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D eutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
102. Sitzung
Inhalt:
102. Sitzung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Verehrte Frau
Herren, die Sitzung ist eröffnet. Präsidentin, ich bin für alles schuldig, aber für das
heute nicht.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der
F.D.P.)
Abgabe einer Erklärung der Bundesregie-
rung
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Eben, deswegen
Programm für mehr Wachstum und Beschäfti- habe ich es auch schon an den Vorsitz gezogen.
gung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Vielen Dank.
für die Aussprache im Anschluß an die Regierungser-
klärung zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu Meine Damen und Herren, das Konjunkturtempo
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so be- hat sich in Deutschland spürbar verlangsamt. Das
schlossen. von vielen nationalen und internationalen Experten
ursprünglich erwartete reale Wachstum von einein-
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung halb Prozent für dieses Jahr werden wir nicht errei-
hat der Herr Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. chen. Dies werden die Wirtschaftsforschungsinstitute
in den nächsten Tagen in ihrem Frühjahrsgutachten
sicherlich so bestätigen.
Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Nach dem Stand unserer Diskussion erwarten wir
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe in der Bundesregierung jetzt für 1966 ein reales
heute die Aufgabe, eine Erklärung der Bundesregie- Wachstum in der Gegend von dreiviertel Prozent - -
rung zu dem Thema „Programm für mehr Wachstum
und Beschäftigung" abzugeben. Ich denke, unge- (Lachen und Beifall bei der SPD und der
achtet der Gegensätze in der Auseinandersetzung zu PDS - Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜND-
diesem Thema ist es sicher wichtig, daß wir uns in NIS 90/DIE GRÜNEN]: 1996, Herr Bundes-
dieser Debatte gemeinsam vor Augen halten, in wel- kanzler! - Unruhe)
chen Notwendigkeiten unser Land in diesem Augen- - Entschuldigung, 1996. Ich bin aber gerne bereit,
blick steht und wie wichtig auch eine nüchterne Ana- weil mir die Sache wirklich wichtig ist, zu warten, bis
lyse der Gegebenheit ist. eine gewisse Möglichkeit der Verständigung hier
eintritt.
Das Konjunkturtempo - -
(Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
(Unruhe bei der SPD) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS)
- Jetzt habe ich noch gar nichts gesagt, was Sie er-
Wir rechnen in der Bundesregierung nicht mit ei-
regt, und Sie sind schon erregt.
ner Rezession in Deutschland. Die allermeisten natio-
nalen und internationalen Experten erwarten ein
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU
Wiederanziehen der Konjunktur in der zweiten Jah-
und der F.D.P.)
reshälfte. Wir sind ganz sicher, daß sich dies auch in
den Zahlen für 1997 positiv niederschlagen wird.
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es ist ein akusti- Meine Damen und Herren, für mich ist auch klar,
sches Problem, wir müssen den Ton ein wenig ausju- daß trotz aller Schwierigkeiten die Voraussetzungen
stieren, man hört das nicht. für eine Verbesserung der Konjunktur günstig sind:
8976 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ril 1996
Wir hatten 1990 das Glück der deutschen Einheit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Der wirtschaftliche Umbau und die soziale Flankie-
Meine Damen und Herren, unsere Arbeitsplätze
rung des dramatischen Strukturwandels in den
stehen im internationalen Standortwettbewerb.
neuen Ländern wurden mit hohen Transferzahlun-
Wenn Produktion in Deutschland zu teuer wird, wan-
gen von West nach Ost unterstützt.
dert sie zu Lasten der Arbeitsplätze ins Ausland ab
(Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Von Ost oder - auch das erleben wir - Produktionen unter-
nach West! - Lachen bei der CDU/CSU und bleiben ganz. Die Bedeutung von grenzüberschrei-
der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD tenden Direktinvestitionen wächst in einem unge-
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wöhnlichen Tempo. Wir wissen auch - es hat keinen
Sinn, darüber zu klagen; das ist eine Realität -: Für
- Ich habe ja nichts dagegen, daß Sie immer noch im die international operierenden Unternehmen ist die
alten Glauben verharren, aber das Ganze wird des- Präsenz auf den Wachstumsmärkten wichtig. Nur
wegen nicht überzeugender. Die Geschichte hat wer in den großen Handelszusammenschlüssen wie
über das, was Sie hier vertreten, längst ihr Urteil ge- Europäische Union, NAFTA, Mercosur und im asiati-
sprochen. schen Raum präsent ist, nimmt an der Wachstumsdy-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) namik dieser Regionen teil. Das ist auch ein Beitrag
zur Arbeitsplatzsicherung in Deutschland. In diesem
Wir, und zwar die Bürger und die Steuerzahler der Sinne - nur in diesem Sinne - sind die wachsenden
alten Bundesrepublik - das wi ll ich dankbar erwäh- Auslandsinvestitionen deutscher Unternehmen zu
nen -, haben diese hohen Transferzahlungen unter- begrüßen. Aber wir müssen uns über das vergleichs-
stützt. Die gesamten öffentlichen Leistungen für die weise geringe Engagement ausländischer Unterneh-
neuen Länder betrugen im Zeitraum von 1991 bis men in Deutschland Sorgen machen. Hier besteht
1995 netto 615 Milliarden DM. Ohne - das ist wichtig Handlungsbedarf. Das Investieren und Schaffen von
festzustellen; ich tue dies mit Stolz - die vorausge- Arbeitsplätzen in Deutschland muß deshalb attrakti-
gangenen Konsolidierungsarbeiten der 80er Jahre ver gemacht werden.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ri l 1996 8979
Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl
Es wird in Deutschland sehr viel mehr Arbeits- um mehr Beschäftigung zu schaffen und die Arbeits-
plätze geben, wenn die Arbeitskosten niedriger sind. losigkeit wirksam zu bekämpfen. Dabei ist eine ent-
Es ist kein Zufall, daß im Dienstleistungsbereich hier- scheidende Voraussetzung, daß wir alles unterneh-
zulande viel weniger Arbeitsplätze angeboten wer- men, um den Mittelstand zu stärken;
den als in anderen Ländern. Wir alle - das gilt für die
politisch Verantwortlichen, für die Tarifparteien und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Unternehmen - haben - das sollte man offen zuge- denn die kleinen und mittleren Unternehmen sind
ben - in der Vergangenheit zu einem starken Anstieg die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Land. Zwei
der Arbeitskosten beigetragen. Dies gilt für die Tarif- Drittel aller Beschäftigten arbeiten in diesem Be-
löhne, aber das gilt noch mehr für die stark angestie- reich. Auch das ist, wie ich denke, eine positive Er-
genen Lohnzusatzkosten. Die Bundesregierung ist fahrung dieser Jahre: Zwischen 1990 und 1995 sind
sich deshalb mit der Wirtschaft und den Gewerk- im Mittelstand knapp eine Million neuer Arbeits-
schaften einig, daß der Anstieg der Lohnzusatzko- plätze geschaffen worden. Wahr ist auch, daß gleich-
sten gebremst werden muß. Dabei sind Tarifparteien zeitig die Großunternehmen in unserem Lande unter
und Betriebspartner ebenso in der Verantwortung dem Druck des internationalen Wettbewerbs die
wie die Politik. Zahl ihrer Beschäftigten verringert haben.
Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Beiträge zur
Wenn wir also mehr Arbeitsplätze schaffen wollen,
Sozialversicherung bis zum Jahr 2000 auf unter
dann müssen wir die Startchancen für Existenzgrün-
40 Prozent zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen,
der und junge Unternehmen in Deutschland verbes-
müssen wir unsere sozialen Sicherungssysteme auf
sern und die bestehenden Bet riebe von Kosten und
die Herausforderungen der Zukunft einrichten. Es
Regulierungen entlasten. Gerade im Bereich der klei-
geht dabei überhaupt nicht um den Abbau des So-
nen und mittleren Unternehmen gilt es, Arbeits- und
zialstaats, sondern es ist die Pflicht verantwortungs-
Einstellungshemmnisse abzubauen. Wer häufig mit
voller Politik, immer wieder kritisch zu fragen: Gibt
Handwerkern und mittelständischen Unternehmern
es Regelungen, die zum Mißbrauch einladen und
spricht, weiß, daß. viele von ihnen in der Einstellung
deshalb geändert und abgeschafft werden müssen?
neuer Arbeitnehmer ein Risiko sehen. Sie fürchten
Wenn ich, um das klarzustellen, von Mißbrauch rede,
das Risiko langwieriger Arbeitsgerichtsprozesse und
meine ich nicht nur Mißbrauch im Bereich der Sozial-
unkalkulierbarer Kosten, die ihnen entstehen kön-
systeme, sondern in gleicher Weise das Erschleichen
nen. Deshalb - und das ist der falsche Weg - setzen
von Subventionen und Steuerbetrug.
sie lieber auf Überstunden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Die Bundesregierung und die Koalition sind nach
Wir müssen uns weiter kritisch fragen: Wie können eingehenden Beratungen zu dem Ergebnis gekom-
wir soziale Leistungen so gestalten, daß sie zur Ar- men, den Schwellenwert des Kündigungsschutzge-
beit ermutigen und nicht den Willen, zu arbeiten und setzes, der gegenwärtig für Bet riebe mit mehr als
sich zu engagieren, aushöhlen? fünf Arbeitnehmern gilt, auf zehn Beschäftigte anzu-
Ich halte es jedenfalls für richtig und auch für un- heben.
sere Gesellschaft unverzichtbar, daß der Satz gelten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
muß: Wer arbeitet, muß mehr bekommen als jemand, Zurufe von der SPD)
der nicht arbeitet.
Wir sind sicher, dies liegt im Interesse der Arbeits-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) platzsuchenden, und wir sind sicher, wir werden sehr
Wenn dieser Grundsatz gilt, dann muß er Konse- rasch erleben, daß aus dieser Entscheidung heraus
quenzen haben. Dann können wir es beispielsweise die Zahl der Arbeitnehmer in kleinen Bet rieben zu-
- da sollten wir uns doch eigentlich einig sein - nicht nehmen wird.
länger hinnehmen, daß ein Sozialhilfebezieher zu-
mutbare Arbeit - zumutbare! - ablehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Wer Arbeitsplätze von Kosten entlasten und neue
Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Kann er doch Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen will, kommt,
nicht! Steht doch jetzt schon im Gesetz!) ob er es will oder nicht, auch am Thema der Lohnfort-
zahlung nicht vorbei. Denn die Lohnfortzahlung im
Dann müssen wir Anreize schaffen, damit sich Arbeit Krankheitsfall ist ein wesentlicher Bestandteil der
auch dann für den einzelnen lohnt, wenn dessen Er- stark gestiegenen Lohnzusatzkosten. Wie Betriebs-
werbseinkommen sein Sozialeinkommen nicht we- praktiker und Arbeitnehmer sowie Bet riebsräte
sentlich übersteigt. Hier haben wir wichtige und, wie selbst wissen, ist sie zudem anfällig für eine miß-
ich denke, richtige Reformen auf den Weg gebracht. bräuchliche Inanspruchnahme.
Sie stehen jetzt im Vermittlungsausschuß zur Diskus-
sion; ich hoffe, daß wir do rt zu vernünftigen Einigun- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ist doch
gen kommen. nicht wahr!)
