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Plenarprotokoll 13/102

D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht

102. Sitzung

Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Inhalt:

Zusatztagesordnungspunkt 5: Rudolf Scharping SPD 9012 D

Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 9016 D


Abgabe einer Erklärung der Bundes-
regierung: Programm für mehr Wachs- Nächste Sitzung 9019 D
tum und Beschäftigung

Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler . . . . 8975 B Anlage 1


Liste der entschuldigten Abgeordneten . 9021* A
Oskar Lafontaine, Ministerpräsident (Saar-
land) 8983 A
Anlage 2
Zeitige Vorlage wichtiger EU-Dokumente
Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU .. 8991 A
in deutscher Sprache; Lösung der Eigen-
tumsfragen zwischen Deutschland und
Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ Polen
DIE GRÜNEN 8999 A
MdlAnfr 19, 20 - Drs 13/4403 -

Dr. Egon Jüttner CDU/CSU


Dr. Wolfgang Gerhardt F.D.P 9003 A
SchrAntw StMin Dr. Werner Hoyer AA 9021* D

Dr. Gregor Gysi PDS 9005 D


Anlage 3
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 9009 A Amtliche Mitteilungen 9022* C
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102. Sitzung

Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Verehrte Frau
Herren, die Sitzung ist eröffnet. Präsidentin, ich bin für alles schuldig, aber für das
heute nicht.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
F.D.P.)
Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-
rung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eben, deswegen
Programm für mehr Wachstum und Beschäfti- habe ich es auch schon an den Vorsitz gezogen.
gung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Vielen Dank.
für die Aussprache im Anschluß an die Regierungser-
klärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu Meine Damen und Herren, das Konjunkturtempo
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so be- hat sich in Deutschland spürbar verlangsamt. Das
schlossen. von vielen nationalen und internationalen Experten
ursprünglich erwartete reale Wachstum von einein-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung halb Prozent für dieses Jahr werden wir nicht errei-
hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. chen. Dies werden die Wirtschaftsforschungsinstitute
in den nächsten Tagen in ihrem Frühjahrsgutachten
sicherlich so bestätigen.
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Nach dem Stand unserer Diskussion erwarten wir
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe in der Bundesregierung jetzt für 1966 ein reales
heute die Aufgabe, eine Erklärung der Bundesregie- Wachstum in der Gegend von dreiviertel Prozent - -
rung zu dem Thema „Programm für mehr Wachstum
und Beschäftigung" abzugeben. Ich denke, unge- (Lachen und Beifall bei der SPD und der
achtet der Gegensätze in der Auseinandersetzung zu PDS - Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜND-
diesem Thema ist es sicher wichtig, daß wir uns in NIS 90/DIE GRÜNEN]: 1996, Herr Bundes-
dieser Debatte gemeinsam vor Augen halten, in wel- kanzler! - Unruhe)
chen Notwendigkeiten unser Land in diesem Augen- - Entschuldigung, 1996. Ich bin aber gerne bereit,
blick steht und wie wichtig auch eine nüchterne Ana- weil mir die Sache wirklich wichtig ist, zu warten, bis
lyse der Gegebenheit ist. eine gewisse Möglichkeit der Verständigung hier
eintritt.
Das Konjunkturtempo - -
(Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
(Unruhe bei der SPD) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS)
- Jetzt habe ich noch gar nichts gesagt, was Sie er-
Wir rechnen in der Bundesregierung nicht mit ei-
regt, und Sie sind schon erregt.
ner Rezession in Deutschland. Die allermeisten natio-
nalen und internationalen Experten erwarten ein
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU
Wiederanziehen der Konjunktur in der zweiten Jah-
und der F.D.P.)
reshälfte. Wir sind ganz sicher, daß sich dies auch in
den Zahlen für 1997 positiv niederschlagen wird.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es ist ein akusti- Meine Damen und Herren, für mich ist auch klar,
sches Problem, wir müssen den Ton ein wenig ausju- daß trotz aller Schwierigkeiten die Voraussetzungen
stieren, man hört das nicht. für eine Verbesserung der Konjunktur günstig sind:
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


In Deutschland herrscht bei einer Inflationsrate Wir haben uns im „Bündnis für Arbeit und zur
von eineinhalb Prozent faktisch Preisstabilität. Die Standortsicherung" das Ziel gesetzt, die Arbeitslosig-
Bundesbank hat die Leitzinsen auf das niedrigste Ni- keit bis zum Jahre 2000 auf die Hälfte zu reduzieren.
veau seit Kriegsende gesenkt. Die für die Investitio- Das ist ein ehrgeiziges Ziel, aber es ist ein erreichba-
nen entscheidenden langfristigen Zinsen haben auch res Ziel,
im internationalen Vergleich ein sehr niedriges Ni-
veau erreicht. Bei einem Vergleich der Wirtschafts- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Luftblasen!)
gipfelländer hat Deutschland heute die niedrigsten wie wir in der Vergangenheit bewiesen haben.
Zinsen nach Japan. Sie liegen spürbar unter den
amerikanischen Zinsen. In der Tarifrunde 1996 zeich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
nen sich beschäftigungsfreundlichere Vereinbarun- Lachen bei der SPD und der PDS)
gen ab, und der Welthandel zeigt einen soliden Auf-
wärtstrend. Erreichbar ist dieses Ziel, wenn alle Verantwortli-
chen auf den verschiedensten Ebenen - ob das Poli-
Meine Damen und Herren, unabhängig vom kurz- tik, Unternehmen oder Tarifparteien sind - dabei ihre
fristigen Auf und Ab der Konjunktur stehen Wi rt Aufgaben wahrnehmen. Die Menschen im Land er-
-schaftundGel rBspubikvode warten zu Recht, daß alle Verantwortlichen in der
Aufgabe, sich auf die dramatischen Veränderungen Gesellschaft die Herausforderungen annehmen und
im internationalen Wettbewerb einzustellen und - bereit sind, die notwendigen Anpassungen auf den
das ist die eigentliche Aufgabe - den Standort Weg zu bringen.
Deutschland für das 21. Jahrhundert vorzubereiten.
Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirt-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schaft betreffen alle Länder. Wer die Diskussionen in
den USA, in Japan oder bei unseren europäischen
Die jetzt zu beobachtende Konjunkturschwäche Nachbarn verfolgt, weiß, daß in allen Industrielän-
und der rasante Strukturwandel haben tiefe Spuren dern in ähnliche Richtungen gedacht und gehandelt
in unserer Gesellschaft und vor allem auf dem Ar- wird. Auch in all diesen Ländern stellen sich die Fra-
beitsmarkt hinterlassen. gen, welche Auswirkungen die Globalisierung der
(Zuruf von der SPD: Ihre Politik war das!) Märkte auf Wachstum und Beschäftigung im jeweili-
gen Land hat, wie die Zukunft unter den veränderten
- Ich weiß nicht, Sie können das als Inszenierung se- Wettbewerbsbedingungen gesichert werden kann,
hen, wenn Sie glauben, auf diese A rt zu stören. Ich wie die sozialen Sicherungssysteme vor dem Hinter-
habe nichts dagegen, daß ein Millionenpublikum im grund starker Verschiebungen im Altersaufbau der
deutschen Fernsehen Ihre Reaktion jetzt in sich auf- Bevölkerung und ohne Überforderung der wirt-
nimmt. schaftlichen Leistungskraft weiterentwickelt werden
können, welche Veränderungen in Organisation und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Arbeitsabläufen durch die neuen Technologien, etwa
Die vorübergehende Konjunkturschwäche und der im Telekommunikationsbereich, notwendig sind und
rasante Strukturwandel - ich sage das noch einmal - wie Bildung und Ausbildung verbessert werden müs-
haben tiefe Spuren auf unserem Arbeitsmarkt hinter- sen, um für die Herausforderungen der Zukunft ge-
lassen. Die Arbeitslosigkeit hat mit über 4 Millionen rüstet zu sein.
ein Ausmaß erreicht, das wir auf gar keinen Fall ak- Viele Länder, man kann sagen, alle Länder in un-
zeptieren werden. Der Abbau der Arbeitslosigkeit ist serer Nachbarschaft stehen vor diesen Notwendig-
die wichtigste Aufgabe der deutschen Innenpolitik. keiten genauso wie wir in Deutschland. Manche von
Wir haben die Erfahrung machen müssen, daß ein ihnen haben bereits strukturelle Veränderungen vor-
konjunktureller Aufschwung keineswegs automa- genommen, die sie selbst bis vor kurzem für nicht
tisch auch zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit durchsetzbar gehalten haben.
führt; das ist eine Erfahrung der letzten Jahre. Wir Ich will auf das Beispiel Schweden verweisen. Dort
alle wissen ebenso, daß nach jeder Konjunktur- wurden die Volksrenten gekürzt, die Entgeltfortzah-
schwäche ein höherer Sockel - das ist das eigentlich lung im Krankheitsfall wurde für die ersten Tage dra-
Besorgniserregende - an Arbeitslosigkeit zurückge- stisch gesenkt, Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-
blieben ist. hilfe wurden zurückgeführt.
Die Menschen in Deutschland haben längst begrif- (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
fen, daß wir echte, durchgreifende Veränderungen in DIE GRÜNEN]: Aber die Vermögensteuer
Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, um mehr wurde nicht abgeschafft, sondern erhöht!)
Wachstumsdynamik zu ermöglichen und Beschäfti-
gungshemmnisse zu beseitigen. Die Bürger wissen - Herr Abgeordneter, Ihr Beitrag ist immer der glei-
auch, daß dies nicht ohne nachhaltige Sparmaßnah- che: laut und wenig bedeutungsvoll.
men geht. Durch bloßes Festhalten an Besitzständen
werden wir keine grundlegende Wende am Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
markt schaffen. In unserem Nachbarland, in den Niederlanden,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wurden enorme Veränderungen der Strukturen vor-
genommen. In Frankreich ist eine ähnliche Diskus-
Dabei ist Sparen natürlich kein Selbstzweck; wir sion im Gange. Ich könnte die Liste noch weiter fo rt
müssen sparen, um die Zukunft zu sichern. -setz n.
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
In einer Weltwirtschaft, in der nationale Grenzen rascher die notwendigen Innovationen auf den Weg
ökonomisch immer weniger eine Rolle spielen, gel- bringen und vor allem die Arbeitswelt flexibler ma-
ten eben andere Regeln, als wir dies durch eine chen.
lange Zeit auch bei uns in Deutschland gewöhnt wa-
ren. Heute müssen wir uns mehr denn je - vor allem Die Bundesregierung hat mit dem 50-Punkte-
als eine der großen Exportnationen der Erde - auf Aktionsprogramm Ende Januar gehandelt.
den internationalen Wettbewerb einstellen. Das muß (Lachen bei Abgeordneten der SPD)
Konsequenzen haben für die Steuern, für die Abga-
ben, für Lohn- und Lohnzusatzkosten sowie auch für Dieses Programm ist ein Gesamtkonzept, das auf
viele Regulierungen. strukturelle Veränderungen zielt und jetzt Punkt für
Punkt umgesetzt wird. Einige der wichtigen Maß-
Ich halte diese notwendigen Korrekturen für zwin- nahmen, zum Beispiel zusätzliche Liquiditätshilfen
gend, um Zukunft zu sichern. Dies erfordert, daß wir für junge Unternehmen in der Wachstumsphase, sind
uns umstellen, daß wir auch in diesem oder jenem bereits in Kraft getreten.
Fall Ansprüche zurückstellen. Ich weiß sehr wohl,
daß das mit Härten verbunden ist. Aber die unab- Vor allem, meine Damen und Herren - es ist wich-
weisbaren Korrekturen, meine Damen und Herren, tig, das zugrunde zu legen -, zeichnet sich für alle
sind der einzige Weg, unsere Wirtschaft zu stärken, öffentlichen Haushalte im Jahre 1997 ein zusätzli-
mehr Arbeitsplätze zu ermöglichen und eine sichere cher Konsolidierungsbedarf in der Größenordnung
Zukunftsgrundlage für unsere sozialen Sicherungs- von rund 50 Milliarden DM ab. Auf den Bundeshaus-
systeme zu schaffen. halt 1997 entfallen davon voraussichtlich rund
25 Milliarden DM. Wie wir wissen, sind die Länder
Zu diesem Bild gehört auch, daß wir in einem Land und die Gemeinden in gleicher Weise von konjunk-
leben, das ein Drittel seines Sozialprodukts für so- turbedingten Mehrausgaben und Mindereinnahmen
ziale Leistungen ausgibt, in dem die Arbeitnehmer betroffen. Deswegen ist es bei allen Gegensätzen im
kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub haben als in politischen Raum absolut notwendig, daß wir versu-
fast allen Ländern, in dem die Renten so hoch sind chen, eine gemeinsame Konsolidierungsstrategie für
wie in kaum einem anderen Land, in dem die Höhe Bund, Länder, Gemeinden sowie für die Sozialversi-
der Lohnersatzleistungen und der Sozialhilfe in den cherungssysteme zu gewinnen.
allermeisten Fällen Not verhindert.
Deshalb haben die Koalitionsfraktionen gestern
Wir müssen das Verhältnis sozialer Leistungen das Programm für mehr Wachstum und Beschäfti-
zur wirtschaftlichen Leistungskraft unter veränder- gung beschlossen und der Öffentlichkeit vorgestellt.
ten weltwirtschaftlichen und demographischen Be- Es ist ein Gesamtkonzept, das Investitionen erleich-
dingungen neu ausbalancieren und dauerhaft si- tern, Wachstum stärken und die Beschäftigung erhö-
chern. Dies erfordert, die sozialen Leistungen an die hen soll. Nur durch Haushaltskonsolidierung, das
wirtschaftliche Leistungskraft anzupassen und die heißt eine sparsame Haushaltspolitik und Einsparun-
Hilfen - das ist besonders wichtig - auf die wirklich gen auch bei den Sozialversicherungen, schaffen wir
Bedürftigen zu konzentrieren. die Voraussetzungen, um zu hohe Steuern und Ab-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gaben in Deutschland zu senken und Arbeitsplätze
in Deutschland wieder attraktiver zu machen.
Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt nicht
handeln, drohen weitere Arbeitsplatzverluste, und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
der beschäftigungsfeindliche Weg zu immer höheren Nur wenn wir diesen Weg entschlossen gehen,
Steuern und Abgaben würde sich fortsetzen. Dies ist stärken wir auch die wi rtschaftliche Basis für die Fi-
für die Koalition auf gar keinen Fall der Weg der Poli- nanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme. Es
tik. führt doch kein Weg an der einfachen Erkenntnis
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vorbei, daß nur verteilt werden kann, was zuvor erar-
beitet wurde.
Es kann nicht unsere Politik sein, die Tarifparteien
zur Lohnzurückhaltung aufzufordern und dann die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
möglichen positiven Arbeitsplatzeffekte mit steigen- Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das erar-
den Abgaben wieder zunichte zu machen. Mehr beiten die Arbeitnehmer!)
staatliche Schulden oder höhere Steuern würden im
Ich bin ganz sicher, daß wir mit diesen Anstren-
übrigen - das ist eine Erfahrung, die jeder kennt -
gungen auch das Ziel erreichen, die Staatsquote bis
gerade auch jene belasten, auf deren Leistungsbe-
zum Ende dieses Jahrzehnts, also in vier Jahren, wie-
reitschaft unser Land besonders angewiesen ist: die
der auf 46 Prozent zu senken. Dies erfordert eine
Facharbeiter, den selbständigen Mittelstand, all jene
strikte Ausgabendisziplin bei Bund, Ländern und
Bereiche, die in ihrer Kreativität und mit ihrer tägli-
Gemeinden und auch im Bereich der Sozialversiche-
chen Arbeit die sozialen Leistungen überhaupt erst
rung.
ermöglichen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich weiß, daß solche Ziele wie immer sofort ange-
zweifelt werden. Es wird dann gesagt, dies sei nie zu
Um mehr Arbeitsplätze aufzubauen, müssen wir erreichen. Ein einfacher Rückblick auf die letzten
den Standort attraktiv machen, die Belastungen der Jahrzehnte zeigt, daß diese Skepsis nicht angebracht
Wirtschaft abbauen, Steuern, Abgaben und Lohnko- ist. Wir haben zwischen Ende 1982 und 1989 den An-
sten senken, überflüssige Regulierungen beseitigen, teil der Staatsausgaben am Bruttosozialprodukt, die
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Staatsquote, schon einmal von über 50 Prozent auf dieser Koalition wären diese Transfers überhaupt
46 Prozent gesenkt. nicht möglich gewesen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Wir haben - dies will ich besonders in diesen Ta- Auch das sage ich hier gerne noch einmal klar und
gen in Erinnerung rufen, wo aus naheliegenden deutlich, weil es angesichts so mancherlei Verhet-
Gründen von bestimmten Kreisen historische Erfah- zungspotentiale wichtig ist, diese Erinnerung nicht
rungen der jüngsten Zeit gerne vergessen oder ver- untergehen zu lassen.
nebelt werden - gleichzeitig in mehreren Schritten in
diesen Jahren eine Steuerreform vorgenommen und (Oh-Rufe bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
die Steuerzahler um rund 60 Milliarden DM entla- DIE GRÜNEN)
stet.
- Ich verstehe überhaupt nicht, daß Sie, wenn ich
(Lachen und Zurufe von der SPD: Aber wel ganz allgemein von Verhetzungspotentialen spreche,
che denn?) sofort aufschreien.
- Sie waren ja zum Teil dabei. Wenn Sie dabei waren, (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
wissen Sie: Es war eine ungeheuer erfolgreiche Poli- F.D.P.)
tik.
Offensichtlich fühlen Sie sich angesprochen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Lachen bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten
der CDU/CSU - Ing rid Matthäus-Maier
- Meine Damen und Herren, ich habe nicht den Ehr-
[SPD]: Vor den Landtagswahlen hieß das
geiz, daß Sie dem Satz „Es war eine ungeheuer er-
alles anders!)
folgreiche Politik" zustimmen, aber die Wähler ha- -
ben ihm zugestimmt. Die Wahrheit ist doch: Ohne die notwendigen und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von uns voll getragenen Entscheidungen, auch Op-
fer, für die deutsche Einheit würde die Staatsquote
Und so stehe ich immer noch vor Ihnen, und Sie müs- heute bei 45 Prozent liegen, und die Belastung der
sen mich immer noch ertragen. Ihre lauten Zwischen- Bürger mit Steuern und Abgaben betrüge nicht
rufe haben Ihnen in diesen Jahren nichts genutzt. 43 Prozent, sondern 41 Prozent. Das heißt, sie wäre
deutlich niedriger. Wir beklagen dies nicht; denn wir
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sind glücklich, daß die deutsche Einheit möglich war.
In diesem Zeitraum - man kann es nicht deutlich
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
genug sagen - sind mit dieser Politik damals in der
alten Bundesrepublik über 3 Millionen zusätzliche Es ist wichtig, daß wir alle in Deutschland erken-
Arbeitsplätze entstanden. Ich habe gar keinen Zwei- nen, daß jede Mark, in den neuen Ländern vernünf-
fel, daß wir das gleiche auch jetzt erreichen werden. tig investiert, eine Abschlagszahlung auf eine ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) meinsame glückliche Zukunft der Deutschen ist.

Wir hatten 1990 das Glück der deutschen Einheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Der wirtschaftliche Umbau und die soziale Flankie-
Meine Damen und Herren, unsere Arbeitsplätze
rung des dramatischen Strukturwandels in den
stehen im internationalen Standortwettbewerb.
neuen Ländern wurden mit hohen Transferzahlun-
Wenn Produktion in Deutschland zu teuer wird, wan-
gen von West nach Ost unterstützt.
dert sie zu Lasten der Arbeitsplätze ins Ausland ab
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Von Ost oder - auch das erleben wir - Produktionen unter-
nach West! - Lachen bei der CDU/CSU und bleiben ganz. Die Bedeutung von grenzüberschrei-
der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD tenden Direktinvestitionen wächst in einem unge-
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wöhnlichen Tempo. Wir wissen auch - es hat keinen
Sinn, darüber zu klagen; das ist eine Realität -: Für
- Ich habe ja nichts dagegen, daß Sie immer noch im die international operierenden Unternehmen ist die
alten Glauben verharren, aber das Ganze wird des- Präsenz auf den Wachstumsmärkten wichtig. Nur
wegen nicht überzeugender. Die Geschichte hat wer in den großen Handelszusammenschlüssen wie
über das, was Sie hier vertreten, längst ihr Urteil ge- Europäische Union, NAFTA, Mercosur und im asiati-
sprochen. schen Raum präsent ist, nimmt an der Wachstumsdy-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) namik dieser Regionen teil. Das ist auch ein Beitrag
zur Arbeitsplatzsicherung in Deutschland. In diesem
Wir, und zwar die Bürger und die Steuerzahler der Sinne - nur in diesem Sinne - sind die wachsenden
alten Bundesrepublik - das wi ll ich dankbar erwäh- Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen zu
nen -, haben diese hohen Transferzahlungen unter- begrüßen. Aber wir müssen uns über das vergleichs-
stützt. Die gesamten öffentlichen Leistungen für die weise geringe Engagement ausländischer Unterneh-
neuen Länder betrugen im Zeitraum von 1991 bis men in Deutschland Sorgen machen. Hier besteht
1995 netto 615 Milliarden DM. Ohne - das ist wichtig Handlungsbedarf. Das Investieren und Schaffen von
festzustellen; ich tue dies mit Stolz - die vorausge- Arbeitsplätzen in Deutschland muß deshalb attrakti-
gangenen Konsolidierungsarbeiten der 80er Jahre ver gemacht werden.
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Es wird in Deutschland sehr viel mehr Arbeits- um mehr Beschäftigung zu schaffen und die Arbeits-
plätze geben, wenn die Arbeitskosten niedriger sind. losigkeit wirksam zu bekämpfen. Dabei ist eine ent-
Es ist kein Zufall, daß im Dienstleistungsbereich hier- scheidende Voraussetzung, daß wir alles unterneh-
zulande viel weniger Arbeitsplätze angeboten wer- men, um den Mittelstand zu stärken;
den als in anderen Ländern. Wir alle - das gilt für die
politisch Verantwortlichen, für die Tarifparteien und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Unternehmen - haben - das sollte man offen zuge- denn die kleinen und mittleren Unternehmen sind
ben - in der Vergangenheit zu einem starken Anstieg die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Land. Zwei
der Arbeitskosten beigetragen. Dies gilt für die Tarif- Drittel aller Beschäftigten arbeiten in diesem Be-
löhne, aber das gilt noch mehr für die stark angestie- reich. Auch das ist, wie ich denke, eine positive Er-
genen Lohnzusatzkosten. Die Bundesregierung ist fahrung dieser Jahre: Zwischen 1990 und 1995 sind
sich deshalb mit der Wirtschaft und den Gewerk- im Mittelstand knapp eine Million neuer Arbeits-
schaften einig, daß der Anstieg der Lohnzusatzko- plätze geschaffen worden. Wahr ist auch, daß gleich-
sten gebremst werden muß. Dabei sind Tarifparteien zeitig die Großunternehmen in unserem Lande unter
und Betriebspartner ebenso in der Verantwortung dem Druck des internationalen Wettbewerbs die
wie die Politik. Zahl ihrer Beschäftigten verringert haben.
Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Beiträge zur
Wenn wir also mehr Arbeitsplätze schaffen wollen,
Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter
dann müssen wir die Startchancen für Existenzgrün-
40 Prozent zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen,
der und junge Unternehmen in Deutschland verbes-
müssen wir unsere sozialen Sicherungssysteme auf
sern und die bestehenden Bet riebe von Kosten und
die Herausforderungen der Zukunft einrichten. Es
Regulierungen entlasten. Gerade im Bereich der klei-
geht dabei überhaupt nicht um den Abbau des So-
nen und mittleren Unternehmen gilt es, Arbeits- und
zialstaats, sondern es ist die Pflicht verantwortungs-
Einstellungshemmnisse abzubauen. Wer häufig mit
voller Politik, immer wieder kritisch zu fragen: Gibt
Handwerkern und mittelständischen Unternehmern
es Regelungen, die zum Mißbrauch einladen und
spricht, weiß, daß. viele von ihnen in der Einstellung
deshalb geändert und abgeschafft werden müssen?
neuer Arbeitnehmer ein Risiko sehen. Sie fürchten
Wenn ich, um das klarzustellen, von Mißbrauch rede,
das Risiko langwieriger Arbeitsgerichtsprozesse und
meine ich nicht nur Mißbrauch im Bereich der Sozial-
unkalkulierbarer Kosten, die ihnen entstehen kön-
systeme, sondern in gleicher Weise das Erschleichen
nen. Deshalb - und das ist der falsche Weg - setzen
von Subventionen und Steuerbetrug.
sie lieber auf Überstunden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Bundesregierung und die Koalition sind nach
Wir müssen uns weiter kritisch fragen: Wie können eingehenden Beratungen zu dem Ergebnis gekom-
wir soziale Leistungen so gestalten, daß sie zur Ar- men, den Schwellenwert des Kündigungsschutzge-
beit ermutigen und nicht den Willen, zu arbeiten und setzes, der gegenwärtig für Bet riebe mit mehr als
sich zu engagieren, aushöhlen? fünf Arbeitnehmern gilt, auf zehn Beschäftigte anzu-
Ich halte es jedenfalls für richtig und auch für un- heben.
sere Gesellschaft unverzichtbar, daß der Satz gelten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
muß: Wer arbeitet, muß mehr bekommen als jemand, Zurufe von der SPD)
der nicht arbeitet.
Wir sind sicher, dies liegt im Interesse der Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) platzsuchenden, und wir sind sicher, wir werden sehr
Wenn dieser Grundsatz gilt, dann muß er Konse- rasch erleben, daß aus dieser Entscheidung heraus
quenzen haben. Dann können wir es beispielsweise die Zahl der Arbeitnehmer in kleinen Bet rieben zu-
- da sollten wir uns doch eigentlich einig sein - nicht nehmen wird.
länger hinnehmen, daß ein Sozialhilfebezieher zu-
mutbare Arbeit - zumutbare! - ablehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Wer Arbeitsplätze von Kosten entlasten und neue
Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kann er doch Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen will, kommt,
nicht! Steht doch jetzt schon im Gesetz!) ob er es will oder nicht, auch am Thema der Lohnfort-
zahlung nicht vorbei. Denn die Lohnfortzahlung im
Dann müssen wir Anreize schaffen, damit sich Arbeit Krankheitsfall ist ein wesentlicher Bestandteil der
auch dann für den einzelnen lohnt, wenn dessen Er- stark gestiegenen Lohnzusatzkosten. Wie Betriebs-
werbseinkommen sein Sozialeinkommen nicht we- praktiker und Arbeitnehmer sowie Bet riebsräte
sentlich übersteigt. Hier haben wir wichtige und, wie selbst wissen, ist sie zudem anfällig für eine miß-
ich denke, richtige Reformen auf den Weg gebracht. bräuchliche Inanspruchnahme.
Sie stehen jetzt im Vermittlungsausschuß zur Diskus-
sion; ich hoffe, daß wir do rt zu vernünftigen Einigun- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ist doch
gen kommen. nicht wahr!)
Meine Damen und Herren, notwendige Fragen Unbestritten ist, daß die Verringerung betriebli-
stellen sich auch für den Bereich des Arbeitsrechts. cher Fehlzeiten - das gehört ebenfalls in diese Be-
Es ist unbestreitbar, daß wir trotz erkennbarer Fo rt trachtung - auch und nicht zuletzt eine Frage von
-schritemFlxbäaufdAreitsmkb- Personal- und Betriebsführung sowie Betriebsklima
chen. Mehr Flexibilität ist eine Grundvoraussetzung, ist. In vielen Betrieben in unserem Land gibt es sehr
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Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


praktische Lösungen, die zu einem deutlichen Rück- selbst - nicht davon entbinden, die notwendigen Ent-
gang der Zahl der Krankmeldungen geführt haben. scheidungen, wenn ein Konsens nicht möglich ist,
herbeizuführen.
Auf der anderen Seite, meine Damen und Herren,
kann aber niemand übersehen, daß die Entgeltfort- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
zahlung jährlich Kosten in Höhe von 60 Milliarden
DM für unsere Wi rtschaft verursacht. Dies erhöht die Die Bundesregierung und vor allem ich selbst wer-
Lohnkosten und belastet Arbeitsplätze. den alles tun, um bei künftigen Gesprächen im Rah-
men dieser Runde zu weiteren positiven Ergebnissen
Deshalb kann die Politik im Interesse der Wettbe- zu kommen.
werbsfähigkeit des Standorts Deutschland und der
Ich will in diesem Zusammenhang eine kurze Be-
Schaffung neuer Arbeitsplätze diese Frage nicht ein-
merkung zu einem Thema machen, das jetzt eben-
fach ignorieren, nachdem - ich füge dies ausdrück-
falls diskutiert wird, nämlich zur Frage der Gestal-
lich hier hinzu - die Tarifparteien leider bisher keine
Lösung gefunden haben. tung der Arbeitswelt und der Arbeitsbedingungen
und inwieweit das Instrument des Flächentarifvertra-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - ges hierfür ein geeignetes Instrument ist. Ich sage
Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Woran liegt das klar: Ich setze darauf, daß der Flächentarifvertrag
denn?) weiterentwickelt werden kann
Ich bedauere dies, und ich wünsche mir, daß die Ta- (Dr. Norbert Wieczorek [SPD]: Richtig!)
rifparteien, die ja hier auch in Zukunft eine entschei- - dies ist auch die Meinung führender Gewerkschaft-
dende Verantwortung haben, die notwendigen Si- ler und auch führender Unternehmer in der Bundes-
gnale setzen. Ich weiß um den Widerstand, vor allem republik - und daß aus dieser Weiterentwicklung
auch der Gewerkschaften, in dieser Frage, und ich gute Beiträge zur Beschäftigungssicherung, zum Be-
kenne auch die Entstehungsgeschichte der Lohnfort- schäftigungsaufbau und damit zum sozialen Frieden
zahlung. Ich weiß, was diese Entscheidung bedeutet. geleistet werden können.
Ich will deshalb auf zwei Gesichtspunkte beson- Meine Damen und Herren, wenn im Eifer des Ge-
ders hinweisen: fechts der eine oder andere jetzt sagt, dies sei alles
Erstens wird nicht in bestehende Tarifverträge ein- hinfällig, dann leugnet er die wichtige Erfahrung aus
gegriffen. Für über 80 Prozent der Arbeitnehmer ist der Geschichte der Bundesrepublik in den letzten
die Lohnfortzahlung tarifvertraglich geregelt, und 40 Jahren. Zu den Vorteilen des Standorts Deutsch-
wir achten und respektieren die Tarifautonomie. Ich land gehörte bei allen streitigen Auseinandersetzun-
sage noch einmal: Wir setzen allerdings darauf, daß gen, daß es zu allen Zeiten - manchmal kurzzeitig
die Tarifparteien in eigener Verantwortung tragfä- unterbrochen - eine Gesprächsmöglichkeit zwischen
hige Lösungen finden und umsetzen. Gewerkschaften und Unternehmern gab. Ich kann
nur davor warnen, diese Erfahrung in den Wind zu
Zweitens. Es ist das Recht und, wenn es notwendig schlagen. Das ist in diesem Zusammenhang eine ent-
ist, auch die Pflicht der Politik, auch gegen Wider- scheidende Frage.
stände die Interessen Arbeitssuchender durchzuset-
zen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, wenn es um die Zu-
kunft geht, zeigt es sich in einer besonders eindeuti-
Für mich sind und bleiben Tarifautonomie und gen Weise, inwieweit wir fähig sind, Zukunftssiche-
starke Tarifpartner zentrale Pfeiler einer zukünftig rung im Bereich der langfristigen Sicherung des Ge-
positiven Entwicklung. Sie sind ein ganz entschei- nerationenvertrages zu ermöglichen. Das von Koali-
dender Anker für die Stabilität unseres Landes. Dies tion und Bundesregierung gestern vorgestellte Pro-
haben ja auch Wirtschaft, Gewerkschaften und die gramm enthält auch Maßnahmen zur Stabilisierung
Bundesregierung im „Bündnis für Arbeit und zur des Beitragssatzes und zu strukturellen Reformen.
Standortsicherung" am 23. Januar noch einmal ge- Dabei möchte ich an erster Stelle hervorheben, daß
meinsam bekräftigt. Wir haben in neun Gesprächen unsere Rentenpolitik verläßlich bleibt. Die Renten
mit den Spitzenrepräsentanten von Wi rtschaft und werden zum 1. Juli 1996 erhöht, und sie werden auch
Gewerkschaften bereits viel auf den Weg gebracht, im kommenden Jahr - entgegen anderslautenden
wie ich dankbar vermerken will, zum Beispiel das Behauptungen - der Nettolohnentwicklung folgen.
Programm für Langzeitarbeitslose, die Lehrstellenzu- Kein Rentner muß um seine Rente fürchten.
sage der Wirtschaft, die Offensive für mehr Selbstän-
digkeit und die Lösung der sehr schwierigen Frage (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
der Frühverrentung. Natürlich - das war doch gar Zurufe von der SPD)
nicht anders zu erwarten - gab es und gibt es Felder, - Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Dies ist doch ein
auf denen wir nicht einig sein können, wie etwa in Punkt, bei dem Sie einmal klatschen könnten. Sie ha-
der Frage der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, ben doch angeblich das Interesse der Rentner im
wo wir unterschiedlicher Meinung waren und sind. Auge.
Es ist notwendig, daß wir versuchen, einen Kon- Aber, meine Damen und Herren, wir müssen offen
sens zu erreichen; aber dieses Streben nach Konsens darüber sprechen, daß wir der jetzigen jüngeren Ge-
kann die politisch Verantwortlichen - das gilt vor al- neration eine verläßliche Perspektive für ihre Alters-
lem auch für die Bundesregierung und für mich sicherung geben müssen. Wir stehen doch - und je-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8981

