
Herr Roth!) oder sächsisch oder, noch schöner, sie sprechen wie
— Graf Lambsdorff, ich habe vorgeschlagen — dazu die von der Küste. Als Schwabe darf ich „noch schö-
stehe ich — , erstens eine Sofortabschreibung in den ner" sagen.
neuen Bundesländern zuzulassen. Dann wäre jeder Die ganze Philosophie, daß wir dort nicht so hand-
Finanzchef in jedem Industrieunternehmen gezwun fest mit Förderungsmaßnahmen herangehen dürften,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 169
Roth
geht doch an der Wirklichkeit vorbei. Die Menschen schon diskutiert worden sind. Zweiter Schwerpunkt:
sind mobil. Sie, Graf, sind ja auch einer: Vor drei, vier Fragestellung, inwieweit die Aufbauprozesse zu orga-
Jahren haben Sie immer gesagt, daß die von der Küste nisieren sind. Dritter Schwerpunkt: zur Verkehrspoli-
in den Süden ziehen und mobil werden sollten. Jetzt tik.
haben wir Mobilität, und jetzt wundern Sie sich über
Zum ersten. Herr Kühbacher, Sie haben mich auf-
die Mobilität. Wir wollen keine Mobilität, sondern wir
gefordert, Platz zu nehmen, um meiner Aufgabe nach-
wollen Menschen, die in ihrer Heimat Arbeit und
zukommen. Ich habe die Aufgabe aber bereits mitge-
Lohn sowie gute soziale Verhältnisse finden. Das ist
bracht: in Sachen ÖPNV. Ich zitiere nur den Eini-
die Aufgabe der Bundesregierung und der Opposi-
tion. gungsvertrag und würde das Land Brandenburg bit-
ten, nach dem Einigungsvertrag zu verfahren. Dann
(Beifall bei der SPD — Abg. Dr. Graf Lambs hätten Sie einige Probleme weniger. Beispielsweise
dorff [FDP] meldet sich zu einer weiteren ist in Art. 15 Abs. 3 geregelt, daß in allen Fällen, wo
Zwischenfrage) Sie selbst nicht in der Lage sind, die Verwaltungslei-
stungen im Land zu realisieren, die Verwaltungslei-
Vizepräsident Cronenberg: Graf Lambsdorff, das stungen durch den Bund übernommen werden. Mit
Ende der Rede bestimmt der Redner selbst. Wenn Sie Schreiben vom Bundeswirtschaftsministerium und
eine Kurzintervention machen wollen, selbstverständ- vom Bundesverkehrsministerium haben wir Sie dar-
lich! auf hingewiesen, wie wir Ihnen die Organisation der
Subventionen vorschlagen. Das Land Thüringen bei-
Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Herr Präsident! Herzli- spielsweise hat für diese Aufgabe 250 Millionen DM
chen Dank. So ist es. im Landeshaushalt berücksichtigt. Nach unseren
Lieber Herr Roth, ich wundere mich nicht über Mo- Rechnungen fehlen 8,3 Millionen DM. Das Land
bilität. Ich beklage diesen Umfang von Mobilität. Ich Sachsen-Anhalt hat diese Aufgabe ebenfalls berück-
bestreite Ihre Feststellung, wir hätten es in den fünf sichtigt, auch die Länder Sachsen und Mecklenburg-
neuen Bundesländern mit einer unvergleichlichen Si- Vorpommern. Das Land Brandenburg hat diesen
tuation zu tun. Sie haben das im Zusammenhang mit Haushaltstitel einfach nicht aufgenommen, hat auch
anderen Ländern so gesagt. Andere Länder, die Sie nicht um die Verwaltungshilfe nachgesucht. Ich
genausogut kennen wie ich — nehmen Sie Polen, denke, bei aller Polemik, die den Schauspieleinstand
Ungarn und die Tschechoslowakei —, haben es un- in einer solchen Debatte erhöht, sollten wir ganz ru-
vergleichlich schwerer als die fünf neuen Bundeslän- hig, sachlich und informativ die Probleme klären.
der. Zum Punkt 2. Ich sage noch einmal deutlich zum
Das Thema niedrige Löhne, Herr Roth, ist nicht der Art. 7 des Einigungsvertrages die unterschiedlichen
entscheidende Punkt. Es ist auch ein wichtiger Punkt, Prämissen, die man beachten muß. Der Grundsatz der
daß Löhne und Produktivität einigermaßen in Ein- damaligen DDR-Regierung war, einen Einigungsver-
klang stehen. Aber eine niedrige personale Besteue- trag nur mit einem Länderfinanzausgleich abzu-
rung, für die Sie uns Ihre Unterstützung leider versagt schließen. Ich würde mich freuen, wenn die SPD-Poli-
haben, hätte dem natürlich nachhelfen können. tiker, die seinerzeit am Verhandlungstisch gegen
einen Länderfinanzausgleich argumentiert haben,
Vizepräsident Cronenberg: Zu einer Erwiderung heute die Ehrlichkeit besäßen, zuzugeben, daß die
der Abgeordnete Roth! Erfahrungen, die sie in der DDR gesammelt haben,
diesen Weg jetzt als richtig charakterisieren.
Roth (SPD): Herr Präsident! Graf Lambsdorff! Der
Unterschied zwischen der CSFR und den neuen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
desländern ist folgender: Die CSFR ist ein einigerma- Ich kann nachweisen: Wir haben in unserem Ent-
ßen geschlossenes Wirtschaftssystem mit hohen Wan- wurf zum Einigungsvertrag mit 130 Prozent begonnen
derungsschwellen. Wir haben zum Glück keinerlei und wollten diesen Betrag degressiv abbauen, weil
Grenze zwischen Ost und West in Deutschland. Das wir prognostiziert haben, daß die Mehreinnahmen in
war übrigens genau der Grund, Graf Lambsdorff, wes- den westdeutschen Ländern auf Grund des Konsum-
halb ich mich trotz gewisser Bedenken, was die indu- Nachholens im Osten am Anfang größer sein werden
striepolitische Entwicklung anbetrifft, für die Wäh- und dann über die im Vertrag vereinbarten Instru-
rungsunion ausgesprochen habe. Denn in einem- Land mentarien auslaufen werden. Wir haben als Not-
ohne Grenzen gibt es nicht zwei Währungen. Das bremse darauf bestanden, daß nach Art. 7 Abs. 6
wäre absurd. grundsätzlich zu verhandeln ist, wenn die Nichtfinan-
Vielleicht können wir uns einigen. Wir gehen wie zierbarkeit eines Landes gegeben ist. Wir haben dann
Herr Möllemann hinunter und diskutieren dort wei- in Rechtsnachfolge der bisherigen DDR jedem Land
ter. das Instrumenta rium in Art. 44 in die Hand gegeben,
die Möglichkeit zu arbeiten auch einklagen zu kön-
Vizepräsident Cronenberg: Nun hat das Wort der nen. — Das zur sachlichen Darstellung, wer zu wel-
Minister Dr. Krause. chem Zeitpunkt wann was für die ostdeutschen Län-
der geleistet hat. Es ist ja sehr schön, daß im Prozeß
Dr. Krause, Bundesminister für Verkehr: Herr Prä- des Zusammenwachsens der Deutschen immer mehr
sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich den Eindruck gewinnen, daß wir schon damals eini-
möchte zu drei Schwerpunkten Stellung nehmen. Er- ges richtig eingeschätzt haben.
ster Schwerpunkt: die unterschiedlichen Beiträge, die Etwas zu den Vorstellungen meines ehemaligen
heute in Sachen Einigungsvertrag/Währungsunion Kollegen Romberg. Die Finanzvorstellungen des Kol-
170 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Krause


legen Romberg waren in der Sache völlig andere. — Natürlich mußte das sein. Von etwas anderem re-
Seine Vorstellung war eine weitere Erhöhung der den wir doch jetzt auch nicht. Wir sind jetzt im sieben-
Nettokreditaufnahme des Bundes. Die Theorie war ten Monat der Marktwirtschaft und nicht im zehnten
nämlich, den Fonds Deutsche Einheit auf 230 Milliar- Jahr.
den DM zu verdoppeln, ohne die Geldmengenpolitik (Feilcke [CDU/CSU]: Noch nicht einmal eine
zu beachten. Wir wollen „Teilung kann nur durch Tei- ganze Schwangerschaft!)
len überwunden werden" jetzt schrittweise gemein-
sam durchsetzen. Ich bin dankbar, daß uns das der Wir sollten doch die Verhältnisse nicht verwechseln.
Vorsitzende Ihrer Fraktion heute morgen angeboten Die Nutzung der Währungsunion hat den Deutschen
hat. im Osten Geldwertstabilität gebracht. Es ist bedauer-
lich, daß die anderen osteuropäischen Länder diesen
(Lennartz [SPD]: Wo sind denn die Perspek Vorzug nicht haben. So sollten wir diesen Umstruktu-
tiven? Kommen Sie zur Sache! — Schäfer rierungsprozeß einschätzen und nicht anders.
[Offenburg] [SPD]: Winkeladvokat!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
— Ich bin von anderen Politikern als Laienspieler dif- Feilcke [CDU/CSU]: Dem Roth gefällt die
famiert worden. Das gehört wahrscheinlich zu Ihrem ganze Chose nicht!)
Stil. Wir gehen üblicherweise menschlicher miteinan- Über die Förderungsmaßnahmen im Rahmen der
der um. Vielleicht lernen Sie das noch dazu. Währungsunion und des Einigungsvertrages müssen
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord wir weiter diskutieren. Dabei sollten wir aber fair mit-
neten der FDP) einander umgehen. Beispielsweise müssen wir zuge-
ben, daß die Zahl von 300 000 Existenzgründungen,
Es wäre schön, wenn Sie das lernen könnten. Ich brau- die nachweisbar ist, und die Zahl von 500 000 neuen
che mich da nicht zu schämen. Arbeitsplätzen, die die damalige DDR-Regierung
(Roth [SPD]: Vor allem mit Romberg, mein noch für das Jahr 1990 prognostiziert hat — ich darf
Herr, sind Sie sehr menschlich umgegan Sie an heute morgen erinnern, Herr Modrow — , gar
nicht so weit auseinanderliegen. Denn bei diesen Exi-
gen!) stenzgründungen sind häufig Beschäftigungsverhält-
In der Sache — ich sage es deutlich — gab es einen nisse mit mehreren Arbeitnehmer begründet worden.
Streit darüber, welches Modell der Finanzierung Daher verstehe ich nicht, warum Sie davon reden, daß
durchgesetzt wird: entweder das Modell, das wir jetzt etwas nicht stimmt.
gemeinsam anstreben — Teilung wird durch Teilen Die andere Seite sind die Umschuldungsmaßnah-
überwunden — , oder ein Modell der unerträglichen men. Hier möchte ich eine Zahl nennen, damit wir uns
Nettokreditaufnahme. Das hat sich jetzt als falsch er- gemeinsam der Größenordnung der Aufgabe bewußt
wiesen. Deshalb meine ich, unsere Beiträge waren werden: In den nächsten Jahren müssen wir etwa
schon richtig. Auch wenn es wehtut, kann man ja in 2,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
einem halben Jahr einmal etwas dazulernen. umschulen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, da
Der Aufbau und die Organisation des Aufbaus müs- gebe ich Ihnen recht.
sen mit Zahlen fundiert begründet werden. Ich (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Was tun Sie als
stimme in einem Punkt zu: Es ist falsch, nur immer Regierung denn dafür?)
über die Mißwirtschaft zu reden und keine Zahlen zu
nennen. Ich nenne zwei Zahlen, die wir am 18. März Wir dürfen nicht nur über Kurzarbeit reden, sondern
von der Vorgängerregierung in der damaligen DDR wir müssen verstärkt über ABM-Maßnahmen reden.
geerbt haben. Die erste Zahl: Von vier Produkten war Hier muß ich deutlich sagen, daß die ABM-Mittel im
am 19. März nur eines marktfähig: drei Produkte wa- letzten Jahr eben nicht genutzt worden sind.
ren nicht marktfähig. Die zweite Zahl: Mit der Grenz- (Lennartz [SPD]: Warum denn nicht?)
öffnung am 9. November 1989 ist für die damaligen Wir sind gern bereit, analog dem Art. 15 des Eini-
DDR-Bürger auch im Konsumangebot aus einem kon- gungsvertrages Verwaltungshilfe für die Länder zu
trollierten Binnenmarkt ein normaler, weltoffener leisten. Sie können sicher sein, daß ich in meiner
Markt geworden. Das sind die beiden Sachverhalte, neuen Aufgabe als Verkehrsminister das Mittel der
die wir bei aller Diskussion darüber berücksichtigen ABM-Maßnahmen für die sechs neuen ostdeutschen
sollten, wie das Wirtschaftssystem umzustrukturieren
- Länder in Abstimmung mit dem Arbeitsministerium
ist. nutzen werde.
Nächster Sachverhalt: Es ging den DDR-Bürgern, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Herr Kollege Roth, nicht nur darum, schnell die Zurufe von der SPD)
D-Mark einzuführen, sondern darum, ein Wirtschafts-
system einzuführen, welches nach einer Aufbauphase Ich möchte in den noch verbleibenden vier Minuten
auch lohnende Ergebnisse bringt. Es wundert mich, kurz etwas zur Verkehrssituation des Ostens sagen.
weshalb Sie nicht einmal die Vergangenheit West- Die Verkehrssituation des Ostens repräsentiert die
deutschlands anführen. Beispielsweise mußte sich in Wirtschaftsschwäche, repräsentiert den Rückstand,
den ersten sieben Jahren bis 1955, im Umstrukturie- repräsentiert aber zugleich auch die Hoffnung. Ich
rungsprozeß, jeder zweite Arbeitnehmer in West- möchte daran erinnern, daß trotz im Westen gemach-
deutschland einen anderen beruflichen Weg su- ter Fehler in der Wirtschaftsstruktur die relativ zum
chen. Osten gut entwickelte Verkehrsinfrastruktur des We-
stens einen der entscheidenden Vorzüge für die ge-
(Roth [SPD]: Das mußte sein!) samte Wirtschaft, vor allem für den Mittelstand, dar-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 171
Bundesminister Dr. Krause
stellt. Deshalb werden wir, wenn wir über die Ent- nen kann; denn Genehmigungsverfahren von 10 bis
wicklung des Verkehrs reden, auch daran denken 15 Jahren würden den wirtschaftlichen Aufschwung
müssen, die Verkehrsträger im Osten insgesamt zu von vornherein verhindern.
entwickeln, während es im Westen darum geht, we- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
sentlich umweltfeundlicher als bisher unterschiedli- neten der SPD)
che Verkehrsträger zu nutzen.
Wir werden uns dafür einsetzen, wesentlich stärker
(Lennartz [SPD]: Was heißt das?) als bisher vernetzte Strukturen im Verkehr zu nutzen.
Ich möchte es einfach ausdrücken: Die Entwicklung Ich bin der Meinung, daß der Verkehrswegeplan nicht
des Verkehrs im Osten ist in zweifacher Hinsicht Mo- kurzsichtig nur aus der Sicht der vollzogenen deut-
tor. Wir werden durch den Aufbau eines modernen schen Einheit zu sehen ist, sondern von der Perspek-
Verkehrsnetzes einen aktiven Beitrag zum Beginn der tive her Deutschland als Transitland im Rahmen der
Konjunktur leisten. Das kann ich an dieser Stelle bele- Europäischen Gemeinschaft berücksichtigen muß.
gen. Als die Währungsunion am 1. Juli eingeführt (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Da haben Sie
wurde, habe ich immer darauf hingewiesen, daß wir viel Arbeit!)
den Tiefpunkt erst nach sechs bis zwölf Monaten Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir hoffen,
durchschreiten würden. daß wie hier im Parlament gemeinsam aktiv darüber
(Lennartz [SPD]: Geschenkt!) streiten können, wenn der Verkehrswegeplan vor-
liegt, daß auch die westdeutschen Länder aktiv einen
Ich weiß nicht, woher es stammt, daß wir gesagt hät- Beitrag leisten, um Umschichtungsaufgaben im Bun-
ten, daß es nach der Einführung der D-Mark und der deshaushalt in Richtung Osten zu unterstützen.
Umstellung sofort anders werde.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
(Zuruf von der SPD: Der Bundeskanzler! — (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das haben wir
noch frisch im Gedächtnis! Jetzt läßt Sie Ihr
Gedächtnis im Stich!) Vizepräsident Cronenberg: Zu einer kurzen Erwi-
derung gebe ich dem Finanzminister des Landes
— Jetzt stehe ich hier am Rednerpult. Ich bin heute Brandenburg, Herrn Kühbacher, das Wort.
von einigen Kollegen genannt und von einem ehema-
ligen Mitglied Ihrer Bundestagsfraktion zum Setzen
aufgefordert worden. Wie ich meine, habe ich die Zeit Minister Kühbacher (Brandenburg): Herr Präsident!
gut genutzt, um ihm praktische Hinweise für seine Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jetzt pas-
Arbeit im Land Brandenburg mitzugeben. siert hier etwas, was sicherlich auch neu in diesem
Bundestag ist. Der Landesminister des Landes Bran-
(Beifall bei der CDU/CSU) denburg bedankt sich ganz ausdrücklich beim Bun-
Wir werden weitaus mehr, als es bisher der Fall war, desminister für Verkehr der Bundesrepublik Deutsch-
darauf achten, in den Mittelpunkt unserer Bemühun- land, bei Herrn Krause.
gen die Eisenbahn in Deutschland zu stellen. Wir sind (Beifall bei der CDU/CSU)
auch der Meinung, daß es aufhören muß, die Identität Herr Krause, da Sie ja auf beiden Seiten des Eini-
der Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, für die gungsvertrages im besten Sinne des Wortes gesessen
Probleme direkt verantwortlich zu machen. Deshalb haben, nehme ich Ihre Belehrung hier ausdrücklich
werde ich mich bewußt und engagiert dafür einset- dankend an. Ich habe hier einen B rief, den ich Ihnen
zen, daß der Beruf des Eisenbahners wieder einer jetzt sofort überreiche:
wird, der mit Anstand und Würde verbunden wird.
Land Brandenburg an die Bundesregierung
(Beifall bei der CDU/CSU) Unter der Voraussetzung, daß die vom Bund hier
Das ist der erste Weg, um Motivation und Durchset- mündlich angebotene Verwaltungshilfe nach Ar-
zungskraft zu realisieren. tikel 15 des Einigungsvertrages auch die erfor-
derliche Finanzierungshilfe beinhaltet, bean-
(Zuruf von der SPD) trage ich diese für die Komplexe 1. ÖPNV — Öf-
— Daß Sie im menschlichen Umgang Probleme ha- fentlicher Personennahverkehr —, 2. Bewirt-
ben, das ist mir völlig klar. - schaftung des öffentlichen Wohnungsbestandes
bei Gesellschaften, Genossenschaften und Kom-
(Feilcke [CDU/CSU]: Sie haben ihn frühzei munen.
tig erkannt!)
Für das Land Brandenburg
Ich lege großen Wert darauf, daß die zwischen-
Kühbacher, Finanzminister
menschlichen Beziehungen funktionieren.
Herr Präsident, ich hinterlasse Ihnen dieses Doku-
(Lennartz [SPD]: Unmöglich!) ment, weil ich denke, das ist ein Punkt, den man ein-
Gewiß ist auch das Verkehrspolitik. klagen muß.
Ein dritter Schwerpunkt: Wir werden dafür sorgen (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
— hoffentlich auch mit der Unterstützung der Opposi- der CDU/CSU — Minister Kühbacher über
tion —, daß wir in möglichst kurzer Zeit mindestens gibt Bundesminister Dr. Krause den B rief.)
für das Beitrittsgebiet zu einer Fristenverkürzung bei
Genehmigungsverfahren kommen. Ich hoffe, daß Sie Vizepräsident Cronenberg: Herr Minister, Sie ken-
uns dabei unterstützen, damit die Konjunktur begin- nen ja noch die alten Sitten des Hauses. Es ist unzu-
172 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Vizepräsident Cronenberg
lässig, daß Sie diesen Teil des Plenums betreten. Ich Nun ein Wort zur sehr ernsten außenpolitischen
muß Sie formal darauf aufmerksam machen. Lage, in der wir uns befinden. Ich gehöre auch zu den
Demonstrierern. Ich fühle mich auch beschwert, wenn
den Demonstraten ungeheuerliche Motive unterstellt
Minister Kühbacher (Brandenburg): Ich habe dies werden. Ich möchte aber eines sagen. Ich habe mit
heute schon einmal gehört. Ich denke, ich muß das zwei Kolleginnen aus diesem Grunde einen Besuch im
seitens des Bundesrates sagen: Wenn die Bundesre- Bundeskanzleramt gemacht. Ich hatte den Eindruck,
gierung durch den Bundesrat nur über die Toilette zu daß die Regierung dieses Landes die Sorgen der De-
erreichen ist, muß ich diesen Weg wählen. monstranten sehr viel besser versteht als diejenigen,
(Beifall bei der SPD — Heiterkeit) die heute gesprochen und unter anderem über Bischof
Forck gesprochen haben, der ja vielleicht nicht immer
recht hat,
Vizepräsident Cronenberg: Damit ist die Zulässig- (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, weiß
keit keinesfalls bewiesen. Im übrigen werde ich den Gott!)
B ri ef selbstverständlich zusätzlich noch einmal über-
aber gewiß nicht darüber belehrt werden muß, wer in
mitteln.
seinem Soldatendienst uns Hilfe geleistet und uns be-
Nun hat der Abgeordnete Dr. Ullmann das Wort. freit hat. Das war nun wirklich eine Tonart, die ich als
unangemessen ansehen muß.
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident! (Zurufe von der CDU/CSU: Von Herrn
Meine Damen und Herren! Ich stehe vor einer doppel- Forck!)
ten Schwierigkeit. Einerseits beschleichen mich die Nun will ich drei Dinge ansprechen. In der Regie-
Gefühle des Grafen Lambsdorff hinsichtlich der Mobi- rungserklärung des Herrn Bundeskanzlers steht fol-
lität der Abgeordneten, und die Abgeordneten-Da- gender Satz — das hängt noch mit den Dingen zusam-
men sind ja auch sehr mobil. Die, mit denen man men, von denen ich soeben gesprochen habe — , der
gerne diskutieren möchte, sind alle gar nicht mehr mich sehr nachdenklich und sogar unruhig gemacht
da. hat: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Ein-
(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: C'est la vie!) wanderungsland. "
Aber Herr Krause ist da. Da muß ich mich nun wieder (Sehr richtig! bei der CDU/CSU!)
sehr bezähmen, daß ich nicht lange gehegte Dispute — Bitte bedenken Sie, was ich jetzt hinzufügen muß.
aus der Volkskammer fortsetze. Ich füge nämlich hinzu: Wenn sich irgendwo in dieser
(Zuruf von der CDU/CSU: Herr Ullmann, wo Welt, vor allen Dingen in der jetzigen Sowjetunion,
sind denn Ihre Bündnis-Partner?) Juden bedroht fühlen, dann ist die Bundesrepublik
— Ja, es betrifft also alle. Deutschland ein Einwanderungsland, koste es, was
es wolle. Bitte denken Sie darüber nach, ob man in
(Heiterkeit) diesem Fall den Satz aus der Regierungserklärung in
Zwei Dinge muß ich nun doch in Richtung auf Herrn dieser Form aufrechterhalten kann!
Minister Krause bemerken. Nun zu dem, was der Herr Bundeskanzler vorhin
Erstens. Es wäre gut gewesen, Herr Krause, wenn gesagt hat. Ich fand sehr gut, daß er vom Teilen ge-
Sie bei jener Auseinandersetzung in der Volkskam- sprochen hat. Ich finde ebenfalls gut, was auf den Sei-
mer, als Sie Minister Romberg, Ihren damaligen Kol- ten 9 und 10 seiner Erklärung steht. Der Herr Bundes-
legen, in rüdester Weise ang riffen, davon gesprochen präsident hat zum Teilen aber nun schon mehr als
hätten, daß es sich um eine sachliche Auseinanderset- einmal aufgefordert. Die Regierung muß dazu etwas
zung gehandelt habe und nicht um persönliches Ver- mehr sagen als der Bundespräsident: Erstens: Wer
sagen von Minister Romberg, so wie Sie das jetzt klar- teilt? Zweitens: Wie teilt man? Drittens: Wem wird
gestellt haben. Ich bin natürlich froh, daß es vor der was zugeteilt?
Öffentlichkeit des Bundestages nunmehr geschehen
Ich könnte jetzt lange Geschichten darüber erzäh-
ist.
len, was das Bündnis 90 alles in Richtung auf die da-
Zweitens. Zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnah- malige CDU-Koalition in der alten DDR warnend ge-
men! Da muß ich mich volkstümlich ausdrücken und sagt hat. Wir hatten unter anderem die Kommunen
sagen, das ist einer der ältesten Hüte. Frau Dr. Hilde- nicht vergessen. Wir hatten einen Gesetzesvorschlag
brandt hat mehr als einmal öffentlich erklärt, warum gemacht, der sogar angenommen wurde, der freilich
das nicht funktioniert, so wie das heute auch demon- inzwischen angesichts der Zustände, die Minister
striert worden ist. Kühbacher geschildert hat, völlig unwirksam ist. Die
Nun komme ich zu meinen Punkten. Ich habe zwei- Bürgerbewegung hat nicht ohne Grund darauf ge-
erlei zur Debatte zu stellen. Beides bezieht sich auf drängt, daß die Treuhandanstalt eingerichtet wurde.
Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung. Meine Damen und Herren, wir haben allerdings im
Mein Eindruck ist, daß die Regierung, vor allen Din- Februar 1990 dazu einen Gesetzentwurf eingebracht,
gen der Herr Bundeskanzler, so wie er das heute ge- der vorsah, daß die Treuhandanstalt auf Landesebene
tan hat, auch zu meiner Genugtuung, sehr viel Richti- vorzubereiten sei, weil wir davon ausgingen, daß die
ges gesagt hat. Nur, er hat es unkonkret gesagt und DDR nicht mehr lange existieren würde. Dieser Ent-
hat uns völlig im unklaren gelassen, was denn die wurf ist nie angenommen worden. Jetzt haben wir
Konsequenzen seiner richtigen Ankündigungen sein eine Situation, wir Herr Roth sie vorhin geschildert
möchten. hat.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 173
Dr. Ullmann
Ich will konkret zu zwei Punkten der Treuhandan- Ich frage die Bundesregierung, ob sie hier abermals
stalt Stellung nehmen; der eine ist die Rechtslage. Es wortbrüchig werden will, sogar gegen ihre eigenen
ist unerträglich, zu sehen, was alles hier von seiten der Gesetzestexte.
Regierung unterbleibt, wenn man weiß, worin die Meine Zeit ist abgelaufen, Herr Präsident.
Schwierigkeiten liegen. Sie liegen einmal da rin, daß
(Glos [CDU/CSU]: Nur die Redezeit, Herr
die Eigentumsverhältnisse nicht nur in der ehemali-
Dr. Ullmann!)
gen DDR, sondern auf dem ganzen Gebiet des ehema-
ligen Reiches so verworren sind, weil es Arisierungs-
gesetze der nationalsozialistischen Regierung gibt, Vizepräsident Cronenberg: Nicht ganz, Herr Abge-
die immer noch nicht außer Kraft gesetzt worden sind. ordneter Dr. Ullmann, aber fast.
Das ist schleunigst durchzuführen,
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Dann erlauben
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Sie mir, noch auf eine Passage der Koalitionsvereinba-
damit man überhaupt erst durchgreifende Maßnah rung einzugehen, über die ich mich sehr wundere. Da
men einer neuen Eigentumsordnung anstoßen kann. geht es um Änderungen und Ergänzungen des
Grundgesetzes. Die Koalitionspartner sind übereinge-
Zum zweiten Punkt: Ich muß nun auf die SED-Zeit
kommen, Bundestag und Bundesrat sollen aus ihrer
zu sprechen kommen. Wir haben die Treuhandanstalt Mitte ein paritätisch zusammengesetztes Gremium
einrichten lassen, weil wir uns dessen bewußt waren, berufen, das gemeinsam darüber beraten soll, welche
daß es ein schwer abschätzbares Ausmaß der Ver-
Verfassungsänderungen den gesetzgebenden Kör-
schuldung des ehemaligen SED-Staates gegenüber perschaften vorgeschlagen werden. Der Beschlußvor-
seinen Bürgern gab, die über vier Jahrzehnte hinweg
schlag ist Grundlage für Initiativen zur Verfassungs-
den Ertrag ihrer Arbeit durch zu niedrige Löhne und änderung nach Art. 76 des Grundgesetzes.
Renten nicht bekommen haben.
Ich wundere mich maßlos, weil die Passage über
(Feilcke [CDU/CSU]: Die sind ausgeplündert Grundgesetzänderungen in meinem Grundgesetz un-
worden!) ter Art. 79 steht. Das sage ich nicht zum Zweck der
Der Ertrag ihrer Arbeit ist in eine krebsartig wu- Schulmeisterei, sondern ich frage die Koalitionspart-
chernde, parasitäre Bürokratie geflossen: ner: Was haben Sie sich bei diesem Minimalismus
eigentlich gedacht? Wir haben heute gehört, wie das
(Feilcke [CDU/CSU]: Und in den Parteiappa Verhältnis von Bund und Ländern aussieht. Wir haben
rat! — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Der Ost gehört, wie die Finanzverfassung des Bundes ist.
CDU beispielsweise! — Feilcke [CDU/CSU]: Der Herr Bundeskanzler hat ausdrücklich gesagt:
Es wird alles zurückgegeben!) Hier muß vor 1995 etwas geschehen. Er hat in seiner
Das war für uns der Anlaß, die Errichtung dieser An- Regierungserklärung etwas sehr Einleuchtendes vor-
stalt zu betreiben. geschlagen, nämlich einen sozialen Dialog aller ge-
sellschaftlich wichtigen Kräfte. Wenn der Bundes-
(Zurufe) kanzler einen so einleuchtenden Vorschlag macht,
— Es geht mir von meiner Redezeit ab, wenn ich jetzt dann wundere ich mich, wieso die Koalitionsvereinba-
unterbreche. Bitte hören Sie zu, denn das ist wich- rung dann nicht das Verfahren wählt, das in jeder
tig. Demokratie für einen solchen sozialen Dialog aller
gesellschaftlich relevanten Kräfte gewählt wird.
(Lachen bei der SPD)
(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie verwechseln da
Damit dieses der Bevölkerung entfremdete Eigentum ein paar Sachen! Aber das erkläre ich Ihnen
ihr zurückgegeben werden kann, haben wir die Er- später einmal! — Roth [SPD]: Er hat so wenig
richtung der Treuhandanstalt betrieben. Sowohl im Zeit!)
ersten Staatsvertrag als auch in der Präambel des — Jetzt erkläre ich, Herr Bötsch.
Treuhandgesetzes vom 17. Juni und zuletzt noch im
(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Da sind ein paar
Einigungsvertrag sind diese Rechte der Bürgerinnen kleine Sachen, die Sie verwechseln!)
und Bürger ausdrücklich anerkannt worden.
Ich frage nun: Wann endlich erfahren wir von der Vizepräsident Cronenberg: Herr Abgeordneter
Regierung bzw. vom Finanzminister, der zuständig- ist, Bötsch, ich wäre dankbar, wenn Sie den Redner, der
wie es mit diesen Rechten steht? Ich weiß natürlich seine Zeit jetzt ohnehin überschritten hat, nicht noch
sehr wohl, daß gegen unseren Widerstand diese in Versuchung führten, längere Ausführungen zu ma-
Rechte nur in Form einer Kann-Bestimmung, die an chen.
bestimmte Bedingungen geknüpft worden ist, in die
(Heiterkeit bei der SPD und beim Bünd
Vertragstexte eingegangen sind. Aber es kann doch
nis 90/GRÜNE)
nicht sein, daß diese Rechte, auf die die Bürgerinnen
und Bürger im Gebiet der ehemaligen DDR Anspruch
haben, aus einem Gesetzestext in den anderen weiter- Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Das drohe ich
geschrieben werden. Wenn das Geld bei der Treu- Ihnen an. — Ich frage Sie: Sie sind christliche Demo-
handanstalt nicht mehr vorhanden ist, was ich fast kraten; woher dieses Mißtrauen gegenüber der De-
befürchte, dann hat die Regierung hier eine Erklä- mokratie, das sich in diesem Minimalismus aus-
rungspflicht gegenüber diesen Bürgerinnen und Bür- drückt?
gern, denen gegenüber sie sich verpflichtet hat, wenn (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
auch in einer sehr schwachen Form. der PDS/Linke Liste)
174 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Ullmann
Ist dieser Kleinglaube denn christlich, Herr Bötsch? Vizepräsident Cronenberg: Nach dieser Klarstel-
(Feilcke [CDU/CSU]: Aber bitte kein Phari lung erteile ich dem Abgeordneten Michael Glos das
säertum!) Wort.
Und bei den Liberalen! Da wundere ich mich über- (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Der gehört der
haupt, daß Sie das unterschrieben haben. Die Partei CSU an! — Feilcke [CDU/CSU]: Die CSU ist
von Frau Hamm-Brücher! Das verstehe ich nicht. gekränkt worden!)
(Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Fabelhaft!)
Glos (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren! Ich möchte mich namens
Vizepräsident Cronenberg: Herr Dr. Ullmann, jetzt
der CSU ausdrücklich bei Graf Lambsdorff bedanken,
bringen Sie den Präsidenten aber ernsthaft in Verle-
daß er klargestellt hat, daß diese Dame nicht unserer
genheit.
Partei angehört.
(Heiterkeit und Beifall bei allen Fraktionen)
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE) : Ich sage noch Ich freue mich, daß ich hier Gelegenheit habe, mit
ein letztes. Dieses Hohe Haus hat schon 1951 in einem Herrn Dr. Ullmann zu diskutieren. Herr Dr. Ullmann,
Beschluß auf die Frage geantwortet, was man in ei- wir haben das — das ist jetzt fast ein Jahr her — beim
nem solchen Fall macht: Man macht ein Gesetz über Westdeutschen Fernsehen tun können. Da muß ich
die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung. sagen: Viele Ihrer Kassandrarufe damals sind Gott sei
— Bitte schön, da haben Sie die Antwort. Dank nicht Wirklichkeit geworden.
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei (Roth [SPD]: Es ist schlimmer geworden! Ich
Abgeordneten der PDS/Linke Liste — Abg. habe die Sendung gesehen! Er hatte recht! —
Dr. Graf Lambsdorff [FDP] meldet sich zu ei Zurufe von der CDU/CSU)
ner Kurzintervention)
Frau Matthäus-Maier hatte seinerzeit behauptet —
Herr Roth, wider besseres Wissen —, wir würden die
Vizepräsident Cronenberg: Graf Lambsdorff, es tut Steuern zur Finanzierung der deutschen Einheit erhö-
mir leid, zunächst muß ich dem Abgeordneten hen.
Dr. Krause zu einer Kurzintervention das Wort ge- (Walther [SPD]: Das macht ihr doch!)
ben.
Auch das haben wir nicht getan. Wenn wir jetzt an die
Steuern denken müssen, dann wegen anderer Pro-
Dr. Krause (Börgerende) (CDU/CSU): Ich möchte bleme.
der Sachlichkeit halber und vielleicht auch der Infor- (Rossmanith [CDU/CSU]: Das hat die SPD
mation wegen präzise darauf hinweisen, was im Eini- heute noch nicht beg riffen!)
gungsvertrag vereinbart ist. Im Einigungsvertrag ist Ich möchte in anderen Sachen noch Herrn Dr. Ull-
vereinbart — ich zitiere — : mann antworten. Herr Dr. Ullmann, auch ich habe am
Auf Ersuchen der Ministerpräsidenten der in Ar- Sonntag das erste Mal in meinem Leben demonst riert.
tikel 1 Abs. 1 genannten Länder leisten die ande- Ich hatte mich nie an Demonstrationen beteiligt. Ich
ren Länder und der Bund Verwaltungshilfe bei habe dies getan auf einer Sympathiekundgebung für
der Durchführung bestimmter Fachaufgaben, Amerika, auf einer Sympathiekundgebung für die Sa-
und zwar längstens bis zum 30. Juni 1991. Soweit che der Freiheit und damit auch auf einer Sympathie-
Stellen und Angehörige der Länder und des Bun- kundgebung für Israel.
des Verwaltungshilfe bei der Durchführung von
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
Fachaufgaben leisten, räumt der Ministerpräsi-
neten der FDP — Feilcke [CDU/CSU]: Weiter
dent ihnen insoweit ein Weisungsrecht ein.
so!)
Ich denke — bei aller Polemik — , es ist einfach häu-
Damit komme ich zu Ihrer nächsten Frage, wenn Sie
fig vergessen worden, von dieser Regelung des Eini-
mir bitte freundlicherweise zuhören. Herr Dr. U ll
gungsvertrages Gebrauch zu machen, und ich würde
„Einwande--man,SiehbZusmnagit
mich freuen, wenn die im Aufbau befindlichen Länder
rungsland" gesagt: Was soll denn mit den vielen Ju-
häufiger mit diesen Forderungen an die westdeut-
-
den in der Sowjetunion geschehen, wenn die mögli-
schen Länder und an den Bund heranträten.
cherweise immigrieren wollen? Da kann ich nur sa-
Danke. gen: Es muß die Aufgabe unserer Politik sein, daß wir
Israel in Unversehrtheit erhalten und daß Israel das
Einwanderungsland für die Juden in aller Welt bleibt,
Vizepräsident Cronenberg: Nun zu einer Kurzinter- die sich bedroht fühlen. Das ist die Aufgabe unserer
vention Graf Lambsdorff. Politik.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Graf Lambsdorff (FDP) : Herr Präsident, der Herr Ich möchte auch sehr gern auf den Kollegen Roth
Abgeordnete Dr. Ullmann hat die ungeheuerliche Be- eingehen, der über die Ängste gesprochen hat. Lieber
hauptung aufgestellt, Frau Hamm Brücher gehöre
-
Herr Roth, wir sind uns ja in wenigen Fragen einig.
der CSU an. Ich muß sie gegen diese kränkende Zu- Aber ich glaube, wir sind uns einig in der Kritik an der
weisung in Schutz nehmen. deutschen Wirtschaft, und zwar nicht an der Wirt-
(Heiterkeit und Beifall bei allen Fraktionen) schaft pauschal, sondern an einzelnen Unternehmern,
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 175