Meine Damen und Herren, notwendige Fragen Unbestritten ist, daß die Verringerung betriebli-
stellen sich auch für den Bereich des Arbeitsrechts. cher Fehlzeiten - das gehört ebenfalls in diese Be-
Es ist unbestreitbar, daß wir trotz erkennbarer Fo rt trachtung - auch und nicht zuletzt eine Frage von
-schritemFlxbäaufdAreitsmkb- Personal- und Betriebsführung sowie Betriebsklima
chen. Mehr Flexibilität ist eine Grundvoraussetzung, ist. In vielen Betrieben in unserem Land gibt es sehr
8980 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, wenn es um die Zu-
kunft geht, zeigt es sich in einer besonders eindeuti-
Für mich sind und bleiben Tarifautonomie und gen Weise, inwieweit wir fähig sind, Zukunftssiche-
starke Tarifpartner zentrale Pfeiler einer zukünftig rung im Bereich der langfristigen Sicherung des Ge-
positiven Entwicklung. Sie sind ein ganz entschei- nerationenvertrages zu ermöglichen. Das von Koali-
dender Anker für die Stabilität unseres Landes. Dies tion und Bundesregierung gestern vorgestellte Pro-
haben ja auch Wirtschaft, Gewerkschaften und die gramm enthält auch Maßnahmen zur Stabilisierung
Bundesregierung im „Bündnis für Arbeit und zur des Beitragssatzes und zu strukturellen Reformen.
Standortsicherung" am 23. Januar noch einmal ge- Dabei möchte ich an erster Stelle hervorheben, daß
meinsam bekräftigt. Wir haben in neun Gesprächen unsere Rentenpolitik verläßlich bleibt. Die Renten
mit den Spitzenrepräsentanten von Wi rtschaft und werden zum 1. Juli 1996 erhöht, und sie werden auch
Gewerkschaften bereits viel auf den Weg gebracht, im kommenden Jahr - entgegen anderslautenden
wie ich dankbar vermerken will, zum Beispiel das Behauptungen - der Nettolohnentwicklung folgen.
Programm für Langzeitarbeitslose, die Lehrstellenzu- Kein Rentner muß um seine Rente fürchten.
sage der Wirtschaft, die Offensive für mehr Selbstän-
digkeit und die Lösung der sehr schwierigen Frage (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. -
der Frühverrentung. Natürlich - das war doch gar Zurufe von der SPD)
nicht anders zu erwarten - gab es und gibt es Felder, - Ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Dies ist doch ein
auf denen wir nicht einig sein können, wie etwa in Punkt, bei dem Sie einmal klatschen könnten. Sie ha-
der Frage der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, ben doch angeblich das Interesse der Rentner im
wo wir unterschiedlicher Meinung waren und sind. Auge.
Es ist notwendig, daß wir versuchen, einen Kon- Aber, meine Damen und Herren, wir müssen offen
sens zu erreichen; aber dieses Streben nach Konsens darüber sprechen, daß wir der jetzigen jüngeren Ge-
kann die politisch Verantwortlichen - das gilt vor al- neration eine verläßliche Perspektive für ihre Alters-
lem auch für die Bundesregierung und für mich sicherung geben müssen. Wir stehen doch - und je-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8981
Dadurch sind Sie verantwortlich dafür, daß die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Staatsverdrossenheit in unserem Volk gewachsen ist ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD sowie beim Abgeordne Eine Geldpolitik und eine Lohnpolitik, die sich
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nicht gegenseitig blockieren, wie Herbert Giersch in
und der PDS) einem jüngst erschienenen Aufsatz bemerkt hat, sind
die Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung.
und daß viele zu der Auffassung kommen: Vor Wah- Sie müssen durch eine stetige, wachstumsorientierte
len kann man den Politikerinnen und Politikern so- Finanzpolitik und durch eine ausgewogene Sozialpo-
wieso nicht mehr glauben. Die Erfahrung, wesentlich litik ergänzt werden. Die Fragen werden heute also
durch Sie selbst geprägt, gibt solchen Vorurteilen in sein, ob die Bundesregierung zu einer stetigen,
unserer Gesellschaft leider recht. Sie sollten endlich wachstumsorientierten Finanzpolitik Vorschläge ge-
8984 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
(Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall (Beifall bei der SPD)
beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei
Das gilt genauso für das Hin- und Hergezerre in
der PDS)
der Koalition um die BAföG-Regelung. Gut ausgebil-
Im übrigen ist der Abbau des Kündigungsschutzes, dete Studentinnen und Studenten sind auch eine In-
wenn man ihn vor dem Hintergrund der realen Situa- vestition in die Zukunft. Wir werden es nicht zulas-
tion auf dem Arbeitsmarkt betrachtet, eine Maß- sen, daß die Frage, ob jemand eine gute Ausbildung
nahme, die im Grunde genommen nur Symbolcha- erhält oder nicht, durch falsche Regelungen wieder
rakter hat. Wenn Sie sich die Einlassungen über die allein vom Einkommen seiner Eltern abhängig wird.
Kombination von Kündigungsschutzvorschriften und Wir werden das nicht zulassen.
-
der Möglichkeit, bef ristete Arbeitsverträge einzuge-
hen ansehen, die gestern im „Handelsblatt" vorge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
bracht worden sind, dann werden Sie erkennen, daß ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
dies eine völlig unnötige und überflüssige Provoka- und der PDS)
tion der deutschen Gewerkschaftsbewegung ist. Ich Natürlich können wir auch nicht mit dem Rasen-
appelliere noch einmal an Sie, diese unkluge und mäher Investitionsausgaben kürzen. Es wäre wün-
von der Sache noch nicht einmal gerechtfertigte Ent- schenswert, daß die investiven Ausgaben hin zu er-
scheidung zurückzunehmen. neuerbaren Energien umgepolt werden. Deswegen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne halten wir an unserem Vorschlag fest, an dieser
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Stelle die Anstrengungen des Staates zu verstärken
und die vorhandenen Ausgaben stärker auf erneuer-
Wenn Sie in Ihrem Programm vorsehen, bef ristete bare Energien auszurichten, damit wir die Märkte
Arbeitsverträge mehrfach zu verlängern, dann frage der Zukunft gewinnen und damit die Photovoltaik
ich mich, was eigentlich noch der Sinn dieser Provo- und die Sonnentechnik nicht nach Japan oder in die
kation ist. Und dann sagen Sie, ein Handwerker, der Vereinigten Staaten abwandern.
nur fünf Beschäftigte hat, habe wegen des hohen
Kündigungsschutzes Sorge, noch einen einzustellen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
Wenn Sie in diesem Ausmaß die bef risteten Arbeits- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
verhältnisse und Kettenverträge zulassen, dann ist
das keinem mehr beizubringen. Es wäre an der Zeit, Natürlich sind wir in der jetzigen Phase auch auf-
daß Sie nicht immer nur Flickschusterei betreiben. gefordert, die öffentlichen Haushalte zu konsolidie-
Sie geraten zeitlich in die Enge, weil Sie vor Wahlen ren.
nicht diskutieren wollen, und nach den Wahlen geht (Zurufe von der CDU/CSU: Saarland!)
es hopplahopp. Dann haben wir nichtüberlegte, un-
- Verehrte Damen und Herren, ich bin für diesen
ausgewogene Entscheidungen.
Zwischenruf dankbar. Ich möchte Sie jetzt noch ein-
(Beifall bei der SPD) mal mit dem Grund vertraut machen, warum wir als
Oppositionspartei - das war ein einmaliger Vorgang -
Ich bin sicher, wenn ich die Gesichter in Ihrer Frak-
an der Saar 1985 aus dem Stand heraus die absolute
tion sehe, verehrter Herr Bundeskanzler, es würden Mehrheit erreicht haben. Das gibt es nicht oft. Davon
ganz prominente Mitglieder Ihrer Fraktion diese
können Sie nur träumen.
Feststellung unterschreiben.
(Zurufe von der CDU/CSU: Wer denn?) (Beifall des Abg. Otto Schily [SPD])
Ich will aber jetzt die Namen nicht nennen. Wir haben die absolute Mehrheit erreicht, weil die
ökonomische und insbesondere die finanzpolitische
Der sechste Punkt, den wir vorschlagen, ist eine Lage an der Saar völlig aussichtslos war und der
Stärkung von Forschung und Innovation in unserer Haushalt total überschuldet war, und zwar durch die
Gesellschaft. Es ist richtig in Ihrem Programm, daß Politik von CDU und F.D.P. Natürlich können die
Sie Existenzgründungen erleichtern wollen. Es ist Länder nicht die Steuern und Abgaben so erhöhen,
richtig und unterstützenswert in Ihrem Programm, wie Sie es hier tun.
daß Sie den Zugang zu Wagniskapital verbessern
wollen. Aber, meine Damen und Herren, bei den For- (Beifall bei der SPD)
8988 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. In
DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der der jetzigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung
PDS) kommt alles darauf an, die Zeichen auf mehr Wachs
tum und Beschäftigung zu stellen. Wenn man mehr
Ein vierter Konsolidierungspunkt, den wir anspre- Wachstum und Beschäftigung will, dann brauchen
chen müssen, sind die öffentlichen Personalhaus- wir ein abgestimmtes Vorgehen der Geldpolitik, der
halte. Allerdings, meine Damen und Herren: Wer Lohnpolitik und der staatlichen Finanz- und der So-
pauschal Nullrunden fordert, muß zunächst einmal in zialpolitik. Nach unserer Überzeugung haben Geld-
den Spiegel schauen. Er muß zunächst einmal sagen, politik und Lohnpolitik in der jetzigen Phase ihre
was er unter Nullrunden versteht, ob er an einen In- Aufgaben erledigt. Nach unserer Überzeugung sind
flationsausgleich oder einen Rückgang der Realein- Ihre Vorschläge zur Finanzpolitik und zur Sozialpoli-
kommen denkt. tik nicht hinnehmbar. Sie verletzen das Gebot der
Stetigkeit, der Verläßlichkeit und der Ausgewogen-
(Ulrich Hein rich [F.D.P.]: Null ist Null!)
heit.