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


der spürt dies - unbestreitbar vor einer dramatischen übergreifenden Kompromiß gelingen, so wie dies
Veränderung unserer Gesellschaft, nicht zuletzt im auch in der Vergangenheit möglich war.
Altersaufbau.
Die Zeit drängt, und deswegen haben wir be-
Als die Rentenversicherung vor über 100 Jahren schlossen, daß diese Kommission ihre Ergebnisse bis
eingeführt wurde, wurde das Renteneintrittsalter auf zum Ende dieses Jahres, 1996, vorlegt. Wir können
65 Jahre festgelegt. Damals betrug die durchschnitt- das dann gemeinsam gestalten, indem wir diese The-
liche Lebenserwartung 45 Jahre. Bis heute ist die men mit allen Interessierten aus Wissenschaft, Poli-
durchschnittliche Lebenserwartung auf über 75 Jahre tik, Wirtschaft und Gesellschaft ausführlich diskutie-
angestiegen. Deshalb ist es richtig, das Rentenein- ren. Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, mit
trittsalter, wie im Reformpaket zur Stabilisierung der Beginn des kommenden Jahres, 1997, die sich hier-
Rentenversicherung vorgeschlagen, schrittweise zu aus ergebenden Gesetzgebungsverfahren einzulei-
erhöhen. Das ist angesichts der gestiegenen und wei- ten und sie bis Ende 1997 abzuschließen.
ter steigenden Lebenserwartung zur Sicherung der
Meine Damen und Herren, das ist ein ehrgeiziger
Renten auch zumutbar,
Zeitplan. Aber ich halte ihn für zwingend, weil es
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wünschenswert ist, die Fragen der Alterssicherung
und der Renten wie in den vergangenen Jahrzehnten
zumal wir wissen, daß Deutschland zu den Ländern aus dem Wahlkampfgeschehen eines kommenden
mit der niedrigsten Geburtenrate gehört. Bundestagswahlkampfs möglichst herauszuhalten.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ach ja, des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
halb die Verschiebung der Kindergelderhö Lachen bei der SPD)
hung!)
- Auch hier verstehe ich Ihre Unruhe nicht. Ich habe
- Ich muß Ihnen, gnädige Frau, sagen, diese Zusam- nie Angst vor Wahlkämpfen gehabt. Sie sollten sich-
menfassung der Problematik ist sehr eigenartig. Daß daran erinnern, mit welchen Gesichtern Sie gerade
Sie das als Dame tun, erstaunt mich ganz besonders. vor vier Wochen herumgelaufen sind.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wieso? (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.
Verstehe ich nicht!) - Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die Ver-
Gleichzeitig erhöht sich erfreulicherweise die Le- schiebung der Kindergelderhöhung hätten
benserwartung. Gegenwärtig sind rund 15 Prozent Sie mal vor der Wahl machen sollen! - Anke
unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt. Wer heute Fuchs [Köln] [SPD]: So gut war die CDU
30 Jahre alt ist wird nach menschlichem Ermessen auch nicht!)
das Jahr 2030 erleben und dann zu den über Es hat doch keinen Sinn, sich hier selbst Mut zuzu-
65jährigen gehören. Der Anteil der über 65jährigen
sprechen.
an der Gesamtbevölkerung wird zu diesem Zeit-
punkt auf über 27 Prozent anwachsen und sich damit Meine Damen und Herren, die notwendigen Kor-
fast verdoppeln. Das Verhältnis von Beitragszahlern rekturen zur Zukunftsicherung müssen auch im Be-
zu Rentenbeziehern wird sich also drastisch verän- reich der gesetzlichen Krankenversicherung vorge-
dern. Das ist überhaupt nicht zu leugnen; das ist die nommen werden. Dabei gilt für mich der Grundsatz:
Realität. Wer krank oder pflegebedürftig ist, hat Anspruch auf
eine hochwertige medizinische Versorgung und
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) selbstverständlich auf eine menschenwürdige Pflege.
Es ist unsere Pflicht und unsere Verantwortung, Daher kommt die zweite Stufe der Pflegeversiche-
schon heute über notwendige Konsequenzen dieser rung, mit der die stationäre Pflege eingeführt wird,
Entwicklung zu diskutieren und zu handeln. wie geplant am 1. Juli 1996.
Mit dem 1989 verabschiedeten Rentenreformge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
setz haben wir bereits wichtige Anpassungen vorge-
Mit dieser Entscheidung entlasten wir zugleich die
nommen. Jetzt müssen wir die Rentenversicherung
kommunale Seite um rund 9,5 Milliarden DM. Ich er-
mit weitreichender Zukunftsperspektive fortentwik-
warte jedoch auch - das möchte ich hier gerne sagen -,
keln.
daß die Länder und die Kommunen ihre Zusage ein-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Arbeitsplätze halten, einen Teil ihrer Einsparungen für die notwen-
schaffen!) digen Investitionen für Pflegeheime einzusetzen.
Die Bundesregierung wird hierzu eine Kommis- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
sion unter Vorsitz des Bundesarbeitsministers einset-
Es ist völlig unbestreitbar, daß wir den Kostenan-
zen. Wir erwarten, daß diese Kommission ihre Arbeit
stieg in der Krankenversicherung stoppen müssen.
auf eine breite Grundlage stellt und sich den Sach-
Je mehr es uns gelingt, Wettbewerb und Eigenver-
verstand aller Seiten unserer Gesellschaft sichert. Sie
antwortung durchzusetzen, desto weniger muß es zu
sind besonders herzlich eingeladen,
Leistungseinschränkungen kommen.
(Lachen bei der SPD)
Meine Damen und Herren, unser Steuersystem
und ich denke, wir werden dabei hören, welche Vor muß wachstums- und beschäftigungsfreundlicher
schläge Sie vorbringen. Ich wünsche mir jedenfalls, werden. Wenigstens in diesem Punkt sind wir uns ei-
daß diese notwendigen Reformen in einem partei nig. Deshalb streben wir bald eine umfassende Re-
8982 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl


form des Steuertarifs an. Die Steuersätze sollen deut- Soweit der Bund als Tarifpartei im öffentlichen
lich gesenkt und das Steuerrecht vereinfacht wer- Dienst mit in der Verantwortung steht, werden wir
den. Um dies zu erreichen, muß es weniger Ausnah- ein deutliches Zeichen setzen müssen. Gerade in ei-
men und Begünstigungen geben. ner Zeit, in der viele Unternehmen ihr Personal ver-
ringern, ist die Sicherheit des Arbeitsplatzes im öf-
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU fentlichen Dienst ein besonders wertvolles Gut. Das
und der F.D.P.) will ich bei dieser Gelegenheit einmal mehr unter-
Wir müssen erreichen, daß es zu einer echten und streichen. Wer einen sicheren Arbeitsplatz hat - so
spürbaren Entlastung für die Mehrzahl der Bürger denke ich -, dem kann mehr zugemutet werden als
kommt. Auch für diesen Arbeitsbereich wird die einem, der sich andauernd Sorgen um seinen Ar-
Bundesregierung in diesen Tagen die Einsetzung ei- beitsplatz machen muß.
ner Kommission unter dem Vorsitz des Bundesfi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nanzministers beschließen. Diese Kommission soll
ebenfalls bis zum Ende dieses Jahres, 1996, ihre Vor- Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen die
schläge erarbeiten. Auch hier ist es unser Wunsch, Grundzüge unseres Programms vorgestellt. Es soll
daß es eine möglichst breite Beteiligung an der Dis- und wird dazu beitragen, Arbeitsplätze zu schaffen
kussion gibt. und die Zukunft zu gewinnen. Es ist ein Programm
für mehr Investitionen und Beschäftigung. Es ist na-
Wir wollen die Gesetzgebung in diesem Bereich
türlich auch ein Programm zur Sicherung unseres So-
ebenfalls bis Ende 1997 abschließen. Es ist sehr wich-
zialstaats. Es schafft den Spielraum, den wir brau-
tig, daß die Bürger und vor allem auch die Unterneh-
chen, um die sich bietenden Chancen in der verän-
men selbst frühzeitig Gewißheit über die künftigen
derten Weltwirtschaft wahrnehmen zu können. Nur
Steuertarife haben und für ihre mittel- und langfristi-
ein wirtschaftlich leistungsfähiges Deutschland ist in
gen Dispositionen eine verläßliche Grundlage be-
der Lage, den hier lebenden Menschen und Bürgern
kommen.
Arbeitsplätze und Einkommenschancen zu bieten,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie sagen
Wir wollen, daß der neue Tarif zum 1. Januar 1999 in nichts zum Kindergeld!)
Kraft treten kann. Ich will noch einmal nur erwähnen
- dann brauchen wir die Debatte darüber hier nicht soziale Leistungen zu finanzieren, die ein Leben
erneut zu führen -, daß für uns in der Koalition eine ohne materielle Not ermöglichen, und teilzuhaben
Erhöhung der Mehrwertsteuer in dieser Legislatur- am Aufschwung anderer Regionen unserer Erde.
pe ri ode nicht in Frage kommt. Wir haben als Deutsche auch in dieser Situation -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bei allen Schwierigkeiten - nicht den geringsten
Grund, pessimistisch in die Zukunft zu sehen.
Unabhängig von dem eben Gesagten werden wir
die im Aktionsprogramm angekündigten steuerpoli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
tischen Verbesserungen fortsetzen. Das Programm Es gab noch nie eine Generation in der neueren Ge-
zielt darauf, die Schaffung von Arbeitsplätzen zu er- schichte unseres Volkes, die so viele Chancen hatte,
leichtern. Dazu gehören die aufkommensneutrale ihre Zukunft zu gestalten, und für die so viele Wege
Reform der Unternehmensteuern mit der Abschaf- in die Welt offenstanden. Auf unsere Stärken können
fung der Gewerbekapitalsteuer und der mittelstands- wir uns auch in Zukunft verlassen. Dazu zähle ich die
freundlichen Absenkung der Gewerbeertragsteuer, hervorragende Berufsausbildung in Deutschland, de-
die Reform der Erbschaftsteuer, der Wegfall der Ver- ren Bedeutung in Zukunft noch steigen wird, die mo-
mögensteuer, wobei die private Vermögensteuer mit dern gestaltete Infrastruktur, das soziale Klima, die
der Erbschaftsteuer zusammengefaßt wird, und die ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit vielen kleinen
bessere steuerliche Behandlung von Beschäftigungs- und mittleren Unternehmen, die in den letzten Jahr-
verhältnissen in privaten Haushalten. zehnten ganz wesentlich zu Innovation und Erneue-
Einen wirksamen Beitrag erwarte ich auch in die- rung beigetragen haben.
sem Zusammenhang von den Tarifparteien. Im Rah- Meine Damen und Herren, es geht darum, Arbeits-
men der Tarifautonomie - das ist gut so und soll nicht plätze zu schaffen und die Zukunft zu sichern. Auch
geändert werden - bestimmen Arbeitgeber und Ge- das ist eine Erfahrung, die gilt: Wohlstand läßt sich
werkschaften gemeinsam über die Lohnhöhe und nicht auf Pump finanzieren. Gefragt sind jetzt Mut
über wesentliche Arbeitsbedingungen, wie zum Bei- und Weitsicht, das richtige Einstellen der Weichen
spiel über die Arbeitszeit. Die bisher getroffenen Ta- für die Zukunft. Deswegen treffen wir jetzt die not-
rifvereinbarungen in der Lohnrunde 1996 zeigen, wendigen Entscheidungen und setzen sie Schritt für
daß die Tarifparteien gewillt sind, dem Beschäfti- Schritt in schnellem Tempo um, und dazu darf ich Sie
gungsziel einen höheren Stellenwert als Einkom- alle einladen.
menssteigerungen zu geben. Ich begrüße dies aus-
drücklich. In den verschiedenen Lagern der Tarif- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
partner sollten meines Erachtens auch diese Erfolge der F.D.P.)
einzelner Gewerkschaften noch sehr viel positiver
gewürdigt werden.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8983

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) von dieser fahrlässigen, unehrlichen Vorgehensweise


(von der SPD mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Abstand nehmen und den Bürger dadurch zum mün-
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bun- digen Bürger erklären, daß Sie gerade in den Wahl-
deskanzler, Sie haben soeben eine Einschätzung der auseinandersetzungen die alternativen Konzepte der
ökonomischen Lage vorgenommen und haben eini- politischen Parteien diskutieren lassen.
ges über die Lage der öffentlichen Haushalte gesagt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Dieser Einschätzung der ökonomischen Lage können
ten der PDS)
wir nicht widersprechen, und die Darstellung der öf-
fentlichen Haushalte ist nach dem, was wir heute Wenn die Arbeitslosigkeit die höchste nach dem
wissen, korrekt gewesen. Kriege ist, wenn die Staatshaushalte enorme Schul-
den haben und wenn die Steuer- und Abgabenquote
Nur, verehrter Herr Bundeskanzler, eine Frage
viel zu hoch ist, dann stellt sich in einer Phase der
müssen wir Ihnen stellen: Hätten Sie diese Rede
Stagnation oder Rezession die Frage, wie die Politik
nicht auch schon vor einigen Wochen hier halten
reagieren soll, um mehr Wachstum und Beschäfti-
können?
gung zu induzieren.
(Beifall bei der SPD)
Es ist gut, meine Damen und Herren, daß jetzt zu-
War die ökonomische Lage damals wirklich so viel mindest die Überschriften geändert worden sind.
anders als heute? War die Lage der öffentlichen Hieß es vor einiger Zeit noch: Wir müssen ein Spar-
Haushalte vor einigen Wochen so viel anders als paket verabschieden, so heißt es jetzt richtigerweise
heute? quer durch die Parteien: Wir brauchen ein Programm
(Zurufe von der CDU/CSU: Wie im Saar- für mehr Wachstum und für mehr Beschäftigung. Je-
land!) der weiß, die Sozialversicherungskassen und die
Staatshaushalte können nur saniert werden, wenn es
Warum haben Sie nicht den Mut gefunden, vor ei- uns gelingt, die Arbeitslosigkeit abzubauen und zu-
nigen Wochen anzukündigen, daß Sie in die Lohn- mehr Beschäftigung zu kommen.
fortzahlung eingreifen wollen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
haben wir doch gesagt!) und der PDS)
daß Sie den Kündigungsschutz einschränken wollen, Wenn man die Arbeitslosigkeit abbauen und zu
daß Sie das Rentenrecht verschlechtern wollen, daß mehr Beschäftigung kommen will, dann müssen die
Sie die Arbeitsförderung drastisch verschlechtern politischen Weichenstellungen richtig vorgenommen
wollen und daß Sie das Kindergeld nicht zeitgerecht werden. Wir haben in diesem Hause oft über die
erhöhen wollen? Warum gehen Sie immer nach der- Rolle der Geldpolitik diskutiert. Ich glaube, daß die
selben Methode vor, daß Sie der Bevölkerung vor Bundesbank durch die jüngsten Entscheidungen die
den Wahlen die Unwahrheit sagen, um nach den richtigen Signale gesetzt hat. Man hat sich nicht
Wahlen dann mit der ganzen Wahrheit herauszurük- mehr starr an der Entwicklung der Geldmenge orien-
ken? tiert, sondern hat in einer Phase der Stagnation oder
(Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim Rezession auf Wachstum umgeschaltet. Dies ist eine
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Joseph richtige Entscheidung der Deutschen Bundesbank.
Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
NEN]: Weil es funktioniert!)
Ebenso ist unstreitig, daß eine solche Entschei-
Sie haben vorhin an die Adresse der SPD und der dung durch eine moderate und zurückhaltende
anderen Parteien im Deutschen Bundestag gesagt, Lohnpolitik ergänzt werden muß. Wer die Entschei-
Sie wünschten, daß die Debatte um die Reform des dungen der letzten Wochen und Monate betrachtet,
Rentensystems aus dem nächsten Wahlkampf her der wird nicht an dem Urteil vorbeikommen, daß die
ausbliebe. Da können wir uns ganz auf Sie verlassen, deutschen Gewerkschaften und die Tarifpartner - in
verehrter Herr Bundeskanzler. Sie haben es bisher erster Linie aber muß man die deutschen Gewerk-
immer geschafft, vor Wahlen Debatten zu vermeiden, schaften nennen - an dieser Stelle ihrer Verantwor-
die wahrheitsgemäß gewesen wären, aber dem Volk tung für Wachstum und Beschäftigung voll entspro-
einiges abverlangt hätten. chen haben; denn sie haben eine moderate Lohnpoli-
(Beifall bei der SPD) tik auf den Weg gebracht.

Dadurch sind Sie verantwortlich dafür, daß die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Staatsverdrossenheit in unserem Volk gewachsen ist ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD sowie beim Abgeordne Eine Geldpolitik und eine Lohnpolitik, die sich
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nicht gegenseitig blockieren, wie Herbert Giersch in
und der PDS) einem jüngst erschienenen Aufsatz bemerkt hat, sind
die Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung.
und daß viele zu der Auffassung kommen: Vor Wah- Sie müssen durch eine stetige, wachstumsorientierte
len kann man den Politikerinnen und Politikern so- Finanzpolitik und durch eine ausgewogene Sozialpo-
wieso nicht mehr glauben. Die Erfahrung, wesentlich litik ergänzt werden. Die Fragen werden heute also
durch Sie selbst geprägt, gibt solchen Vorurteilen in sein, ob die Bundesregierung zu einer stetigen,
unserer Gesellschaft leider recht. Sie sollten endlich wachstumsorientierten Finanzpolitik Vorschläge ge-
8984 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


macht hat und ob die Sozialpolitik, die Sie jetzt be- Das geltende Einkommensteuerrecht schafft Staats-
gonnen haben neu auszurichten, ausgewogen zu verdrossenheit, weil es nicht hinnehmbar ist, daß der
nennen ist. Verkäuferin und dem Facharbeiter direkt im Lohn-
büro die Steuern abgezogen werden, während es
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Millionäre gibt, die völlig legal keinen Pfennig Steu-
Zur Finanzpolitik lese ich Ihnen ein Urteil des von ern zahlen. Dies untergräbt das Vertrauen der Lei-
Ihnen in den Sachverständigenrat berufenen Finanz- stungsträger unserer Gesellschaft in den Staat.
experten Rolf Peffekoven vor. Auf die Frage, warum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
die ökonomische Entwicklung so schlecht ist und ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
warum wir solch große Defizite in den Staatshaushal- und der PDS)
ten zu verzeichnen haben, sagte er gestern folgen-
des: Die erste Reform, die schon lange überfällig ist, um
wieder mehr Leistungswillen in der Arbeitnehmer-
Die Erklärung ist ganz einfach. Es besteht ein ek- schaft und in unserer Bevölkerung zu ermöglichen,
latantes Mißverhältnis zwischen dauernden An- ist die Reform des Steuertarifs, der Lohn- und Ein-
kündigungen und dauerndem Nichtpassieren. kommensteuer. Diese Forderung ist allgemein aner-
Wenn aber etwas geschieht, wird es nicht selten kannt. Aber Sie haben keinerlei Anstalten gemacht,
gleich wieder rückgängig gemacht. Der deut- um dieser Forderung zu entsprechen. Wenn Sie nicht
schen Finanzpolitik fehlt es an Glaubwürdigkeit entscheidungsfähig sind, weichen Sie immer auf
und an Stetigkeit. Kommissionen aus, verehrter Herr Bundeskanzler.
Sie sollten sich das hinter die Ohren schreiben, (Beifall bei der SPD)
meine Damen und Herren.
Sie hatten eine Kommission von Finanzwissenschaft-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lern, die Bareis-Kommission, eingesetzt, die Ihnen
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vorschläge gemacht hat, wie man das Einkommen- -
Auf die Frage: Ist die Finanzpolitik unsolide? sagt steuerrecht leistungs- und sozialgerecht reformieren
er: kann. Herr Waigel hat die Ausarbeitung dieser Kom-
mission in den Papierkorb geworfen. Meinen Sie, es
Wenn Sie auf die fehlende Stetigkeit und Glaub- wird besser, . wenn er selbst jetzt einer neuen Kom-
würdigkeit verweisen, dann muß ich leider ant- mission vorsitzt? Das ist doch eine Lachnummer.
worten: Ja, die Finanzpolitik ist unsolide.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Ihre unstete Steuer- und Finanzpolitik in den letzten GRÜNEN und der PDS)
Jahren ist einer der Gründe dafür, daß wir mittler-
weile diese hohe Arbeitslosigkeit, diese hohe Staats- Sie wollen die Ergebnisse dieser Kommission - da
verschuldung und diese hohe Steuer- und Abgaben- sind Sie konsequent, mein Kompliment - aus dem
last zu verzeichnen haben. Wahlkampf heraus halten, denn dieses Gesetz soll
erst nach der Bundestagswahl wirksam werden. Sehr
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne verehrter Bundeskanzler, hier liegt ein klassischer
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beweis dafür vor, daß der von mir zitierte Finanzwis-
Daß Ihre Sozialpolitik ausgewogen sei, will doch senschaftler recht hat: Sie sind mit dieser Koalition
auch von Ihnen niemand ernsthaft behaupten. Wenn nicht in der Lage, die notwendigen Entscheidungen
man die Stellungnahmen etwa der CDA in den letz- zu treffen, auch wenn in den Kommissionen da oder
ten Tagen zur Kenntnis nimmt, muß man zum Urteil dort Richtiges erarbeitet wird. Vertagen Sie eine lei-
kommen: Sie haben zwar gesagt, sehr verehrter Herr stungs- und sozialgerechte Steuerreform nicht auf
Bundeskanzler, alle müßten jetzt den Gürtel enger das Jahr 1999, sondern setzten Sie sie jetzt in Gang!
schnallen. Enger schnallen müssen den Gürtel aber Wir bieten dazu die notwendige Bereitschaft an.
nur Rentner, Familien, Arbeitslose und Arbeitneh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
mer. Dies verdeutlicht die totale Schieflage Ihrer So- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
zialpolitik.
Der richtige Weg bei der heutigen konjunkturellen
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Lage ist - da darf es überhaupt keinen Zweifel ge-
GRÜNEN und der PDS) ben -, daß der Solidaritätszuschlag abgebaut wird.
Wir halten den zügigen Abbau für notwendig, um
Das Entscheidende ist aber, daß Sie zu den eigent-
die Konjuktur zu unterstützen, um nicht die Arbeits-
lichen Reformen, die jetzt notwendig sind, nicht die
einkommen über Gebühr zu strapazieren. Denn dies
Kraft aufbringen. Auf konjunkturelle Probleme muß
hemmt auch den Leistungswillen in unserer Bevölke-
man mit sachgemäßen konjunkturellen Lösungen
rung. Die Frage ist allerdings, auf welche Weise man
reagieren. Auf strukturelle Probleme muß man mit
zu einem zügigen Abbau des Solidaritätszuschlags
sachgemäßen langfristig wirkenden strukturellen Lö-
kommen kann. Wir schlagen eine Vermögensabgabe
sungen reagieren.
auf hohe Vermögen vor, wie sie bereits nach der
(Zurufe von der CDU/CSU: Siehe Saar deutschen Einheit von vielen Fachleuten vorgeschla-
land!) gen worden war.
Ich komme zur Steuerpolitik. Wir halten eine Re- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
form des Einkommensteuerrechts für dringend gebo- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ten. Wir mahnen sie seit langem an. Wir stellen fest: und der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8985
Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)
Wir fordern Sie auf, Ihren Vorschlag, die Gewerbe- sen aufzubürden, statt sie sauber von allen Steuer-
kapitalsteuer abzuschaffen und statt dessen die zahlern bezahlen zu lassen.
Steuern für Handwerker, für Friseurmeister, Kraft-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
fahrzeugmeister, Dachdeckermeister und viele an-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
dere zu erhöhen, zurückzuziehen. Es ist doch ein
Treppenwitz der Weltgeschichte, daß Sie in dieser Dies ist ungerecht; denn es dürfte überhaupt keine
Phase der Konjunktur, in der die Nachfrage nach In- Frage sein, daß die Kosten, die aus der deutschen
vestitionsgütern lahmt, eine Abschreibungsver- Einheit entstanden sind, nicht nur von den Beitrags-
schlechterung, sprich: Steuererhöhungen, für das zahlern bezahlt werden können. Dies ist eine ge-
Handwerk und den Mittelstand vorschlagen. Ziehen samtgesellschaftliche Aufgabe. Daher wäre es not-
Sie diesen Vorschlag zurück! Er ist ökonomisch so wendig, dieses Reformprojekt jetzt anzugehen. Wie-
unvernünftig, daß Sie in der Fachwelt niemanden derum werden Arbeitsplätze dadurch wegrationali-
finden, der diesen Vorschlag rechtfertigt. siert, daß ein ernsthaftes Bemühen bei der Bewälti-
gung dieser Reform in Ihrem Vorschlag nicht zu er-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kennen ist.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS) Das dritte Reformprojekt, an dem wir festhalten, ist
der umweltgerechte Umbau unseres Steuer- und Ab-
Steuererhöhungen für Handwerk und Mittelstand, gabensystems. Würde man hier in diesem Bundestag
wie Sie sie jetzt, kaschiert als Verschlechterung der abstimmen, dann würde diesem wichtigen Reform-
Abschreibungsbedingungen, vorschlagen, sind jetzt projekt unserer Gesellschaft im Grundsatz zuge-
wirklich nicht akzeptabel. Was der F.D.P.-Vorsit- stimmt. Es würde auf eine große Mehrheit quer
zende offensichtlich immer noch nicht verstanden durch die Fraktionen stoßen. Das ist jedem bekannt,
hat: Im Saldo - lesen Sie die Gutachten der Industrie- der sich mit der Mate rie einmal beschäftigt hat.
verbände nach - handelt es sich beim Gesetzentwurf -
Es gibt eine Reihe von Voten, die deutlich machen,
zur Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer um eine
daß die Idee, die Arbeit in diesem Lande billiger zu
Steuererhöhung. Nehmen Sie in der jetzigen Phase
machen und auf der anderen Seite den Umweltver-
der Konjunktur von dieser Steuererhöhung endlich
brauch zu verteuern, eine richtige Idee ist, weil sie
Abstand!
einerseits zu mehr Arbeitsplätzen führt und anderer-
(Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Ger seits längerfristig die Lebenschancen zukünftiger
hardt [F.D.P.]: Wissen Sie nicht mehr, was Generationen erhält. Bitte, gehen Sie dieses wichtige
Sie im letzten Jahr gesagt haben? - Zuruf Reformprojekt unserer Gesellschaft endlich an!
des Abg. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
- Sie waren damals noch nicht im Parlament, zumin- und der PDS)
dest einer von denen, die jetzt so laut dazwischenge-
rufen haben; aber ich habe im letzten Jahr denselben Die Tatsache, daß wir auf dem weltweit wachsen-
Vortrag gehalten. Das Problem ist bei Ihnen nur: den Umweltmarkt, der nach internationalen Schät-
Man kann Ihnen noch so viele Argumente vortragen, zungen 1 000 Milliarden Dollar umfaßt, bei dem Ex-
Sie sind unbelehrbar und wollen Handwerk und Mit- port von Umwelttechnik nicht nur pro Kopf, sondern
telstand weiterhin steuerlich höher belasten. absolut Weltmeister sind, sollte uns doch Ermutigung
sein, diesen Weg weiterzugehen. Ich will Ihnen eines
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sagen: Die Tatsache, daß wir in Deutschland bei der
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Umwelttechnik vorne sind, ist eher ein Ergebnis der
Ökologiebewegung
Die zweite wichtige Reform, die jetzt anzugehen
ist, ist die Reform der sozialen Sicherungssysteme. (Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/
Es ist einfach nicht hinnehmbar, daß die Beiträge zur DIE GRÜNEN]: Der Grünen!)
Rentenversicherung, zur Krankenversicherung, zur
als ein Ergebnis der gezielten Politik Ihrer Regie-
Arbeitslosenversicherung und zur Pflegeversiche-
rung.
rung immer weiter ansteigen. Der Bundeskanzler hat
vorhin eine Teilschuld seiner Regierung und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Koalition bei der Entwicklung dieses die Wi rtschaft ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
schädigenden ständigen Anstiegs der Beiträge ein- und der PDS)
geräumt. Mit dieser Entwicklung sind in den letzten
Jahren viele Arbeitsplätze bei Handwerk und Mittel- - Natürlich, Herr Kollege Fischer, haben auch die
stand verlorengegangen. Grünen einen Anteil an dieser Entwicklung; ich
möchte das ausdrücklich von diesem Pult aus fest-
Es wäre notwendig, die sozialen Versicherungs- stellen.
kassen von versicherungsfremden Leistungen zu be- (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Töpfer!)
freien. Das ist völlig unstreitig. Aber in Ihrem Pro-
gramm wird dieser Gedanke nicht oder nur in gerin- Das vierte Reformprojekt, das wir jetzt angehen
gem Umfang aufgegriffen. In Wirklichkeit gehen Sie müssen, ist, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
dieses wichtige Reformprojekt nicht an, weil Sie nach mer endlich in größerem Umfang am Produktivver-
wie vor daran festhalten wollen: Es ist bequemer, die mögen und am Kapital zu beteiligen. Alle Daten, die
Kosten der Einheit den sozialen Versicherungskas- wir heute zur Kenntnis nehmen können, sprechen
8986 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


dafür, dieses seit Jahrzehnten diskutierte, aber im- Regierung Kohl gekommen sind. Es wird für mich
mer wieder aufgeschobene Reformprojekt unserer der Anstand verletzt, wenn nicht darauf hingewiesen
Gesellschaft jetzt endlich in Ang riff zu nehmen. Die wird, daß es bei ständig stagnierenden oder sinken-
Zeit ist überreif für dieses große Reformprojekt. den Realeinkommen viel, viel notwendiger wäre, die
Arbeitnehmer an Gewinnen und Aktienzugewinnen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
zu beteiligen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Es ist doch nicht zu bestreiten: Wir finanzieren den
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
größten Teil der Soziallasten über die Arbeit und ver-
und der PDS)
teuern sie in einem Umfang, der nicht mehr am
Markt durchzusetzen ist. Gleichzeitig ignorieren wir, Es ist ja überhaupt merkwürdig, daß Appelle, den
daß der Anteil der Einkommen aus Vermögen stei- Gürtel enger zu schnallen, von Ihrer Seite kommen.
gen wird, während der Anteil von Arbeitseinkom- Sie könnten ja den Zuschauerinnen und Zuschauern
men am Volkseinkommen immer weiter zurückgeht. einmal darstellen, wie Sie persönlich, Herr Bundes-
Es ist offensichtlich ein Fehler, gerade die Einkom- kanzler, von den geplanten Regelungen bei der
men zu belasten, deren Anteil am Volkseinkommen Lohnfortzahlung, dem Kindergeld und von der Kür-
immer weiter zurückgeht. Also muß man die Finan- zung sozialer Leistungen, wie der Sozialhilfe, der Ar-
zierung ändern. beitslosenhilfe, des Arbeitslosengeldes und was da
alles in der Mache ist, betroffen sind.
Also muß man jetzt endlich in einer Zeit, in der die
Realeinkommen seit Jahren stagnieren, auch in die- (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das möchte ich
sem Jahr, in dem die Aktienkurse ja nun wirk li ch auch wissen!)
nicht sinken, sondern Rekordhöhen erreicht haben,
in dem die Höhe der Gewinne nach den Stellungnah- Dadurch könnte deutlich gemacht werden, wie es
men der Sachverständigen insgesamt keine Pro- eigentlich in unserem Lande aussieht. -
bleme aufwirft und sie in einzelnen Branchen ge- Aber es ist einfach nicht mehr hinnehmbar, daß
radezu wieder exorbitant hoch sind, zu einer Verän- diejenigen, die nun wirklich ein enormes Einkom-
derung in unserer Gesellschaft kommen, die man in men und Vermögen haben, immer wieder neue Spar-
die Worte fassen kann: Sich mit stagnierenden Real- appelle an Sozialhilfeempfänger und Bezieher von
löhnen abzufinden kann keine Antwort auf diese Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe richten. Das
Entwicklung sein. Vielmehr muß die Antwort lauten, ist das Ergebnis einer totalen Fehlentwicklung in un-
endlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch serer Gesellschaft, die Sie zu verantworten haben.
am Kapitalertrag und am Produktivvermögen zu be-
teiligen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir brauchen fünftens selbstverständlich eine Re-
form der Regelungen auf dem Arbeitsmarkt. Das ist
Eine einmalige Chance wäre es gewesen, beim unstreitig. Streitig zwischen uns ist, wie Regelungen
Aufbau Ost mit dieser Arbeit zu beginnen. auf dem Arbeitsmarkt aussehen.
(Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr! Sehr Sie haben hier noch einmal voller Stolz, Herr Bun-
richtig!) deskanzler - ich habe versucht, es schon zwei-, drei-
Wenn man schon das völlig fehlerhafte Prinzip mal zu erklären -, den Zuwachs der Beschäftigungs-
„Rückgabe vor Entschädigung" mit all den Verwer- verhältnisse Ende der 80er Jahre vorgetragen.
fungen, die sowohl für die Investitionen als auch für Nur, meine Damen und Herren, wenn man die Be-
die Vermögensverteilung in den neuen Ländern da- schäftigungsverhältnisse betrachtet, dann muß man
mit verbunden waren, durchgesetzt hat, dann hätte in der heutigen Lage unserer Gesellschaft angeben,
man im Gegenzug damit beginnen müssen, do rt die um welche A rt von Beschäftigungsverhältnissen es
Arbeitnehmer am neu aufgebauten Produktivvermö- sich handelt. Wenn man sich dann nach jahrelangem
gen, zumal es mit enormen staatlichen Mitteln finan- Votum für Verlängerung von Arbeitszeiten endlich
ziert worden ist, zu beteiligen. Hier haben Sie die zu der Einsicht durchgerungen hat - das begrüßen
Chance nicht genutzt, einen richtigen Einstieg in die- wir ja -, daß man Überstunden abbauen und Teilzeit-
ses Reformprojekt unserer Gesellschaft zustande zu arbeitsplätze einrichten muß, darf es aber nicht so
bringen. sein, daß Millionen von Arbeitsplätzen zuwachsen,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne diese aber nicht sozialversicherungspflichtig abgesi-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) chert sind und zu Lasten der Frauen in unserer Ge-
sellschaft gehen.
Wenn ich lese, daß man sich jetzt Gedanken dar-
über macht, ob nicht die Vorstandsbezüge in (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Deutschland in Form von Aktienoptionen an die GRÜNEN und der PDS)
Höhe der Vorstandsbezüge amerikanischer Manager So haben wir uns die Neuordnung des Arbeitsmark-
angepaßt werden müssen, damit sie über Jahresein- tes nicht vorgestellt.
kommen in zweistelliger Millionenhöhe verfügen -
wir haben das vor zwei Wochen in einem Nachrich- Daher ist es nicht akzeptabel, daß Sie beispiels-
tenmagazin gelesen -, dann zeigt das eigentlich, wo- weise das Angebot der Gewerkschaften, auch hier
hin wir in unserer Gesellschaft nach 13 Jahren der mit den Regierenden zu einer Zusammenarbeit zu
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8987

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


kommen, auf diese A rt und Weise beantwortet ha- schungsausgaben darf man nicht kürzen. Wenn man
ben. Es war ein Angebot der Gewerkschaften, zu ei- alle Resso rt s auffordert zu kürzen, dann müssen wir
nem „Bündnis für Arbeit" zu kommen. Das, was die noch einmal daran erinnern, daß die Forschungsaus-
Gewerkschaften dort eingebracht haben, waren mo- gaben in den letzten Jahren im Haushalt insgesamt
derate Lohnabschlüsse. Das ist natürlich in der jetzi- stark zurückgegangen sind.
gen konjunkturellen Situation die adäquate Antwort.
Aber die Gewerkschaften wollen sich dadurch eine Deshalb ist der Einwand der ostdeutschen Abge-
Zusage einhandeln, daß es zu weniger Kündigungen ordneten Ihrer Partei, verehrter Herr Bundeskanzler,
und zu weniger Beschäftigungsabbau kommt. Das ist gerechtfertigt, wenn sie auf die Notwendigkeit der
doch ein vertretbares und von allen zu unterstützen- Verstärkung von Forschungsausgaben gerade in den
des Anliegen unserer Gewerkschaften. Wenn Sie neuen Bundesländern hinweisen. Überprüfen Sie
darauf mit Abbau des Kündigungsschutzes ant- noch einmal diese Entscheidung! Es ist Sparen ange-
worten, dann haben Sie in die Hand gespuckt, die sagt, das will niemand bestreiten, aber nicht bei den
man Ihnen gestreckt hat, meine Damen und Herren! Zukunftsinvestitionen unserer Gesellschaft.

(Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall (Beifall bei der SPD)
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei
Das gilt genauso für das Hin- und Hergezerre in
der PDS)
der Koalition um die BAföG-Regelung. Gut ausgebil-
Im übrigen ist der Abbau des Kündigungsschutzes, dete Studentinnen und Studenten sind auch eine In-
wenn man ihn vor dem Hintergrund der realen Situa- vestition in die Zukunft. Wir werden es nicht zulas-
tion auf dem Arbeitsmarkt betrachtet, eine Maß- sen, daß die Frage, ob jemand eine gute Ausbildung
nahme, die im Grunde genommen nur Symbolcha- erhält oder nicht, durch falsche Regelungen wieder
rakter hat. Wenn Sie sich die Einlassungen über die allein vom Einkommen seiner Eltern abhängig wird.
Kombination von Kündigungsschutzvorschriften und Wir werden das nicht zulassen.
-
der Möglichkeit, bef ristete Arbeitsverträge einzuge-
hen ansehen, die gestern im „Handelsblatt" vorge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
bracht worden sind, dann werden Sie erkennen, daß ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
dies eine völlig unnötige und überflüssige Provoka- und der PDS)
tion der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist. Ich Natürlich können wir auch nicht mit dem Rasen-
appelliere noch einmal an Sie, diese unkluge und mäher Investitionsausgaben kürzen. Es wäre wün-
von der Sache noch nicht einmal gerechtfertigte Ent- schenswert, daß die investiven Ausgaben hin zu er-
scheidung zurückzunehmen. neuerbaren Energien umgepolt werden. Deswegen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne halten wir an unserem Vorschlag fest, an dieser
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Stelle die Anstrengungen des Staates zu verstärken
und die vorhandenen Ausgaben stärker auf erneuer-
Wenn Sie in Ihrem Programm vorsehen, bef ristete bare Energien auszurichten, damit wir die Märkte
Arbeitsverträge mehrfach zu verlängern, dann frage der Zukunft gewinnen und damit die Photovoltaik
ich mich, was eigentlich noch der Sinn dieser Provo- und die Sonnentechnik nicht nach Japan oder in die
kation ist. Und dann sagen Sie, ein Handwerker, der Vereinigten Staaten abwandern.
nur fünf Beschäftigte hat, habe wegen des hohen
Kündigungsschutzes Sorge, noch einen einzustellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Wenn Sie in diesem Ausmaß die bef risteten Arbeits- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verhältnisse und Kettenverträge zulassen, dann ist
das keinem mehr beizubringen. Es wäre an der Zeit, Natürlich sind wir in der jetzigen Phase auch auf-
daß Sie nicht immer nur Flickschusterei betreiben. gefordert, die öffentlichen Haushalte zu konsolidie-
Sie geraten zeitlich in die Enge, weil Sie vor Wahlen ren.
nicht diskutieren wollen, und nach den Wahlen geht (Zurufe von der CDU/CSU: Saarland!)
es hopplahopp. Dann haben wir nichtüberlegte, un-
- Verehrte Damen und Herren, ich bin für diesen
ausgewogene Entscheidungen.
Zwischenruf dankbar. Ich möchte Sie jetzt noch ein-
(Beifall bei der SPD) mal mit dem Grund vertraut machen, warum wir als
Oppositionspartei - das war ein einmaliger Vorgang -
Ich bin sicher, wenn ich die Gesichter in Ihrer Frak-
an der Saar 1985 aus dem Stand heraus die absolute
tion sehe, verehrter Herr Bundeskanzler, es würden Mehrheit erreicht haben. Das gibt es nicht oft. Davon
ganz prominente Mitglieder Ihrer Fraktion diese
können Sie nur träumen.
Feststellung unterschreiben.
(Zurufe von der CDU/CSU: Wer denn?) (Beifall des Abg. Otto Schily [SPD])

Ich will aber jetzt die Namen nicht nennen. Wir haben die absolute Mehrheit erreicht, weil die
ökonomische und insbesondere die finanzpolitische
Der sechste Punkt, den wir vorschlagen, ist eine Lage an der Saar völlig aussichtslos war und der
Stärkung von Forschung und Innovation in unserer Haushalt total überschuldet war, und zwar durch die
Gesellschaft. Es ist richtig in Ihrem Programm, daß Politik von CDU und F.D.P. Natürlich können die
Sie Existenzgründungen erleichtern wollen. Es ist Länder nicht die Steuern und Abgaben so erhöhen,
richtig und unterstützenswert in Ihrem Programm, wie Sie es hier tun.
daß Sie den Zugang zu Wagniskapital verbessern
wollen. Aber, meine Damen und Herren, bei den For- (Beifall bei der SPD)
8988 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


An der Saar galt nun wirklich, meine feinen Her- Wenn er zum Beispiel darauf hinweist, daß wir bei
ren von den Liberalen: Steuerland war längst abge- den Sätzen der Sozialhilfe darauf achten müssen,
brannt. Wir konnten auf die Erhöhungsorgien, die daß dieser Grundsatz eingehalten wird, wer wollte
Sie durchgeführt haben, nicht zurückgreifen. Ich ihm da widersprechen? Wir haben beim Solidarpakt
sage Ihnen eines: Wenn Sie schon nicht in der Lage entsprechende Vereinbarungen zur Begrenzung der
sind, sachgemäße Vorschläge zu machen, dann blei- Sozialhilfesätze getroffen, und wir sind auch in Zu-
ben Sie zumindest bei der Wahrheit; denn die Grund- kunft bereit, entsprechende Vereinbarungen zu tref-
lage unserer heutigen Debatte muß eine faire und fen, um dieses Gebot, das unstreitig ist, zu unterstüt-
sachgerechte Diskussion sein. zen.
(Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/ Aber ich möchte an dieser Stelle auch darum bit-
CSU und der F.D.P.) ten, daß die Sozialhilfeempfänger nicht mit unsach-
gemäßen, polemischen Bemerkungen ständig herab-
Weiterhin sage ich, daß Ihre ständige Polemik ge- gesetzt werden.
gen die Koalition Röder/Klumpp gerichtet ist. Sowohl
der ehemalige saarländische Ministerpräsident Rö- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Tut ja
der als auch der ehemalige F.D.P.-Vorsitzende niemand!)
Klumpp haben in diesem Umfang Ihre ständigen ab-
Denn wir erleben schon jahrelang eine Debatte, die
qualifizierenden Bemerkungen gegenüber der Saar-
Sie jetzt wiederholt haben und die heißt: Wer zumut-
politik und ihrer Bevölkerung nicht verdient. Auch
bare Arbeit ablehnt, dem muß die Sozialhilfe gekürzt
wenn Sie Großmäuler dagewesen wären, hätten wir
oder ganz gestrichen werden. Was soll eigentlich das
die Montankrise und die Bergbaukrise gehabt.
ständige Herumreiten auf dieser Forderung? Sie als
Schreiben Sie sich das einmal hinter die Ohren!
deutscher Bundeskanzler müßten doch wissen, daß
(Beifall bei der SPD) das längst im Gesetz steht.
-
Wenn wir die öffentlichen Haushalte konsolidieren (Beifall bei der SPD)
wollen, dann sind wir gut beraten, die Vorschläge Ich lese Ihnen § 25 vor. Es könnte ja sein, daß das
des Sachverständigenrates zu akzeptieren. zu einer Information führt:
(Unruhe) (Zuruf von der CDU/CSU: § 26!)
- Ich danke Ihnen, Herr Dr. Schäuble, daß Sie für et- Wer sich weige rt , zumutbare Arbeit zu leisten
was Ruhe in Ihrer Fraktion sorgen. Vielen Dank für oder eine zumutbare Arbeitsgelegenheit anzu-
diese Fairneß. nehmen, hat keinen Anspruch auf Hilfe zum Le-
bensunterhalt.
Der Sachverständigenrat rät dazu, bei der Haus-
haltskonsolidierung zwischen kurzfristigen und län- Was soll also das ständige Wiederholen einer For-
gerfristigen Konsolidierungsmaßnahmen zu unter- derung, die längst in einem deutschen Gesetzbuch
scheiden. Er rät weiter dazu, in der Phase der sta- steht, und welche Absichten verbinden sich eigent-
gnierenden Konjunktur, der erlahmenden Wi rtschaft, lich damit?
der Rezession - wie immer Sie das nennen wollen -
nicht über Gebühr mit Kürzungen und natürlich (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Es geht
auch nicht mit Steuererhöhungen gegenzusteuern. darum, ob das eine Ermessenfrage ist oder
nicht!)
Diese Politik ist allerdings nur zu rechtfertigen,
wenn tatkräftig längerfristige Strukturreformen ein- Ich sage Ihnen noch einmal: Ich weiß ganz genau,
geleitet werden, um die öffentlichen Haushalte zu daß es populär ist, den Eindruck zu erwecken, es
konsolidieren. gäbe da Leute, die zumutbare Arbeit ablehnen und
gleichwohl Sozialhilfe beziehen. Seien Sie vorsichtig
(Gert Willner [CDU/CSU]: Das machen wir!) mit solchen Behauptungen! Seien Sie fair und zitie-
ren Sie das deutsche Gesetzbuch! Polemisieren Sie
- Ja, das mögen Sie vielleicht beabsichtigen, aber nicht gegen die, von denen viele sich nicht helfen
wenn man den Schuldenstand sieht, waren Sie nicht können, die in einer schwierigen Situation ihres Le-
erfolgreich in Ihrer Absicht. Das darf zumindestens bens sind!
festgestellt werden. (Beifall bei der SPD)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Viel sinnvoller wäre es in dieser Frage, den viel zu
ten der PDS) hohen Eingangssteuersatz von fast 26 Prozent zu
Die Vorschläge, die Sie dazu vorlegen, sind senken.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]:
Richtig!) Dieser Eingangssteuersatz ist einfach eine Aufforde-
rung zur Schwarzarbeit und war eine der Fehlent-
teilweise geeignet, teilweise sind sie ungeeignet. scheidungen Ihrer Regierung in den letzten Jahren.
Wenn beispielsweise der Bundeskanzler den hehren
Grundsatz verkündet, wir sollten nicht zulassen, daß (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
jemand, der arbeitet, weniger hat als jemand, der GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
nicht arbeitet, wer wollte ihm da widersprechen? PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8989
Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)
Es wäre genauso zu erwägen, ob die bisherige Vor- mit einem Industrieverband wurde das Anheben des
schrift, daß das, was sich ein Sozialhilfeempfänger Rentenalters für Frauen noch mit der Bemerkung be-
dazuverdient, ganz auf die Sozialhilfe angerechnet gründet, das sei Gleichberechtigung. Was dieser In-
wird, eigentlich wirklich sachgemäß ist oder ob sie dustrieverband wie viele in unserer Gesellschaft
nicht vielmehr auch ein Anreiz dazu ist, solche Tätig- übersehen hat, ist, daß das reale Renteneintrittsalter
keiten überhaupt nicht anzumelden und eben der Frauen höher liegt als das der Männer. Von da-
schwarz zu arbeiten. Wäre es nicht ein Reformvor- her ist aus fiskalischen Erwägungen dieser Vor-
schlag, über den man diskutieren könnte, daß sol- schlag, der wohl im Hause Blüm entwickelt worden
cher Zusatzverdienst nur teilweise angerechnet wird, ist, durchaus verständlich. Ob das insgesamt der
um den Sozialhilfeempfängern den Übergang ins Ar- richtige Ansatz ist, ist zumindest im Hinblick auf die
beitsleben an dieser Stelle zu ermöglichen und zu er- Beschäftigungsart und die Entlohnungsart, die ge-
leichtern? rade bei den Frauen immer noch eine völlige Schief-
lage hat, zu hinterfragen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der F.D.P. Zurufe von der Aber eines müßte klar sein: Wenn wir auf der ei-
F.D.P.: Bravo! - Dr. Guido Westerwelle nen Seite wollen, daß die Jugendlichen einen Ar-
[F.D.P.]: Sie haben es gar nicht gelesen!) beitsplatz finden und nach der Ausbildung auch den
Eintritt ins Erwerbsleben finden können, dann ist
- Ja, wenn Sie „bravo!" rufen, dann machen wir es eine solch rigide Vorgehensweise äußerst problema-
doch! Bringen Sie den Gesetzentwurf ein, und wir tisch. Wir lösen die Probleme auf dem Arbeitsmarkt
ziehen es durch! nicht, indem wir die Lebensarbeitszeit für die Älteren
(Zurufe von der CDU/CSU: Lesen! Lesen!) verlängern und die Jugendlichen draußen vor der
Tür lassen.
- Meine Damen und Herren, ich habe gelesen, daß
Sie das jetzt wieder als Absicht bekundet haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
(Fortgesetzte Zurufe von der CDU/CSU) PDS)
Sie haben mich immer noch nicht verstanden. Ein Deswegen wäre es sinnvoller, darüber zu reden, ob
solches Gesetz gibt es nicht. Es wäre an der Zeit, die- man nicht gleitende Übergänge wählt, wie sie be-
ses Gesetz zu realisieren. reits beim Vorruhestand diskutiert worden sind. Ich
halte solche Ansätze für sinnvoller als dieses st rikte
Der zweite Punkt, den wir ansprechen müssen, ist
Vorgehen nach den alten Verhaltensmustern, das
natürlich die Notwendigkeit, die Kosten im Gesund-
dann eben zu dem sicherlich auch von Ihnen nicht
heitswesen einzudämmen. Aber, meine Damen und
Herren, wenn wir die Kosten im Gesundheitswesen gewollten Ergebnis führt, daß die Jugendlichen noch
größere Probleme haben werden, in Zukunft einen
eindämmen wollen, bedürfen wir, auch was die Län-
der- und die Gemeindeseite angeht, einer Gesamt- Erwerbsarbeitsplatz zu finden.
vereinbarung. An dieser Stelle möchte ich Sie auf die Wider-
sprüchlichkeit Ihrer ordnungspolitischen Vorgehens-
Nachdem jetzt die Wahlen vorüber sind, wäre es
weise aufmerksam machen. Obwohl Sie immer wie-
an der Zeit, daß es zu einer abgestimmten Gesamt-
der die Subsidiarität hochhalten, obwohl Sie immer
vereinbarung kommt; denn es ist nun einmal so: Man
wieder sagen: „Was andere tun können, soll der
kann diese Kostendämpfung nicht nur im Hinblick
Staat nicht tun", haben Sie jetzt bei der Lohnfortzah-
auf die Krankenhäuser unter Ausklammerung der
lung gesagt: Nachdem die Tarifvertragsparteien das
ambulanten Versorgung und anderer Teilbereiche re-
nicht ordentlich hinbekommen, muß der Staat das
geln. Man muß ein Gesamtpaket vorlegen. Wir sind
jetzt machen. - Interessant ist, daß Sie dieselbe Logik
nach wie vor zur Verabschiedung eines sozial ausge-
nicht bei unserer Jugend anwenden. Da verlassen
wogenen Gesamtpakets bereit.
Sie sich auf freiwillige Zusagen der Wirtschaft, von
(Beifall bei der SPD) denen wir wissen, daß sie nicht eingehalten werden.
Wenn Sie also springen, dann springen Sie bitte
Dritter Punkt: Rentenreform. Wir haben bei der ganz, sonst ist Ihre Ordnungspolitik so im Schleu-
Umstellung der Rentenformel von brutto auf netto dern, wie das der Finanzwissenschaftler dargestellt
mitgewirkt, und wir stehen zu dieser Vereinbarung. hat, den ich zu Beginn zitiert habe. Das ist nicht lo-
Wir haben Ihnen ebenfalls gesagt, daß wir bereit
gisch.
sind, beim Vorruhestand eine sachgemäße Lösung zu (Beifall bei der SPD)
finden, weil die bisherige Lösung nicht akzeptabel
war. Wenn aber jetzt von Ihnen gesagt wird, das, was Einfache Zusagen - ich denke dabei insbesondere
wir bereits beschlossen haben, sei nicht mehr ver- an die neuen Bundesländer - wie „Wir sind bereit,
handlungsfähig, dann müssen Sie verstehen, daß uns zu bemühen, mehr einzustellen" sind in der ge-
dies keine Grundlage einer sachgemäßen Zusam- genwärtigen konjunkturellen Phase so unverbind-
menarbeit sein kann. Wer den Kompromiß sucht, darf lich, daß jeder weiß, daß sie genausowenig eingehal-
nicht sagen, das, was wir bereits entschieden haben, ten werden wie die Kreditzusagen der p rivaten Ban-
sei nicht mehr verhandlungsfähig. ken zur Finanzierung des Aufbaus im Osten.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich möchte Ihnen etwas dazu sagen, daß Sie das Deshalb wäre es sinnvoll, meine Damen und Her-
Renteneintrittsalter anheben wollen. Im Gespräch ren, sich an dieser Stelle weitergehende Schritte zu
8990 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)


überlegen. Es ist richtig, daß wir die sozialen Versi- Es ist gut, wenn Sie dazulernen. Aber glauben Sie ja
cherungssysteme sanieren müssen. Es ist aber ge- nicht, daß das, was Sie an Konsoldierungsvorschlä-
nauso richtig, daß wir einfach in der Verantwortung gen hier vortragen, andernorts nicht längst in Ang riff
stehen, das Vertrauen unserer Jugendlichen in un- genommen oder mit größerem Erfolg schon bewältigt
sere staatliche Organisation und die Gesellschaft zu worden wäre.
erhalten. Jugendarbeitslosigkeit muß bekämpft wer-
den, notfalls mit staatlichen Mitteln, meine Damen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
und Herren. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. In
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der jetzigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung
PDS) kommt alles darauf an, die Zeichen auf mehr Wachs
tum und Beschäftigung zu stellen. Wenn man mehr
Ein vierter Konsolidierungspunkt, den wir anspre- Wachstum und Beschäftigung will, dann brauchen
chen müssen, sind die öffentlichen Personalhaus- wir ein abgestimmtes Vorgehen der Geldpolitik, der
halte. Allerdings, meine Damen und Herren: Wer Lohnpolitik und der staatlichen Finanz- und der So-
pauschal Nullrunden fordert, muß zunächst einmal in zialpolitik. Nach unserer Überzeugung haben Geld-
den Spiegel schauen. Er muß zunächst einmal sagen, politik und Lohnpolitik in der jetzigen Phase ihre
was er unter Nullrunden versteht, ob er an einen In- Aufgaben erledigt. Nach unserer Überzeugung sind
flationsausgleich oder einen Rückgang der Realein- Ihre Vorschläge zur Finanzpolitik und zur Sozialpoli-
kommen denkt. tik nicht hinnehmbar. Sie verletzen das Gebot der
Stetigkeit, der Verläßlichkeit und der Ausgewogen-
(Ulrich Hein rich [F.D.P.]: Null ist Null!)
heit.
Dann muß er sich die Frage nach der sozialen Ausge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
wogenheit stellen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) -
Daß wir in den öffentlichen Haushalten Konsolidie-
Zum Gebot der Stetigkeit. Was stellen Sie sich ei-
rungsbedarf haben, wird von niemandem bestritten.
gentlich vor? Daß wir vor einigen Monaten einen
Wenn wir im Hinblick auf die Besoldung des Bundes-
mühsamen Kompromiß beim Kindergeld und bei der
kanzlers, der Ministerpräsidenten und aller anderen,
Freistellung niedriger Einkommen von den Steuern
die als Beamte in hohen Besoldungsstufen sind, Null
gefunden haben, um ihn nach wenigen Monaten
sagen und gleichzeitig dasselbe für diejenigen Be-
wieder in Frage zu stellen? Rein in die Kartoffeln,
amten und Angestellten, die in den niedrigsten Be-
raus aus den Kartoffeln - so ist nun wirklich keine
soldungsstufen bzw. Vergütungsgruppen sind, vorse-
stetige Finanzpolitik für unseren Staat zu machen.
hen, dann sind wir in unserem Volke nicht glaubwür-
dig. Deshalb halte ich etwas davon, in dieser Tarif- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
runde Sockelbeträge ins Auge zu fassen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß Sie mo-
und der PDS) natelang die Förderung der Abschaffung der priva-
ten Vermögensteuer vorgeschlagen haben in einer
Im übrigen haben wir seit langem angeboten, bei
Zeit, in der Sie bei Sozialhilfeempfängern, Rentnern,
den Personalkosten im öffentlichen Dienst zwei län-
Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-
gerfristig wirkende Strukturreformen zu diskutieren.
hilfe kürzen wollen und die Arbeitnehmer immer
Ich habe im Bundestag schon mehrfach die Frage der
stärker belasten wollen? Wer solche Vorschläge mo-
nicht an der Leistung orientierten Regelbeförderung
natelang vorträgt, der läßt jedes Empfinden für so-
angesprochen und dazu eingeladen, bei den jetzigen
ziale Gerechtigkeit vermissen.
Beratungen im Bundesrat darüber zu reden. Wenn
wir mehr Leistung in den Verwaltungen wollen, müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
sen wir über dieses Strukturelement der Besoldung ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
im öffentlichen Dienst sprechen. und der PDS)
Genauso ergebnislos hat das Saarland seit Jahren Wir werden daher die sich jetzt abzeichnende Kor-
vorgeschlagen - ich sage das, weil so oft „Saarland" rektur, die Sie vorschlagen und die wir anerkennen,
dazwischengerufen wurde -, den Tatbestand zu kor- sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt und auf die kon-
rigieren, daß drastische Verkürzungen der Lebensar- kreten Vorschläge hin prüfen.
beitszeit etwa bei den Beamten gleichwohl zur vollen
Pension führen. Eine solche Entwicklung ist nicht ak- Eines möchte ich zum Schluß sagen: Bitte glauben
zeptabel. Sie uns, es geht nicht nur um die Frage der richtigen
Vorschläge in der Finanzpolitik und in der Steuerpo-
Da Sie in Ihrem Programm zum Beispiel vorschla- litik und der richtigen Vorschläge, um mehr Innova-
gen, Zusatzleistungen bei der Krankenhausversor- tionen und Wachstum in unserer Gesellschaft durch-
gung jetzt auch bei den Beamten zurückzunehmen, zusetzen. Es geht vielmehr um einen Kernbestand
will ich Sie mit etwas vertraut machen: Sowohl die unserer Nachkriegsgesellschaft. Dieser Kernbestand
Abschaffung der Ministerialzulage als auch die Ab- waren der Sozialstaat und die soziale Gerechtigkeit.
schaffung dieser Zusatzleistungen sind im Saarland Bitte zerstören Sie nicht mutwillig diesen Konsens
schon längst beschlossen und die Abschaffung der unserer Nachkriegsgesellschaft! Ein solches Vorge-
Zusatzleistungen auch in Hamburg und in Bremen. hen wird sich bitter rächen und am Ende zu mehr Ar-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8991
Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)
beitslosigkeit und zu höherer Staatsverschuldung Pro Mitarbeiter und Jahr gehen etwa 15 Ar-
führen. beitstage durch Arbeitsunfähigkeit verloren. Dies
führt zu im internationalen Vergleich hohen zu-
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD - sätzlichen Kostenbelastungen der deutschen Un-
Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ternehmen. Um dem entgegenzuwirken, hält es
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS - die Bundesregierung für notwendig, daß die Ta-
Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Heuchelei!) rifpartner - entsprechend der Verabredung in
dem Gespräch beim Bundeskanzler am
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht der Frak- 23. Januar 1996 (Bündnis für Arbeit und zur
tionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäu- Standortsicherung) - Möglichkeiten zur Vermin-
ble. derung von Fehlzeiten in den Bet rieben konkreti-
sieren....
(Abgeordnete der SPD verlassen den Saal -
Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es wurde immer gesagt: Wenn die Tarifpartner
Freizeit hat begonnen! - Bundesminister dazu Ergebnisse bringen, muß der Gesetzgeber nicht
Dr. Theodor Waigel: Bye-bye! - Zurufe von handeln. Die Tarifpartner haben am Dienstag erklärt,
der CDU/CSU: Auf Wiedersehen! - Schönes sie seien nicht in der Lage, zu Ergebnissen zu kom-
Wochenende! - Zuruf von der SPD: Gucken men. Ich will das nicht würdigen. Deswegen haben
Sie doch mal Ihre Reihen an, wie leer das wir entsprechend unserer Ankündigung unsere Be-
ist!) schlüsse gefaßt. Nehmen Sie den Vorwurf zurück,
wir hätten vor den Wahlen nicht angekündigt, was
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi- wir jetzt beschlossen haben!
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
haben vier Millionen Arbeitslose in unserem Land,
und ich finde, die Debatte und die Art, wie wir sie Dann haben Sie gesagt, wir hätten unsere Absich-
führen, sollten dieser Tatsache Rechnung tragen. Ich ten und Vorschläge zum Kündigungsschutzgesetz
bitte Sie alle darum. nicht vorher bekanntgemacht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Lesen Sie einmal
Zuruf von der SPD: Da bin ich aber vor, wo steht, daß das Kindergeld nicht
gespannt!) erhöht wird!)
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben ge- - Ja, ich lese es Ihnen vor; seien Sie ganz ruhig. - Ich
sagt, Fairneß und das Bei-der-Wahrheit-Bleiben soll- lese zum Kündigungsschutz Ziffer 20 des Aktions-
ten die Grundlage dieser Debatte sein. Dem wi ll ich programms für Investitionen und Arbeitsplätze vor:
ausdrücklich zustimmen. Sie haben auch gesagt, die
Regierungserklärung des Bundeskanzlers be- Ohne den Kündigungsschutz einzuschränken,
schreibe die Lage und den Handlungsbedarf richtig. sollen Regelungen präzisiert und klarer gefaßt
Sie haben dann den Vorschlägen zum Teil zuge- werden. Dies gilt insbesondere für die Sozialaus-
stimmt und zum Teil kritische Anmerkungen dazu wahl und die dabei zu berücksichtigenden be-
gemacht. Aber Sie sind Ihrer eigenen Anforderung, trieblichen Notwendigkeiten bei betriebsbeding-
bei der Wahrheit zu bleiben, nicht gerecht geworden, ten Kündigungen.
weil Sie dem Bundeskanzler unterstellt haben - das
haben Sie ganz am Anfang gesagt -, die Rede sei Das ist das gleiche, was jetzt in unserem Programm
zwar gut, aber sie hätte schon vor ein paar Wochen, steht.
nämlich vor den Landtagswahlen, gehalten werden Die Bundesregierung wird die zulässige Dauer
müssen. Sie haben gesagt, wir hätten vor den Land- von befristeten Arbeitsverhältnissen nach dem
tagswahlen nicht dasselbe gesagt, was wir jetzt als Beschäftigungsförderungsgesetz auf 24 Monate
Konzept vorlegen. Das ist nicht die Wahrheit. ausdehnen und in diesem Rahmen eine Mehr-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fachbefristung zulassen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit wir das Die Bundesregierung beabsichtigt, zur Förde-
gleich friedlich ausräumen und es so machen, wie es rung von Beschäftigung in kleineren Unterneh-
Herr Lafontaine gesagt hat - mir ist es damit sehr men und von Teilzeitarbeit den Schwellenwert im
Ernst, daß ein falscher Eindruck ausgeräumt wird -: Kündigungsschutzgesetz zu erhöhen
Wir haben Ende Januar das 50-Punkte-Aktionspro-
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
gramm für Investitionen und Arbeitsplätze vorge-
legt. Ich will hier nicht alles vortragen. Aber Sie ha- und Teilzeitarbeitnehmer im Arbeitsrecht anteilig
ben als erste Punkte unsere Absichten hinsichtlich zu berücksichtigen; sie wird darüber mit den Ta-
des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung rifpartnern Gespräche aufnehmen.
genannt, Herr Lafontaine.
Herr Lafontaine, Sie müssen zurücknehmen, daß
Jetzt lese ich Ihnen aus unserem 50-Punkte-Pro- wir vor den Wahlen nicht gesagt hätten, was wir
gramm für Wachstum und Beschäftigung von Ende diese Woche beschlossen haben.
Januar - der Bundeskanzler hat darauf Bezug ge-
nommen; es ist ja veröffentlicht worden, und wir ha- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und
ben darüber debattiert - die Ziffer 18 vor: der F.D.P.)
8992 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Dr. Wolfgang Schäuble