Glos
Vorstandsmitgliedern großer Konzerne usw., die un- möchten nicht auf Dauer Kurzarbeitergeld beziehen,
geheuer phantasiebegabt sind, wenn es darum geht, sondern sie möchten ihr Geld mit ehrlicher, ordentli-
bestehende Gesetze zu umgehen. Interessanterweise cher Arbeit verdienen.
scheint es ja so zu sein, daß es sich bei allem, was in
den Irak ausgeführt worden ist, um Tarngeschäfte (Beifall bei der CDU/CSU)
handelte und daß im Grunde die bestehenden Ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, bedauer-
setze durch geschickte Hintertüren umgangen wor- licherweise wird sehr oft das kritisiert, was wir jetzt in
den sind, weil man bestimmte Teile für die verschie- den Koalitionsvereinbarungen beschlossen haben,
densten Verwendungszwecke einsetzen kann.
(Walther [SPD]: Zu Recht, Michael!)
Nun ist es für mich ganz interessant — ich bin in
dieser Woche ein paarmal geflogen — zu sehen, wie nämlich diese bewährte Wirtschafts-, Finanz- und
mutig die gleiche deutsche Wirtschaft ist, wenn es Steuerpolitik, die zu diesem guten Zustand bei uns
darum geht, auch für die Folgen einzustehen. Da hat geführt hat, fortzusetzen.
man Angst, ein Flugzeug zu benutzen. Die Lufthansa Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir ha-
hat die Zahl der Flüge fast um die Hälfte reduzieren ben auch geschaut, daß es im Beitrittsgebiet günstige
müssen, weil dieselben Leute der Wirtschaft dann Voraussetzungen gibt und daß dort Investitionen ge-
Angst haben und Konzernzentralen ihren Mitarbei- fördert werden. Graf Lambsdorff, wir haben zwar
tern verbieten zu fliegen, weil möglicherweise durch nicht das Niedrigsteuergebiet geschaffen, das da im-
ihr Tun irgendwo ein Konflikt ausgebrochen ist, der mer so gefordert worden ist und das viele Leute schon
auch uns bedroht. Das finde ich schon ein bißchen veranlaßt hat, darüber nachzudenken, wie man Ge-
schäbig. winne verlagern kann und wie man möglicherweise
(Beifall bei der CDU/CSU) zu neuen Vergünstigungen kommt, ohne zu investie-
ren; aber wir haben die Verbesserung von Investitio-
Jetzt möchte ich zu dem kommen, was ich eigent- nen beschlossen.
lich sagen wollte. Es ist ja vorgesehen, daß wir über
Wirtschaftspolitik debattieren. Wenn wir das, was im bisherigen Zonenrandgebiet
möglich war, jetzt auf das gesamte Beitrittsgebiet
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir
übertragen, dann ist das eine angemessene Wirt-
den neuen Bundesländern — wir haben ja heute von
schaftsförderung. Das alles sind bewährte Instru-
der dramatischen Situation gehört; Herr Krause hat
mente. Damit hat die Verwaltung Erfahrung. Damit
viel richtiggestellt — helfen wollen, dann müssen wir
kann man so gut wie keinerlei Mißbrauch treiben. Es
das Fundament der Wirtschaft hier bei uns in Ordnung
führt zu Investitionen, es führt zu Arbeitsplätzen, und
halten. Nur dann kann es drüben in den neuen Bun-
es führt zu Wirtschaftskraft. Die Situation im bisheri-
desländern aufwärts gehen. gen Zonenrandgebiet hat dies wohl eindeutig bewie-
Gott sei Dank haben wir derzeit eine gute wirt- sen. Das war der Grund dafür, warum wir dieses Mit-
schaftliche Situation. Unsere Wirtschaft steht auf ei- tel gern angewendet haben.
nem soliden Fundament. Die Perspektiven für eine
Fortsetzung des kräftigen Wirtschaftsaufschwungs in (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Wir auch!)
den alten Bundesländern sind ausgesprochen gün- Meine sehr verehrten Damen und Herren, in dieser
stig. für uns nicht leichten Situation mit einer sehr großen
(Rossmanith [CDU/CSU]: Sehr wahr!) finanziellen Anspannung zahlt sich aus, daß die Koali-
tion durch Förderung von Privatinitiative, durch Kon-
Das kommt nicht zuletzt daher, daß die Nachfrage solidierung der Staatsfinanzen und durch eine Politik
aus den neuen Bundesländern zu einer Ausweitung der Steuersenkungen die Grundlagen für wirtschaft-
der Produktion bei uns im Westen geführt hat, was liche Dynamik gelegt hat. Wir brauchen diese wirt-
Schubkraft für die Konjunktur allgemein war. Das schatliche Dynamik in Zukunft verstärkt; denn die
bestreitet niemand. wirtschaftliche Dynamik ist auch der beste Motor, um
Diese Entwicklung ist um so bemerkenswerter, als die Steuerkassen entsprechend sprudeln zu lassen.
die Golfkrise weltweit zu Belastungen des Wirt- (Walther [SPD]: Michael, sag doch mal was
schaftsklimas führt und sich die Konjunktur in einigen Originelles!)
wichtigen Industriestaaten abgeschwächt hat. Wir
sind durch diese Situation Gott sei Dank Konjunktur- Nur wenn wir diese Politik fortsetzen, schaffen wir
motor für die gesamte Welt geworden. auch künftig die Basis dafür, daß die öffentliche Hand
die enormen Lasten aus dem Zusammenwachsen
Mit rund 4,5 % ist das reale Bruttosozialprodukt Deutschlands tragen kann und daß die Mittel für die
1990 kräftiger gestiegen als in allen Jahren seit 1976. notwendige Stärkung der Wachstumskräfte im Osten
Ausschlaggebend für dieses kräftige Wachstum ist die Deutschlands bereitgestellt werden.
Dynamik der Investitionen, die um mehr als 8 % über
dem Vorjahresstand liegen. Dadurch müssen die Un- Wir müssen aber auch daran denken, daß trotz der
ternehmen bei uns erweitern. Wir würden es begrü- Probleme, die wir mit der wirtschaftlichen Integration
ßen — und wollen alles tun, was an Förderungstatbe- der neuen Bundesländer haben, der gemeinsame eu-
ständen vernünftig ist, damit dies geschieht — , wenn ropäische Binnenmarkt auf uns zukommt und daß wir
diese Erweiterungen in den neuen Bundesländern die Weichen richtig stellen müssen, damit die starke
vorgenommen würden, damit auch die Menschen dort deutsche Wirtschaft auch in Zukunft in diesem größe-
mit Arbeit ihr Geld verdienen können. Sie wollen im ren Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt stark
Grunde ja nicht die Unterstützung des Staates, und sie bleibt.
176 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Glos
Deswegen haben wir entscheidende Weichenstel- die Maxime sein, unter der wir diese Frage ange-
lungen beschlossen und in den Koalitionsvereinba- hen.
rungen festgelegt, daß wir die Steuerreform, die uns (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
diese Wachstumskräfte gebracht hat, fortsetzen und Rossmanith [CDU/CSU]: Das ist der Kern
fortführen, damit es bei uns weiterhin günstige Inve- punkt!)
stitions- und Standortbedingungen gibt.
Die Koalitionsvereinbarungen haben auch dafür
(Walther [SPD]: Wer hat dir denn diese Rede gesorgt, daß wir zu Ausgabenbegrenzungen kommen
aufgeschrieben?) und eine Konsolidierungspolitik fahren. Diese Kon-
— Ich glaube, der Kollege Walther, möchte gerne et- solidierungspolitik hat beim Bund, wie ich meine, sehr
was fragen. Ich kann ihn so schwer verstehen. gut gegriffen. Der Bundesfinanzminister konnte einen
(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Er hat gefragt, Haushaltsabschluß vorlegen, der bedeutend besser
wer die Rede geschrieben hat!) als das Vorgesehene war. An Krediten mußte der
Bund statt 67 Milliarden DM „nur" 50 Milliarden DM
Lieber Kollege Walther, Herr Vorsitzender des aufnehmen. Insofern hat sich auch gezeigt, daß Pessi-
Haushaltsausschusses, ich stehe gerne zu einer Zwi- mismus — manchmal war es Zweckpessimismus —
schenfrage bereit. der Opposition nicht angebracht ist, sondern daß es im
(Heiterkeit bei der CDU/CSU) Gegensatz zu früher gelingt, im Haushaltsvollzug die
Haushalte besser zu fahren, als es z. B. unter Regie-
rungszeiten der SPD möglich war.
Vizepräsident Cronenberg: Wir liegen so weit in der
Zeit zurück, daß es wirklich nicht erforderlich ist, daß (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Sehr
der Redner nun auch noch die Kollegen auffordert, richtig!)
Zwischenfragen zu stellen. Verhindern kann ich das Was ich etwas bedauern muß und was ich — das ist
allerdings nicht. Bitte sehr, Herr Abgeordneter Wal- ganz aktuell — ein bißchen schade finde, ist, daß der
ther. Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank anschei-
nend diese Konsolidierungsbemühungen nicht so
ausreichend anerkannt hat, wie sie beim Bund laufen,
Walther (SPD): Da ich weiß, Herr Präsident, daß der und heute den Diskont- und den Lombardsatz erhöht
Kollege Glos in der Lage ist, frei zu reden, frage ich hat.
ihn, wann er einmal etwas O riginelles und nicht etwas (Walther [SPD]: Der glaubt nicht daran!)
Abzulesendes vorträgt.
Ich habe mir erzählen lassen, daß man damit für be-
(Heiterkeit bei der SPD) stimmte Bundesländer, wo man Ausgabenanstiege
von 6 und 7 % im Landeshaushalt fährt, ein Zeichen
Glos (CDU/CSU) : Ich kann das dem lieben Kollegen setzen wollte, während wir uns beim Bund auf einen
Rudi Walther gerne beantworten. Auch ich habe hier Ausgabenanstieg von 2 % verbindlich festgelegt ha-
eine Mixtur zwischen einer freien Rede und wichtigen ben. Ich hoffe auch, daß unter diesem Gesichtspunkt
Dingen, die einfach in einer solchen Debatte gesagt die Bundesländer — und das können ja nur die alten
werden müssen, vorzunehmen. Das Wichtige ist auf- Bundesländer sein — Solidarität mit dem Bund üben;
geschrieben. Das dient der Gedächtnisstütze. Das denn wenn die Zinsen bei uns dramatisch weiter stei-
stört eine Debatte nicht, sondern erleichtert sie. Ich gen, ist niemandem gedient.
hatte gedacht, der Kollege Walther werde eine Sach-
frage stellen. Vizepräsidentin Schmidt: Herr Kollege Glos, gestat-
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Roth?
der FDP — Zuruf von der FDP: Wie kommen
Sie denn auf diese Idee?) Glos (CDU/CSU): Ja. Ich habe noch eine Minute. In
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Zu- der wird sich das abwickeln lassen.
sammenhang mit der Finanzierung der Verpflichtun- (Heiterkeit bei der CDU/CSU — Schäfer [Of
gen, die jetzt zusätzlich auf uns zukommen, ist natür- fenburg] [SPD]: Wird nicht angerechnet!)
lich die Frage zu stellen, wie wir Einnahmeverbessun-
gen erzielen können, damit wir den Finanzrahmen
- Vizepräsidentin Schmidt: Herr Roth, bitte.
nicht überdehnen.
(Vorsitz : Vizepräsidentin Schmidt)
Roth (SPD): Verehrter Kollege! Ich habe eine
Hier will ich in keiner Weise den Koalitionsverein- schlichte Frage. Halten Sie die Reaktion des Bundes-
barungen oder den Überlegungen des Bundesfinanz- finanzministeriums — vielleicht hat es ja der Herr
ministers vorgreifen. Ich bin aber der Meinung, daß Waigel nicht gesehen; zu seinen Gunsten nehme ich
wir auch bei Einnahmeverbesserungen, die sein müs- das an — , das sei ausschließlich eine technische Reak-
sen, z. B. für den deutschen Beitrag im Golfkonflikt, tion und habe mit der Finanzpolitik überhaupt nichts
natürlich die Lehren aus der Vergangenheit beachten zu tun, für angemessen?
müssen und daß wir bei den Maßnahmen, die wir zu
treffen haben, darauf achten müssen, daß wir nicht die (Walther [SPD]: Dazu muß Waigel gehört
Wachstumsquellen zuschütten und berufliche und un- werden!)
ternehmerische Leistungen nicht wieder so stark be-
steuern, daß diese Quellen möglicherweise nicht Glos (CDU/CSU): Ich halte das natürlich für ein
mehr so gut sprudeln wie jetzt. Ich glaube, das muß Signal. Ich hoffe, daß dieses Signal von den interna-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 177

Glos
tionalen Finanzmärkten nicht allzu sehr mißverstan- Wenn Fälle eintreten sollten, die in keiner Weise am
den wird Horizont stehen, und falls sich neue Lagen ergeben,
(Roth [SPD]: Das habe ich doch nicht gefragt, muß man neu nachdenken.
Verehrter!) (Beifall bei der CDU/CSU)
und daß dadurch bei uns nicht ein weiterer starker
Zinsauftrieb erfolgt. Wir wissen, daß die Zinsen am
Markt sowieso über den Diskontsätzen und auch über Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat Herr
den Lombardsätzen liegen, so daß sich dadurch nicht Briefs.
automatisch eine Zinserhöhung ergeben muß. (Roth [SPD]: Wie oft kommen die denn
Ich persönlich hätte mir aber gewünscht, daß man dran?)
erst die Wirkung dessen abwartet, was wir in den letz-
ten Wochen vereinbart haben und in die Tat umset-
Dr. Briefs (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!
zen, und dann erneut über geldpolitische Maßnah-
men nachdenkt. Mir liegt es aber fern, den Zentral- Meine Damen und Herren! Vorsichtig gesagt, ist die
bankrat zu kritisieren. Das ist ja bei uns im Land fast Regierungserklärung unangemessen, nämlich unan-
genauso verboten, wie den Bundespräsidenten zu kri- gemessen der Kriegssituation, unangemessen insbe-
tisieren. So etwas würde mir sowieso nicht in den Sinn sondere der Umbruchsituation in Deutschland, in Eu-
ropa und insbesondere in den Bundesländern auf dem
kommen.
Gebiet der früheren DDR.
Da jetzt die gelbe Lampe leuchtet, bedanke ich
mich herzlich dafür, daß Sie so aufmerksam mit mir Dennoch, so inhaltsarm die lange, viel zu lange
diskutiert haben, und möchte, bevor mich die Frau Rede des Bundeskanzlers war, sie verrät, wohin es
Präsidentin mahnt, das Rednerpult verlassen. gehen soll:
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ja. In
die Zukunft!)
zu einer neuen Weltmachtrolle für die BRD,
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wo rt zu einer Kurzin-
tervention hat der Kollege Dr. Ullmann. (Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Es
heißt „Bundesrepublik" ! )
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Lieber Herr Kol- zu einer weiteren Verschärfung der sozialen Gegen-
lege Glos, zu den Kassandrarufen nur eine Berner- sätze im Westen wie im Osten, zur vollständigen Ver-
kung: Ich bin von Haus aus Optimist. Insofern habe nachlässigung und Deklassierung der Menschen im
ich mich getäuscht. Es ist viel schlimmer geworden, Osten.
als ich je vorausgesagt habe. Das prägt insbesondere auch die Vorstellungen zur
Nun aber Spaß beiseite. Haushalts- und Wirtschaftspolitik.
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: War das (Rossmanith [CDU/CSU]: Deshalb leben Sie
als Spaß gemeint?) auch in Holland!)
Zu meinen Feststellungen über das Einwanderungs- Die Großzügigkeit, mit der jetzt mehr als 13 Milliar-
land Deutschland: Wir haben schon früher zusammen den DM als erste Rate für den Golfkrieg bereitgestellt
debattiert und haben das immer sehr ernsthaft getan. werden, steht im Gegensatz zum Gekleckere im
Ich hoffe, daß das auch jetzt der Fall ist. Osten, wie es der Kollege Kühbacher hier sehr aus-
Daher frage ich Sie: Wenn jemand sagt, in dem von führlich dargestellt hat.
mir genannten Fall ist Deutschland ein Einwande- (Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Keine
rungsland, ist es dann in Ordnung zu behaupten, daß Ahnung!)
er damit in irgendeiner Weise habe implizieren wol- Intensive, gezielte Maßnahmen mit entsprechenden
len, das Existenzrecht des Staates Israel und seiner riesigen finanziellen Aufwendungen, um die BRD für
Bewohner und das Recht jedes Juden, dorthin einzu- die deutsche Beteiligung am Krieg und am möglichen
wandern, seien nicht der Eckstein jeder denkbaren Völkermord am Golf bereit zu machen,
deutschen Politik?
(Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!)
Vizepräsidentin Schmidt: Herr Glos, Sie dürfen ant-
das auf der einen Seite; Peanuts für den Osten, in dem
worten. die Arbeitslosigkeit steigt und steigt, auf der anderen
Seite: Schäbig ist diese Politik, einfach schäbig!
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Schämen
Glos (CDU/CSU): Ich will sehr gerne antworten. Ich
Sie sich!)
glaube, da liegt ein Mißverständnis vor. Ich habe Ih-
nen in keiner Weise unterstellt, daß das Existenzrecht Kein Plan, kein konkretes Konzept in der Regie-
des Staates Israel von Ihnen mit dieser Frage ir- rungserklärung zur Schaffung von ökologisch und so-
gendwo berührt werde. Ich habe nur gesagt: Die aller- zial sinnvollen Arbeitsplätzen, dafür aber Verharmlo-
beste Lösung, damit wir nicht darüber nachdenken sung der seit Anfang der 80er Jahre noch gewaltig
müssen, ist, daß wir alles dafür tun, das Existenzrecht gewachsenen Massenarbeitslosigkeit im Westen und
des Staates Israel zu sichern. schlichte Nichtzurkenntnisnahme der sich anbahnen-
Ansonsten haben wir ganz klare Entscheidungen. den, in die Perspektivlosigkeit führenden Beschäfti-
Wir sind kein Einwanderungsland. Wir gewähren sehr gungskatastrophe im Osten.
großzügig denjenigen Asyl, die politisch verfolgt sind. (Zurufe von der CDU/CSU)
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Dr. Briefs
Und wer wird für die deutsche Kriegsbeteiligung Wir fordern mit der Friedensbewegung: Kein Blut für
zur Kasse gebeten? Etwa die Rüstungsindustrie, die Öl!
sich mit legalen und i llegalen Lieferpraktiken an der (Zuruf von der CDU/CSU: Aber Blut an der
Vorbereitung des Golfkriegs auf beiden Seiten berei- Mauer in Berlin!)
chert hat? Etwa die deutsche Großwirtschaft mit ihren
riesigen vagabundierenden Kapitalien? Kein Steuerzahlergeld und auch kein sonstiges Geld
für den Krieg und Völkermord am Golf! Wir fordern
(Zuruf von der CDU/CSU: Das haben wir die Verwendung des unbestreitbar weiter wachsen-
40 Jahre in der DDR gehört! — Weitere Zu den Reichtums dieser Gesellschaft für vordringliche
rufe von der CDU/CSU: Aufhören!) soziale und ökologische Aufgaben.
Aber nicht doch: Bezahlen sollen die Verbraucher und (Zuruf von der CDU/CSU: Wie 40 Jahre in
die Lohnabhängigen. der DDR!)
(Zuruf von der CDU/CSU: Sie Amateurkom Zur Kasse gebeten werden müssen die Reichen, Ihre
munist!) Klientel, und nicht die kleinen Leute.
Gelegen kommt der Golfkrieg nämlich auch als An- (Zuruf von der CDU/CSU: Arbeiter haben
laß, um Steuer- und Sozialabgabenerhöhungen zu le- uns gewählt, nicht Sie!)
gitimieren. Eine soziale und ökologische Neuorientierung der
Wirtschafts- und Haushaltspolitik der nächsten vier
(Glos [CDU/CSU]: Sie Neustalinist!) Jahre: das hätte in die Regierungserklärung gehört
Die Regierungserklärung ist daher ein Programm zur statt der präsentierten Aneinanderreihung von militä-
doppelten Umverteilung: rischen Großmachtwünschen, politischer Eigenheim-
und Gartenzwergidylle und nationalkonservativer
(Schmitz [Baesweiler] [CDU/CSU]: Hammer Heimatduselei,
und Sichel lassen grüßen!)
(Dr. Vethoff [CDU/CSU]: Wann haben Sie
zur Umverteilung von zivilen und sozialen Ausgaben das alles aufgeschrieben?)
zu Kriegsausgaben; ein Programm zur Umverteilung das allerdings unterlegt mit Sozialabbau und weiterer
von unten nach oben zugleich. Umverteilung von unten nach oben.
(Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Wo le (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zurufe
ben Sie denn? — Weiterer Zuruf von der von der CDU/CSU: Pfui!)
CDU/CSU: Der Fliegende Holländer!)
Aber dieser Wahnsinn hat Methode; Ihr Wahnsinn
hat Methode: Er soll 50 Jahre nach den schlimmsten Vizepräsidentin Schmidt: Herr Abgeordneter B riefs,
Verbrechen der Menschheitsgeschichte, begangen ich weise Ihren Ausdruck „... um die BRD für die
im Namen, um Herrn Dregger zu zitieren, der deut- deutsche Beteiligung am Krieg und am möglichen
schen Na ti on an fast allen Nachbarvölkern, insbeson- Völkermord am Golf bereit zu machen" mit Entschie-
dere an den Völkern im europäischen Osten, die Deut- denheit zurück.
schen wieder militärisch salonfähig machen, mit Sol- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
daten, mit Waffen, mit Geld, mit politischem Druck. FDP)
Fehlen wird dafür das Geld bei der Sozialhilfe, deren
Empfängerzahl ständig wächst, bei der Bekämpfung Gestatten Sie mir bitte noch eine allgemeine Bemer
der Wohnungsnot, bei der Bekämpfung der Obdach- kung: Wir reden heute den ganzen Tag im wesentli-
losigkeit, die weiter zunimmt. Das Geld wird insbe- chen über Krieg und Frieden. Unsere Art, zu spre-
sondere bei dringlichen beschäftigungspolitischen chen, unser Tonfall, wird dazu beitragen, daß Denken
und umweltpolitischen Maßnahmen in den östlichen friedlicher wird. Sie sollten vielleicht einmal darüber
Bundesländern fehlen. nachdenken, ob Ihre A rt dazu beiträgt.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der
(Dr. Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Um Ih FDP — Zurufe von der CDU/CSU: Sehr gut!
ren Schrotthaufen aufzubauen!) Sehr wahr! — Frau Jelpke [PDS/Linke Liste]:
Aber die Bundesregierung, eingelullt durch die Mü- Das sollten Sie auch den anderen Fraktionen
helosigkeit des Anschlusses der DDR an die- BRD, im sagen! — Dr. B riefs [PDS/Linke Liste]: Sagen
Taumel über die Aussichten auf eine neue Weltmacht Sie das mal zu anderen!)
rolle der BRD, übersieht bzw. deutet die Warnzeichen Nun hat der Abgeordnete Weng das Wort.
in der Bevölkerung im Westen wie im Osten fehl. Die
Friedensbewegung in West und Ost und der soziale
Protest und Widerstand im Osten werden Sie, die Bun- Dr. Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsidentin!
desregierung und die Koalition, Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt
(Rossmanith [CDU/CSU]: Und Sie sprechen nicht ganz leicht, an dieser Stelle jetzt das Wort zu
vom Frieden! Sie können sich nicht einmal ergreifen, weil öffentlich der Eindruck entstehen
schämen!) könnte, man habe mit dem Vorredner irgend etwas zu
tun.
bald Ihre Grenzen sehen lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU —
(Zuruf von der CDU/CSU: Wo waren Sie die Zurufe von der CDU/CSU: Haben Sie nicht!
letzten 40 Jahre?) Keine Angst!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 179
Dr. Weng (Gerlingen)
Ich habe das nicht. Ich gehe auch auf nichts ein, was Ich will hier eines feststellen, was mit Blick auf die
hier vorgetragen worden ist, weder inhaltlich noch zu äußerste Linke dieses Hauses zu sagen ist: Herr
der Art und Weise. Ich sage das in voller Absicht, weil Modrow als Vertreter der SED/PDS, der Partei, die für
der Beginn meiner Rede sonst falsch interpretiert wer- den Zustand der Wirtschaft in der früheren DDR die
den könnte. alleinige Verantwortung trägt, ist ein schlechter An-
walt der dortigen Bürger.
Es ist Aufgabe der Opposi tion, bei der Aussprache
zur Regierungserklärung zu Beginn einer Wahlpe- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
riode tatsächliche oder vermeintliche Schwachstellen Widerspruch des Abg. Dr. B riefs [PDS/Linke
der Mehrheit und der Regierung aufzuzeigen. Dies ist Liste])
— wenn man ehrlich ist, muß man das einräumen —
Sein heutiges Anliegen war offensichtlich, Gräben
den Sprechern der Opposi tion in einigen Punkten ge-
aufzureißen. Dies darf und wird ihm nicht gelingen.
lungen. Es kann nicht meine Aufgabe sein, sie dafür
zu loben, aber ich stelle es fest. Die Übergangsphase verlangt zwangsläufig Opfer.
Sie verlangt diese Opfer leider von den direkt betrof-
(Beifall bei der FDP und der SPD) fenen Menschen am meisten. Aber diesen Menschen
Eine weitere Aufgabe der Opposi tion ist allerdings, ist sicherlich nicht damit gedient, wenn der Versuch
eigene Positionen und ernst zu nehmende Alternati- unternommen wird, sie aufzuhetzen. Ich bin auch da-
ven zum Regierungsprogramm darzustellen. Hierauf von überzeugt: Sie wissen, wer Schuld an ihrer augen-
haben wir, wie schon so oft in den vergangenen Jah- blicklichen Situation trägt.
ren, vergeblich gewartet. Unser Fraktionsvorsitzender hat heute vormittag
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) darauf hingewiesen, daß wir im Rahmen des Haus-
haltsverfahrens von der parlamentarischen Seite her
So gilt denn das Sprichwort: Die Hunde bellen, aber erneut Einsparungsmöglichkeiten suchen wollen und
die Karawane zieht ihren Weg. suchen werden, ehe wir uns über die mögliche Anhe-
(Walther [SPD]: Originalzitat Helmut Kohl!) bung von Steuern unterhalten. Wer aber wie Herr
Vogel im Vorfeld einer möglichen Steuerdiskussion
— Der Bundeskanzler, Herr Kollege Walther, hat
die Bezeichnung „Kriegssteuer" in den Raum stellt,
heute morgen ein anderes Zitat verwendet. Das habe
dem geht es sicherlich nicht um ordnungsgemäße Ab-
ich deswegen leider ändern müssen. Seines war auch
läufe öffentlichen Finanzgebarens, sondern der ver-
gut. sucht, Emotionen zu schüren.
(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Die FDP ist bef riedigt über den klaren Kurs, den die Zurufe von der SPD: Ach!)
Regierung in Sachen Haushaltspolitik vorgegeben
Die Koalitionsverhandlungen in Sachen Haushalts-
hat. eckwerte waren schwierig genug. Das Ergebnis ist
(Lachen bei der SPD) auch bei uns auf Kritik gestoßen. Aber unter Berück-
sichtigung der für uns Liberale immer besonders
Der Eckwertebeschluß der Bundesregierung vom
wichtigen Positionen der Deutschen Bundesbank zum
14. November 1990 gilt fort. Er legt die Koalition auf
Erhalt der Geldwertstabilität ist das Ergebnis zufrie-
eine Begrenzung der Nettokreditaufnahme von
denstellend.
70 Milliarden DM in diesem Jahr fest und plant mit-
telfristig einen Ausgabenanstieg um nur 2 To im Daß deshalb zumindest im Punkt Neuverschuldung
Jahr. keinerlei Spielräume nach oben mehr gegeben sind,
muß unstrittig sein. Wenn nun politisch notwendige
Wer nur ein klein wenig mit Struktur und Abwick-
zusätzliche Ausgaben auf Grund der Entwicklung am
lung öffentlicher Haushalte befaßt ist, der erkennt,
Gold unabweisbar sind — gerade wir sollten in diesem
welch eine große Aufgabe sich die Koalition gestellt
Bereich mit dem Feilschen nicht beginnen — , dann
hat. Das Erreichen dieses Ziels bedeutet in jedem
kann es sein, daß tatsächlich kein anderer Weg als der
Falle einschneidende Veränderungen der Ausgaben-
befristeter höherer Lasten für die Bürger möglich ist.
struktur. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß
Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt, darf
national allererste Pflicht ist, die Entwicklung in den
allerdings nicht quasi für das volle Faß allein schuldig
neuen Bundesländern massiv voranzubringen.
gemacht werden; das ist nicht korrekt.
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
der CDU/CSU — Richtig! bei der SPD)
der CDU/CSU — Walther [SPD]: Sehr gut!
Ich sage das auch mit Blick auf eine Vielzahl von Das geht gegen Herrn Kohl!)
dahin gehenden Äußerungen in der heutigen De-
Fragen des Rüstungsexports haben in der Debatte
batte, auch Äußerungen des Herrn Bundeskanzlers.
aus guten und gewichtigen Gründen einen wich tigen
Wir werden die Opposi tion daran messen, in wel- Raum eingenommen. Ich will auf einen Aspekt hin-
chem Maße sie uns beim Erreichen dieses Ziels unter- weisen, der bei der zukünftigen Gestaltung dieses
stützt. problematischen Themenkreises ebenfalls bedacht
werden muß. Die schnelle Forderung, Rüstungsex-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
porte nur noch in NATO-Länder zuzulassen, er-
Wir sind dazu bereit, dieses Ziel anzusteuern. Wir scheint spontan plausibel. Die Diskussion heute hat
werden auch harte parteipolitische Auseinanderset- aber gezeigt, daß schon diese Forderung zu kurz
zungen nicht scheuen. greift. Zusätzlich muß aber überlegt werden, was
180 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Weng (Gerlingen)


künftig im Bereich der Rüstungskooperationen ge- dem Beitrittsgebiet sind. Ich erinnere dabei an das,
schehen kann. was ich eben gesagt habe.
Wir brauchen innerhalb der NATO oder wenigstens (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
innerhalb der europäischen NATO-Staaten einfach der CDU/CSU)
deshalb eine gemeinsame Haltung, weil wir sonst die Im politischen Raum ist nichts schöner als die Dis-
derzeit vorhandene Grauzone belassen würden. Mo- kussion über Personalien.
derne Waffensysteme kann ein einzelnes Land heute (Zuruf von der SPD: Zum Beispiel die Staats
häufig nicht mehr alleine entwickeln. Wir sollten da- sekretäre!)
hin kommen, gemeinsame Rüstungsprojekte nur
— Sehr richtig, Herr Kollege. — Das Rollenspiel, der
noch mit den Ländern zu vereinbaren, die sich beim
Export unseren künftig noch schärferen und besser jeweils regierenden anderen Partei die Vergrößerung
kontrollierten Exportbestimmungen anschließen.
des Kabinetts vorzuwerfen, ist bekannt. Soweit ich
mich erinnern kann, haben immer alle Regierungen
(Beifall bei der FDP) — egal welcher politischen Couleur — die Zahl der
In diesem Zusammenhang freut mich, daß der BDI Regierungsposten vergrößert; vielleicht nicht immer
nach der heutigen Äußerung seines Präsidenten die ganz sachgerecht. So hätte auch ich, wenn ich in der
Forderungen, die Bundeswirtschaftsminister Mölle- Opposition wäre, zur Aufteilung des ehemaligen Mi-
mann gerade bezüglich der Verbesserung der Kon- nisteriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesund-
trolle und einer Verschärfung der entsprechenden heit sicher nichts anderes als Herr Vogel heute vormit-
Gesetzgebung aufgestellt hat, im wesentlichen unter- tag gesagt. Aber dies ist nicht meine Rolle.
stützt. (Beifall bei der FDP und der SPD — Schmitz
[Baesweiler] [CDU/CSU]: Dann würde ich
Ich will in diesem Zusammenhang, wenn Sie erlau- das auch lassen!)
ben, auch noch eine Anmerkung zum Vortrag des Kol-
legen Rühe machen. Ich hoffe, daß seine Äußerung Bei der ersten Regierungsbildung im jetzt deutlich
zur Kontrolle von Rüstungsexporten durch den vergrößerten Gesamtdeutschland — jetzt kommt der
Verfassungsschutz ein gedankenloser Schnellschuß Befreiungsschlag, Herr Kollege Schmitz — gibt es al-
war. lerdings eine plausible Begründung für eine gewisse
Ausweitung. Die Erfahrungen dieser Wahlperiode
(Beifall bei der FDP) sollten dann aber auch unbedingt genutzt werden, um
Über dieses Thema müssen wir intensiv unter rechts- sachgerecht zu straffen und das Kabinett auch wieder
staatlichen Aspekten diskutieren. Die Aufgaben sind zu verkleinern. Dies liegt in der Organisationsgewalt
nach unserer Überzeugung wesentlich besser bei an- der Bundesregierung. Die Verantwortung hierfür tra-
deren Behörden als beim Verfassungsschutz aufgeho- gen im wesentlichen der Herr Bundeskanzler und sein
ben. Wir sollten in diesem Punkt nicht etwas vom Finanzminister. Sie müssen sich dieser Verantwor-
Podium aus aufoktroyieren, sondern wir müssen die- tung bewußt sein.
ses Thema wirklich sehr intensiv diskutieren. (Beifall bei der FDP)
(Beifall bei der FDP — Hinsken [CDU/CSU]: Die FDP-Fraktion wird die Finanz-, Haushalts- und
Diese Meinung teile ich nicht, Herr Kollege! Wirtschaftspolitik der Bundesregierung in enger Ver-
— Rossmanith [CDU/CSU]: Auch diese bindung mit den Anliegen der Deutschen Bundes-
Überlegung muß man mit einbringen kön bank flankieren, wie sie dies auch schon in den ver-
nen!) gangenen Jahren getan hat.

Meine Damen und Herren, mir eilt die Zeit davon. Vizepräsidentin Schmidt: Herr Kollege Weng, wür-
Ich bitte deshalb um Verständnis, wenn ich jetzt eine den Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Wal-
Reihe von Aspekten, die ich eigentlich darstellen ther zulassen?
wollte, auslasse. Ich will mir aber gerade mit Blick auf
die Situation in den neuen Bundesländern folgenden
Hinweis nicht ersparen: Wir haben seinerzeit in der Dr. Weng (Gerlingen) (FDP): Frau Präsidentin, es
Anhörung des Haushaltsausschusses über die Kosten fällt mir außerordentlich schwer, jetzt nein zu sagen.
der deutschen Einheit die Position des DGB zur Ent- Sie wissen aber, daß meine Redezeit schon mehr als
wicklung von Löhnen und Gehältern in der früheren abgelaufen ist.
DDR zur Kenntnis nehmen können. Diese- Posi tion
hieß: möglichst schnell heranführen. Diese Posi tion ist Vizepräsidentin Schmidt: Das wird nicht angerech-
im Grundsatz vernünftig, aber natürlich muß sie durch net.
Rahmenbedingungen ausgekleidet sein, weil sonst
Investitionen in diesen Ländern unterbleiben. Das Dr. Weng (Gerlingen) (FDP): Gut.
aber kann sicher nicht vernünftig sein. Dann, Herr Kollege Walther, freiweg!
Ich habe damals dem Vertreter des DGB die Frage
gestellt, wie es eigentlich beim öffentlichen Dienst Walther (SPD): Herr Kollege Weng, ich hatte mich
aussehe. Er hat darauf geantwortet, da gelte diese schon gemeldet, als Sie noch über die Parlamentari-
Argumentation nicht. Aber er hatte keine anderen schen Staatssekretäre sprachen. Das Präsidium war
Argumente. Wer sich vor diesem Hintergrund die aber gestört. Deshalb bitte ich Sie um Nachsicht dafür,
augenblicklichen Forderungen von ÖTV und DAG daß ich meine Frage erst jetzt stelle, nachdem nun
vor Augen hält, der muß sagen, daß sie nicht maßvoll auch das Präsidium wieder zusehen und zuhören
und sicherlich kein Zeichen der Solidarität gegenüber kann.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 181
Walther
Ich schätze Sie so ein, daß Ihre Qualifikation minde- Die Wirtschaftsführung hat eine in der Geschichte
stens so hoch ist wie die Qualifikation der Mehrheit noch nie so dagewesene Mißachtung der natürlichen
der Parlamentarischen Staatssekretäre. Können Sie Lebensgrundlagen des eigenen Volkes verursacht.
mir sagen, warum Sie keiner geworden sind? Jetzt müssen wir betroffen feststellen, daß im Grunde
(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und nichts mehr da ist, was sich aus eigener Kraft reakti-
der FDP — Schäfer [Offenburg] [SPD]: Des vieren kann. Das ist auch die wahre Ursache dafür,
wegen!) daß die strukturelle Neuordnung der neuen Bundes-
länder nicht nur als Fassadenkosmetik oder punktu-
elle Reparatur zu bewerkste lligen ist, sondern mit vie-
Dr. Weng (Gerlingen) (FDP): Herr Kollege Walther, len unangenehmen Konsequenzen und Schmerzen im
diese Frage könnte nichtöffentlich etwas leichter be- sozialen Alltag unserer Mitbürger abläuft.
antwortet werden als öffentlich. Die Regierungskoalition hat mit den Koalitionsver-
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der einbarungen und der Regierungserklärung des Bun-
CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der deskanzlers die Weichen für die nächsten vier Jahre
SPD) gestellt. In der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik
Natürlich bedanke ich mich auch für das Lob, das Sie sind die Voraussetzungen geschaffen, damit es zur
mit Ihrer Frage zu meiner Person zum Ausdruck ge- Angleichung der Lebensverhältnisse kommen kann.
bracht haben. Wenn Sie mich jetzt aber fragen, ob ich Die noch vorhandenen Standortnachteile in den
Ihre Frage beantworten kann, dann sage ich: Nein. neuen Bundesländern verursachen derzeit eine be-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ängstigende Abwanderung von Menschen in die al-
Meine Damen und Herren, wir werden die richtigen ten Länder. Für den Ausgleich aller Standortnachteile
Schwerpunkte setzen. Wir werden von der Haushalts- reichen die Investitionsbeihilfen, Sonderabschreibun-
seite her den Zweifrontenkampf gegen übertriebene gen, Freibeträge und der Steuerverzicht nicht aus, so
Begehrlichkeiten der Regierung wie auch gegen un- wichtig sie auch sind.
realistische Versprechungen der Opposition erneut Unter gleichen marktwirtschaftlichen Bedingungen
aufnehmen. Finanzpolitisch stehen wir vor einem au- in ganz Deutschland ist es einfacher, die Verbraucher
ßerordentlich schwierigen Zeitabschnitt. Ich bin aber aus den entwickelten Ländern zu versorgen. Für die
sicher, daß auch die stabile Mehrheit der Koalition Arbeitnehmer in den neuen Bundesländern entsteht
dazu beitragen wird, dieser Herausforderung gerecht so ein Sog, der sie in die Regionen zieht, in denen sie
zu werden. Die FDP-Fraktion jedenfalls wird ihren Arbeit finden. Das sind nun einmal die alten Bundes-
Beitrag hierzu leisten. länder. Wir müssen deshalb in den neuen Ländern für
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) dauerhaft günstige Investitionsbedingungen sorgen
und die noch bestehenden Hemmnisse und Standort-
nachteile durch der Situation angepaßte und zeitwei-
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Abge- lig vielleicht auch von der Bundesgesetzgebung ab-
ordnete Nitsch. weichende Vorschriften kompensieren.
Einige Dinge vielleicht konkret. Erstens. Die Redu-
Nitsch (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! zierung und Beschleunigung aller Raumordnungs-,
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die zügige Planfeststellungs- und Verwaltungsgerichtsverfah-
Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen ren besonders im Infrastruktur- und Umweltbereich
Bundesländern ist das erklärte Ziel der Bundesregie- muß sichergestellt werden. Der Planungsvorlauf für
rung. Die umfassende Herstellung vergleichbarer Ge- Vorhaben ist derzeit gleich null. Es muß deshalb in
gebenheiten in den wirtschaftlichen Tätigkeiten in kürzester Zeit durch Zusammenlegung von Planungs-
den neuen Bundesländern ist dafür die unerläßliche stufen und durch vom Gesetzgeber vorgegebene kür-
Voraussetzung. Soll diese Herausforderung erfolg- zeste Fristen bei gleitender Planung mit den Baumaß-
reich bewältigt werden, so ist sie als eine Aufgabe nahmen begonnen werden können. Wir können nicht
anzusehen, bei der ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit mehrjährige Planungsstufen und Verwaltungsge-
vieler in unserem Staat unerläßlich ist. richtsverfahren abwarten.
Zunächst möchte ich jedoch all denjenigen herzlich Die Engpässe in der Infrastruktur müssen schnell-
danken, die in den vergangenen Monaten darum - be- stens beseitigt werden. Dies ist insbesondere auch vor
müht waren, das wirtschaftliche Leben in den neuen dem Hintergrund eines Investitionsvolumens west-
Bundesländern nach dem bedingungslosen Bankrott deutscher Unternehmen von 27 Milliarden DM im
der sozialistischen Kommandowirtschaft aufrechtzu- Jahr 1991 wichtig. Nach Expertenmeinungen wären
erhalten und unter marktwirtschaftlichen Gesichts- jedoch in den neuen Ländern 1991 Investitionen von
punkten neu zu ordnen, und das unter Arbeits- und 50 Milliarden DM absorbierbar. In Anbetracht der
Lebensbedingungen, die von den hier üblichen er- 900 Milliarden DM oder mehr, die in den nächsten
heblich abweichen. Jahren zur Angleichung der Lebensverhältnisse not-
Von Anfang an waren wir uns der Last der soziali- wendig sind, ist es auch erforderlich, daß über die
stischen Hinterlassenschaft bewußt. Dennoch wissen 27 Milliarden DM hinaus investiert wird.
wir heute, daß aus der Vergegenwärtigung sowohl (Zustimmung bei der CDU/CSU)
des tatsächlichen Verfallgrades der ostdeutschen
Zweitens. Die Bildung von privatem Wohneigen-
Wirtschaft als auch des zeitlich parallelen Zusammen-
tum gehört zu den ganz vordringlichen Aufgaben.
bruchs des RGW vieles neu bedacht und mit weiter-
gehenden Konsequenzen gehandhabt werden muß. (Zustimmung bei der CDU/CSU)
182 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Nitsch
In diesem Bereich sind ohne großen Aufwand vielfäl- delt sind. Ich weiß, daß nicht alle Institute überleben
tige Effekte zu erzielen. In der ersten Stufe sind die können. Ich bin aber der Meinung, daß dort, wo Kon-
Wohnungen des staatlichen und kommunalen Woh- zepte für die zukünftige Arbeit vorhanden sind, eine
nungsbestandes ausschließlich den Mietern zum Kauf angemessene Grundfinanzierung als Hilfe zur Selbst-
anzubieten. hilfe für einen eingeschränkten Zeitraum bereitge-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord stellt werden sollte. Einmal Gestorbenes läßt sich nur
neten der FDP) mit großem Kraft- und Mittelaufwand wiederbeleben
oder neu ansiedeln. Ich kann Ihnen an verschiedenen
Eine breite Eigentumsbildung setzt jedoch voraus, Beispielen belegen, daß nach einer anfänglichen Läh-
daß der Kaufpreis zwischen 100 und 200 DM je m 2 mung jetzt erfolgversprechende Konzepte in den In-
Wohnfläceigt.BdruhsnliceWo- stituten der ehemaligen Kombinate entwickelt wor-
nungsgröße in den neuen Bundesländern bleiben wir den sind oder werden.
damit im Bereich des Anschaffungspreises eines Au-
tos. Die Schuldenlast für den Wohnungsbestand muß, Fünftens. Eines ist in der Entwicklung der letzten
soweit sie über diese Einnahme nicht gedeckt werden Monate in den neuen Bundesländern sehr deutlich
kann, über das Zinsmoratorium hinaus eine Lösung geworden: Die gepriesenen Errungenschaften des So-
erfahren, die weder die Länder belastet noch die Pri- zialismus haben sich als Kartenhaus erwiesen. Das gilt
vatisierung verhindert. in ganz hohem Maße für die Wettbewerbsfähigkeit
der Unternehmen. Insbesondere die Arbeitnehmer
Durch diese Wohnungsprivatisierung erhalten die
haben dies heute zu büßen. Durch die jahrzehnte-
Kommunen und Länder Finanzmittel. Sie werden zu-
lange Abschottung vom Wettbewerb fehlen in den
dem nicht weiter mit den Subventionierungen der
Betriebskosten für die Wohnungen belastet, die der- Unternehmen kompetentes Management, Markt-
kenntnisse und technologisches Niveau.
zeit die Länder zu tragen haben. Wir haben das heute
ja mehrfach gehört. Diese Leistungsschwäche der Wirtschaft in den
Das Wichtigste ist aber: Es würde sofort eine Welle neuen Bundesländern führt dazu, daß Bet riebe mit
von Modernisierungs- und Sanierungsarbeiten ein- allen sozialen Konsequenzen, die es zeitweilig in ein-
setzen, die sowohl unseren Handwerkern als auch zelnen Regionen auch der alten Bundesländer gege-
den mittelständischen Bet rieben und den Kurzarbei- ben hat, stillgelegt werden müssen. Vor diesem Hin-
tern mit Beschäftigung null Auftrags- und Arbeits- tergrund sind die Sorgen und Befürchtungen der Mit-
möglichkeiten bringen würde. bürger in den neuen Bundesländern über die weitere
Beschäftigungslage sehr groß.
(Sehr richtig! bei der CDU/CSU)
Drittens. Die Treuhandanstalt ist bei der Privatisie- Ganz große Sorge bereiten uns vor allem die Unter-
rung der ehemals volkseigenen Bet riebe an ihre per- nehmen, die bisher einen großen Anteil ihrer Pro-
sonellen Grenzen gestoßen. Der zeitliche Ablauf bei dukte in das Gebiet des ehemaligen Rates für gegen-
den Verkaufsverhandlungen muß verkürzt werden. seitige Wirtschaftshilfe exportiert haben. Dorthin sind
Dazu sollte die Treuhandanstalt in größerem Umfang unter dem alten Regime rund zwei Drittel a ll er Ex-
einschlägige Unternehmen einschalten, die in ihrem porte gegangen. Länder wie Polen, Bulgarien oder
Auftrag und nach ihren Vorgaben die Privatisierung Ungarn verfügen nicht über ausreichende konvertible
professionell durchführen. Währungen und können deshalb die bisherigen Wa-
renlieferungen nicht aufrechterhalten. Zudem sind
(Beifall bei der CDU/CSU) auch westliche Anbieter für mittel- und osteuropäi-
Die Privatisierung aller Bet riebsteile aus den ehe- sche Unternehmen unter diesen Bedingungen häufig
maligen Kombinaten ist in die regionale Zuständig- attraktiver.
keit der Außenstellen der Treuhandanstalt in den Die Unternehmen der neuen Bundesländer müssen
Ländern zu übergeben. Zur zügigen Abwicklung der ihre Wirtschaftsbeziehungen zu den mittel- und
Privatisierung sind als Voraussetzung für den schnel- osteuropäischen Unternehmen, mit denen sie seit Jah-
leren Verkauf auch die rechtlichen Fragen im Vermö- ren gute Geschäftsbeziehungen unterhalten, nun
gensbereich zu klären und Ergänzungen zum Gesetz selbst weiterführen. Daran führt kein Weg vorbei.
für besondere Investitionen schnellstens zu verab- Durch diese unternehmerischen Initiativen können ja
schieden. immerhin bis zu 1,5 Millionen Arbeitsplätze erhalten
- werden.
(Sehr wahr! bei der CDU/CSU)
Es dürfen keine weiteren zeitlichen Verzögerungen Es muß jedoch überlegt werden, ob die Sonderkon-
auftreten, und es müssen klare und einfache Lösun- ditionen bei den Ausfuhrbürgschaften als Exporthil-
gen gefunden werden. Erfolge sind bald nötig, um fen ausreichen. Weitere Flankierungen müssen dazu
eine Verunsicherung der Bevölkerung zu verhindern. beitragen, daß ein hohes Maß an Exporten auch unter
Wer zu spät hilft, hilft nur halb. marktwirtschaftlichen Bedingungen aufrechterhalten
(Beifall bei der CDU/CSU) werden kann. In diesem Zusammenhang verweise ich
auf das Wohnungsbauprogramm in der SU im Zu-
Viertens. Die Ausführungen des Bundeskanzlers sammenhang mit der Rückführung der Sowjetarmee.
zur Forschung und Technologie in den neuen Bun- Es muß sichergestellt werden, daß hieran ein großer
desländern begrüße ich nachhaltig. Es geht in diesem Anteil von Unternehmen aus den neuen Bundeslän-
Bereich allerdings nicht nur um Akademieinstitute, der mitwirkt.
sondern auch um die Institute, die im Bereich der
Wirtschaft, d. h. der ehemaligen Kombinate angesie (Beifall bei der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 183