Dann muß er sich die Frage nach der sozialen Ausge-
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
wogenheit stellen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) -
Daß wir in den öffentlichen Haushalten Konsolidie-
Zum Gebot der Stetigkeit. Was stellen Sie sich ei-
rungsbedarf haben, wird von niemandem bestritten.
gentlich vor? Daß wir vor einigen Monaten einen
Wenn wir im Hinblick auf die Besoldung des Bundes-
mühsamen Kompromiß beim Kindergeld und bei der
kanzlers, der Ministerpräsidenten und aller anderen,
Freistellung niedriger Einkommen von den Steuern
die als Beamte in hohen Besoldungsstufen sind, Null
gefunden haben, um ihn nach wenigen Monaten
sagen und gleichzeitig dasselbe für diejenigen Be-
wieder in Frage zu stellen? Rein in die Kartoffeln,
amten und Angestellten, die in den niedrigsten Be-
raus aus den Kartoffeln - so ist nun wirklich keine
soldungsstufen bzw. Vergütungsgruppen sind, vorse-
stetige Finanzpolitik für unseren Staat zu machen.
hen, dann sind wir in unserem Volke nicht glaubwür-
dig. Deshalb halte ich etwas davon, in dieser Tarif- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
runde Sockelbeträge ins Auge zu fassen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Was stellen Sie sich eigentlich vor? Daß Sie mo-
und der PDS) natelang die Förderung der Abschaffung der priva-
ten Vermögensteuer vorgeschlagen haben in einer
Im übrigen haben wir seit langem angeboten, bei
Zeit, in der Sie bei Sozialhilfeempfängern, Rentnern,
den Personalkosten im öffentlichen Dienst zwei län-
Empfängern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosen-
gerfristig wirkende Strukturreformen zu diskutieren.
hilfe kürzen wollen und die Arbeitnehmer immer
Ich habe im Bundestag schon mehrfach die Frage der
stärker belasten wollen? Wer solche Vorschläge mo-
nicht an der Leistung orientierten Regelbeförderung
natelang vorträgt, der läßt jedes Empfinden für so-
angesprochen und dazu eingeladen, bei den jetzigen
ziale Gerechtigkeit vermissen.
Beratungen im Bundesrat darüber zu reden. Wenn
wir mehr Leistung in den Verwaltungen wollen, müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
sen wir über dieses Strukturelement der Besoldung ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
im öffentlichen Dienst sprechen. und der PDS)
Genauso ergebnislos hat das Saarland seit Jahren Wir werden daher die sich jetzt abzeichnende Kor-
vorgeschlagen - ich sage das, weil so oft „Saarland" rektur, die Sie vorschlagen und die wir anerkennen,
dazwischengerufen wurde -, den Tatbestand zu kor- sorgfältig auf ihren Wahrheitsgehalt und auf die kon-
rigieren, daß drastische Verkürzungen der Lebensar- kreten Vorschläge hin prüfen.
beitszeit etwa bei den Beamten gleichwohl zur vollen
Pension führen. Eine solche Entwicklung ist nicht ak- Eines möchte ich zum Schluß sagen: Bitte glauben
zeptabel. Sie uns, es geht nicht nur um die Frage der richtigen
Vorschläge in der Finanzpolitik und in der Steuerpo-
Da Sie in Ihrem Programm zum Beispiel vorschla- litik und der richtigen Vorschläge, um mehr Innova-
gen, Zusatzleistungen bei der Krankenhausversor- tionen und Wachstum in unserer Gesellschaft durch-
gung jetzt auch bei den Beamten zurückzunehmen, zusetzen. Es geht vielmehr um einen Kernbestand
will ich Sie mit etwas vertraut machen: Sowohl die unserer Nachkriegsgesellschaft. Dieser Kernbestand
Abschaffung der Ministerialzulage als auch die Ab- waren der Sozialstaat und die soziale Gerechtigkeit.
schaffung dieser Zusatzleistungen sind im Saarland Bitte zerstören Sie nicht mutwillig diesen Konsens
schon längst beschlossen und die Abschaffung der unserer Nachkriegsgesellschaft! Ein solches Vorge-
Zusatzleistungen auch in Hamburg und in Bremen. hen wird sich bitter rächen und am Ende zu mehr Ar-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8991
Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland)
beitslosigkeit und zu höherer Staatsverschuldung Pro Mitarbeiter und Jahr gehen etwa 15 Ar-
führen. beitstage durch Arbeitsunfähigkeit verloren. Dies
führt zu im internationalen Vergleich hohen zu-
(Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD - sätzlichen Kostenbelastungen der deutschen Un-
Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- ternehmen. Um dem entgegenzuwirken, hält es
SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS - die Bundesregierung für notwendig, daß die Ta-
Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Heuchelei!) rifpartner - entsprechend der Verabredung in
dem Gespräch beim Bundeskanzler am
Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht der Frak- 23. Januar 1996 (Bündnis für Arbeit und zur
tionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolfgang Schäu- Standortsicherung) - Möglichkeiten zur Vermin-
ble. derung von Fehlzeiten in den Bet rieben konkreti-
sieren....
(Abgeordnete der SPD verlassen den Saal -
Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es wurde immer gesagt: Wenn die Tarifpartner
Freizeit hat begonnen! - Bundesminister dazu Ergebnisse bringen, muß der Gesetzgeber nicht
Dr. Theodor Waigel: Bye-bye! - Zurufe von handeln. Die Tarifpartner haben am Dienstag erklärt,
der CDU/CSU: Auf Wiedersehen! - Schönes sie seien nicht in der Lage, zu Ergebnissen zu kom-
Wochenende! - Zuruf von der SPD: Gucken men. Ich will das nicht würdigen. Deswegen haben
Sie doch mal Ihre Reihen an, wie leer das wir entsprechend unserer Ankündigung unsere Be-
ist!) schlüsse gefaßt. Nehmen Sie den Vorwurf zurück,
wir hätten vor den Wahlen nicht angekündigt, was
Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsi- wir jetzt beschlossen haben!
dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
haben vier Millionen Arbeitslose in unserem Land,
und ich finde, die Debatte und die Art, wie wir sie Dann haben Sie gesagt, wir hätten unsere Absich-
führen, sollten dieser Tatsache Rechnung tragen. Ich ten und Vorschläge zum Kündigungsschutzgesetz
bitte Sie alle darum. nicht vorher bekanntgemacht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Lesen Sie einmal
Zuruf von der SPD: Da bin ich aber vor, wo steht, daß das Kindergeld nicht
gespannt!) erhöht wird!)
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben ge- - Ja, ich lese es Ihnen vor; seien Sie ganz ruhig. - Ich
sagt, Fairneß und das Bei-der-Wahrheit-Bleiben soll- lese zum Kündigungsschutz Ziffer 20 des Aktions-
ten die Grundlage dieser Debatte sein. Dem wi ll ich programms für Investitionen und Arbeitsplätze vor:
ausdrücklich zustimmen. Sie haben auch gesagt, die
Regierungserklärung des Bundeskanzlers be- Ohne den Kündigungsschutz einzuschränken,
schreibe die Lage und den Handlungsbedarf richtig. sollen Regelungen präzisiert und klarer gefaßt
Sie haben dann den Vorschlägen zum Teil zuge- werden. Dies gilt insbesondere für die Sozialaus-
stimmt und zum Teil kritische Anmerkungen dazu wahl und die dabei zu berücksichtigenden be-
gemacht. Aber Sie sind Ihrer eigenen Anforderung, trieblichen Notwendigkeiten bei betriebsbeding-
bei der Wahrheit zu bleiben, nicht gerecht geworden, ten Kündigungen.
weil Sie dem Bundeskanzler unterstellt haben - das
haben Sie ganz am Anfang gesagt -, die Rede sei Das ist das gleiche, was jetzt in unserem Programm
zwar gut, aber sie hätte schon vor ein paar Wochen, steht.
nämlich vor den Landtagswahlen, gehalten werden Die Bundesregierung wird die zulässige Dauer
müssen. Sie haben gesagt, wir hätten vor den Land- von befristeten Arbeitsverhältnissen nach dem
tagswahlen nicht dasselbe gesagt, was wir jetzt als Beschäftigungsförderungsgesetz auf 24 Monate
Konzept vorlegen. Das ist nicht die Wahrheit. ausdehnen und in diesem Rahmen eine Mehr-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) fachbefristung zulassen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, damit wir das Die Bundesregierung beabsichtigt, zur Förde-
gleich friedlich ausräumen und es so machen, wie es rung von Beschäftigung in kleineren Unterneh-
Herr Lafontaine gesagt hat - mir ist es damit sehr men und von Teilzeitarbeit den Schwellenwert im
Ernst, daß ein falscher Eindruck ausgeräumt wird -: Kündigungsschutzgesetz zu erhöhen
Wir haben Ende Januar das 50-Punkte-Aktionspro-
(Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!)
gramm für Investitionen und Arbeitsplätze vorge-
legt. Ich will hier nicht alles vortragen. Aber Sie ha- und Teilzeitarbeitnehmer im Arbeitsrecht anteilig
ben als erste Punkte unsere Absichten hinsichtlich zu berücksichtigen; sie wird darüber mit den Ta-
des Kündigungsschutzes und der Lohnfortzahlung rifpartnern Gespräche aufnehmen.
genannt, Herr Lafontaine.
Herr Lafontaine, Sie müssen zurücknehmen, daß
Jetzt lese ich Ihnen aus unserem 50-Punkte-Pro- wir vor den Wahlen nicht gesagt hätten, was wir
gramm für Wachstum und Beschäftigung von Ende diese Woche beschlossen haben.
Januar - der Bundeskanzler hat darauf Bezug ge-
nommen; es ist ja veröffentlicht worden, und wir ha- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und
ben darüber debattiert - die Ziffer 18 vor: der F.D.P.)
8992 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Weil dies so ist, dürfen wir in Deutschland inve- Deswegen möchte ich an Sie appellieren: Cherle-
stiertes Kapital nicht höher besteuern, als es in ande- gen Sie sich solche Vorschläge gut! Sie funktionieren
ren Ländern der Fall ist. Sonst werden noch mehr Ar- nicht. Wenn ich sehe, daß es gemäß der gesamtwirt-
beitsplätze abwandern. Deswegen muß die Gewer- schaftlichen Statistik 3,5 Billionen DM Privatvermö-
bekapitalsteuer, die es sonst nirgendwo in Europa gen gibt, kann ich natürlich ausrechnen, daß 1 Pro-
gibt, weg. Deswegen muß nach dem Urteil des Ver- zent davon 35 Milliarden DM sind. Wie soll das aber
fassungsgerichts auch die Vermögensteuer auf Be- funktionieren? Wir haben einen Steuersatz auf Pri-
triebsvermögen weg. vatvermögen von 1 Prozent. Diese Frage hätten Sie
sich stellen müssen.
Dann aber macht es keinen Sinn - das werden Ih-
nen auch Ihre Finanzminister in den Ländern sagen -, (Rudolf Scharping [SPD]: Auf die Erträge,
die Vermögensteuer auf den p rivaten Teil der Vermö- verehrter Herr!)
gen aufrechtzuerhalten. Sie führt zu einem Steuer- - Aber Herr Scharping, die Vermögensteuer wird
aufkommen von etwa 4 Milliarden DM. Die Finanz- nicht auf die Erträge erhoben, sondern auf den Be-
ministerien der Länder sagen uns, daß sie, um diese stand.
4 Milliarden DM zu erheben, Kosten in Höhe von
2 Milliarden DM haben. Das macht doch keinen (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Sinn. Dann ist es doch vernünftiger, den Betrag, der
- Verehrte Kollegen, es kann sich doch jeder einmal
sich netto an Aufkommen für die Länder tatsächlich versprechen.
ergibt, auf die Erbschaftsteuer zu schlagen und die
Vermögensteuer ganz abzuschaffen und damit ins- Die Vermögensteuer wird auf die Vermögen erho-
gesamt ein einfaches und sozial ausgewogenes Sy- ben. Die Steuer auf die p rivaten Geldvermögen, die
stem zu schaffen. Das ist unser Vorschlag. Sie mit 1 Prozent erfassen wollen, wird auf den Wert
erhoben. Da gibt es keine Einheitsbewertung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Rudolf Scharping [SPD]: Genau das meinte
Sie haben gestern abend - Herr Scharping schon ich! Darauf werde ich gleich zurückkom-
einige Tage zuvor, und er hat offenbar gestern abend men!)