Weil Sie es ja so damit haben, daß andere lesen sol- anderes mehr im Bereich der industriellen Produk-
len, wie gut man informiert ist, haben Sie, was ich tion und im Bereich großer Verwaltungen - denken
sehr begrüße, gesagt, man solle doch die Möglichkeit Sie an Banken oder Versicherungen - Rationalisie-
der Verrechnung mit dem Bezug von Sozialhilfe bei rungsfortschritte haben, die wir zwar beklagen, aber
eigener Arbeit von Sozialhilfeempfängern verbes- nicht ändern können, denen wir uns stellen müssen,
sern. Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich darf Sie weil sonst noch mehr Arbeitsplätze verlorengehen.
darüber informieren, daß das entsprechende Gesetz Diese Entwicklung führt dazu, daß wir das Ziel Ar-
zur Reform des Sozialhilferechts vom Deutschen beit für alle eben nicht mehr nur im Bereich indu-
Bundestag am 22. März 1996 verabschiedet worden strieller Produktion erreichen können, sondern dabei
ist. stärker als bisher den Bereich neuer Beschäftigungs-
(Zuruf von der F.D.P.: Die Schulstunde für felder, insbesondere die privaten Haushalte und den
Dienstleistungssektor insgesamt einbeziehen müs-
Lafontaine!)
sen. Das führt dazu, daß das Problem der Lohnzu-
Das Problem ist leider nur, daß der Bundesrat das Ge- satzkosten, das Problem der Flexibilisierung und das
setz bisher abgelehnt hat. Der Vermittlungsausschuß Thema, neue Antworten zu suchen, eine ganz an-
wird am Montag kommender Woche darüber bera- dere Bedeutung gewinnen, wenn man Arbeitslosig-
ten. Ich hoffe, daß Ihre Ankündigung auf mangeln- keit nicht nur als Möglichkeit zur demagogischen
der Information beruht und so zu verstehen ist, daß Auseinandersetzung begreift, sondern als eine Her-
Sie darauf hinwirken werden, daß wir rasch die Zu- ausforderung, zu deren Bewältigung wir alle aufge-
stimmung des Bundesrates zu dem vom Bundestag rufen sind.
verabschiedeten Gesetz bekommen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und
der F.D.P.) Veränderungen ergeben sich auch auf Grund der
demographischen Entwicklung. Am liebsten würden
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nachdem klar- Sie auch noch dafür den Bundeskanzler verantwort-
gestellt ist, daß der wesentliche Inhalt dessen, was lich machen. Ich weiß, daß er Ihrer Meinung nach für
die Koalitionsfraktionen nach intensiver, aber auch alles und vor allem für die Lösung aller Probleme zu-
zügiger Beratung gestern abend beschlossen haben, ständig ist. Ich habe verstanden - ich will ausdrück-
was wir Ihnen vorlegen und was der Bundeskanzler lich sagen, daß ich Ihre Meinung teile -, daß es,
in seiner Regierungserklärung vorgetragen und be- wenn Veröffentlichungen zutreffen, in Vorstandseta-
gründet hat, bereits vor den Wahlen angekündigt gen großer deutscher Unternehmen bei der derzeiti-
war, können wir zur Sache zurückkehren. Die Regie- gen Situation, wo man zum Teil Dividendenzahlun-
rungserklärung des Bundeskanzlers - das hat auch gen aussetzen muß und wo Arbeitsplätze abgebaut
Herr Lafontaine nicht bestritten - hat zutreffend die werden, als vordringliches Problem angesehen wird,
Notwendigkeit beschrieben, daß wir angesichts dra- die Anpassung der Vorstandsbezüge an amerikani-
matischer Veränderungen in der Welt wie in der sche Verhältnisse auf die Tagesordnung zu setzen.
Wirklichkeit unserer Arbeitswelt und unserer Gesell- Ich finde, wir haben dringendere Probleme in unse-
schaft neue Antworten auf neue Herausforderungen rem Land zu lösen. Dafür ist der Bundeskanzler aber
finden müssen. Das ist die eigentliche Aufgabe, die nicht verantwortlich.
in unserem Land gestellt ist, der sich alle stellen müs-
sen und der wir uns mit unserem Programm für mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge-
Wachstum und Beschäftigung stellen wollen, dem ordneten der F.D.P.)
diese Debatte dient. Das sollten wir gemeinsam sagen. Vielleicht können
Die großen Veränderungen, die in der Welt statt- sogar die Arbeitnehmervertreter in den entsprechen-
finden und auf die wir Antworten suchen müssen, den Vorständen daran mitwirken, daß man sich auf
können damit beschrieben werden, daß wir eine Glo- die vorrangigen Prioritäten, auch in den Vorstands-
balisierung von Märkten haben, daß der Wettbewerb etagen, konzentriert. Später kann man dann noch an-
um die Standorte von Investitionen und Arbeitsplätze deres machen.
nach dem Ende der europäischen Teilung ganz an- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU
ders geworden ist, als er noch vor wenigen Jahren und der F.D.P.)
war, daß wir deshalb um die Wettbewerbsfähigkeit
unserer Wirt schaft und damit um die Zukunft unse- Was die demographische Entwicklung betrifft, so
res Wohlstands und unserer sozialen Sicherheit rin- müssen wir doch sehen - es hat doch keinen Sinn,
gen müssen und daß wir wettbewerbsfähig bleiben uns die Verantwortung gegenseitig zuzuschieben -,
bzw. wettbewerbsfähiger werden müssen, als wir es daß die Lebenserwartung gestiegen ist und weiter
in den letzten Jahren geworden sind. Das ist die steigt. Daß übrigens die Lebenserwartung in den
eigentliche Aufgabe. neuen Bundesländern schon im Vergleich zu 1989 im
Ansteigen begriffen ist, gehört zu den erfreulichsten
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dingen, die wir in unserem wiedervereinten Vater-
Zu den großen Veränderungen gehört ganz genauso lande zu registrieren haben.
- ich könnte viele beschreiben; ich will nur wenige
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Hauptlinien aufzeigen, um zu begründen, worin un-
sere Antworten bestehen -, daß wir durch die Ent- Darüber, daß wir aber bei gleichzeitig gesunkenen
wicklung der modernen Technik und Forschung; ins- Geburtenzahlen nicht den Weg in eine immer kür-
besondere durch die Kommunikationstechnik und zere Lebensarbeitszeit fortsetzen können, wenn die
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8993
Dr. Wolfgang Schäuble
Grundlagen unseres Wohlstandes und unserer sozia- tretbaren Korrekturen haben ein einziges Ziel: unse-
len Sicherungssysteme stabil bleiben und als zu- ren Wohlstand, unsere soziale Sicherheit und mehr
kunftsfähig erhalten werden sollen, sollten wir nicht Arbeitsplätze auch für die Zukunft zu sichern. Darum
streiten, sondern wir sollten darauf die richtigen Ant- und um nichts anderes geht es, und da sollten wir
worten suchen. Wir legen dazu in unserem Pro- uns nicht gegenseitig diffamieren.
gramm für Wachstum und Beschäftigung Antworten
vor, wobei wir gerne in der Auseinandersetzung mit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Ihren Standpunkten überprüfen wollen, ob es noch Wir müssen auch neue Beschäftigungsfelder er-
bessere Wege gibt. schließen. Deswegen glaube ich, daß unser Schritt
richtig ist. Ich habe aufmerksam zugehört und die
Dies alles sind Veränderungen, auf die wir reagie-
Zuversicht geschöpft, daß die Sozialdemokratische
ren wollen und müssen, wenn wir unsere Chancen
Partei ihre Position, die sie über viele Jahre einge-
für die Zukunft sichern wollen. Deswegen geht es
nommen hat, korrigiert. Wir sind der Überzeugung,
gar nicht um Einsparungen, um Opfer und Ein-
daß wir p rivate Haushalte stärker als Arbeitgeber
schränkungen, sondern es geht darum, die notwen-
für reguläre Beschäftigungsverhältnisse steuerlich
digen Schritte zu tun, damit wir auch weiterhin in
anerkennen müssen. Das haben Sie über viele Jahre
Wohlstand, in sozialer Gerechtigkeit und in einer si-
mit dem Totschlagargument „ Dienstmädchenprivi-
cheren Zukunft leben können. Das ist das Ziel.
leg " verhindert und diffamiert. Jetzt sind Sie dabei,
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ihre Position zu korrigieren. Ich begrüße das aus-
drücklich und werbe dafür, daß Sie das unterstützen.
Dazu müssen wir nach unserer Überzeugung kleine
und mittlere Unternehmen befähigen, mehr Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
plätze zu schaffen. Deswegen konzentrieren wir uns Wenn wir über die Lebenswirklichkeit von Men-
in unserem Programm auf die Förderung neuer klei- schen, Frauen und Männern, reden, dann wissen wir,-
ner und mittlerer Unternehmen und auf die Förde- daß Einstellungen und Lebensplanungen sich verän-
rung von Existenzgründern. Deswegen setzen wir in dern, daß heute mehr Menschen als zu Lebzeiten der
unserem Programm darauf, Existenzgründer zu för- Generation unserer Eltern und Großeltern ihre Le-
dern, die Eigenkapitalbildung in neuen, expandie- bensplanung darauf abstellen, daß sie gern erwerbs-
renden Unternehmen zu verstärken und den Zugang tätig sein wollen und daß sie sich bei der Erledigung
zu Wagniskapital zu verbessern. Das alles sind die häuslicher Arbeit in einem stärkeren Maße als früher
Schritte. Deswegen konzentrieren wir uns auch dar- auch der Anstellung von Arbeitskräften bedienen
auf, wie schon Ende Januar angekündigt, die Einstel- wollen. Dieser Leistungsaustausch wird aber nur
lungsmöglichkeiten, auch durch die Anhebung von funktionieren, wenn er außerhalb von Schwarzarbeit
Schwellenwerten beim Kündigungsschutz, bei klei- und Schattenwirtschaft erfolgt, wenn wir die steuerli-
nen Unternehmen im Handwerk zu verbessern. chen Rahmenbedingungen dafür schaffen, daß dies
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tatsächlich nicht in die Schattenwirtschaft abge-
drängt wird. Deswegen legen wir diesen Vorschlag
Wir müssen nach unserer Überzeugung Einstel- vor und werben bei Ihnen um Unterstützung.
lungshemmnisse abbauen, und wir müssen nach un-
serer Überzeugung die Bereitschaft zur Neueinstel- Ich habe überhaupt bei vielen Ihrer Vorschläge -
lung, zur Schaffung von neuen und von mehr Ar- soweit ich sie nachvollziehen konnte und soweit Sie
beitsplätzen verbessern. Wir sollten uns nicht durch sie auch schriftlich übermittelt haben - die Sorge,
Scheuklappen und Tabus den Zugang zur Lösung daß das, was Sie aufs Papier schreiben, nicht der
der Probleme versperren. Deswegen finde ich auch, Wirklichkeit im Leben entspricht. Man kann wunder-
daß der Gesetzgeber in allen Bereichen, die nicht bar darüber diskutieren - die Debatte wird auch in
tarifvertraglich geregelt sind - wir respektieren die meiner Fraktion geführt; liebe Kolleginnen und Kol-
Tarifautonomie - die Regelungen für die Lohnfort- legen, warum soll man darüber nicht reden? -, ob die
zahlung im Krankheitsfall und die Entgeltfortzah- Entwicklung bei den geringfügigen Beschäftigungs-
lung im Urlaub verhältnissen auf Dauer ohne jede Veränderung so
weitergehen kann. Aber, Herr Kollege Lafontaine,
(Peter Conradi [SPD]: Auch für Beamte!)
wenn wir diese Beschäftigungsverhältnisse einfach
- auch für Beamte; das steht ausdrücklich in unserem abschaffen, dann - das sage ich Ihnen voraus - wird
Programm, Herr Conradi; ich kann es Ihnen gerne die Antwort der Realität die sein, daß wir nicht mehr
vortragen; ich werbe um Zustimmung -, modifizieren Beschäftigungsverhältnisse bekommen, sondern
und eine Selbstbeteiligung im Krankheitsfall und noch mehr Schwarzarbeit und noch mehr Schatten-
eine Anrechnung von Überstunden bei der Entgelt- wirtschaft. Das möchten wir vermeiden.
fortzahlung im Urlaub einführen sollte. In allen ande- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ren Ländern ist das auch so geregelt. Ich meine, daß
man in den Fällen, in denen man nicht arbeitsfähig Es nützt uns nichts, wenn wir auf dem Papier
ist, nicht genausoviel oder gar mehr bekommen kann scheinbar gute Programme machen, die in der Wirk-
wie dann, wenn man erwerbstätig ist. Der Vorschlag, lichkeit nicht funktionieren. Wir müssen doch sehen,
den wir hier machen, nicht etwas Unzumutbares, wie daß es ein entscheidendes Problem ist, daß ein immer
überhaupt alles das, was wir vorschlagen, überhaupt größerer Teil von Beschäftigung in die Grauzone von
nicht als „Kahlschlag" oder „tiefer Einschnitt" oder Schattenwirtschaft und Schwarzarbeit abdriftet. Des-
„Opfer" zu begreifen ist. Nein, die notwendigen, wegen ist es die Hauptaufgabe, wenn wir mehr Ar-
aber zumutbaren und sozial ausgewogenen und ver beitsplätze, mehr Wachstum, mehr wi rtschaftliche
8994 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ril 1996

Dr. Wolfgang Schäuble


Dynamik und damit mehr soziale Sicherheit wollen, ich Ihnen: Angesichts des Standortwettbewerbs um
daß wir den zu breit gewordenen öffentlichen Korri- Investitionen und Arbeitsplätze - noch immer sind
dor - das nennt man Staatsquote bzw. Steuer- und unsere Hauptkonkurrenten die westeuropäischen
Abgabenquote - etwas enger gestalten. Deswegen Nachbarn, und die anderen EU-Länder haben im
sind alle unsere Bemühungen, durch Einsparungen Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland durch-
Steuern und Abgaben allmählich senken zu können, schnittlich um 25 Prozent niedrigere Strompreise -
nicht Sparaktionen um des Sparens willen, sondern wird jeder Schritt, der die Kostensituation des Stand-
es sind notwendige Beiträge, um mehr Arbeitsplätze ortes Deutschland im Vergleich zu unseren Pa rtnern
zu bekommen. Darum geht es und nicht um einen in Europa zusätzlich belastet, den Prozeß der Ausla-
anderen Zusammenhang. gerung von Arbeitsplätzen verschärfen und ist des-
wegen in dieser Situation das falsche Rezept.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Deswegen sind Ihre Alternativen aus meiner Sicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nicht hinreichend geeignet. Sie sagen, wir sollten Aus diesem Grunde möchten wir in dieser Situation
Leistungen aus der Sozialversicherung auf die öffent- nichts tun, was die Chancen für mehr Arbeitsplätze
lichen Haushalte umfinanzieren. Dieses Argument und weniger Arbeitslosigkeit weiter verschlechtert.
haben wir auch in unseren eigenen Reihen hin und Deshalb konzentrieren wir uns auf diese Dinge.
her abgewogen. Tun wir doch nicht so, verehrte Kol-
leginnen und Kollegen, als hätte der eine recht und Wir haben ja auch hinsichtlich der Durchführung
der andere unrecht, sondern lassen Sie uns doch um einer Kraftfahrzeugsteuerreform lange miteinander
die bessere Lösung, um die richtigen Antworten rin- diskutiert, nachgedacht und gerungen, ob es richtig
gen! Die Lage ist ernst genug, und die Probleme sind ist, die Kraftfahrzeugsteuer jetzt auf die Mineralöl-
wichtig genug. steuer umzuverlagern, oder ob es nicht der bessere
Weg ist, zunächst einmal eine schadstoffemissionsbe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zogene Kraftfahrzeugsteuerreform zu verwirklichen.
Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, daß in der
jetzigen Situation unseres Landes, unserer Wi rtschaft Die Umweltpolitiker haben uns ganz überwiegend
und unserer Gesellschaft die Staatsquote, die wir ja gesagt, der bessere Weg, schneller zu einer stärkeren
zwischen 1982 und 1989 - der Bundeskanzler hat Reduktion der Emissionen durch den Kraftfahrzeug-
darauf hingewiesen - von 52 auf unter 46 Prozent re- verkehr zu kommen, sei unsere Form der schadstoff-
duzieren konnten, als Folge von 40 Jahren Teilung emissionsbezogenen Kraftfahrzeugsteuerreform. Wir
schlagen Ihnen das so vor,
und Sozialismus wieder zu hoch geworden ist.
Wir müssen deswegen zunächst Einsparungen (Beifall bei der CDU/CSU)
durchsetzen; denn durch Umschichtungen, durch weil wir uns darauf konzentrieren müssen, wenn wir
Umfinanzierungen reduziert man die Staatsquote der Umwelt helfen wollen.
nicht. Die Staatsquote zu reduzieren heißt, Einspa-
rungen auf der Ausgabenseite der öffentlichen Haus- Das ist im übrigen auch für die wi rtschaftliche Dy-
halte und der Sozialversicherungen vorzunehmen. namik günstig: Wenn wir die Umrüstung der Fahr-
Aus diesem Grunde haben wir uns dafür entschie- zeugflotte von nicht schadstoffarmen auf schadstoff-
den, zunächst auf der Ausgabenseite zumutbare Ein- ärmere Kraftfahrzeuge beschleunigen, bewirkt dies
sparungen durchzusetzen und in einem nächsten auch einen positiven Impuls für Wachstum und Be-
Schritt schnell, aber auch gründlich vorbereitet schäftigung, für Arbeitsplätze in unserem Land.
durch die beiden Kommissionen unter dem Vorsitz Auch unter diesem Aspekt scheint uns dies der rich-
von Finanzminister Theo Waigel und Arbeitsminister tigere Weg zu sein. Deswegen werbe ich schon jetzt
Norbert Blüm, darüber zu reden, welche weiteren um Ihre Zustimmung.
Schritte zusätzlich gegangen werden können.
Wir haben aber auch gesagt: Ab 2003 kann unse-
(Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard res Erachtens bei der Kraftfahrzeugsteuerreform der
Hirsch) nächste Schritt getan werden, den wir nur im Einver-
nehmen mit den Ländern gehen wollen und gehen
Wenn wir uns jetzt dem Zwang zu Einsparungen
werden. Wir wollen ja all diese Dinge im Einverneh-
bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie bei den
men mit den Ländern machen, zumal die Kraftfahr-
Sozialversicherungen dadurch entziehen würden,
zeugsteuer eine Steuer ist, deren Aufkommen aus-
daß wir neue Finanzquellen erschließen, dann wür-
schließlich den Bundesländern zukommt.
den wir einen Fehler machen, und die Staatsquote
würde nicht sinken, sondern weiter steigen. Deshalb Deswegen müssen wir ökologische und ökonomi-
sind wir dagegen. sche Argumente und Gesichtspunkte unter Berück-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sichtigung und nach eingehender Analyse der heute
gegebenen Lage, der Notwendigkeiten und Prioritä-
Sie sagen, man sollte eine ökologische Steuerre- ten richtig miteinander verbinden. Unser Programm,
form durchführen. Wir haben darüber schon einige das wir Ihnen vorschlagen und wofür wir um Ihre Zu-
Male diskutiert; man muß es ja auch immer wieder stimmung werben, ist meines Erachtens der bessere
tun. Auch da hat der eine nicht nur recht und der an- Weg, um der Umwelt zu dienen und zugleich die
dere nicht nur unrecht. Wenn wir aber über die Frage Chancen für mehr Arbeitsplätze, mehr Beschäfti-
diskutieren, ob dies unter Berücksichtigung aller Ge- gung und mehr wirt schaftlichen Wohlstand in unse-
sichtspunkte jetzt ein richtiger Schritt ist, dann sage rem Lande zu erschließen.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ri l 1996 8995
Dr. Wolfgang Schäuble
Ich glaube, daß das, was Sie unter dem Schlagwort Herr Ministerpräsident Lafontaine, wenn wir uns
„ökologische Steuerreform" in die Debatte einge- eigentlich einig sind - -
bracht haben, am Ende nur zu einer Verteuerung der
Energie und zu weniger Beschäftigung und im Er- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Lieber die
gebnis auch zu weniger Umweltstandards in Europa Umwelt versauen!)
führt; denn wenn die Produktion aus Deutschland - Ich habe mir angesichts des Ernstes der Lage und
verlagert wird, dient das ja auch der Umwelt nicht, der Bedeutung der Aufgabe, vor der unser Land und
weil wir die höchsten Umweltstandards in der Pro- unsere Gesellschaft stehen, vorgenommen, nur zur
duktion haben. Sache zu argumentieren und nicht immer nur
schwarzweiß zu malen, und deswegen werde ich
(Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt] nicht jeden Ihrer Zwischenrufe aufnehmen; dann
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) käme ich ein wenig vom Pfad der Tugend ab.
- Herr Kollege Fischer, mein Wahlkreis endet an der (Zustimmung bei der CDU/CSU)
Stadtgrenze von Straßburg. Ich könnte Ihnen jetzt
Wenn wir uns einig sind, daß wir, um mehr Arbeits-
die Presseerklärung des Druckhauses Burda in Of-
plätze schaffen zu können, die zu hohe Belastung an
fenburg verlesen, mit der begründet wurde, warum
Steuern und Abgaben reduzieren müssen, dann soll-
der Verlag gezwungen ist, einen Teil seiner Produk-
ten Sie, Herr Lafontaine, unsere Vorschläge hier
tion von deutschen Standorten in die Druckerei in
nicht so sachwidrig darstellen. Sie haben am Schluß
Vieux-Thanne im Oberelsaß zu verlagern, weil die
plötzlich gesagt, daß Sie offenbar zur Kenntnis ge-
Kosten durch die Tarifverträge, die im Bereich der
nommen haben, daß unser Vorschlag eben nicht ist,
Druckindustrie geschlossen worden sind, in den
die private Vermögensteuer ersatzlos abzuschaffen.
deutschen Bet rieben genau doppelt so hoch sind wie
Ich meine, es ist doch in Ordnung, daß wir in der Dis-
in dem elsässischen Bet rieb.
kussion manche Vorschläge gemacht haben; man
wird doch noch ein bißchen diskutieren dürfen. Aber
(Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/
da wir gesagt haben, am Donnerstag, dem 25. Ap ril,
DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht durch die
werden wir entscheiden, und schon am Freitag, dem
Energiekosten!)
26. April, möchten wir das gern mit Ihnen im Bundes-
tag debattieren, sollten wir uns doch an das halten,
- Entschuldigen Sie, ich könnte Ihnen eine Reihe von
was wir gemeinsam vorgeschlagen haben.
Betrieben in anderen Bereichen nennen. Wenn Sie
mal in der Gegend sind, zeige ich sie Ihnen. Unser Vorschlag ist, die Vermögensteuer genauso
wie die Gewerbekapitalsteuer auf Betriebsvermögen
(Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ als Steuern, die im Standortwettbewerb Investitionen
DIE GRÜNEN]: Wir reden gerade von den behindern, abzuschaffen
Energiekosten! - Gegenrufe von der CDU/
CSU) (Beifall bei der CDU/CSU)
und die p rivate Vermögensteuer, die Steuer auf Pri-
- Auch wenn er daraus lernt! Ich werbe bei jedem vatvermögen, mit der Erbschaftsteuer zusammenzu-
um Einsicht, und man soll die Hoffnung nie aufge- fassen. Dann haben wir soziale Ausgewogenheit und
ben. zugleich Steuervereinfachung.
(Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
DIE GRÜNEN]: Ja, Papa! - Bundesminister Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
Dr. Theodor Waigel: Er frißt nur die Diäten DIE GRÜNEN)
weg!)
- Ja, natürlich!
Ich habe die Diskussion um den Produktionsstand- (Zuruf von der SPD: Lächerlich!)
ort für ein neues Automobil in Lothringen oder in Ba-
den-Württemberg sehr genau miterlebt. Herr Bun- Herr Scharping, Sie haben in dem Zusammenhang
deskanzler, Sie haben sich damals dankenswerter- das Wo rt „obszön" gebraucht,
weise zusammen mit dem baden-württembergischen
(Rudolf Scharping [SPD]: Ja, allerdings!)
Ministerpräsidenten um diese Entscheidung bemüht,
ohne daß wir in die Entscheidung der Unternehmer und ich habe gesagt, wer so redet, kann nur wenig
eingreifen wollten; das können wir nicht, und das Argumente haben. Die Sprache ist manchmal verrä-
dürfen wir auch nicht. In jener Diskussion hat die terisch. Die Art , wie Herr Lafontaine hier aufgetreten
Frage der Energiepreise in Baden-Württemberg ei- ist, war es übrigens auch.
nerseits und in Elsaß-Lothringen andererseits eine
ausschlaggebende Rolle gespielt. Deswegen: Wer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Energiepreise in Deutschland erhöht, muß die Frage Kehren Sie zu einer sachgerechten Debatte zurück!
beantworten, ob das bei mehr als 4 Millionen Ar-
beitslosen verantwortbar ist. Ich halte es nicht für Wenn wir die Gewerbekapitalsteuer nicht ab-
verantwortbar. schaffen, wenn Sie Ihre Blockade der Abschaffung
der Gewerbekapitalsteuer nicht endlich aufgeben,
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und müssen wir zum 1. Januar in den neuen Bundeslän-
der F.D.P.) dern die Einheitsbewertung einführen. Dann bricht
8996 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Dr. Wolfgang Schäuble


die Steuerverwaltung in den neuen Bundesländern liegt derzeit bei knapp 4 Milliarden DM. Dabei han-
zusammen; sie kann das gar nicht leisten. delt es sich aber nicht nur um die Geldvermögen,
sondern um alle Privatvermögen zusammen.
(Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist
doch die Wirkung, nicht die Ursache!) Herr Scharping, die Rechnung, mit einer einpro-
zentigen Abgabe auf Geldvermögen, die es im Prin-
Die Tatsache, daß in den letzten fünf Jahren annä- zip schon gibt, plötzlich ein Aufkommen von
hernd 200 Milliarden DM Direktinvestitionen aus 35 Milliarden zu bekommen, ist in der Wirklichkeit - -
Deutschland ins Ausland geflossen sind, was aus vie-
len Gründen gut, notwendig und richtig ist - der (Zuruf von der CDU/CSU: Brutto!)
Bundeskanzler hat das in seiner Regierungserklä-
rung zutreffend beschrieben -, daß dem aber nur - Nein, das hat nichts mit brutto oder netto zu tun.
knapp 19 Milliarden DM Direktinvestitionen aus (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
dem Ausland in Deutschland gegenüberstehen, be-
schreibt etwas von dem Prozeß der Abwanderung Das ist etwas, was in der Lebenswirklichkeit nicht
von Investitionen und Arbeitsplätzen aus Deutsch- funktionieren kann. Diese Rechnung geht nicht auf.
land. Dies können wir nicht hinnehmen. Das müssen Wissen Sie, was Sie erreichen werden? Sie werden
wir ändern! die Kapitalflucht dramatisch verschärfen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Weil dies so ist, dürfen wir in Deutschland inve- Deswegen möchte ich an Sie appellieren: Cherle-
stiertes Kapital nicht höher besteuern, als es in ande- gen Sie sich solche Vorschläge gut! Sie funktionieren
ren Ländern der Fall ist. Sonst werden noch mehr Ar- nicht. Wenn ich sehe, daß es gemäß der gesamtwirt-
beitsplätze abwandern. Deswegen muß die Gewer- schaftlichen Statistik 3,5 Billionen DM Privatvermö-
bekapitalsteuer, die es sonst nirgendwo in Europa gen gibt, kann ich natürlich ausrechnen, daß 1 Pro-
gibt, weg. Deswegen muß nach dem Urteil des Ver- zent davon 35 Milliarden DM sind. Wie soll das aber
fassungsgerichts auch die Vermögensteuer auf Be- funktionieren? Wir haben einen Steuersatz auf Pri-
triebsvermögen weg. vatvermögen von 1 Prozent. Diese Frage hätten Sie
sich stellen müssen.
Dann aber macht es keinen Sinn - das werden Ih-
nen auch Ihre Finanzminister in den Ländern sagen -, (Rudolf Scharping [SPD]: Auf die Erträge,
die Vermögensteuer auf den p rivaten Teil der Vermö- verehrter Herr!)
gen aufrechtzuerhalten. Sie führt zu einem Steuer- - Aber Herr Scharping, die Vermögensteuer wird
aufkommen von etwa 4 Milliarden DM. Die Finanz- nicht auf die Erträge erhoben, sondern auf den Be-
ministerien der Länder sagen uns, daß sie, um diese stand.
4 Milliarden DM zu erheben, Kosten in Höhe von
2 Milliarden DM haben. Das macht doch keinen (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sinn. Dann ist es doch vernünftiger, den Betrag, der
- Verehrte Kollegen, es kann sich doch jeder einmal
sich netto an Aufkommen für die Länder tatsächlich versprechen.
ergibt, auf die Erbschaftsteuer zu schlagen und die
Vermögensteuer ganz abzuschaffen und damit ins- Die Vermögensteuer wird auf die Vermögen erho-
gesamt ein einfaches und sozial ausgewogenes Sy- ben. Die Steuer auf die p rivaten Geldvermögen, die
stem zu schaffen. Das ist unser Vorschlag. Sie mit 1 Prozent erfassen wollen, wird auf den Wert
erhoben. Da gibt es keine Einheitsbewertung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Rudolf Scharping [SPD]: Genau das meinte
Sie haben gestern abend - Herr Scharping schon ich! Darauf werde ich gleich zurückkom-
einige Tage zuvor, und er hat offenbar gestern abend men!)
Zustimmung gefunden - gesagt: Der Solidaritätszu-
schlag muß schnell abgebaut werden. - Verzeihen Sie: Die p rivaten Geldvermögen werden
von der Steuer mit 1 Prozent des Wertes erfaßt. Se-
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Was hat er hen Sie im Vermögensteuergesetz und im Bewer-
denn im Januar gesagt?) tungsgesetz nach! Die Besteuerung erfolgt so.
- Jeder darf klüger werden. Wir werden manchmal Diese Steuer ergibt heute insgesamt nicht einmal
auch klüger bzw. entwickeln uns weiter, Herr Kol- 4 Milliarden DM; und darin sind noch andere Vermö-
lege Gerhardt. genswerte erfaßt. Deswegen sage ich Ihnen: Ihr Vor-
Sie haben nun vorgeschlagen - darauf will ich auf- schlag funktioniert nicht. Sie sind manchmal, wie
merksam machen -, statt dessen eine Abgabe in auch wir, in der Gefahr, sich in den Konzepten eines
Höhe von 1 Prozent auf alle privaten Geldvermögen Entwurfs zu sehr auf das Papier zu konzentrieren
zu erheben. Ich habe mir überlegt, wie das funktio- und die Realität aus dem Blick zu verlieren. Das aber
nieren kann. Da stellt sich nämlich wieder das Pro- hilft unserem Lande nicht. Daher ist Ihr Vorschlag
blem des Unterschiedes zwischen Papier und Le- zur Lösung unserer Probleme ungeeignet.
benswirklichkeit. Wir haben mit der Vermögensteuer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nämlich schon einen Steuersatz auf Privatvermögen
in Höhe von 1 Prozent; diese Abgabe gibt es. Das Ge- Deswegen glaube ich, daß das, was wir jetzt in un-
samtaufkommen der Vermögensteuer auf Privatver- serem Programm auch steuerlich auf den Weg brin-
mögen - für die Erhebung sind die Länder zuständig - gen, der richtige Weg ist. Das, was wir an Vorschlä-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8997
Dr. Wolfgang Schäuble
gen machen, um die notwendige Rückführung von schlag - müssen wir die Sozialhilferegelsätze im
Steuern und Abgaben, um die notwendige Verringe- nächsten Jahr nicht anheben.
rung des öffentlichen Korridors zu erreichen, ist
wichtig, ist zumutbar, und es verdient in keinem Aber wenn wir die Sozialhilferegelsätze nicht an-
Falle eine Diffamierung, wie Sie sie teilweise in Ihrer heben müssen, weil wir Preisstabilität haben, weil
Rede zum Ausdruck gebracht haben. wir keine Inflation haben, dann, denke ich, ist es
auch richtig, daß wir gemeinsam noch einmal dar-
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben sel- über reden - das ist unser Vorschlag -, ob wir die An-
ber gesagt, im Bereich der Sozialhilfe wären Sie be- hebung des steuerfreien Existenzminimums nicht
reit, darüber zu reden, daß man sie vielleicht nicht er- um ein Jahr verschieben können, genauso wie wir
höhen muß. Unser Vorschlag basiert darauf, daß wir gemeinsam sagen, die Anhebung der Sozialhilfe-
Preisstabilität haben. Der Bundeskanzler hat darauf sätze kann um ein Jahr verschoben werden. Das
hingewiesen. Glückwunsch an uns alle, daß wir ei- hängt doch miteinander zusammen. Das halte ich
nen Finanzminister der Stabilität und Solidität wie nicht für unzumutbar, auch wenn es eine Sache ist,
Theo Waigel haben! die niemandem von uns leicht fällt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - In der Familienpolitik, im Werben für mehr Fami-
Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt lienleistungsausgleich läßt sich - nehmen Sie es mir
[Salzgitter] [SPD]: Ein Schuldenminister!) nicht übel, verehrte Freunde von der F.D.P. - die
CDU/CSU-Fraktion ungern von. irgend jemandem
- Verzeihen Sie, die Bundesbank hat doch nicht die übertreffen.
Zinsen gesenkt, weil Herr Lafontaine das gutheißt
oder nicht. Vielmehr hat sie die Zinsen senken kön- (Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir
nen, weil die gesamtfinanziellen Verhältnisse in un- beim Jahressteuergesetz gemerkt!)
serem Land dank unserer Finanzpolitik so sind, daß
Ich sage aber ganz ehrlich: Ich glaube, bei einem -
das zur Zeit niedrigste Zinsniveau in der Geschichte
Konsolidierungsbedarf von 50 Milliarden DM für die
der Bundesrepublik Deutschland heute stabilitätspo-
öffentlichen Gesamthaushalte und 25 Milliarden DM
litisch verantwortbar ist.
für den Bundeshaushalt, der doch gar nicht bestritten
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ist, und bei den Schwierigkeiten, in einem Jahr die-
sen Konsolidierungsbedarf sozial zumutbar und aus-
Das ist die Einheit von Geld-, Finanz- und übrigens gewogen zu erbringen, ist es doch richtig, daß man,
auch Lohnpolitik. wenn man die Sozialhilfesätze nicht anhebt - dafür
werben im übrigen insbesonders die Städte, Gemein-
(Zuruf von der SPD: Sie wollen uns wohl
den und Landkreise -, dann das steuerfreie Existenz-
verwaigeln!)
minimum, das einen Bezug zu den Sozialhilfesätzen
Ich begrüße ja, Herr Lafontaine, daß Sie heute zur hat, ebenfalls nicht anheben sollte. Wenn wir von
Lohnzurückhaltung aufgefordert haben. Aber ich ausgewogenen Konzeptionen reden, dann, finde ich,
habe noch im Ohr, daß ich Ihnen in den zurücklie- ist unser Vorschlag ausgewogener als der Ihre, zu sa-
genden Debatten immer wieder erklären mußte, daß gen: Die Sozialhilfe wird nicht angehoben, aber die
Ihre Aufforderung nicht zur Lohnzurückhaltung bei- Steuerfreibeträge werden weiter angehoben.
trägt. Steuerfreibeträge und Kindergeld - darauf haben
(Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saar wir uns im letzten Jahr mühsam miteinander verstän-
land]: Das ist konjunkturabhängig!) digt - müssen einander entsprechen. Deswegen ist
unser ausgewogener Vorschlag richtig und notwen-
- Nein, die Konjunktur ist ja inzwischen nicht besser dig. Er ist uns nicht leichtgefallen, und ich will die
geworden als vor einem Jahr. Das Argument kann Probleme auch gar nicht verharmlosen.
nicht gelten.
Angesichts dieser Lage sollten im übrigen diejeni-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, die für die öffentlichen Verwaltungen Tarifver-
handlungen zu führen haben, ihrer Verantwortung
Wenn Sie heute sagen, Lohnzurückhaltung sei aus gerecht werden. Aber, Herr Lafontaine, damit das
konjunkturellen Gründen geboten, auch klar ist: Sie haben Vorschläge für das, was do rt
(Zuruf von der SPD: Das heißt aber nicht rt verhandltwso,gmch.SieabndsWo
Nullrunde!) SockelbtragindMuome.Ichratdin-
gendst - ich bin Innenminister und Verhandlungs-
während Sie vor einem Dreivierteljahr behaupteten, führer für Tarifverhandlungen gewesen -, jeden Ein-
man dürfe aus konjunkturellen Gründen keine Lohn- fluß der Politik auf Tarifverhandlungen zu unterlas-
zurückhaltung üben, dann kann irgend etwas nicht sen.
stimmen.
(Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) [Salzgitter] [SPD]: Ausgerechnet! - Hans
Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ein Ausbund an
Ich begrüße, daß Sie zur Lohnzurückhaltung auf- Zynismus ist das ! - Weitere Zurufe)
gefordert haben. Ich unterstütze dies. Aber wenn wir
jetzt glücklicherweise eine größere Stabilität haben, - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie
als noch vor einem Jahr angenommen, dann - da mir bitte eine Bemerkung: Wenn Sie die Tonart, in
stimme ich Ihnen zu, und das ist auch unser Vor- der Ihr Parteivorsitzender gesprochen hat, noch in
8998 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Dr. Wolfgang Schäuble