Nitsch
Die bisher bekanntgewordenen Anteile reichen nach Ich fasse zusammen. Die Probleme in den neuen
meiner Auffassung nicht aus. Bundesländern dürfen nicht auf die lange Bank ge-
schoben werden. Entscheidend ist der Zeitfaktor. Sie
An dem 8-Milliarden-DM-Programm sollten ange-
bedürfen einer schnellen Lösung; denn die Menschen
sichts der Probleme, die ich aufgeführt habe, mehr
wurden über 40 Jahre lang benachteiligt und dürfen
Bauunternehmen und Ausrüstungsbetriebe beteiligt
jetzt nicht ungeduldig werden. Unsere Devise muß
werden. Es darf nicht unser Ziel sein, daß Unterneh-
„Jetzt handeln" heißen, um auf allen Gebieten des
men aus den alten Bundesländern ihre Konjunktur
sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens die
weiter hochkurbeln, während es in den neuen Bun-
Begeisterung für Deutschland zu erhalten.
desländer zu zusätzlichen Einbrüchen kommt.
Ich danke Ihnen.
Sechstens. Der Aufbau der Verwaltung in den
Kommunen und Ländern erfolgt zur Zeit mit kompe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
tenten und qualifizierten Fachkräften. Jedoch wird
durch die sich vergrößernden Gehaltsdifferenzen zwi-
schen Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung eine Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Abge-
Besetzung der offenen Stellen in den öffentlichen Ver- ordnete Dr. Seifert.
waltungen immer schwieriger. Die kommunalen Spit-
zenverbände sollten daher eine Initiative ergreifen,
die Patenschaften zwischen Städten, Gemeinden und Dr. Seifert (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!
Landkreisen begründet. Die Städte, Gemeinden und Meine Damen und Herren! Nachdem gestern in der
Landkreise der alten Bundesländer sollten sich jeweils Regierungserklärung über sehr viele Sachverhalte
aktiv um den Aufbau der Verwaltung ihres Patenkrei- sehr rasch hinweggegangen worden ist, gestatten Sie
ses bemühen. Das kann — wie es teilweise schon ge- mir bitte, auf ein Thema etwas deutlicher einzugehen,
schieht — über die zeitweise Abordnung von Mitar- und zwar aus der Sicht der Opposition. Ich möchte
beitern, aber wesentlich besser und effektiver durch mich auf die Fragen des Wohnungsbaus und der Mie-
einen zeitweiligen Personalaustausch erfolgen. Das ten konzentrieren. Denn Wohnungsfragen und
wird auch zu einer besseren und schnelleren Herbei- Wohnraumnot sind nun einmal ein gesamtdeutsches
führung der inneren Einheit beitragen. Problem und nicht auf das Gebiet der ehemaligen
Im gesamten kommunalen Bereich könnte noch DDR zu reduzieren.
sehr viel mehr Unterstützung gegeben werden. Die Es macht mich bedrückt, wenn ich in der Fußgän-
anfängliche Eupho rie ist abgeebbt. Nur wenige Bezie- gerzone von Bonn tagsüber schlafende oder bettelnde
hungen zwischen den Kommunen sind institutionali- Obdachlose sehe. Genauso macht es mich bedrückt,
siert. Deshalb können auch die vom Bund schon ge- wenn ich sehe, wie in der Mainzer Straße in Berlin-
schaffenen Rahmenbedingungen vor Ort nicht schnell Friedrichshain die Polizei Häuser räumt, die von Men-
genug umgesetzt und entfaltet werden. schen besetzt sind, die dort wohnen wollen,
Siebtens. Die Finanzausstattung der Länder und (Zuruf von der CDU/CSU: Chaoten!)
Gemeinden in den neuen Bundesländern ist unzurei-
die dort eine Volksküche und einen Spielplatz ein-
chend. Es ist zu erwarten, daß in dem Gespräch zwi-
schen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsiden- richten.
ten der Länder Ende Februar eine bessere Finanzaus- Allein durch eine bundesweite Fehlbelegungsab-
stattung zustande kommt. Hier appelliere ich insbe- gabe ist dieses Problem nicht zu lösen. Es müssen ein-
sondere an die SPD-regierten Bundesländer, ihrer ge- fach mehr Wohnungen gebaut werden. Sozialer Woh-
samtstaatlichen Verantwortung gerecht zu werden. nungsbau, Wohngeld und soziales Mietrecht wirken
Eine Aufstockung des Fonds „Deutsche Einheit" um nur dann wirklich zugunsten der Nutzer, wenn nicht
kreditfinanzierte 6 Milliarden DM für das Jahr 1991 durch künstliche Verknappung eine preistreibende
reicht nicht aus. Wir brauchen eine Verbesserung der Nachfrage erzeugt wird, die dann den ortsüblichen
Stufenregelung bei der Umsatzsteuerverteilung unter Preis hochtreibt.
den Ländern. (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Also, von künst
Ich möchte auch daran erinnern, daß durch die Ab- licher Verknappung kann ja keine Rede sein!
wanderung unserer Menschen den westlichen Kom- Das ist ja Unsinn!)
-
munen und Ländern Lohnsteuern von Arbeitnehmern Herr Bundeskanzler, was heißt denn „P rivates Wohn-
zufließen, für die ihnen bisher keinerlei Kosten für eigentum muß attraktiv werden" ? Wollen Sie durch
Erziehung und Ausbildung entstanden sind. Mein den Verkauf staatseigener Wohnungen die Kommu-
Vorschlag ist deshalb, daß für alle Arbeitnehmer, die nen sanieren, oder wollen Sie den Menschen in Form
bis zum 9. November 1989 — oder meinetwegen auch ihrer Wohnung, z. B. durch einen symbolischen Preis
noch früher — ihren Wohnsitz in den neuen Bundes- von einer Mark pro Quadratmeter, ihren Anteil am
ländern hatten, die Steuern so lange zurückfließen, Volkseigentum nun endlich zusichern? Im ersten Fall
bis die Umsatzsteuerverteilung zwischen den Län- hieße das: teure Wohnungen. Im zweiten Fall würde
dern voll geregelt ist. es der Anregung vom Herbst 1989 entsprechen und
(Beifall bei der CDU/CSU — Hinsken [CDU/ von uns selbstverständlich unterstützt werden.
CSU]: Interessanter Vorschlag!) (Zustimmung bei der PDS/Linke Liste)
Zusätzlich sollte die Strukturhilfe der alten Bundes- Aber eine Frage: Warum ist kein Wort zum genos-
länder den neuen Bundesländern verfügbar gemacht senschaftlichen Wohneigentum gesagt worden? Ein
werden. freiwilliger Zusammenschluß der Eigentümer wäre
184 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Seifert
doch nichts Schlechtes. Er hat sich durchaus be- Bilder von toten und verletzten Menschen werden uns
währt. durch die Zensur vorenthalten. Was wir sehen kön-
(Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) nen, ist die Natur als furchtbar zugerichtetes hilfloses
Opfer. Wir sehen qualvoll sterbende Seevögel, und
Sie wollen den Schutz der Mieter vor übermäßigen
wir wissen, daß die wertvollen Ökosysteme des Persi-
Mietsteigerungen verstärken. Aber notwendige Erhö-
hungen sollen am Einkommen orientiert werden. schen Golfs, die Muschel- und Korallenbänke, die
Wieso denn eigentlich nicht am Wohnkomfort? Über- Delphine und Kormorane diesen Krieg nicht überle-
haupt fehlt jedes Wort zur Qualität des Wohnens. ben werden. Neben der humanitären Hilfe muß die
Eindämmung der verheerenden ökologischen Folgen
Dazu gehört meines Erachtens nicht nur der Komfort
der einzelnen Wohnung; dazu gehören klare städte- dieses Krieges ein Schwerpunkt unserer Hilfeleistun-
gen für die Golfregion sein.
bauliche Konzepte inklusive des öffentlichen Perso-
nennahverkehrs, inklusive der Faktoren soziales Um- (Beifall bei der SPD)
feld, Schulen, Kindereinrichtungen, medizinische
Versorgung, Verkaufseinrichtungen usw., inklusive Schnelle und unbürokratische Hilfe wird durch die
der Pflicht z. B. zum behindertengerechten Bauen. Ich andauernden Kriegshandlungen behindert. Die Ein-
empfinde es durchaus als diskriminierend, daß ich richtung einer ökologischen Eingreifgruppe reicht
meine Freunde nicht besuchen kann, weil ich die nicht. Ökologische Hilfe muß — dies sollte eine der
Treppen hochgetragen werden muß. „Behinderten- Konsequenzen aus diesem Krieg sein — den gleichen
gerecht" heißt in jeder Phase der Konzipierung, Pla- völkerrechtlichen Status erhalten wie die humanitäre
nung, Ausschreibung, Projektierung und Bauausfüh- Hilfe des Roten Kreuzes.
rung, die Betroffenen selbst, und zwar verbindlich,
einzubeziehen. Der Allgemeine Behindertenverband (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
in Deutschland „Für Selbstbestimmung in Würde", der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/
der ABiD, dessen Präsident ich bin, ist bereit, dazu GRÜNE)
kompetente Hilfe zu bieten.
Auch für „den Tag danach" muß die Wiederherstel-
lung einer intakten Umwelt einen Schwerpunkt unse-
Vizepräsidentin Schmidt: Herr Kollege Seifert, darf rer Hilfe für die Golfregion bilden. Dafür sollten wir
ich Sie bitten, zum Schluß zu kommen.
bereits heute die notwendigen Vorbereitungen tref-
fen. Auch für die geschundene Natur am Golf ist das
Dr. Seifert (PDS/Linke Liste): Es tut mir leid. Dann möglichst schnelle Einstellen der kriegerischen Hand-
sage ich den letzten Satz: Wohnungsfragen sind nun lungen die zur Zeit wirksamste Hilfe.
einmal zutiefst menschliche Existenzfragen, und ich
wäre froh, wenn hier nicht der Gewinn in Form von (Beifall bei der SPD)
Dividende, sondern der Gewinn an Lebensqualität für
den einzelnen zum Maßstab aller Dinge würde. Auch bei diesem Krieg werden die katastrophalen
Vielen Dank. Folgen für die betroffenen Menschen und für die Um-
welt den Anlaß und die Ursachen überdauern. Die seit
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Dr.-Ing. einiger Zeit gegebene Möglichkeit des Menschen,
Kansy [CDU/CSU]: Jetzt müssen wir erst ein sich selbst und seine Umwelt völlig zu vernichten, ist
mal das wieder herrichten, was ihr an Trüm für diese Region in greifbare Nähe gerückt. Wir haben
mern hinterlassen habt!) nur eine Welt, meine Damen und Herren, und es gibt
kein Ziel, das das Auslöschen dieser Welt rechtferti-
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat Herr Abge- gen könnte. Kriegsvermeidung, Wiederherstellung
ordneter Schäfer (Offenburg). des Friedens ist darum das oberste Ziel, dem alle Poli-
tik zu dienen hat.
Schäfer (Offenburg) (SPD): Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
liebe Kollegen! Ich muß gestehen, daß es mir schwer- GRÜNE)
fällt, hier heute über die Politikbereiche Umwelt und
Neben der Wiederherstellung des Friedens ist die
Energie in der Regierungserklärung zu sprechen,
Bewahrung und Sicherung der natürlichen Lebens-
während am Persischen Golf der Krieg tobt. Es wird
- grundlagen unsere wichtigste Aufgabe. Die ökologi-
uns wieder einmal bewußt, daß Kriege Menschen tö-
sche Erneuerung in den Industrieländern darf nicht
ten und immer auch ökologische Katastrophen sind,
vernachlässigt werden. Nur wenn wir in den reichen
deren Folgen, auch wenn der Krieg längst vorbei ist
Industrieländern unseren Verbrauch an knappen
und wenn die Waffen längst wieder schweigen, noch
Rohstoffen und Umweltgütern reduzieren, werden
lange nachwirken. Ein Krieg wie dieser kann in weni-
sich die armen Länder und Regionen der Erde entwik-
gen Stunden die Lebensgrundlagen einer ganzen Re-
keln können. Die ungleiche Verteilung des Reichtums
gion zerstören. Er vernichtet in Stunden, was in Jahr-
und der damit verbundenen bzw. unterbundenen Ent-
hunderten, ja Jahrmillionen entstanden ist und was
wicklungschancen ist eine wesentliche Ursache für
die Umweltpolitik in Jahrzehnten nicht wieder auf-
kriegerische Konflikte. Wenn es nicht gelingt, die Un-
bauen kann, wenn Wiederherstellung überhaupt
gleichheit zwischen reichen und armen Ländern ab-
möglich ist.
zubauen, besteht die Gefahr, daß diese Konfliktursa-
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) che in den vor uns liegenden Jahrzehnten angesichts
Die Folgen von Saddam Husseins Umweltterror für weiter dramatisch wachsender Weltbevölkerung an
Weltklima, Ozonschicht und Meer sind verheerend. Bedeutung gewinnt. Der Golfkrieg, meine Damen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 185
Schäfer (Offenburg)
und Herren, hat seine Ursachen auch in der Vertei- Die Belastung von Nord- und Ostsee nimmt zu.
lungsungerechtigkeit in dieser Region.
(Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Trinkwas
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) ser!)
Wir müssen in dem vor uns liegenden Jahrzehnt Immer mehr Arten verschwinden, weil ihre Lebens-
auch deshalb den Durchbruch zu einer umwelt- und räume zerstört worden sind. Allergien und umweltbe-
naturverträglichen Form des Wirtschaftens finden. dingte Krankheiten häufen sich.
Wir Sozialdemokraten wollen, daß die Wirtschaft vor
Ich sehe gerade den Kollegen Schmidbauer, dem
allem in den neuen Bundesländern wächst, damit
ich für meine Fraktion in seinem neuen Amt alles Gute
möglichst alle Arbeit finden. Aber dieses Wachstum
wünsche. Er stimmt in der Analyse mit uns überein.
muß einhergehen mit sinkendem Verbrauch von
Energie und Rohstoffen und mit einer zurückgehen- Zudem droht uns mit der Klimakatastrophe eine
den Belastung von Natur und Umwelt. Das, meine Umweltzerstörung bisher nicht gekannten Ausma-
Damen und Herren, ist der Kern der ökologisch-so- ßes.
zialen Marktwirtschaft. Die Regierungserklärung und das Ergebnis Ihres
(Beifall bei der SPD) kleinkarierten Koalitionsgerangels werden diesen ge-
waltigen Herausforderungen nicht gerecht.
Dem muß — da ist noch ein Stück Arbeit zu leisten —
auch unser wirtschaftspolitisches Instrumentarium (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
angepaßt werden, das Stabilitäts- und Wachstums GRÜNE)
Gesetz, andere Einzelgesetze wie z. B. das Energiege- Ein Gesamtkonzept für den ökologischen Umbau der
setz und die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Industriegesellschaft ist darin nicht erkennbar. Vieles
(Baum [FDP]: Machen wir!) ist allenfalls — und das ist noch positiv an Ihre Adresse
gesagt — nur Stückwerk, meine Damen und Her-
Derzeit entfallen auf 15 % der Weltbevölkerung ren.
mehr als 50 % des globalen Energieverbrauchs. Eine
Übertragung dieser Entwicklung auf die gesamte (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
Weltbevölkerung bei gleichen Produktionsstrukturen, CSU: Das ist dieselbe Rede, die Sie jedes
Produktionsweisen und Konsumgewohnheiten würde Jahr halten!)
den sofortigen ökologischen Zusammenbruch bedeu- Ihre Ankündigungen, den Umweltschutz zu einem
ten. Schwerpunkt der künftigen Regierungsarbeit zu ma-
Ich will ein Beispiel dafür nennen. Uns wird progno- chen, werden durch die Regierungserklärung nicht
stiziert, daß die Zahl der Kraftfahrzeuge in den näch- eingelöst. Die Leitlinien Ihrer Umweltpolitik sind
sten 30 Jahren von heute 500 Millionen weltweit auf nicht von den ökonomisch-ökologischen Notwendig-
zwei Milliarden ansteigen soll. Wenn die Auswirkun- keiten, sondern in der Schlußphase vom Rotstift des
gen dieser Motorisierung auf unser Klima auch nur Finanzministers diktiert worden.
konstant gehalten werden sollten, was ökologisch (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch
nach allem, was wir wissen, schon einer Katastrophe gar nicht!)
gleichkäme, dürften diese Kraftfahrzeuge nur noch
ein Viertel des heutigen Kraftstoffbedarfs haben, also In der Schlußrunde wurde im Bereich Umweltpolitik
statt 101 nur noch 2,5 1 Benzin auf 100 km verbrau- bei den Koalitionsverhandlungen alles zusammenge-
chen. Dieses kleine Beispiel mag zeigen, wie gewaltig strichen, was Geld kostet.
die Aufgabe ist, die vor uns liegt und die wir gemein- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist dieselbe
sam anzupacken haben. Rede, die Sie jedes Jahr halten! Schreiben
Es ist auch in dieser Regierungserklärung — zum Sie eine neue Rede!)
Teil schulterklopfend — auf die angeblichen Erfolge Natürlich, meine Damen und Herren, muß im Bun-
in der Umwelt-, Energie- und Verkehrspolitik hinge- deshaushalt gespart werden. Sie sparen aber an der
wiesen worden. falschen Stelle.
(Baum [FDP]: Ja mit Recht!) (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Die Fakten sprechen eine andere Sprache. GRÜNE)
-
(Lennartz [SPD]: So ist es, Baum!) Sie sparen zu Lasten der Umwelt. Sie haben noch
immer nicht beg riffen, daß Investitionen zur Erhal-
Mit dem bisher Geleisteten können wir nicht zufrie-
tung von Natur und Umwelt die langfristig rentabel-
den sein. Trotz einzelner Fortschritte bei der Reduzie-
sten Investitionen sind, auch wenn wir es ökonomisch
rung bestimmter Schadstoffe — Schwefeldioxid wird
betrachten.
zu Recht immer genannt — sind wir einer ökologisch
verträglichen Wirtschaftsstruktur insgesamt kaum nä- (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
hergekommen. GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Sie rei
(Baum [FDP]: Das ist doch falsch! — Frau ten immer das falsche Pferd!)
Schulte [Hameln] [SPD]: Nein, da hat er Am Ziel der ökologischen Erneuerung müssen wir
recht!) auch bei veränderten, verschlechterten weltwirt-
schaftlichen Rahmenbedingungen und nachlassender
Im Gegenteil, meine Damen und Herren, der Wald
stirbt unvermindert weiter. Konjunktur festhalten. Umweltpolitik darf keine
Schönwetterpolitik sein, die man sich in Zeiten guter
(Zuruf von der SPD: Unglaublich!) Konjunktur, bei guter Wirtschaftslage gleichsam als
186 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Schäfer (Offenburg)
Luxus leisten kann. Umweltpolitik muß fester Be- men und Instrumente ausrichten. Eine solche mittel-
standteil anderer Politikbereiche, beispielsweise der fristige Zielbeschreibung, etwa in Form eines „Um-
Wirtschaftspolitik, beispielsweise der Finanzpolitik weltprogramms 2000" nach dem Beispiel der nieder-
sein. Moderne Umweltpolitik ist zugleich moderne ländischen Regierung, sucht man in Ihrem Regie-
Industrie- und Wirtschaftspolitik. Moderne Wirt- rungsprogramm jedoch vergeblich.
schafts- und Industriepolitik muß zugleich Ökologie
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Wir sind aber ein
politik sein, wenn wir die Zukunft ökologisch und
deutig besser als die Holländer! — Zuruf von
überlebensfähig gestalten wollen, meine Damen und
der FDP: Weit besser!)
Herren. Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen.
— Das, Herr Geißler, ist ein Gerücht. Wir Sozialdemo-
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke kraten wollen die umweltverträgliche Erneuerung un-
Liste) serer Produktionstechniken und Produkte, wo immer
Auf diese Aufgabe antworten Sie nur mit kleiner, ja, es zu verantworten ist, dem Einfallsreichtum der Inge-
mit kleinkarierter Münze. nieure, Wissenschaftler, Techniker, Unternehmer und
Verbraucher überlassen. Auch die Arbeitnehmer in
Die Regierung begreift in der Wirklichkeit ihrer
den Betrieben — das gilt auch und besonders für die
Politik — also in der Regierungserklärung, nicht in der
neuen Bundesländer — müssen daran besser als bis-
Umweltrhetorik, die einige Mitglieder der Bundesre-
her mitwirken können.
gierung wirklich nicht ungekonnt verbreiten — Um-
weltpolitik immer noch im wesentlichen als nachge- Aufgabe der Politik ist es, hierfür Rahmenbedin-
schaltete Reparatur, die nur aus dem Produktivitäts- gungen zu schaffen. Ein wich tiges Instrument ist da-
fortschritt finanziert werden kann. bei der Preis. Die tatsächlichen Kosten der Umwelt-
zerstörung müssen im Preis der Produkte enthalten
(Zuruf von der SPD: Ach, noch nicht einmal sein. Es muß teurer werden, Energie zu vergeuden
das!) und die Umwelt zu belasten. Es muß sich umgekehrt
Moderne Umweltpolitik beschränkt sich aber gerade auszahlen, Energie zu sparen und die Umwelt zu
nicht darauf, eingetretene Schäden der Produktion schonen.
nachträglich zu reparieren. Moderne Umweltpolitik Nicht zuletzt der Krieg am Golf zeigt, daß unser
verlangt Produktionsverfahren und Produkte, die von Energieverbrauch zu hoch und unsere Abhängigkeit
vornherein umweltverträglich sind. Meine Damen vom Öl immer noch zu groß ist.
und Herren, darüber, wie unsere Wirtschaft zu um-
weltverträglicheren neuen Produktionsverfahren und (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Produkten kommen soll, können wir in der Koalitions- Die Regierung hat die fetten Jahre der niedrigen Öl-
vereinbarung leider nichts Konkretes lesen. preise nicht genutzt, um Vorsorge zu treffen. Höhere
(Walther [SPD]: Darin steht sowieso nichts Energiepreise sind jedoch in Kombination mit ord-
Konkretes!) nungsrechtlichen Maßnahmen das effektivste markt-
wirtschaftliche Mittel,
Darüber haben wir auch in der zweieinhalbstündigen
Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Unsozial!)
stern nicht ein einziges konkretes Wort vernommen. um Energieeinsparung und rationelle Energiever-
(Walther [SPD]: Ja, soviel Zeit hat er auch wendung voranzubringen. Die Bürger, Wirtschaft und
wieder nicht gehabt! — Zuruf von der CDU/ Verbraucher, sind für eine neue Offensive der Ener-
CSU: Sie haben nicht aufgepaßt!) gieeinsparung. Aber auch hier fehlt Ihnen der Mut für
ein Konzept.
Meine Damen und Herren, angesichts der bisheri-
gen Entwicklung sind auch Zweifel daran angebracht, Wohin übrigens falsche Preissignale gerade bei der
ob unsere Umwelt allein durch mehr Gesetze und Inanspruchnahme von Natur und der Belastung der
Verordnungen, durch noch mehr Auflagen und Umwelt führen können, ist besonders an unserem
Grenzwerte wirklich sauberer wird. So helfen bei- Verkehrssystem erkennbar.
spielsweise anlagebezogene Emissionsgrenzwerte für (Zuruf von der CDU/CSU: Das hatten wir
Schadstoffeinleitungen in Gewässer dann nicht, wenn auch schon!)
durch die wachsende Zahl der Produktionsanlagen
die Gesamteinleitungen weiter steigen und - sich der Unser Verkehrssystem ist an den großen ökologischen
Zustand der Gewässer weiter verschlechtert. Der posi- Zerstörungen wie Waldsterben, Ozonloch und Treib-
tive Effekt des Drei-Wege-Katalysators wird aufge- hauseffekt maßgeblich beteiligt.
zehrt, wenn die Zahl der Kraftfahrzeuge und die Zahl (Zuruf von der CDU/CSU: Deshalb will Herr
der gefahrenen Kilometer weiter rasch ansteigen. Das Rau den „Transrapid" haben!?)
zeigt auch die Bilanz der Zunahme der Stickoxidbela-
Darüber hinaus erfüllt es die Transportbedürfnisse
stung und der Zunahme der Umweltbelastung durch
von Wirtschaft und Gesellschaft immer weniger: Au-
den Verkehr insgesamt.
tobahnen und Fernstraßen sind überfüllt; Berufspend-
(Dr. Laufs [CDU/CSU]: Was wollen Sie ler verlieren wich tige Zeit unproduktiv und umwelt-
denn?) belastend im Stau. Mobilität wird immer weniger per-
Ein neues Instrument sind Qualitätsziele und Qua- sönliche Freiheit und in vielen Fällen immer mehr
erzwungene Plage.
litätsnormen in der Umweltpolitik. Heute muß festge-
stellt werden, wie unsere Umwelt im Jahr 2000 ausse- Das ist das Ergebnis Ihrer verfehlten Subven tions-
hen soll. Danach müssen wir dann unsere Maßnah und Strukturpolitik. Ein großer Teil der Kosten des
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 187
Schäfer (Offenburg)
Verkehrs wird nicht vom Verursacher, sondern über und wieviel Prozent der Gesamtstrecke macht das
Ausgaben für Verkehrssicherheit, Unfallkosten und aus?
Kosten der Umweltzerstörung von der Allgemeinheit (Zuruf von der SPD: Zurückfragen!)
bzw. den nach uns kommenden Generationen getra-
gen.
(Beifall bei der SPD) Schäfer (Offenburg) (SPD) : Ich frage nicht zurück.
Sie begünstigen noch immer den Straßen- und Luft- Eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten
verkehr und nehmen damit dem umweltfreundlichen hieße, den Fragesteller nicht ernst zu nehmen. Das ist
Schienenverkehr Wettbewerbschancen. Diese Ver- falsch.
fälschung der Marktwirtschaft, meine Damen und Ich muß Ihnen sagen, daß ich nicht weiß, wie viele
Herren, müssen wir mit Umweltzerstörungen, Ver- Kilometer ich mit der Bahn zurückgelegt habe. Ich
kehrstoten in dramatisch steigender Zahl und Ver- kann nur soviel sagen: Seit 1986 habe ich die Zahl der
letzten bezahlen. Mehr als 8 000 Menschen sterben mit Pkw pro Jahr zurückgelegten Kilometer von etwa
pro Jahr in der Bundesrepublik im Straßenverkehr; 40 000/45 000 auf 15 000 bis 25 000 reduziert, weil ich
mehr als 500 000 Menschen — eine Großstadtbevöl- in der Tat auf die umweltfreundliche Bahn setze.
kerung — werden Jahr für Jahr im Straßenverkehr Ich will aber gleich hinzufügen: Das ist kein Pro-
verletzt. blem der jeweiligen individuellen Entscheidung. Es
Ihre Antworten auf diese Probleme sowohl in der kommt darauf an, denjenigen, die lieber mit der Bahn
Koalitionsvereinbarung als auch in der Regierungser- und dem öffentlichen Personennahverkehr fahren
klärung und der Jungfernrede des neuen Verkehrsmi- wollen, durch die Politik auch entsprechende Ange-
nisters Krause sind von beschämender Belanglosig- bote bereitzustellen. Darum geht es! Es geht nicht um
keit. ein jeweils subjektives Verhalten oder Fehlverhal-
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ ten.
GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/ (Beifall bei der SPD)
Linke Liste)
Gerade daran fehlt es. Die entscheidende Schwach-
Sie reden nur über den bedarfsgerechten Ausbau der stelle in der Regierungserklärung ist, daß Sie von ei-
Verkehrsinfrastruktur, aber Sie denken nicht im ner ökologischen integrierten Verkehrspolitik offen-
Traum an Verkehrsvermeidung. Noch nicht einmal kundig noch nichts verstanden haben.
zur Entfernungspauschale konnten Sie sich durchrin-
gen. Man kriegt allmählich fast Sehnsucht nach dem
Verkehrsminister Zimmermann, wenn man heute den
(Baum [FDP]: Leider sehr teuer!) Verkehrsminister Krause gehört hat.
— Leider sehr teuer, sagt Herr Baum. Das ist das alte, (Dreßler (SPD): Herr Schäfer, bitte nicht!)
kurze, enge bet ri ebswirtschaftli che Denken, das eine
Betrachtung der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten — Lieber Kollege Dreßler, alle Vergleiche sind rela-
außen vor läßt. Das ist das Sparen an der falschen tiv.
Stelle! Zurück zum Thema, meine Damen und Herren: Sie
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten reden davon, das Schienennetz und andere öffentli-
der PDS/Linke Liste) che Verkehrsmittel weiter auszubauen. Wo ist Ihre
konkrete Antwort? Sie nehmen der Bundesbahn das
Das ist das sektorale Denken in verschiedenen Politik- Geld weg, das Sie der Reichsbahn geben wollen. Das
bereichen: hier Abteilung Umwelt, dort Abteilung Fi- können Sie uns und dem Bürger doch nicht als Politik
nanzen, dort Abteilung Wirtschaft. Was wir brauchen, zur Förderung der Schiene verkaufen! Sie vertagen
ist ein vernetztes integriertes Denken. die notwendige Fusion von Bundesbahn und Reichs-
(Beifall bei der SPD) bahn und verschaffen damit in den neuen Bundeslän-
Das Verkehrssystem als integriertes und vernetztes dern wieder dem Straßenverkehr einen uneinholba-
System ist die Probe aufs Exempel, ob wir die Kraft ren Vorsprung.
haben, dies dann auch konkret in die Wirklichkeit (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
umzusetzen. GRÜNE)
Mit Ihrer Unterstützung sind wir dabei, in den neuen
Vizepräsidentin Schmidt: Kollege Schäfer, gestat- Bundesländern die gleichen Fehler zu wiederholen,
ten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gibt- an denen wir heute in den alten laborieren.
ner? Noch einmal: Gerade in der Verkehrspolitik ist die
Nagelprobe, ob Sie beg ri ffen haben — Sie haben es
bis zur Stunde nicht beg riffen — , daß integriertes ver-
Schäfer (Offenburg) (SPD): Wenn Sie wollen, haben netztes Denken in integrierte politische Maßnahmen
Sie die Möglichkeit einer längeren Zwischenfrage. umgemünzt werden muß. Saubere Umweltrhetorik,
Bitte schön. Herr Töpfer, und ökologisch gescheiterte Politik, das
ist leider ein Kennzeichen dieser Regierung.
Gibtner (CDU/CSU): Sehr geehrter Kollege, ich ma- Meine Damen und Herren, wo ist denn Ihr Konzept
che das sehr kurz. Da Sie für ein umweltfreundliches zur Lösung der Verkehrsprobleme? Die geplante Um-
Verkehrssystem plädieren, stelle ich Ihnen die Frage: gestaltung der Kraftfahrzeugsteuer zu einer schad-
Wie viele Kilometer haben Sie im vergangenen Jahre stoffabhängigen Steuer ist im Grunde nichts als Um-
mit der umweltfreundlichen Eisenbahn zurückgelegt, weltkosmetik. Der Vielfahrer soll weiterhin soviel
188 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Schäfer (Offenburg)
zahlen wie der Wenigfahrer. Ob jemand im Jahr Meine Damen und Herren, Ihre Absichten, das
2 000 km oder 200 000 km zurücklegt, hat auf die Atomgesetz zu novellieren, dürfen nicht darüber hin-
Höhe der Schadstoffsteuer keinen Einfluß. Deswegen wegtäuschen, daß Sie nunmehr auf die langfristige
folgen Sie unserem Vorschlag: Streichen Sie die Kraft- Nutzung der Ke rn energie setzen wollen. Das hat der
fahrzeugsteuer, legen Sie sie auf die Mineralölsteuer Bundeskanzler gestern deutlich gemacht. Bei Ihrer
aufkommensneutral um! Nicht das stehende Auto be- Absicht, in den neuen Bundesländern neue Kernkraft-
lastet über die Luftverpestung die Umwelt, sondern werke zu genehmigen, werden Sie mit unserem Wi-
das fahrende Auto, und wer überdurchschnittlich viel derstand und mit dem Widerstand der meisten Men-
fährt, soll entsprechend auch mehr zahlen. schen in den neuen Bundesländern zu rechnen ha-
ben.
(Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD)
Das wäre übrigens auch eine Maßnahme, die büro-
kratischen Aufwand vermindert, statt neue bürokrati- Im übrigen zeigt gerade der Golfkrieg — um nur ein
sche Maßnahmen mit enormem Aufwand notwendig Argument gegen diese Technologie zu nennen —,
daß sich zivile und militärische Nutzung der Atom-
zu machen.
energie nicht voneinander trennen lassen. Warum
Wenn Sie sich im Verkehrsbereich nicht zu einer denn sonst hätten die Alliierten die Atomreaktoren im
wirklich radikalen Neuorientierung, zu einer ökologi- Irak bombardiert, wenn nicht die Gefahr des Miß-
schen Verkehrspolitik durchringen können, wird brauchs zu militärischen Zwecken als unmittelbar ge-
auch Ihre Politik zur Reduzierung der klimaschädli- geben betrachtet worden wäre? Der sicherste Weg,
chen Kohlendioxidemissionen zum Scheitern verur- die schmutzigen Geschäfte skurpelloser Verbrecher
teilt sein. zu verhindern, ist, daß wir ganz auf diese Technik
verzichten, und mit einem Exportverzicht und einem
(Baum [FDP]: Wieso denn?) Verbot des Expo rt s dieser Anlagen in Spannungsge-
— Ich erkläre es Ihnen gleich. biete unsere Absicht glaubhaft zu unterstreichen be-
ginnen, meine Damen und Herren.
(Baum [FDP]: Ich bitte darum!)
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Wir unterstützen Ihr Ziel, diese Emissionen bis zum GRÜNE)
Jahr 2005 um 25 bis 30 % zu reduzieren. Auch heute
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärun-
ist übrigens nicht klar geworden, wie die von Ihnen
gen und die vorausgegangenen Koalitionsverhand-
geplante CO2-Abgabe konkret aussehen soll: Soll sie
lungen — ich habe nur zwei, drei Bereiche anspre-
nur für Großfeuerungsanlagen gelten oder auch Ge-
bäudeheizungen und Kraftfahrzeuge einbeziehen, chen können; die Reihe ließe sich leider, leider belie-
big fortsetzen — haben gezeigt, daß es die Umweltpo-
wie hoch soll sie sein, wie groß sind die damit erreich-
litik in den kommenden Jahren in der Wirklichkeit der
baren Energieeinsparungen?
Politik — nicht in der Rhetorik! — schwerhaben wird.
Rund die Hälfte der Kohlendioxidemissionen Für uns Sozialdemokraten bleibt die ökologische Er-
stammt aus der Verbrennung von Mineralölproduk- neuerung ein Herzstück sozialdemokratischer Re-
ten, vor allem im Automobilverkehr und bei der formpolitik. Wir werden es deshalb an dem notwendi-
Raumheizung. Wir bleiben dabei, daß diese Emissio- gen oppositionellen Druck nicht fehlen lassen, damit
nen am besten durch eine aufkommensneutrale An- Ihrer Umweltrhetorik wenigstens zum Teil Taten fol-
hebung der Energiesteuern, durch die Einführung ei- gen.
ner Ökosteuer reduziert werden können. Jetzt bedanke ich mich noch für die Aufmerksam-
Im übrigen darf eine Luftschadstoffabgabe als Rest- keit bei Ihnen, vor allem bei der rechten Seite des
verschmutzungsabgabe für Großfeuerungsanlagen Hauses.
nicht nur Kohlendioxid, sondern muß auch alle ande- (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Und andere: Das ist
ren Luftschadstoffe mit einbeziehen. Wenn wir hier die Mitte!)
übereinstimmen, dann bin ich darüber, wie Sie wis-
sen, Herr Baum, nicht unglücklich, im Gegenteil. Das ist eher ungewohnt.