Zustimmung gefunden - gesagt: Der Solidaritätszu-
schlag muß schnell abgebaut werden. - Verzeihen Sie: Die p rivaten Geldvermögen werden
von der Steuer mit 1 Prozent des Wertes erfaßt. Se-
(Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Was hat er hen Sie im Vermögensteuergesetz und im Bewer-
denn im Januar gesagt?) tungsgesetz nach! Die Besteuerung erfolgt so.
- Jeder darf klüger werden. Wir werden manchmal Diese Steuer ergibt heute insgesamt nicht einmal
auch klüger bzw. entwickeln uns weiter, Herr Kol- 4 Milliarden DM; und darin sind noch andere Vermö-
lege Gerhardt. genswerte erfaßt. Deswegen sage ich Ihnen: Ihr Vor-
Sie haben nun vorgeschlagen - darauf will ich auf- schlag funktioniert nicht. Sie sind manchmal, wie
merksam machen -, statt dessen eine Abgabe in auch wir, in der Gefahr, sich in den Konzepten eines
Höhe von 1 Prozent auf alle privaten Geldvermögen Entwurfs zu sehr auf das Papier zu konzentrieren
zu erheben. Ich habe mir überlegt, wie das funktio- und die Realität aus dem Blick zu verlieren. Das aber
nieren kann. Da stellt sich nämlich wieder das Pro- hilft unserem Lande nicht. Daher ist Ihr Vorschlag
blem des Unterschiedes zwischen Papier und Le- zur Lösung unserer Probleme ungeeignet.
benswirklichkeit. Wir haben mit der Vermögensteuer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
nämlich schon einen Steuersatz auf Privatvermögen
in Höhe von 1 Prozent; diese Abgabe gibt es. Das Ge- Deswegen glaube ich, daß das, was wir jetzt in un-
samtaufkommen der Vermögensteuer auf Privatver- serem Programm auch steuerlich auf den Weg brin-
mögen - für die Erhebung sind die Länder zuständig - gen, der richtige Weg ist. Das, was wir an Vorschlä-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 8997
Dr. Wolfgang Schäuble
gen machen, um die notwendige Rückführung von schlag - müssen wir die Sozialhilferegelsätze im
Steuern und Abgaben, um die notwendige Verringe- nächsten Jahr nicht anheben.
rung des öffentlichen Korridors zu erreichen, ist
wichtig, ist zumutbar, und es verdient in keinem Aber wenn wir die Sozialhilferegelsätze nicht an-
Falle eine Diffamierung, wie Sie sie teilweise in Ihrer heben müssen, weil wir Preisstabilität haben, weil
Rede zum Ausdruck gebracht haben. wir keine Inflation haben, dann, denke ich, ist es
auch richtig, daß wir gemeinsam noch einmal dar-
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie haben sel- über reden - das ist unser Vorschlag -, ob wir die An-
ber gesagt, im Bereich der Sozialhilfe wären Sie be- hebung des steuerfreien Existenzminimums nicht
reit, darüber zu reden, daß man sie vielleicht nicht er- um ein Jahr verschieben können, genauso wie wir
höhen muß. Unser Vorschlag basiert darauf, daß wir gemeinsam sagen, die Anhebung der Sozialhilfe-
Preisstabilität haben. Der Bundeskanzler hat darauf sätze kann um ein Jahr verschoben werden. Das
hingewiesen. Glückwunsch an uns alle, daß wir ei- hängt doch miteinander zusammen. Das halte ich
nen Finanzminister der Stabilität und Solidität wie nicht für unzumutbar, auch wenn es eine Sache ist,
Theo Waigel haben! die niemandem von uns leicht fällt.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - In der Familienpolitik, im Werben für mehr Fami-
Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt lienleistungsausgleich läßt sich - nehmen Sie es mir
[Salzgitter] [SPD]: Ein Schuldenminister!) nicht übel, verehrte Freunde von der F.D.P. - die
CDU/CSU-Fraktion ungern von. irgend jemandem
- Verzeihen Sie, die Bundesbank hat doch nicht die übertreffen.
Zinsen gesenkt, weil Herr Lafontaine das gutheißt
oder nicht. Vielmehr hat sie die Zinsen senken kön- (Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir
nen, weil die gesamtfinanziellen Verhältnisse in un- beim Jahressteuergesetz gemerkt!)
serem Land dank unserer Finanzpolitik so sind, daß
Ich sage aber ganz ehrlich: Ich glaube, bei einem -
das zur Zeit niedrigste Zinsniveau in der Geschichte
Konsolidierungsbedarf von 50 Milliarden DM für die
der Bundesrepublik Deutschland heute stabilitätspo-
öffentlichen Gesamthaushalte und 25 Milliarden DM
litisch verantwortbar ist.
für den Bundeshaushalt, der doch gar nicht bestritten
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ist, und bei den Schwierigkeiten, in einem Jahr die-
sen Konsolidierungsbedarf sozial zumutbar und aus-
Das ist die Einheit von Geld-, Finanz- und übrigens gewogen zu erbringen, ist es doch richtig, daß man,
auch Lohnpolitik. wenn man die Sozialhilfesätze nicht anhebt - dafür
werben im übrigen insbesonders die Städte, Gemein-
(Zuruf von der SPD: Sie wollen uns wohl
den und Landkreise -, dann das steuerfreie Existenz-
verwaigeln!)
minimum, das einen Bezug zu den Sozialhilfesätzen
Ich begrüße ja, Herr Lafontaine, daß Sie heute zur hat, ebenfalls nicht anheben sollte. Wenn wir von
Lohnzurückhaltung aufgefordert haben. Aber ich ausgewogenen Konzeptionen reden, dann, finde ich,
habe noch im Ohr, daß ich Ihnen in den zurücklie- ist unser Vorschlag ausgewogener als der Ihre, zu sa-
genden Debatten immer wieder erklären mußte, daß gen: Die Sozialhilfe wird nicht angehoben, aber die
Ihre Aufforderung nicht zur Lohnzurückhaltung bei- Steuerfreibeträge werden weiter angehoben.
trägt. Steuerfreibeträge und Kindergeld - darauf haben
(Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saar wir uns im letzten Jahr mühsam miteinander verstän-
land]: Das ist konjunkturabhängig!) digt - müssen einander entsprechen. Deswegen ist
unser ausgewogener Vorschlag richtig und notwen-
- Nein, die Konjunktur ist ja inzwischen nicht besser dig. Er ist uns nicht leichtgefallen, und ich will die
geworden als vor einem Jahr. Das Argument kann Probleme auch gar nicht verharmlosen.
nicht gelten.
Angesichts dieser Lage sollten im übrigen diejeni-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, die für die öffentlichen Verwaltungen Tarifver-
handlungen zu führen haben, ihrer Verantwortung
Wenn Sie heute sagen, Lohnzurückhaltung sei aus gerecht werden. Aber, Herr Lafontaine, damit das
konjunkturellen Gründen geboten, auch klar ist: Sie haben Vorschläge für das, was do rt
(Zuruf von der SPD: Das heißt aber nicht rt verhandltwso,gmch.SieabndsWo
Nullrunde!) SockelbtragindMuome.Ichratdin-
gendst - ich bin Innenminister und Verhandlungs-
während Sie vor einem Dreivierteljahr behaupteten, führer für Tarifverhandlungen gewesen -, jeden Ein-
man dürfe aus konjunkturellen Gründen keine Lohn- fluß der Politik auf Tarifverhandlungen zu unterlas-
zurückhaltung üben, dann kann irgend etwas nicht sen.
stimmen.
(Lachen bei der SPD - Wilhelm Schmidt
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) [Salzgitter] [SPD]: Ausgerechnet! - Hans
Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Ein Ausbund an
Ich begrüße, daß Sie zur Lohnzurückhaltung auf- Zynismus ist das ! - Weitere Zurufe)
gefordert haben. Ich unterstütze dies. Aber wenn wir
jetzt glücklicherweise eine größere Stabilität haben, - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie
als noch vor einem Jahr angenommen, dann - da mir bitte eine Bemerkung: Wenn Sie die Tonart, in
stimme ich Ihnen zu, und das ist auch unser Vor- der Ihr Parteivorsitzender gesprochen hat, noch in
8998 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Meine große Furcht ist, meine Damen und Herren, Deswegen, Herr Bundeskanzler, ist gerade dieses
Herr Bundeskanzler, daß es dann nicht zwischen den Grundprinzip des Sozialstaates, zu dem sich aus der
demokratischen Parteien sozusagen zu einem Wech- Tradition des Zentrums, der katholischen Enzykli-
selspiel kommt, wenn diesmal die Erneuerung nicht ken, die in diese Richtung gehen, wesentliche Teile
gelingt. Sie haben die Politik des Aussitzens beendet der Union bekennen - unbeschadet aller Unter-
und haben endlich etwas vorgelegt. Der einzige schiede in Ihrer Partei weiß ich, daß dies zum Kern-
Maßstab, der daran angelegt werden kann, ist: Ist bestand Ihrer Parteitradition gehört -, so unendlich
dieses Programm zukunftsfähig? Macht es die Bun- wichtig: das Prinzip der Solidarität. Nur, wenn dieses
desrepublik Deutschland unter den neuen weltwirt- Prinzip der Solidarität lediglich ein Schönwetterprin-
schaftlichen Bedingungen, aber auch unter den zip bleibt, wenn es nicht auch und gerade dann gilt,
neuen Bedingungen im Inland zukunftsfähig, ja oder wenn weniger zu verteilen ist, wenn wir nicht auch
nein? und gerade dann daran festhalten, dann leiten Sie,
Herr Bundeskanzler - ob beabsichtigt oder unbeab-
Ich fordere Sie auf: Setzen Sie im Blick auf die sichtigt -, erste Schritte zum Abbau, zur Zerschla-
kommende Generation die Prioritäten in bezug auf gung des Sozialstaates ein und brechen dadurch mit
die Zukunftsfähigkeit! Denn die Sicherheit der Ren- einer Tradition, auf die Sie und Ihre Partei in den ver-
ten in der Zukunft wird vor allem von der jüngeren gangenen Jahrzehnten zu Recht - unbeschadet aller
Generation zu gewährleisten sein. Wenn hier keine sonstigen Differenzen - stolz sein können.