Erinnerung haben - ich habe mich sogar bemüht, die die Grundlagen unseres Sozialstaates nicht ge-
ihm trotzdem hinreichende Ruhe zu verschaffen - fährdet, sondern für die Zukunft sichert. Darum geht
und diese mit der Tonart vergleichen, in der ich - es.
ohne jede Verletzung - darauf antworte, dann wer-
den Sie Unterschiede feststellen. Auch ich könnte Ih- Deswegen werbe ich dafür: Reden Sie nicht das
nen Unverschämtheiten an den Kopf werfen. Das in- Programm in einer diffamierenden Weise schlecht,
teressiert aber die Menschen in unserem Lande über- sondern ringen Sie mit uns um den besten Weg! Das
haupt nicht. Sie interessie rt , wie wir das Land voran- ist eine Anstrengung, die wir in diesem Lande ge-
bringen. meinsam leisten müssen, Bund, Länder und Gemein-
den. Das ist ein Konzept, das auch die finanziellen
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Interessen, die Haushaltsprobleme von Ländern und
Sie haben vielleicht noch nicht die Gelegenheit ge- Gemeinden, angemessen berücksichtigt. Das ist eine
habt, unser Programm für mehr Wachstum und Be- Konzeption, die die Tarifpartner in ihrer Autonomie
schäftigung zu lesen. Auch deswegen hat diese De- nicht einschränkt, aber in ihrer Verantwortung voll in
batte ja ihren Sinn. Auf Seite 13 unseres Programms Anspruch nimmt. Das müssen wir auch, weil wir das
haben wir unter der Ziffer VI geschrieben: Land sonst nicht voranbringen. Deshalb, Herr Bun-
deskanzler, unterstützen wir Ihre Bemühungen auch
Angesichts der extrem angespannten Lage der gegen manche Diffamierung, diesen für die Zukunft
öffentlichen Haushalte steht für Tariferhöhungen notwendigen Dialog zwischen Politik, Regierung,
und Besoldungsanpassungen keine Verteilungs- Wirtschaft und Gewerkschaften weiterzuführen.
masse zur Verfügung.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich war froh,
Das ist genau das, was ich sage: Wir vermeiden je-
daß der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft,
den Ratschlag und jede Aussage dazu, wie das Er-
Forschung und Technologie, Jürgen Rüttgers, am
gebnis der Tarifverhandlungen aussehen soll; denn
Mittwoch - allem öffentlichen Schlachtengetümmel
das ist Sache der Verhandlungen der Tarifpartner.
nach dem Dienstagabend zum Trotz - zusammen mit
Das ist unser Verständnis und der Respekt vor der
den Spitzenverbänden von Wirtschaft und Gewerk-
Tarifautonomie. Ich kann Ihnen nur raten: Machen
schaften eine gemeinsame Initiative von Regierung,
Sie das genauso, machen Sie keine Vorschläge für Wirtschaft und Gewerkschaften zur Schaffung von
die Tarifverhandlungen. Sie bezahlen am Ende nur mehr Ausbildungsplätzen und zur Bekämpfung von
teuer dafür. Ich habe das selber erlebt. Jemand hat
Jugendarbeitslosigkeit vorstellen konnte. Das ist ge-
einmal gesagt, mehr als 4 Prozent dürften es nicht
nau der richtige Weg, den wir gehen. Sie haben das
sein, und dann war die Meßlatte schon entsprechend
Thema angesprochen. Das zeigt, daß wir auch weiter
angelegt. Das war eine teure Veranstaltung, Herr
darauf setzen können und setzen werden, alle Kräfte
Parteivorsitzender Gerhardt. Das ist schon ein paar in Wirt schaft, Staat und Gesellschaft zur Bewältigung
Jahre her, aber ich habe daran noch eine gewisse Er-
unserer Zukunftsprobleme in Anspruch zu nehmen.
innerung.
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Ich kann Aber das bedeutet auch: Jeder muß in seinem Be-
mich auch noch daran erinnern!) reich seine Verantwortung wahrnehmen. Das Bemü-
hen um Konsens darf nicht dazu führen, daß wir am
Herr Lafontaine, Sie sollten diesen Fehler nicht ma- Ende auf Grund des Prinzips des kleinsten gemeinsa-
chen. men Nenners nicht mehr zur Lösung von Problemen
Ich glaube, daß es insgesamt um das geht, was wir fähig sind. Vielmehr heißt Konsens: gemeinsame
in unserem Programm für mehr Wachstum und Be- Verantwortung, gemeinsames Ringen um den besse-
schäftigung vorlegen: Abbau von Einstellungshin- ren Weg. Das heißt aber auch: Wahrnehmung von
dernissen, Stärkung der kleinen Bet riebe und des Verantwortung, Entscheidungsfähigkeit.
Mittelstands, Schaffung neuer Beschäftigungsmög- Wir dürfen nicht der Versuchung nachgeben, am
lichkeiten im Dienstleistungsbereich und in p rivaten Ende jeden Besitzstand zu verteidigen. Denn in einer
Haushalten, Deregulierung, Verbesserung der Mög- Zeit, in der das Ausmaß und das Tempo von Verän-
lichkeiten des Zugangs für Eigen- und Fremdkapital, derungen in unserer Gesellschaft wie in der Welt um
aber auch Stabilisierung der Beitragssätze, wobei wir uns herum größer sind, als es uns lieb ist, müssen wir
auch die Kraft aufgebracht haben, notwendige P riori zur Innovation fähig bleiben. Wir nehmen unseren
-täenzuswirhaldePfgvsich- Teil der Verantwortung wahr. Dem dient unser Pro-
rung für stationäre Behandlung fest, was in einer sol- gramm für mehr Wachstum und Beschäftigung. Dazu
chen Situation auch nicht leicht, aber richtig und not- bitte ich Sie um Ihre Mitwirkung.
wendig ist -, Reduzierung des Krankenversiche-
rungsbeitrags, Stabilisierung des Rentenversiche- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
rungsbeitrags unter 20 Prozent, eine begrenzte Bei- der F.D.P.)
tragsreduzierung bei der Bundesanstalt für Arbeit
und darüber hinaus Senkung des Bundeszuschusses
zur Bundesanstalt im nächsten Jahr, weil das not- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine Kolle-
wendig und unvermeidbar ist; denn wir müssen die ginnen und Kollegen, ich habe gelegentlich Zwi-
Konsolidierung von 25 Milliarden DM im Bundes- schenrufe gehört, die ich nicht wiederholen möchte,
haushalt erreichen, und wir erreichen das auf eine die aber, wenn ich mir sicher wäre, daß ich sie richtig
Weise, die insgesamt ausgewogen ist, die nieman- gehört habe, gerügt werden müßten. Ich empfehle
dem in diesem Lande Unzumutbares zumutet und doch sehr, die Emotionen in dieser Beziehung etwas
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8999
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch
unter Kontrolle zu halten, damit wir uns nicht gegen- res Sozialstaates, und davor habe ich politisch große
seitig mehr Schwierigkeiten machen, als nötig ist. Angst.
(Zustimmung) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
Ich erteile das Wo rt dem Vorsitzenden der Fraktion der PDS)
Bündnis 90/Die Grünen, dem Abgeordneten Joseph
Fischer. Denn das würde unabsehbare Konsequenzen nach
sich ziehen, meine Damen und Herren.
Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE
Wenn eine der großen Errungenschaften, an denen
GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ja gerade Ihre Partei einen wesentlichen Anteil hat,
ren! Der Bundeskanzler hat es in seiner Regierungs-
nämlich an der Entwicklung des demokratischen So-
erklärung angesprochen - von keiner Seite wird es
zialstaates nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
bestritten -: Die Bundesrepublik Deutschland befin-
- und das war eine gelungene Antwort auf die bei-
det sich in der schwersten Strukturkrise seit ihrem
den großen totalitären Herausforderungen dieses
Bestehen, einer Strukturkrise, die eng zusammen-
Jahrhunderts: auf die mörderischen Ideologien vor
hängt mit den globalen Veränderungen, mit dem
allem des Nationalsozialismus und des Kommunis-
Ende einer ganzen Weltordnung in den Jahren 1989/
mus -, in Frage gestellt wird, dann werden wir ir-
90 - diese Veränderung kann man wahrhaft fast welt-
gendwann auch wieder die Frage der Stabilität des
revolutionär nennen -, aber auch mit Entwicklungen,
demokratischen Verfassungsstaates diskutieren
die innergesellschaftlich und ökonomisch längst an-
müssen. Und deswegen: Am Sozialstaat hängt nicht
gelegt waren und dann nur gewaltig beschleunigt
nur die zwingende moralische Frage der sozialen Ge-
wurden. Wenn ich mir die Debatte anhöre, frage ich
rechtigkeit in einer demokratisch verfaßten Gesell-
mich: Wie weit werden wir mit den Ritualen, die wir
schaft, sondern auch die Zukunft der Demokratie als
alle gemeinsam im Laufe der Jahre entwickelt ha-
ben, tatsächlich den Lösungsnotwendigkeiten, die solcher.
aus dieser Strukturkrise entstehen, gerecht? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD)

Meine große Furcht ist, meine Damen und Herren, Deswegen, Herr Bundeskanzler, ist gerade dieses
Herr Bundeskanzler, daß es dann nicht zwischen den Grundprinzip des Sozialstaates, zu dem sich aus der
demokratischen Parteien sozusagen zu einem Wech- Tradition des Zentrums, der katholischen Enzykli-
selspiel kommt, wenn diesmal die Erneuerung nicht ken, die in diese Richtung gehen, wesentliche Teile
gelingt. Sie haben die Politik des Aussitzens beendet der Union bekennen - unbeschadet aller Unter-
und haben endlich etwas vorgelegt. Der einzige schiede in Ihrer Partei weiß ich, daß dies zum Kern-
Maßstab, der daran angelegt werden kann, ist: Ist bestand Ihrer Parteitradition gehört -, so unendlich
dieses Programm zukunftsfähig? Macht es die Bun- wichtig: das Prinzip der Solidarität. Nur, wenn dieses
desrepublik Deutschland unter den neuen weltwirt- Prinzip der Solidarität lediglich ein Schönwetterprin-
schaftlichen Bedingungen, aber auch unter den zip bleibt, wenn es nicht auch und gerade dann gilt,
neuen Bedingungen im Inland zukunftsfähig, ja oder wenn weniger zu verteilen ist, wenn wir nicht auch
nein? und gerade dann daran festhalten, dann leiten Sie,
Herr Bundeskanzler - ob beabsichtigt oder unbeab-
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie im Blick auf die sichtigt -, erste Schritte zum Abbau, zur Zerschla-
kommende Generation die Prioritäten in bezug auf gung des Sozialstaates ein und brechen dadurch mit
die Zukunftsfähigkeit! Denn die Sicherheit der Ren- einer Tradition, auf die Sie und Ihre Partei in den ver-
ten in der Zukunft wird vor allem von der jüngeren gangenen Jahrzehnten zu Recht - unbeschadet aller
Generation zu gewährleisten sein. Wenn hier keine sonstigen Differenzen - stolz sein können.
Prioritäten gesetzt werden, dann haben Sie hinsicht-
lich der Zukunftsfähigkeit in einem zentralen Punkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -
versagt. Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Nein, wenn ich mir anschaue, daß gegenwärtig die
sowie bei Abgeordneten der SPD) Abrißbirne ausgepackt wird, in welchem Umfang ge-
Ich möchte hier nicht in Schwarzmalerei und Pa- genwärtig versucht wird, Sozialabbau zu betreiben,
nikmache verfallen, aber wir stehen momentan am Frau Kollegin Fuchs, dann sage ich Ihnen: Wir stehen
Anfang eines Prozesses und wissen nicht, ob am hier vor einer „neuen Qualität von Sozialabbau". Ich
Ende der Abbau oder die Erneuerung des Sozialstaa- gehöre nun weiß Gott nicht zu denen, die der Mei-
tes stehen wird. nung sind, man solle Beg riffe wie „Klassenkampf
von oben" so ohne weiteres einführen. Aber wenn
Wenn ich mir dieses Programm, das Sie heute vor- ich mir anschaue, mit welchem fast an Zynismus
gelegt haben, in seiner ganzen sozialen Schieflage, grenzenden Kalkül die Gewerkschaften durch eine
in seiner gnadenlosen Einseitigkeit anschaue, mit 20prozentige Reduktion der Lohnfortzahlung und
der die Lasten nach unten weitergereicht werden 10prozentige Reduktion beim Krankengeld zum Ar-
und den Erben großer Vermögen demnächst ein E rn beitskampf provoziert werden sollen, dann sage ich
-tedankfsvrpochwid,ansgeIh: Ihnen: Offensichtlich soll hier eine Politik eingeleitet
Wir sind hier am Beginn eines Abbauprozesses unse- werden, die bereit ist, weit über das hinauszugehen,
9000 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Joseph Fischer (Frankfurt)


was wir bisher an Sozialabbau kennen. Genau Denn wir wissen ja, in der Annahme steckt etwas
darum geht es, meine Damen und Herren. Erstaunliches - da müßten eigentlich die Kollegen
von der F.D.P. spitze Öhrchen bekommen -: In der
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Annahme ist enthalten, daß das Steuervolumen, das
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem 50-Milliarden-Loch für 1997 zugrunde liegt, be-
der PDS) reits Steuererhöhungen beinhaltet. Wenn Sie jetzt
Aber ich möchte zurückkommen zur Frage der Zu- die Wachstumszahlen nach unten korrigieren müs-
kunftsfähigkeit. Die erste Frage, die wir uns hier stel- sen und wenn wir gleichzeitig davon ausgehen, daß
len müssen, ist doch die nach der Krise der Haus- es nicht zu Steuererhöhungen kommen wird - Sie ha-
halte. Dahinter steckt die Beschäftigungskrise und ben das hier noch einmal gesagt -, dann reden wir
hinter dieser Beschäftigungskrise die Herausforde- vermutlich nicht über ein 50-Milliarden-Loch für
rung eines radikalen Strukturwandels. 1997, sondern vielleicht von einem 100-Milliarden-
Loch. Es kann sehr gut sein, daß wir heute wieder
Ich habe das Prinzip der Solidarität für uns defi- einmal eine Scheindebatte führen, und zwar auf
niert. Es ist unverzichtbar. Aber genauso notwendig Grund der Annahmen, die der Bundesfinanzminister
ist es, daß dieses Prinzip der Solidarität beim Sparen vorgelegt hat.
um- und eingesetzt wird. Wenn Sie jetzt auf der ei-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
nen Seite Einschnitte machen, vor allen Dingen bei
SES 90/DIE GRÜNEN)
Leistungsempfängern, und gleichzeitig ankündigen,
daß Sie die Vermögensteuer abschaffen wollen, dann Aber noch schlimmer, Herr Bundeskanzler: Sie ha-
- sage ich Ihnen - kündigen Sie das Prinzip der Soli- ben gerade eine - so empfinde ich es - sehr deprimie-
darität auf. rende Botschaft rübergebracht. Sie wissen, die Be-
schäftigungswirksamkeit bei realem Wachstum liegt
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN etwa an der Schwelle von 1,8 Prozent, das heißt aber
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten im Klartext: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik-
der PDS) Deutschland hat uns gerade mitgeteilt, daß mit ei-
Und wenn Sie Schweden angeführt haben, Herr nem Anstieg der Arbeitslosenzahlen in 1997 fest zu
Bundeskanzler, dann sollten Sie auch anführen, daß rechnen ist.
die Vermögen in Schweden steuerlich ganz anders (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS-
belastet werden als bei uns. SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der
(Zustimmung beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ PDS)
NEN und bei der SPD) Darüber hinaus sage ich Ihnen: Die Teile in Ihrem
Programm, die die Belastungen unten erhöhen, brin-
Wenn Sie diesen Weg gehen wollen, daß wir, wenn gen nicht einen Arbeitsplatz mehr. Ich behaupte: Sie
unten Einschnitte gemacht werden müssen, auch die bringen auch nicht eine Mark an Investitionen mehr.
Schultern stärker belasten, die mehr tragen können - Was sie jedoch bringen werden, ist ein Anstieg bei
und die nominal hohen Spitzensteuersätze in diesem den Sozialhilfekosten und vor allen Dingen ein An-
Land sind ja dergestalt skandalös, daß gut organisier- stieg der Arbeitslosenzahlen.
tes großes Vermögen tendenziell einen Steuersatz
null oder wenig darüber zu bezahlen hat, das muß Das Generalabräumen bei den ABM-Stellen und
dringend geändert werden -, ähnliches mehr: Führt das zu mehr Arbeitsplätzen
oder zu einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen?
(Beifall bei der SPD)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
wenn Sie also dieses Prinzip Schwedens bei der Er- sowie bei Abgeordneten der SPD und der
neuerung des Sozialstaates hier durchsetzen wollen - PDS)
nur, davon findet sich nichts in Ihrem Papier -, dann
werden wir Sie voll unterstützen. Das heißt nämlich: Hier wird auch und gerade in den ostdeutschen Län-
Wenn Lasten unten getragen werden müssen, dann dern, Herr Bundeskanzler, etwas zerschlagen, was
hat um so mehr auch oben Lastenverteilung stattzu- noch eine leicht blühende Landschaft hätte werden
finden. In Ihrem Programm ist das Gegenteil der Fall. können. In der Konsequenz bedeutet das: In Ost-
deutschland werden ABM-Strukturen zerschlagen
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und damit Strukturen, an denen die soziale Infra-
und bei der SPD sowie bei Abgeordneten struktur hängt. Was das mit der Herstellung der inne-
der PDS) ren Einheit zu tun hat, muß mir mal jemand erklären.
Der Bundeskanzler hat heute zu Beginn seiner (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rede einen Satz gesagt, den man zur Kenntnis neh- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten
men sollte. Er hat die Wachstumserwartungen nach der PDS)
unten korrigiert. Ich frage Sie, wieweit die Annah- Schauen wir uns die Zukunftsfähigkeit an. Es gibt
men des Finanzministers für das 50-Milliarden-Loch einen breiten Konsens. Wir müssen die Arbeitsko-
ebenfalls zu korrigieren sind. sten, vor allem die Lohnnebenkosten, senken. Wir er-
(Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saar klären aber nicht, daß wir deswegen die Leistungen
land]: Nächste Woche!) kürzen wollen. Wir unterstützen Sie daher nach-
drücklich bei der Einführung der zweiten Stufe der
- Nächste Woche, sagt Herr Lafontaine. Pflegeversicherung, aber: Warum haben Sie nicht
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9001
Joseph Fischer (Frankfurt)
den Mut, wenn die Arbeitskosten das drängendste die den Sozialstaat zukunftsfähig macht, zu verbin-
und drückendste Investitionsproblem im innereuro- den?
päischen Vergleich sind, gleichzeitig eine Strukturre-
form anzupacken? Wir tragen sie mit. Die zweite (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stufe der Pflegeversicherung muß kommen, und sowie bei Abgeordneten der SPD und der
zwar jetzt, aber lassen Sie sie uns aus Steuermitteln PDS)
finanzieren. Nun komme ich zum zweiten Punkt: zu der kom-
menden Generation. Daß es da nicht einen Aufstand
Und zum zweiten - das ist ein Grundprinzip von
in der Union gibt! Also, Herr Kollege Schäuble: Wenn
uns -: Wir wollen die Bedarfsorientierung unten nicht
ihm nichts mehr einfällt, fällt ihm sein Juraexamen ein,
aufgeben, sondern an ihr festhalten. Wir führen lie-
und er zieht sich hinter die Juristerei zurück.
ber die Bedarfsorientierung oben in den Sozialstaat
ein. (Widerspruch bei der CDU/CSU)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jetzt will ich Ihnen einmal etwas sagen: Sie laufen
sowie bei Abgeordneten der SPD und der bei der Vermögensteuer mit dem Verfassungsge-
PDS) richtsurteil wie mit einer Monstranz am Himmel-
fahrtstag durch die Gegend.
Ich sage Ihnen, Herr Kollege Blüm, aus eigenem
Erleben: Meine Mutter war, bevor sie starb, ein (Widerspruch bei der CDU/CSU)
Schwerstpflegefall. Die beiden Kinder konnten sich -
Der Herr Gerhardt wird nicht müde, permanent das
Gott sei Dank - ihre Pflege leisten. Ich kenne aber
Verfassungsgerichtsurteil zu zitieren. Wenn es aber
viele - ich weiß auch, wie hoch die Pflegekosten bei
um den Rechtsanspruch beim Kinderfreibetrag geht,
Schwerstpflegefällen sind -, die sich die Pflege nicht
wird vom Verfassungsgerichtsurteil nicht geredet, -
leisten können. Insofern bin ich ein nachdrücklicher,
sondern dann kommen winkeladvokatorische Argu-
emphatischer Unterstützer Ihrer Position bei der Pfle-
mente, um der eigenen Fraktion den Abschied von
geversicherung.
eigenen Grundprinzipien klarzumachen.
Aber noch einmal zurück zur Bedarfsorientierung - (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
ich führe meinen eigenen familiären Fall an -: Wenn bei der SPD und der PDS)
man sich bei Sozialhilfeempfängern von der Bedarfs-
orientierung verabschiedet und sie durch die Decke Ich sage Ihnen, Herr Kollege Schäuble, Herr Bun-
lung sich selbst überläßt, dann bin ich dafür, daß bei deskanzler, das ist für uns die zentrale Frage: die Zu-
Einkommen, wie meine Schwester und ich sie bezie- kunftsfähigkeit, die kommende Generation. Das
hen, Bedarfsorientierung im Pflegefall eingeführt Signal, das Sie jetzt senden, ist, daß die Union mit
wird. ihrer Familienpolitik in dem Moment, in dem es bei
den Haushalten ernst wird, bereit ist, als erstes in
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN diesem Kernbereich der Zukunftsfähigkeit zu strei-
sowie bei Abgeordneten der SPD und der chen. Und das wollen wir nicht!
PDS)
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
Herr Bundeskanzler, damit kommen wir in aller bei der SPD und der PDS)
Sachlichkeit zu unserem Hauptvorwurf - ich nehme
Wir machen Ihnen ein Angebot. Herr Uldall und
an, der eine oder andere im CDU-Präsidium und in
andere wollen doch, daß die Veräußerungsgewinne
der CDU-Fraktion sieht das ähnlich -: Warum haben
bei Immobilien versteuert werden. Wenn Sie heute
Sie jetzt nicht die Kraft, zu sagen: Okay, wir müssen -
drei Immobilien veräußern und damit länger als drei
bedingt durch die internationale Konkurrenz -, wenn
Jahre warten, gilt dies nicht als gewerblich und Sie
wir unseren Sozialstaat in tragenden Teilen, in wich-
können in Deutschland den Gewinn brutto ein-
tigen Strukturen erhalten wollen, bei sinkendem An-
stecken. In Amerika - da handelt es sich ja nun weiß
teil des Arbeitseinkommens am Gesamteinkommen
Gott um das Mutterland des Kapitalismus - müssen
neue Finanzierungswege gehen. Da bleibt nur die
sie ihn selbstverständlich versteuern. Wenn Sie ein
Steuerfinanzierung, wie es skandinavische Sozial-
Aktienpaket, auf das Sie keine Dividende bezogen
staaten mit Recht vorgemacht haben.
haben, länger als ein halbes Jahr halten, haben Sie in
Wir bieten Ihnen an, eine Gegenfinanzierung über Deutschland ebenfalls einen freien Veräußerungsge-
eine entsprechende Mineralölsteuererhöhung in ei- winn. Das wollen Ihre Experten ändern.
ner Größenordnung von 20 Prozent mitzutragen. Wir bieten Ihnen an: Machen Sie es jetzt! Wir stim-
men zu. Dann können wir ziemlich genau die Erhö-
(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
hung des Kindergeldes gegenfinanzieren. Was
Pfennig!) spricht denn dagegen, meine Damen und Herren?
- Pfennig, Entschuldigung. Heute haben sich schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
andere versprochen.
Das sind zwei konkrete Angebote, die wir Ihnen
Warum haben Sie nicht den Mut, eine richtige, als Oppositionspartei gemacht haben, nämlich in
zentrale sozialpolitische Entscheidung gleichzeitig zentralen Bereichen eine Strukturveränderung mit-
mit einer entsprechenden strukturellen Erneuerung, zutragen und gleichzeitig ein eindeutiges Signal für
9002 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Joseph Fischer (Frankfurt )


die Orientierung an der jüngeren Generation zu ge- hang zwischen der Reform der Einkommensteuer-
ben. tarife und der Vermögensteuer und der Erbschaft-
steuer. Da vertreten wir eine völlig andere Position.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich frage Sie: Warum macht diese Bundesregierung
das nicht mit? Bei der Gewerbekapitalsteuer sind wir für die Ab-
schaffung dieser Substanzbesteuerung - wenn den
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang einen Gemeinden eine entsprechende Gegenfinanzierung
nächsten Punkt ansprechen. Herr Bundeskanzler, Sie angeboten wird, was der Fall ist. Aber bei der Ge-
sagten, die Rente für die gegenwärtige Generation werbeertragsteuer sind wir ganz anderer Meinung.
der Rentner sei sicher. Ich frage Sie: Wo läuft bei Wir wollen ihre Revitalisierung und nicht ihre Ab-
Ihnen das „gegenwärtig" ab? Wo ist die Grenze? Wir schaffung, weil es keine Substanzbesteuerung ist.
bestreiten ja gar nicht die für die Rente ungünstige
demographische Entwicklung. Aber die Union sollte Ich sage Ihnen in dem Zusammenhang noch ein
in diesem Zusammenhang vielleicht einmal über letztes: In der Bundesrepublik Deutschland kommt
eine Neubewertung der Einwanderungspolitik in jetzt ein Generationswechsel, bei dem zwischen
diesem Lande nachdenken. 2 000 und 3 000 Milliarden an Vermögensbesitz ver-
erbt werden. Wir wollen keine konfiskatorische Be-
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS steuerung oder ähnliches. Aber wir sind der Mei-
SES 90/DIE GRÜNEN) nung, daß es ein Skandal ist, wenn angesichts dieser
Ich frage Sie: Reicht es in einer solchen Situation, wo Tatsache in diesem Land Sozialleistungen bei den
es um die Zukunftsfähigkeit geht, über die Jugend, Schwächsten abgebaut werden müssen und wir uns
über die heutige Generation und darüber zu reden, gleichzeitig eine Erbschaftsteuer leisten, mit der wir
was im Jahre 2030 ist? weltweit im Vergleich zu anderen reichen Ländern-
das Schlußlicht bilden. Hier sind wir ganz anders als
Wenn ich mir Ihr Programm anschaue, frage ich die „Partei des neuen Egoismus".
mich: Wo bleibt in dieser Situation der Schwerpunkt
der Familienförderung? Sie können doch nicht nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
die demographische Entwicklung in diesem Lande bei der SPD und der PDS)
beklagen, für die Sie - ich gebe es ja ehrlich zu -
nichts können. Auf der anderen Seite müssen wir uns Hier ist Solidarität, gerade der Erben, angesagt. Hier
alle gemeinsam, nicht nur die Bundesregierung, ans darf man nicht über Senkung reden, sondern hier re-
Bein binden: Eines der reichsten Länder ist nach wie den wir über Erhöhung.
vor nicht eines der kinderfreundlichsten Länder. Das
ist der eigentliche Skandal nach zwölf Jahren CDU/ Wir reden nicht über die Abschaffung der Vermö-
CSU-Regierung in diesem Lande. gensteuer, sondern auch hier wollen wir, daß ein ent-
sprechender Anteil gezahlt wird. Wir wollen runter
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei den Lohnnebenkosten. Wir wollen Mittelstands-
und bei der SPD) förderung betreiben. Wir freuen uns, wenn es nach
zwölf Jahren endlich so weit ist, daß die Eigenkapi-
Meine Damen und Herren, wir bieten Ihnen aus-
talbildung beim Mittelstand gefördert werden soll.
drücklich an, daß wir, wenn Sie eine Einkommen-
Warum haben Sie das nicht schon längst gemacht?
steuerreform mit Senkung des Spitzensteuersatzes
linear-progressiv, aber auch mit Senkung des Ein- Eines muß ich Ihnen sagen: Sie hätten jetzt Ein-
kommensteuersatzes machen, konstruktiv mitarbei- sparmöglichkeiten beim Militärhaushalt. Auch im
ten werden, weil wir das für dringend geboten halten Verkehrshaushalt haben Sie wunderbare Einspar-
- nur, wenn Sie das wollen! möglichkeiten. Damit ich nicht mißverstanden
Derjenige, der es bisher nicht wollte, war Theo werde: Ich bin nachdrücklicher Anhänger eines
Waigel. Bei der Ökosteuer hat er blockiert, beim Be- schnellen Umzugs nach Berlin. Aber überprüfen Sie
richt der Bareis-Kommission hat er blockiert. Insofern doch einmal diese Luxusbauten, die do rt geplant
hat Oskar Lafontaine völlig recht: Warum ausgerech- werden. Auch hier wären Einsparmöglichkeiten.
net jetzt die Waigel-Kommission nach der Bareis Auch hier wäre vermutlich weniger besser.
Kommission mehr als die Idee eines Mäuschens pro-
duzieren soll, ist eine Frage, die Sie sich wohl selbst Das, meine Damen und Herren, sind die Punkte,
werden beantworten müssen. die wir anpacken müssen. Es geht um die Zukunfts-
fähigkeit dieses Landes. Bei der jüngeren Generation
Aber wenn wir diese Reform der Einkommensteuer versagen Sie völlig. Die Solidarität beginnen Sie un-
mit der Senkung des Spitzensteuersatzes machen - ter dem Druck der gegenwärtigen Entwicklungen
wofür wir sind -, bei Streichung der Subventionen, aufzukündigen. An diesem Punkt werden wir ent-
bei Streichung der Umgehungstatbestände - völlig schieden Widerstand leisten, weil die Zukunft des
legal, das heißt Verbreiterung der entsprechenden Sozialstaats zugleich die Zukunft der sozialen Demo-
Bemessungsgrundlagen - und bei einer linear-pro- kratie ist. Wir wollen keine amerikanische Entwick-
gressiven Absenkung des Eingangssteuersatzes, lung.
dann hat natürlich die Vermögensteuer eine ganz an-
dere Perspektive, als das Herr Schäuble dargestellt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN,
hat. Insofern besteht für uns ein direkter Zusammen- bei der SPD und der PDS)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ri l 1996 9003

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem betrügen, wenn wir jetzt nicht zu Entscheidungen
Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt das Wo rt . kämen. Das ist der Kern unseres Programms.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir wollen auch keine Unser Programm verlangt dieser Gesellschaft nicht
zuviel ab. Es verlangt nur eines: Fähigkeit zum Wan-
amerikanische Entwicklung, Herr Kollege Fischer,
del, Fähigkeit zu neuem Denken und Fähigkeit zu
(Lachen und Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ strukturellen Veränderungen. Ich erkläre ausdrück-
DIE GRÜNEN und bei der PDS) lich für die F.D.P.: Wir wollen diesen Wandel, wir wol-
len diese Veränderungen, wir wollen der jungen Ge-
die von einer „Hire-and-fire"-Mentalität begleitet neration eine Zukunftschance mit einer neuen, gesi-
wird. Der Herr Bundespräsident hat das, was wir mit cherten Rentensystematik und mit neuen Beschäfti-
dem Hinweis auf Amerika meinen, vor wenigen Ta- gungsmöglichkeiten geben. Dazu bitten wir um ein
gen sehr präzise ausgedrückt: Wir brauchen ein Stück Zurückhaltung bei Tarifverhandlungen und
Stück dieser mentalen Standortfähigkeit, die diese um Geduld von einem Jahr bei den Zuwächsen. Das
Nation ausstrahlt. - kann eine Gesellschaft ertragen, die wie unsere Ge-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sellschaft in diesem Wohlstand lebt. Darum bitten
wir.
Er hat das mit einen Hinweis auf Carl Zuckmayer zi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
tiert. Es geht nicht vorrangig um die Frage von Ar-
Weltweit werden die Gesellschaften gewinnen, die
beitsbedingungen und Investitionen. Es geht um die
die Veränderungen kompetent bewältigen, und es
mentale Fähigkeit zur Veränderung, die wir in
werden diejenigen verlieren, die verdrängen. Das
Deutschland brauchen.
Wahlergebnis im März hat im übrigen gezeigt, daß
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Mehrheit der Bevölkerung denen mehr zutraut,
die ihr sagen: Wir wollen uns verändern. - Wir haben
Das, Herr Kollege Fischer, ist nun einmal klar zu be- all das, was jetzt beschlossen worden ist, im Wahl-
antworten, und das ist auch die Grundlage unseres kampf jedem, der es hören wollte, erklärt, als not-
Programms. wendige Grundlage von Entscheidungen.
Wir werden der Veränderungen mit der sozialpoli- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
tischen Begleitung von Problemen nicht Herr wer- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben es ver-
den; die kennen wir. Beschäftigungsprogramme ha- schwiegen!)
ben wir schon gemacht. Strukturhilfen sind gewährt
worden. Frühverrentungen sind gemacht worden. Die große Oppositionspartei hat die Wahlen auch
Arbeitszeitverkürzungen sind gemacht worden. Die deshalb verloren, weil sie die Probleme verdrängt hat
AB-Maßnahmen sind erhöht worden. Viele haben und weil sie zum Wandel und zur Modernität gegen-
geglaubt, die 35-Stunden-Woche bringe den Be- wärtig nicht auskunftsfähig ist. Das war der Kern die-
schäftigungsschub. All das, was die Opposition hier ser Entscheidungen.
im Hause erzählt, ist reale Politik, aber die Arbeits- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
losenzahl ist gestiegen. Deshalb kann das nicht die
letzte Antwort sein. Man muß einfach die Wahrheit sagen. Jeder weiß,
daß Tarifverhandlungsrunden der Vergangenheit de-
(Beifall bei der F.D.P.) nen geholfen haben, die Beschäftigung hatten, und
denen eher Schwierigkeiten gemacht haben, die Be-
Das hat die Koalition bewegt, sich neu zu verabre-
schäftigung suchten. Jeder weiß, daß Solidargemein-
den. Ich möchte sehr persönlich sagen, Herr Bundes-
schaften, die wir haben, von den eigenen Mitglie-
kanzler, Herr Kollege Waigel: Vielleicht wissen wir
dern überstrapaziert worden sind, weil viele ge-
erst heute in der Debatte und in den nächsten Tagen,
glaubt haben, sie könnten auf Kosten Dritter leben,
was dies für eine Bedeutung für die Koalition und für
und es hinterher zu Beitragssteigerungen in exorbi-
unser Land haben wird. Ich halte das für eine der
tanter Höhe gekommen ist.
wichtigsten Entscheidungen in dieser Legislaturperi-
ode und bedanke mich ausdrücklich bei CDU und Jeder weiß, daß Steuern in unserem Land hoch
CSU für die faire Zusammenarbeit und das gute sind. Wenn es so einfach wäre, daß Steuersenkungen
Übereinkommen. nur Ausfall in Haushalten bedeuteten, dann hätte
man das schon in den 80er Jahren spüren müssen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Da hat diese Koalition Steuersenkungen durchge-
Meine Damen und Herren, der Punkt ist doch führt. Das Ergebnis war: mehr Beschäftigung und
nicht, daß sich hier Regierung und Opposition ge- mehr Konsolidierung der Haushalte.
genübersitzen und wir mit Freude Sparmaßnahmen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
einleiten würden.
Wenn die Steuerhöhe über die Haushaltskonsolidie-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch, die F.D.P. rung entscheiden würde, dann müßten wir einen
schon!) überschäumenden Haushalt haben. - Hohe Steuern
haben wir genug. -
Wir wissen, daß sie schwerwiegend sind und daß
man Menschen überzeugen muß. Aber wir wissen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer hat sie denn
auch: Wir würden die Gesellschaft um ihre Zukunft eingeführt?)
9004 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Dr. Wolfgang Gerhardt


Aber wir haben Probleme. Das zeigt, daß der umge- Herr Ministerpräsident Lafontaine, jeder weiß, daß
kehrte Weg von Senkung und Entlastupg die einzige die Gewerbekapitalsteuer eine Substanzbesteue-
Chance ist. rung ist. Sie haben im vergangenen Jahr die Koali-
tion gebeten, die Beratungen darüber etwas zu ver-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schieben, und dies mit der Ankündigung verbunden,
Ich will noch einmal - auch für die Öffentlichkeit - auch die SPD sei auf dem Wege der Überlegung und
sagen: Macht eine Koalition, die mit der SPD vor vier brauche hinsichtlich einer Verfassungsänderung
Monaten Kindergeld von 70 auf 200 DM erhöht und noch ein bißchen Zeit. Wir haben darauf reagiert.
7,2 Milliarden DM Familienleistungsausgleich ge- Jetzt aber kommen Sie wieder und erklären, Sie
schaffen hat, eigentlich einen politischen Fehler und seien nicht bereit, die Gewerbekapitalsteuer abzu-
schädigt sie die Zukunft des Landes, wenn sie jetzt schaffen. Das ist das absurdeste steuerpolitische Be-
darum bittet, die nächste Erhöhungsstufe erst im kenntnis, das ich seit langem gehört habe. Es ist
nächsten Jahr zu verwirklichen? Ist das eine Beein- falsch; die Annahmen stimmen nicht.
trächtigung unserer Gesellschaft? In welchem Land Wenn Sie uns erzählen wollen, daß ein Diffamie-
leben wir denn, wenn diese Gesellschaft eine Erhö- rungspotential bei einem Aufkommen aus der Be-
hung ein Jahr später nicht aushalten kann? Das ist steuerung privater Vermögen in Höhe von 2 Milliar-
doch wirklich zumutbar! den DM möglich sei, wovon die Hälfte im übrigen
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) durch Verwaltungskosten aufgezehrt wird,

Jetzt reden wir einmal über Beschäftigung. Wer (Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Unwahr! -
hat uns denn mit dem Stichwort „ Dienstmädchen- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bleiben Sie mal
privileg " beschimpft, bei der Wahrheit, Herr Kollege!)