Wir haben in den Koalitionsvereinbarungen und in Vielen Dank.


der Regierungserklärung vernommen, daß Sie sich (Beifall bei der SPD)
nun endlich ein längst überfälliges energiepolitisches
Gesamtkonzept vorgenommen haben. Ihre neuerlich
bekundete Aufgabe — dies schon in der zweiten Re-
gierungserklärung nacheinander — , das Energie- Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Herr
wirtschaftsgesetz zu reformieren, begrüßen wir. Da- Abgeordnete Baum.
mit es schnell geht und damit das neue Energiewirt-
schaftsgesetz auch greift, was Umweltschutz und ra-
tionelle Energieverwendung angeht, empfehlen wir
Baum (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Ihnen, unseren vorliegenden ausgearbeiteten Ent-
Damen und Herren! Herr Kollege Schäfer, Sie haben
wurf der Novellierung des Energiewirtschaftsgesetzes
von der ökologischen Erneuerung gesprochen, und
zu übernehmen. Dann können wir gleich gemeinsam
ich habe mich wieder daran erinnert, daß Ihr Pro-
in diesem Bundestag schnell einen wirksamen Ge-
gramm im letzten Jahr von der deutschen Einheit
setzgebungsbeitrag für die Umwelt leisten.
überrollt worden ist. Wissen Sie, was für mich die
(Beifall bei der SPD) wichtigste ökologische Erneuerung ist? — Die Um-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 189
Baum
weltsanierung in der DDR. Darüber haben Sie über- In der früheren DDR ist noch etwas anderes ganz
haupt nicht gesprochen. wichtig: Wir müssen dort und später auch bei uns sehr
viel intensiver privates Kapital und Know-how zur
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Schäfer [Offenburg] [SPD]: Das ist doch nicht Durchführung von Umweltschutzinvestitionen nut-
zen. Warum können Abwasserklärung, Trinkwasser-
wahr! Davon haben wir gesprochen! — Wei-
tere Zurufe von der SPD) versorgung, Abfallentsorgung denn nicht auch in pri-
vater Verantwortung vorangetrieben werden, um die
— Gut, Sie haben es beiläufig behandelt. — Ich sage Städte und Gemeinden insoweit von Investitionsauf-
Ihnen jetzt: Die schnellsten Erfolge erreichen wir, gaben zu entlasten?
wenn wir jetzt alle Kräfte zusammennehmen und uns
die Umweltsanierung in der DDR (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Eine Sache ist von besonderer Bedeutung; das ist
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Frühere DDR!)
die Beseitigung der Altlasten in den neuen Bundes-
und in den osteuropäischen Ländern vornehmen. Das ländern. Dies ist eine nationale Herausforderung be-
ist die wichtigste Aufgabe der Umweltpolitik der Bun- sonderer Art. Deshalb haben wir eine Solidaritätsak-
desregierung. tion in die Regierungserklärung hineingeschrieben,
(Zurufe von der SPD) von der Sie, Herr Schäfer, gar nichts gesagt haben,
eine Solidaritätsaktion zum ökologischen Aufbau in
Sie haben das auch im Wahlkampf völlig verkannt. den neuen Bundesländern. Sie muß getragen werden
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) von der Wirtschaft, vom Bund und von den alten Bun-
desländern. Das muß sehr schnell geschehen; denn
Sie haben an den Kosten der deutschen Einheit her- dort gibt es Gesundheitsgefahren, die dringend abge-
umgemäkelt, anstatt die Chancen zu sehen. baut werden müssen. Wir brauchen eine Altlasten-
(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Dazu mache ich sanierung auch für die Investitionen in den neuen
eine Kurzintervention!) Bundesländern. Hier liegt ein weiterer Schwerpunkt
unserer Politik zur ökologischen Erneuerung von
Die Chancen liegen auf diesem Gebiet, und sie müs-
Deutschland, und der Schwerpunkt heißt jetzt: frü-
sen genutzt werden. Ich sage für meine Fraktion: Das
here DDR.
wird eine der Hauptaufgaben sein, denen wir uns in
den nächsten vier Jahren hier widmen werden. Der zweite Schwerpunkt ist für uns Umwelt und
Energie. Das Ziel ist klar: Reduzierung des Treibhaus-
Der Vergleich der Situation in der früheren DDR
gases CO2. Hier ist ein ganzes Bündel von Maßnah-
und bei uns macht noch etwas deutlich, Herr Schäfer.
men erforderlich — marktwirtschaftliche und ord-
Ohne Selbstüberheblichkeit, ohne zu vergessen, daß
nungsrechtliche Instrumente. Ein marktwirtschaftli-
auch wir vieles nicht gemacht haben, Versäumnisse
ches Instrument ist die CO2-Abgabe, die, Herr Schä-
zu verantworten haben, kann ich sagen: Wir sehen,
fer, keineswegs nur CO2 umfaßt, sondern die natürlich
daß eine freie Wirtschaftsordnung mit dieser Heraus-
auch die anderen Schadstoffe einbezieht. Dies ist ein
forderung eben ungleich besser fertig geworden ist als
marktwirtschaftliches Lenkungsinstrument; denn wir
die Kommandowirtschaft.
wollen lenken. Das sind keine fiskalischen Instru-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mente, um unbedingt Geld in die Kasse zu kriegen,
Wir haben viele Umweltprobleme gelöst. Ich teile sondern wir wollen das Verhalten der Menschen
überhaupt nicht Ihre miesmacherische Meinung, daß durch eine Verteuerung der Belastung unserer Natur,
wir uns hier in Sack und Asche kleiden müssen. Wir in etwa bei Großfeuerungsanlagen und bei Prozeßfeu-
der Bundesrepublik Deutschland sind in vielerlei Hin- erungsanlagen, verändern. Dies gilt auch — das sage
sicht in einer Pilotfunktion, wir sind auf vielen Gebie- ich Ihnen auf Ihre Frage ganz deutlich — bei Kleinfeu-
ten Beispiel für das übrige Europa und für die übrige erungsanlagen und bei den Kraftfahrzeugen. Hier
Welt. werden wir in Kürze Vorschläge vorlegen. Zunächst
soll die Kraftfahrzeugsteuer in eine Abgassteuer um-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gewandelt werden. Diese Maßnahmen müssen in eu-
Es gibt nicht nur die Bundesregierung, die Sie in ropäische Lösungen, in eine europäische Klima-
Ihrer Rolle als Opposition natürlich angreifen, sondern schutzsteuer eingebunden werden.
Sie dürfen auch Ihre Länderregierungen nicht verges- Die Waldschäden geben nach wie vor Anlaß zur
sen. Wichtige und wichtigste Dinge geschehen auf Sorge. In dieser Legislaturperiode muß auch eine Lö-
Länderebene. Dort haben die Kollegen, welcher Par- sung für die Entschädigung derjenigen Waldbesitzer
tei auch immer sie angehören, in den letzten Jahr- gefunden werden, die seit Jahren geschädigt werden,
zehnten Großes, Wichtiges geleistet, und auch die ohne jemanden zu haben, den sie in Anspruch neh-
Gemeinden haben das getan. Also bitte: Erkennen wir men können.
das an, was geschehen ist. Wir brauchen uns wahrlich
Wir Liberalen erachten die Nutzung der Kernener-
nicht zu verstecken.
gie unter der Voraussetzung für vertretbar, daß
(Beifall bei der FDP) gleichzeitig und sichtbar alle Anstrengungen vorge-
Herr Töpfer, wir beabsichtigen, diese Sonderpro- nommen werden, um umweltfreundlichere Energie-
gramme für die DDR zu unterstützen. Es geht um die gewinnungsformen weiter zu entwickeln.
Umweltschäden, deren Behebung am dringendsten Das Atomgesetz muß zu einem modernen Umwelt-
ist. Wir haben das in die Wege geleitet. Wir werden gesetz umgewandelt werden. Sie können nun wirk-
das in dieser Legislaturperiode nachhaltig fortset- lich nichts dagegen haben, wenn wir das Förderprin-
zen. zip aufgeben, wenn wir Teile der Entsorgung privati-
190 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Baum
sieren, wenn wir die Deckungsvorsorge nicht mehr nach wie vor dafür ein — durch ein Staatsziel Um-
kostenlos machen und wenn wir die Endlagerung weltschutz in unserer Verfassung.
ohne Wiederaufarbeitung als eine Option ins Gesetz (Beifall bei der FDP)
schreiben. Das müßte eigentlich Ihre Zustimmung fin-
Dieses Ziel müssen wir in enger Kooperation mit den
den. Hier wird ein modernes Anlagensicherheitsge-
Staaten der Europäischen Gemeinschaft und immer
setz von uns vorgelegt werden.
mehr auch mit den Staaten Osteuropas bewirken.
Wir begrüßen die Ankündigung von Bundeswirt- Umweltschutz ist keine mehr oder minder notwen-
schaftsminister Möllemann, die Wirtschaftspolitik mit dige Randbedingung. Das umweltpolitische Vermei-
der Umweltpolitik stärker verzahnen zu wollen. Dies dungs- und Vorsorgeprinzip muß in das Planen und
ist gerade auf dem Gebiet der Energiepolitik, etwa Handeln aller Politikbereiche Eingang finden. Wenn
durch das Energiewirtschaftsgesetz, wichtig. Sie die Regierungserklärung genau lesen — so haben
auch die Koalitionsberatungen stattgefunden — : Die
Umweltpolitik und Verkehr: Die von der FDP gefor-
Umweltpolitik ist immer in die Energiepolitik, in die
derte ökologische Bewertung der Verkehrssysteme Verkehrspolitik integriert worden. Die Kollegen aus
muß der Schiene eine klare Vorrangstellung geben.
den verschiedenen Bereichen haben zusammenge-
Wir werden eine Strukturreform der Eisenbahn bewir-
sessen, um dies zu leisten. Wir sind längst auf dem
ken. Die Bundesbahn muß wie ein Privatunternehmen
Weg, Herr Kollege Schäfer, den Sie hier anmahnen.
geführt werden können. Eine konsequentere Vernet-
zung der Verkehrsträger ist erforderlich. Die Umwelt- In den 90er Jahren müssen verstärkt ökonomische
verträglichkeit der Fahrzeuge muß weiter verbessert Instrumente eingesetzt werden. Mit den knappen Gü-
werden. Bessere Abgas- und Lärmgrenzwerte für den tern Luft, Wasser und Boden muß sparsam und scho-
Lkw und den Pkw muß es geben. Hier ist vieles ge- nend umgegangen werden. Sie müssen zu wirklichen
schehen, aber es muß noch fortgesetzt werden. Wir Kostenfaktoren werden.
müssen den Treibstoffverbrauch der Kraftfahrzeuge Die Umweltpolitik muß Bestandteil von Umweltau-
weiter herabsetzen, und wir werden der Indust ri e ßenpolitik werden. Die Völkergemeinschaft, die sich
dazu staatliche Auflagen und Vorgaben machen. jetzt wirksam, jedenfalls einiger als früher um den
Frieden, um die Abwehr von Krieg — leider nicht er-
Der vierte Schwerpunkt ist die Natur und die Land- folgreich — kümmert, diese Umweltgemeinschaft
schaft. Wir fordern erneut und setzen uns mit Nach- muß auch den Frieden mit der Natur zu ihrer Aufgabe
druck für ein modernes Naturschutzgebiet ein, um machen. Mit dem schrecklichen und zynischen Ein-
Biotopschutz, Artenschutz und Naturschutz besser be- satz von Umweltgefahren als Kriegswaffe ist eine
wirken zu können. Das ist bisher an der Finanzierung neue Dimension entstanden. Diese Aufgabe wird da-
gescheitert. Wir haben dazu jetzt Vorschläge ge- durch umso dringlicher.
macht. Beispielsweise muß die Gemeinschaftsauf-
gabe „Agrarstruktur" genutzt werden. Darin sind Die FDP-Fraktion wird ihre hartnäckige, aber auch
700 Millionen DM, die für eine Intensivierung der verläßliche und berechenbare Umweltpolitik fortset-
Landwirtschaft genutzt werden sollen. Hier muß eine zen. Das ist ein Schwerpunkt unserer Politik in dieser
Verlagerung der Mittel stattfinden. Legislaturperiode. Wir stehen hinter dieser Koalitions-
vereinbarung, die wichtige Forderungen von unserer
Und, Herr Schäfer, die Länder müssen ihre Verant- Seite enthält, und wir unterstützen die Bundesregie-
wortung wahrnehmen. Bisher gibt es kein schlüssiges rung bei der Realisierung dieser wichtigen Aufgabe.
Konzept — auch nicht der SPD-Länder — für eine Fi- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
nanzierung des Naturschutzes, so wie wir ihn uns vor-
stellen.
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat die Abge-
(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Ich denke, über ordnete Frau Braband.
die Gemeinschaftsaufgabe?)
— Das kommt noch hinzu, Herr Schäfer. Die Bundes- Frau Braband (PDS/Linke Liste): Frau Präsidentin!
länder sind nach der Verfassung für den Naturschutz Meine Damen und Herren! Die gestrige Regierungs-
zuständig, und wir zerbrechen uns hier jahrelang den erklärung zeigte sehr deutlich: Auch diese Bundesre-
Kopf, wie wir das machen könnten. Ich bin zwar der gierung betrachtet Umweltpolitik als rein technische
Meinung, daß wir das auch weiterhin machen müs- Nachsorgepolitik und spart auch da noch, wo sie nur
sen, aber die Bundesländer, insbesondere die alten kann. Mehr noch: In den ostdeutschen Ländern wird
Bundesländer, müssen hier einen Beitrag leisten. jegliche Chance, die Umstrukturierung der Wirtschaft
unter ökologischen Vorzeichen vorzunehmen, ver-
Der fünfte Schwerpunkt ist die Abfallwirtschaft. Wir tan.
wollen ein Abfallwirtschaftskonzept, das wirklich von
vornherein eine Bewertung der Produkte nach ihrer Wir alle wissen, daß technische Nachsorge, die sich
Gefährlichkeit und Entsorgungsmöglichkeit bewirkt. darauf beschränken muß, Schadstoffe mit hohem
Wir werden ein neues, umfassendes Abfallgesetz vor- technischem Aufwand wieder aus der Umwelt heraus-
legen. zufiltern, weder umfassend noch ausreichend der Pro-
blematik gerecht werden kann. Vorsorge aber, die
Meine Damen und Herren, ich komme zu meiner darauf gerichtet ist. Schadstoffe gar nicht erst entste-
Schlußbemerkung. In der Umweltpolitik geht es nach hen zu lassen, greift in die Produktionsstruktur der
wie vor um eine schrittweise Umstrukturierung unse- Indust ri e ein. Gerade dazu aber ist die Bundesregie-
rer wirtschaftlichen Produktion und unserer Lebens- rung nicht bereit. Sie muß hier auch an ihre Grenzen
weise. Gekrönt werden könnte das — wir setzen uns stoßen. Denn durch gesetzgeberische Maßnahmen —
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 191
Frau Braband
wie zum Beispiel Produktionsverbote, zu denen für einmal erschreckend klargemacht: Der Friede mit der
mich auch die Stillegung von Atomkraftwerken ge- Natur kann bei uns in Europa und weltweit nur erhal-
hört, oder die Einführung von Umweltsteuern — wer- ten werden, wenn der Friede zwischen den Menschen
den Kapitalinteressen aufs empfindlichste berührt. gesichert bleibt.
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Was haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
denn in 40 Jahren Sozialismus mit der Um
welt gemacht?) Ich glaube, daß dies eine Herausforderung gerade für
die westliche Welt insgesamt ist.
Ich möchte hier am Beispiel der Stromverträge
nicht nur zeigen, auf welche Weise Gesetze zum Ich komme gerade jetzt von der Tagung der Um-
Nachteil der Kommunen in der ehemaligen DDR, son- weltminister der OECD aus Paris zurück. Ich freue
dern auch, wie durch Begünstigung der Großindustrie mich, daß wir uns do rt nicht nur in der Verurteilung
und Privatisierung grundlegende ökologische Interes- dieses Umweltterrorismus, dieser neuen, menschen-
sen verletzt werden. Bekanntlich kamen die Strom- und schöpfungsverachtenden Form der Kriegsfüh-
verträge zwischen bundesdeutschen Energiekonzer- rung einig waren, sondern auch in zwei weiteren
nen und der Treuhand über die gesamte Energiewirt- Punkten. Zum einen haben wir unsere Bereitschaft
schaft der DDR maßgeblich auf Betreiben der Bundes- noch einmal verdeutlicht, in Zusammenarbeit mit den
regierung zustande. Ganz nebenbei wurde noch Staaten der Region alles in unseren Kräften Stehende
durch die Volkskammer der DDR ein störendes Recht zu tun, um gegen die dortige Umweltkatastrophe an-
der Kommunen durch die auch hierzulande sattsam zukämpfen, z. B. durch die Bereitstellung des nötigen
bekannten Mehrheiten beseitigt. Diese Verträge — Materials, Personals und Know-how. Herr Kollege
vom Deutschen Städte- und Gemeindebund sowie Schäfer, wir sind durchaus der Meinung, daß man sich
den betroffenen Kommunen scharf kritisiert und in- Gedanken machen muß, ob derartigen Anschlägen
zwischen glücklicherweise auch angefochten — sol- auf die Stabilität von Umwelt und Natur nicht genauso
len offiziell eine Entlastung der Umwelt bewirken. Da begegnet werden kann; eine Gleichstellung mit dem
die völlig ineffiziente Energiewirtschaft der ehemali- Roten Kreuz wird sicherlich weiter zu diskutieren
gen DDR zwar durch ein technologisch effizienteres, sein.
aber strukturell ebenso ineffizientes Energiesystem Ich möchte auch an dieser Stelle den vielen jungen
abgelöst werden soll, wird der Mißstand nicht beho- Menschen danken, die sich direkt oder indirekt ge-
ben, sondern allenfalls optisch kaschiert. Das aber meldet und ihre Bereitschaft erklärt haben, wirklich
bedeutet nichts anderes, als daß durch die von den Wiederaufbauarbeit zur Bewäl tigung dieser Umwelt-
westdeutschen Energiekonzernen geplante Übertra- katastrophe zu leisten.
gung ihrer Strukturen die zu Recht vielgeschmähte
zentralistische Planwirtschaft der ehemaligen DDR (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
durch eine an Konsum- und Profitmaximierung orien- bei Abgeordneten der SPD)
tierte, monopolisierte privatwirtschaftliche Investi- Wir haben natürlich auch ein weiteres getan: Wir
tionsplanung haben uns — so ist es wörtlich niedergeschrieben —,
(Lachen bei der CDU/CSU) über die gegenwärtige Katastrophe hinausblickend,
unter Ausschluß der Öffentlichkeit ersetzt wird. Be- verpflichtet, die Fähigkeit der internationalen Staa-
merkenswert erscheint mir, daß hier ständig von tengemeinschaft zur Verhütung und Bewäl tigung von
Markt geredet wird, aber Monopol gemeint ist. Ich Umweltkatastrophen zu stärken, und zwar unter be-
meine, daß hier nicht nur ein Einspruch des Bundes- sonderer Berücksichtigung der Lage der Entwick-
kartellamtes nötig gewesen wäre, sondern daß auch lungsländer. Ich glaube, auch das ist ganz bedeutsam
sichtbar wird, daß hier ganz dringend ein ökologi- und wichtig, auch mit Blick auf die jetzige kriegeri-
sches Vetorecht erforderlich ist. sche Auseinandersetzung.
Die durch drohende Klimaveränderungen und Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, daß wir
durch die Nutzung der Atomenergie erzeugten Ge- bereits jetzt an eine Aufbauleistung in dieser Region
fahren erfordern eine Neuorientierung im Denken denken müssen, weil nur durch die Bewäl tigung der
bei uns allen, die darauf gerichtet sein muß, nicht nur wirtschaftlichen und sozialen Konflikte dort in Zu-
die Erde, und damit die Menschheit, zu bewahren, kunft ein Miteinander der Menschen gewährleistet
sondern auch eine ganz bestimmte Lebensqualität. werden kann. Wir brauchen dort, dringender als an
Ich sage das in allem Ernst, vor allem angesichts
- des vielen Stellen sonst, einen Marshall-Plan der Ent-
Krieges am Golf, weil Kriege keine Mittel sind, um wicklung. Wir sind uns darüber im klaren, daß wich-
Konflikte zu lösen. tige Bausteine in diesem Aufbauplan gerade ökologi-
Ich danke Ihnen. scher Art sein müssen. Wir arbeiten daran, nicht al-
leine, sondern in der Gemeinschaft mit der Europäi-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) schen Gemeinschaft und der OECD. Das ist eine gute
Vorgehensweise. Wir möchten sie in die weltweite
Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Minister Partnerschaft einbringen.
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Soweit zu dieser aktuellen Bedrohung. Ich sage
noch einmal: Sie muß weltweit geächtet werden. Sie
kann nicht kommentarlos hingenommen werden.
Dr. Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Natur-
schutz und Reaktorsicherheit: Frau Präsidentin! Zu dem, was wir uns für diese Legislaturperiode
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der brutale vorgenommen haben, meine Damen und Herren, ist
Umweltterrorismus Saddam Husseins hat uns wieder sehr vieles, auch Kritisches gesagt worden. Herr Ab-
192 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Töpfer


geordneter Schäfer, wir freuen uns sehr auf den Druck Sie findet sich darin wieder, daß wir eben nicht ein
der Opposition. Bisher hat er noch keine allzugroßen Abfallgesetz nur novellieren wollen, sondern endlich
Druckstellen hinterlassen. an die Arbeit herangehen können, die Verantwortung
des Produzenten für den gesamten Lebenszyklus sei-
(Zuruf von der SPD: Wegen Ihrer Uneinsich-
nes Produkts zu erhalten und ihn deswegen zu zwin-
tigkeit!)
gen, schon bei der Produktion darüber nachzuden-
Aber man kann sich ja durchaus weiterentwickeln. ken, welche Abfallstoffe denn da wieder auf ihn zu-
(Schäfer [Offenburg] [SPD]: Sie bekommen kommen. Er muß sie demnächst nämlich umweltver-
da noch eine Hornhaut! Hoffnungslos!) träglich entsorgen. Die falschen Arbeitsteilungen zu
begrenzen ist also unser Ansatzpunkt. Das wird ord-
Ich kann Ihnen versichern: Wenn es gute Ideen sind, nungsrechtlich geregelt und durch eine Abgabe auf
werden wir sie gern aufgreifen — das haben wir an Sondermüll marktwirtschaftlich unterstützt.
vielen Stellen schon getan —; denn es gibt keine par-
teipolitisch gefärbte Umwelt, sondern nur unsere ge- (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Wie hoch
meinsame Umwelt, die wir für die Zukunft sichern denn?)
wollen. Das zu tun sind wir herzlich gern bereit. Dasselbe haben wir, wie Sie wissen, bei der CO2-
Frage. — Meine Damen und Herren, auch das ganz
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
aktuell: Mit unserer Entscheidung, das CO2 um 25 %
Es ist ganz unstrittig, meine Damen und Herren, daß bis 30 % zu reduzieren, und unserer Entscheidung für
wir dabei ein Gesamtziel haben, nämlich eine ökolo- eine CO2-Abgabe sind wir unter den OECD-Ländern,
gisch orientierte Soziale Marktwirtschaft zu gewähr- also unter den Industriestaaten dieser Welt, konkur-
leisten. Das ist das Thema. Unter diesem Gesichts- renzlos, um es ganz deutlich zu sagen: absolut kon-
punkt muß man sich fragen: Was sind die Kriterien? kurrenzlos.
Sich hier über das eine oder andere Gesetz zu unter-
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: So ist es!)
halten werden wir Gelegenheit haben. Am Anfang
sollte aber deutlich werden: Was ist die Grundüberle- Herr Kollege Schäfer
gung, die dahintersteht? (Zuruf von der CDU/CSU: Herr Schäfer ist
Die Grundüberlegung ist ganz schlicht und einfach jetzt sprachlos, und das kommt selten vor,
so wie bei der Sozialen Marktwirtschaft. Auch dort Herr Minister!)
haben wir klar gesagt: Wir müssen die freie Entfal- — ja, das ist verständlich —,
tung von Marktkräften in ein klares Ordnungskonzept
von Gesetzen einbinden. Diese Gesetze sind immer (Schäfer [Offenburg] [SPD]: Haben Sie es
und immer wieder dynamisch weiterentwickelt wor- jetzt endlich gepackt?)
den. Genauso müssen wir die marktwirtschaftlichen wir werden ohne jeden Zweifel auf diesem Gebiet mit
Kräfte auch in ein klares Konzept ökologischer Ge- Ordnungsrecht und Anreizen genauso vorankommen.
setze, Gebote und Verbote einbinden. Wir brauchten Wir wollen eben nicht einfach den Benzinpreis ver-
sie in der Vergangenheit, und wir brauchen sie auch teuern — wenn wir nur das tun, Herr Abgeordneter
für die Zukunft. Schäfer, sind damit natürlich unglaubliche soziale und
Aber wir wissen, daß wir das jetzt, nachdem wir regionale Folgen verbunden —,
einen deutlich höheren Stand der Umweltpolitik er- (Beifall bei der CDU/CSU)
reicht haben, gezielt durch marktwirtschaftliche An- sondern wir versuchen, der schlichten Einsicht Rech-
reize ergänzen müssen. Diese Anreize, meine Damen nung zu tragen, daß jemand, der mit einem Instrument
und Herren, sind eben nicht — wie man immer wieder alles erreichen will, im Zweifel auch negative Folgen
glauben machen will — nur Abgaben und Steuern. hinnimmt. — Darüber haben Sie leider nicht gespro-
Das fängt an bei dem umweltbewußten Konsumenten, chen, aber das ist doch der Punkt.
der durch seine Kaufentscheidung belegt, daß er dem,
der umweltfreudlichere Produkte erzeugt, einen ent- (Zurufe von der SPD)
sprechenden Marktvorteil einräumt. Deswegen ma- Meine Damen und Herren, was soll ich denn den
chen wir die Kennzeichnungsverpflichtung und ähnli- Menschen im ländlichen Raum oder den sozial
ches. Damit werden die Chancen des umweltbewuß- Schwachen sagen, die auf ihr Auto angewiesen sind,
ten Käufers erhöht. Das geht weiter bei Fragen der wenn ich die Mineralölpreise massiv erhöhe, ohne daß
Umwelthaftung, damit die Risiken nicht sozialisiert sie eine Änderung in ihrem Mobilitätsverhalten vor-
werden, sondern in die p rivate Kostenrechnung ein- nehmen können.
gebunden werden.
(Zuruf von der SPD: Vernetzte Politik!)
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr gut!) Deswegen machen wir beides: Ordnungsrecht plus
Das geht weiter bei solch wichtigen Fragen, meine Anreiz. Das ist ökologisch orientierte Soziale Markt-
Damen und Herren, die sich dann auch in Abgaben wirtschaft. — Die Liste der Beispiele wäre fortsetz-
oder steuerlichen Konzepten niederschlagen. Also: bar.
Ordnungsrecht und Anreize, Paragraphen und Markt (Beifall bei der CDU/CSU)
— dies beides optimal miteinander verbunden ist die
Grundlage einer ökologisch orientierten Sozialen
Marktwirtschaft.
Vizepräsidentin Schmidt: Herr Minister Töpfer, er-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer
Sie findet sich überall wieder. (Offenburg)?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 193

Dr. Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Natur- stungsfähigkeit einer Sozialen Marktwirtschaft wie-
schutz und Reaktorsicherheit: Sehr gern. der sanieren kann.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Schäfer (Offenburg) (SPD): Können Sie uns, dem Das ist der Punkt: Man muß ein anderes Image schaf-
Hohen Hause und der Öffentlichkeit bitte sagen, mit fen. Ich weiß sehr genau, wie schwer das ist. Ich bin
welchen Maßnahmen, mit welchen Finanzierungsvor- wirklich des öfteren vor Ort gewesen und habe immer
schlägen in welcher Höhe die Bundesregierung ge- wieder mit den Menschen do rt gesprochen.
denkt, das theore tisch richtig erkannte Problem, den Wenn wir diese Chance und diese Herausforderung
öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Raum zu stär- nicht bewältigen, dann sind wir, auch wenn Änderun-
ken, anzupacken? gen im Abfallgesetz oder im Zusammenhang mit dem
CO2-Ausstoß wichtig sind, den eigentlichen Heraus-
forderungen nicht gerecht geworden. Dies ist der ent-
Dr. Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Natur- scheidende Punkt.
schutz und Reaktorsicherheit: Herr Abgeordneter
Schäfer, Sie werden bei der Lektüre der entsprechen- (Zustimmung bei der CDU/CSU und der
den Unterlagen der Bundesregierung leicht sehen, FDP)
daß die Entwicklung des öffentlichen Personennah- Das gilt auch für unsere internationale Umwelt-
verkehrs eine Aufgabe der Bundesländer ist. solidarität. Zu Recht ist einmal gesagt worden: In der
Aber darüber habe ich jetzt nicht gesprochen. Viel- ehemaligen DDR sind die Menschen mit dem Ruf auf
mehr habe ich gesagt: Das Ziel, den Verkehr umwelt- die Straße gegangen: Wir sind ein Volk! Wir müssen
verträglicher zu machen, d. h. weniger CO2 auszusto- ergänzen: Wir sind eine Menschheit, und wir haben
ßen, können wir nur erreichen, indem wir etwa mit die Verpflichtung, die ökologischen Probleme, denen
Flottenverbrauchswerten Ordnungsrecht vorgeben wir uns weltweit gegenübersehen, in einer Umwelt-
und es durch einen Anreiz, nämlich die CO2-Abgabe, partnerschaft aufzuarbeiten und aufzubrechen, damit
ergänzen. Dieses Konzept habe ich Ihnen zu erläutern diese Welt insgesamt eine Zukunft hat. Diese Zukunft
versucht. Dies, meine ich, sollte für jeden klar und hat sie nur im Frieden mit der Natur, der den Frieden
nachvollziehbar sein. zwischen den Menschen unumgänglich voraussetzt.
Das wesentliche Thema hat Herr Kollege Baum an- Ich danke sehr herzlich.
gesprochen. Ich stimme mit ihm völlig darin überein, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
daß es uns darum gehen muß, die katastrophale Um-
welthypothek aus einer sozialistischen Planwirtschaft Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat jetzt Herr
abzuarbeiten. Die Solidaritätsaktion ökologischer Abgeordneter Dr. Feige.
Aufbau steht deswegen im Mittelpunkt unserer Ar-
beit.
Dr. Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsidentin!
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat
neten der FDP) mir gestern zunächst einen Schrecken eingejagt. Er
Dafür gibt es drei Gründe: Diese Aktion steht zum hat in seiner Regierungserklärung derart viel von Um-
einen deshalb im Mittelpunkt, weil dadurch Belastun- weltschutz, Naturschutz und Verantwortung für die
gen der menschlichen Gesundheit so schnell wie Schöpfung gesprochen, daß ich zunächst annahm, er
möglich abgebaut und endgültig beseitigt werden werde jetzt persönlich mit a ller Gewalt die stark dezi-
können. Zweitens werden mit einer solchen Maß- mierten GRÜNEN in diesem Hohen Hause verstär-
nahme auch Chancen geschaffen, do rt besser zu inve- ken. Oh ja, Herr Schäfer, unsere Regierung hat rheto-
stieren, als es bei ungeklärten Altlasten möglich ist. risch enorm dazugelernt. Ich müßte eigentlich stolz
(Zustimmung des Abg. Baum [FDP]) darauf sein, daß das Lehrbuch für diesen verbalen
Kraftakt des Kanzlers durch meine Partei, die GRÜ-
Damit erhalten wir Arbeitsplätze, und dadurch schaf- NEN, entscheidend mitgestaltet wurde. Aber zwi-
fen wir eine direkte Nachfrage. — Das ist ein zweiter schen Theorie und Praxis liegen manchmal Welten.
entscheidender Punkt.
Spätestens an der Stelle, an der der Kanzler in sei-
Ein dritter Punkt: Nur so können wir das schlechte ner Rede davon sprach, nun grünes Licht — man höre:
Image mancher Standorte in den neuen Bundeslän- grünes Licht! — für Investitionen der Wirtschaft zu
dern verändern. geben, platzte — für alle sichtbar und hörbar — der
(Zustimmung des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/ scheinbar so ökologisch grüne Luftballon der Koali-
CSU]) tion — peng! Zum Vorschein kam der schon sattsam
Das ist genauso bedeutsam. Jeder, der sich mit Stand- bekannte schwarz-gelbe radioaktiv strahlende Müll-
ortplanung und Standortentscheidungen von Unter- berg der sogenannten Umweltpolitik der letzten
nehmen beschäftigt, weiß doch, daß niemand do rt Jahre.
Standortimage schlecht ist, wo dau- hinget,wodas (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Na, junger
ernd gesagt wird: Das ist eine ökologische Katastro- Mann, nun übernehmen Sie sich mal
phe. Wer will dort leben? Wer will dort investieren? nicht!)
Deswegen müssen wir diesen Aufbruch schaffen, Kaum eine Maßnahme, die in der Regierungserklä-
damit man sagen kann: Geht nach Bitterfeld, geht rung zum Arbeitsziel der nächsten Jahre erklärt
nach Mansfeld, geht nach Eisleben — oder wohin wurde, hält einer tieferen Prüfung stand. Ich glaube,
auch immer — , um zu sehen, wie man eine geschun- sie übersteht nicht einmal eine oberflächliche Be-
dene Region mit moderner Technik und mit der Lei- trachtung. Ich kann das begründen. Wie ein roter Fa-
194 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dr. Feige
den durchzieht eine Kernaussage die umweltpoliti- erhält der Osten Technologien zweiter Klasse, die
sche Zielsetzung der Koalition. Das grenzenlose schon bei Inbetriebnahme veraltet sind.
Wachstum der Wirtschaft, von dem wir alle wissen, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch alles
daß es eine wesentliche Ursache für die Umweltzer-
Bosheit!)
störung und die Ressourcenvernichtung moderner
Industriegesellschaften ist, wird nicht nur nicht in — Sicherlich besser als jetzt. Das wird aber auf Jahre
Frage gestellt, sondern als notwendig für Fortschritte festgeschrieben. So wird der ökologische Rückstand
im Umweltschutz bezeichnet. Umweltinvestitionen Ostdeutschlands auf Jahrzehnte festgehalten.
— wozu diese Regierung auch den Bau von Müllver- Wir brauchen hocheffiziente dezentrale, umwelt-
brennungsanlagen zählt — seien nur über einen Pro- freundliche und moderne Strukturen statt eines neuen
duktivitätszuwachs finanzierbar. Mit einer solchen Zentralismus. Wir brauchen die breite Einführung re-
Politik wird festgeschrieben, daß die Reparaturmaß- generativer und sparsamer Energieträger — darin
nahmen den Umweltschäden auch künftig — zumin- - stimmen wir vielleicht überein — , die mittelfristig zu
dest vielleicht für vier Jahre — hinterherschleichen. d e m Exportschlager der neuen Länder werden kön-
Die Diskrepanz zwischen Umweltschadenskosten von nen. Wir brauchen darüber hinaus eine kommunale
jährlich 150 Milliarden DM und sogenannten Um- und sparsame Energieversorgung statt Großkraft-
weltinvestitionen in Höhe von knapp 30 Milliarden werke, die teuer sind, wenig Arbeitsplätze schaffen
DM wird weiter aufrechterhalten bzw. verstärkt. A lle, und in Westdeutschland schon längst als Auslauf-
aber auch alle Entwicklungen haben in den letzten modelle gelten. Schon gar nicht wollen wir, daß die
Jahren belegt, daß uns der so organisierte Teufels- ostdeutschen Länder als Experimentierfeld für die
kreis nur noch schneller auf eine ökologische Kata- westdeutsche Atommafia benutzt werden, nur um de-
strophe zutreibt. ren Absatzchancen zu verbessern. Dafür allerdings
wird weder Geld noch Mühe gescheut. Dafür werden
Kosmetische Korrekturen reichen in keinem rele- die dümmlichsten Argumente aus verstaubten Ecken
vanten Politikfeld mehr aus, um diesen Teufelskreis geholt. Da werden Atomkraftwerke als Klimaretter
zu durchbrechen. Ganz sicher genügen sie aber nicht gepriesen, als sei Tschernobyl ein einmaliger, längst
mehr bei der Bekämpfung der drohenden Klima- vergessener Bet riebsunfall der Geschichte gewesen
katastrophe. Wir stimmen dem Bundeskanzler zu, oder die Strahlenschäden in Wismut schon beseitigt.
wenn er feststellt, daß wir uns erneut an einer
Schwelle befinden, die in besonderem Maße Klugheit Darüber hinaus wird auch noch gegen geltendes
und Weitsicht erfordert. Angesichts der in der Regie- Atomrecht verstoßen. Warum — so frage ich — ist der
rungserklärung signalisierten Eckpunkte zum ange- nach dem Atomgesetz zwingend vorgeschriebene
kündigten energiepoliti schen Gesamtkonzept ist aber Entzug der Betriebsgenehmigung für die Blöcke 1 bis
mehr als Skepsis angebracht. 5 in Greifswald immer noch nicht erfolgt?
(Bundesminister Dr. Töpfer: Das ist doch zu
Das unbeirrte Festhalten an der intensiven Kohle- gemacht worden!)
verstromung in Verbindung mit der Nutzung der
Kernenergie zeigt doch nun alles andere als Weitsicht Wieso können diese Genehmigungen weiterbeste-
oder gar Klugheit. Die Mehrheit der Deutschen in den hen?
alten und, bitte schön, auch in den neuen Bundeslän- (Bundesminister Dr. Töpfer: Die sind doch
dern ist es zudem leid, einem Einschlafmärchen vom zu! Ist Ihnen das nicht aufgefallen?)
hohen Sicherheitsniveau der Kernkraftwerke zu lau-
schen. Diese Regierung sollte aufhören, für teures Wenn Sie die Betriebsgenehmigung für den Block 5
Geld immer neue Konzepte entwerfen zu lassen. auch noch entziehen, ist das doch alles schon sehr
Diese Energiekonzepte liegen längst vor. Sie können schön.
sie bei den GRÜNEN oder anderen fortschrittlichen (Bundesminister Dr. Töpfer: Die können
Energieexperten einfach abschreiben und zum Null- doch gar nicht mehr eingeschaltet werden!)
tarif erwerben.
Wenn Sie die Betriebsgenehmigung für Block 5 zu-
rückziehen, dann sind wir wahrscheinlich auf dem
Uns geht es heute auch weniger um die Erforschung
richtigen Weg zum Ausstieg aus der Kernenergie.
erneuerbarer Energiequellen — es wird immer wie-
der von „Forschung" gesprochen — als vielmehr um Herr Töpfer, Sie sind doch in anderen Fällen, wie
deren zügige Markteinführung. Die entsprechenden z. B. beim Atomschacht Konrad, mit Ihren Weisungen
Technologien liegen für die Kommunen schon längst nicht so zurückhaltend gewesen.
serienreif zur Nutzung bereit. Was für eine traumhafte Diese Regierung will die drohende Klimakatastro-
Chance des Fortschritts, diese Technologien der Ener- phe mit dem Teufel Atomenergie austreiben und be-
gieerzeugung in den neuen Bundesländern einzuset- dient sich dabei des Beelzebubs radioaktives Strah-
zen! Wenn wir schon von den neuen Bundesländern lungsrisiko. Die Bedrohung unserer Erdatmosphäre
sprechen, möchte ich mich jetzt einmal auf sie kon- durch den Treibhauseffekt soll durch die tagtägliche
zentrieren. Statt dessen hat die Bundesregierung in akute Bedrohung mit Radioaktivität geheilt werden.
Kollaboration mit dem jetzigen Verkehrsminister für
Ostdeutschland den verhängnisvollen Energiever- Damit nicht genug. Im trauten Schulterschluß mit
trag durchgeboxt. Dieser garantiert den westdeut- dem Straßenverkehrsminister kündigt der Umweltmi-
schen Energieversorgern traumhafte Gewinne, den nister ein Maßnahmengesetz an. Bei der Planung von
neuen Bundesbürgern aber nur eine veraltete und im Autobahnen, Bundesstraßen, von Industriestandorten
Westen sogar schon überholte Energiestruktur. Dazu und anderen Infrastrukturprojekten in den neuen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 195
Dr. Feige
Bundesländern soll so der Widerstand der betroffenen Bezahlen sollen die Firmen, die an diesem Krieg ver-
Bürger ausgeschaltet werden. Die Beteiligungsrechte dient haben, auch in Deutschland.
der Öffentlichkeit sind aber gerade für die Bürger (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
Ostdeutschlands eine große demokratische Errungen-
schaft — sie sind für uns völlig neu — , die nur von Vizepräsidentin Schmidt: Herr Kollege Dr. Feige,
völlig verbohrten Technokraten als Hemmnis und als kommen Sie bitte zum Ende.
Zeitverzögerung bei Investitionen ausgelegt werden
kann. Kein vernünftiger Mensch würde doch die Ge- Dr. Feige (Bündnis 90/GRÜNE): Ich bin sofort fertig,
nehmigung von Anlagen, von Wirtschaftsunterneh- einen Satz noch.
men oder sonstigen Infrastrukturmaßnahmen behin-
Sollte es sich erweisen, daß auch Vertreter der Re-
dern, wenn nicht die Erfahrungen gelehrt hätten, daß gierung am militärischen Erstarken des Irak teilhat-
eben nicht alle Belange objektiv abgewogen werden,
ten, so sind sie schon allein deshalb in die Wüste zu
sondern daß im Regelfall vorgeschobene ökonomi- - schicken.
sche und soziale Aspekte wie eine Dampfwalze über
Umweltbelange hinweggeschoben werden. Die Feh- (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der
ler dieser Dampfwalzenpolitik werden dann selbst- PDS/Linke Liste)
verständlich im Osten Deutschlands das gleiche ver-
kehrspolitische und umweltpolitische Debakel her- Vizepräsidentin Schmidt: Das Wort hat der Minister
vorzaubern, das viele Menschen in den alten Bundes- für Arbeit und Sozialordnung.
ländern gerade verändern wollen.
Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialord-
Damit schließt sich der Kreis. Gegen moderne, zeit- nung: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
gemäße Investitionen, gegen zukunftsgerichtete Ich habe hier eine wohlvorbereitete Rede, gut formu-
Technologien und gegen ökonomisch, sozial und öko- liert, mit viel Mühe, 27 Seiten lang.
logisch verträgliche Maßnahmen bräuchte man weder (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Darauf steht
in den neuen noch in den alten Bundesländern Wider- aber „SPD" !)
stand zu befürchten. Ein Maßnahmengesetz zur Aus- Das ist die Rede meines sozialdemokratischen Freun-
schaltung der Bürgerbeteiligung wäre somit überflüs- des Dreßler, die er gleich als Antwort auf meine Rede
sig. Es glaube niemand, die Bürger in den neuen Bun- halten wird.
desländern werden dies nicht begreifen.
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich freue mich trotzdem insgesamt über soviel Opti- Ich weiß zwar noch nicht, was ich sagen werde. Aber
mismus, der aus einem solchen Programm heraus- er weiß schon die Antwort, wie Sie sehen.
strahlt. Ich kann diesen Optimismus aber nicht teilen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU —
Lieber wäre es mir und sicherlich auch vielen meiner Dreßler [SPD]: Das hätten Sie gern!)
ostdeutschen Kollegen, wenn wir hier weniger Glau- Im übrigen ist das nichts Neues. Das ist die alte Dreß-
bensbekenntnisse zu hören bekämen, dafür aber lersche sozialpolitische Gespensterbahn, mit der er
mehr konkrete finanzielle Unterstützung für die ost- sozialpolitische Kleinkinder in Schrecken versetzt.
deutschen Bundesländer.
(Zuruf von der SPD: Zur Sache, Schätz
Brandenburg und Sachsen haben sich dazu heute chen! )
schon artikuliert. Im Bundesland Mecklenburg-Vor- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir eigent-
pommern erwarten wir eine Finanzierungslücke von lich so weiterdiskutieren? Ich finde, daß wir im Januar
allein 3 Milliarden DM im Haushalt 1991. Das von der 1991 anders diskutieren müssen als in den zurücklie-
Bundesregierung so gelobte Kreditprogramm zur För- genden Jahren. Im Grunde sind das a lles die west-
derung kommunaler Investitionen mit einer Aufstok- deutschen Spielplätze der Vergangenheit. Ich hoffe,
kung von 10 auf 15 Milliarden DM ist doch nur ein es ist jedem klar, daß wir die deutsche Einheit zu
Tropfen auf einen glühenden Stein. bewältigen haben. Ein Teil der sozialpolitischen Pro-
bleme sind, gemessen an den Herausforderungen,
Die fünf neuen Länder dürfen nicht zum Absatz- die auf uns zukommen, geradezu Sandkastenpro-
markt für westliche Gebrauchtwaren werden, mögen bleme gegenüber dem, was die eigentliche Heraus-
diese auch noch so glänzen. Die fünf neuen Länder forderung ist, nämlich deutsche Einheit auch sozial
sind keine Glasperlenkolonie. herzustellen, der nationalen Einheit eine soziale hin-
zuzufügen.
Abschließend erlauben Sie mir vielleicht noch ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
kurzes Wort mit einem Blick über unsere deutschen
Grenzen hinaus. Ich stimme den Worten des Kollegen Ich bekenne: Die soziale Einheit ist kein Ergebnis,
Schäfer, was die ökologische Situation in der Golfre- sondern ein Prozeß. Einigung heißt das Thema. Die
gion betrifft, völlig zu. Ich möchte nur hinzufügen, größte Herausforderung, die ich sehe, ist, Arbeit für
wenn denn schon Geldmittel aus Deutschland für den alle zu schaffen, im Westen wie im Osten, zu verhin-
Golfkrieg aufgebracht werden, so sollten sie für die dern, daß in Deutschland ein Hinterhaus entsteht,
Beseitigung der hier in verbrecherischer Weise entste- eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft, Wohlstand im
henden menschlichen und ökologischen Schäden ein- Westen und Elend im Osten.
gesetzt werden. (Frau Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Die
ist doch schon da! — Dr. B riefs [PDS/Linke
(Zuruf von der FDP: Das hat Herr Töpfer Liste]: Das haben Sie doch im Westen auch
doch gesagt!) nicht geschafft!)
196 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Blüm