Prioritäten gesetzt werden, dann haben Sie hinsicht-
lich der Zukunftsfähigkeit in einem zentralen Punkt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -
versagt. Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD])
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Nein, wenn ich mir anschaue, daß gegenwärtig die
sowie bei Abgeordneten der SPD) Abrißbirne ausgepackt wird, in welchem Umfang ge-
Ich möchte hier nicht in Schwarzmalerei und Pa- genwärtig versucht wird, Sozialabbau zu betreiben,
nikmache verfallen, aber wir stehen momentan am Frau Kollegin Fuchs, dann sage ich Ihnen: Wir stehen
Anfang eines Prozesses und wissen nicht, ob am hier vor einer „neuen Qualität von Sozialabbau". Ich
Ende der Abbau oder die Erneuerung des Sozialstaa- gehöre nun weiß Gott nicht zu denen, die der Mei-
tes stehen wird. nung sind, man solle Beg riffe wie „Klassenkampf
von oben" so ohne weiteres einführen. Aber wenn
Wenn ich mir dieses Programm, das Sie heute vor- ich mir anschaue, mit welchem fast an Zynismus
gelegt haben, in seiner ganzen sozialen Schieflage, grenzenden Kalkül die Gewerkschaften durch eine
in seiner gnadenlosen Einseitigkeit anschaue, mit 20prozentige Reduktion der Lohnfortzahlung und
der die Lasten nach unten weitergereicht werden 10prozentige Reduktion beim Krankengeld zum Ar-
und den Erben großer Vermögen demnächst ein E rn beitskampf provoziert werden sollen, dann sage ich
-tedankfsvrpochwid,ansgeIh: Ihnen: Offensichtlich soll hier eine Politik eingeleitet
Wir sind hier am Beginn eines Abbauprozesses unse- werden, die bereit ist, weit über das hinauszugehen,
9000 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem betrügen, wenn wir jetzt nicht zu Entscheidungen
Abgeordneten Dr. Wolfgang Gerhardt das Wo rt . kämen. Das ist der Kern unseres Programms.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir wollen auch keine Unser Programm verlangt dieser Gesellschaft nicht
zuviel ab. Es verlangt nur eines: Fähigkeit zum Wan-
amerikanische Entwicklung, Herr Kollege Fischer,
del, Fähigkeit zu neuem Denken und Fähigkeit zu
(Lachen und Widerspruch beim BÜNDNIS 90/ strukturellen Veränderungen. Ich erkläre ausdrück-
DIE GRÜNEN und bei der PDS) lich für die F.D.P.: Wir wollen diesen Wandel, wir wol-
len diese Veränderungen, wir wollen der jungen Ge-
die von einer „Hire-and-fire"-Mentalität begleitet neration eine Zukunftschance mit einer neuen, gesi-
wird. Der Herr Bundespräsident hat das, was wir mit cherten Rentensystematik und mit neuen Beschäfti-
dem Hinweis auf Amerika meinen, vor wenigen Ta- gungsmöglichkeiten geben. Dazu bitten wir um ein
gen sehr präzise ausgedrückt: Wir brauchen ein Stück Zurückhaltung bei Tarifverhandlungen und
Stück dieser mentalen Standortfähigkeit, die diese um Geduld von einem Jahr bei den Zuwächsen. Das
Nation ausstrahlt. - kann eine Gesellschaft ertragen, die wie unsere Ge-
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sellschaft in diesem Wohlstand lebt. Darum bitten
wir.
Er hat das mit einen Hinweis auf Carl Zuckmayer zi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
tiert. Es geht nicht vorrangig um die Frage von Ar-
Weltweit werden die Gesellschaften gewinnen, die
beitsbedingungen und Investitionen. Es geht um die
die Veränderungen kompetent bewältigen, und es
mentale Fähigkeit zur Veränderung, die wir in
werden diejenigen verlieren, die verdrängen. Das
Deutschland brauchen.
Wahlergebnis im März hat im übrigen gezeigt, daß
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Mehrheit der Bevölkerung denen mehr zutraut,
die ihr sagen: Wir wollen uns verändern. - Wir haben
Das, Herr Kollege Fischer, ist nun einmal klar zu be- all das, was jetzt beschlossen worden ist, im Wahl-
antworten, und das ist auch die Grundlage unseres kampf jedem, der es hören wollte, erklärt, als not-
Programms. wendige Grundlage von Entscheidungen.
Wir werden der Veränderungen mit der sozialpoli- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
tischen Begleitung von Problemen nicht Herr wer- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben es ver-
den; die kennen wir. Beschäftigungsprogramme ha- schwiegen!)
ben wir schon gemacht. Strukturhilfen sind gewährt
worden. Frühverrentungen sind gemacht worden. Die große Oppositionspartei hat die Wahlen auch
Arbeitszeitverkürzungen sind gemacht worden. Die deshalb verloren, weil sie die Probleme verdrängt hat
AB-Maßnahmen sind erhöht worden. Viele haben und weil sie zum Wandel und zur Modernität gegen-
geglaubt, die 35-Stunden-Woche bringe den Be- wärtig nicht auskunftsfähig ist. Das war der Kern die-
schäftigungsschub. All das, was die Opposition hier ser Entscheidungen.
im Hause erzählt, ist reale Politik, aber die Arbeits- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
losenzahl ist gestiegen. Deshalb kann das nicht die
letzte Antwort sein. Man muß einfach die Wahrheit sagen. Jeder weiß,
daß Tarifverhandlungsrunden der Vergangenheit de-
(Beifall bei der F.D.P.) nen geholfen haben, die Beschäftigung hatten, und
denen eher Schwierigkeiten gemacht haben, die Be-
Das hat die Koalition bewegt, sich neu zu verabre-
schäftigung suchten. Jeder weiß, daß Solidargemein-
den. Ich möchte sehr persönlich sagen, Herr Bundes-
schaften, die wir haben, von den eigenen Mitglie-
kanzler, Herr Kollege Waigel: Vielleicht wissen wir
dern überstrapaziert worden sind, weil viele ge-
erst heute in der Debatte und in den nächsten Tagen,
glaubt haben, sie könnten auf Kosten Dritter leben,
was dies für eine Bedeutung für die Koalition und für
und es hinterher zu Beitragssteigerungen in exorbi-
unser Land haben wird. Ich halte das für eine der
tanter Höhe gekommen ist.
wichtigsten Entscheidungen in dieser Legislaturperi-
ode und bedanke mich ausdrücklich bei CDU und Jeder weiß, daß Steuern in unserem Land hoch
CSU für die faire Zusammenarbeit und das gute sind. Wenn es so einfach wäre, daß Steuersenkungen
Übereinkommen. nur Ausfall in Haushalten bedeuteten, dann hätte
man das schon in den 80er Jahren spüren müssen.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Da hat diese Koalition Steuersenkungen durchge-
Meine Damen und Herren, der Punkt ist doch führt. Das Ergebnis war: mehr Beschäftigung und
nicht, daß sich hier Regierung und Opposition ge- mehr Konsolidierung der Haushalte.
genübersitzen und wir mit Freude Sparmaßnahmen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
einleiten würden.
Wenn die Steuerhöhe über die Haushaltskonsolidie-
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Doch, die F.D.P. rung entscheiden würde, dann müßten wir einen
schon!) überschäumenden Haushalt haben. - Hohe Steuern
haben wir genug. -
Wir wissen, daß sie schwerwiegend sind und daß
man Menschen überzeugen muß. Aber wir wissen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer hat sie denn
auch: Wir würden die Gesellschaft um ihre Zukunft eingeführt?)
9004 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Jetzt reden wir einmal über Beschäftigung. Wer (Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Unwahr! -
hat uns denn mit dem Stichwort „ Dienstmädchen- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bleiben Sie mal
privileg " beschimpft, bei der Wahrheit, Herr Kollege!)
(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: und daß die Koalition nicht den richtigen Weg gehe,-
Matthäus-Maier!) wenn sie allein aus Vereinfachungsgründen dies bei
der Erbschaftsteuer mit einbinden will, dann täu-
obwohl die Bundesanstalt für Arbeit nahezu 700 000 schen Sie die deutsche Öffentlichkeit. Stecken Sie
Beschäftigungsverhältnisse in p rivaten Haushalten die Diffamierung beiseite; es lohnt sich nicht.
prognostizie rt? Schwarzarbeit haben Sie mit Ihrem
Verhalten gefördert! Wir wollen sozialversicherungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
pflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
Meine Damen und Herren, wir haben dieses ganze
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Paket deshalb auf den Weg gebracht - es ist schwie-
Detlev von Larcher [SPD]: Warum schreien rig genug -, weil unsere Gesellschaft auch im Inter-
Sie eigentlich so?) esse der demokratischen Stabilität Auskunft über die
Beschäftigung in Deutschland braucht. In unserem
Es zählt auch zur einfachen Wahrheit, daß in einem Land ist Arbeitslosigkeit ein größeres Problem -
Betrieb mit fünf Arbeitnehmern - das sind meistens auch im kollektiven Gedächtnis unserer Nation - als
keine Bet riebe mit großem Gewinn; das sind Be- in jedem europäischen Nachbarland. Wir haben die-
triebe, die in Form der Personengesellschaft geführt ses Paket auf den Weg gebracht, um der jüngeren
werden - die Entscheidung darüber, ob man einen Generation auch eine Zukunftschance zu vermitteln,
weiteren Arbeitnehmer einstellt, auch davon abhän- wenn sie nach ihrem Erwerbsleben soziale Sicherheit
gig ist, wie man, wenn die Ertragslage nicht mehr so im Hinblick auf das Älterwerden haben will. Darüber
gut ist, mit dem Risiko fertig wird. Deshalb ist die Er- wird es ohnehin noch eine heiße Debatte geben.
höhung des Schwellenwertes eine Chance für Tau-
sende von Beschäftigungsverhältnissen in Deutsch- Aber ich sage uns allen in der Koalition: Ich be-
land und bedeutet nicht eine Vernichtung von Ar- grüße außerordentlich, daß wir zu den beiden zentra-
beitsplätzen. len Punkten Tarifreform im Steuersystem sowie Dis-
kussion der Rentenformel und der Neuentwicklung
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der zukünftigen sozialen Sicherheit in unserer Ge-
sellschaft verabredet haben - es ist richtig, wie es der
Der Ke rn unserer gemeinsamen Verabredung ist
doch nicht mehr und nicht weniger, als aus gemach- Herr Bundeskanzler erklärt hat -, daß wir noch in
ten gesellschaftlichen Erfahrungen soziale Siche- dieser Legislaturpe riode, also vor Wahlen, Entschei-
rungssysteme im Verhältnis zu Beschäftigungschan- dungen treffen und die Gesetzgebung abschließen.
cen neu zu justieren. Jeder in Deutschland weiß, daß Das sind die wichtigsten psychologischen Orientie-
Verteilungspolitiker in langen Jahren des Wachstums rungsdaten für Beschäftigung und sozialen Zusam-
soziale Sicherungssysteme geschaffen haben, die menhalt in unserer Gesellschaft. Nicht das Verschie-
jetzt Beschäftigung gefährden. Da aber das höchste ben der Sozialhilfeerhöhung um ein Jahr gefährdet
soziale Gut Beschäftigung ist, müssen die sozialen Si- unsere Zukunftsfähigkeit und den sozialen Zusam-
cherungssysteme so umgebaut werden, daß dieses menhalt, auch nicht das Verschieben der Familien-
größte Gut mehr zum Durchbruch kommen kann. förderung um ein Jahr. Unsere Gesellschaft braucht
für den sozialen Zusammenhalt in den großen Ent-
Das ist der Ke rn des Programms.
wicklungslinien die Auskünfte, die eine Regierung
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne geben muß. Die geben wir unserer Gesellschaft in
ten der CDU/CSU) dieser Legislaturpe riode.