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: und daß die Koalition nicht den richtigen Weg gehe,-
Matthäus-Maier!) wenn sie allein aus Vereinfachungsgründen dies bei
der Erbschaftsteuer mit einbinden will, dann täu-
obwohl die Bundesanstalt für Arbeit nahezu 700 000 schen Sie die deutsche Öffentlichkeit. Stecken Sie
Beschäftigungsverhältnisse in p rivaten Haushalten die Diffamierung beiseite; es lohnt sich nicht.
prognostizie rt? Schwarzarbeit haben Sie mit Ihrem
Verhalten gefördert! Wir wollen sozialversicherungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
pflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Meine Damen und Herren, wir haben dieses ganze
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Paket deshalb auf den Weg gebracht - es ist schwie-
Detlev von Larcher [SPD]: Warum schreien rig genug -, weil unsere Gesellschaft auch im Inter-
Sie eigentlich so?) esse der demokratischen Stabilität Auskunft über die
Beschäftigung in Deutschland braucht. In unserem
Es zählt auch zur einfachen Wahrheit, daß in einem Land ist Arbeitslosigkeit ein größeres Problem -
Betrieb mit fünf Arbeitnehmern - das sind meistens auch im kollektiven Gedächtnis unserer Nation - als
keine Bet riebe mit großem Gewinn; das sind Be- in jedem europäischen Nachbarland. Wir haben die-
triebe, die in Form der Personengesellschaft geführt ses Paket auf den Weg gebracht, um der jüngeren
werden - die Entscheidung darüber, ob man einen Generation auch eine Zukunftschance zu vermitteln,
weiteren Arbeitnehmer einstellt, auch davon abhän- wenn sie nach ihrem Erwerbsleben soziale Sicherheit
gig ist, wie man, wenn die Ertragslage nicht mehr so im Hinblick auf das Älterwerden haben will. Darüber
gut ist, mit dem Risiko fertig wird. Deshalb ist die Er- wird es ohnehin noch eine heiße Debatte geben.
höhung des Schwellenwertes eine Chance für Tau-
sende von Beschäftigungsverhältnissen in Deutsch- Aber ich sage uns allen in der Koalition: Ich be-
land und bedeutet nicht eine Vernichtung von Ar- grüße außerordentlich, daß wir zu den beiden zentra-
beitsplätzen. len Punkten Tarifreform im Steuersystem sowie Dis-
kussion der Rentenformel und der Neuentwicklung
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der zukünftigen sozialen Sicherheit in unserer Ge-
sellschaft verabredet haben - es ist richtig, wie es der
Der Ke rn unserer gemeinsamen Verabredung ist
doch nicht mehr und nicht weniger, als aus gemach- Herr Bundeskanzler erklärt hat -, daß wir noch in
ten gesellschaftlichen Erfahrungen soziale Siche- dieser Legislaturpe riode, also vor Wahlen, Entschei-
rungssysteme im Verhältnis zu Beschäftigungschan- dungen treffen und die Gesetzgebung abschließen.
cen neu zu justieren. Jeder in Deutschland weiß, daß Das sind die wichtigsten psychologischen Orientie-
Verteilungspolitiker in langen Jahren des Wachstums rungsdaten für Beschäftigung und sozialen Zusam-
soziale Sicherungssysteme geschaffen haben, die menhalt in unserer Gesellschaft. Nicht das Verschie-
jetzt Beschäftigung gefährden. Da aber das höchste ben der Sozialhilfeerhöhung um ein Jahr gefährdet
soziale Gut Beschäftigung ist, müssen die sozialen Si- unsere Zukunftsfähigkeit und den sozialen Zusam-
cherungssysteme so umgebaut werden, daß dieses menhalt, auch nicht das Verschieben der Familien-
größte Gut mehr zum Durchbruch kommen kann. förderung um ein Jahr. Unsere Gesellschaft braucht
für den sozialen Zusammenhalt in den großen Ent-
Das ist der Ke rn des Programms.
wicklungslinien die Auskünfte, die eine Regierung
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne geben muß. Die geben wir unserer Gesellschaft in
ten der CDU/CSU) dieser Legislaturpe riode.
Wir wollen ihnen wieder neue Chancen geben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9005
Dr. Wolfgang Gerhardt
Das ist die wichtigste Entscheidung dieser Koalition. boten erlebt. Wir haben bei der baden-württembergi-
schen Landtagswahl wider Erwarten schon bei den
Dahinter ist die übrige Diskussion darüber, die
kleinsten Hinweisen den Pendelausschlag erlebt, der
Lohnfortzahlung tariffähig zu machen, die Gesell-
zeigt, was sich in dieser Gesellschaft vollzieht, wenn
schaft zu bitten, damit einverstanden zu sein, daß wir
Menschen Angst vor Wettbewerb haben und sich
Erhöhungen um ein Jahr verschieben, eine zweitran-
nicht offen den Veränderungen stellen. Eines wissen
gige Diskussion. Entscheidend ist, ob diese Gesell-
wir aber: Jeder, der sich Veränderungen entzieht, je-
schaft und die politisch führenden Kräfte noch die
der, der das verdrängt, wird scheitern.
Fähigkeit haben, Systeme zu verändern, bei denen
die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte jedem klar vor Man mag diese Koalition kritisieren, weil sie
Augen geführt hat, daß sie der Beschäftigung scha- darum bittet, mit Zuwächsen zu einem späteren Zeit-
den und Zukunftsvorsorge verbauen. punkt einverstanden zu sein. Man mag sie kritisie-
Herr Kollege Fischer, Ihre Bewegung hat Verdien- ren, weil sie Einsparungen vornimmt. Man mag sie
ste. Sie hat Engagement für den Schutz der natürli- auch kritisieren, weil sie die Lohnfortzahlung ta rif-
chen Lebensgrundlagen mit in diese Gesellschaft ge- fähig macht. Man muß aber eines zur Kenntnis neh-
bracht. Die Staatsquote aber ist das gesellschaftliche men: Dieses Land steht jetzt im Kern vor der Frage
Ozonloch der Bundesrepublik Deutschland, und die- der Veränderungsbereitschaft und der Modernisie-
ses muß beseitigt werden. rungsbereitschaft.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wer zur Modernisierung nicht bereit, nicht fähig
oder in der Lage ist, der kann hier nicht regieren. Die
Darüber werden wir einen schönen Kompetenzstreit Auskunft der Koalition ist die Fähigkeit der Koalition
führen. zur Modernisierung des Standortes Deutschland.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Deshalb wollen wir auch weiter gut und fair zusam-
menarbeiten. -
GRÜNEN]: Wer ist denn an der Regierung?
Dafür sind Sie doch verantwortlich!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
Ich freue mich darauf. Es kann eine politische Partei der F.D.P.)
für die Zukunft der Gesellschaft Aussagen nur tref-
fen, wenn sie hinsichtlich der Grundannahmen der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
großen Systeme ein Reformmodell vorstellt, das fi- Wort dem Vorsitzenden der Gruppe der PDS, Dr.
nanzierbar ist, den sozialen Zusammenhalt festigt Gregor Gysi.
und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik
Deutschland stabilisiert.
Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ men und Herren! Wir haben es nach meiner festen
DIE GRÜNEN]: Herr Gerhardt, wie lange Auffassung nicht mit einer Haushaltskrise zu tun,
sind Sie an der Regierung?) sondern mit einer Gesellschaftskrise.
Eines füge ich hinzu: Nahezu jedes europäische (Beifall bei der PDS)
Nachbarland hat im Hinblick auf diese Systeme
schon reagie rt . Alle um uns herum haben bei all Wir erleben zumindest den versuchten Durchbruch
dem, was wir heute besprechen, ihre Entscheidun- des Neoliberalismus, getragen von der Koalition, von
gen getroffen. Wenn Sie, Herr Kollege Scharping, in der Bundesregierung, von Arbeitgeberverbänden
der Sozialistischen Internationale nachfragen, geben und auch von Banken. Es geht hier nicht um ein
Ihnen diejenigen, die irgendwo in der Verantwor- Sparprogramm; in Wirklichkeit geht es um eine Kul-
tung standen oder stehen, nahezu die gleichen Aus- turwende.
künfte wie der Herr Bundeskanzler heute morgen. (Beifall bei der PDS)
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Richtig! Die haben Das fängt schon mit der Sprache an. Der Vorsit-
das schon viel früher gemacht!) zende der F.D.P. hat uns gerade erklärt, daß der So-
Wir erfinden hier kein Modell, das die Armen ärmer zialabbau modern sei. Das aber heißt, daß jemand,
und andere reicher machen soll. der für soziale Gerechtigkeit eintritt, unmodern ist.
Das heißt, daß die Frage des sozialen Ausgleichs und
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND der sozialen Gerechtigkeit als eine Frage des letzten
NIS 90/DIE GRÜNEN) Jahrhunderts betrachtet wird.
Wir haben uns zu diesen Entscheidungen entschlos- Ich finde, wir sollten nicht wie beim Asyl, wie beim
sen, weil ein Stück gesellschaftliche Zukunft damit Begriff Flüchtling und bei anderen Dingen zulassen,
verbunden ist. daß die Beg riffe „sozial" und „solidarisch" negativ
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne besetzt werden!
ten der CDU/CSU) Sie müssen in unserer Gesellschaft einen positiven
Wir haben das auch deshalb unternommen, weil Klang behalten.
wir wissen, daß, wenn in einer Gesellschaft ganze (Beifall bei der PDS)
Schichten wegbrechen, wenn die keine Beschäfti-
gungschancen mehr haben, die Demokratie doch Ich halte das Programm im übrigen auch für verfas-
sehr gefährdet ist. Wir haben bei Wahlen schon Vor- sungswidrig. Es gibt nicht wenige Personen, deren
9006 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Dr. Gregor Gysi


Würde durch dieses Programm verletzt wird. Das ver- Sie haben mit keinem Wo rt gesagt, daß Sie die Ge-
stößt gegen Art . 1 des Grundgesetzes. setze ändern werden, um die Tarifpartner zu zwin-
gen, die Lohnfortzahlung zu reduzieren. Das ist das,
Aufgegeben wird die Anforderung des A rt . 14, daß was Sie jetzt tun. Nein, Sie haben vor den Wahlen
Eigentum und Vermögen zugleich dem Gemeinwohl nicht die Wahrheit gesagt, so wie Sie noch vor keiner
dienen sollen. Davon kann nach diesem Programm Wahl die Wahrheit gesagt haben.
überhaupt keine Rede sein.
(Beifall bei der PDS)
(Beifall bei der PDS)
Das einzige, was man den Wählerinnen und Wählern
Vor allem wird auch die Sozialstaatlichkeit aufge- anlasten kann, ist, daß sie immer wieder darauf her-
geben, die im Art . 20 des Grundgesetzes festge- einfallen, zumindest ein Teil davon. Vielleicht wer-
schrieben ist. den es aber auch weniger.
Mit diesem Programm wird ein Gründungskonsens (Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Jetzt schimpft
der Bundesrepublik Deutschland aufgegeben.
er auf die Wähler!)
(Beifall bei der PDS)
- Wissen Sie, ich gehe auch mit der Bevölkerung kri-
Übrigens hat das weitgehende Folgen; nicht nur tisch um und halte auch nichts davon, daß man sich
materielle. Wenn Sie den Sozialabbau so fortsetzen, nicht kritisch zu Leuten äußert.
wie diese Koalition und diese Regierung es tun,
(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sie
dann, behaupte ich, schaffen Sie auch neue Chancen
sollten mit sich selbst kritisch umgehen!)
für den Rechtsextremismus, der bekanntlich immer
sehr sozialpopulistisch auftritt und dadurch leider an - Das machen wir doch. Ich muß mich doch auch da-
Einfluß in dieser Gesellschaft gewinnen wird. Auch für rechtfertigen, warum 1990 so viele CDU gewählt
dafür tragen Sie dann Verantwortung. haben. Das hat auch etwas mit Schuld und Vergan-
(Beifall bei der PDS) genheit zu tun. Sie müssen aber zugeben, es läßt in
den neuen Bundesländern nach. Wir sind lernfähig.
Sie verstoßen auch gegen das Gebot der deut-
schen Einheit, schon deshalb, weil Sie den Sozialab- (Beifall bei der PDS)
bau unter anderem mit den Kosten für den Aufbau in Sie täuschen auch mit diesem Programm. Denn in
den neuen Bundesländern begründen. Sie wissen einem Brief an alle Bürgerinnen und Bürger - das
ganz genau, was die Folge davon ist, nämlich eine erinnert mich übrigens auch an andere Zeiten -
Ablehnungsstimmung in der Bevölkerung West-
deutschlands und eine Demütigung der Bevölkerung (Heiterkeit und Beifall bei der PDS)
Ostdeutschlands, obwohl Ihnen bekannt ist, daß Ihre hat der Herr Bundeskanzler dargelegt, daß es zwar
Sozialabbaupläne mit der Einheit überhaupt nichts hart sei, was auf die Bürgerinnen und Bürger zu-
zu tun haben. Das nenne ich Spaltungspolitik. komme, aber dringend notwendig sei, um das Haupt-
(Beifall bei der PDS) problem einer Lösung zuzuführen: das Problem der
Arbeitsplätze. Jetzt möchte ich gerne von Ihnen wis-
Da hilft es auch nicht, wenn Sie, Herr Bundeskanz- sen: Wieso soll mit diesem Programm irgendein Ar-
ler, in Ihrer Rede erklären, daß Sie es nicht beklagen, beitsplatz geschaffen werden? Das müssen Sie ein-
daß dafür Kosten entstanden sind. Das ist noch de- mal erklären.
mütigender. Warum erwähnen Sie denn jeden Tag
die Kosten für die deutsche Einheit, wenn Sie sie gar Was machen Sie denn in Wirklichkeit? Sie reduzie-
nicht beklagen? Sie erwähnen sie, um unsere Bevöl- ren die Kaufkraft nach eigenen Angaben um
kerung psychologisch zu spalten. Und dabei wissen 25 Milliarden DM. Wenn Sie die Kaufkraft um
Sie auch noch, daß die Zahlen falsch sind. 25 Milliarden DM reduzieren, weil Sie das sozusagen
den sozial Bedürftigen wegnehmen, dann wird die
(Beifall bei der PDS) Folge sein, daß die Binnennachfrage um 25 Mil-
Herr Schäuble und auch Sie, Herr Gerhardt, haben liarden DM zurückgeht. Das Ergebnis ist ein Abbau
eindeutig unrecht, wenn Sie erklären, daß all das, von Dienstleistungen, ein Abbau von Produktion und
was jetzt passiert, vor den Landtagswahlen gesagt damit selbstverständlich der Abbau von Arbeitsplät-
worden sei. Zeigen Sie mir doch einmal, wo in Ihrem zen. 25 Milliarden DM entsprechen 100 000 Arbeits-
50-Punkte-Programm steht, daß das Kindergeld ent- plätzen, die Sie mit diesem Programm abbauen.
gegen den gesetzlichen Festlegungen am 1. Januar (Beifall bei der PDS - Kurt J. Rossmanith
1997 nicht erhöht werden soll! Kein Mensch hat das [CDU/CDU]: Keine Ahnung!)
vorher gesagt.
- Ach, versuchen Sie sich doch nicht als Sachverstän-
(Beifall bei der PDS) diger der DDR. Sie verstehen doch kaum etwas von
Das gilt entsprechend für den Kinderfreibetrag und der Bundesrepublik, geschweige denn von der DDR.
für andere Regelungen. Ich sage Ihnen: Die Kaufkraftreduzierung wird uns
Wenn Sie auf die Lohnfortzahlung hinweisen, viele Arbeitsplätze kosten.
dann haben Sie auch nur erklärt, daß die Tarifpartner Sie wollen die Kuren verteuern und kürzen. Schafft
etwas anderes vereinbaren sollen. das Arbeitsplätze oder beseitigt das Arbeitsplätze im
(Beifall bei der PDS) Kurenbetrieb? Sie wollen die Gesundheitsvorsorge
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ril 1996 9007
Dr. Gregor Gysi
im wesentlichen reduzieren. Schafft das Arbeits- Die wirklich Vermögenden in dieser Gesellschaft
plätze im medizinischen Bereich, oder baut das Ar- müssen Sie ja nicht fürchten. Die Vermögensteuer
beitsplätze im medizinischen Bereich ab? Sie wollen soll praktisch abgeschafft werden. Die Erbschaft-
dafür sorgen, daß B ri llen und für die nächste Genera- steuer soll gesenkt werden, und zwar gerade für
tion auch Zahnersatz nicht mehr bezahlt werden. große Erbschaften, nicht für die kleinen. Das ist das
Schafft das Arbeitsplätze, oder baut das nicht Ar- eine. Wie gesagt: keine Anpassung bei der Sozial-
beitsplätze ab? hilfe, keine Erhöhung des Kindergeldes. Beim Kin-
dergeld ist das Ganze übrigens auch noch verfas-
(Beifall bei der PDS) sungswidrig. Das ist die andere Antwort, die diese
Sie wollen das Rentenalter erhöhen. Sagen Sie mir Koalition gibt. Das gilt übrigens auch für das Dienst-
doch einmal, wie Sie dadurch Arbeitsplätze schaffen mädchenprivileg.
wollen, wenn Menschen länger arbeiten müssen und Bei Herrn Gerhardt ist mir folgendes aufgefallen -
die nächste Generation keine Arbeitsplätze be- es ist interessant, wie argumentiert wird -: Bei den
kommt. Das ist auch ein Abbau von Arbeitsplätzen. sozial Schwächeren in unserer Gesellschaft wird im-
mer gesagt, wir brauchen neue Gesetze, um den So-
(Beifall bei der PDS)
zialmißbrauch in diesem oder in jenem Falle auszu-
Sie wollen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kürzen schließen. Da sitzen ganze Expertengruppen und
und werden damit auch die Zahl der Arbeitslosen ge- denken darüber nach, wie man verhindern kann, daß
rade in den neuen Bundesländern drastisch erhöhen. irgendwo in Hamburg oder in Erfu rt eine Sozialhilfe-
empfängerin 10 DM zuviel bekommt. Aber bei den
(Zuruf des Abg. Uwe Lühr [F.D.P.]) Vermögenden argumentieren Sie immer umgekehrt.
- Ja, das ist schon so. Sie wissen ganz genau: Wenn Da sagen Sie: Wir können die nicht höher besteuern,
überhaupt, brauchen wir eine Arbeitszeitverkür- denn dann halten die sich nicht an die Gesetze; dann
zung, damit die Arbeit auf mehr Schultern verteilt beschäftigen sie die Dienstmädchen eben schwarz,
wird; denn in immer weniger Zeit wird von immer oder sie begehen Kapitalflucht; und bevor die krimi-
weniger Menschen immer mehr hergestellt. Statt nell werden, schenken wir es ihnen lieber. Das ist
dessen verlängern Sie die Arbeitszeit mit der gegen- Ihre Argumentation, die Sie hier im E rn st anbieten.
teiligen Wirkung. Das Ganze, was Sie machen, ist (Heiterkeit und Beifall bei der PDS -
auch eine schlimme Solidaritätsverletzung. Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Was wissen
Sie schon von Kapitalflucht? Mein Gott!)
Der Kanzler hört zwar nicht mehr zu, obwohl es um
seine Erklärung geht, aber vielleicht lernt er ohnehin Mit diesem Argument können Sie auch den Dieb-
nicht mehr dazu. Nur eines will ich sagen: Er hat ge- stahlsparagraphen abschaffen, weil er häufig verletzt
sagt, wir dürfen nicht an Besitzständen kleben. Das wird. Das ist wohl keine sehr günstige Ausgangsposi-
sagt übrigens auch Herr Schäuble laufend. Ich tion, die Sie hier gewählt haben.
möchte gerne einmal wissen, wessen Besitzstände
hier gemeint sind. Nennen Sie mir doch einmal einen Natürlich gibt es Kapitalflucht. Wissen Sie was?
einzigen Punkt aus diesem Programm, der den Bun- Dann besteuern Sie doch endlich die Kapitalflucht!
deskanzler, mich oder irgendeinen anderen hier im Steuern heißen Steuern, weil man damit steuern
Saal betri fft. Wir haben danach keine einzige Mark kann. Wenn Sie nicht wollen, daß das Kapital ins
weniger. Aber die sozial Schwachen und die Lohnab- Ausland geht, dann machen Sie den Gang des Kapi-
hängigen haben danach weniger. tals ins Ausland steuerpflichtig. Dann bricht Ihre
ganze Argumentation zusammen, die Sie hier anbie-
(Beifall bei der PDS) ten, wenn es um höhere Steuern für wirklich Reiche
und Vermögende geht.
Wessen Besitzstände greifen Sie denn täglich an?
Unsere doch nicht. Wir haben uns doch in dieser Zeit (Beifall bei der PDS)
die Diäten gerade erhöht, und die nächste Erhöhung
soll am 1. Juli 1996 folgen. Die Anpassung der Sozial- Für alle anderen Vorschläge, die Sie unterbreiten,
hilfe soll ausfallen. Die Anpassung der Diäten und läßt sich dasselbe erklären. A ll das ist letztlich eine
unserer Kostenpauschale soll stattfinden. Das verste- Verletzung des Solidaritätsprinzips. Auch die Null-
hen Sie unter sozialer Gerechtigkeit in dieser Gesell- runde im öffentlichen Dienst ist wieder völlig unab-
schaft! hängig von der Höhe der Einkünfte.

(Beifall bei der PDS - Kurt J. Rossmanith Und dann Ihre Argumentation bei der Lohnfortzah-
[CDU/CSU]: Nackter Populismus!) lung: Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, das be-
treffe nur 20 Prozent, dann sage ich Ihnen, daß das
- Aber es ist wahr. Nennen Sie mir den Punkt, bei falsch ist, weil nämlich in vielen Tarifverträgen auf
dem wir etwas draufzahlen, wenn Ihr Programm ver- die gesetzlichen Bestimmungen Bezug genommen
wirklicht wird! Nichts! Wir haben danach sogar wird. Wenn Sie die gesetzlichen Bestimmungen än-
mehr. Aber die sozial Schwachen in dieser Gesell- dern, dann betrifft das sehr viele Beschäftigte, die
schaft müssen draufzahlen. Das ist keine Schieflage eine Reduzierung bei der Lohnfortzahlung in Kauf
mehr, das ist skandalös, was Sie hier betreiben. nehmen müssen.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Hätten Sie Aber was noch viel schlimmer ist: Wenn es erst ein-
die DDR nicht kaputtgemacht, sähe vieles mal einen Teil der Beschäftigten betrifft, dann ist
besser aus!) doch klar, daß die Arbeitgeber in den anderen Berei-
9008 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Dr. Gregor Gysi


chen sagen werden, daß sie die Konkurrenz nicht Ihr vorgesehener Abbau des Kündigungsschutzes
aushalten. Wenn A bei der Lohnfortzahlung weniger ist in seiner Begründung abenteuerlich. Natürlich
zahlt, muß auch B weniger zahlen. Das wird das Ar- können Sie immer sagen: Jede Art von Kündigungs-
gument sein, und das wissen Sie auch. Deshalb wol- schutz behindert Einstellungen. Immer wenn ich
len Sie das ja einleiten, damit die Lohnfortzahlung irgendwelche Pflichten eingehe, ist das natürlich
doch beachtlich in Frage gestellt wird und damit eine schwerer, als wenn ich gar keine eingehe. Das beste
der wesentlichen und erstreikten Errungenschaften ist, daß man einstellen und kündigen kann, wann im-
dieser Bundesrepublik Deutschland. mer man will, und daß es keine Tarifvereinbarungen
gibt. Dann werden Einstellungen gefördert. Wenn
Dasselbe gilt auch für das Kindergeld, - ich will Sie gar keinen Lohn zahlen, dann gibt es natürlich
darauf jetzt nicht weiter eingehen, auch aus zeitli- noch mehr Einstellungen. Das ist alles klar. Aber wir
chen Gründen - und für die Reduzierung der Lei- haben ja auch gewisse rechtliche und zivilisatorische
stungen für die Arbeitslosen. Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt, auch
wenn es einmal etwas schwieriger ist, sie ein- und
Dann sagen Sie immer, die Renten sind sicher, die
durchzuhalten.
Rentnerinnen und Rentner betrifft das alles gar nicht.
Abgesehen davon, daß ich an diese Versicherung Statt dessen nichts Positives auf der anderen Seite
nicht glaube: Teurere Kuren, betrifft das etwa nicht der Gesellschaft. Was spricht denn so sehr gegen
Rentnerinnen und Rentner? Die Nichtbezahlung von eine Abgabe für Besserverdienende? Unser Vor-
B ri llen: Betrifft das etwa nicht Rentnerinnen und schlag lautete: 10 Prozent der bisherigen Steuer-
Rentner? Die Tatsache, daß man für jedes Arzneimit- schuld bei Menschen draufsatteln, die netto 60 000
tel zukünftig mehr Geld zahlen muß, betrifft das DM oder mehr im Jahr verdienen - nachdem schon
nicht auch gerade Rentnerinnen und Rentner? Das Steuern und Versicherungsbeiträge bezahlt wurden!
alles sind Sozialkürzungen zu Lasten derjenigen, die Jeder, der 5 000 DM oder mehr im Monat zur Verfü-
inzwischen aus dem Arbeitsleben ausgeschieden gung hat - nachdem er seine Steuern und Versiche--
sind und die besonders auf Hilfe und Unterstützung rungen bezahlt hat -, kann nicht bestreiten, ein Bes-
angewiesen sind. serverdienender zu sein. Diejenigen sollen auf ihre
bisherige Steuerschuld noch einmal 10 Prozent
Jetzt sage ich Ihnen etwas, was mir wirklich beson- drauflegen. Falls sie also Steuern in Höhe von 10 000
ders wichtig ist und was ich mit dem Wort Kultur- DM im Jahr gezahlt haben, sollen sie nun 11 000 DM
wende meine. Es ist ein Detailpunkt, aber ein ganz zahlen. Niemanden von uns würde das ruinieren.
schlimmer. Herr Schäuble, ich bitte Sie, wirklich Niemand von uns würde dadurch zu einem Sozialfall
noch einmal ernsthaft darüber nachzudenken. In werden. Wir könnten aber fast alle finanziellen Pro-
Ihrem Programm steht, daß in der gesetzlichen Kran- bleme des Haushalts lösen, wenn Sie sich zu einer
kenversicherung ab 1. Januar 1997 für Menschen, solchen Maßnahme bereit erklären würden.
die bis dahin nicht das 18. Lebensjahr vollendet
haben, künftig und für immer die Kostenerstattung (Beifall bei der PDS)
von Zahnersatz entfällt. Das heißt: Sie machen für Es ist bekannt, daß wir natürlich eine Erhöhung
die nächste Generation Armut wieder sichtbar. der Vermögensteuer vorschlagen. Entgegen der Mei-
(Beifall bei Abgeordneten der PDS) nung von Herrn Fischer bin ich auch nicht dafür, den
Einkommensteuerspitzensatz zu senken. Im Gegen-
Sie wissen, daß man in jedem Dokumentarfilm über teil, er müßte wieder angehoben werden. Natürlich
die Dritte Welt die Armut unter anderem sofort daran brauchen wir bei großen Erbschaften auch eine hö-
erkennt, daß ab einem bestimmten Alter ganz viele here Besteuerung.
Menschen zahnlos sind. Wenn Sie Mittel in Höhe von 25 Milliarden DM
(Zurufe von der CDU/CSU: Mein Gott!) einsparen wollen, dann wäre dies doch so einfach.
Lassen Sie uns über den Transrapid nachdenken!
- Ja, natürlich. Sie wissen sehr wohl- schauen Sie (Beifall bei der PDS)
sich doch einmal alte Filme und Photographien an! -,
daß im vorigen Jahrhundert und in der ersten Hälfte Lassen Sie uns über die in Berlin geplanten Protzbau-
dieses Jahrhunderts Altersarmut unter anderem so- ten für die Regierung neu diskutieren!
fort zu erkennen war, da sie auch mit Zahnlosigkeit
(Beifall bei der PDS)
verbunden war. Denn das Geld reichte nie dafür,
Zahnersatz selbst zu bezahlen oder für diesen Zweck Lassen Sie uns über das Ehegattensplitting bei kin-
über Dauer eine eigene zusätzliche Versicherung ab- derlosen Ehen diskutieren! Das macht im Jahr allein
zuschließen. 30 bis 80 Milliarden DM aus. Lassen Sie uns darüber
diskutieren, wie wir eine jährliche Steuerhinterzie-
Sie machen damit schon im äußeren Erscheinungs- hung von 100 Milliarden DM und mehr bekämpfen!
bild des Menschen Armut wieder kenntlich. Ich sage Dieses Geld würde zusätzlich zur Verfügung stehen.
Ihnen: Das ist eine wirkliche Kulturwende. Das ha-
ben diese Menschen nicht verdient. Demütigen Sie Deshalb müssen Sie nicht den Kranken, den
sie nicht auch noch zusätzlich neben der materiellen Arbeitslosen, den Sozialhilfeempfängerinnen und
Kürzung, die Sie vorbereiten! -empfängern so in die Tasche greifen, wie Sie das im
Augenblick tun. Es gibt Alternativen zur Politik des
(Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne sozialen Kahlschlags, gerade wenn man Massenar-
ten der SPD) beitslosigkeit bekämpfen will.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9009
Dr. Gregor Gysi
Lassen Sie mich zum letzten Punkt kommen. Mit Verbesserung der Gewerbeertragsteuer rechtzeitig
diesem Programm hat die Bundesregierung den zum 1. Januar 1996 hätten in Kraft setzen können.
Lohnabhängigen, den Sozialhilfeempfängerinnen
und -empfängern, den Kranken, den Rentnerinnen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
und Rentnern, den Arbeitslosen und den Kindern
Dann wundere ich mich über eine merkwürdige
den sozialen Krieg erklärt. Sie haben Wind gesät. Ich
Doppelzüngigkeit. Auf der einen Seite wird Abbau
hoffe, daß Sie schon am 1. Mai 1996 den ersten Sturm
der Vergünstigungen und damit Herabsetzung des
ernten werden.
Steuersatzes verlangt. Dann bieten wir an einem
(Anhaltender Beifall bei der PDS) Punkt eine aufkommensneutrale Verbesserung der
Unternehmensteuerstruktur an, und zwar in einem
Bereich, in dem wir Weltspitze sind, nämlich bei den
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das Sätzen für die degressive Abschreibung: 30 Prozent
Wort dem Bundesfinanzminister Dr. Theodor Waigel. in Deutschland, höchstens zwischen 10 und
20 Prozent in allen anderen Ländern. Wenn wir das
Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: auf eine breitere Grundlage stellen und damit sehr
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Mi- schnell Abgaben oder Steuern abschaffen wollen,
nisterpräsident Lafontaine, Sie haben Herrn Peffeko- dann müssen Sie doch bereit sein, spätestens im
ven zitiert. Wenn Sie die Beurteilungen und die Mit- Jahre 1997, nämlich dann, wenn die Konjunktur wie-
wirkungen des Herrn Professors Peffekoven in allen der läuft, wenn auch die Investitionskonjunktur wie-
Bereichen einmal solide und zusammenhängend dar- der läuft, den Bereich an Gegenfinanzierung anders
stellen würden, wäre erkennbar, daß das ganz sicher zu beurteilen, als Sie das im Augenblick tun.
keine Unterstützung Ihrer Finanzpolitik ist.
Meine Damen und Herren, ich bin gern bereit, mit
Wenn er kritisiert, daß da und do rt die Stetigkeit Ihnen, Herr Lafontaine, eine Diskussion über die ver--
fehlt, dann deswegen, weil wir im Bundesrat daran sicherungsfremden Leistungen zu führen. Nur muß
gehindert worden sind, sie ehrlich erfolgen. Damit ist nämlich keine Abga-
benentlastung verbunden, sondern das ist eine Ver-
(Widerspruch bei der SPD) schiebung. Dann muß man darüber diskutieren, wo
vieles zur Konsolidierung durchzuführen. Und wenn versicherungsfremde Leistungen Eingang in die so-
Sie jetzt im Bundesrat die notwendigen Entlastungen zialen Sicherungssysteme gefunden haben. Bei der
der Länder und der Kommunen durch das Asylbe- Finanzierung der Einheit jedenfalls nicht. 80 Prozent
werberleistungsgesetz und die Reform des Sozialhil- der Einheitskosten sind steuerfinanziert. Wollen Sie
ferechts verzögert und nicht rechtzeitig in Gang ge- denn die Knappschaft - das Saarland ist ja auch be-
setzt haben, dann tragen Sie mit die Verantwortung troffen - möglicherweise rückwirkend für die letzten
dafür, daß die Konsolidierung nicht schon im Jahre 20 Jahre dagegenstellen, die landwirtschaftliche So-
1996 in dem Umfang stattfindet, wie sie hätte stattfin- zialpolitik, die Arbeitslosenhilfe? Und berücksichti-
den können. gen Sie überhaupt nicht den 20prozentigen Renten-
zuschuß? Tun Sie doch nicht so, als ob das die Lö-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sung der Probleme wäre!
Sie haben dann wieder das Einkommensteuer- Was die Schuldenhöhe anbelangt: 1995 hatten wir,
recht zitiert. Es ist schade, daß Herr Bürgermeister gemessen am BIP, 58 Prozent Schuldenstandsquote.
Voscherau nicht da ist. Ich hätte von ihm ganz gern Zu einem Zeitpunkt, als es schwierig war, in
einmal eine detaillie rte Aufstellung über die Millio- Deutschland Finanzpolitik zu machen, haben wir mit
näre in Hamburg gehabt. Man kann nicht nur ein der Privatisierung der Bundesbahn und der Regiona-
Wort in die Debatte werfen und dann die Begrün- lisierung etwas, wie ich meine, strukturell Wichtiges
dung schuldig bleiben und damit die Emotionalität und Vernünftiges gemacht.
schüren. Das ist keine seriöse und keine ehrliche
Steuer- und Finanzpolitik. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger-
lingen] [F.D.P.])
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Dabei haben wir die Länder noch gut ausgestattet.
Vollends scheinheilig ist es, wenn Sie sich wieder
hinter Herrn Professor Bareis und die Kommission Nur, wir haben die Schulden in den Bundeshaus-
stellen. Gehen Sie einmal Punkt für Punkt die Ge- halt übernommen, damit dies überhaupt möglich
genfinanzierungsvorschläge durch, und sagen Sie, war. Diese Schulden spiegeln sich jetzt natürlich in
ob Sie den Abbau der Steuerfreiheit von Nacht den Kennziffern wieder. Die Bahnschulden können
arbeits- und Sonntagszuschlägen, steuerliche Ver- wir also aus der Quote herausrechnen.
schlechterungen im Gemeinnützigkeitsbereich, die
Nichtabzugsfähigkeit der Kirchensteuer, ob Sie das Wir müssen die Schuldenstandsquote auch um die
alles wollen! Dann unterhalten wir uns weiter. Lasten der Einheit bereinigen. Herr Gysi, wenn wir
die Kosten der Einheit darstellen, dann ist dies kein
Übrigens, was die Steuerpolitik anbelangt, sind Sie Vorwurf gegenüber den Menschen in den neuen
geradezu das personifizie rte Steuerpolitikhindernis. Bundesländern. Im Gegenteil, wir sagen, daß mit ih-
Die Konjunktur wäre in diesem Jahr anders gelau- rer Leistung in den neuen Bundesländern der gleiche
fen, wenn wir die Unternehmensteuerreform, wenn Stand erreicht worden wäre wie in den alten Bundes-
wir den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer und die ländern. Sie haben aber unter der verbrecherischen
9010 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