— Von der SED würde ich das nicht sagen. Wenn Sie dige dieses Instrument. Wenn wir es nicht hätten, hät-
sehen, welches Elend Sie in der DDR hergestellt ha- ten wir wahrscheinlich zwei Millionen Arbeitslose
ben, würde ich Sie nicht als Schulmeister des deut- mehr. Wollen Sie eine solche Politik der Hoffnungslo-
schen Sozialstaats akzeptieren. sigkeit mit der deutschen Einheit verbinden?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Fragen Sie doch neten der FDP)
die Block-CDU!) Insofern war dieses Instrument doch richtig.
So erfolgreich scheint die sozialistische Politik nicht Ich sage aber nochmals: Man verbindet es besser
gewesen zu sein. Sonst müßten wir jetzt nicht das mit Qualifizierung. Deshalb müssen wir darüber
Gefälle einebnen. Es wird ja niemand bestreiten, daß nachdenken, was wir besser machen können. Ist es
es ein Gefälle gibt. - sinnvoll, daß wir ausgerechnet die Kurzarbeit tarif-
politisch aufstocken und das Kurzarbeitergeld in die
(Weitere Zurufe von der PDS/Linke Liste) Nähe des letzten Nettoverdienstes bringen? Ich gönne
Wir wären schon sehr weit, wenn in den Beitrittslän- es ja jedem. Aber wäre es nicht sehr viel besser, den
dern jene sozialen Verhältnisse bestünden, die wir in Anreiz auf die Qualifikation zu legen,
Westdeutschland erreicht haben, die ich keineswegs (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
als Paradies darstelle. Natürlich gibt es hier viele Pro- neten der FDP)
bleme, auch Arbeitslosigkeit. Aber das erste und
wichtigste Problem ist, ausgewogene Lebensverhält- sozusagen die Qualifikation stärker zu honorieren?
nisse in allen Teilen Deutschlands herzustellen. Ich glaube, daß man Anreize braucht, daß man Unter-
stützung braucht, Qualifikation zu mobilisieren.
(Gilges [SPD]: Wie denn? Kommen Sie doch Auch das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaß-
mal zur Sache!) nahmen funktioniert nicht so, wie wir es uns wün-
— Wie denn? Durch eine handfeste Arbeitsmarktpoli- schen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir es
tik. 130 000 Bürger in den neuen Bundesländern wa- besser machen können. Am Geld liegt es nicht. Das
ren im letzten Jahr in Qualifikationsmaßnahmen. Wir können Sie daran sehen, daß die bereitgestellten Gel-
wollen diese Zahl auf 300 000 erhöhen und damit der nicht voll abgeflossen sind. Also denken wir dar-
mehr als verdoppeln. Wir sollten darüber streiten, wie über nach: Was können wir besser machen? Wir brau-
wir das schaffen und wie wir die Anstrengungen a ller chen ein großes Bündnis von Menschen mit Ideen, mit
verstärken. Das schafft nicht die Bundesregierung al- Initiativen. Wir brauchen in den Kommunen eine neue
lein. Das wäre sonst ein autoritäres Verständnis. Das Initiative für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Mit
schaffen wir nur in einem großen Bündnis aller Gut- Geld allein — ich wiederhole es — schaffen wir es
willigen. Dazu lade ich ausdrücklich ein: die Sozial- nicht. Denn es ist mehr Geld vorhanden, als genutzt
partner, die Bet riebe. Die Sozialpolitik allein kann es wird.
gar nicht schaffen. Wir brauchen die Wirtschaftspoli- (Gilges [SPD]: Das habt ihr doch kaputtge
tik. Wir brauchen die Unternehmer. Wir brauchen macht!)
(Schreiner [SPD]: Vor allem eine bessere Re- Ich sehe große Möglichkeiten gerade im Zusammen-
gierung!) hang mit dem Thema, das hier besprochen worden ist:
mit der Umwelt. Könnten wir nicht die Altlastensanie-
eine Qualifikationspolitik, die auch in Beschäftigung rung stärker mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
hinüberführt. Wir brauchen eine Politik, die das Kon- koppeln? Könnten wir nicht im Bereich der Verkehrs-
zept der Kurzarbeit besser mit Qualifikation verbin- politik Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einsetzen?
det, als das bisher gelungen ist. Meine Damen und
Herren, ich stehe hier doch nicht nur mit Erfolgsmel- (Schreiner [SPD]: Ja dann machen Sie es
dungen. Das Instrument Kurzarbeit hat einen arbeits- doch! Sie sind doch an der Regierung!)
marktpolitischen Dammbruch verhindert. Ich vertei- — Lieber Herr Schreiner, Sie haben ein merkwürdi-
dige das Instrument. Es muß jetzt darum gehen, dieses ges, offenbar stark autoritäres Verständnis von Regie-
Instrument mit Qualifikation besser zu verbinden, als rung. Wir haben hier Gott sei Dank keine Planwirt-
uns das bisher gelungen ist. schaft. Wir sind auf das Mittun der Kommunen und
Die deutsche Einheit ist nicht seit Jahren vorhan- der Tarifpartner angewiesen. Wohin man kommt,
den, sondern seit dem 3. Oktober. Natürlich brauchen wenn der Staat alles macht, haben die Sozialisten in
wir Zeit. Ich mahne allerdings hier nicht zum Ausru- der DDR vorgeführt.
hen, sondern zu verstärktem Tempo. Gerade dabei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
werden wir die Tarifpartner brauchen.
Stabilisieren Sie doch nicht jene Erwartungshaltung,
Bleiben wir bei dem Thema Kurzarbeit. unter der wir gemeinsam leiden: zu warten, bis der
Gottvater Staat alles macht. Diesen Gottvater Staat
(Zuruf von der SPD: Null!) gibt es nicht. Den gab es allzulange in den Köpfen der
— Null, auch dieses Thema nehme ich auf. Machen Menschen in der DDR, mit dem ganzen Desaster. Wir
brauchen mehr Initia tive und freie Solidarität auch in
Sie die Kurzarbeit nicht schlechter, als sie ist. 16 % der
Kurzarbeiter sind auf Null gesetzt. 84 % sind dies kei- den Beitrittsländern.
neswegs. Zwei Drittel der Kurzarbeiter haben einen (Gilges [SPD]: Keinen Popanz aufbauen
Arbeitsausfall, der unter der Hälfte liegt. Ich vertei- jetzt!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 197
Bundesminister Dr. Blüm
Dann gibt es das Problem der Langzeitarbeitslosig- nehme das, obwohl ich mich als Bauchredner für
keit. Für die Langzeitarbeitslosen wollen wir unsere Dreßler eigentlich wenig eigne.
Bemühungen fortsetzen. Denn ich glaube, das ist auch
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
hier im Westen der harte Kern der unauflösbaren Ar-
der FDP)
beitslosigkeit. Aber damit sollten wir uns nicht abfin-
den. Es sind auch stärker psychologische Hilfen not- Eines habe ich vermißt: daß Sie in Ihrer Rede unse-
wendig. ren gemeinsamen Erfolg — ich sage, gemeinsamen
Erfolg — , den Rentenkonsens, hier vor der deutschen
(Vorsitz: Vizepräsident Becker) Öffentlichkeit verteidigen. Denn es kam nicht zu ei-
Ein Arbeitnehmer, ob Frau oder Mann, der jahrelang nem Finanzverbund Knappschaft/Rente. Ich gestehe,
keine Arbeit gefunden hat — vielleicht war er krank daß darüber heiß diskutiert wurde. Aber die Kollegen
oder behindert — , hat sich in einer Gesellschaft ein- Günther, Seehofer, Cronenberg, Thomae und alle, die
gerichtet, die ihn nicht fordert. Deshalb muß er gera- am Rentenkonsens mitgearbeitet haben, haben dieses
dezu an die Hand genommen werden. Die Gesell- unser gemeinsames Werk auch in der Koalition vertei-
schaft muß ihm helfen, zurückzufinden. Das Pro- digt, und das finde ich ganz wichtig. Wir haben Wort
gramm für die Langzeitarbeitslosen war nicht ohne gehalten: Es kommt nicht zu einem großen Finanz-
Erfolg. Wir haben 70 000 Langzeitarbeitslose weniger. mischmasch. Die Rentenfinanzen bleiben eigenstän-
Freuen Sie sich doch einmal mit mir darüber, daß dig und sicher, und das wollen wir auch in Zukunft
durch dieses Programm 70 000 Langzeitarbeitslosen verteidigen.
geholfen wurde und diese in die Arbeit zurückgefun- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
den haben. Für jeden der 70 000 ist das ein Fort-
schritt. Sie sehen, ich bin nicht nur auf Krach aus. Ich finde, es
war eine große Anstrengung, diesen Rentenkonsens
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zu erreichen. Er hat auch Vertrauen geschaffen, und
Ich halte mich nicht ganz an den Text von Dreßler, das sollten wir bei allem Streit auch in der Zukunft
sondern nenne noch ein paar andere Themen. nicht gefährden. Denn wir machen Politik nicht nur
für Parteien, sondern für die Menschen, und das
Rentenversicherung. Ich sehe die große Aufgabe im Schlimmste, was passieren könnte, wäre, daß Renten-
Bereich der Rentenversicherung darin, daß wir die im angst aufkommt.
Einigungsvertrag vorgesehene rentenrechtliche Ein-
heit zum 1. Januar 1992 herstellen. Das wird ganz Nun wird der Kollege Dreßler, nicht ganz überra-
besonders für viele Frauen, für Witwen wesentliche schend, auch zur Krankenversicherung sprechen. Die
Verbesserungen bringen. Denn die Hinterbliebenen, Zuständigkeit dafür habe ich an meine verehrte Kol-
gerade die Witwen, waren die durch das Rentenrecht legin abgegeben.
in der ehemaligen DDR am meisten Benachteilig- (Zuruf von der SPD)
ten.
— Das werden Sie gleich erleben, was er dazu sagt.
(Beifall des Abg. Cronenberg [Arnsberg] Ich stelle fest: Ich übergebe die Krankenversicherung
[FDP]) an meine Nachfolgerin in hervorragendem Zustand.
Wir plädieren dafür, zusammen mit dieser Einheit Zum erstenmal sinken die Beiträge. 700 Krankenkas-
auch den Finanzverbund zu schaffen, aus der Renten- sen haben die Beiträge gesenkt. 21 Millionen Bei-
versicherung Ost und West eine einzige Kasse zu ma- tragszahler zahlen weniger Beiträge.
chen. Das geschieht früher, als wir es ursprünglich (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
einmal geplant haben. Aber Gott sei Dank ist der Pro- Zurufe von der SPD)
zeß der deutschen Einigung schneller abgelaufen, als
wir alle es erwartet haben. Ich sage Gott sei Dank, Die Festbeträge, die Herr Dreßler gleich attackieren
denn wenn er langsamer abgelaufen wäre, hätten wir wird, bringen Ersparnisse bei den Versicherten:
das Ziel gar nicht erreicht. 945 Millionen DM weniger Ausgaben Dank der Fest-
beträge, die Herr Dreßler gleich attackieren wird. Lie-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord- ber Kollege Dreßler, wenn Sie diesen Erfolg jemals
neten der FDP) erreicht hätten, würden Sie auf Ihrem eigenen
Ich betrachte eine einheitliche Rentenkasse auch als Schreibtisch ein Bild von Dreßler stellen, eine Kerze
Ausdruck der Solidarität. Wir sollten jetzt aufhören, in davor und sich selber anbeten.
Kategorien wie Ost/West, ehemalige DDR, alte/neue (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und
Bundesländer zu denken. Wir sollten in Solidarität an der FDP)
einen Sozialstaat Deutschland denken.
So wie ich sie kenne, würde die AfA Prozessionen zu
Die zweite Aufgabe wird sein, Sondersysteme — Ihnen machen.
zum Teil mit Privilegien versehen — in die Rentenver-
sicherung zu überführen. Lieber Kollege Dreßler, ver- (Frau Schmidt [Nü rnberg] [SPD]: Wir haben
mißt habe ich — — die Faschingsveranstaltungen abgesagt!)
— Was ist daran Fasching, wenn wir der Pflege Bahn
(Müntefering [SPD]: Lesen Sie doch einmal
gebrochen haben, der Pflege zum erstenmal in der
vor!)
Krankenversicherung die Türen geöffnet und die Vor-
— Das macht er doch gleich selber. Aber wenn er sorge ausgebaut haben? Ich bleibe dabei: Neben der
damit einverstanden ist und wenn er mir seine Rede- deutschen Einheit als der herausragenden Aufgabe ist
zeit gibt, lese ich seine ganze Rede vor. Ich über- das große sozialpolitische Thema die Pflege.
198 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Blüm


Da werden Sie den Norbert Blüm erst einmal ken- oder begreifen will, daß wir heute keine Büttenreden
nenlernen. Denn das ist die große Herausforderung. von Bundesministern debattieren,
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste
Zuruf von der SPD: Das wird wieder — Widerspruch bei der CDU/CSU)
nichts!)
sondern eine Regierungserklärung,
— Ich habe schon zwei Reformen gepackt, und warum
soll ich die dritte nicht auch noch packen? Bei den (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Billiger geht es
ersten Reformen haben Sie auch gesagt, das würden aber nicht mehr! — Bohl [CDU/CSU]: Dreh
wir nicht schaffen. doch mal die Platte um!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — daß es überhaupt nicht Aufgabe der Opposition sein
Zuruf von der SPD: Wo haben Sie sie denn kann, zu Arbeitsminister- oder anderen Ministerein-
hingepackt?) - lassungen hier Stellung zu nehmen, sondern sich mit
der Regierungserklärung des Kanzlers auseinander-
Das ist das große unerledigte Thema. Ich sehe hun- zusetzen, dann ist das zwar sein Problem; allerdings
derttausende von Pflegebedürftigen, die der Sozial- werden wir uns nicht von der Fährte locken lassen.
staat alleinläßt. Wir haben die ambulante Pflege weit-
gehend den Frauen zu Hause überlassen, und zum Das zweite ist — das muß ich Ihnen nun wirklich
Dank dafür erwerben sie keine eigene Alterssiche- sagen — :
rung. Das kann nicht so bleiben. (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sie sind aber ein
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — rhetorischer Finsterling!)
Zurufe von der SPD) — Herr Geißler, sich mit den Inhalten dessen was hier
Wir brauchen eine neue Infrastruktur der Nachbar- gerade abgelaufen ist, sachlich auseinanderzusetzen,
schaftspflege. Es kann nicht unsere Antwort sein, daß fällt schon deshalb schwer, weil da nichts drin war.
70 % derjenigen, die in Pflegeheimen untergebracht (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste
sind, ihren Aufenthalt durch die Sozialhilfe bezahlen; — Bohl [CDU/CSU]: Er hat ja nur auf Ihre
das kann nicht die Antwort des Sozialstaates sein. Rede geantwortet!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Es mag ja sein, Herr Geißler, daß Sie die Gabe haben,
Zurufe von der SPD) einen sozialpolitischen Pudding an die Wand zu na-
Es kann nicht sein, daß das alles Taschengeldbezieher geln. Mir ist das nicht gegeben.
werden, daß das die graue, nivellierte Taschengeld- (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Herr Dreßler, le
gesellschaft wird. Wir wollen eine Gesellschaft mit sen Sie besser Ihre Rede vor! Vielleicht wird
Herz. Deshalb lade ich Sie und alle ein, daß wir uns in es dann besser! — Günther [Duisburg]
dieser Legislaturperiode mit ganzer Kraft diesen The- [CDU/CSU]: Sie nageln immer einen faulen
men zuwenden: Apfel an die Wand!)
(Zuruf von der SPD: Aber ganz schnell!) Wir gehen davon aus, daß es gute Tradition ist, daß zu
deutsche Einheit, Sozialstaat Deutschland und Beginn einer jeden Legislaturperiode der Regierungs-
Pflege! chef vor dem Parlament die Grundlagen der von ihm
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) beabsichtigten Politik darlegt. Dabei geht es naturge-
mäß weniger um die Erläuterung gesetzgeberischer
Einzelprojekte, sondern um die Verdeutlichung der
Vizepräsident Becker: Das Wort hat der Abgeord- politischen Konzeption der, wenn Sie so wollen,
nete Dreßler. Philosophie der Regierungspolitik.
Die 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ist
die erste gesamtdeutsche. Wer wollte bestreiten, daß
Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und diese Ausgangslage besondere Anforderungen an
Herren! Es gibt ja viele Mitglieder dieses Hauses, die uns alle stellt, an die Regierung wie an die Opposition,
in den letzten Jahren das Parlamentsverständnis des Anforderungen an unsere Gestaltungskraft, Phantasie
Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung in sei- und vor allem an unseren Willen, die deutsche Eini-
nen Reden haben anhören müssen. gung nach besten Kräften über den staatsrechtlichen
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Dürfen!) Rahmen hinaus für die Menschen auch gesellschafts-
politisch zu besiegeln?
— Nein, nein, sie mußten. Wir mußten auch — wir sind
ja pflichtbewußt. Sie mußten, weil Sie nun einmal Die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler
dazugehören. Manchem bei Ihnen ballte sich die vorgetragen hat, wird diesen Ansprüchen nicht annä-
Faust in der Tasche. herungsweise gerecht. Im Gegenteil, sie ist, bezogen
auf diesen Sachverhalt, ein quälendes Dokument der
(Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Nein, wir
politischen Konturlosigkeit und Konfusion.
haben gern zugehört! — Bohl [CDU/CSU]:
Sie haben es nicht beg riffen!) (Beifall des Abg. Gilges [SPD])
Aber geschenkt! Mir kommt es auf folgendes an: Sie bestätigt für alle sichtbar, was die vorangegange-
Wenn ein Bundesminister dieses Landes noch nicht nen Koalitionsverhandlungen befürchten ließen. Es
einmal nach so vielen Jahren Tätigkeit begreift steht nicht gut um die Qualität deutscher Regierungs-
(Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Erfolgrei- politik.
cher Tätigkeit!) (Beifall bei der SPD)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 199
Dreßler
Meine Damen und Herren, es fehlt nicht nur an kla- tung der deutschen Einheit und angesichts der düste-
ren inhaltlichen Linien, an Konzepten; in dieser Bun- ren Ereignisse am Golf und im Baltikum, die den welt-
desregierung fehlt es auch an Köpfen, die Programm politischen Ho rizont wieder verdunkeln, schon zu Be-
sein könnten. Das vierte Kabinett Kohl ist ein Kabinett ginn der Wahlperiode präsentiert. Gerade jetzt, wo
des personalpolitischen Kleinmuts, ja teilweise der — um eine Lieblingsvokabel des Kanzlers aufzugrei-
Belanglosigkeit, wie wir gerade vernehmen konn- fen — kraftvolle politische Führung angezeigt ist,
ten. (Zuruf von der CDU/CSU: Hat er gezeigt!
(Beifall bei der SPD) Ja!)
Ohnehin vermittelte das die Bildung der Bundesre- wo Mut und Entschlossenheit gefordert sind, verliert
gierung begleitende öffentliche Spektakel den fatalen sich diese Regierung in wohlfeilen Reden und übt sich
Eindruck, es gehe weniger um die Gewinnung poli- in konzeptioneller Selbstvernebelung.
tisch-fachlich qualifizierter Ressortschef, sondern um -
Die deutsche Einheit auszugestalten heißt, einen
die Sicherung von Pfründen und die Bef riedigung von
gemeinsamen Sozialstaat Bundesrepublik Deutsch-
Ansprüchen.
land zu schaffen, heißt, das Wohlstandsgefälle zwi-
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist wie eure schen West und Ost zu beseitigen.
Fraktionsreform!)
(Beifall bei der SPD)
Das abstoßende Pöstchengeschachere in den Reihen
der FDP lieferte dazu ebenso beredten Anschauungs- Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf auf-
unterricht wie die wundersame Vermehrung der Zahl merksam — das ist den Damen und Herren der CDU/
der Parlamentarischen Staatssekretäre. CSU und FDP vielleicht noch gar nicht aufgefallen —,
Sie werden in der Koalitionsvereinbarung das Wort
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Sozialunion nicht mehr finden. Nicht mehr finden!
Zum Thema! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]:
Wie bei euch mit den stellvertretenden Frak- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Auch nicht
tionsvorsitzenden!) mehr Währungsunion! Schnee von ge
stern!)
Meine Damen und Herren, hier galt offenkundig das
Motto: „Die Regierung bedient sich selbst, die Zeche Ob diese Aufgabe gelingt, hängt entscheidend vom
begleichen die Steuerzahler." Stellenwert und vom Gewicht ab, das der Sozialpoli-
tik im Konzept der verschiedenen Politikfelder zuge-
(Beifall bei der SPD) messen wird.
Seit dem 4. Oktober 1982 hat sich die Zahl der Mini- (Beifall bei der SPD)
ster, Parlamentarischen und beamteten Staatssekre-
täre um 16 von 61 auf 77 erhöht. Regierungserklärung und Koalitionsvereinbarungen
verheißen dazu nichts Gutes. Sozialpolitik im weite-
(Zuruf von der CDU/CSU: Entsprechend ist sten Sinne heißt leben, arbeiten, wohnen. Diese exi-
die Qualität bei uns! — Lachen bei der stentiellen Problemfelder haben für die Regierung
SPD) minderes Gewicht. Die Regierung verfolgt vielmehr
Das sind 27 %. Anders ausgedrückt, je mehr Versor- die klassische konservative Strategie: Sozialpolitik
gungsposten, desto geringer die Qualität, meine Da- wird zur Restgröße, wird zum Troubleshooter der Fol-
men und Herren. gen einer konzeptionslosen Wirtschafts- und Finanz-
politik verbogen.
(Beifall bei der SPD)
Das beeindruckendste Beispiel in der Liste dieser (Beifall bei der SPD — Buh-Rufe bei der
wundersamen Ämtervermehrung lieferte allerdings CDU/CSU — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wie
der Bundeskanzler mit seiner Entscheidung, das ehe- heißt das auf Deutsch?)
malige Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Ich sage Ihnen, ein derartiges Verständnis von Sozial-
Gesundheit — bisher schon ohne echte politische politik ist für uns Sozialdemokraten unannehmbar.
Kompetenz — auch noch dreizuteilen. Wir wollen eine Sozialpolitik, die aktiv gestaltet.
(Dipl.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das haben wir (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg.
heute doch schon dreimal gehört! Lassen Sie Dr. Geißler [CDU/CSU])
doch die Seiten 4 bis 11 weg!)
Wer nämlich wie auch Sie, Herr Geißler, es zuläßt, daß
Nun will ich die Flut von spöttischen und bösen Kom-Sozialpolitik zur Restgröße verkommt, wer ihre Zu-
mentaren, die dies in der Öffenlichkeit auslöste, nicht
ständigkeit auf die beschränkt, die im wirtschafts- und
zitieren. arbeitsmarktpolitischen Wettbewerb durch den Rost
(Zuruf von der CDU/CSU: Warum nicht?) gefallen sind, wer den Empfängern von Sozialleistun-
gen damit gleichsam politikamtlich ins Stammbuch
Gleichwohl erinnert mich diese Operation an die Er- schreibt „Ihr kommt nicht mehr mit" , der treibt keine
kenntnis, daß auch 3 x 0 null bleibt. solidarische Sozialpolitik; der setzt nicht auf den So-
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Jawohl! Des- zialstaat, Herr Geißler; der setzt auf den Ellenbogen-
halb lassen Sie die nächsten Seiten auch staat. Und da macht die SPD auch nicht mit, Herr
weg!) Geißler.
Man kann nämlich nur mit Beklemmung registrieren, (Beifall bei der SPD — Dr. Geißler [CDU/
in welcher Verfassung sich diese Koalition angesichts CSU]: Aber es haben mehr Arbeiter CDU
der schwierigen Aufgaben im Zuge der Ausgestal- gewählt als SPD!)
200 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dreßler
Auch nach eingehender Prüfung der Koalitionsver- lem einen entschiedenen Gegner: Sozialminister
einbarungen bleibt nur das folgende Fazit: Nachdem Blüm. Ausgerechnet er tat vor den Bundestagswahlen
die Wahlen vorbei sind, kommt die Wahrheit ans so, als sei er der Erfinder einer solchen Idee. Ich
Licht, Stück für Stück. Daß die Gestaltung der deut- denke, das ist eine dreiste Spekulation auf die Ver-
schen Einheit, die Schaffung einheitlicher Lebensver- geßlichkeit von Menschen.
hältnisse nicht ohne finanzielle Belastungen bewäl- (Beifall bei der SPD)
tigt werden kann, wir Sozialdemokraten haben es ge-
wußt und haben es auch gesagt. Nur, die Regierung Sein Vorschlag einer Pflegeversicherung ist abge-
hat so getan, als werde dies an den Menschen fast schrieben. Als letzte Vorlage diente ihm dazu das Ber-
spurlos vorbeigehen. liner Wahlprogramm der SPD von 1990.
Erinnern wir uns: „Niemand wird es schlechter ge- (Zuruf des Abg. Cronenberg [Arnsberg]
hen und vielen besser. " So lautete das Motto des Bun-
- [FDP])
deskanzlers. Was allerdings von den Wahlversprechungen die-
(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) ses Ministers hinterher zu halten ist, zeigt der tatsäch-
liche Koalitionsbeschluß zur Pflegeversicherung. Die
Jeder sieht heute, dies war die Unwahrheit. Die Koali- Wahlversprechungen von Herrn Blüm von der CDU/
tion aus CDU/CSU und FDP ist zur Gefangenen ihrer CSU wurden wie eine heiße Kartoffel fallengelassen.
eigenen unhaltbaren Versprechungen geworden, die Kein rhetorischer Ausflug kann darüber hinwegtäu-
sie nun einholen. Es ist offenkundig: Dies ist eine schen, daß die Zusage Herrn Blüms an den deutschen
Koalition des gebrochenen Wortes, meine Damen und Wähler in dieser Koalitionsvereinbarung nicht enthal-
Herren. ten ist.
(Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ (Widerspruch bei der CDU/CSU — Zuruf von
CSU) der SPD: Leider wahr!)
Die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse Das ist der Tatbestand.
in Deutschland erfordert ein klares, schlüssiges Kon-
In Sachen Pflege seien Sie ganz beruhigt, besonders
zept, sowohl was die Inhalte angeht als auch die
die Damen und Herren von der CDU/CSU!
Finanzierung. Die Regierung aber hatte und hat kei-
nes. Sie stolpert von einer Verlegensheitslösung in die (Zuruf von der CDU/CSU: Sind wir nicht!)
andere. Was uns da in der Weihnachtspause zugemu- Die FDP hat sich auf diesem Feld völlig sauber verhal-
tet wurde, war alles andere als ein Krippenspiel: Stra- ten: Sie war vorher dagegen, sie war während der
ßenbenutzungsgebühr ja, Straßenbenutzungsgebühr Verhandlungen dagegen, und sie ist jetzt dagegen.
nein. Mineralölsteuererhöhung ja, Mineralölsteuer-
erhöhung nein. Die Findigkeit der Koalition in der (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Jetzt haben
Erschließung neuer Finanztöpfe kannte keine Grenze. Sie dreimal die Unwahrheit gesagt!)
Keine Absurdität wurde ausgelassen. Sie sitzen da mit langen Gesichtern, weil sich die FDP
Telefongebühren heißt nun das neueste Stichwort, durchgesetzt hat. Ich kann verstehen, daß Ihnen dabei
um bei den Menschen abzukassieren. Ich frage mich mulmig wird. Ich sage Ihnen: In Sachen Pflege wird
manchmal, in welcher Welt die Vertreter der Koalition die SPD-Bundestagsfraktion Herrn Blüm und die
eigentlich leben. Ihnen muß doch klar sein, daß sie CDU/CSU-Bundestagsfraktion in die Lage versetzen,
damit Alte, Kranke und Behinderte, also vor allem über die Inhalte Ihrer eigenen Wahlreden hier abstim-
jene treffen, für die das Telefon das meist einzige Kon- men zu können. Das kündige ich Ihnen bereits heute
taktmittel nach außen ist. Die Gebühren würden ja gar verbindlich an, meine Damen und Herren.
nicht erhöht, lediglich der Zeittakt werde verkürzt, (Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/
ließ sich der Finanzminister vernehmen. Meine Da- CSU]: Wir erschaudern!)
men und Herren, dieses Argument gleicht dem des
Autofahrers, der eine Benzinpreiserhöhung mit der Mangelnde Entschlußkraft und politische Kontur-
Bemerkung kommentiert, daß sei ihm egal, er tanke losigkeit kennzeichnen auch die Aussagen der Koali-
tionsvereinbarung in einem anderen, für die Men-
ohnehin immer nur für 30 Mark.
schen besonders wichtigen Bereich, dem des Arbeits-
(Zuruf von der CDU/CSU: So einen ähnli- schutzes." Der Arbeitsschutz ist unter Berücksichti-
chen Witz haben wir heute schon gehört!) gung der EG-Richtlinien neu zu regeln und seine Har-
In dieser Regierung des gebrochenen Wortes gibt es monisierung in Europa zu unterstützen", heißt es da.
auch einen Sozialminister, also einen, der von Amts Sie machen sich offensichtlich doch nicht einmal die
wegen darüber zu wachen hätte, daß die Grundsätze Mühe, Ihr politisches Blabla durch geschickte Formu-
der sozialen Gerechtigkeit eingehalten werden. Man lierungen zu überkleistern.
hat ihn zum Thema Telefongebühren damals nicht (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das können
gehört, hat ihn heute nicht gehört; vielleicht hören wir Sie vielleicht besser!)
ihn morgen. Bisher hat er dazu nichts gesagt. Sonnenklar wird nämlich: Auch in dieser Wahlpe-
Ein klassisches aktuelles Beispiel ist die Pflegever- riode wird es keine Initiative der Bundesregierung für
sicherung, die er vor der Wahl so vollmundig ange- eine sachgerechte Fortentwicklung des Arbeits-
kündigt hat. Als die frühere SPD-geführte Landesre- schutzrechtes geben. Aber keine Bange: Wir werden
gierung in Hessen 1985 einen Gesetzentwurf über Sie auch hier ans Laufen bringen. Wir haben der Öf-
eine Pflegeversicherung vorlegte und im Bundesrat fentlichkeit im November 1990 einen Diskussionsent-
zur Abstimmung stellte, hatte dieser Entwurf vor al wurf für ein umfassendes neues Arbeitsschutzgesetz
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 201
Dreßler
vorgelegt. Den werden wir in den 12. Deutschen Bun- Das aber ist kein Zufall, denn CDU/CSU und FDP
destag einbringen. sind in diesen Fragen wie Feuer und Wasser. Wenn
Wer sich den gesundheitspolitischen Vorhaben der die zusammentreffen, bildet sich bekanntlich Dampf.
Koalition für die 12. Pe ri ode zuwendet, der kann das Hinter dem möchten Sie sich mit Ihren nichtssagen-
mit Blick auf Bundesminister Blüm nur noch im Sinne den Formeln verkrümeln. Aber keine Sorge: Dafür,
eines politischen Nachrufs tun. Er werde, so sagte er, daß das Thema Krankenkassenreform auf der Tages-
mit seiner Gesundheitsreform nicht scheitern. ordnung dieses Hauses steht, wird die SPD ebenfalls
sorgen. Das darf ich Ihnen heute auch schon verspre-
(Zuruf von der CDU/CSU: Ist er auch chen.
nicht!)
Auch arbeitsmarktpolitisch kann die Koalitionsver-
Zwei Jahre nach Inkrafttreten des sogenannten Ge- einbarung nur als Fehlstart in die Wahlperiode be-
sundheitsreformgesetzes steht fest: Nicht nur das Ge- -zeichnet werden. Von Zukunftsgestaltung keine
setz ist gescheitert; der es zu verantwortende Gesund- Rede. Die Koalitionsvereinbarung behauptet, die ak-
heitsminister gleich mit ihm. tive Arbeitsmarktpolitik werde auf hohem Niveau
fortgesetzt. Diese Behauptung ist ebenso anmaßend
(Beifall bei der SPD) wie irreführend.
Keiner seiner Vorgänger, die je für die Gesundheits- (Dr. Blüm [CDU/CSU]: 17 Milliarden! Drei
politik verantwortlich zeichneten, ist so jämmerlich mal mehr als zu Ihrer Zeit!)
eingebrochen, daß ihm der Regierungschef mit einem
Federstrich die Kompetenz für dieses gewichtige poli- Richtig hingegen ist: Die Arbeitslosigkeit wird in den
tische Themenfeld nehmen konnte. Das Ende der ge- alten wie in den neuen Bundesländern vorrangig ver-
sundheitspolitischen Dienstfahrt von Herrn Blüm ist waltet, aber nicht bekämpft.
gekommen. Aber die gesundheitspolitischen Jahre (Beifall bei der SPD)
des Ministers Blüm werden den Menschen im Be-
wußtsein bleiben als Jahre der Leistungskürzungen, Das geht nun munter weiter. Die der Bundesanstalt
als Jahre des Abkassierens, als Jahre der Entsolidari- für Arbeit auferlegte globale Minderausgabe von
sierung. 2,3 Milliarden DM im Jahre 1991 wird erneut zu einer
Einschränkung von arbeitsmarktpolitischen Maßnah-
Sie, Herr Blüm, verlassen den politischen Kampf- men führen. Wir haben nicht ein Wo rt des dafür ver-
platz Gesundheitspolitik als Geschlagener, als am ei- antwortlichen Ministers gehört, wie er sich in Zeiten
genen politischen Unvermögen Gescheiterter. von Massenarbeitslosigkeit in Deutschland von annä-
(Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ hernd 4 Milliarden Menschen — —
CSU]: Die Rede haben Sie schon einmal ge- (Zurufe von der CDU/CSU)
halten! — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]:
— 4 Millionen Menschen, Entschuldigung. Wenn Sie
Eine sehr militärische Formulierung!)
sich die Sprachirrtümer Ihres Bundeskanzlers anhör-
Wir erinnern uns doch alle noch seiner vollmundi- ten, wären Sie nur noch am Lachen. Bei mir dürfen Sie
gen Worte von diesem Pult. Ich zitiere: „Der kleine es sich einmal leisten.
Norbert Blüm hat die Pharmaindustrie ganz alleine in
(Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten
die Knie gezwungen."
der PDS/Linke Liste)
(Heiterkeit bei der SPD — Zustimmung bei Es geht um 4 Millionen Menschen, und da will er
der CDU/CSU) 2,3 Milliarden kürzen, und er erzählt uns hier, das
— Daß ich nicht lache! Nein, meine Damen und Her- würde auf hohem Niveau fortgeführt.
ren, nicht Blüm hat die Pharmaindustrie in die Knie (Dr. Blüm [CDU/CSU]: 70 Milliarden DM! So
gezwungen, sondern die Pharmaindustrie hat Blüm hoch war sie noch nie!)
bezwungen. Sie hat ihn plattgemacht.
Ich muß sagen, Herr Blüm: Das ist Zynismus, das ist
Ab 1. Januar des nächsten Jahres wird es auch für T ri ck, und das ist Täuschung, was Sie hier veranstal-
über 50 % der Medikamente eine neue Selbstbeteili- ten.
gung von 15 %, höchstens aber 15 DM pro Arzneimit-
tel geben. Jeder kann sich ausmalen, was dies für die Daß in Ostdeutschland die Sonderregelungen bei
Kranken bedeutet. Kurzarbeit und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ver-
längert werden, kann man doch nur begrüßen. Wir
Nun verspricht die Koalition eine Organisationsre- haben im letzten Jahr, Herr Blüm, unseren Beitrag lei-
form der Krankenversicherung. Wie soll die denn sten können, diese Regelungen einzuführen. Wir ha-
aussehen? Sie wollen eine Erweiterung der Kassen- ben aber auch — leider ohne Erfolg — seit mehr als
wahlfreiheit unter Wahrung des gegebenen geglie- einem Jahr versucht, die Bundesregierung zu treiben,
derten Systems. Wie geht das denn? Es geht doch Kurzarbeit mit Qualifizierungs- und Fortbildungs-
wohl nur das eine oder das andere. Ist Ihnen das noch maßnahmen zu verbinden. Nach einem Jahr ver-
gar nicht aufgefallen? schenkter Zeit wi ll die Bundesregierung nun endlich
Ferner soll es eine Reduzierung von strukturell be- tätig werden — kündigt sie an. Hoffentlich ist es nicht
dingten Beitragssatzunterschieden geben. Wie beru- nur wieder eine Ankündigung.
higend! Nur: wie und vor allem um wieviel? Das Ent- Wir können es Ihnen nicht ersparen, erneut auf Ihre
scheidende bleibt — wie an jeder Stelle der Regie- schweren Versäumnisse aufmerksam zu machen. Die
rungserklärung und der Koalitionsvereinbarung — of- Bundesanstalt hatte Mitte 1990 ein Eventualpro-
fen. Eine salvatorische Klausel jagt die nächste. gramm vorbereitet, um 100 000 ABM-Plätze und
202 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dreßler
100 000 Qualifizierungsplätze in den fünf neuen Bun- „Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleichba-
desländern zu erreichen. Die Regierung hat dieses ren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine gesamt-
Programm der Bundesanstalt für Arbeit politisch ver- staatliche Aufgabe und darf nicht den Beitragszahlern
hindert. Es sind 20 000 ABM-Plätze übriggeblieben. in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. Sie er-
Wir hören von Insidern, daß dreistündige Samstags- folgt deshalb aus Steuermitteln."
vormittagslehrgänge zur Einführung der Sozialen Nach der Wahl beschließt die Bundesregierung ge-
Marktwirtschaft do rt als Qualifizierungsmaßnahmen nau das, was sie vor der Wahl nicht zu tun versprochen
gezählt werden. hatte. Herr Blüm, haben Sie einen anderen Beg ri ff
(Hört! Hört! bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy dafür als Wahlbetrug und Wählertäuschung?
[CDU/CSU]: Das fällt Ihnen schwer, nicht!) Die massive Erhöhung des Beitragssatzes zur Ar-
Das will Herr Blüm nun steigern. Ich sage noch ein- beitslosenversicherung haben wir Ihnen vor der Wahl
mal, das grenzt an Zynismus. auf den Kopf zugesagt. Das Bundesarbeitsministerium
lieferte dazu ausweislich des „Kölner Stadtanzeigers"
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist ja das Pro- vom 24. November 1990 ein Dementi. Ich zitiere wie-
blem, daß wir das in den 50er Jahren nicht der Herrn Blüm:
gemacht haben!)
Eine von der SPD behauptete Erhöhung des Bei-
Sie treffen erneut Vorbereitungen, um gewerbsmä- trages zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 auf
ßige, p ri vate Arbeitsvermittlung zuzulassen. Tatsa- 6,3 % ist nach Angaben aus dem Bundesarbeits-
che ist aber, der notwendige Schutz der Arbeitsuchen- ministerium nicht geplant. Beschlossen sei ledig-
den und gezielte Hilfen für benachteiligte Gruppen lich eine Anhebung um höchstens einen Prozent-
sind so nicht leistbar. punkt auf 5,3 % bei gleichzeitiger entsprechen-
Ein p ri vater Vermittler wird sich nie um schwierige der Senkung des Beitrags zur Rentenversiche-
Vermittlungsfälle kümmern können. Ich will deshalb rung.
den frisch gekürten Parlamentarischen Staatssekretär Herr Blüm, was ist das eigentlich anderes als die
Günther zitieren, Bundesministerium für Arbeit und
Unwahrheit und Beitragslüge?
Sozialordnung.
(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Darüber reden wir
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Guter Mann!) morgen noch einmal!)
Er lehnt das ab. Ich zitiere ihn im offiziellen Organ der
Haben Sie eigentlich jede Sensibilität dafür verloren,
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, verantwortlich Herr
daß Sie vor Wahlen mit solchen objektiven, wie sich
Geißler: heute herausstellt, Unwahrheiten vor das deutsche
Dem Mißbrauch wäre Tür und Tor geöffnet, und Volk treten und hier nicht einmal die Spur, einen
wer am meisten bieten könnte, bekäme den at- Hauch von Kraft besitzen, diese Beitragslüge dem
traktivsten Arbeitsplatz oder den idealsten Be- deutschen Parlament zu gestehen? Noch nicht einmal
werber. einen Hauch davon haben Sie!
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Der Dreßler ist (Beifall bei der SPD)
immer ein paar Jahre zurück!) Daß ihm das vorher von mir zugeschickte Manuskript
Nun, Herr Günther, was ist denn: Kaum ernannt, nicht schmeckte, wenn er gelesen hat, daß er hier vor-
schon zurückgetreten, oder? Wahrscheinlich wird er geführt wird, kann ich verstehen.
nach dem Motto verfahren wie alle seine Kollegen:
(Beifall bei der SPD)
Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Das ist
die Tragik. Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages ist
keine Belastungsminderung, sondern lediglich eine
(Beifall bei der SPD) zeitliche Umverteilung der Beitragslast, denn der
Die Rentenversicherung, meine Damen und Her- Minderbelastung in den Anfangsjahren steht eine
ren, gerade erst in einer großen gemeinsamen Kraft- entsprechende Mehrbelastung in den Folgejahren ge-
anstrengung für zwei Jahrzehnte in Ordnung ge- genüber. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch in
bracht, macht die Regierung Kohl erneut zum Gegen- Deutschland, der oberhalb der Beitragsbemessungs-
stand von Finanzmanipulationen. Das ist ein schlim- grenze von 6 500 DM verdient, wird von dieser Koali-
mer Rückfall in die Flickschusterei und Milliarden- tion zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht her-
schieberei der 80er Jahre. Hier wird neu gewonnenes angezogen. Das ist Umverteilung von unten nach
Vertrauen mutwillig aufs Spiel gesetzt: Die geplante oben, wie sie klassischer überhaupt nicht mehr darge-
Beitragsmanipulation, Erhöhung des Arbeitslosenver- stellt werden kann.
sicherungsbeitrags zunächst um 2,5 %, dann Senkung (Beifall bei der SPD)
der Rentenversicherungsbeiträge um 1 To ist nichts
anderes als der Bruch eines zentralen Wahlkampfver- Preiswerter, erschwinglicher Wohnraum gehört zu
sprechens. Das öffentliche Urteil zu diesem Vorhaben den existentiellen Voraussetzungen eines menschen-
war einhellig wie selten. Herr Blüm, hören Sie mal zu! würdigen Daseins. Um dies zu gewährleisten, haben
Es geht jetzt, Herr Blüm, um ein Wahlversprechen von wir in unserem Sozialstaat die Instrumente des sozia-
Ihnen, das Sie gemacht haben. Die Überschriften lau- len Wohnungsbaus und des sozialen Mietrechts ent-
teten in Richtung von Herrn Blüm: Wahlbetrug, Bei- wickelt. Sie müssen aber genutzt werden und dürfen
tragslüge, Schlachtfest. Das waren die meistge- nicht zu einem Alibi verkommen. Die bisherigen Woh-
brauchten Vokabeln. Am 17. Mai vorigen Jahres hat nungsbauminister in den Kabinetten der Koalition ha-
Bundesarbeitsminister Blüm erklärt — ich zitiere — : ben in diesem Politikfeld versagt. Die Namen Oscar
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 203
Dreßler
Schneider und Gerda Hasselfeldt sind zu Synonymen Wie schön! Bei näherem Hinsehen erweist sich aller-
für eine gescheiterte Wohnungsbaupolitik geworden. dings, daß diese Festlegung ein politisches Muster
Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum ist so ohne Wert, eine wohlfeile Floskel ist;
groß wie nie. Die neu hinzugekommenen Probleme (Zurufe von der CDU/CSU)
auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt sind unge-
wöhnlich schwierig und verstärken den Druck. Woh- denn Sie lassen die entscheidenden Fragen offen. An
nungsnot ist kein Fremdwort, sondern Wirklichkeit in welches Kindergartenalter denken Sie denn eigent-
Deutschland, und zwar in den alten wie in den neuen lich, und wie wollen Sie eigentlich die Finanzierung
Bundesländern. Wenn angesichts der angespannten sicherstellen?
und bedrückenden Lage am Wohnungsmarkt der FDP (Zurufe von der CDU/CSU)
das Wohnungsbauministerium übertragen wird, dann
ist diese Personalie zugleich Programm, Sie wissen doch genau, daß dies ohne Berücksichti-
- gung der zusätzlichen Kosten beim Finanzausgleich
(Zuruf von der SPD: Das ist wohl wahr!) zwischen Bund und Ländern ein leeres Versprechen
bleibt.
Programm für noch höhere Mieten, für noch stärkere
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wer ist eigentlich
Aushöhlung des Mieterschutzes, Programm für eine
zuständig?)
Umgestaltung des sozialen Wohnungsbaus zu einem
Auslaufmodell. Oder glauben Sie im Ernst, daß Sie einen Wechsel zu
Lasten Dritter ziehen können? Fragen Sie doch einmal
(Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Programm Ihre eigenen Ministerpräsidenten! Die lachen sich ja
für eine gute Baukonjunktur!) halbtot, wenn sie das lesen.
Wann, wenn nicht jetzt, wenn jedem die dramati- (Beifall bei der SPD)
sche Situation am Wohnungsmarkt deutlich wird, soll In der Familienpolitik wird Ihre Konturlosigkeit nur
eigentlich der notwendige wohnungspolitische Auf- noch von Ihrer Unverfrorenheit übertroffen. Was an-
bruch, die Umkehr erfolgen? Was muß denn eigent- deres als Unverfrorenheit soll es sein, wenn Sie stur an
lich noch alles geschehen? Wie lang muß die Schlange der verfassungswidrigen Besteuerung der Familien
der Wohnungssuchenden denn eigentlich noch wer- mit Kindern ein weiteres Jahr festhalten wollen?
den, bis diese Koalition zur Vernunft kommt? Die star-
(Beifall bei der SPD)
ken bayerischen CSU-Sprüche haben wir acht Jahre
lang genossen. Taten sind dem nicht gefolgt. Statt Statt das Kindergeld sofort auf mindestens 200 DM für
dessen haben die Sprüchemacher aus Bayern jetzt das jedes Kind erhöht zu bekommen — wir haben das
Feld geräumt und sich klammheimlich verdrückt. lange gefordert — , müssen Familien auch 1991 7 Mil-
harden DM Steuern zuviel zahlen, die nach dem Urteil
Die wohnungsbaupolitische Mängelliste der Koali- des Bundesverfassungsgerichts von dieser Regierung
tionsvereinbarung ist lang. Wir kennen sie. Ich will sie gar nicht erst abkassiert werden dürfen.
hier nicht weiter zitieren.
(Zurufe von der CDU/CSU)
Meine Damen und Herren, ich komme zum Wer Ihre Steuerpolitik verfolgt und sieht, daß der
Schluß. Staat bei Ihrer Politik z. B. bei Modellflugzeugbau
Vereinen Steuerverzicht übt, wie er andererseits aber
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) die Familien mit Kindern steuerrechtlich behandelt,
— Daß Ihnen das nicht gefällt, glaube ich Ihnen gern. (Unruhe bei der CDU/CSU)
Daß Sie nur begeiste rt sind, wenn Ihr Minister an der
der kann hier nur von einem gesellschaftspolitischen
Sache vorbeiredet, das haben wir den ganzen Tag
Skandal sprechen.
gehört. Aber heute abend geht es zur Sache, und Sie
haben die große Chance, genau zu diesen Widersprü- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
chen, vor der Wahl — nach der Wahl, vor dem Deut- CSU: Heute morgen hat Herr Vogel das uns
schen Bundestag Stellung zu nehmen. Mit Bütten- wiederholt vorgeworfen!)
reden allein ist das nicht mehr zu machen. — Kümmern Sie sich einmal um die Passage „Dienst-
mädchenprivileg". Wenn Sie dann nicht schamrot
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Sie
werden, dann weiß ich nicht mehr, wie man das an-
überschätzen sich!)
ders darstellen soll!
Meine Damen und Herren, wer in den Koalitions- (Beifall bei der SPD)
vereinbarungen Hinweise auf eine aktive, gestal-
tende Jugendpolitik sucht, der wird dies vergeblich Was CDU, FDP und CSU uns mit der Regierungser-
tun. Er wird nichts finden. Dies erstaunt um so mehr, klärung und mit den Koalitionsvereinbarungen als Er-
als sowohl der Einigungsvertrag wie auch das CDU- öffnungsbilanz und als Ausblick auf ihre politischen
Wahlprogramm ausdrücklich zu diesem Themenfeld Pläne in den nächsten vier Jahren vorgelegt haben,
Stellung nehmen. wird gesellschaftspolitisch verhängnisvolle Auswir-
kungen haben. Es widersp richt fast in allen zentralen
In den Koalitionsvereinbarungen heißt es, daß end- Politikfeldern dem obersten Gebot eines jeden Sozial-
lich auch Sie den Rechtsanspruch auf einen Kinder- staats, nämlich dem Gebot der gesamtgesellschaftli-
gartenplatz gesetzlich verankern wollen. chen Solidarität; ich möchte hier nur einen Bereich
nennen: besonders dem Gebot der Solidarität des
(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) westlichen mit dem östlichen Teil unserer Republik.
204 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Dreßler
Diese Koalition hält an ihrem Konzept der gesell- Problemen, mit seinen Nöten und seinen Interessen in
schaftspolitischen Spaltung fest. den Mittelpunkt der Diskussion stellt. Das ist eben
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das müssen Sie nicht geschehen.
nach den Neidkampagnen des letzten Jahres Schauen Sie, lieber Rudolf Dreßler, die Sachlichkeit
sagen!) hätte es geboten, festzustellen, daß die Koalition, ins-
Sie macht ihre bundesrepublikanischen Fehler der besondere meine Freunde, im Wahlkampf gesagt ha-
Vergangenheit zu Hypotheken für die Zukunft des ben, daß wegen der dramatischen Entwicklung in den
vereinten Deutschlands. Beitrittsländern die Arbeitslosenversicherungsbei-
träge erhöht werden müssen. Das ist vor der Wahl
(Zurufe von der CDU/CSU) gesagt worden. Das war ein Stück Redlichkeit.
Sozialpolitik ist in dieser Koalition zu einem stumpfen (Beifall bei der FDP und der SPD sowie des
Instrument geworden. Sie verzichten fast durchgän- Abg. Geißler [CDU/CSU])
gig auf einen eigenen politischen Gestaltungsan-
spruch. Sie erschöpfen sich im Hinnehmen von Ergeb- Das hätte man erwähnen können; genauso, wie es
nissen einer konzeptionslosen Wirtschafts- und Fi- richtig gewesen wäre, festzustellen, daß die Senkung
nanzpolitik. Die personalpolitische Repräsentanz die- der Rentenversicherungsbeiträge — fast in der Höhe,
ses wichtigen Politikfeldes am Kabinettstisch ist denn wie die SPD-Fraktion dies im Mai beantragt hat —
auch eine logische Konsequenz aus dieser Entwick- nun durch die Koalition durchgeführt wird. Das wäre
lung. Sie ist aufgesplittert auf viele Einzelressorts und ein Beitrag zur Sachlichkeit gewesen.
garniert durch einen Sozialminister, den sein eigener (Beifall bei der CDU/CSU)
Regierungschef durch eine drastische Entmachtung
politisch ins Mark getroffen hat. Für Sozialpolitik, Vizepräsident Becker: Herr Abgeordneter Cronen-
meine Damen und Herren, für die Sorgen der Men- berg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord-
schen um Arbeitsplätze und Wohnen, um Gesundheit neten Dreßler?
und Altersversorgung und um Unterstützung für die
Erziehung der Kinder und die Pflege der Älteren war
diese Regierungserklärung von Helmut Kohl keine Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Ja.
gute Adresse.
Ich danke Ihnen. Vizepräsident Becker: Bitte schön, Herr Dreßler.
(Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/
CSU]: Das war 21 Seiten zu lang! — Dr. Dreßler (SPD): Herr Kollege Cronenberg, nachdem
Geißler [CDU/CSU]: Das war ein Tagesbe- ich Ihnen meine Rede bereits heute mittag zuge-
fehl!) schickt habe, frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, daß
Ihnen trotzdem entgangen ist, daß ich soeben, vor
wenigen Minuten, ausdrücklich gesagt habe, daß die
Vizepräsident Becker: Das Wort hat der Abgeord-
Bundesregierung, die Sie ja mittragen, vor der Wahl
nete Cronenberg.
gesagt hätte, sie würde den Arbeitslosenbeitrag um
1 % erhöhen? Ich habe nur gesagt: Damit hat sie die
Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Herr Präsident! Ver- Unwahrheit gesagt, weil sie sie nicht um 1 %, sondern
ehrte Kolleginnen und Kollegen! Wie Sie sich denken um 2,5 % erhöht hat. Stimmen Sie mir wenigstens zu,
können, stehen mir nur einige wenige Minuten zur daß Sie das vernommen haben?
Verfügung, um zu diesem komplexen Thema Stellung
zu nehmen. Trotzdem möchte ich einige wenige Sätze Cronenberg (Arnsberg) (FDP): Ich habe das nicht so
opfern, um eine allgemeine Feststellung, verbunden im Ohr.
mit einer Bitte — wenn Sie so wollen, mit einer Auf-
forderung —, zu treffen. (Dreßler [SPD]: Jetzt schicke ich Ihnen das
Manuskript, und Sie haben das noch nicht
Verehrte Kolleginnen und Kollegen: Die Sozialpoli- einmal im Ohr!)
tik braucht weniger Polemik.
— Nein, offensichtlich funktioniert auch mein Büro
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — nicht so gut, so daß ich nicht in der Lage war, mir Ihre
Zurufe von der SPD: Da klatscht der Blüm Rede vorher anzusehen. Ich habe sie nur ein paar
mit!) Minuten vorher gesehen. Aber sie hat sich in nichts
Auch der Beitrag, lieber Rudolf Dreßler, unterschieden von dem, was hier an polemischem
(Müntefering [SPD]: Und lieber Norbert Vortrag gehalten worden ist.
Blüm!) (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
den Sie hier eben abgeliefert haben, war kein Beitrag Ich sage sogar dabei: Lieber Rudolf Dreßler, der Text
zum sozialen Frieden. liest sich noch harmloser, als die Art des Vortrags es
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) vermuten ließ.
Ich weiß, daß meine Kollegen aus diesem Bereich zu (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
rheto ri schen Spitzenleistungen auflaufen können und Ich möchte hier verdeutlichen, daß sich liberale So-
in der Lage sind, sie zu liefern. Aber das dient nicht zialpolitik jedenfalls bemüht, den Menschen ein Le-
der Sozialpolitik. Das dient nicht dem sozialen Frie- ben in Würde und Freiheit zu ermöglichen, und indi-
den. Ich meine, wir brauchen eine neue Sachlichkeit viduelle Entscheidungsfreiheit und Eigenvorsorge mit
in der Sozialpolitik, die den Menschen mit seinen solidarischer Absicherung verbindet. Wir lehnen eine
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 205
Cronenberg (Arnsberg)
Sozialpolitik auf Pump, die die Zukunftschancen der — Ich bemühe mich in der Tat, durch unternehmeri-
nächsten Generationen belastet, ab. sche Tätigkeit Arbeitsplätze zu schaffen. Ich hoffe,
daß das Ihre wohlwollende Unterstützung findet. —
(Beifall bei der FDP)
Ich habe damals schon darauf hingewiesen, daß diese
Nur Böswillige können dies als soziale Kälte diffamie- Regelung in dieser Perfektion, wie wir sie angewandt
ren. haben, mehr Schaden als Nutzen anrichten kann. Ich
(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Das gibt's auch!) hoffe, daß unsere Bemühungen, diese Schäden zu mil-
dern, nicht erfolglos sind.
Eine Hauptaufgabe dieser Legislaturperiode ist es,
das Zusammenwachsen der alten und der neuen Bun- Lassen Sie mich noch einige Stichworte zur Alters-
desländer zu fördern. Die Schaffung vergleichbarer sicherung sagen. Wir Freien Demokraten haben den
Lebensverhältnisse erfordert eine konsequente Be- Rentenkonsens gewollt. Wir haben uns leidenschaft-
kämpfung der Arbeitslosigkeit. Das bedeutet für uns lich dafür eingesetzt und halten an diesem Renten-
konkret: Beseitigung von Investitionshemmnissen, konsens fest. Wir halten auch dann daran fest, wenn
Verbesserung der Infrastruktur, Ermutigung des Mit- das in Koalitionsgesprächen nicht immer sehr einfach
telstands und eine Konzentration der Maßnahmen ak- ist. Auf der Basis dieses Konsenses hoffe ich auf breite
tiver Arbeitsmarktpolitik. Zustimmung, wenn ab 1. Januar 1992 ein einheitli-
ches Rentenrecht im gesamten Bundesgebiet gelten
Zur aktiven Arbeitsmarktpolitik, lieber Rudolf wird
Dreßler, gehören auch Qualifizierungsmaßnahmen,
und zwar echte Qualifizierungsmaßnahmen. (Beifall bei Abgeordneten der FDP)
(Gilges [SPD]: Überhaupt kein Streit!) und dabei u. a. die unzureichende Versorgung der
Witwen in den neuen Bundesländern beendet wird.
Ich fand es nicht gut, daß diese Qualifizierungsmaß-
Dringend notwendig ist auch eine befriedigende Re-
nahmen eben mit einer Bemerkung lächerlich ge-
gelung bezüglich der sogenannten Zusatzversorgung
macht worden sind, die sich möglicherweise auf eine
in den neuen Bundesländern. Es geht nicht darum,
einzelne Ausnahme bezog; das weiß ich nicht. Deswe-
Privilegien zu schaffen. Aber es ist unerträglich, wenn
gen habe ich die ernste Bitte — wenn es wirklich so ist,
die Witwe eines Arztes, eines Technikers oder eines
daß als Qualifizierungsmaßnahme ein Drei-Stunden-
Lehrers unendlich lange auf die Anpassung der
Kurs über Soziale Marktwirtschaft am Samstagmor-
Sozialversicherungsrente warten muß.
gen angeboten wird —,
Kollege Dreßler, nun noch einige Worte im Sinne
(Schreiner [SPD]: Für Möllemann!)
eines gutgemeinten Nachhilfeunterrichts zur Pflege-
mir das mitzuteilen, damit dieser Unsinn eingestellt problematik. Meine Damen und Herren, es ist unbe-
wird. Nicht die Information über Soziale Marktwirt- stritten — das ist auch nie von uns geleugnet wor-
schaft sollte eingestellt werden, aber als Qualifizie- den — , daß die Lösung der Pflegeproblematik eine
rungsmaßnahme ist das in der Tat ungeeignet. Hauptaufgabe dieser Legislaturperiode ist.
(Zuruf von der SPD) (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Sehr gut!)
—Nein, das ist ganz sicher nicht richtig. Wir wissen ja Es geht nicht um das Ob, sondern es geht ausschließ-
auch, daß Qualifizierung, auch wenn sie nicht sofort lich um das Wie. Dabei gibt es mehr Gemeinsamkei-
zu einem konkreten Arbeitsplatz führt, die Chancen ten auch in der Koalition, als die öffentlichen Diskus-
auf dem Arbeitsmarkt verbessert. Das haben wir hier sionen dies vermuten lassen.
in den letzten Jahren — —
(Dreßler [SPD]: Erzählen Sie mal!)
(Gilges [SPD]: Kein Streit!)
Wir sind gemeinsam der Meinung, daß Prävention
— Deswegen, meine ich, hätte sich hier doch ein ge- und Rehabilitation Vorrang vor Pflegeleistungen ha-
meinsamer Einsatz für diese Maßnahmen gelohnt und
ben sollen. Gemeinsam meinen wir, daß, wenn eben
nicht das lächerliche Beispiel von den drei Stunden möglich, in vertrauter Umgebung, möglichst in der
am Samstagmorgen. Familie, gepflegt werden soll.
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
(Dreßler [SPD]: Das ist ja toll!)
Dreßler [SPD]: Ihr habt das Bundesanstalt-
Programm verhindert! Das liegt doch seit Gemeinsam sagen wir, daß die Pflegeberufe materiell
dem Sommer vor!) und ideell aufgewertet werden müssen
Ich frage mich auch selbstkritisch, ob die Über- (Dreßler [SPD]: Donnerwetter!)
nahme unseres hochspezialisierten Arbeitsrechts in
den neuen Bundesländern wirklich der Weisheit letz- und daß die soziale Absicherung der Pflegeperson,
ter Schluß gewesen ist. Schon in den damaligen Bera- z. B. in der Rentenversicherung, dringend erforderlich
tungen im Ausschuß Deutsche Einheit habe ich darauf ist.
hingewiesen, (Dreßler [SPD]: Ach nee! Die habt ihr doch
(Zuruf von der SPD: Jetzt kommt der liberale 1988 niedergestimmt!)
Teil!) — Schauen Sie, Kollege Dreßler, so kann man das
daß der § 613 a mit seiner Sozialplanregelung — — alles lächerlich machen.
(Zuruf von der SPD: Jetzt kommt der Unter- (Dreßler [SPD]: Das ist doch ein ernsthafter
nehmerteil!) Zwischenruf!)
206 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Cronenberg (Arnsberg)
Daß das die Ernsthaftigkeit zu dem anliegenden Pro- deswegen zum Schluß noch einmal zusammenhän-
blem beweist, wage ich ein wenig in Zweifel zu zie- gend feststellen: Bei allen Regelungen, die wir in den
hen. nächsten Monaten und Jahren treffen müssen, sollten
wir nicht vergessen: Nicht ein Mehr, sondern ein We-
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
niger an Reglementierung — und das gilt insbeson-
Gemeinsam meinen wir, daß ein pluralistisches An- dere im Hinblick auf Brüssel — ist notwendig. Das
gebot von ambulanten, stationären und teilstationä- schafft mehr Arbeitsplätze und stabilisiert unsere so-
ren Einrichtungen in frei-gemeinnütziger, p rivater ziale Sicherung.
oder öffentlicher Trägerschaft erforderlich ist. Ge- Noch mal, verehrte Kollegen auf allen Seiten des
meinsam, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sollten Hauses: Die Sozialpolitik braucht weniger Polemik;
wir der Auffassung sein, daß eine weitere, zusätzliche Sachlichkeit tut not.
Belastung durch Pflichtbeiträge in der gesetzlichen
Sozialversicherung bei der ohnehin schon hohen (Gilges [SPD]: Und Taten!)
Belastung der Einkommen der Arbeitnehmer mit Streitet euch; aber streitet euch weniger polemisch.
Steuern und Abgaben nicht zu verantworten ist. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Beifall bei der FDP — Dreßler [SPD]: Da ist
aber kein Beifall mehr bei der CDU/CSU!)
Vizepräsident Becker: Das Wort hat jetzt der Abge-
Gemeinsam sollten wir auch darauf achten, daß wir ordnete Dr. Schumann.
nicht durch zu hohe Lohnzusatzkosten unsere Wett-
bewerbsfähigkeit vermindern und Arbeitsplätze ge-
fährden. Dr. Schumann (Kroppenstedt) (PDS/Linke Liste):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Bei-
Unser Konzept entspricht diesen Ansprüchen. Ich trag sollte im Bereich der Wirtschaft angesiedelt wer-
frage mich, warum wir uns nicht darauf verständigen den. Aber ich glaube, daß gerade die sozialen Pro-
können, richtiges und vernünftiges Verhalten der bleme in den Dörfern und Landgemeinden besonders
Menschen so zu fördern, daß uns der Zwang erspart groß sind. Schon jetzt haben wir 25 % Arbeitslose. Was
bleibt und äußerstenfalls nur dieser uns hilft, eine Herr Blüm hier geboten hat, hat angesichts der ern-
sinnvolle Regelung zu finden. sten Lage und der Millionen ohne Arbeit in den fünf
Ich frage mich auch, warum so viele dagegen sind, neuen Ländern etwas mit Hohn zu tun, weniger mit
vorhandenes Vermögen in ein Pflegekonzept einzu- Sachpolitik.
beziehen. Jedenfalls beweist die Tatsache, daß die Die Bauern in Ost und West sind seit der Regie-
Pflege im BMA geblieben ist, daß sich also das BMA rungserklärung um eine Hoffnung ärmer. Mit dem,
sozusagen pfleglich um die Pflegeversicherung küm- was an Agrarpolitik und an Reform vorgesehen ist,
mert, daß nicht notwendigerweise ein Zusammen- lassen sich weder die Gegenwarts- noch die Zukunfts-
hang zwischen gesetzlicher Krankenversicherung fragen der Landwirtschaft lösen. Herausforderungen
und Pflegeversicherung vorhanden ist. wie das Ineinklangbringen der völlig unterschiedli-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten chen Agrarstrukturen West- und Ostdeutschlands, ja
der CDU/CSU — Dr. Blüm [CDU/CSU]: Ver- West- und Osteuropas, die Notwendigkeit der Ent-
boten ist es nicht!) wicklung von Alternativen zur längst in der Sackgasse
befindlichen Agrarpolitik der EG und die Lösung der
Dies ist eine richtige, eine wertvolle Erkenntnis, die GATT-Problematik erfordern ein neues agrarpoliti-
wir bei der zukünftigen Diskussion nicht außer acht
sches Modell. Sie verbieten die bloße kosmetisch ka-
lassen können. schierte Fortsetzung bisheriger Agrarpolitik.
(Dr. Blüm [CDU/CSU]: Kein so enges Res- Nach unserer Auffassung gehören zu einer agrar-
sortdenken, Julius!) politischen Reform in Deutschland und der EG insbe-
Einige wenige Bemerkungen zur Gesundheitspoli- sondere ein neues Leitbild, und zwar das einer vielfäl-
tik: Wir begrüßen es, daß die Polikliniken und die tig strukturierten Landwirtschaft, und die Verbindung
Ambulatorien, wie es in der Regierungserklärung von Agrar- und Kommunalpolitik, eine Konzeption
heißt, nur für eine Übergangszeit die Versorgung der der Sicherung landwirtschaftlicher Einkommen, die
Bevölkerung sicherstellen sollen. Wir freuen uns, daß auf der Bezahlung der vielfältigen Leistungen der
unsere Forderung nach Förderung freiberuflicher Bauern für die Gesellschaft beruht, Rahmenbedin-
Tätigkeit von Ärzten, Zahnärzten und Apothekern in gungen für eine ökologiegerechte Produktion auf al-
der Regierungserklärung ihren Niederschlag gefun- len Flächen; denn Flächenstillegungen und Extensi-
den hat. vierungen einerseits und Intensivierungen anderer-
seits stellen keine Problemlösung dar. Nicht zuletzt
Lassen Sie mich noch ganz kurz einen Blick auf das
muß die Reform konsequent zur schrittweisen Libera-
GRG werfen. Wir werden fragen müssen, ob nicht
lisierung des Welthandels beitragen als einem ent-
möglicherweise Regelungen, die sich in der Praxis
scheidenden Schritt zu einer gerechten Weltwirt-
nicht bewährt haben oder bei denen die Selbstverwal-
schaftsordnung, die mit der Ausbeutung der Entwick-
tung bei der Umsetzung begründete Bedenken hat,
lungsländer Schluß macht.
überprüft werden müssen. Das gilt auch für den medi-
zinischen Dienst. Der Kern neuer Agrarpolitik besteht im Verzicht der
Bundesregierung und der Gemeinschaft auf die ge-
(Zuruf von der SPD: Donnerwetter!) genwärtige Praxis der einseitigen struktur- und orga-
Auch ich bin verpflichtet, mich nach dem „roten nisationswirksamen Staatseingriffe zugunsten des
Licht" des Präsidenten zu richten. Lassen Sie mich Familienbetriebs. Es geht um die Gewährleistung tat-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 207
Dr. Schumann (Kroppenstedt)
sächlicher Chancengleichheit und um die endgültige sozialen Umfeld. Hier sind die Tarifpartner gefordert,
Aufgabe der Diskriminierung von Genossenschaf- die Flexibilisierung der Arbeitszeit vorzunehmen,
ten.
(Zuruf von der SPD: Das ist familiär?)
Redliche Politik seitens der Regierung schließt ein,
nicht nur die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der ost- Teilzeitarbeitsplätze zu schaffen. Besonders die Bun-
deutschen Landwirtschaft als Ergebnis der Komman- desbehörden fordere ich von dieser Stelle aus auf,
dowirtschaft anzuprangern, sondern auch diese un- diese Plätze zu schaffen, und ich werde selbst daran
günstige Ausgangsposition durch die Gewährung mitwirken.
einer längeren Übergangsperiode zu berücksichti- Es geht weiter: die Entlastung der Familie von fi-
gen. Auch das gehört zur Chancengleichheit. nanziellen Verpflichtungen, eine familienfreundliche
Leider enthält die Regierungserklärung keine kla- Umwelt und familiengerechtes Wohnen. Mütter- und
ren politischen Signale zum Stopp und zur Umkehr - Väteraufgaben müssen in der Gesellschaft ebenso
der existenzbedrohenden Talfahrt der ostdeutschen selbstverständlich ihre Anerkennung finden wie die
Landwirtschaft. Ausdruck dieser Talfahrt sind z. B. die Erwerbstätigkeit.
seit Monaten um 10 % bis 15 % niedrigeren Erzeuger- Die dringlichste Aufgabe, der wir uns stellen müs-
preise, verglichen mit denen in den alten Bundeslän- sen, wird die Angleichung der Lebensverhältnisse
dern, was den Ausfall von einer Milliarde DM Einnah- der Familien in beiden Teilen Deutschlands sein.
men bedeutet — und das, obwohl die Betriebe am Tag Dies gilt nicht nur für die materiellen Bedingungen,
der Währungsumstellung bereits mit einer Reduzie- dies gilt auch für die psychologische Einstellung in
rung des Erzeugerpreisniveaus um mehr als 50 % kon- und zu der Familie.
frontiert wurden —, und der Verbrauch von bisher
3 Milliarden DM genossenschaftlichen Vermögens Der Begriff Familie soll wieder seinen bewährten
zur Sicherung der täglichen Zahlungsfähigkeit anstatt Stellenwert erhalten. Wir sind deshalb auch verpflich-
für zukunftsträchtige Investitionen. Das alles behin- tet, Lösungen für den Schutz des ungeborenen Le-
dert massiv den Prozeß der erforderlichen Umstruktu- bens zu finden, bessere Lösungen, als sie momentan
rierung der Genossenschaften einschließlich der Ein- in beiden Teilen unseres Landes praktiziert werden.
richtung von Familienwirtschaften und erzeugt eine (Beifall bei der CDU/CSU)
Atmosphäre von Ausweglosigkeit, wo Optimismus
und Initiative geboten wären. Es ist, meine ich, eine sozialstaatliche Aufgabe
Deshalb unterstützen wir die Forderung der ost- ersten Ranges, angemessene Rahmenbedingungen
deutschen Agrarverbände und werden unsere Kon- für ein Leben mit Kindern zu schaffen. Die überzeu-
zeptionen in den nächsten Tagen diesem Hohen gendste Politik kann aber nicht ganz verhindern, daß
Frauen und ihre Familien durch Schwangerschaft in
Hause und dem Bundesminister Kiechle schriftlich
eine Konfliktsituation geraten können. Dann brau-
vorlegen.
chen diese Frauen umfassenden Rat und Hilfe.
Danke.
Schwangerschaftsberatungsstellen sind daher un-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste)
verzichtbar. Wir haben in den fünf neuen Bundeslän-
dern mit der Einrichtung dieser Schwangerschaftsbe-
Vizepräsident Becker: Ich erteile jetzt das Wort der ratungsstellen angefangen, und wir werden sie weiter
Bundesministerin Rönsch. ausbauen.
(Zuruf von der PDS/Linke Liste: Zwangsbe
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und ratung!)
Senioren: — Frau Kollegin, ich habe Ihren Zwischenruf gehört.
(Von der CDU/CSU und von Abgeordneten Sie, die Sie in einem atheistischen Staat groß gewor-
der FDP mit Beifall begrüßt) den sind, haben dafür vielleicht noch nicht die nötige
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Empfindung.
ren! Für die meisten von uns ist die Familie der zen- (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch
trale Lebensmittelpunkt, in dem Toleranz, Mitverant- von der PDS/Linke Liste)
wortung, Geborgenheit gelernt werden. Eine zu-
kunftsorientierte Politik muß die Unterstützung der — Ja, aber Sie haben sich bei den Männern und
Familie als zentrale Aufgabe haben, und dem ent- Frauen angesiedelt, die eine solche atheistische
spricht auch der hohe Stellenwert, den die Familien- Grundlage haben.
politik in den vergangenen Jahren hatte. Wir sind ver- (Beifall bei der CDU/CSU)
pflichtet, das Erreichte auszubauen. Die Koalitions-
vereinbarungen und auch das Regierungsprogramm Ich erhoffe mir, daß auch Sie, Herr Dr. Briefs, in den
sind die hervorragende Grundlage dafür. Beratungen zum § 218, die wir umgehend angehen
müssen, Ihre Befindlichkeiten mit einbringen wer-
Neben dem Ausbau einzelner Leistungen wird ein
den.
ebenso wichtiger Akzent auf der Erfüllung von Fami-
lienaufgaben liegen, etwa der Kindererziehung, der (Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Sie mit Ihrer
Betreuung und Pflege alter und hilfsbedürftiger Men- Block-CDU! Die Atheisten sitzen neben Ih
schen. In diesen Bereichen fällt die Entscheidung über nen bei der CDU!)
die soziale und menschliche Qualität unseres Ge-
Wir sagen ja zum Kind.
meinwesens. Ich nenne hier einige Stichworte: Rück-
sichtnahme auf die Familie in der Arbeitswelt und im (Beifall bei der CDU/CSU)
208 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Frau Rönsch