Wir wollen ihnen wieder neue Chancen geben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9005
Dr. Wolfgang Gerhardt
Das ist die wichtigste Entscheidung dieser Koalition. boten erlebt. Wir haben bei der baden-württembergi-
schen Landtagswahl wider Erwarten schon bei den
Dahinter ist die übrige Diskussion darüber, die
kleinsten Hinweisen den Pendelausschlag erlebt, der
Lohnfortzahlung tariffähig zu machen, die Gesell-
zeigt, was sich in dieser Gesellschaft vollzieht, wenn
schaft zu bitten, damit einverstanden zu sein, daß wir
Menschen Angst vor Wettbewerb haben und sich
Erhöhungen um ein Jahr verschieben, eine zweitran-
nicht offen den Veränderungen stellen. Eines wissen
gige Diskussion. Entscheidend ist, ob diese Gesell-
wir aber: Jeder, der sich Veränderungen entzieht, je-
schaft und die politisch führenden Kräfte noch die
der, der das verdrängt, wird scheitern.
Fähigkeit haben, Systeme zu verändern, bei denen
die Erkenntnis der letzten Jahrzehnte jedem klar vor Man mag diese Koalition kritisieren, weil sie
Augen geführt hat, daß sie der Beschäftigung scha- darum bittet, mit Zuwächsen zu einem späteren Zeit-
den und Zukunftsvorsorge verbauen. punkt einverstanden zu sein. Man mag sie kritisie-
Herr Kollege Fischer, Ihre Bewegung hat Verdien- ren, weil sie Einsparungen vornimmt. Man mag sie
ste. Sie hat Engagement für den Schutz der natürli- auch kritisieren, weil sie die Lohnfortzahlung ta rif-
chen Lebensgrundlagen mit in diese Gesellschaft ge- fähig macht. Man muß aber eines zur Kenntnis neh-
bracht. Die Staatsquote aber ist das gesellschaftliche men: Dieses Land steht jetzt im Kern vor der Frage
Ozonloch der Bundesrepublik Deutschland, und die- der Veränderungsbereitschaft und der Modernisie-
ses muß beseitigt werden. rungsbereitschaft.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wer zur Modernisierung nicht bereit, nicht fähig
oder in der Lage ist, der kann hier nicht regieren. Die
Darüber werden wir einen schönen Kompetenzstreit Auskunft der Koalition ist die Fähigkeit der Koalition
führen. zur Modernisierung des Standortes Deutschland.
(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Deshalb wollen wir auch weiter gut und fair zusam-
menarbeiten. -
GRÜNEN]: Wer ist denn an der Regierung?
Dafür sind Sie doch verantwortlich!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
Ich freue mich darauf. Es kann eine politische Partei der F.D.P.)
für die Zukunft der Gesellschaft Aussagen nur tref-
fen, wenn sie hinsichtlich der Grundannahmen der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das
großen Systeme ein Reformmodell vorstellt, das fi- Wort dem Vorsitzenden der Gruppe der PDS, Dr.
nanzierbar ist, den sozialen Zusammenhalt festigt Gregor Gysi.
und die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik
Deutschland stabilisiert.
Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da-
(Joseph Fischer [Frankfu rt ] [BÜNDNIS 90/ men und Herren! Wir haben es nach meiner festen
DIE GRÜNEN]: Herr Gerhardt, wie lange Auffassung nicht mit einer Haushaltskrise zu tun,
sind Sie an der Regierung?) sondern mit einer Gesellschaftskrise.
Eines füge ich hinzu: Nahezu jedes europäische (Beifall bei der PDS)
Nachbarland hat im Hinblick auf diese Systeme
schon reagie rt . Alle um uns herum haben bei all Wir erleben zumindest den versuchten Durchbruch
dem, was wir heute besprechen, ihre Entscheidun- des Neoliberalismus, getragen von der Koalition, von
gen getroffen. Wenn Sie, Herr Kollege Scharping, in der Bundesregierung, von Arbeitgeberverbänden
der Sozialistischen Internationale nachfragen, geben und auch von Banken. Es geht hier nicht um ein
Ihnen diejenigen, die irgendwo in der Verantwor- Sparprogramm; in Wirklichkeit geht es um eine Kul-
tung standen oder stehen, nahezu die gleichen Aus- turwende.
künfte wie der Herr Bundeskanzler heute morgen. (Beifall bei der PDS)
(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Richtig! Die haben Das fängt schon mit der Sprache an. Der Vorsit-
das schon viel früher gemacht!) zende der F.D.P. hat uns gerade erklärt, daß der So-
Wir erfinden hier kein Modell, das die Armen ärmer zialabbau modern sei. Das aber heißt, daß jemand,
und andere reicher machen soll. der für soziale Gerechtigkeit eintritt, unmodern ist.
Das heißt, daß die Frage des sozialen Ausgleichs und
(Widerspruch bei der SPD und dem BÜND der sozialen Gerechtigkeit als eine Frage des letzten
NIS 90/DIE GRÜNEN) Jahrhunderts betrachtet wird.
Wir haben uns zu diesen Entscheidungen entschlos- Ich finde, wir sollten nicht wie beim Asyl, wie beim
sen, weil ein Stück gesellschaftliche Zukunft damit Begriff Flüchtling und bei anderen Dingen zulassen,
verbunden ist. daß die Beg riffe „sozial" und „solidarisch" negativ
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne besetzt werden!
ten der CDU/CSU) Sie müssen in unserer Gesellschaft einen positiven
Wir haben das auch deshalb unternommen, weil Klang behalten.
wir wissen, daß, wenn in einer Gesellschaft ganze (Beifall bei der PDS)
Schichten wegbrechen, wenn die keine Beschäfti-
gungschancen mehr haben, die Demokratie doch Ich halte das Programm im übrigen auch für verfas-
sehr gefährdet ist. Wir haben bei Wahlen schon Vor- sungswidrig. Es gibt nicht wenige Personen, deren
9006 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
(Beifall bei der PDS - Kurt J. Rossmanith Und dann Ihre Argumentation bei der Lohnfortzah-
[CDU/CSU]: Nackter Populismus!) lung: Herr Bundeskanzler, wenn Sie sagen, das be-
treffe nur 20 Prozent, dann sage ich Ihnen, daß das
- Aber es ist wahr. Nennen Sie mir den Punkt, bei falsch ist, weil nämlich in vielen Tarifverträgen auf
dem wir etwas draufzahlen, wenn Ihr Programm ver- die gesetzlichen Bestimmungen Bezug genommen
wirklicht wird! Nichts! Wir haben danach sogar wird. Wenn Sie die gesetzlichen Bestimmungen än-
mehr. Aber die sozial Schwachen in dieser Gesell- dern, dann betrifft das sehr viele Beschäftigte, die
schaft müssen draufzahlen. Das ist keine Schieflage eine Reduzierung bei der Lohnfortzahlung in Kauf
mehr, das ist skandalös, was Sie hier betreiben. nehmen müssen.
(Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Hätten Sie Aber was noch viel schlimmer ist: Wenn es erst ein-
die DDR nicht kaputtgemacht, sähe vieles mal einen Teil der Beschäftigten betrifft, dann ist
besser aus!) doch klar, daß die Arbeitgeber in den anderen Berei-
9008 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Herr Gysi, es lohnt sich eigentlich nicht, auf Sie Sie sollten sich noch einmal gut überlegen, ob Sie
einzugehen. Sie haben aber etwas über die Rentner, das in der Diskussion aufrecht erhalten.
auch die der früheren DDR, gesagt. Unter dem frühe- Zwischenzeitlich weiß doch jeder, mit einer steuer-
ren Regime waren die Rentner in der DDR die ärm- finanzierten Nachfrageerhöhung sind die Probleme
sten Menschen. Wir haben ihnen durch eine Steige- nicht mehr zu lösen. Das haben die 70er Jahre ge-
rung der Rente, die sich sehen lassen kann, die Men- zeigt. Nur Konsolidierung schafft Wachstum. Der
schenwürde wiedergegeben. positive Zusammenhang zwischen Konsolidierung
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Wachstum gilt auch kurzfristig.
Mit diesem Konsolidierungs- und Strukturreform- Lassen Sie mich einmal das Beispiel einiger ande-
paket stellen die Koalition und die Bundesregierung rer Länder darstellen. In Österreich soll das Budget-
die Weichen für mehr Wachstum und Beschäftigung. defizit des Bundes in den Jahren 1996 und 1997 von
Wir greifen die strukturellen Schwächen des Stand- jetzt 5 auf 2,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ver-
orts Deutschland auf. Sie stehen im Mittelpunkt. Wir ri ngert werden. Das bedeutet Einsparungen pro Jahr
müssen gemeinsam mit den Tarifpartnern alles tun, in Höhe von 1,4 Prozent des BIP. Im öffentlichen
um sie zu beseitigen. Dienst gilt eine zweijährige Nullrunde mit Reallohn-
verzicht. Daneben gibt es Einschnitte bei den Früh-
Die Staatsquote ist zu hoch. Dies ist nicht durch pensionen, den Renten und bei der Arbeitslosenver-
eine ausufernde Staatspolitik entstanden, sondern in- sicherung.
dem wir eine ganze Volkswirtschaft übernommen ha-
ben. Bis zum Jahr 2000 müssen wir die Staatsquote In Schweden soll der Haushalt bis 1998 ausgegli-
wieder auf den Stand vor der Wiedervereinigung, auf chen werden, ausgehend von einem Defizit in Höhe
etwa 46 Prozent, senken. Wir müssen im Rahmen ei- von 10,5 Prozent des BIP. Das bedeutet Einsparungen
ner symmetri schen Finanzpolitik den einen Teil für von jährlich etwa 1,1 Prozent des Bruttoinlandspro-
die Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast und dukts. Die Schwerpunkte der Ausgabenkürzungen
den anderen Teil für die Reduzierung der Defizite liegen im Personalbereich und bei den Sozialausga-
verwenden. ben.
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9011
Bundesminister Dr. Theodor Waigel
Auch in Finnland wird bis Ende 1997 ein ausgegli- steten Arbeitsverhältnissen räumen wir entschei-
chener Gesamthaushalt angestrebt. Im Zentralbud- dende Bremsklötze für Neueinstellungen aus dem
get 1996 beträgt das Einsparvolumen 1,9 Prozent des Weg, gerade auch für kleine und mittlere Unterneh-
BIP. Einsparbereiche sind die Renten und die Ar- men mit weniger als zehn Beschäftigten.
beitslosenunterstützung.