Politik Ihrer Vorgänger gelitten, mit denen Sie in ei- Angesichts einer 25jährigen Erfahrung in Deutsch-
nem direkten Zusammenhang stehen. land und in anderen Ländern wissen wir, daß auf
Grund globaler Märkte Fehler in der Struktur sofort
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bestraft werden: Absatzverlust, steigende Preise,
Herr Fischer, was die Annahmen des BMF anbe- steigende Zinsen, weichere Währung, weniger
langt: Ich kann Ihnen nur sagen - wenn Sie zu telefo- Wachstum und mehr Arbeitslosigkeit.
nieren aufhören -, daß wir von den Annahmen der Die Erfahrung in Deutschland und in allen G-7-
offiziellen Steuerschätzung ausgehen. Im Mai des Ländern sowie der Europäischen Union zeigt, daß
vergangenen Jahres hat die Steuerschätzung stattge- eine solche Konsolidierung nicht nur mittel- und
funden, die für den jetzigen Finanzplan erforderlich langfristig, sondern auch kurzfristig auf die Konjunk-
ist. Jetzt findet wieder eine Steuerschätzung statt, die tur und auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze wirkt.
für den nächsten Finanzplan zugrunde gelegt wird. Es ist völlig übereinstimmend mit der zwischenzeitli-
Wir nehmen für den Haushalt und den Finanzplan je- chen Meinung im internationalen Währungsfonds
desmal die Steuerschätzung, die dafür vorgesehen und in der Gruppe der G 7.
ist. Sie wird von Bund, Ländern und der Bundesbank
unter Einbeziehung der wi rtschaftlichen Forschungs- Die SPD muß sich entscheiden, was sie will: höhere
institute erstellt. Objektiver kann man das nicht ma- Schulden, wie es der Vorsitzende des Haushaltsaus-
chen. schusses angedeutet hat, oder ob man von zu hoher
Staatsverschuldung spricht wie Frau Matthäus-Maier
Nun hat Herr Fischer wieder vorgeschlagen, eine
oder ob man wie Herr Scharping die Vermögensab-
Steuer auf Spekulationsgewinne einzuführen. Dar- gabe fordert. Ich nehme an, Sie werden dazu nach-
über könnte man durchaus reden, wenn es Sinn
her sicher noch einiges sagen.
machte. Nur, wer den Finanzplatz Deutschland, den
Finanzplatz Frankfu rt , erhalten will, der muß sich Nur, Herr Scharping, meine Frage an Sie ist: Wol-
darüber im klaren sein, daß wir bei der bestehenden -
len Sie wirklich eine Verteuerung des Kapitals und
Freiheit des Kapitalverkehrs in Europa nur eines er- damit eine Zinserhöhung, was folglich negative Aus-
reichen, nämlich daß der Verkauf dann in London wirkungen auf die Schaffung von Arbeitsplätzen
stattfindet und nicht mehr in Frankfu rt . Wollen wir hätte? Haben Sie eigentlich bedacht, daß das Bun-
damit wirklich den Finanzplatz Deutschland ruinie- desverfassungsgericht eben festgestellt hat, daß
ren? Sie haben doch einen Kämmerer in Frankfu rt hohe Kapitalvermögen wegen der hohen Ertragsteu-
gehabt,drinMmuFazkentish. erbelastung nicht zusätzlich mit einer Substanzab-
Vielleicht können Sie sich mit ihm zu einem Privatis- gabe belastet werden dürfen?
simum treffen, um gemeinsam zu überlegen, welche
Auswirkungen das auf Deutschland hätte. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber die
Ausnahmeregelung war doch da!)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das lassen wir Ich finde, das war ein Schnellschuß von Ihnen.
alles beiseite und kürzen bei der Sozial
hilfe!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Nein!)

Herr Gysi, es lohnt sich eigentlich nicht, auf Sie Sie sollten sich noch einmal gut überlegen, ob Sie
einzugehen. Sie haben aber etwas über die Rentner, das in der Diskussion aufrecht erhalten.
auch die der früheren DDR, gesagt. Unter dem frühe- Zwischenzeitlich weiß doch jeder, mit einer steuer-
ren Regime waren die Rentner in der DDR die ärm- finanzierten Nachfrageerhöhung sind die Probleme
sten Menschen. Wir haben ihnen durch eine Steige- nicht mehr zu lösen. Das haben die 70er Jahre ge-
rung der Rente, die sich sehen lassen kann, die Men- zeigt. Nur Konsolidierung schafft Wachstum. Der
schenwürde wiedergegeben. positive Zusammenhang zwischen Konsolidierung
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Wachstum gilt auch kurzfristig.

Mit diesem Konsolidierungs- und Strukturreform- Lassen Sie mich einmal das Beispiel einiger ande-
paket stellen die Koalition und die Bundesregierung rer Länder darstellen. In Österreich soll das Budget-
die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung. defizit des Bundes in den Jahren 1996 und 1997 von
Wir greifen die strukturellen Schwächen des Stand- jetzt 5 auf 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ver-
orts Deutschland auf. Sie stehen im Mittelpunkt. Wir ri ngert werden. Das bedeutet Einsparungen pro Jahr
müssen gemeinsam mit den Tarifpartnern alles tun, in Höhe von 1,4 Prozent des BIP. Im öffentlichen
um sie zu beseitigen. Dienst gilt eine zweijährige Nullrunde mit Reallohn-
verzicht. Daneben gibt es Einschnitte bei den Früh-
Die Staatsquote ist zu hoch. Dies ist nicht durch pensionen, den Renten und bei der Arbeitslosenver-
eine ausufernde Staatspolitik entstanden, sondern in- sicherung.
dem wir eine ganze Volkswirtschaft übernommen ha-
ben. Bis zum Jahr 2000 müssen wir die Staatsquote In Schweden soll der Haushalt bis 1998 ausgegli-
wieder auf den Stand vor der Wiedervereinigung, auf chen werden, ausgehend von einem Defizit in Höhe
etwa 46 Prozent, senken. Wir müssen im Rahmen ei- von 10,5 Prozent des BIP. Das bedeutet Einsparungen
ner symmetri schen Finanzpolitik den einen Teil für von jährlich etwa 1,1 Prozent des Bruttoinlandspro-
die Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast und dukts. Die Schwerpunkte der Ausgabenkürzungen
den anderen Teil für die Reduzierung der Defizite liegen im Personalbereich und bei den Sozialausga-
verwenden. ben.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9011
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Auch in Finnland wird bis Ende 1997 ein ausgegli- steten Arbeitsverhältnissen räumen wir entschei-
chener Gesamthaushalt angestrebt. Im Zentralbud- dende Bremsklötze für Neueinstellungen aus dem
get 1996 beträgt das Einsparvolumen 1,9 Prozent des Weg, gerade auch für kleine und mittlere Unterneh-
BIP. Einsparbereiche sind die Renten und die Ar- men mit weniger als zehn Beschäftigten.
beitslosenunterstützung.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das glauben Sie
Sehr nah bei uns liegen die Niederlande. Sie ha- doch selbst nicht!)
ben einen Ministerpräsidenten - er war früher Fi-
nanzminister, kommt aus dem sozialistischen Bereich Dieses Konsolidierungspaket entlastet auch Län-
und war Gewerkschaftsvorsitzender. Dort ist für den der und Gemeinden deutlich. Es trägt wesentlich
Zeitraum 1995 bis 1998 ein Einsparvolumen von dazu bei, daß die Länder ihren Konsolidierungsbei-
2,75 BIP-Punkten zu erzielen. Gespart wird im Ge- trag von 25 Milliarden DM erbringen können. Damit
sundheitswesen, bei den Renten, beim Kindergeld, passen die Maßnahmen genau zu den bereits von
bei sonstigen Sozialleistungen. Die Lohnabschlüsse vielen Bundesländern eingeleiteten, zum Teil drasti-
im öffentlichen Dienst der Niederlande lagen 1994 schen Sparmaßnahmen, die von Haushaltssperren
bei nominal null Prozent, 1995 bei 0,5 Prozent, und über Kürzungen im gesamten Budget bis hin zu ei-
für 1996 sind zum 1. Oktober 0,75 Prozent vereinbart. nem deutlichen Personalabbau reichen.

(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Na und?) Neben dem, was in dem Konzept steht, muß natür-
lich auch gesehen werden, welche Entlastungen die
- Sie sagen „Na und" ! Ich bitte Sie, endlich mal dem Kommunen und damit indirekt auch die Länder
Beispiel von Wim Kok zu folgen, das in Ihre Politik durch die Einführung der Pflegeversicherung haben.
umzusetzen und es auch gegenüber den Tarifpart- Das ist eine der größten Entlastungen gerade im
nern zum Ausdruck zu bringen. Dann wären wir kommunalen Bereich.
nämlich sehr viel weiter. -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Steuerpolitisch geht es jetzt um die Verwirklichung
Unsere gestern gefaßten Beschlüsse liegen mit ei- des abgekoppelten Teils des Jahressteuergesetzes
nem Sparvolumen von 50 Milliarden DM für den öf- 1996, um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer
fentlichen Gesamthaushalt oder 1,5 Prozent des Brut- und eine mittelstandsfreundliche Senkung der Ge-
toinlandsprodukts im Rahmen dessen, was sich auch werbeertragsteuer bei vollem Ausgleich der Einnah-
andere Länder zutrauen. meausfälle der Gemeinden durch Beteiligung am
Aufkommen der Umsatzsteuer. Ich bin sehr froh, daß
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Erhöhen Sie ein die Kommunen, vor allen Dingen vertreten durch die
mal die Vermögensteuer wie in Schweden!) kommunalen Spitzenverbände, sehr klar erkannt ha-
Für den Haushalt 1996 bleiben wir bei einer Defi- ben, daß dies ihre große Chance ist, die Finanzaus-
zitgrößenordnung von rund 60 Milliarden DM. Trotz stattung der Kommunen dauerhaft qualitativ und
der Einsparungen ist das Budget auch unter Berück- auch quantitativ zu verbessern.
sichtigung der Nettoentlastung des privaten Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
brauchs um 15 bis 20 Milliarden DM durch das Jah-
ressteuergesetz 1996 und den Wegfall des Kohle- Wir gehen einen wichtigen Schritt im Hinblick auf
pfennigs insgesamt konjunkturgerecht. Von einer Mittelstandsverbesserung und Eigenkapitalausstat-
Überkonsolidierung oder von einem „Kaputtsparen" tung durch die Verbesserung des § 7 g des Einkom-
kann überhaupt keine Rede sein. mensteuergesetzes. Wir werden den Solidaritätszu-
schlag absenken, und zwar zum 1. Januar 1997 auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 6,5 Prozent und zum 1. Januar 1998 auf 5,5 Prozent.
Wer wie Sie von der Opposition die notwendigen Die Neuregelung der Erbschaft- und Schenkung-
Strukturreformen im Sozialbereich als „Sozialab- steuer wird sozial ausgewogen erfolgen. Dabei wer-
bau" diffamiert, hat im Gegensatz zu vielen Bürgern den wir dem Umstand Rechnung tragen, daß die Ver-
den Ernst der Lage nicht verstanden. mögensteuer auf Privatvermögen entfällt, und zwar
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) genau aus den Gründen, die Wolfgang Schäuble vor-
hin dargestellt hat. Wir wären doch wirk li ch von al-
Die Bürger wissen sehr wohl: Dies ist notwendig. Sie len guten Geistern verlassen, nur den erhebungsauf-
sind auch bereit, ihren Beitrag zu erbringen, weil sie wendigsten Teil einer Steuer weiter zu erheben im
sich der Verantwortung für ihr eigenes Leben, für Wissen darum, daß dafür in den nächsten Jahren ent-
das Gemeinwohl und für die nächste Generation weder eine neue Hauptfeststellung bei der Einheits-
durchaus bewußt sind. Wir setzen auf die Vernunft bewertung oder eine riesige Bedarfsbewertung statt-
der Menschen. finden muß, und im Wissen darum, daß die Stellen
bei den Ländern knapp sind und daß wir sehr gut
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ausgebildete Finanzbeamte sehr wohl für andere
Mit dem Einstieg in notwendige Strukturreformen, Dinge, nicht zuletzt bei der Betriebsprüfung, drin-
in mehr Flexibilität und Eigenverantwortung bre- gend benötigen könnten.
chen wir die Ausgaben- und Abgabendynamik, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
bisher eine deutliche Senkung der Lohnnebenkosten
verhindert. Mit den Änderungen bei der Lohnfort- Dieser p ri vate Teil der Vermögensteuer wird mit
zahlung, beim Kündigungsschutz und bei den befri- der Erbschaftsteuer zusammengefaßt. Dies ist durch
9012 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Bundesminister Dr. Theodor Waigel


eine Veränderung der Struktur des Erbschaftsteuer umfassende Reform der Einkommensteuer verwirk-
tarifs möglich. Sie werden damit keine Möglichkeit lichen. Daran werden wir in den nächsten Wochen
haben, sich ein neues Verhetzungspotential aufzu- und Monaten intensiv arbeiten. Ziel ist, die Steuerre-
bauen. Sie werden sich nicht - wie früher beim Jä- form zum 1. Januar 1999 in Kraft zu setzen.
ger 90 - ein Thema suchen können, das Sie uns dann
in jeder Debatte vorhalten. Nein, wir sind sicher: Der Bei der Gelegenheit werden wir auch das vom
Wegfall der Gewerbekapitalsteuer, der Wegfall der Bundesrat angestoßene Thema „Dienstwagen und
Vermögensteuer, die Verbesserung der Gewerbeer- Verpflegungspauschsätze" noch einmal diskutieren.
tragsteuer, die Beteiligung der Kommunen an der Wir sind für Verbesserungsvorschläge durchaus auf-
Umsatzsteuer und eine vernünftige Gestaltung der geschlossen. Nur wünsche ich mir dann schon, daß
Erbschaft- und Schenkungsteuer sind wichtige, posi- man nicht nur Vereinfachungen und Verringerungen
tive Signale für Deutschland und seine Zukunftsfä- von Pauschsätzen will, sondern daß man dann, wenn
higkeit sowie für die Investitionsbereitschaft gerade andere es tun, es akzeptiert und keine neuen Initia-
der Unternehmen. tiven in Gang setzt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Michael Glos [CDU/CSU]: Recht hat er!)
Herr Scharping, denken Sie doch noch einmal dar-
über nach, was uns eigentlich die Verdoppelung des Meine Damen und Herren, der Wohlfahrts- und
Vermögensteuersatzes für Private, damals im Solidar- Steuerstaat - das müssen wir alle konstatieren - hat
pakt, gebracht hat: eine Verlagerung von Kapital, seine Grenzen erreicht. Wir können die Errungen-
eine Umschichtung in den Haushalten und weniger schaften der sozialen Marktwirtschaft - dazu gehört
diesbezügliche Möglichkeiten für uns. Wer mit dem neben einem hohen individuellen und sozialen Le-
Kapital so umgeht, wie Sie es tun, der muß bei einem bensstandard auch die persönliche Freiheit und so-
freien Kapitalverkehr in Europa fürchten, daß das zialer Gemeinsinn - im 21. Jahrhundert nur bewah-
-
Kapital Deutschland verläßt. Das ist so ziemlich das ren, wenn wir nicht kleinkariert Einzel- und Grup-
letzte. Wir brauchen attraktive Bedingungen, damit peninteressen verteidigen. Mit diesem Programm für
Kapital wieder verstärkt nach Deutschland kommt den Standort Deutschland im 21. Jahrhundert pak-
und deutsches Kapital in Deutschland bleibt. Das ist ken wir die Wachstumsprobleme entschlossen an,
unsere Politik. schaffen die politischen Rahmenbedingungen für ei-
nen neuen Aufschwung und vermeiden unzumut-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bare Härten. Wir stellen uns damit der Gegenwart
Meine Damen und Herren, wir werden auch unse- und der Zukunft.
ren Kurs fortsetzen, fragwürdig gewordene Steuer-
vergünstigungen und Ausnahmeregelungen zurück- Ich danke Ihnen.
zuschneiden. Allein in den letzten sechs Jahren ha-
ben wir Steuersubventionen in der Größenordnung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
von über 40 Milliarden DM in Deutschland abge-
baut. Wir werden das fortsetzen. Wir denken an die
Sonderabschreibungen für Schiffe und Flugzeuge, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
für die es meines Erachtens keinen Raum mehr gibt. Wort dem Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Rudolf
Wir wollen und müssen gemeinsam mit den Ländern Scharping.
- aber da besteht die Mehrheit aus SPD-Finanz-
ministern - noch verstärkt gegen Steuerbetrug und
Steuergestaltungsmißbrauch angehen. Rudolf Scharping (SPD): Herr Präsident! Meine
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) Damen und Herren! Die Lage ist ernst, in mancher
Hinsicht ist sie dramatisch. Sie ist ernst wegen der
- Wir sind dazu bereit. Reden Sie doch endlich mit wirt schaftlichen Entwicklung, wegen der finanziel-
Ihren Länderfinanzministern! len Folgen für die öffentlichen Haushalte, wegen der
Herr Scharping, wir haben doch damals bei der Situation auf dem Arbeitsmarkt und vieler anderer
Diskussion um einen Ausgleich für die mit dem Soli- Umstände. In dieser Situation muß es Änderungen
darpakt verbundenen Belastungen die Finanzmini- geben. Der Streit geht nicht um die Frage, ob es Än-
ster gebeten, uns Vorschläge dazu zu machen, was derungen geben muß, sondern darum, in welche
mehr getan werden könnte. Dann sind Herr Schleu- Richtung sie gehen. Der Streit geht nicht um die
ßer und andere zurückgekommen und haben gesagt, Frage, ob man in einer krisenhaften Situation Chan-
das sei eine Illusion und die Summen, die genannt cen entwickelt, sondern um die Frage, ob diese Re-
würden, seien schlichtweg Humbug; sie könnten gierung fähig ist, für das Land insgesamt Chancen zu
nicht mehr tun. entwickeln,

Lachen Sie doch nicht und unterhalten Sie sich mit (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf
den Leuten, die von dem Thema offensichtlich mehr Kutzmutz [PDS])
als Sie verstehen.
und ob sie eine neue, eine moderne, eine soziale De-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mokratie wirtschaftlich und kulturell begründen und
Wir wollen eine deutliche Verbreiterung der Be- die Kräfte bündeln kann, fernab der Tatsache, daß
messensgrundlage, und wir wollen dies durch eine diese Regierung vor dem 24. März die Öffentlichkeit,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9013
Rudolf Scharping
das Parlament und die Bürgerinnen und Bürger belo- Jahren gekürzt haben und erneut kürzen wollen? Die
gen hat. Besitzstände derer, die hoffen, daß es eine intelli-
gente Lösung zur Lohnfortzahlung im Krankheits-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ falle gibt statt der pauschalen Bestrafung aller, die
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutz krank geworden sind?
mutz [PDS])
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Fernab dieser Tatsache mache ich auf eines auf-
merksam: Mit der Bereitschaft der Gewerkschaften, GRÜNEN und der PDS)
strukturelle, tiefgreifende Reformen im Sinne von Die Besitzstände jener Menschen, die Kinder alleine
Beschäftigung und Wachstum mitzutragen, mit der erziehen?
Einsicht der Wohlfahrtsverbände und Kirchen, im
Zweifel auch noch mit einem Angebot der Opposi- Ich finde es - und ich sage das auch hier im Parla-
tion spielt man nicht taktisch. Genau das aber haben ment - eine Obszönität, daß die Erhöhung des Kin-
Sie getan. dergeldes ausgesetzt werden soll und Sie gleichzei-
tig die Vermögensteuer abschaffen wollen. Das ist
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE eine soziale Obszönität!
GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutzmutz
[PDS]) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Sie vertun eine enorme Chance und fallen zurück in
den alten Trott. Sie machen aus einem Holzweg ei- Und dann wird ja fröhlich immer an den falschen
nen Trampelpfad Ihrer Politik! Fronten gefochten. Ich nenne Ihnen fast wahllos ei-
nige Beispiele:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da kommt der Bundesfinanzminister und sagt, die-
Und ich sage das in allem Ernst; denn wer dauernd SPD müsse endlich mal die Frage beantworten, ob
nach Auswegen sucht, landet am Ende in der Aus- sie mehr Kreditaufnahme wolle. Zunächst, damit Sie
weglosigkeit. Ihre Politik ist in der Ausweglosigkeit Ihre Antwort haben: Wir sind der Auffassung, daß
gelandet. man die 160 Milliarden Mark Kosten der Arbeits-
losigkeit nicht durch Ausgabenkürzung hereinholen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kann. Das ist völlig ausgeschlossen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
In einem Land mit acht Millionen Menschen, die
als arm gelten, mit sechs Millionen Menschen, die Man muß den Sozialstaat langfristig konsolidieren,
mit irgendeiner Form von öffentlicher Unterstützung ja, aber ich sage einmal: Lügen Sie doch nicht sich,
leben, mehr als vier Millionen Menschen, die arbeits- dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit in
los sind, mehr als zwei Millionen Menschen, die eine die Tasche! Ich habe hier einen Vermerk Ihrer Ar-
preiswerte Wohnung suchen, mehr als einer halben beitsgruppe Haushalt. Da steht: Im Bundeshaushalt
Million Kinder, die ohne anständiges Dach über dem 1997 beträgt nach derzeitigem Stand die Deckungs-
Kopf leben, häufig sogar auf der Straße leben müs- lücke 30 Milliarden. Diese resultiert aus Steuermin-
sen usw. usw., Herr Bundeskanzler, in einem solchen dereinnahmen usw. Diese Deckungslücke soll in
Land, das unbest ritten Reichtum hat und Chancen Höhe von 25 Milliarden durch Einsparungen und in
bietet, aber mit dem Reichtum und den Chancen un- Höhe von 5 Milliarden durch eine Erhöhung der
gleich und ungerecht umgeht, dank Ihrer Politik, Nettokreditaufnahme geschlossen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Meine Damen und Herren, es ist unredlich, eine
ten der PDS) Täuschung der Öffentlichkeit und für die weitere De-
batte auch nicht gerade fruchtbar, uns vorzuwerfen,
sich in einem solchen Land, Herr Bundeskanzler, hin- wir wollten die Erhöhung der Nettokreditaufnahme,
zustellen und von einer ungeheuer erfolgreichen während Ihre Arbeitsgruppen fröhlich vereinbaren,
Politik zu reden, das muß den betroffenen Menschen wir reden nur von 25 Milliarden und verschweigen
und den vielen anderen, die sich Sorgen machen, die 5 Milliarden, die wir zusätzlich beim Kredit auf-
wie Hohn und wie selbstgefällige Arroganz in den packen wollen.
Ohren klingen!
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: Standortfak-
toren. Die Arbeitgeber, nicht die SPD, nicht die Ge-
Ich finde, so mobilisiert man keine Kräfte.
werkschaften und nicht irgend jemand sonst, sagen:
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Für den Standort sind erstens Qualifikation, zweitens
GRÜNEN und der PDS) technisches Wissen, drittens Arbeitsproduktivität,
viertens effektives Management, fünftens Abgaben-
Und dann, Herr Bundeskanzler, haben Sie davon quote besonders wichtig. Irgendwo bei zwölftens
geredet, man dürfe sich in einer solchen Situation oder dreizehntes kommen die Arbeitskosten.
nicht an Besitzständen festhalten. Ja, welche Besitz-
stände meinen Sie denn da? Die Besitzstände derer, Abgabenquote: Nie zuvor hat eine Regierung in
denen Sie die Lohnersatzleistungen seit mehreren der Bundesrepublik Deutschland die Abgabenquote
9014 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Rudolf Scharping
so hoch getrieben wie diese. Das ist die Folge ihrer für, Ihnen jedes denkbare Beispiel zu nennen - zu
Feigheit, dem Steuerzahler die Wahrheit zu sagen. den Vermögen und ihrer Entwicklung sagen. Wir
sind der Auffassung - das ist die erste grundsätzliche
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Antwort der Sozialdemokratie -: Entlastet die Arbeit
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN von Kosten, sorgt dafür, daß sich der Einsatz von Ar-
und der PDS) beitskraft stärker lohnt!
Sie sagen: Die Arbeitskosten in Deutschland sind Das hat Folgen für die Lohnnebenkosten, für die
zu hoch. Das heißt nichts anderes, als daß der Bock, Sozialversicherungsbeiträge, für die langfristige Kon-
sich als Gärtner gerierend, die Folgen seiner eigenen solidierung des Sozialstaats, für die Beseitigung
Untaten beklagt. struktureller Defizite und für vieles andere. Es muß
(Beifall bei der SPD) auch eine Folge in der Frage haben: Was lohnt sich
eigentlich in Deutschland? Seine Arbeitskraft einzu-
Die Arbeitskosten in Deutschland sind nicht zu hoch, setzen bekanntlich nicht, das muß man tun, um leben
wohl aber die Abgaben auf die Arbeit. zu können. Zu investieren lohnt sich zu wenig, das
Ich frage Sie in allem Ernst, ob Ihnen in einer ex- ist auch ein allgemein bekannter Tatbestand, für den
portorientierten Nation, die Nachfrage im eigenen Sie leider Verantwortung tragen. Geldvermögen an-
Land zur wirtschaftlichen Belebung braucht, nicht et- zusammeln lohnt sich besonders. Das zeigt eine ein-
was auffällt, wenn Sie sich folgendes anhören: fache Zahl, und ich nenne sie Ihnen nur für den We-
Die Lohnquote der Arbeitnehmer, also ihr Anteil sten Deutschlands, weil sich im Osten Deutschlands,
am gemeinsam Erwirtschafteten, beträgt in Japan wie die Dinge liegen, Vermögen nur in ganz, ganz
75 Prozent, in den USA und Großbritannien wenigen Händen ansammeln kann - skandalöse Zu-
72 Prozent, in der Europäischen Union im Durch- stände, wie ich finde, und wi rtschaftlich übrigens
schnitt 70 Prozent und in Deutschland 66 Prozent. höchst unvernünftig.

Die Tatsache, daß die Arbeitnehmer durch den Ein- Wir haben am Ende des Jahres 1994 ausweislich-
satz ihrer Arbeitskraft seit Jahren - wi rtschaftlich ge- der Antwort der Bundesregierung in Deutschland ein
sprochen - keinen wachsenden Ertrag mehr haben, Bruttogeldvermögen von 4 320 Milliarden DM. Auf
wirkt sich auf der Nachfrageseite unserer Wi rtschaft den Westen Deutschlands entfallen davon 4 038 Mil-
aus und hat zur logischen Konsequenz, daß wir in liarden DM. Im Westen Deutschlands ist allein das
wirtschaftliche Schwächen hineinrennen. Wenn Sie Geldvermögen - ich rede gar nicht von Grundbesitz
diesen Prozeß fortsetzen, werden Sie die wirtschaftli- und anderem - von 1989 bis 1994 um 40 Prozent ge-
chen Schwächen fortsetzen. wachsen, um 40 Prozent!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Wir können ja gern über technische Einzelheiten
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) streiten; aber ich sage nochmals: Schauen Sie sich
einmal die Erträge der Vermögen an und fragen Sie
Niemand bestreitet - wir sagen das auch in unse- sich dann, ob Sie es mit der christlichen Motivation
rem eigenen Vorschlag -, daß wir die Zukunft si- von Politik, mit dem schlichten moralischen Anstand,
chern und den Zusammenhalt stärken müssen. Ja- mit dem Empfinden für Gerechtigkeit oder mit der
wohl, es muß einiges verändert werden, es muß lang- wirtschaftlichen Vernunft vereinbaren können - ich
fristig konsolidiert werden, aber dann bitte auch auf behaupte, mit keinem der vier Punkte -, daß der Zu-
allen Seiten. wachs von Geldvermögen in der Bundesrepublik
Ich habe von unhaltbaren Zuständen gesprochen Deutschland in fünf Jahren 40 Prozent und der Zu-
und ein bestimmtes politisches Vorhaben obszön ge- wachs des Wertes der eingesetzten Arbeitskraft null
nannt. Es ist am 14. Februar 1996 ein Urteil des Bun- beträgt. Das ist nicht verantwortbar.
desfinanzhofs auf der Grundlage geltender Gesetze (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
in Deutschland ergangen. Die Anschaffungskosten GRÜNEN und der PDS)
für ein in ein Einfamilienhaus eingebautes
Schwimmbad gehören zu den Anschaffungskosten Nun kommen Sie mir doch nicht mit Ihrem techni-
des Gebäudes und damit zur Bemessungsgrundlage schen Klunkerkram! Natürlich können wir darüber
für den Abzugsbetrag nach § 10e Einkommensteuer- reden, wie man Freibeträge macht - da haben wir ei-
gesetz. nen Vorschlag gemacht -, wie wir das im einzelnen
technisch organisieren usw. Die Tatsache, daß Sie im-
Das heißt in schlichtem Deutsch folgendes: Wir ha- mer technische Einwände erheben, kann doch eines
ben es hier mit einer Koalition zu tun, die bereit ist, nicht bemänteln: Sie haben den Willen nicht, für so-
die Erhöhung des Kindergeldes auszusetzen, die zial gerechte Verhältnisse zu sorgen.
aber unfähig ist, die Anschaffungskosten für ein p ri
-vatesSchwimbdurWongsafödeu (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
herauszunehmen. Das nenne ich skandalös. GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Und dann redet der Bundeskanzler mit großer Geste
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und ebenso großer Selbstgefälligkeit von einer unge-
und der PDS) heuer erfolgreichen Politik, davon, daß wir uns nicht
an den Besitzständen festhalten dürften.
Nun will ich Ihnen noch etwas im Zuge der wahllo-
sen Beispiele - die Redezeit und Ihr Bedürfnis, nach (Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nicht so
Hause zu kommen, ist eine doppelte Begrenzung da- künstlich wie Sie!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9015
Rudolf Scharping
Meine Damen und Herren, die sozialdemokrati- trägers, aber nicht unbedingt selbst ein Leistungsträ-
sche Antwort ist klar und eindeutig. ger.
Erstens. Wir wollen die Arbeit von Kosten entla- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
sten, das heißt Lohnnebenkosten senken. ten der PDS)
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie machen Sie Für mich sind die Leute, die arbeiten gehen, die
das?) Facharbeiter, die Ingenieure, die Handwerker, die
Polizeibeamten, die Krankenschwestern, die eigentli-
Und wir wollen gleichzeitig dafür sorgen, daß das chen Leistungsträger dieses Landes, und die wollen
stilliegende Vermögen und der Verbrauch von Um- wir entlasten.
welt dazu herangezogen werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
GRÜNEN und der PDS) PDS)
Zweitens. Wir wollen auf diese Weise einen zu- Da sage ich mit kritischem Blick sowohl auf die
kunftsträchtigen Weg eröffnen. Kollege Schäuble hat Union wie auch auf die Grünen: Redet bitte schön
einen Einwand im Zusammenhang mit den Energie- nicht immer so viel von der Senkung des Spitzen-
kosten gemacht, den ich ernst nehme. Ich nehme ihn steuersatzes! Fangt mal bei den Leuten an, die bei
durchaus ernst. Ich möchte aber Sie, Herr Kollege einem normalen Einkommen einen Eingangssteuer-
Schäuble, vor allen Dingen jedoch die deutsche satz von knapp 26 Prozent haben!
Öffentlichkeit darauf hinweisen, daß es in Deutsch-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
land nur ganz eingeschränkt bestimmte Branchen
Dr. Gregor Gysi [PDS] - Joseph Fischer
gibt - im wesentlichen solche, die Prozeßenergie ein-
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
setzen -, in denen der Anteil der Energiekosten
Wir wollen beides! Rudolf, der Westerwelle
höher ist als der Anteil der Lohnkosten. Vor diesem
wird schon ganz unruhig, wenn ihr uns da
Hintergrund ist jedes Modell, das im selben Umfang
mit der Union zusammensetzt! - Dr. Guido
Lohnkosten herunterbringt und die Finanzierung
Westerwelle [F.D.P.]: Gefällt mir alles, Herr
über die Energiekosten sucht, für diese Unterneh-
Fischer!)
men ein Vorteil, nicht ein Nachteil.
- Ist doch in Ordnung. Daß die Grünen in einer ge-
Wir haben Ihnen ausdrücklich gesagt: Wir sind be- wissen Gefahr sind, sich allzu egoliberal den
reit, über die Frage der Prozeßenergie, über die F.D.P.lern anzunähern, ist unbestritten.
Frage möglicher Umbrüche sorgfältig miteinander zu
reden. Aber auch das sage ich Ihnen: Es liegt doch (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nicht an der mangelnden Bereitschaft, über einzelne
Fragen zu reden, sondern an Ihrem Unwillen. Sie Auch der Abgeordnete Joschka Fischer muß bei aller
wollen das nicht, Sie wollen es schlicht nicht und ma- Freundschaft aushalten, daß sich Sozialdemokraten
chen deswegen allerlei Vorwände. auch mit grüner Politik kritisch auseinandersetzen.
Ihr seid ja keine Unberührbaren.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Ihr habt
GRÜNEN und der PDS)
eine Ehekrise!)
Wir sind der Meinung, Leistung muß gefördert Wichtiger aber ist mir folgendes: In einer solchen
werden, berufliche Selbständigkeit, Risikobereit- Zeit eine langfristige Konsolidierung des Sozialstaats
schaft und dergleichen mehr. Ich frage mich nur: Wie zu betreiben, das setzt die Bereitschaft voraus, unbe-
wollen Sie das hinkriegen in einem Land, das sich fangen darüber nachzudenken, was noch geht. Für
durch Sicherheitsdenken auszeichnet und manchmal die Sozialdemokratie stellt sich die Herausforderung
ja auch blockiert? Wie wollen Sie es hinbekommen, - daraus machen wir auch gar keinen Hehl -, zu sa-
daß junge Leute eine Existenz gründen können, daß gen: Wir können nicht mehr mit dem Status quo des
sie das Wagnis der beruflichen Selbständigkeit ein- Jahres 1982, sondern wir müssen mit dem Status quo
gehen, daß sie die Chancen des Aufstiegs suchen, des Jahres 1996 anfangen, also schlicht die eingetre-
wenn sie gleichzeitig in Deutschland weder eine mit- tene Realität als Ausgangspunkt nehmen. Wir kön-
telstandsorientierte Börse noch einen anständigen nen nicht daran vorbeisehen, daß Sie 13, 14 Jahre
Zugang zu Wagniskapital oder Risikofinanzierung Politik gemacht haben, mit erheblichen Folgen für
oder irgend etwas haben? arbeitende Menschen, für sozial Schwächere usw.
Was Sie auf diesem Gebiet geboten haben und Deswegen sagen wir auch völlig offen: Forderun-
jetzt vorhaben, -ist schlicht jämmerlich. Es wird den gen nach Verbesserungen beispielsweise der Lohn-
Herausforderungen der wirtschaftlichen Zukunft in ersatzleistungen haben wir fallengelassen. Es gibt
Deutschland nicht gerecht. Bereiche, in denen der Sozialstaat dringend der lang-
(Beifall bei der SPD) fristigen Konsolidierung bedarf. Mein Freund Oskar
Lafontaine hat über die Sozialhilfe gesprochen.
Drittens. Wir wollen Normalverdiener und Lei-
(Lachen bei der CDU/CSU)
stungsträger entlasten. Es tut mir herzlich leid, aber
für mich ist ein Mensch, der sehr viel Geld auf der - Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß es in Ihrer Par-
Bank liegen hat, im Zweifel der Erbe eines Leistungs- tei unmöglich ist, daß man eine Konkurrenz ausficht
9016 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Rudolf Scharping
und trotzdem kollegial und freundschaftlich zusam- Schlimmste ist aber: Es ist in einer so offenkundigen
menarbeitet. moralischen Schieflage.