Es ist für uns von besonderer Bedeutung, daß wir in interessiert sind zu strafen und die im übrigen auch
den Koalitionsverhandlungen die Verlängerung des der Meinung sind, daß das Strafrecht gerade in die-
Erziehungsgeldes auf 24 Monate beschlossen haben, sem Bereich eine äußerst unglückliche Rolle spielt?
daß wir die Ausweitung des Erziehungsurlaubs und (Beifall bei der SPD sowie hei Abgeordneten
die Beschäftigungsgarantie nun haben. Jetzt sind der FDP, der PDS/Linke Liste und des Bünd
auch die Länder aufgefordert, ihren Anteil zu lei- nisses 90/GRÜNE)
sten.

Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ull- nioren: Auch ich bin eine leidenschaftliche Christin,
mann? obwohl ich mich nicht immer — das sage ich hier ganz
bewußt — von meiner Kirche vertreten fühle. Aber ich
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-- möchte in die Beratungen gehen und möchte — ich
nioren: Aber selbstverständlich. nenne das Wort noch einmal — die Befindlichkeiten
von allen bei diesen Beratungen mit eingebracht wis-
Vizepräsident Becker: Bitte schön, Herr Dr. Ull- sen. Ich hoffe, daß wir dann auf einer guten Grundlage
mann. diskutieren und zu einem Ergebnis kommen können,
das die Männer und Frauen sowie die Familien, die
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Minister, von einem eventuell anstehenden Schwangerschafts-
haben Sie mit Ihren Bemerkungen über atheistische konflikt betroffen sind, auch innerlich mittragen kön-
Grundlagen soeben sagen wollen, daß Atheismus, nen.
wenn er von irgendeinem Menschen vertreten wird,
(Beifall bei der CDU/CSU)
eine moralisch schlechte Haltung darstellt?

Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se- Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie
nioren: Ich wollte damit deutlich machen, daß unsere eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Frau
ethischen Grundeinstellungen wohl verschieden von Renesse?
sind.
(Beifall bei der CDU/CSU) Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
Wir sagen ja zum menschlichen Leben, wir sagen ja nioren: Aber bitte.
zum werdenden Leben. Ich würde mich freuen, wenn
Sie intensiv an den Beratungen teilnehmen würden, Frau von Renesse (SPD): Würden Sie freundlicher-
die jetzt unmittelbar bevorstehen. Wir können uns weise, um Mißverständnisse auszuschließen, den
dann darüber auseinandersetzen. Zungenschlag, den ich aus Ihrer Äußerung heraus-
(Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Briefs [PDS/ hörte, ausräumen, nämlich daß eine andere als Ihre
Linke Liste]: Zwangschristentum!) Auffassung zur Reform des § 218 nicht unbedingt eine
atheistische sein muß?
Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie
noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ull- Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
mann? nioren: Ich habe meine Einstellung zum § 218 hier
noch gar nicht deutlich machen können. Ich setze auf
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
die Beratung. Nur kann ich die Zwischenrufe, die von
nioren: Aber bitte.
der linken Seite, von der PDS, kommen, nicht so im
Vizepräsident Becker: Bitte sehr. Raum stehenlassen, und ich werde es auch nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Dr. Ullmann (Bündnis 90/GRÜNE): Meinen Sie, daß Gestatten Sie mir, daß ich jetzt noch einige familien-
ein Atheist alles das, was Sie soeben gesagt haben, politische Maßnahmen anspreche, die auch das Ja
nicht kann? zum Leben erleichtern sollen, nämlich die Verlänge-
rung des Anspruchs auf Freistellung von Arbeit für
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
die Pflege kranker Kinder von bisher fünf auf zukünf-
nioren: Wir werden in den Gesprächen sehen, welche tig zehn Tage und die Verdoppelung der Leistungs-
Befindlichkeiten er einbringt. dauer nach dem Unterhaltsvorschußgesetz.
(Beifall bei der CDU/CSU) Wir werden die Familien von den Verbesserungen
beim Familienlastenausgleich profitieren lassen. In
Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie
einem ersten Schritt werden wir zum 1. Januar 1992
noch eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau von
das Kindergeld für das erste Kind auf 70 DM anheben
Renesse?
und parallel dazu den Kinderfreibetrag auf mehr als
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se- 4 000 DM erhöhen.
nioren: Selbstverständlich. — Entschuldigung, die Herr Dreßler, ich freue mich darüber, daß Sie wie-
Uhr hier läuft weiter. Ich hatte noch sechs Minuten der in das Plenum gekommen sind. Vielleicht haben
Zeit, und die brauche ich auch. Sie in der Zwischenzeit einmal nachgelesen, was die
SPD im Jahre 1981 gemacht hat. Sie hat damals das
Frau von Renesse (SPD): Ist Ihnen bekannt, daß es Kindergeld für das zweite Kind gekürzt. Das Kinder-
in diesem Lande eine ganze Menge von engagierten geld für die arbeitslosen Jugendlichen wurde abge-
Christen gibt, die nicht so leidenschaftlich wie Sie schafft. Sie haben hier die Kinderfreibeträge ange-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 209

Bundesminister Frau Rönsch


sprochen. Diese wurden von der SPD Mitte 1970 ab- Dr. Dreßler (SPD): Frau Minister, nachdem es Ihnen
geschafft. gelungen ist, meine Frage nicht zu beantworten,
(Dreßler [SPD]: Richtig! Ja! Aber natürlich!) möchte ich sie vereinfachen.
Sie haben dies verschwiegen und den Fraktionen der (Heiterkeit bei der SPD)
CDU/CSU sowie der FDP an dieser Stelle vorgewor-
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
fen, daß sie ungerecht gehandelt hätten. Meines Er-
nioren: Ich sage ein volles Ja zu dem Kind von Herrn
achtens hätten Sie in Ihrer Rede — wenn Sie denn
redlich gewesen wären — aber auch darauf eingehen Rau.
müssen.
Dr. Dreßler (SPD): Ich vereinfache meine Frage in-
(Beifall bei der CDU/CSU) soweit, als ich Sie nun frage: Geben Sie denn wenig-
- stens zu, daß Herr Rau zweieinhalbmal so viel Kinder-
Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie geld bekommt wie eine Krankenschwester?
eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dreß-
ler? Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
nioren: Ich kenne das Einkommen von Herrn Rau
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se- (Lachen bei der SPD)
nioren: Bitte. — ich nehme an, Sie meinen den Ministerpräsidenten
von Nordrhein-Westfalen — nicht genau.
Dreßler (SPD): Frau Ministerin, sollte ich versäumt (Zurufe von der SPD)
haben, zu sagen, daß die SPD gemeinsam mit der FDP Es ist durchaus möglich, daß deshalb, weil er ein hö-
Mitte der 70er Jahre die Kinderfreibeträge abge- heres Gehalt bezieht, auch seine Leistungen für seine
schafft hat, so will ich das jetzt ausdrücklich positiv Kinder höher sind.
erwähnen. Das haben wir gemacht. (Widerspruch bei der SPD)
Nun frage ich Sie: Können Sie diesem Hohen Hause
— nachdem Sie die Kinderfreibeträge wieder einge- Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie
führt haben — in diesem Zusammenhang erklären, eine weitere Zusatzfrage?
warum Ihnen das Kind von Herrn Ministerpräsident
Rau zweieinhalbmal soviel wert ist wie das Kind einer Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
Krankenschwester? nioren: Aber gern.
(Zuruf von der CDU/CSU: Sozialneid!)
Vizepräsident Becker: Bitte.

Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se- Schwarz (CDU/CSU): Frau Minister, beschleicht
nioren: Hier fiel gerade das Wort „Sozialneid", Herr Sie nicht ähnlich wie mich ein seltsames Gefühl, wenn
Kollege Dreßler. Sie sehen, mit welchem Genuß Herr Dreßler in diesem
Plenum Themen wie Erziehung, Beratungsgesetz und
Dreßler (SPD) : Ich habe es nicht gebraucht. Ich habe Kindergroßziehen behandelt und, sind Sie nicht der
Sie nur gefragt, warum Herr Rau zweieinhalbmal so- Meinung, daß wir besser mit den Inhalten fortfahren
viel bekommt wie eine Krankenschwester. sollten?

Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se- Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
nioren: Ich will das gern aufgreifen. — In Ihrer ge- nioren: Herr Kollege Schwarz, ich freue mich darüber,
werkschaftlich vorbereiteten und orientierten Rede daß die Sozialdemokraten im Moment die Familien-
war sehr viel die Rede davon, daß den Armen wegge- politik entdeckt haben. Wenn Sie die Rede des Vorsit-
nommen und im Sozialstaat umorientiert werde. Man zenden der SPD-Fraktion verfolgt haben, dann konn-
hört es immer wieder. Ich merke aber an der Redlich- ten Sie bemerken, daß zur Familienpolitik fast gar
keit, mit der Sie Ihre Rede vorbereitet haben, und an nichts gesagt worden ist. Ich freue mich, wenn sich die
dem, was Sie verschwiegen haben, daß man sehr ge- Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion jetzt
nau hinhören und aufpassen muß. Bei uns haben Kin- endlich wieder einmal auch über familienpolitische
der — egal von wem — den gleichen Stellenwert. Themen auslassen und darüber nachdenken.
(Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei (Beifall bei der CDU/CSU)
der SPD) Und jetzt gedenke ich in meiner Rede fortzufahren.
Wir wollen die Familie stützen. Wir sagen ja zum Kind.
Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie
Wir wollen Familienleistungen ausbauen, damit sich
noch eine letzte Zwischenfrage der Frau von Re-
noch mehr Familien für Kinder entscheiden können.
nesse?
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das wird lang
sam gebührenpflichtig!)
Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie
eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se-
Dreßler? nioren: Nein, ich habe gerade gesagt, daß ich in mei-
ner Rede fortfahren möchte, weil der zweite Schwer-
Frau Rönsch, Bundesminister für Familie und Se- punkt meiner Arbeit die Seniorenpolitik, die Politik
nioren: Aber bitte. für die ältere Generation sein wird. Ich will an dieser
210 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Frau Rönsch


Stelle meiner Vorgängerin Ursula Lehr, die hervorra- burger im alten und neuen Deutschland haben es ver-
gende Grundlagen für die Arbeit gelegt hat, aus- dient.
drücklich danken.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vor dem Hintergrund eines sich weiter verschie-
benden Altersaufbaus in der Bevölkerung werden die Vizepräsident Becker: Frau Minister, die Zeit für
Anforderungen, die an ein Ministerium für ältere Zwischenfragen ist nicht auf Ihre Redezeit angerech-
Menschen gestellt werden, in der Zukunft natürlich net worden.
weiter wachsen. Hier wird es mein oberstes Ziel sein, Das Wort hat nunmehr Frau Abgeordnete Schenk.
die eigenständige Lebensführung und die eigene
Kompetenz eines älteren Menschen auszubauen und
-
sie besser zu fördern. Gemeinsam mit den Ländern
Frau Schenk (Bündnis 90/GRÜNE): Herr Präsident!
wollen wir unseren Beitrag erbringen, daß die Wohn-
und Pflegesituation der älteren Menschen verbessert Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt aus der
Sicht des Unabhängigen Frauenverbandes ein paar
wird.
Worte zu dem sagen, was die Koalitionsvereinbarung
Die Gesundheitsvorsorge im Alter und die Rehabi- für Frauen bedeutet, und zwar insbesondere für die-
litation sind weitere wichtige Stichworte. jenige, die in den Ländern des beigetretenen Gebietes
leben.
Es gehört unverzichtbar dazu, den Pflegeberuf at-
traktiver zu machen. Ich werde den Entwurf eines Für die überwiegende Mehrheit der Frauen in der
Altenpflegegesetzes erneut einbringen. Dieses Ge- ehemaligen DDR haben seit dem Anschluß der DDR
setz wird den Berufen in der Altenpflege einen An- an die BRD drastische Veränderungen ihrer Lebens-
spruch aus Ausbildungsvergütung einräumen und die situation
Berufsbezeichnung schützen. (Zuruf von der CDU/CSU: Freiheit!)
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in ihrer psychosozialen Befindlichkeit stattgefunden.
der FDP) Sie sind, um es ganz deutlich auszudrücken, vom Re-
Ich meine, wir brauchen ein Mehr an Menschlich- gen in die Traufe gekommen.
keit und das Miteinander der Generationen. Hilfe zur (Zuruf von der CDU/CSU: Da war die Stasi
Selbsthilfe beginnt auch dort, wo wir Anreize schaffen besser!?)
wollen, damit ältere Menschen ihre Lebensleistung Es scheint mir erforderlich zu sein, Ihnen dies zu
weitergeben können. Warum sollen nicht z. B. Senio- erläutern. Denn nur eine Minderheit der Abgeordne-
ren in speziellen Bildungsprogrammen ihre Lebenser- ten des ersten gesamtdeutschen Bundestages ist
fahrung an jüngere Menschen weitergeben? weiblichen Geschlechts; nur eine Minderheit der Ab-
In ganz besonderer Weise tragen wir Verantwor- geordneten hat in der DDR gelebt. Zum weiteren
tung für die älteren Mitbürger in den neuen Bundes- dürfte es denjenigen, die sich ausschließlich auf die im
ländern. Bei ihnen ist unsere hohe Solidarität gefor- Westteil Deutschlands beheimateten Medien verlas-
dert; denn diese Menschen können mit Recht erwar- sen, sehr schwer fallen, sich ein wahrheitsnahes Bild
ten, daß alles getan wird, damit ihr Lebensabend gesi- von der Situation im Beitrittsgebiet zu machen.
chert ist, und daß so schnell wie möglich die wirt- (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Und umge
schaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse angegli- kehrt!)
chen werden.
Wie Ihnen allen sicher bekannt ist, gehörte die DDR
Ein Anliegen ist deshalb auch der zügige Auf- und zu den wenigen Ländern der Welt, in denen Frauen
Ausbau der notwendigen ambulanten Dienste und einen relativ hohen gesellschaftlichen Status hatten,
Einrichtungen im Zusammenwirken mit den Ländern
und mit den Wohlfahrtsverbänden. (Kauder [CDU/CSU]: Das ist ja lachhaft! —
Zuruf von der PDS/Linke Liste: Hatten! Ge-
Ich will den Satz „Nicht nur dem Leben Jahre ge- nau!)
ben, sondern auch den Jahren Leben geben" zum ohne daß man davon hätte sprechen können, daß eine
Leitmotiv der Politik für die Senioren machen.
Gleichstellung von Frauen und Männern im Sinne
Weiter gilt es, den Aufbau einer freien Wohlfahrts- gleich verteilter Chancen und Möglichkeiten für die
pflege und von Initiativen der Selbsthilfe in den neuen Selbstverwirklichung bereits Realität gewesen wäre.
Bundesländern voranzutreiben. (Kauder [CDU/CSU]: Märchenstunde!)
Das Bundessozialhilfegesetz, das bewährte Instru- Für die Frauen in der DDR war charakteristisch, daß
ment für die Sozialleistungen, gilt seit dem 1. Januar sie zu über 90 % berufstätig waren bzw. sich in einer
1991 auch in den neuen Bundesländern. Aber Aufklä- Ausbildung befanden und damit in der Regel ökono-
rung über die Möglichkeiten dieses Gesetzes und misch selbständig waren. Ihr Verdienst betrug im
auch seine Fortentwicklung müssen angegangen Durchschnitt 80 bis 90 % des Einkommens der Män-
werden. ner. Es war durchaus möglich, von einem Einkommen
Vor uns liegt nun die Aufgabe, einen Sozialstaat zu leben, auch mit Kindern.
Deutschland neu zu gestalten. Ich würde auch Sie, Ein weiterer Aspekt: Die Vereinbarkeit von Mut-
meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op- ter- und Elternschaft mit dem beruflichen Engage-
position, einladen, daran mitzuwirken. Unsere Mit ment war gegeben. Es gab Kinderbetreuungseinrich-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 211
Frau Schenk
tungen in bedarfsdeckender Zahl, und sie waren für ausgeführt. Aber zum Themenkreis Frauen gab es nur
jeden bzw. jede erschwinglich. einen einzigen Satz. Ich zitiere:
(Werner [Ulm] [CDU/CSU]: Was für welche Die Interessen von Frauen und Behinderten sind
und unter welchen Umständen!) zu berücksichtigen.
Für Eltern kleiner Kinder und Alleinerziehende, von
denen es in der ehemaligen DDR weitaus mehr gibt Sprache verrät das Denken, und dieser Satz zeigt un-
als in der ehemaligen BRD, gab es einen erweiterten mißverständlich, in welchen Zusammenhängen und
Kündigungsschutz und andere Sozialmaßnahmen. Assoziationen die sogenannte Frauenfrage im Rah-
men konservativer Politik verortet wird. Es ist aller-
Weiter: Frauen in der DDR waren vergleichsweise dings auch etwas Wahres dran. In dieser Gesellschaft
gut qualifiziert. Nur etwa 10 % hatten keine abge- werden Frauen tatsächlich behindert.
schlossene Ausbildung im Gegensatz zu etwa 40 %
der Frauen in der alten BRD. Zwischen Männern und Die Befürchtungen schlimmster A rt bezüglich der
Frauen unter 40 Jahren gab es keine Unterschiede Veränderungen der Situa tion von Frauen im Beitritts-
mehr hinsichtlich der Höhe der Erstqualifikation. gebiet, daß also perspektivisch eine Transformation
der DDR-Verhältnisse herunter auf westdeutsches
Bemerkenswert und von kaum zu unterschätzender
Niveau stattfinden würde, sind inzwischen in mehrfa-
Bedeutung ist weiterhin, daß 40 bis 50 % der Frauen in
cher Hinsicht Realität geworden. Ich möchte die we-
der ehemaligen DDR nicht in frauentypischen Beru-
sentlichen Punkte hier nennen.
fen arbeiteten. In der alten BRD sind es nur ca.
10%. Die Frauenerwerbslosigkeit hat dramatische Aus-
Und zuletzt: In der DDR konnte eine Frau in den maße angenommen. Insgesamt gibt es gegenwärtig
ersten drei Monaten einer Schwangerschaft in eige- im Beitrittsgebiet ca. 2,5 Millionen Erwerbslose und
ner Verantwortung selbst entscheiden, ob sie Mutter Kurzarbeitende, und das bei ca. 8 Millionen Men-
werde wollte oder nicht. Dies ist ein ganz zentraler schen im erwerbsfähigen Alter. Der Anteil der Frauen
Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Frage, in- an den Erwerbslosen beträgt inzwischen ca. 55 %. Die
wieweit das Selbstbestimmungsrecht von Frauen über Zahl der in ungeschützten Beschäftigungsverhältnis-
ihr Leben und über ihren Körper in einer Gesellschaft sen arbeitenden Frauen nimmt stark zu.
akzeptiert wird oder nicht.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß in der DDR
(Kauder [CDU/CSU]: Es geht um den Schutz ca. 49 % aller Berufstätigen Frauen waren, sind die
des Schächsten, was es überhaupt gibt!) genannten Zahlen der numerische Ausdruck einer
Die Situation von Frauen in der DDR hatte auch psychosozialen Katastrophe. Diese in keiner Weise
negative Seiten. Es gab verschiedenartige Benachtei- sichtbar zur Kenntnis genommen zu haben, gehört zu
ligungen. Frauen waren in mehrfacher Hinsicht bela- den gravierendsten Vorwürfen, die ich in diesem Zu-
stet, da auch die DDR-Gesellschaft pat riarchal struk- sammenhang der neuen Regierung machen muß.
turiert geblieben war. Verschärfend wirkten die ewi- Der Bund hat mit dem Einigungsvertrag die Ver-
gen Versorgungsprobleme, die Probleme der Infra- pflichtung übernommen, das bestehende Netz von
struktur und nicht zuletzt die Länge der täglichen Kinderbetreuungseinrichtungen für eine Übergangs-
Arbeitszeit. Dennoch: Gemessen an der vorhin ge- zeit finanziell zu tragen. Mitte dieses Jahres wird
schilderten Sachlage — meine Damen und Herren, diese in die Verantwortlichkeit der Kommunen über-
lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen — , ist gehen. Diese jedoch stehen vor dem finanziellen Ruin.
die alte BRD ein frauenpolitisches Entwicklungs- Was soll da das Gerede vom Rechtsanspruch auf Kin-
land. dergartenplätze, wenn gleichzeitig eine Politik ge-
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) macht wird, die die Kindergä rten und Kinderkrippen
kaputtgehen läßt?
Viele Frauen in der DDR hatten sich mit dem Zu-
sammenschluß der beiden deutschen Staaten eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Verbesserung ihrer Situa tion erhofft, allerdings aus-
gehend von dem, was in der DDR bereits erreicht wor- Zur Frage Schwangerschaftsabbruch. Die jetzt im
den war, und nicht unter der Voraussetzung der weit- Beitrittsgebiet geltenden Richtlinien für die Förde-
gehenden Zerstörung des Gehabten, wie es jetzt der rung von Schwangerschaftsberatungsstellen zielen
Fall ist. Eine Bestandssicherung aber lag nicht im In- darauf ab, auf lautlose Art den Boden für die Geltend-
teresse der Bundesregierung. Entsprechend ihrem machung des berüchtigten § 218 auch im Gebiet der
Weltbild wollte oder konnte sie nicht zugeben, daß es ehemaligen DDR zu bereiten. Das, meine Damen und
ein Gebiet gab, auf dem die DDR weit voraus war, daß Herren, steht klar im Widerspruch zum Auftrag des
es Bewahrenswertes bzw. sogar Modellhaftes do rt ge- Einigungsvertrages, der die Erarbeitung einer Neure-
geben hat. Dies hatte Folgen in Gestalt der so skan- gelung vorschreibt, und stellt somit einen äußerst be-
dalös lapidaren Sätze zu diesem Themenkreis im er- drohlichen Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht
sten und im zweiten Staatsvertrag, die beide die Mo- der Frauen im Erweiterungsgebiet der BRD dar.
dalitäten der Währungs- und Wirtschaftsunion und
schließlich für den Beitritt der DDR zur BRD regelten (Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch
bzw. noch immer regeln. nicht!)
Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen dies Fazit: Für Frauen in der ehemaligen DDR war der in
hier in Erinnerung rufen. Im ersten Staatsvertrag sind der gehabten Art vollzogene Zusammenschluß beider
viele Bestimmungen akribisch bis ins letzte Detail deutscher Staaten eher ein Schritt zurück in die Ver-
212 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Schenk
gangenheit als ein Schritt in eine menschenwürdige Danke.
Zukunft. (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das sehen an- PDS/Linke Liste sowie bei Abgeordneten der
dere aber anders!) SPD)
Angesichts dieser Situation erscheinen die Koali-
tionsvereinbarung und auch die Regierungserklä- Vizepräsident Becker: Das Wo rt zu einer Zwischen-
rung in ihrem frauenpolitischen Teil geradezu lächer- intervention hat Frau Abgeordnete Merkel.
lich und grotesk.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) Frau Dr. Merkel (CDU/CSU): Sehr geehrte Abge-
Nichts wird über Maßnahmen gegen Frauenerwerbs-- ordnete! Ich möchte doch kurz zu dem, was eben über
losigkeit gesagt. Nichts wird zu einer aktiven Gleich- die Frauenpolitik und die Koalitionsvereinbarung ge-
stellungspolitik gesagt, sagt worden ist, Stellung nehmen, obwohl ich nicht
vorhatte, zu sprechen.
(Frau Männle [CDU/CSU]: Sie haben sie Erstens. Falls sich meine Vorrednerin in den letzten
nicht einmal gelesen!) Wochen mit Müttern und jungen Frauen unterhalten
von dem Gedanken an ein längst überfälliges Antidis- hat, wird sie bemerkt haben, daß viele ausgesprochen
kriminierungsgesetz ganz zu schweigen. Nichts wird bedrückt darüber sind, daß ihre Kinder noch vor dem
dazu gesagt, wie die Erhaltung der noch bestehenden 1. Januar 1991 geboren wurden, weil ihnen somit
Kindertagesstätten im Beitrittsgebiet und die Schaf- nämlich der Erziehungsurlaub nicht zugute kommt.
fung eines bedarfsdeckenden Netzes derartiger Ein- Sie sehen die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs und
richtungen auch in Westdeutschland bewerkstelligt die Erweiterung und Verlängerung nach der Koali-
werden soll. Nichts wird dazu gesagt, wie der zuneh- tionsvereinbarung als ein ausgesprochen gutes Ange-
menden Gewalt gegen Frauen auch und besonders im bot an.
Beitrittsgebiet begegnet werden soll. Mit der Einfüh- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
rung der Marktwirtschaft geht die Ausprägung eines
46 % der Frauen in der ehemaligen DDR sind bereit,
neuen Rollenverständnisses der Männer einher, was
zu Sexismus ganz anderer Dimension führte und zugunsten der Erziehung der Kinder in den ersten
Lebensjahren ihre Berufstätigkeit zu unterbrechen.
führt, als wir ihn in der DDR bisher hatten.
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
Zu all diesen Kernpunkten, die das Leben von neten der FDP)
Frauen in elementarer Weise be tr effen, wird nichts
gesagt. Dafür werden die Aussagen in der Koalitions- Zweitens. Es ist einfach nicht wahr, daß im Eini-
vereinbarung in dem Punkt um so konkreter, wo es gungsvertrag nichts über die Gleichberechtigung von
nicht mehr um Frauen geht, sondern um den Gebär- Frauen und Männern geschrieben steht. Es ist dort
zwang. Diejenigen, die sich für den Schutz des unge- eindeutig festgelegt: Die Gesetzgebung zur Gleichbe-
borenen Lebens um buchstäblich jeden Preis einset- rechtigung zwischen Männern und Frauen ist weiter-
zen und die sich dabei anmaßen, zu wissen, was für zuentwickeln.
Frauen gut und verantwortbar ist, legen ein Verhal- (Zuruf von der PDS/Linke Liste: Was denn
tens- und Denkmuster an den Tag, wie es für die SED sonst?)
mit ihrer Hauptabteilung für Ewige Wahrheiten cha- In der Koalitionsvereinbarung ist die Einbringung ei-
rakteristisch war. nes Artikelgesetzes, das die Gleichstellung von
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Zuruf von Frauen und Männern insbesondere z. B. im öffentli-
der CDU/CSU: Das ist unerhört!) chen Dienst regelt, festgeschrieben. Wir werden Gele-
genheit haben, über dieses Thema zu diskutieren.
Die fortdauernde Ignoranz gegenüber der Situa tion
Zum dritten: Kindertagesstätten. Im Einigungsver-
von Frauen insbesondere im beigetretenen Gebiet,
trag steht, daß der Bund sich an der Finanzierung der
wie sie in der Koalitionsvereinbarung zum Ausdruck
Kindertagesstätten bis zum 1. 7. 1991 beteiligt, um
kommt, ist frauenfeindlich. Sie hat zudem Methode,
sicherzustellen, daß die Länder dann in der Lage sind,
und sie ist Regierungsprogramm.
deren Erhalt festzulegen.
Zusammenfassend muß konstatiert werden: Die (Zurufe von der SPD)
Gleichstellung von Frauen und Männern im Sinne
gleicher Chancen zur Realisierung selbstbestimmter — Hören Sie mir bitte bis zum Ende zu.
Lebensentwürfe ist ganz offenkundig Sache der jetzi- Zweitens steht in der Koalitionsvereinbarung, daß
gen Regierung nicht. Ich füge in aller Deutlichkeit zusammen mit den Ländern das Recht auf einen Kin-
hinzu: Wer keine aktive Gleichstellungspolitik be- dergartenplatz in allen Bundesländern garantiert
treibt und sie auch nicht betreiben will, der meint es werden soll.
mit der Demokratie nicht ernst. Solange Frauen — (Erneute Zurufe von der SPD)
immerhin die Bevölkerungsmehrheit, was manche of-
fenbar leicht vergessen, auch angesichts der Zusam- Diese beiden Dinge zusammen werden uns die Mög-
mensetzung dieses Hohen Hauses — aus den grund- lichkeit geben, den Erhalt der Kindertagesstätten in
legenden Entwicklungsprozessen und aus den Ent- den neuen Bundesländern durchzusetzen, und zwar
scheidungsebenen der Gesellschaft weitgehend aus- in dem Maße, wie es dem Bedarf entspricht.
geschlossen sind, kann von wahrhaft demokratischen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Verhältnissen nicht die Rede sein. Zurufe von der SPD)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 213

Vizepräsident Becker: Das Wort zu einer weiteren hung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversiche-
Zwischenintervention hat Frau Dr. Höll. rung um 2,5 %,
(Richter [Bremerhaven] [FDP]: Das verglei
Frau Dr. Höll (PDS/Linke Liste): Ich möchte Sie da- chen wir einmal mit Volkskammerprotokol
von informieren, daß wir in Leipzig im Jahre 1990 eine len! Jetzt tauchen sie wieder auf!)
Umfrage unter Frauen gemacht haben. Es ist eindeu- ein, wie ich finde, untauglicher Versuch, auch ohne
tig nachweisbar, daß der Wunsch der Frauen, Kinder unpopuläre Steuererhöhungen die Kosten der Einheit
zu bekommen, rückläufig ist. Das gilt sowohl grund- auf breite Kreise der Bevölkerung abzuwälzen und
sätzlich als auch in dem Sinn, daß die Frauen sagen: sich selbst aus der Verantwortung zu stehlen.
Wir müssen in dieser Situation darauf verzichten, ein
Kind zu bekommen. Die mit der Koalitionsvereinbarung neu entfachte
- Debatte über die Privatisierung der Arbeitsvermitt-
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das teilen die lung und die in Aussicht genommene Arbeitsgruppe
Leute ausgerechnet der PDS mit! Erzählen zur Bekämpfung des Mißbrauchs bei Arbeitslosigkeit
Sie das woanders, aber nicht hier!) sind weitere Markierungspunkte eines menschen-
Ich selbst bin Mutter von zwei Kindern, und ich halte und arbeitnehmerinnenfeindlichen Konzepts. Insbe-
es für eine Frechheit, es hier so zu diffamieren, wie sondere letzteres ignoriert die Tatsache, daß in der
Frauen in der DDR sich gefühlt und gelebt haben. reichen BRD nicht Mißbrauch von Arbeitslosigkeit
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Als ob irgendeiner ein Problem ist, sondern das Faktum, daß mehr als ein
der Stasi-Nachfolgepartei mitteilt, ob er ein Drittel aller Erwerbslosen keinen Anspruch auf Lei-
Kind haben will !) stungen der Bundesanstalt für Arbeit hat und häufig
am Rande des Existenzminimums leben muß.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die ehe-
Vizepräsident Becker: Meine sehr verehrten Da-
malige DDR droht zum Armenhaus der Republik zu
men und Herren, wir fahren in der Rednerliste fo rt.
werden.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Bläss.
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Die habt ihr
zum Armenhaus gemacht! Das ist eine Un
Frau Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! -verschämtheit!)
Meine Damen und Herren! In seiner gestrigen Regie-
rungserklärung hat der Bundeskanzler den Menschen Schon heute zeichnet sich ab, daß auch hier die Armut
in ganz Deutschland gleiche Lebensverhältnisse ver- weiblich ist. Frauen sind die eigentlichen Opfer des
sprochen. Die dafür ins Auge gefaßten arbeitsmarkt- Anschlusses. Wachsende Arbeitslosigkeit, niedrige
und sozialpolitischen Vorhaben lassen jedoch für das Wiedervermittlungsraten sowie die für den 1. Juli die-
Niveau, auf dem diese Angleichung stattfinden soll, ses Jahres aufgekündigte finanzielle Absicherung von
Schlimmes befürchten und taugen höchstens dazu, Kindereinrichtungen in den fünf neuen Bundeslän-
die durch den von der Bundesregierung zu verantwor- dern sind bedrohliche Zeichen dafür, daß den Frauen
tenden Crashkurs ange richteten Schäden notdürftig auch dort mehr und mehr die Grundlagen für die
zu kaschieren. Es ist vielmehr so, daß mit diesem Kurs Erwerbstätigkeit und damit eine eigenständige Siche-
der Regierung ein weiteres Auseinanderdriften der rung der ökonomischen Existenz entzogen werden.
Lebensverhältnisse von Menschen in diesem Land, So wichtig wir die Verbesserung der Erziehungsur-
ein wachsendes Potential an sozialer Armut und von laubsregelung finden, aktuell bringt sie den in Be-
sozial Deklassierten ebenso vorprogrammiert ist wie drängnis geratenen Frauen keine Hilfe. Dafür leistet
der weitere Abbau von Arbeitnehmerinnenrechten. sie einer Argumenta tion Vorschub, mit der gegenwär-
Allein die in der Koalitionsvereinbarung verabredete tig eine entwickelte Infrastruktur an Kinderkrippen
Aussetzung des § 613 a BGB für das Gebiet der ehe- und -gärten bedenkenlos zerschlagen wird.
maligen DDR und damit die Aufkündigung des Ent-
lassungsschutzes für solche Arbeitnehmerinnen, de- (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Dann stellen Sie
ren Betriebe verkauft werden, macht deutlich, daß schon mal Ihr Parteivermögen dafür zur Ver
Investitionsanreize auf Kosten von Arbeitnehmerin- fügung!)
nenrechten durchgedrückt werden sollen, Freibriefe Ihre angekündigte Qualifizierungsoffensive für die
für Massenentlassungen gegeben werden. fünf neuen Bundesländer sowie das Sonderpro-
Auch darüber, wer die Massenarbeitslosigkeit in gramm zur Wiedereingliederung für Frauen nach der
den alten und neuen Bundesländern finanzieren soll, Familienphase muß auf Frauen in der ehemaligen
braucht man sich nach der Regierungserklärung DDR, deren Qualifikationsniveau bekanntermaßen
keine Illusionen zu machen. Weder wird die Wi rt sehr hoch ist und deren Erwerbstätigkeitsrate bei 91 %
-schaftindePlgomchwerdniÄ- lag, als Verhöhnung wirken.
schlußprofiteure gedrängt, ihre Gewinne endlich zur
Schaffung neuer Arbeitsplätze einzusetzen. Wie steht es mit Ihren Beschlüssen zum Arbeitsför-
derungsgesetz und zur Arbeitszeitordnung? Sie ver-
(Richter [Bremerhaven] [FDP]: Das ist die bessern die Chancen nicht wirklich, sondern haben
Diktion der SED!) keinen anderen Sinn, als Frauenarbeit noch weiter zu
Nein, die Bundesregierung greift zu altbekannten Re- flexibilisieren. Schon heute ist die große Mehrheit von
zepten und bittet die Arbeitnehmerinnen zur Kasse. Frauen gezwungen, sich auf alle Formen ungeschütz-
Es sei ein Gebot der Solidarität, füreinander einzuste- ter Arbeitsverhältnisse einzulassen. Und nun sollen
hen, sagt der Kanzler und begründet damit die Erhö- sie auch noch nachts arbeiten dürfen. Wirklich die bil-
214 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Bläss
ligste, aber auch frauenfeindlichste Lösung für die ler geschafft, eine sogenannte Null-Lösung in eine
Vereinbarkeit von Beruf und Fami lie. Nullen-Lösung umzufunktionieren.
(Beifall bei der PDS/Linke Liste — Frau (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
Männle [CDU/CSU]: Das war doch bei Ihnen beim Bündnis 90/GRÜNE — Zuruf von der
genauso!) CDU/CSU: Das ist ja zynisch und frauenver
Daß Sie sich nicht entschließen konnten, die gesetz- achtend!)
liche Pflegesicherung einzuführen, geht in dieselbe Ich weiß nicht, ob ich den betroffenen Kolleginnen zu
Richtung: Privatisierung sozialer Probleme zu Lasten ihrem neuen Amt wirklich gratulieren kann. Herr
der Frauen. Bundeskanzler — ach, er ist ja auch gar nicht mehr
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sie haben Soziali- da — ,
sierung von allem gemacht!) - (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Er wartet drau
Der Bundesregierung geht es nicht um ein Selbst- ßen auf Sie! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Der
bestimmungsrecht der Frau, sie fordert eindeutig die trifft sich mit dem Oppositionsführer!)
Festschreibung traditioneller Rollenmuster. Was Sie haben mit dieser seltsamen Vermehrung der Mini-
könnte besser unter Beweis stellen, daß es Ihnen nicht sterien den Bürgern und Bürgerinnen unseres Landes
um die Würde von Frauen, um ihre selbstbestimmte eine der teuersten steuerverschwendenden Null-Lö-
Lebensplanung geht, als die frauenverachtende De- sungen bereitet.
batte zum § 218 des Strafgesetzbuches. Eine Krimina-
lisierung des Schwangerschaftsabbruchs, die Setzung (Beifall bei der SPD)
von Fristen sowie jegliche Form der Zwangsberatung Den Frauen in den eigenen Reihen haben Sie vermut-
stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das Selbst- lich einen Bärendienst erwiesen
bestimmungsrecht der Frau dar. Die PDS/Linke Liste
wird sich daher mit Vehemenz für die ersatzlose Strei- (Zuruf von der CDU/CSU: Das wird sich zei
chung des § 218 einsetzen. gen!)
(Beifall bei der PDS/Linke Liste) und denen, die sich ernsthaft um Gleichberechtigung
und Gleichstellung bemühen, eine schallende und
beschämende Ohrfeige erteilt.

Vizepräsident Becker: Liebe Kolleginnen, liebe Kol- Es ist kaum zu glauben, was der Bundeskanzler
legen, ich erteile nunmehr der Abgeordneten Frau unter Frauenförderung versteht. Er hätte wirklich ein
Becker-Inglau das Wort. Zeichen setzen können, wenn er wenigstens eines der
klassischen Ministerien an eine Frau in seinem Kabi-
nett vergeben hätte
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
Frau Becker-Inglau (SPD): Herr Präsident! Meine GRÜNE)
sehr geehrten Damen und Herren! Ich stelle fest: Je
später der Abend, je geringer die Medienwirksam- oder ein wirkliches Frauenministerium eingerichtet
keit, desto größer der Anteil der Rednerinnen. hätte, das mit den erforderlichen weitreichenden
Kompetenzen ausgestattet worden wäre.
(Beifall bei der SPD, dem Bündnis 90/
GRÜNE und der PDS/Linke Liste) Statt dessen haben Sie mit den Frauen ein böses
Spiel getrieben. Nachdem Sie nämlich alle Begehr-
Aber so lassen wir Frauen uns nicht entmutigen. Wir
lichkeiten der männlichen Kollegen mit dem Blick auf
folgen dem Prinzip Hoffnung und sagen lieber: Die
ein Ministerium befriedigt hatten, fiel Ihnen in letzter
letzten werden eines Tages die ersten sein.
Sekunde auf, daß da noch die Frauen sind. Kurzum, da
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste konnte nach seinem Weltbild am besten das Bauchla-
— Zuruf von der CDU/CSU: Ich stelle fest: denministerium herhalten. Jeder „Dumme" kann nun
eine Rüge an die SPD-Fraktionsführung!) glauben, daß auch die Regierung auf dem Weg ist, die
— Ich sage das auch in Ihre Richtung. Ich habe heute Frauen an Ämtern und Funktionen angemessen zu
morgen gar keine Ministerin gesehen. beteiligen.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben wenig- (Zuruf von der SPD: Leider wahr! — Kauder
stens welche!) [CDU/CSU]: Das ärgert Sie, gell? — Lachen
bei der SPD)
— Vielleicht haben wir sie beim nächsten Mal.
Ich hätte mich, glaube ich, dazu nicht zur Verfügung
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Wenn Sie so gestellt.
weitermachen, sehe ich schwarz!)
Wie unsinnig diese Zellteilung eines Ministeriums
Aber nun zum E rnst der Sache, auch wenn die iro- den Kennern erscheint, will ich am folgenden Beispiel
nische Betrachtung der äußerlichen Situa tion des verdeutlichen. Ich frage: Wäre der Bundeskanzler je-
Augenblicks genau auf den Punkt des Inhalts führt. mals auf die Idee gekommen, das riesengroße Vertei-
Blicke ich zurück auf die „Lehr-Formel" der 11. Legis- digungsministerium vielleicht zu zersägen und für
laturperiode, so kann ich resümieren: Aus einem jede Waffengattung einen zuständigen männlichen
Bauchladen, sprich: Ministerium für Jugend, Familie, Minister zu ernennen,
Frauen und Gesundheit mit fast an Null grenzenden
Entscheidungskompetenzen, hat es der Bundeskanz- (Zuruf von der SPD: Nein!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 215

Frau Becker-Inglau
z. B. einen Luftfahrtminister oder Heeresminister oder Und jetzt kommt der Bundeskanzler mit einem sol-
gar einen Marineminister? chen Vorschlag „wie Kai aus der Kiste", der uns und
mich ganz besonders an seiner Glaubwürdigkeit
(Beifall bei der SPD — Roth [SPD): Keine zweifeln läßt.
Vorschläge mehr! Das macht er! Wenn mehr
Posten herauskommen, macht er das! — Zu- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/
ruf von der CDU/CSU: Das ist wirklich eine CSU: Loben Sie einmal!)
Büttenrede!)
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
Nein, Männern mutet er offensichtlich eine solche haben mit unserem Entwurf eines Gleichstellungsge-
Lösung nicht zu. Aber gegenüber Frauen hat er dabei setzes vorgemacht, wie man Frauenförderung im
keinerlei Skrupel. Und ich kann Ihnen sagen: Dage- 20. Jahrhundert gestalten kann.
gen protestieren nicht nur wir Frauen energisch.
- (Zuruf von der CDU/CSU: Wie der Kollege
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur zu gerne hätte Farthmann?)
ich als frauenpolitische Sprecherin meiner Fraktion
die Aussagen des Bundeskanzlers zur Frauenpolitik Wir werden Ihren Vorschlag an unserem Gesetzent-
positiv gewürdigt. Leider hat er mir dazu nicht den wurf messen. Für uns ist es beispielsweise unverzicht-
geringsten Anlaß gegeben. bar, Diskriminierung am Arbeitsplatz empfindlich zu
bestrafen. Wir meinen auch, daß Frauen im öffentli-
Im Gegenteil: Das Fünf-Punkte-Programm, auf das chen Dienst, solange sie in bestimmten Posi tionen und
sich die Koalitionspartner geeinigt haben, erfüllt mich Bereichen so eindeutig unterrepräsentiert sind, bei
mit Skepsis und tiefer Sorge um das Wohl und die Einstellung und Beförderung bevorzugt werden müs-
Zukunft der Frauen in den alten und — ich muß leider sen, wenn sie die gleiche Qualifikation und auch die
sagen — noch mehr in den neuen Ländern der Bun- gleichwertige Qualifikation wie die männlichen Be-
desrepublik Deutschland. werber vorweisen können.
Diese Sorge ist in der bisherigen Haltung des Kanz-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten
lers zur Frauenpolitik begründet. In den 8 Jahren sei-
der PDS/Linke Liste und des Bündnis
ner Regierungszeit hat er keine einzige Ini tiative zur
ses 90/GRÜNE)
Gleichstellung von Frau und Mann im Arbeitsleben
eingebracht. Herr Bundeskanzler, jahrelang haben Vor allem treten wir dafür ein, daß im Bereich der
Sie sich gegen eine gesetzliche Verankerung der Ausbildung von Frauen und Männern die gleichen
Frauenförderung gesträubt, haben unseren Entwurf Kriterien gelten müssen. Ich füge hinzu: Hier muß der
eines Gleichstellungsgesetzes in allen seinen Be- öffentliche Dienst Vorbild für die Frauenförderung
standteilen vehement abgelehnt. der privaten Wirtschaft werden.
Deshalb fällt es mir wirklich schwer zu glauben, daß (Beifall bei der SPD)
er tatsächlich vorhat, ein „Artikelgesetz zur Gleichbe-
rechtigung von Mann und Frau" vorzulegen, das ge- Der Bundeskanzler hätte an dieser Stelle die
setzliche Regelungen zur Frauenförderung vorsieht. Chance ergreifen können, Frauen, vor allem den
Gewiß, seine Berate rinnen und Berater haben ihm zu Alleinerziehenden, im Zuge der Beseitigung und Ver-
Recht nahegelegt, dem Auftrag des Einigungsvertra- hinderung von Frauenarbeitslosigkeit besonders in
ges zu entsprechen und die Weiterentwicklung der den neuen Ländern durch eine gezielte finanzielle
Gesetzgebung zur Gleichberechtigung von Mann Unterstützung, zum Beispiel von Klein- und Mittelbe-
und Frau anzukündigen. Aber wie ernst sind eigent- trieben, durch Poolbildungen für Ersatzkräfte bei Er-
lich seine Ankündigungen gemeint? Wie ernst nimmt ziehungsurlaub von Müttern und Vätern und auch bei
der Kanzler die Frauenförderung in seiner eigenen deren Beurlaubung zur Pflege kranker Kinder, eine
Partei, wenn ich sehe, daß seine Fraktion mit der CSU Perspektive für die Zukunft zu eröffnen.
den geringsten Frauenanteil, nämlich 13 % im Parla- Statt dessen strafen Sie Frauen durch weitere Untä-
ment stellt? tigkeit. So deuten Sie nicht einmal mit einem Satz an,
(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ wie sich die soziale Sicherung der Frau im Alter ge-
GRÜNE) stalten soll. Weder die Abschaffung der ungeschütz-
ten Arbeitsverhältnisse noch den Versuch einer ren-
Wie will er Frauenförderung nun gesetzlich veran- tenrechtlichen Lösung für Frauen, die häusliche
kern, wenn bereits führende Politikerinnen seiner Pflege übernehmen wollen oder müssen, haben Sie in
Partei im letzten Parlament geäußert haben — ich Ihre Verhandlungen zum Einigungsvertrag, in die Ko-
zitiere da Frau Männle — : alitionsvereinbarungen oder gestern in die Regie-
Gleichberechtigung auf dem Verordnungsweg rungserklärung aufgenommen.
führt in die Sackgasse .. . (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Im CDU-Programm
(Richtig! bei der CDU/CSU) haben wir es!)
Oder bei der Debatte um das Gleichstellungsgesetz: — Das haben Sie aber nirgendwo in den letzten Ver-
einbarungen.
Im Gegensatz zur Oppositionsfraktion ist die Ko-
alition der Auffassung, daß die Fragen der Zynisch formuliert, lautet die Botschaft der Regie-
Gleichstellung nicht durch ein Sammelgesetz ge- rungserklärung: Wir fahren mit der Politik der Be-
regelt werden sollten. nachteiligung von Frauen fort,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Widerspruch bei der CDU/CSU)
216 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Frau Becker-Inglau
nachdem sich in den vorhergehenden Regierungsjah- Hohn, nachdem Sie gerade im letzten Jahr den dies-
ren die Streichung des Schüler-BAföG, das soge- bezüglichen Antrag der SPD-Fraktion abgelehnt ha-
nannte Beschäftigungsförderungsgesetz — das sich ben.
nachweislich als Mittel zum Heuern und Feuern her-
ausgestellt hat — oder die Streichung der Berufs- und (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Weil Ihre Länder
Erwerbsunfähigkeitsrenten für Hausfrauen als nach- das auch abgelehnt haben!)
teilig für Frauen erwiesen haben. Sie provozieren und Der Eindruck, daß hier in Bausch und Bogen nur kos-
tolerieren mit den neuen Regierungsvorhaben den metische Tünche betrieben wird, bleibt bestehen, so-
Weg in die zunehmende Armut von Frauen. lange keine vernünftigen Finanzierungsvorschläge
Das von Ihnen großartig propagierte Sonderpro- unterbreitet werden.
gramm zur Wiedereingliederung von Frauen nach
der Familienphase, das innerhalb von fünf Jahren (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das ist natürlich
Ländersache!)
maximal 3 000 Frauen zugutekommen soll, wirkt ge-
radezu lächerlich angesichts der Arbeitslosenzahlen Sie hätten natürlich, statt auf die Ländersache zu re-
im letzten Monat. flektieren, auch eigene Vorstellungen und Modelle
(Beifall bei der SPD) entwickeln können, um diesen Punkt zu regeln.
800 000 Frauen in den neuen Bundesländern und über (Beifall bei der SPD)
350 000 in den alten Bundesländern sind zur Zeit ar- Ich kann nicht immer nur auf andere abschieben, son-
beitslos. Ich weiß nicht, was angesichts dieser Zahlen
dern ich muß auch selber gestaltend wirken. Hier
noch lächerlich wirken soll, wenn nicht dieses Sonder- hätte der Kanzler eine Möglichkeit gehabt.
programm.
Nun zu den Forderungen der Frauen nach Verein- Über die bisher aufgeführten Punkte hinaus ver-
barkeit von Familie und Beruf! Der Einigungsvertrag misse ich ein klares Wort zu der Frage, durch welche
sieht dazu — das finde ich hervorragend — eine gesetzlichen Maßnahmen die Gewalt gegen Frauen
Rechtsangleichung in den alten und neuen Bundes- und Kinder eingedämmt werden soll. Auch hier müs-
ländern vor. Die Formulierung, daß Sie eine Ände- sen wir feststellen: Fehlanzeige.
rung der Arbeitszeitordnung anstreben, hätte ja dann (Dr. Geißler [CDU/CSU]: In Rheinland-Pfalz
auch hoffen lassen können, daß Sie ganz allgemein im gibt es einen Rechtsanspruch!)
Sinne einer Humanisierung der Arbeitswelt zum Bei-
spiel Vorschläge für die Gestaltung von Schichtplä- — Ich will das nicht nur auf ein Bundesland beziehen;
nen oder Modelle für die Verlängerung der Urlaubs- ich möchte es bundesweit geregelt haben. Sie hätten
zeit für Mütter und Väter unterbreitet hätten. das als Beispiel nehmen können, Herr Geißler.
(Zuruf von der CDU/CSU: Haben wir Weder präventiver Schutz durch das S trafrecht
doch!) noch Opferschutz für vergewaltigte und geschlagene
Frauen durch Frauenhäuser stehen in Ihrem Pro-
Statt dessen wollen Sie, wie in den Koalitionsverein-
gramm.
barungen deutlich wird, als Krönung die Aufhebung
des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterinnen durchset- Ein letzter Punkt: Die inhaltliche Ausgestaltung der
zen. künftigen Regelung des § 218 war, wie vereinbart
(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Gleichstel- — und dafür danke ich besonders dem Engagement
lung!) meiner Kollegin Herta Däubler-Gmelin —,
Das verkaufen Sie dann auch noch als eine weitere (Beifall bei der SPD)
Errungenschaft auf dem Weg zur Gleichbehandlung in den strittigen Verhandlungen zum Einigungsver-
von Männern und Frauen. Ich finde das unglaub- trag ausgeklammert.
lich.
(Beifall bei der SPD) Eines stimmt mich allerdings doch bedenklich:
Wenn ich mir die willkürliche Zuschneidung der Mini-
Bei einer ehrlichen Absicht zur Förderung der Ver- sterien ansehe, ist es gänzlich unbegreiflich, daß die
einbarkeit von Beruf und Fami lie hätten die Frauen gesetzliche Neuregelung der Schwangerschaftskon-
erwarten können, daß Sie auf die positiven Regelun- flikte beim Ministerium für Familie und Senioren an-
gen in der ehemaligen DDR eingegangen wären und gesiedelt werden soll
neue Finanzierungsmodelle zur Schaffung fehlender
und notwendiger Kindergarten- oder Kindertages- (Heiterkeit bei der SPD)
stättenplätze zur Verfügung gestellt hätten. Wie wol- und nicht dort, wo sie hingehö rt, nämlich zum Frau-
len Sie die noch vorhandenen Kindergärten in den enministerium.
neuen Bundesländern erhalten, und wie wollen Sie
die Finanzierung sicherstellen? Dazu ist in Ihren Aus- Offensichtlich erscheint die aus dem neuen Bundes-
führungen nichts zu lesen. land Mecklenburg-Vorpommern stammende Frauen-
ministerin dem Bundeskanzler für dieses politisch
(Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das hat die Frau
heiße Eisen als zu unzuverlässig. Da legt er lieber die
Minister doch gerade gesagt!)
Gesetzgebungsarbeit in die für ihn politisch verläßli-
Ihre Ankündigung in der Regierungserklärung, im cheren Hände der Kolleginnen Rönsch und Verhüls-
neuen Jugendhilferecht den Rechtsanspruch auf donk — ich kann den Kanzler da wirklich verstehen —,
einen Kindergartenplatz zu verankern, erscheint wie deren Einstellungen zum § 218 weithin bekannt sind
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 217

Frau Becker-Inglau
und in das Weltbild des Bundeskanzlers zu passen ten eintreten, alles daransetzen werden, um werden-
scheinen. des Leben zu schützen.
(Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)
CSU: In Ihres anscheinend nicht!)
Dies ist auch keine Frage von Ch ristentum oder
Überhaupt haben Sie die Problematik der Schwan- Atheismus.
gerschaftsabbrüche völlig ausgeklammert. Dabei ist
selbst den an Politik nur mäßig interessierten Bürge- (Beifall bei der FDP, der SPD und beim Bünd
rinnen und Bürgern klar, daß eine Rechtsangleichung nis 90/GRÜNE)
der Schwangerschaftsabbruchregelungen zu den we-
sentlichsten Gesetzgebungsaufgaben in den vor uns Ich kenne in unserer Gesellschaft viele Ch risten, die
liegenden Jahren gehört. einen Schwangerschaftsabbruch nie mit ihrem Ge-
wissen vereinbaren könnten — dies respektieren wir
Ich hoffe, daß Sie, den wissenschaftlichen Erkennt- - selbstverständlich alle —, aber ich kenne auch viele,
nissen folgend, einen wirksamen Schutz des werden- die nicht an Gott glauben oder sich nicht dazu beken-
den Lebens auf dem Prinzip „Hilfe statt Strafe" basie- nen, die alles daran setzen werden, um werdendes
ren lassen. Leben zu schützen.
Insgesamt, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann
ich nur feststellen: Wir Frauen sind enttäuscht (Beifall bei der FDP, der SPD, der PDS/Linke
Liste und beim Bündnis 90/GRÜNE)
(Zuruf von der CDU/CSU: Die SPD-Frauen
sind enttäuscht!) Deswegen, denke ich, sollten wir nicht fortfahren, uns
gegenseitig Vorwürfe zu machen — das reißt nur Grä-
über die dürftigen und nahezu unverbindlichen Aus- ben auf —. Wir sollten versuchen, wirklich einen Kon-
sagen in den Koalitionsvereinbarungen und in der
sens zu finden. Nur das dient dieser schwierigen Ma-
Regierungserklärung des Kanzlers. Aber wir werden
terie.
nicht lockerlassen, unsere Forderungen hier ins Hohe
Haus einzubringen. (Beifall bei der FDP)
Deshalb melden wir jetzt schon an, daß die neu zu Nun zu meinem eigentlichen Thema; ich bin ja
bildende Kommission, die die künftige Verfassung nicht Frauenministerin, sondern Wohnungsbaumini-
unseres geeinten Deutschlands erarbeitet, paritätisch sterin. Ich begrüße es ausdrücklich, daß in der Debatte
mit Frauen und Männern besetzt werden möge. zu dieser Regierungserklärung das Thema Woh-
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und nungsbaupolitik im Gesamtkomplex der Sozialpoli-
dem Bündnis 90/GRÜNE) tik behandelt wird. Das macht deutlich, liebe Kolle-
Mit Stolz verweise ich auf die richtungsweisende Ar- ginnen und Kollegen, daß Wohnung kein Wirtschafts-
beit der Sozialdemokratin Elisabeth Seibert, die dafür gut wie jedes andere ist, sondern daß es sich hierbei
gesorgt hat, daß die Frauen 1949 in unserer gültigen um die in der Marktwirtschaft angelegte soziale Kom-
Verfassung in Art. 3 einen Platz gefunden haben. ponente handelt. Ich bekenne mich ausdrücklich
Hätte sie das nicht getan, hätten wir damit rechnen dazu, daß ich eine Tradition fortführen möchte, die
müssen, daß die Frauen vergessen werden. Wir wol- schon mit Beginn dieser Republik, der Bundesrepu-
len die Arbeit von Elisabeth Selbert weiterführen. blik Deutschland, begonnen wurde, nämlich die Tra-
dition, die der erste Wohnungsbauminister dieser Re-
Vielen Dank. publik gebildet hat.
(Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und
(Beifall bei der FDP)
dem Bündnis 90/GRÜNE)
Es war der Liberale Eberhard Wildermuth, und das
erste Gesetz, das im Deutschen Bundestag in Sachen
Vizepräsident Becker: Meine sehr verehrten Da- Wohnungsbaupolitik verabschiedet wurde, war das
men und Herren, ich erteile nun das Wort der Frau Gesetz über den sozialen Wohnungsbau.
Minister Adam-Schwaetzer.
(Beifall bei der FDP — Dr.-Ing. Kansy [CDU/
CSU]: Sehr gut! Weiter!)

Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister für In diese Legislaturperiode fiel auch noch die Einbrin-
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsi- gung des Gesetzes über die Eigenheimförderung.
dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Noch besser!)
einer Anmerkung zur Rede der Frau Kollegin Rönsch
beginnen. Das ist zwar ungewöhnlich, aber ich denke, Ich denke, mit diesen beiden Politikfeldern ist schon
auf Grund der Tatsache, daß die Neuordnung des das Spannungsfeld dessen umrissen, was heute auch
§ 218 in der Tat eines der ganz wichtigen und schwie- noch die Wohnungsbaupolitik bestimmt, und ich
rigen Gesetzgebungsvorhaben dieser Legislaturpe- werde mich gern auf diese Tradition berufen, selbst
riode ist und außerdem nicht der Koalitionsabsprache dann, wenn mir Herr Dreßler, der nun bedauerlicher-
unterliegt, ist dies gerechtfertigt. weise nicht mehr anwesend ist, in seiner vorfabrizier-
(Beifall bei der FDP) ten Rede mit seinen unverbesserlichen Vorurteilen
anderes unterstellt.
Ich denke, es muß unter uns wirklich klar sein, daß
auch diejenigen, die für die Straflosigkeit des (Conradi [SPD]: Ist Ihre Rede nicht vorfabri
Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Mona- ziert?)
218 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer


— Nein, das kann ich Ihnen zeigen. Sie ist nicht vor- fluß nehmen, damit in Zukunft bei der Zinssituation
fabriziert. etwas passiert.
(Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Jetzt ist der Aber meine Frage geht dahin: Sie haben soeben
Conradi baff!) von den Mieten gesprochen. Sie sind aber nicht auf
Der Schwerpunkt der Wohnungsbaupolitik in die- die Wohnkosten eingegangen, die durch die soge-
ser Legislaturperiode wird ganz zweifellos in den fünf nannte Zweitmiete insgesamt entstehen. Auch dazu
neuen Bundesländern liegen. würde ich gern etwas von Ihnen hören. Die steigen ja
noch stärker als die Mieten.
(Beifall bei der FDP und des Abg. Dr.-Ing.
Kansy [CDU/CSU])
Denn hier geht es darum, ganz vielen Menschen end- Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister für
lich eine menschenwürdige Wohnung zu verschaffen. Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Kol-
Dabei haben Sanierung und Modernisierung zu-- lege, Sie hätten einfach nur zu warten brauchen, bis
nächst ganz klar Priorität vor dem Neubau. ich das gesagt hätte.
Deswegen ist es auch richtig gewesen, daß die Bun- (Beifall bei der FDP)
desregierung bereits im vergangenen Jahr ein Kredit-
programm von 10 Milliarden DM aufgelegt hat, das Ich wollte nämlich gerade auf die Umlage der Be-
ausdrücklich in diesem Bereich eingesetzt werden triebskosten eingehen und daran erinnern, daß der
soll. Die Mittel werden jetzt langsam abgerufen. Das Minister Kühbacher — immerhin Sozialdemokrat; all
Problem, das sich aus der Höhe der Zinsen ergeben denen, die etwas länger im Deutschen Bundestag
hat, wird ebenfalls von uns gelöst werden. Wir begrü- sind, wohlbekannt als einer der Haushälter der SPD
ßen das dreijährige Moratorium auf Zinsen und Til- aus dem Haushaltsausschuß —
gungsleistungen für die Wohnungsbaugesellschaften, (Dr. Hoyer [FDP]: Zonenrandförderungsex
und wir werden dafür sorgen, daß auch im privat ver- perte meistens!)
mieteten Wohnungsbau die Zinsen nicht so drückend beklagt hat, daß die Koalition beschlossen hat, die
bleiben, wie sie jetzt sind. Heizkosten erst zum 1. Oktober umlagefähig zu ma-
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten chen. Er hat gesagt, das sei völlig unerträglich, das
der CDU/CSU) müsse schon früher passieren.
Immerhin geht es hier um einen Anteil von etwa 20 % (Zuruf von der FDP: Richtig!)
des gesamten Wohnungsbestandes in den fünf neuen
Bundesländern. Ich begrüße es ja nachdrücklich, daß ein Sozialdemo-
krat in Regierungsverantwortung, d. h. dann, wenn es
(Roth [SPD]: Was sagen Sie denn zu den die Subventionen sind, die er zahlen muß, zum markt-
Zinssteigerungen von heute?) wirtschaftlichen Denken zurückfindet, und wünsche
Ein großes Problem werden die Mietensteigerun- mir, daß das auch bei der SPD in der Opposition all-
gen zweifellos für viele Menschen in ihrem monatli- mählich Platz greift.
chen Budget in den fünf neuen Bundesländern dar- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
stellen. Aber ich glaube, es gibt auch bei den Men- Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Vergebliche
schen, die dort leben, keinen Zweifel daran, daß letzt- Wünsche!)
lich die Mieten steigen müssen. Die Frage ist nur: Wie
schnell, in welchem Umfang und wie weit? Wir werden die Bet riebskosten zum 1. Ap ril umlage-
fähig machen. Dies ist auch deshalb gerechtfertigt,
Deswegen finde ich es ganz wichtig, daß wir verein-
weil diese Kosten heute schon wohngeldfähig sind, so
bart haben, daß das jetzige Niveau von 4 %, das ja
daß wir in dem entsprechenden Wohngeldgesetz dazu
nicht bleiben kann, langsam angehoben wird. Wir
nichts mehr ändern müssen. Das andere wird Gegen-
haben in der Koalition vereinbart, daß eine Belastung
stand der Beratungen zum 1. Oktober sein.
aus der Miete von nicht mehr als 10 % des Nettoein-
kommens in diesem Jahr erreicht werden kann. Was Wichtig ist, daß alle diese Maßnahmen sozialver-
darüber hinausgehen würde, müssen wir durch eine träglich sind und daß die Mieter wissen, was auf sie
bessere Wohngeldgewährung ausgleichen; und das zukommt, nämlich die Sicherheit; denn wir haben
werden wir auch tun. heute wieder gehört: Vor allem die PDS wi ll mit ihrer
demagogischen Angstmacherei die Menschen noch
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten
einmal verunsichern. Dies dürfen wir nicht zulassen
der CDU/CSU)
und werden wir nicht zulassen.
Einen zusätzlichen Akzent werden wir auch bei der
Vizepräsident Becker: Frau Minister, gestatten Sie Privatisierung setzen. Hierbei geht es darum, durch
eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reschke? das Wecken privater Initiative, durch das Ärmelhoch
krempeln möglichst schnell zu einem möglichst guten
Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister für Wohnungsbestand in den fünf neuen Ländern zu
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Wenn das kommen.
nicht auf meine knappe Redezeit angerechnet wird, (Beifall bei der FDP)
gern.

Reschke (SPD): Das geschieht doch nie, Frau Mini- Vizepräsident Becker: Frau Minister, sind Sie so
sterin. — Vor dem Hintergrund der heutigen Be- nett, auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten
schlüsse der Bundesbank freue ich mich, daß Sie Ein Conradi zu gestatten?
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 219

Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister für beschlossen, die steuerliche Eigentumsförderung


Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Auch Herrn weiter zu verbessern,
Conradi gestatte ich eine Zwischenfrage; ja. (Conradi [SPD]: Für die reichen Leute!)
um zumindest einen Teil des Ausgleichs zu schaffen
und damit auch die Baugenehmigungen in diesem
Conradi (SPD): Frau Ministe ri n, was sagen Sie denn
Bereich weiter zu fördern. Die abzugsfähigen Kosten
den p ri vaten Hauseigentümern und Vermietern in
den neuen Bundesländern, die ihre Miete nicht erhö- werden von 300 000 DM auf 330 000 DM und das
Baukindergeld wird von 750 DM auf 1 000 DM her-
hen dürfen, die aber seit dem 1. Januar 9,5 % Zinsen
auf die ihnen damals vom Staat zwangsverordneten aufgesetzt. Aber hier geht es darum, daß die Gemein-
Hypotheken zahlen müssen? den endlich mehr Bauland ausweisen,
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
(Zurufe von der CDU/CSU)
damit es zu mehr Flexibilität und Mobilität in diesem
Sollen die in Konkurs gehen, oder sollen die ihr Haus
Bereich kommt.
zwangsversteigern? — Das haben Sie in Ihrem Ver-
trag damals offenbar nicht berücksichtigt. (Dr. Rüttgers [CDU/CSU] : Auch das verhin
dern die Sozialisten in Nordrhein-Westfa
len!)
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Bundesminister für Wir werden die Probleme nur in der Solidarität zwi-
Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Herr Con- schen Bund, Ländern und Gemeinden lösen können.
radi, ich habe soeben ausgeführt, daß wir Maßnah- Das trifft vor allen Dingen den sozialen Wohnungs-
men in Vorbereitung haben, um genau diesen priva- bau. Wir werden unseren Anteil für die Weiterförde-
ten Vermietern die Zins- und Tilgungsbelastung zu rung des sozialen Wohnungsbaus auf hohem Niveau
erleichtern. Unser Ziel ist es dabei, daß sie auf den leisten, und wir bitten darum, daß die Länder das in
gleichen Belastungsstand kommen — zumindest bis diesem Jahr genauso tun. Wir werden mehr Mittel,
zum 1. Oktober, wenn die Kaltmieten erhöht werden nämlich zwei Drittel der Bewilligungen, im dritten
können — , den sie vor dem 3. Oktober des letzten Förderweg einsetzen.
Jahres hatten. (Münteferting [SPD]: Das ist ja unglaub
(Dr. Hoyer [FDP]: Sehr gut!) lich!)
Dies ist in Vorbereitung. Es ist ein Teil der Koalitions- Damit können wir über die Zeitdauer viermal so viele
beschlüsse. Wohnungen bauen wie im ersten Förderweg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich (Müntefering [SPD]: Absoluter Quatsch! —
noch einiges zu den Problemen in den westlichen Conradi [SPD]: Verschleuderung von Staats
Bundesländern ausführen, die ja in der Tat in Teilbe- geldern!)
reichen sehr drängend sind. Ich möchte allerdings Das bedeutet, daß wir die Probleme schneller in den
auch darauf hinweisen, daß in weiten Bereichen der Griff bekommen, als wenn wir bei der alten Förderung
westlichen Bundesländer die Wohnungsversorgung allein verblieben wären.
gut, in machen Bereichen sogar sehr gut ist.
(Beifall bei der FDP)
(Conradi [SPD]: Allenfalls in ländlichen Be-
reichen!) Wir stehen in Teilbereichen vor schwierigen Situa-
tionen; aber die Beschlüsse der Koalition haben eine
Es zeigt sich im übrigen auch, daß das Programm der gute Grundlage dafür geschaffen, daß das Gut Woh-
Bundesregierung aus dem Jahr 1989 für 1 Milli on nung nicht nur den angemessenen Stellenwert in der
Wohnungen jetzt in einem ganz wichtigen Bereich Politik bekommt, den es verdient, sondern daß auch
greift. Die Zahl der Baugenehmigungen für den mehr- die Menschen erwarten können, daß ihre berechtig-
geschossigen Wohnungsbau, für den Mietwohnungs-- ten Hoffnungen sehr bald in Erfüllungen gehen kön-
bau, ist 1989 und 1990 drastisch in die Höhe gegan- nen.
gen. Es handelt sich um ein Plus von 60 % im Jahr 1989
und um ein Plus von 76 % bis Oktober 1990. Ich danke Ihnen.
(Conradi [SPD]: Lassen Sie sich nicht a ll es (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
gefallen, was die Statistiker Ihnen auf-
schwätzen!) Vizepräsident Becker: Nunmehr hat der Abgeord-
Dies zeigt, daß die Probleme nach und nach weniger nete Scharrenbroich das Wort.
drängend werden.
(Conradi [SPD]: Der muß die Kapitulation der
Ich möchte allerdings nicht verschweigen, daß im FDP ausgleichen!)
Einfamilienhausbau die Baugenehmigungsrate stag-
niert. Dies ist sicherlich auf die hohen Zinsen, auf die
hohen Baukosten und auf das knappe Bauland zu- Scharrenbroich (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine
rückzuführen. Damen und Herren! Der Herr Dreßler hatte große
(Conradi [SPD]: Die ungerechte Förde- Schwierigkeiten, die Philosophie, wie er sich aus-
rung!) drückte, der Regierungserklärung zu entdecken.
Wir können uns sicherlich lange darüber unterhal- (Dreßler [SPD]: Wohl wahr!)
ten, woher das Geld für eine Förderung kommen soll, Nun weiß ich nicht, was der Herr Dreßler unter Philo
wie Sie sie haben möchten. Die Bundesregierung hat sophie versteht. Der redet normalerweise immer da-
220 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Scharrenbroich
von, Signale zu geben, von Stellwerken usw. Aber ich immer gesagt hat, eine Steuererhöhung gewesen.
möchte mir eigentlich das zu eigen machen, was der Eine Mehrwertsteuererhöhung oder Mineralölsteu-
Kollege Cronenberg sagte. Ich möchte doch versu- ererhöhung ist ebenfalls kein Beitrag nach den
chen, auch im Bereich der Sozialpolitik das Niveau, Grundsätzen der Leistungsfähigkeit. Deswegen hat
das dieses Thema verdient, möglichst hoch zu hal- dies immerhin den Vorzug,
ten. (Dreßler [SPD]: Daß es beamtenverträglich
(Dr. Geißler [CDU/CSU]: Ja; sehr richtig!) ist!)
Als ich mir meine Notizen für diese kurze Rede daß wir diese Beiträge wieder senken werden, was bei
machte, stand ich unter dem Eindruck der Reden des einer Steuererhöhung — ob von SPD oder CDU; das
Ministerpräsidenten und des Finanzministers aus ist mir gleich — sehr wahrscheinlich nicht der Fall sein
zwei neuen Bundesländern. Ich meine, daß wir auch würde.
in der Sozialpolitik den Konsens suchen müßten, wo
immer dies möglich ist, und jetzt aufhören sollten, Vizepräsident Becker: Herr Abgeordneter Schar-
weiter Wahlkampf zu betreiben. renbroich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Ab-
geordneten Dreßler?
(Dreßler [SPD]: Ist ja toll! — Conradi [SPD]:
Wieso das? Was soll der Quatsch?) Scharrenbroich (CDU/CSU): Bitte sehr!
Das heißt, wir müssen auch als Sozialpolitiker bei un-
seren Bürgerinnen und Bürgern in Westdeutschland Dreßler (SPD): Herr Kollege Scharrenbroich, kön-
deutlich machen, daß wir zu dem stehen, was uns von nen Sie mir einmal erklären, ob ich Sie richtig ver-
den Freunden in Mitteldeutschland gesagt worden ist. stehe, daß Sie unter dem Titel „Gerechte Sozialpoli-
Sie sagten: Teilung überwinden durch Teilen. Wir tik und Teilen" auch verstehen, daß alle diejenigen,
müssen als Sozialpolitiker die Führungsfähigkeit ha- die mehr als 6 500 DM verdienen, von Ihnen, der
ben, den Menschen in der Alt-Bundesrepublik deut- CDU/CSU und der FDP, nicht in diesen Prozeß des
lich zu machen, was das heißt. Da kommen wir mit Teilens einbezogen wurden? Ist das nach Ihrer Mei-
Neidpolitik nicht mehr weiter. nung eine gerechte Sozial- und Finanzpolitik?
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Scharrenbroich (CDU/CSU): Herr Dreßler, da ich
Wir müssen den Menschen auch sagen, vor welch Ihre Schablonen kenne, hatte ich gar keine andere
großen Aufgaben insgesamt wir stehen. Das heißt, wir Frage erwartet. Meine Antwort lautet: Was ist die
müssen erstens unseren Beitrag für die Golfregion in Alternative? Da sage ich: 27 DM im Monat zu zahlen,
der Zeit des Krieges und danach erbringen, zweitens kann man dem Durchschnittsverdiener zumuten. Bei
unseren Beitrag für die Länder Osteuropas erbringen, einer Mehrwertsteueranhebung müßte er sehr wahr-
drittens unseren Beitrag, wie der Bundeskanzler viel- scheinlich erheblich mehr zulegen. Hören Sie darum
fach sagte, weiterhin auch für die Länder der Dritten bitte mit Ihrer Neidpolitik auf! Wir müssen in Alterna-
Welt erbringen und viertens — das steht voran — die tiven denken, und wir müssen die besser Alternative
Einheit Deutschlands oder, wie das Leitmotiv dieser wählen. Das haben wir gemacht.
Regierungserklärung lautete, die Vereinheitlichung
der Lebensverhältnisse herbeiführen. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
neten der FDP — Conradi [SPD]: Unglaub
Wer als Sozialpolitiker weiß, daß Preisstabilität die lich!)
wichtigste Aufgabe für eine erfolgreiche Sozialpolitik
ist, der muß zu der alten Aussage der Union zurück- Vizepräsident Becker: Herr Abgeordneter Schar-
finden, daß wir eine Einheit von Wirtschafts-, Finanz- renbroich, gestatten Sie noch eine Frage des Herrn
und Sozialpolitik brauchen. Ich füge für den konkre- Abgeordneten Dreßler?
ten Fall der Herstellung der einheitlichen Lebensver-
hältnisse hinzu: Wir brauchen die Einheit auch der -
Rechtspolitik. Scharrenbroich (CDU/CSU): Nein. Als Vorsitzen-
der der Arbeitnehmergruppe denke ich jetzt an die
Wirtschaftspolitik heißt — wie in der Regierungser- Beschäftigten des Deutschen Bundestages. Ich meine,
klärung gesagt wurde — : Vorrang für Investitionen. wir sollten die Debatte nicht weiter verlängern, da
Das bedeutet, daß die Infrastruktur aufgebaut werden Herr Dreßler sowieso nicht lernfähig ist.
muß. Wenn uns das nicht gelingt, dann werden in der (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Die Fragen von
früheren DDR so viele Menschen arbeitslos, daß die Herrn Dreßler werden nicht besser! — Con
klassische Sozialpolitik das überhaupt nicht wettma- radi [SPD]: Ihre Antworten lohnen die Fra
chen kann. gen nicht!)
(Borchert [CDU/CSU]: Richtig!) Ich glaube, daß hier auch die Rechtspolitik eine
Deswegen muß es ein Anliegen der Sozialpolitik sein, wichtige Rolle spielt. Denn wir hören doch von allen
auch die Voraussetzungen für eine vernünftige Wirt- Menschen und von denjenigen, die in den neuen Bun-
schafts- und Finanzpolitik zu erarbeiten. desländern investieren wollen: Solange die Eigen-
tumsfrage nicht geklärt ist, werden wir nicht frühzei-
(Beifall bei der CDU/CSU) tig und schnell genug die nötigen Arbeitsplätze dort
Ich möchte nun auf die Erhöhung der Beiträge für schaffen.
Nürnberg über ein Prozent hinaus zu sprechen kom- Das gilt auch für das, was heute schon mehrmals
men. Was wäre denn die Alternative gewesen? Die — ich glaube, vom Kollegen Nitsch — gesagt worden
Alternative wäre, wie uns die SPD im Wahlkampf ist: Die Planungsfristen müssen verkürzt werden. In-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 221
Scharrenbroich
sofern hat die Rechtspolitik einen eminent wichtigen setzungen dafür hatten. Dabei hat uns die SPD leider
Beitrag zu erbringen, damit wir auch die sozialpoliti- verlassen; sie hat nur Neidpolitik zu bieten gehabt.
schen Probleme lösen können. (Conradi [SPD]: Das sind Agitprop-Voka
Daher halte ich das, was in der Regierungserklä- beln!)
rung gesagt worden ist, für sehr wichtig, nämlich daß Die Koalition mußte die Arbeit allein machen. Aber
die Bundesregierung einen Kabinettsausschuß Deut- dadurch sind die besten Voraussetzungen geschaffen
sche Einheit gebildet hat. Wir alle sind aufgerufen, worden.
diesen Kabinettsausschuß nicht nur für sich arbeiten Ich nenne die beiden großen Reformen, die Ge-
zu lassen, sondern — so verstehe ich Parlamentsar- sundheitsreform und die Rentenreform. Herr Dreßler,
beit — uns von allen Fraktionen her an dieser Arbeit da Sie sich verschiedentlich zum Thema Norbert Blüm
zu beteiligen. und Pharmaindustrie geäußert haben,
Ich möchte aber auch sagen, daß in dieser schwie- (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Seine Lebensauf
rigen Phase alle Fraktionen vielleicht in einem neuen gabe!)
Stil arbeiten müssen. Das gilt nach meiner Auffassung möchte ich wenigstens in einem Punkt — in allen
auch für die Regierungsfraktionen in der Zusammen- lohnt sich nicht — Ihrer Legendenbildung entgegen-
arbeit mit der Bundesregierung. Das heißt, daß die treten.
Regierungsfraktionen nicht nur Mehrheitsbeschaffer
sind, sondern daß sie auch ihre eigenen Vorstellungen (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Es lohnt sich wirk
einbringen. lich nicht!)
Ich möchte noch einmal das unterstützen, was der Bei dem Punkt Pharmaindustrie muß es doch gesagt
Herr Kollege Nitsch gesagt hat. Wir müssen darüber werden:
nachdenken, ob die Verteilung des Umsatzsteuerauf- Ich erinnere mich an unsere Sitzung in der Koali-
kommens, wie sie bisher im Einigungsvertrag vorge- tionsarbeitsgruppe vom 20. Dezember, an der auch
sehen ist, so bestehen bleiben kann. Es ist unsolida- der Kollege Cronenberg und der Kollege Thomae teil-
risch, daß die alten Bundesländer den neuen Bundes- genommen hatten. Damals wurde festgestellt — das
ländern nur 55 % des ihnen zustehenden Umsatzsteu- ist in einem Schreiben des Bundesverbandes der
eraufkommens zubilligen wollen. Das muß meiner pharmazeutischen Industrie vom 18. Dezember fest-
Ansicht nach geändert werden. Damit können wir gehalten, unterschrieben von Loebe und Stürzbe-
nicht bis 1995 warten. cher — : Das von den Leistungserbringern zu erbrin-
gende Gesamtvolumen umfaßt somit maximal
Insofern freue ich mich, daß der Bundeskanzler mit 900 Millionen DM. Das war der Stand vom 18. Dezem-
den Ministerpräsidenten Ende Februar eine Konfe- ber.
renz über eine stärkere Beteiligung der Länder an den
Kosten der deutschen Einheit durchführt. In dieser Sitzung der Koalitionsarbeitsgruppe am
20. Dezember haben wir dem Kollegen Jagoda, der
Konsens ist gefordert. Deswegen möchte ich noch die Verhandlungen geführt hat, gesagt: Bei diesem
einmal besonders die Tarifvertragspartner nennen. Ergebnis darf es nicht bleiben; das akzeptieren wir
Ich freue mich, daß der Bundeskanzler einen Gedan- nicht; es muß weiterverhandelt werden. Da ist der
ken, der in den Sozialausschüssen, in der CDA, sehr Termin für das Ende des Jahres oder für die ersten
gepflegt wird, den Gedanken des Solidarpakts, in sei- Tage des Januars festgelegt worden. Ende des Jahres
ner Regierungserklärung aufgegriffen hat. Wir müs- war es nicht mehr möglich. Dann ist am 3. Januar ver-
sen darüber nachdenken, wie alle Seiten zusammen- handelt worden. Das Verhandlungsergebnis ist fol-
gefügt werden können, um ihren Beitrag zu erbrin- gendes : Die Pharmaindustrie ist für das erste Jahr zu
gen, um die Kosten der deutschen Einheit zu finanzie- einem Ergebnis von 500 Millionen DM gekommen;
ren. für das zweite Jahr 1 Milliarde DM, für das dritte Jahr
-
Ich begrüße es ausdrücklich, daß er zu Modellen für 700 Millionen DM. Das macht 2,2 Milliarden DM ge-
eine stärkere Erfolgsbeteiligung und eine breitere genüber 900 Millionen DM, die vorher ausgehandelt
Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand aufgerufen waren.
hat. Ich glaube, hier könnten wir einen Beitrag erbrin- (Dreßler [SPD]: Das ist Scharrenbroichs Men
gen — aber das geht nur gemeinsam mit den Tarifver- genlehre! Im Gesetz steht 1,5 Milliarden
tragspartnern — , damit die Arbeitnehmer Miteigentü- DM! Nehmen Sie dazu mal Stellung!)
mer am Produktivkapital werden und andererseits der — Nein, Sie sind nicht mehr auf dem laufenden. Es
Kapitalmarkt entlastet wird. Das ist die Stunde der gab zwischendurch Überlegungen. Aber das werden
Vermögensbildung. wir bei den Gesetzesberatungen noch sehen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Dreßler [SPD]: Nicht bei den Gesetzesbera
der FDP — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Ein kon- tungen!)
struktiver Vorschlag!)
Ich darf feststellen, was das Ergebnis der Pharmain-
Zur Sozialpolitik im engeren Sinn möchte ich zu- dustrie ist. Es sind nicht nur 2,2 Milliarden DM. Sie hat
nächst einmal feststellen, daß die deutsche Einheit vielmehr gesagt: Von allem, was an Kosten darüber
durch die Arbeiten in der letzten Legislaturperiode hinausgeht und was anfällt und was dadurch noch
gut vorbereitet worden ist. Auch da spreche ich wie- nicht gedeckt ist, übernimmt die Pharmaindustrie
der die Finanz- und Haushaltspolitik an. Vom Bundes- 50 %. Das ist die Wahrheit. Ich halte es für ausgespro-
kanzler ist verschiedentlich betont worden, daß wir chen richtig — das möchte ich bei dieser Gelegenheit
erst durch die Haushaltskonsolidierung die Voraus- sagen — , daß sich der Bundesarbeitsminister so lange
222 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Scharrenbroich
geweigert hat, in die Verhandlungen mit der Phar- angreifen. Norbert Blüm kann das sehr gut aushalten ;
maindustrie einzutreten, bis der Lieferboykott besei- denNorbtBlümhauges:ILfdr-
tigt war. Den konnte man nicht deutlich genug miß- gislaturperiode werden wir eine gesetzliche Pflegesi-
billigen. Es handelte sich um den Versuch, durch eine cherung zustande bringen.
Boykottmaßnahme den Gesetzgeber zu beugen. Das (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Der Blüm macht
haben die nicht geschafft, wie das Ergebnis zeigt. es!)
(Conradi [SPD]: Das haben die doch ge- So sicher wie das Amen in der Kirche ist: Norbe rt
schafft!) BlümwirdbszuSoe192inGstzwurf
— Nach Adam Riese sind 2,2 Milliarden DM erheblich einbringen, und wir werden diesen im Laufe der Le-
mehr als 900 Millionen DM. gislaturperiode auch verabschieden.
Lassen Sie mich etwas zum Thema Arbeitslosigkeit Dem Kollegen Cronenberg möchte ich sagen: Wenn
die Zuständigkeit für die Pflege bei Norbe rt Blüm
sagen. Wir werden die Arbeitsmarktpolitik auf dem
bleibt — wie es ja beschlossen ist — , dann läßt das alle
gleichen hohen Niveau wie bisher fortführen. Die Ta-
Möglichkeiten offen.
rifvertragspartner sind hier gefordert. Sie müssen
nämlich mithelfen, wenn es darum geht zu erreichen, (Lachen bei der SPD)
daß die Menschen, die Kurzarbeitergeld beziehen, Er hat bereits zwei Reformen erfolgreich hinter sich
noch eher bereit sind, an Fo rt - und Weiterbildungs- gebracht, was noch kein Arbeits- und Sozialminister
maßnahmen teilzunehmen. Das ist in der Vergangen- bisher geschafft hat.
heit leider dadurch etwas gefährdet worden, daß die
Tarifvertragspartner eine Aufstockung des Kurzarbei- (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der
tergeldes vorgesehen hatten und dadurch das Über- SPD: Der Mann wird immer populärer!)
gangsgeld für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen Außerdem entspricht das unserer Philosophie, neben
unattraktiver geworden wäre. Ich hoffe, daß die Tarif- den bisherigen Solidarversicherungen eine weitere
vertragspartner bereit sind, hierbei mitzuhelfen. Solidarversicherung aufzubauen. Insofern muß das
gar nicht notwendigerweise beim Krankenversiche-
Wenn man bedenkt, daß im Jahre 1991 für berufli- rungsministerium sein. Damit, meine ich, bleiben alle
che Fo rt - und Weiterbildung ein Betrag in Höhe von Möglichkeiten offen.
6,6 Milliarden DM in den neuen Bundesländern und
von 6,7 Milliarden DM in den alten Bundesländern Meine Damen und Herren, ich möchte Sie auffor-
zur Verfügung gestellt wird, dann muß man sagen: dern: Bringen Sie einen Beitrag dazu, daß die Men-
Das ist eine sehr gute begleitende Maßnahme zur schen in den neuen Bundesländern erkennen, daß wir
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. nicht eine Sozialpolitik für die eine oder andere Partei
machen,
Lassen Sie mich zum Schluß etwas zur Pflege sagen.
Ich bedauere es sehr, Herr Dreßler, daß Sie das Wo rt (Dreßler [SPD]: Sondern aus einem Guß!)
desBunkazlrichtfgenab.Dr sondern im Zusammenhang mit Wirtschafts- und
Bundeskanzler hat nämlich auf die Rentenreform Be- Finanzpolitik eine Sozialpolitik für die Menschen.
zug genommen, die im Konsens verabschiedet wor- Danke schön.
den ist. Ich gestehe Ihnen zu: Da haben Sie eine be-
achtliche Arbeit, auch innerparteilich, geleistet. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord
wäre dankbar, wenn wir das noch einmal aufgrif- neten der FDP)
fen.
Ich darf aus der Regierungserklärung zitieren: Vizepräsident Becker: Als vorläufig letzter Redner
hat jetzt das Wort Herr Minister Dr. Ortleb.
(Dreßler [SPD]: Aber bitte den Gesamtkon-
text!) -
Die Bundesregierung wird deshalb bis zum Som- Dr. Ortleb, Bundesminister für Bildung und Wissen-
mer 1992 dem Deutschen Bundestag einen Ge- schaft: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen
setzentwurf zur Sicherung bei Pflegebedürftig- und Herren! Bildung und Wissenschaft spielen nach
keit vorlegen. der politischen Wiederherstellung der Einheit
Deutschlands eine ganz wesentliche Rolle für die Wei-
Die Sicherung bei Pflegebedürftigkeit ist ein Thema terentwicklung einer freiheitlichen, wirtschaft lich er-
— so der Bundeskanzler dann weiter — , „bei dem ich folgreichen, ökologisch orientierten und sozial ge-
uns alle einladen möchte, den Versuch zu unterneh- rechten Gesellschaft.
men, zu einem Konsens zu kommen".
Es gilt, die beiden Bildungssysteme in Ost und West
(Conradi [SPD]: Weil ihr mit der FDP keinen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Aus-
hinkriegt! Wieso müssen wir dafür herhal- gangspositionen zu evaluieren. Im Osten sind damit
ten? — Dr. Struck [SPD]: Gehen Sie doch mal grundlegende Reformen und eine Modernisierung
zur FDP hin! Was soll denn der Quatsch? der Bildungsstrukturen, der Bildungsinhalte und der
Reden Sie doch mit Herrn Lambsdorff!) Bildungsgänge verbunden.
Ich finde es einfach zu dünn und bedauerlich, daß Wichtige Vorentscheidungen hierfür sind im Eini-
Sie sich über die Philosophie aufregen, aber zum Nut- gungsvertrag getroffen worden. Ein Beispiel ist die für
zen eines solchen Gesetzes mit Blick auf die alten und den Bereich der beruflichen Bildung erreichte gegen-
pflegebedürftigen Menschen überhaupt keine kon- seitige Anerkennung der Abschlüsse. Sie gewährlei-
krete Aussage machen und lediglich Norbert Blüm stet Freizügigkeit und damit die Mobilität in — ich
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 223

Bundesminister Dr. Ortleb


betone — beiden Richtungen und auf längere Sicht Besonderes Augenmerk wird die Bundesregierung
die Gleichheit der Lebensverhältnisse. auch auf die Verbesserung der Qualität von For-
schung und Lehre an den Hochschulen im vereinten
Die vor uns liegenden Aufgaben in Ost und West Deutschland richten. Unsere Studenten sollen eine
werden von uns immense, auch finanzielle Anstren- qualifizierte Ausbildung in überschaubarer Studien-
gungen erfordern. Dies gilt insbesondere im Hinblick zeit und zu angemessenen Studienbedingungen er-
auf den notwendigen Erneuerungs- und Ausbaube- halten.
darf auf allen Ebenen des Bildungswesens in den
neuen Ländern, die dies aus eigener Kraft jetzt noch Mit Sorge betrachte ich die im internationalen Ver-
nicht allein leisten können. gleich überlangen Studienzeiten und das relativ hohe
Alter unserer Hochschulabsolventen. Die Organisa-
(Beifall bei der FDP) tion der Ausbildung muß es ermöglichen, daß Ausbil-
dungswege straffer und kürzer sein können. Ich spre-
Hier ist die Solidarität der alten Länder und des
che von „können" und nicht von „müssen", was keine
Bundes gefordert. Ich werde mich dafür einsetzen,
Rücksicht auf die individuellen Entscheidungen
daß der Beitrag des Bundes zur Bewäl tigung der Auf-
nimmt; ich möchte das nicht umgedeutet wissen.
gaben finanziell abgesichert wird.
Ich baue auf den natürlichen Drang jedes jungen
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) Menschen, bald ins Berufsleben treten zu wollen. Ich
Investitionen in Bildung und Wissenschaft sind Inve- baue aber auch auf die Wirksamkeit verstärkter An-
stitionen in eine bessere Zukunft. reize zu mehr Wettbewerb der Hochschulen in der
Lehre.
Die berufliche Aus- und Weiterbildung hat für die
Bundesregierung eine hohe Priorität. Ich werde den
erfolgreichen Kurs der Modernisierung und Qualitäts- Vizepräsident Becker: Herr Minister, gestatten Sie
verbesserung der beruflichen Bildung in den westli- eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?
chen Ländern fortsetzen. Nachhaltig trete ich für ein
Qualifizierungssystem ein, das sich im Prinzip an der Dr. Ortleb, Bundesminister für Bildung und Wissen-
inneren Differenzierung orientiert und der unter- schaft: Gern, bitte.
schiedlichen Leistungsfähigkeit junger Menschen
besser gerecht wird.
Kuhlwein (SPD): Herr Bundesminister, Sie sprachen
In den neuen Ländern wird es in der allernächsten von der notwendigen Verkürzung von Ausbildungs-
Zeit vor allem darum gehen, die Ausbildungsplätze zeiten. Der Bundeskanzler hat gestern in der Regie-
für die jungen Menschen vor dem Hintergrund der rungserklärung angekündigt, die Bundesregierung
ökonomischen Entwicklung zu sichern. Unter keinen werde sich um eine Verkürzung der Schulzeit bis zum
Umständen dürfen Ausbildungskapazitäten verloren- Abitur von 13 auf 12 Jahre bemühen. Würden Sie uns
gehen. Deshalb werde ich Handwerk und Mittelstand mitteilen, wie das angesichts der Zuständigkeit —
durch den weiteren Ausbau überbetrieblicher Be- Bund-Länder-Verhältnis — von der Bundesregierung
rufsbildungsstätten unterstützen. durchgesetzt werden soll?
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)
Dr. Ortleb, Bundesminister für Bildung und Wissen-
Bestehende Berufsschulen müssen dabei als wich tige schaft: Ich werde am Schluß meiner Ausführungen
Kapazitäten in ein Gesamtkonzept einbezogen wer- eine einschlägige Passage darüber haben. Vielleicht
den. warten Sie so lange noch ab.
Unter den gegebenen Umständen kann kein Zwei- (Zuruf von der FDP: Das fällt ihm aber
fel darüber bestehen, daß der Aufbau und die Siche- schwer!)
rung des dualen Systems der Berufsausbildung in den Ein Schwerpunkt der künftigen Maßnahmen im
neuen Ländern zusätzliche finanzielle Aufwendun- Hochschulbereich ist der Wiederaufbau und die Inte-
gen erfordert. gration der Hochschul- und Forschungslandschaft in
(Sehr wahr! bei der FDP) den fünf neuen Ländern und in Berlin. Wir sind dabei,
hierzu gemeinsam mit den Ländern ein Förderungs-
Ständige Erneuerung und ständiger Wandel in un- programm auszuarbeiten. Der Bundeskanzler hat dies
serer Gesellschaft machen Weiterbildung, besonders in seiner gestrigen Regierungserklärung bereits ange-
berufliche Weiterbildung, zu einer großen bildungs- kündigt. Leistungsfähige Hochschulen sind nämlich
politischen Aufgabe für die kommenden Jahre. Dies auch ein wichtiger Standortfaktor für die wirtschaftli-
gilt ganz besonders vor dem Hintergrund der Situa- che Attraktivität und Entwicklungsfähigkeit einer Re-
tion in den neuen Ländern, wo Demokratie und So- gion.
ziale Marktwirtschaft Weiterbildung in einer völlig
neuen Dimension notwendig machen. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in die-
sem Zusammenhang auch auf die derzeitige Diskus-
Diese Aufgabe wird angesichts der dort in den ver- sion um die sogenannte Abwicklung an den Hoch-
gangenen Jahrzehnten manifestierten Fehlorientie- schulen in den neuen Ländern eingehen.
rungen nicht leicht sein. Ich weiß, daß die Bereitschaft (Dr. Hoyer [FDP]: Wer das Wort erfunden
der Menschen zur Weiterbildung sehr groß ist. Dieses hat!?)
Potential gilt es zu nutzen. Ich werde den Aufbau
eines pluralen Weiterbildungssystems in den neuen — Es steht im Einigungsvertrag.
Ländern nachhaltig unterstützen. (Dr. Hoyer [FDP]: Leider!)
224 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991

Bundesminister Dr. Ortleb


Aggressive Formen der Auseinandersetzung lehne durch entsprechende Qualifikationen eröffnen. Im In-
ich ab. Es ist in meinen Augen nicht gerechtfertigt, die teresse der Mobilität des Austausches sowie einer en-
fachliche Qualifikation der vorhandenen Hochschul- geren Zusammenarbeit sind Bildung und Wissen-
lehrer pauschal in Frage zu stellen. Andererseits mag schaft im Prozeß der europäischen Einigung stärker zu
ich genausowenig etwa durch großzügige Absolu tion verankern.
fragwürdige Strukturen zementieren wollen. Der Europäische Binnenmarkt darf aber nicht den
(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Blick darauf verstellen, daß auch die Modernisierung
des Bildungs- und Wissenschaftssystems in Mittel-
Somit wird im Prozeduralen das eine oder andere und Osteuropa eine Aufgabe ist, der wir uns mithel-
noch überdacht, korrigiert oder verbessert werden fend zuwenden müssen. Ganz Europa muß nach mei-
können und müssen. nem Dafürhalten durch Begegnung, insonderheit
durch gemeinsames Lernen und Forschen zusammen-
Fazit: Fingerspitzengefühl und Sachkunde vor Ort wachsen.
sind gefragt. Ich bin zuversichtlich, daß die verant-
wortlichen Wissenschaftsminister die Problemlösung Die schwierigen Aufgaben der Bildungs- und Wis-
mit der notwendigen Sensibilität angehen. senschaftspolitik, die ich nur in groben Strichen skiz-
zieren konnte, sind nur gemeinsam von Bund und
Im übrigen wünsche ich mir auch im Westen einen Ländern zu lösen. Die Bundesregierung ist bereit, sich
gewissen Pioniergeist bei Studenten und Professo- hierbei im Geiste der Kooperation und des Föderalis-
ren. mus zu beteiligen. Nicht kleinliches Kompetenzge-
rangel, nicht Konfrontation, sondern sachbezogene
(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten Zusammenarbeit ist hierfür meine Devise.
der CDU/CSU)
Damit glaube ich, Herr Kuhlwein, auch die Rich-
Es sollte möglichst rasch zu einer angemessenen tung und die Methodik angegeben zu haben, in der
Durchmischung von Lehrkörpern und Studenten- bzw. mit der dieses Problem bewältigt werden soll.
schaft aus den verschiedenen deutschen Regionen (Kuhlwein [SPD]: Ich möchte wissen, was die
kommen! CSU dazu sagt!)
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten — Wir werden darüber reden müssen.
der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU —
Weiter halte ich einen beschleunigten Ausbau der Kuhlwein [SPD]: Ich glaube es auch!)
Fachhochschulkapazitäten mit ihren günstigen Stu-
dienzeiten und den guten beruflichen Perspektiven
für vordringlich. Dies entspricht auch der zunehmen- Vizepräsident Becker: Meine Damen und Herren,
den Nachfrage seitens der jungen Menschen. weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung lie-
Das Voranschreiten des europäischen Einigungs- gen nicht vor.
prozesses und die Umwälzungen in Mittel- und Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
Osteuropa erfordern ein starkes inte rnationales, ins- destages auf morgen, Freitag, den 1. Februar 1991,
besondere europapolitisches Engagement in der Bil- 9 Uhr ein.
dungs- und Wissenschaftspolitik. Unser Bildungswe-
Die Sitzung ist geschlossen.
sen muß den jungen Menschen die sich daraus bieten-
den beruflichen und gesellschaftlichen Chancen (Schluß der Sitzung: 22.29 Uhr)
Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 225*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage entschuldigt bis


Abgeordnete(r) Fraktion
Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich

Kittelmann CDU/CSU 31. 01. 91 *


Abgeordnete(r) Fraktion
entschuldigt bis Klinkert CDU/CSU 31.01.91
einschließlich Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 31. 01. 91
Antretter SPD 31. 01. 91 * Matschie SPD 31.01.91
Bindig SPD 31. 01. 91 * Dr. Müller CDU/CSU 31. 01. 91 *
Frau Blunck SPD 31. 01. 91 * Dr. Neuling CDU/CSU 31. 01. 91
Böhm (Melsungen) CDU/CSU 31. 01. 91 * Pfuhl SPD 31.01.91
Frau Brudlewsky CDU/CSU 31. 01. 91 Reddemann CDU/CSU 31. 01. 91 *
Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 31. 01. 91 * Repnik CDU/CSU 31.01.91
Buwitt CDU/CSU 31.01.91 Dr. Schäuble CDU/CSU 31. 01. 91
Erler SPD 31.01.91 Dr. Scheer SPD 31. 01. 91 *
Frau Eymer CDU/CSU 31. 01. 91 Schmidbauer CDU/CSU 31.01.91
Dr. Feldmann FDP 31. 01. 91 * von Schmude CDU/CSU 31. 01. 91 *
Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Simm SPD 31. 01. 91
Francke (Hamburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Soell SPD 31. 01. 91 *
Gattermann FDP 31.01.91 Dr. Sperling SPD 31. 01. 91
Dr. Gysi PDS 31. 01. 91 Spilker CDU/CSU 31.01.91
Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 31. 01. 91 Steiner SPD 31. 01. 91 *
Dr. Holtz SPD 31. 01. 91 Frau Wieczorek-Zeul SPD 31. 01. 91
Frau Wollenberger Bündnis 31. 01. 91
90/GRÜNE
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Wonneberger CDU/CSU 31.01.91
lung des Europarates Zierer CDU/CSU 31. 01. 91 *

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