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das glauben Sie
Sehr nah bei uns liegen die Niederlande. Sie ha- doch selbst nicht!)
ben einen Ministerpräsidenten - er war früher Fi-
nanzminister, kommt aus dem sozialistischen Bereich Dieses Konsolidierungspaket entlastet auch Län-
und war Gewerkschaftsvorsitzender. Dort ist für den der und Gemeinden deutlich. Es trägt wesentlich
Zeitraum 1995 bis 1998 ein Einsparvolumen von dazu bei, daß die Länder ihren Konsolidierungsbei-
2,75 BIP-Punkten zu erzielen. Gespart wird im Ge- trag von 25 Milliarden DM erbringen können. Damit
sundheitswesen, bei den Renten, beim Kindergeld, passen die Maßnahmen genau zu den bereits von
bei sonstigen Sozialleistungen. Die Lohnabschlüsse vielen Bundesländern eingeleiteten, zum Teil drasti-
im öffentlichen Dienst der Niederlande lagen 1994 schen Sparmaßnahmen, die von Haushaltssperren
bei nominal null Prozent, 1995 bei 0,5 Prozent, und über Kürzungen im gesamten Budget bis hin zu ei-
für 1996 sind zum 1. Oktober 0,75 Prozent vereinbart. nem deutlichen Personalabbau reichen.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Na und?) Neben dem, was in dem Konzept steht, muß natür-
lich auch gesehen werden, welche Entlastungen die
- Sie sagen „Na und" ! Ich bitte Sie, endlich mal dem Kommunen und damit indirekt auch die Länder
Beispiel von Wim Kok zu folgen, das in Ihre Politik durch die Einführung der Pflegeversicherung haben.
umzusetzen und es auch gegenüber den Tarifpart- Das ist eine der größten Entlastungen gerade im
nern zum Ausdruck zu bringen. Dann wären wir kommunalen Bereich.
nämlich sehr viel weiter. -
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
Steuerpolitisch geht es jetzt um die Verwirklichung
Unsere gestern gefaßten Beschlüsse liegen mit ei- des abgekoppelten Teils des Jahressteuergesetzes
nem Sparvolumen von 50 Milliarden DM für den öf- 1996, um die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer
fentlichen Gesamthaushalt oder 1,5 Prozent des Brut- und eine mittelstandsfreundliche Senkung der Ge-
toinlandsprodukts im Rahmen dessen, was sich auch werbeertragsteuer bei vollem Ausgleich der Einnah-
andere Länder zutrauen. meausfälle der Gemeinden durch Beteiligung am
Aufkommen der Umsatzsteuer. Ich bin sehr froh, daß
(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Erhöhen Sie ein die Kommunen, vor allen Dingen vertreten durch die
mal die Vermögensteuer wie in Schweden!) kommunalen Spitzenverbände, sehr klar erkannt ha-
Für den Haushalt 1996 bleiben wir bei einer Defi- ben, daß dies ihre große Chance ist, die Finanzaus-
zitgrößenordnung von rund 60 Milliarden DM. Trotz stattung der Kommunen dauerhaft qualitativ und
der Einsparungen ist das Budget auch unter Berück- auch quantitativ zu verbessern.
sichtigung der Nettoentlastung des privaten Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
brauchs um 15 bis 20 Milliarden DM durch das Jah-
ressteuergesetz 1996 und den Wegfall des Kohle- Wir gehen einen wichtigen Schritt im Hinblick auf
pfennigs insgesamt konjunkturgerecht. Von einer Mittelstandsverbesserung und Eigenkapitalausstat-
Überkonsolidierung oder von einem „Kaputtsparen" tung durch die Verbesserung des § 7 g des Einkom-
kann überhaupt keine Rede sein. mensteuergesetzes. Wir werden den Solidaritätszu-
schlag absenken, und zwar zum 1. Januar 1997 auf
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 6,5 Prozent und zum 1. Januar 1998 auf 5,5 Prozent.
Wer wie Sie von der Opposition die notwendigen Die Neuregelung der Erbschaft- und Schenkung-
Strukturreformen im Sozialbereich als „Sozialab- steuer wird sozial ausgewogen erfolgen. Dabei wer-
bau" diffamiert, hat im Gegensatz zu vielen Bürgern den wir dem Umstand Rechnung tragen, daß die Ver-
den Ernst der Lage nicht verstanden. mögensteuer auf Privatvermögen entfällt, und zwar
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) genau aus den Gründen, die Wolfgang Schäuble vor-
hin dargestellt hat. Wir wären doch wirk li ch von al-
Die Bürger wissen sehr wohl: Dies ist notwendig. Sie len guten Geistern verlassen, nur den erhebungsauf-
sind auch bereit, ihren Beitrag zu erbringen, weil sie wendigsten Teil einer Steuer weiter zu erheben im
sich der Verantwortung für ihr eigenes Leben, für Wissen darum, daß dafür in den nächsten Jahren ent-
das Gemeinwohl und für die nächste Generation weder eine neue Hauptfeststellung bei der Einheits-
durchaus bewußt sind. Wir setzen auf die Vernunft bewertung oder eine riesige Bedarfsbewertung statt-
der Menschen. finden muß, und im Wissen darum, daß die Stellen
bei den Ländern knapp sind und daß wir sehr gut
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
ausgebildete Finanzbeamte sehr wohl für andere
Mit dem Einstieg in notwendige Strukturreformen, Dinge, nicht zuletzt bei der Betriebsprüfung, drin-
in mehr Flexibilität und Eigenverantwortung bre- gend benötigen könnten.
chen wir die Ausgaben- und Abgabendynamik, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
bisher eine deutliche Senkung der Lohnnebenkosten
verhindert. Mit den Änderungen bei der Lohnfort- Dieser p ri vate Teil der Vermögensteuer wird mit
zahlung, beim Kündigungsschutz und bei den befri- der Erbschaftsteuer zusammengefaßt. Dies ist durch
9012 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Lachen Sie doch nicht und unterhalten Sie sich mit (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf
den Leuten, die von dem Thema offensichtlich mehr Kutzmutz [PDS])
als Sie verstehen.
und ob sie eine neue, eine moderne, eine soziale De-
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)
mokratie wirtschaftlich und kulturell begründen und
Wir wollen eine deutliche Verbreiterung der Be- die Kräfte bündeln kann, fernab der Tatsache, daß
messensgrundlage, und wir wollen dies durch eine diese Regierung vor dem 24. März die Öffentlichkeit,
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9013
Rudolf Scharping
das Parlament und die Bürgerinnen und Bürger belo- Jahren gekürzt haben und erneut kürzen wollen? Die
gen hat. Besitzstände derer, die hoffen, daß es eine intelli-
gente Lösung zur Lohnfortzahlung im Krankheits-
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ falle gibt statt der pauschalen Bestrafung aller, die
DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutz krank geworden sind?
mutz [PDS])
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
Fernab dieser Tatsache mache ich auf eines auf-
merksam: Mit der Bereitschaft der Gewerkschaften, GRÜNEN und der PDS)
strukturelle, tiefgreifende Reformen im Sinne von Die Besitzstände jener Menschen, die Kinder alleine
Beschäftigung und Wachstum mitzutragen, mit der erziehen?
Einsicht der Wohlfahrtsverbände und Kirchen, im
Zweifel auch noch mit einem Angebot der Opposi- Ich finde es - und ich sage das auch hier im Parla-
tion spielt man nicht taktisch. Genau das aber haben ment - eine Obszönität, daß die Erhöhung des Kin-
Sie getan. dergeldes ausgesetzt werden soll und Sie gleichzei-
tig die Vermögensteuer abschaffen wollen. Das ist
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE eine soziale Obszönität!
GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Kutzmutz
[PDS]) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN und der PDS)
Sie vertun eine enorme Chance und fallen zurück in
den alten Trott. Sie machen aus einem Holzweg ei- Und dann wird ja fröhlich immer an den falschen
nen Trampelpfad Ihrer Politik! Fronten gefochten. Ich nenne Ihnen fast wahllos ei-
nige Beispiele:
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da kommt der Bundesfinanzminister und sagt, die-
Und ich sage das in allem Ernst; denn wer dauernd SPD müsse endlich mal die Frage beantworten, ob
nach Auswegen sucht, landet am Ende in der Aus- sie mehr Kreditaufnahme wolle. Zunächst, damit Sie
weglosigkeit. Ihre Politik ist in der Ausweglosigkeit Ihre Antwort haben: Wir sind der Auffassung, daß
gelandet. man die 160 Milliarden Mark Kosten der Arbeits-
losigkeit nicht durch Ausgabenkürzung hereinholen
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kann. Das ist völlig ausgeschlossen.
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
(Beifall bei der SPD)
In einem Land mit acht Millionen Menschen, die
als arm gelten, mit sechs Millionen Menschen, die Man muß den Sozialstaat langfristig konsolidieren,
mit irgendeiner Form von öffentlicher Unterstützung ja, aber ich sage einmal: Lügen Sie doch nicht sich,
leben, mehr als vier Millionen Menschen, die arbeits- dem Parlament und der deutschen Öffentlichkeit in
los sind, mehr als zwei Millionen Menschen, die eine die Tasche! Ich habe hier einen Vermerk Ihrer Ar-
preiswerte Wohnung suchen, mehr als einer halben beitsgruppe Haushalt. Da steht: Im Bundeshaushalt
Million Kinder, die ohne anständiges Dach über dem 1997 beträgt nach derzeitigem Stand die Deckungs-
Kopf leben, häufig sogar auf der Straße leben müs- lücke 30 Milliarden. Diese resultiert aus Steuermin-
sen usw. usw., Herr Bundeskanzler, in einem solchen dereinnahmen usw. Diese Deckungslücke soll in
Land, das unbest ritten Reichtum hat und Chancen Höhe von 25 Milliarden durch Einsparungen und in
bietet, aber mit dem Reichtum und den Chancen un- Höhe von 5 Milliarden durch eine Erhöhung der
gleich und ungerecht umgeht, dank Ihrer Politik, Nettokreditaufnahme geschlossen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Meine Damen und Herren, es ist unredlich, eine
ten der PDS) Täuschung der Öffentlichkeit und für die weitere De-
batte auch nicht gerade fruchtbar, uns vorzuwerfen,
sich in einem solchen Land, Herr Bundeskanzler, hin- wir wollten die Erhöhung der Nettokreditaufnahme,
zustellen und von einer ungeheuer erfolgreichen während Ihre Arbeitsgruppen fröhlich vereinbaren,
Politik zu reden, das muß den betroffenen Menschen wir reden nur von 25 Milliarden und verschweigen
und den vielen anderen, die sich Sorgen machen, die 5 Milliarden, die wir zusätzlich beim Kredit auf-
wie Hohn und wie selbstgefällige Arroganz in den packen wollen.
Ohren klingen!
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)
GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
PDS) Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: Standortfak-
toren. Die Arbeitgeber, nicht die SPD, nicht die Ge-
Ich finde, so mobilisiert man keine Kräfte.
werkschaften und nicht irgend jemand sonst, sagen:
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Für den Standort sind erstens Qualifikation, zweitens
GRÜNEN und der PDS) technisches Wissen, drittens Arbeitsproduktivität,
viertens effektives Management, fünftens Abgaben-
Und dann, Herr Bundeskanzler, haben Sie davon quote besonders wichtig. Irgendwo bei zwölftens
geredet, man dürfe sich in einer solchen Situation oder dreizehntes kommen die Arbeitskosten.
nicht an Besitzständen festhalten. Ja, welche Besitz-
stände meinen Sie denn da? Die Besitzstände derer, Abgabenquote: Nie zuvor hat eine Regierung in
denen Sie die Lohnersatzleistungen seit mehreren der Bundesrepublik Deutschland die Abgabenquote
9014 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Rudolf Scharping
so hoch getrieben wie diese. Das ist die Folge ihrer für, Ihnen jedes denkbare Beispiel zu nennen - zu
Feigheit, dem Steuerzahler die Wahrheit zu sagen. den Vermögen und ihrer Entwicklung sagen. Wir
sind der Auffassung - das ist die erste grundsätzliche
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Antwort der Sozialdemokratie -: Entlastet die Arbeit
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN von Kosten, sorgt dafür, daß sich der Einsatz von Ar-
und der PDS) beitskraft stärker lohnt!