(Beifall bei der SPD und der PDS) (Beifall bei der SPD)
Deswegen ist der Bundeskanzler Dr. Kohl zu einer Ich will Ihnen ausdrücklich ankündigen, daß wir
solch einmaligen Erscheinung geworden, daß Sie Ihnen diese Auseinandersetzung weder in wirt-
sein Abtreten fürchten müssen, weil danach nichts schaftlicher noch in finanzieller, noch in sozialer,
mehr ist. noch in kultureller Hinsicht ersparen werden. Ich
wiederhole: Sie werden keine Zustimmung finden,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- wenn Sie an dem Unfug und an der wirklichen Ob-
ten der PDS - Joseph Fischer [Frankfurt] szönität festhalten, das Kindergeld nicht zu erhöhen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundes- und gleichzeitig die Vermögensteuer zu beseitigen.
kanzler hat Erfahrungen mit Männerfreund
schaften, früher mit Franz-Josef Strauß!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wenn die Elefanten - oder man müßte sagen: Bud-
und der PDS)
dhas - auf der Wiese trampeln, wächst kein Gras
mehr. Das ist nun einmal so. So stark ist der Steuer-
Ich hatte mir im Freistaat Sachsen einigen Ärger
mann allerdings auch wieder nicht, daß Sie jetzt alle
zugezogen. Ich gebe zu, meine Bemerkung damals
hoffen können, in dieser Konstellation noch einmal
im Deutschen Bundestag war leichtfertig, und man-
bis 1998 zu kommen.
che mußten sie als Verletzung empfinden. Ich hatte
Aber ich will zurück zur Sache; die ist mir wichti- damals Kurt Biedenkopf gelobt. Von ihm gibt es den
ger. Satz, der Kapitän sei nicht so häufig auf Deck zu se-
hen - heute konnten wir ihn sehen -, er beschränke-
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das seine Tätigkeit darauf, die vielen Löcher im Schiff un-
merkt man die ganze Zeit schon!) ter der Wasserlinie abzudichten, um die Sinkge-
schwindigkeit zu verringern.
Wir wissen, daß manche Bereiche des Sozialstaats,
zum Beispiel die Kuren, zum Beispiel die Frage, an (Lachen bei der SPD - Michael Glos [CDU/
die Sie sich auch nicht herantrauen, nämlich Lei- CSU]: Das trifft genau auf die SPD zu! -
stungsstrukturen und leistungsgerechte Bezahlung Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Lassen Sie
im öffentlichen Dienst, oder bestimmte Privilegien doch den Unsinn!)
bei der Beihilfe oder bestimmte Bevorzugungen von
Beamten bei der Altersversorgung - ich könnte noch Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
einige nennen -, in Ordnung gebracht werden müs- Union, Sie verzeihen mir den Hinweis: Eine klügere,
sen. Dazu sagen Sie nichts. treffendere und kürzere Zusammenfassung Ihrer
Politik ist auch mir nicht eingefallen.
(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sie aber auch
nicht!) (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD -
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie sagen nur etwas zu den Schwächeren, den sowie bei Abgeordneten der PDS)
Menschen, die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe
beziehen. Aber bei denen, die ihre Interessen organi-
sieren können, die Ihnen im Zweifel noch ein biß-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
chen Druck machen, da haben Sie eine absolut zyni- dem Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt
sche Einschätzung, nämlich: Es habe sich in den letz-
das Wort .
ten 12, 13 Jahren herausgestellt - jetzt zum Beispiel
am 24. März -, daß man Menschen auf diese Weise
ausgrenzen, mies behandeln, ins Abseits drängen
könne, und sie würden sich nicht wehren. Ich Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft:
fürchte, Sie erliegen da einer Illusion; denn das Pro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD
testpotential, das gegen diese A rt von Politik in hat heute nacht ein Programm beschlossen, das den
Deutschland wachsen wird, wird Ihnen Schwierig- Anspruch erhebt, Alternative zu unserem Beschäfti-
keiten machen. Das wäre egal. Es wird aber auch für gungs- und Wachstumsprogramm zu sein. Ihr Pro-
die demokratische und soziale Stabilität dieses Lan- gramm ist mit heißer Nadel genäht. Herr Scharping
des eine Schwierigkeit bedeuten, wenn Sie so wei- hat die Philosophie soeben dargestellt. Es enthält
termachen. eine Reihe von Zielvorstellungen, die durchaus in
vieler Hinsicht mit dem übereinstimmen, was wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wollen. Das Programm enthält darüber hinaus eine
ten der PDS) ganze Reihe von konkreten Vorschlägen.

Meine Damen und Herren, was Sie uns vorlegen - Wenn ich mir diese konkreten Vorschläge ansehe,
unbeschadet mancher Einzelheiten, über die man dann muß ich feststellen, daß es entweder Vor-
dann reden kann; aber es geht hier ja um eine grund- schläge sind, die wir in den vorliegenden Program-
sätzliche Richtung -, ist in einer finanziellen, in einer men über Haushaltskonsolidierung, über Mittel-
sozialen, in einer wi rt schaftlichen Schieflage. Das standsförderung und über Vermögensbildung längst
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ri l 1996 9017
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
gemacht haben, oder aber daß sie - so kann man all ben und haben dennoch mehr Steuern eingenom-
das, Herr Scharping, was Sie soeben vorgetragen ha- men.
ben, zusammenfassen - dem alten Strickmuster fol-
gen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie
sehen doch, was dabei herausgekommen
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Nee, nee!) ist: viereinhalb Millionen Arbeitslose!)
Erst durch die Vereinigung, die mit Aufwendungen
Dieses alte Strickmuster besteht da rin, daß Sie ent-
und Belastungen verbunden war - diese kennen Sie
weder, um - darin stimmen wir überein - Leistung zu
genau -, ist eine Situation herangewachsen, die wir
fördern und Arbeit billiger zu machen, die Wi rtschaft
jetzt dringend durch eine langfristig angelegte, sorg-
durch die Einführung einer Ökosteuer, wie Sie das
fältig vorbereitete Steuerreform revidieren müssen.
nennen, höher belasten oder daß Sie - das verbrä-
Das ist unser Programm. Das ist die Alternative zu
men Sie mit sozialpolitischem Anspruch - denen, die
dem, was Sie heute nacht mit heißer Nadel genäht
potentielle Investoren sind, mehr nehmen wollen, um
und beschlossen haben.
Gerechtigkeit, wie Sie es ausdrücken, nach unten
wahren zu können. Wir bereiten demgegenüber eine große Tarifreform
bei der Einkommensteuer und eine langfristige
Dabei übersehen Sie aber, daß wir in Deutschland Sicherung der Renten sorgfältig vor.
einen Steuertarif und eine -belastung haben, die
durchaus auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das sieht
der Wirtschaft, der Unternehmen und der Menschen man ja an Ihren Zahlen!)
abstellen, und daß immer dann, wenn wir die Steuer- Wir werden für diese Einkommensteuerreform, die
schraube zu stark anziehen, wenn wir übertreiben, sozial ausgewogen sein wird, noch in diesem Jahr
letztlich weniger Steuern fließen und damit die Res- die Eckpunkte vorlegen. Das Steuersystem wird ein--
sourcen, die wir brauchen und die ja auch Sie wollen, facher, transparenter und gerechter werden.
um Arbeit billiger zu machen, nicht mehr vorhanden
sind. Wer an der Steuerschraube dreht und dabei Bei der langfristigen Sicherung der Renten werden
überzieht, wer die Bezieher höherer Einkommen im- wir vor allem der demographischen Entwicklung
mer stärker belasten will, der führt eine Situation Rechnung tragen. Wir alle wissen, daß die Renten-
herbei, die darauf hinausläuft, daß die Investoren aus formel so, wie sie derzeit besteht, nicht mehr ange-
Deutschland abwandern, daß nicht mehr in unserem wandt werden kann. Wer eine Mitarbeit an diesen
Land, sondern anderswo investiert wird und daß Reformen, an dieser sozial ausgewogenen und ge-
Steuer vermieden und hinterzogen wird. Wir wollen rechten Steuerreform sowie an der Reform der Ren-
eine gerechte Steuerreform in diesem Land, wir wol- tenversicherung verweigert, hat mit der Zukunft un-
len eine Besteuerung entsprechend dem Einkom- seres Landes nichts im Sinn.
men; aber wir wollen kein Überziehen, und wir wol- Neben diesen mittel- und langfristigen Projekten
len nicht, daß in diesem Land am Ende weniger Steu- bedarf es jetzt einer Kostensenkung - da sind wir uns
ern fließen.
einig; das haben Sie ja auch hineingeschrieben - für
Das aber, meine Damen und Herren von der SPD, unsere Unternehmen. Das soll nun die Unterneh-
ist Ihr Strickmuster. Ich brauche das gar nicht ideolo- mensteuerreform leisten, die Sie im vorigen Jahr im
gisch zu definieren. Ich habe ja Verständnis dafür, Bundesrat verhindert haben, was eine Ursache dafür
daß eine sozialdemokratische Partei im Parlament war, daß die Konjunktur in diesem Jahr einen
und anderswo den Anspruch erhebt, die kleinen schlechteren Verlauf genommen hat, als ursprüng-
Leute, die Bezieher kleiner Einkommen zu schützen, lich angenommen. Es gibt dafür zweifellos auch noch
und, da sie Reformen machen wi ll , verkündet, oben andere Ursachen; aber das war eine unter mehreren
darauflegen zu wollen. Ich sage Ihnen aber noch ein- Ursachen.
mal: Das Beispiel anderer Länder hat gezeigt, daß Meine Damen und Herren, mit der Reform der Erb-
Sie, wenn in der Steuerpolitik überzogen wird, am schaftsteuer und, Herr Fischer, der Zusammenfas-
Ende weniger haben werden. Deshalb ist eine solche sung mit der Besteuerung privater Vermögen wollen
Politik, wie sie von Ihnen gewollt wird, im Ansatz wir dazu beitragen, daß in der schwierigen Phase der
falsch. Vielmehr haben wir gesehen, daß immer Übertragung von Vermögen auf die nächste Genera-
dann, wenn in unserem Land und anderswo Steuern tion Millionen von Arbeitsplätzen gesichert werden.
gesenkt worden sind, am Ende mehr Steuern geflos-
sen sind und damit die Spielräume für eine überzeu- Es ist höchste Zeit, die steuerlichen Voraussetzun-
gende Wirtschafts- und Sozialpolitik größer gewor- gen für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Privat-
den sind. Sie wollen den anderen Weg gehen, und haushalten zu verbessern. Damit erschließen wir ein
das ist der falsche Weg. großes Potential von Dienstleistungen. Wenn ich an
die Widerstände denke, die aus der Sozialdemokratie
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord unter der Überschrift „Dienstmädchenprivileg"
neten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt kamen - das ist heute morgen schon angesprochen
[Salzgitter] [SPD]: Sie haben doch 13 Jahre worden -, dann bin ich sehr froh, daß wir jetzt nach
lang den falschen Weg beschritten! Hören Überwindung von Schwierigkeiten in den eigenen
Sie doch auf!) Reihen dieses Projekt mit Entschiedenheit und Ent-
schlossenheit angehen. Ich erwarte hiervon nicht die
Wir haben in den gesamten 80er Jahren eine Poli- Lösung aller Probleme von heute auf morgen. Die
tik der sozial ausgewogenen Steuersenkung betrie- Zahl der Arbeitsverhältnisse in den Haushalten wird
9018 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt


nur langsam steigen; aber sie wird steigen, und sie der Sozialversicherungsbeiträge zur Schaffung von
wird auf mehrere Zehntausend und dann Hundert- Arbeitsplätzen kommt, liegt auf der Hand.
tausende von Arbeitsplätzen ansteigen.
Ein weiterer Punkt: Wir müssen uns mit den Be-
Mit einer erweiterten Ansparabschreibung wollen schäftigungshemmnissen auseinandersetzen. Viele
wir den Existenzgründern helfen. Auch das steht in Sozialgesetze, wie das Kündigungsschutzgesetz, ha-
Ihrem Programm. ben sich zu Regelwerken entwickelt, die Unterneh-
men davon abhalten, zusätzlich Leute einzustellen.
Wenn ich alle Maßnahmen in unserem Aktionspro- Gehen Sie doch einmal hinaus und sprechen Sie mit
gramm und davor zusammenzähle - was Kredite an- Handwerkern, mit Dienstleistungsunternehmen! Die
geht, was Innovationsförderung angeht, was Garan- Leute stellen nicht ein, weil sie Angst haben, daß sie,
tieübernahmen durch die Kreditanstalt für Wieder- wenn sie statt fünf Mitarbeitern sechs oder sieben ha-
aufbau und durch den Staat selbst angeht -, dann ha- ben, in das juristische Dickicht des Arbeitsrechts hin-
ben wir für den Mittelstand in den letzten Monaten, einkommen oder hohe Abfindungen zahlen müssen,
in den letzten Jahren Vergünstigungen und Verbes- wenn sie für diese Arbeitnehmer nichts mehr zu tun
serungen auf den Weg gebracht, die es in dieser haben. Schutzrechte sollen wieder so gestaltet sein,
Form im Nachkriegsdeutschland noch nicht gegeben daß sie auch Arbeitslosen eine faire Chance bieten,
hat. Unser Ziel ist eine neue Kultur, eine neue Kultur und deshalb haben wir diese Veränderungen vorge-
der Existenzgründungen. Wenn jeder mittelstän- nommen.
dische Existenzgründer drei neue Arbeitsplätze
schafft, dann können wir uns ausrechnen, wie viele (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
neue Arbeitsplätze bei 100 000 Unternehmensgrün- Ein Tabuthema war seit Jahrzehnten die Lohnfort-
dungen in kürzester Zeit in diesem Land entstehen zahlung im Krankheitsfall. Nirgendwo in Europa und
können. auch in anderen Ländern außerhalb Europas gibt es
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne eine 100-Prozent-Regelung. Wer wollte bestreiten,-
ten der CDU/CSU) daß unser System nicht nur Sicherheit für den wirk-
lich kranken Arbeitnehmer gebracht hat, sondern
Deshalb stehen wir zur Mittelstandspolitik und zu auch zu Mißbrauch und zu hohen Fehlzeiten sowie
den Vergünstigungen, die wir trotz angespanntester zu nicht mehr bezahlbaren Kosten in den Unterneh-
Haushaltslage in den letzten Jahren durchgesetzt men geführt hat und führt?
haben.
(Dr. Gregor Gysi [PDS]: Mein Gott! Mein
Meine Damen und Herren, wegen der Kürze der Gott!)
Zeit nur noch wenige Worte zu den Sozialleistungen.
- Herr Gysi, nun gehen Sie doch einmal hinaus!
Wer geht schon gern an die Leistungen für Rentner
Sprechen Sie nicht nur mit Ihren Leuten!
oder an Kuren oder an Sozialleistungen insgesamt
heran? Aber dürfen wir denn - das ist meine Frage - (Widerspruch bei der PDS)
zulassen, daß steigende Ausgaben über steigende
Lohnzusatzkosten eine steigende Arbeitslosigkeit Sprechen Sie mit dem kleinen Handwerksmeister!
hervorrufen? Die Beiträge zur Rentenversicherung Der hat drei oder vier Leute, und zwei Leute sind
steigen auf über 20 Prozent, die zur Krankenver- krank oder auch nur einer, und am Monatsende müs-
sicherung auf 14 Prozent und die zur Arbeitslosen- sen die Löhne gezahlt werden. Wer soll sie denn her-
versicherung auf 7 Prozent, wenn nichts passiert. einb ringen? Das geht nicht. Da muß eine Entlastung
Hinzu kommt die Pflegeversicherung; da sind es her.
1,7 Prozent. (Beifall bei der F.D.P. - Hans Büttner [Ingol-
Das ist ein Teufelskreis, der zu mehr Arbeitslosig- stadt] [SPD]: Das ist doch nicht wahr! Er hat
keit führt, weil die Lohnzusatzkosten in den Unter- doch die Umlage bei der Krankenversiche-
nehmen eine Dimension angenommen haben, die rung! Reden Sie nicht so einen Unsinn! Der
dazu geführt hat, daß Beschäftigung abgebaut wird. bezahlt doch die Fortzahlung selber!)
Wir müssen diesen Teufelskreis durchbrechen. Sie gehen an den Realitäten des Lebens vorbei. Se-
hen Sie sich doch einmal an, was in anderen Ländern
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne
passiert ist, in Skandinavien und in all den Ländern,
ten der CDU/CSU)
wo es eine Korrektur bei der Lohnfortzahlung in
Nur so halten wir unser Sozialsystem auf Dauer maßvoller Art und Weise gegeben hat! Sehen Sie
stabil, gerade angesichts der demographischen Pro- sich an, wie sich die Zahl der Krankmeldungen ver-
bleme, vor denen wir stehen. Deshalb sage ich mit ringert hat, wie die Produktivität gestiegen ist, wie
Nachdruck: Diese 25 Milliarden DM Einsparung bei die Leistungskraft dieser kleinen Unternehmen ge-
der Sozialversicherung sind 25 Milliarden DM mehr stiegen ist und wie das am Ende dazu geführt hat,
Spielraum für Investitionen und Arbeitsplätze. daß es wieder mehr Beschäftigung gibt!

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Völlig Meine Damen und Herren, machen Sie sich doch
unse ri ös sind die!) nichts vor! Wir treten nicht an, um den Sozialstaat ab-
zuschaffen. Wir sind angetreten, damit in den Unter-
Es sind deshalb Spielräume, weil die Senkung der nehmen wieder investiert wird, damit Beschäfti-
Lohnzusatzkosten die Wettbewerbsfähigkeit im in gungshemmnisse abgebaut werden und damit Men-
ternationalen Vergleich erhöht. Daß es bei Senkung schen in Handwerksbetrieben, in Dienstleistungsbe-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9019
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
trieben und auch in großen Betrieben eingestellt wer- Die Standortbedingungen für die Wi rtschaft sind zu
den. schlecht; deshalb fehlt es an Arbeitsplätzen. Wir wer-
den dieses Problem nicht nach Ihrer Methode, der
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Methode Eisenbarth lösen, sondern dadurch, daß wir
ten der CDU/CSU) die Wirtschaft entlasten.
Sie mögen andere Vorstellungen über den Weg, der (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger-
zu gehen ist, haben; aber das Motiv können Sie uns lingen] [F.D.P.])
nicht absprechen. Wenn Sie mit der Wi rtschaft spre-
chen, dann werden Sie all das, was ich hier vorgetra- Daß dabei auch soziale Gerechtigkeit eine Rolle spie-
gen habe, bestätigt finden. len muß, ist doch gar keine Frage, meine Damen und
Herren.
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wenn Sie
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie wissen
solchen Unsinn erzählen, wundert es mich
ja gar nicht, wie das geschrieben wird!)
nicht!)
Ein Reformprogramm wie das unsere wird natür-
Diese wichtigen Veränderungen, die dem An- lich - das sehen wir - auf viel Sympathie stoßen. Es
spruch einer Reform wirklich Rechnung tragen, wer- wird aber auch Ablehnung und Protest erfahren. Wir
den zu höherer Wettbewerbsfähigkeit, zu besseren werden unseren Weg entschlossen gehen. Härten
Wachstumschancen und zu mehr Arbeitsplätzen füh- sind in dieses System eingebaut; sie sind unvermeid-
ren; das ist gar keine Frage. Was wir heute und in bar. Aber wir wollen keine Abschaffung des Sozial-
den letzten Tagen an sogenannten Rezepten von der staates. Es ist heute morgen schon gesagt worden:
Opposition gehört haben, wird der Bedeutung dieses Die meisten Maßnahmen, die wir durchführen, lau-
Themas nicht gerecht. Wann endlich lernen Sie, daß fen darauf hinaus, daß eine Erhöhung, die vorgese-
man Arbeit nicht verteuern darf, wenn man Arbeits- -
hen und angekündigt war, für einen bestimmten
plätze schaffen will? Sie erheben den Anspruch, Herr Zeitraum, in der Regel um ein Jahr, verschoben wird.
Scharping - auch eben wieder -, daß Sie die Arbeits-
kosten senken wollen. Sie wollen eine Sonderabgabe Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, daß die-
für Reiche erheben. Das klingt zwar gut; aber keiner ses Land wieder wettbewerbsfähig wird und daß die
darf sich wundern, wenn dann das Geld außer Lan- viel zu hohe Arbeitslosigkeit zurückgeführt werden
des geht, weil die Menschen befürchten, daß eine kann. Wir haben uns hier ehrgeizige Ziele vorgenom-
solche Sonderabgabe dann auch für andere Zwecke, men; das weiß ich sehr wohl. Die Arbeitslosigkeit bis
für welche Zwecke auch immer, eingeführt wird. Das zum Jahre 2000 von 4 Millionen auf 2 Millionen zu-
ist das alte Denkraster: Immer oben zugreifen, dann rückzuführen setzt eine Menge voraus. Die Pro-
haben wir das Geld, um unsere Träume realisieren zu gramme, die wir im Januar und gestern verabschie-
können. det haben, sind dafür eine wichtige Voraussetzung
und Vorbedingung.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer greift Es kommt jetzt darauf an, daß die Politik, daß die
hier denn zu? Sie sind der Oberzugreifer! - Wirtschaft und daß die Gewerkschaften ihre Schular-
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Also, die beiten machen. Ich bin sicher, daß mehr Menschen in
einen dürfen betrügen, und die anderen diesem Land erkannt haben, worauf es ankommt,
müssen malochen!) daß mehr Menschen in diesem Land bereit sind, Op-
fer zu bringen, wenn dies dann dazu führt, daß Ar-
Wohlstand entsteht in unserem Lande nur, wenn es beitsplätze gehalten und geschaffen werden können.
für Kapitalanlagen und Investoren attraktiv gemacht Unsere Vorschläge, unsere Reformen erfüllen den
wird. Sehen Sie sich doch einmal die ausländische Anspruch, daß sie eine Entwicklung in diese Rich-
Presse an. Wie definie rt sie denn „german disease", tung in Gang setzen. Ich bitte um Ihrer aller Mitwir-
die deutsche Krankheit? Sie wird damit definie rt , daß kung.
die Lohnzusatzkosten zu hoch sind, daß die Steuern
zu hoch sind, daß die Spitzensteuersätze zu hoch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sind, daß es eine Gewerbekapitalsteuer gibt, daß es
eine Gewerbeertragsteuer gibt. Das denken wir uns Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die
doch nicht aus; das konstatiert die ganze Welt. Das Aussprache. Wir sind damit am Schluß unserer Ta-
hat dazu geführt, daß die deutsche Wi rtschaft im gesordnung.
Ausland Investitionen in Höhe von 50 Milliarden DM
im Jahre 1995 getätigt hat und in unserem Land nur Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
14 Milliarden DM investiert worden sind. destages auf Mittwoch, 8. Mai 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Immer
waren F.D.P.-Minister dafür verantwortlich!) (Schluß der Sitzung: 13.25 Uhr)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9021*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1
entschuldigt
Abgeordnete(r) bis
Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich

entschuldigt Nelle, Engelbert CDU/CSU 26. 4. 96


Abgeordnete(r) bis
einschließlich Özdemir, Cern Bündnis 90/ 26. 4. 96
Die Grünen
Andres, Gerd SPD 26. 4. 96 Dr. Probst, Albe rt CDU/CSU 26. 4. 96 *
Antretter, Robert SPD 26. 4. 96 * Reschke, Otto SPD 26. 4. 96
Barnett, Do ris SPD 26. 4. 96 Dr. Rieder, Norbe rt CDU/CSU 26. 4. 96
Beck (Köln), Volker Bündnis 90/ 26. 4. 96 Rixe, Günter SPD 26. 4. 96
Die Grünen
Dr. Rochlitz, Jürgen Bündnis 90/ 26. 4. 96
Beer, Angelika Bündnis 90/ 26. 4. 96 Die Grünen
Die Grünen
Dr. Scheer, Hermann SPD 26. 4. 96 *
Behrendt, Wolfgang SPD 26. 4. 96 *
Schlauch, Rezzo Bündnis 90/ 26. 4. 96
Belle, Meinrad CDU/CSU 26. 4. 96 Die Grünen
Bindig, Rudolf SPD 26. 4. 96 * von Schmude, Michael CDU/CSU 26. 4. 96 *
Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 26. 4. 96 * Schumann, Ilse SPD 26. 4. 96
Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 26. 4. 96 Schwanitz, Rolf SPD 26. 4. 96
Gleicke, Iris SPD 26. 4. 96 Steenblock, Rainder Bündnis 90/ 26. 4. 96
Dr. Glotz, Peter SPD 26. 4. 96 Die Grünen
Haack (Extertal), SPD 26. 4. 96 * Steindor, Marina Bündnis 90/ 26. 4. 96
Karl Hermann Die Grünen
Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 26. 4. 96 Such, Manfred Bündnis 90/ 26. 4. 96
Die Grünen
Dr. Höll, Barbara PDS 26.4. 96
Terborg, Margitta SPD 26. 4. 96 *
Horn, Erwin SPD 26. 4. 96 *
Tröger, Gottfried CDU/CSU 26. 4. 96
Hornung, Siegf ried CDU/CSU 26. 4. 96 *
Vosen, Josef SPD 26. 4. 96
Jelpke, Ulla PDS 26. 4. 96
Wallow, Hans SPD 26. 4. 96
Junghanns, Ulrich CDU/CSU 26. 4. 96 *
Weis (Stendal), Reinhard SPD 26. 4. 96
Kauder, Volker CDU/CSU 26. 4. 96
Wiefelspütz, Dieter SPD 26. 4. 96
Krause (Dessau), CDU/CSU 26. 4. 96
Wolfgang Wonneberger, Michael CDU/CSU 26. 4. 96 * *
Kuhlwein, Eckart SPD 26. 4. 96 Zierer, Benno CDU/CSU 26. 4. 96 *
Labsch, Werner SPD 26. 4. 96
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver-
Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 26. 4. 96 sammlung des Europarates
* für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Ver-
Lederer, Andrea PDS 26. 4. 96 sammlung
Lemke, Steffi Bündnis 90/ 26. 4. 96
Die Grünen
Lummer, Heinrich CDU/CSU 26. 4. 96 *
Anlage 2
Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 26. 4. 96
Erich Antwort
Marten, Günter CDU/CSU 26.4. 96 des Staatsministers Dr. Werner Hoyer auf die Fragen
des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/CSU)
Mehl, Ulrike SPD 26. 4. 96 (Drucksache 13/4403 Fragen 19 und 20):
Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 26. 4. 96 Was unternimmt die Bundesregierung, damit wichtige EU-Do-
kumente zeitgleich nicht nur in englischer und französischer,
Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 26.4. 96 sondern auch in deutscher Sprache vorgelegt werden?
9022* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996

Was unternimmt die Bundesregierung, damit die kürzlich vom Die Haltung der Bundesregierung in der Vermö-
polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski in ei- gensfrage, die auch die Bereitschaft einschließt,
nem Inte rv iew mit der „Frankfu rter Rundschau" als „großes Pro-
blem" angesprochene Eigentumsfrage einvernehmlich zwi- dieses Thema zum geeigneten Zeitpunkt in geeig-
schen Deutschland und Polen gelöst wird? neter Weise zur Sprache zu bringen, ist Ihnen be-
kannt.
Zu Frage 19:

Nach der Verordnung Nr. 1 von 1958 sind alle


Sprachen der Mitgliedstaaten gleichberechtigte Anlage 3
Amts- und Arbeitssprachen der EU. Das Amtsblatt
der Europäischen Gemeinschaft wird in allen Spra- Amtliche Mitteilung
chen gleichzeitig ausgeliefert und liegt damit in
deutscher Sprache zum gleichen Zeitpunkt wie z. B. Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mit-
auch in Englisch und Französisch oder den anderen geteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2
Sprachen der Gemeinschaft vor. der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu
den nachstehenden Vorlagen absieht:
Ebenso liegen die Dokumente, über die Rat und Auswärtiger Ausschuß
Kommission verhandeln, stets in deutscher Sprache
Drucksachen 13/2995, 13/3528 Nr. 1.1
vor. Abweichungen von dieser Regel werden in je-
dem Einzelfall von der Bundesregierung aufgenom- Drucksachen 13/3124, 13/3528 Nr. 1.4
men und umgehend behoben. Drucksachen 13/3275, 13/3528 Nr. 1.7
Drucksachen 13/3096, 13/3664 Nr. 1.1
Die Organe der Europäischen Union erkennen den
Bedarf für Deutsch an; die deutschen Übersetzer stel- Rechtsausschuß
len im Übersetzungsdienst der Kommission die Drucksachen 12/8336, 13/725 Nr. 42
größte Gruppe.
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen
Die Bundesregierung erhält allerdings auch häufig Union
Entwürfe, die in englischer oder französischer Spra- Drucksachen 12/4733, 13/725 Nr. 29
che abgefaßt sind. Das hängt damit zusammen, daß
die Bediensteten von Kommission und Rat in der täg- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben
lichen Praxis ohne Dolmetschung arbeiten müssen mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU-
und Deutsch als Fremdsprache sehr viel weniger ge- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäi-
sprochen und verstanden wird als Englisch und Fran- sche Parlament zur Kenntnis genommen oder von ei-
zösisch. ner Beratung abgesehen hat:
Auswärtiger Ausschuß
Deshalb bemüht sich die Bundesregierung mit
Drucksache 13/3668 Nr. 1.4
aktiver Unterstützung der Kommission und der Län-
der, durch Sprachkurse für höhere Bedienstete der Drucksache 13/3668 Nr. 1.5
europäischen Institutionen in Deutschland die Drucksache 13/3668 Nr. 1.6
Deutschkenntnisse bei den EU-Bediensteten zu för- Drucksache 13/3668 Nr. 1.7
dern.
Drucksache 13/3668 Nr. 1.8

Gemeinsam mit Frankreich setzt sich die Bundes- Innenausschuß


regierung für eine Änderung der Einstellungsvor-
Drucksache 13/3117 Nr. 1.1
aussetzungen im Statut der Europäischen Beamten
ein: Bewerber sollen danach über vertiefte Kennt- Drucksache 13/3790 Nr. 2.4
nisse einer Gemeinschaftssprache und zufrieden- Drucksache 13/3790 Nr. 2.5
stellende Kenntnisse in zwei weiteren Gemein- Drucksache 13/3790 Nr. 2.6
schaftssprachen - nicht wie bisher nur: in einer -
Drucksache 13/3938 Nr. 2.18
verfügen. Wir erhoffen uns hiervon, daß Bewerber
als dritte Sprache häufig auch Deutsch wählen wer- Drucksache 13/4137 Nr. 2.17
den. Drucksache 13/4137 Nr. 2.24
Drucksache 13/4137 Nr. 2.25
Zu Frage 20: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Drucksache 13/3668 Nr. 2.16
Die Bundesregierung begrüßt, daß der Präsi-
dent Polens das Thema der entschädigungslosen Drucksache 13/3668 Nr. 2.25
Enteignung der Vertriebenen offen ansprach. Er Drucksache 13/3668 Nr. 2.49
hat allerdings in dem von Ihnen zitierten Inter- Drucksache 13/3790 Nr. 2.13
view gleichzeitig gesagt: „... ich befürchte, daß
Drucksache 13/3938 Nr. 2.7
diesbezügliche Entscheidungen Spannungen her-
vorrufen würden, derer wir nicht Herr werden Drucksache 13/3938 Nr. 2.23
können. " Drucksache 13/3938 Nr. 2.26
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9023*

Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung


Drucksache 13/3529 Nr. 1.7

Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-


heit
Drucksache 13/2306 Nr. 2.29
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Drucksache 13/3529 Nr. 1.3
Drucksache 13/3668 Nr. 2.59
Ausschuß für wi rt schaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung
Drucksache 13/2988 Nr. 1.6

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