Sie sagen: Die Arbeitskosten in Deutschland sind Das hat Folgen für die Lohnnebenkosten, für die
zu hoch. Das heißt nichts anderes, als daß der Bock, Sozialversicherungsbeiträge, für die langfristige Kon-
sich als Gärtner gerierend, die Folgen seiner eigenen solidierung des Sozialstaats, für die Beseitigung
Untaten beklagt. struktureller Defizite und für vieles andere. Es muß
(Beifall bei der SPD) auch eine Folge in der Frage haben: Was lohnt sich
eigentlich in Deutschland? Seine Arbeitskraft einzu-
Die Arbeitskosten in Deutschland sind nicht zu hoch, setzen bekanntlich nicht, das muß man tun, um leben
wohl aber die Abgaben auf die Arbeit. zu können. Zu investieren lohnt sich zu wenig, das
Ich frage Sie in allem Ernst, ob Ihnen in einer ex- ist auch ein allgemein bekannter Tatbestand, für den
portorientierten Nation, die Nachfrage im eigenen Sie leider Verantwortung tragen. Geldvermögen an-
Land zur wirtschaftlichen Belebung braucht, nicht et- zusammeln lohnt sich besonders. Das zeigt eine ein-
was auffällt, wenn Sie sich folgendes anhören: fache Zahl, und ich nenne sie Ihnen nur für den We-
Die Lohnquote der Arbeitnehmer, also ihr Anteil sten Deutschlands, weil sich im Osten Deutschlands,
am gemeinsam Erwirtschafteten, beträgt in Japan wie die Dinge liegen, Vermögen nur in ganz, ganz
75 Prozent, in den USA und Großbritannien wenigen Händen ansammeln kann - skandalöse Zu-
72 Prozent, in der Europäischen Union im Durch- stände, wie ich finde, und wi rtschaftlich übrigens
schnitt 70 Prozent und in Deutschland 66 Prozent. höchst unvernünftig.
Die Tatsache, daß die Arbeitnehmer durch den Ein- Wir haben am Ende des Jahres 1994 ausweislich-
satz ihrer Arbeitskraft seit Jahren - wi rtschaftlich ge- der Antwort der Bundesregierung in Deutschland ein
sprochen - keinen wachsenden Ertrag mehr haben, Bruttogeldvermögen von 4 320 Milliarden DM. Auf
wirkt sich auf der Nachfrageseite unserer Wi rtschaft den Westen Deutschlands entfallen davon 4 038 Mil-
aus und hat zur logischen Konsequenz, daß wir in liarden DM. Im Westen Deutschlands ist allein das
wirtschaftliche Schwächen hineinrennen. Wenn Sie Geldvermögen - ich rede gar nicht von Grundbesitz
diesen Prozeß fortsetzen, werden Sie die wirtschaftli- und anderem - von 1989 bis 1994 um 40 Prozent ge-
chen Schwächen fortsetzen. wachsen, um 40 Prozent!
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Wir können ja gern über technische Einzelheiten
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) streiten; aber ich sage nochmals: Schauen Sie sich
einmal die Erträge der Vermögen an und fragen Sie
Niemand bestreitet - wir sagen das auch in unse- sich dann, ob Sie es mit der christlichen Motivation
rem eigenen Vorschlag -, daß wir die Zukunft si- von Politik, mit dem schlichten moralischen Anstand,
chern und den Zusammenhalt stärken müssen. Ja- mit dem Empfinden für Gerechtigkeit oder mit der
wohl, es muß einiges verändert werden, es muß lang- wirtschaftlichen Vernunft vereinbaren können - ich
fristig konsolidiert werden, aber dann bitte auch auf behaupte, mit keinem der vier Punkte -, daß der Zu-
allen Seiten. wachs von Geldvermögen in der Bundesrepublik
Ich habe von unhaltbaren Zuständen gesprochen Deutschland in fünf Jahren 40 Prozent und der Zu-
und ein bestimmtes politisches Vorhaben obszön ge- wachs des Wertes der eingesetzten Arbeitskraft null
nannt. Es ist am 14. Februar 1996 ein Urteil des Bun- beträgt. Das ist nicht verantwortbar.
desfinanzhofs auf der Grundlage geltender Gesetze (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
in Deutschland ergangen. Die Anschaffungskosten GRÜNEN und der PDS)
für ein in ein Einfamilienhaus eingebautes
Schwimmbad gehören zu den Anschaffungskosten Nun kommen Sie mir doch nicht mit Ihrem techni-
des Gebäudes und damit zur Bemessungsgrundlage schen Klunkerkram! Natürlich können wir darüber
für den Abzugsbetrag nach § 10e Einkommensteuer- reden, wie man Freibeträge macht - da haben wir ei-
gesetz. nen Vorschlag gemacht -, wie wir das im einzelnen
technisch organisieren usw. Die Tatsache, daß Sie im-
Das heißt in schlichtem Deutsch folgendes: Wir ha- mer technische Einwände erheben, kann doch eines
ben es hier mit einer Koalition zu tun, die bereit ist, nicht bemänteln: Sie haben den Willen nicht, für so-
die Erhöhung des Kindergeldes auszusetzen, die zial gerechte Verhältnisse zu sorgen.
aber unfähig ist, die Anschaffungskosten für ein p ri
-vatesSchwimbdurWongsafödeu (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
herauszunehmen. Das nenne ich skandalös. GRÜNEN und der PDS)
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Und dann redet der Bundeskanzler mit großer Geste
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und ebenso großer Selbstgefälligkeit von einer unge-
und der PDS) heuer erfolgreichen Politik, davon, daß wir uns nicht
an den Besitzständen festhalten dürften.
Nun will ich Ihnen noch etwas im Zuge der wahllo-
sen Beispiele - die Redezeit und Ihr Bedürfnis, nach (Michael Glos [CDU/CSU]: Aber nicht so
Hause zu kommen, ist eine doppelte Begrenzung da- künstlich wie Sie!)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9015
Rudolf Scharping
Meine Damen und Herren, die sozialdemokrati- trägers, aber nicht unbedingt selbst ein Leistungsträ-
sche Antwort ist klar und eindeutig. ger.
Erstens. Wir wollen die Arbeit von Kosten entla- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
sten, das heißt Lohnnebenkosten senken. ten der PDS)
(Zuruf von der CDU/CSU: Wie machen Sie Für mich sind die Leute, die arbeiten gehen, die
das?) Facharbeiter, die Ingenieure, die Handwerker, die
Polizeibeamten, die Krankenschwestern, die eigentli-
Und wir wollen gleichzeitig dafür sorgen, daß das chen Leistungsträger dieses Landes, und die wollen
stilliegende Vermögen und der Verbrauch von Um- wir entlasten.
welt dazu herangezogen werden.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der
GRÜNEN und der PDS) PDS)
Zweitens. Wir wollen auf diese Weise einen zu- Da sage ich mit kritischem Blick sowohl auf die
kunftsträchtigen Weg eröffnen. Kollege Schäuble hat Union wie auch auf die Grünen: Redet bitte schön
einen Einwand im Zusammenhang mit den Energie- nicht immer so viel von der Senkung des Spitzen-
kosten gemacht, den ich ernst nehme. Ich nehme ihn steuersatzes! Fangt mal bei den Leuten an, die bei
durchaus ernst. Ich möchte aber Sie, Herr Kollege einem normalen Einkommen einen Eingangssteuer-
Schäuble, vor allen Dingen jedoch die deutsche satz von knapp 26 Prozent haben!
Öffentlichkeit darauf hinweisen, daß es in Deutsch-
(Beifall bei der SPD sowie des Abg.
land nur ganz eingeschränkt bestimmte Branchen
Dr. Gregor Gysi [PDS] - Joseph Fischer
gibt - im wesentlichen solche, die Prozeßenergie ein-
[Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:
setzen -, in denen der Anteil der Energiekosten
Wir wollen beides! Rudolf, der Westerwelle
höher ist als der Anteil der Lohnkosten. Vor diesem
wird schon ganz unruhig, wenn ihr uns da
Hintergrund ist jedes Modell, das im selben Umfang
mit der Union zusammensetzt! - Dr. Guido
Lohnkosten herunterbringt und die Finanzierung
Westerwelle [F.D.P.]: Gefällt mir alles, Herr
über die Energiekosten sucht, für diese Unterneh-
Fischer!)
men ein Vorteil, nicht ein Nachteil.
- Ist doch in Ordnung. Daß die Grünen in einer ge-
Wir haben Ihnen ausdrücklich gesagt: Wir sind be- wissen Gefahr sind, sich allzu egoliberal den
reit, über die Frage der Prozeßenergie, über die F.D.P.lern anzunähern, ist unbestritten.
Frage möglicher Umbrüche sorgfältig miteinander zu
reden. Aber auch das sage ich Ihnen: Es liegt doch (Beifall bei Abgeordneten der SPD)
nicht an der mangelnden Bereitschaft, über einzelne
Fragen zu reden, sondern an Ihrem Unwillen. Sie Auch der Abgeordnete Joschka Fischer muß bei aller
wollen das nicht, Sie wollen es schlicht nicht und ma- Freundschaft aushalten, daß sich Sozialdemokraten
chen deswegen allerlei Vorwände. auch mit grüner Politik kritisch auseinandersetzen.
Ihr seid ja keine Unberührbaren.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE
(Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Ihr habt
GRÜNEN und der PDS)
eine Ehekrise!)
Wir sind der Meinung, Leistung muß gefördert Wichtiger aber ist mir folgendes: In einer solchen
werden, berufliche Selbständigkeit, Risikobereit- Zeit eine langfristige Konsolidierung des Sozialstaats
schaft und dergleichen mehr. Ich frage mich nur: Wie zu betreiben, das setzt die Bereitschaft voraus, unbe-
wollen Sie das hinkriegen in einem Land, das sich fangen darüber nachzudenken, was noch geht. Für
durch Sicherheitsdenken auszeichnet und manchmal die Sozialdemokratie stellt sich die Herausforderung
ja auch blockiert? Wie wollen Sie es hinbekommen, - daraus machen wir auch gar keinen Hehl -, zu sa-
daß junge Leute eine Existenz gründen können, daß gen: Wir können nicht mehr mit dem Status quo des
sie das Wagnis der beruflichen Selbständigkeit ein- Jahres 1982, sondern wir müssen mit dem Status quo
gehen, daß sie die Chancen des Aufstiegs suchen, des Jahres 1996 anfangen, also schlicht die eingetre-
wenn sie gleichzeitig in Deutschland weder eine mit- tene Realität als Ausgangspunkt nehmen. Wir kön-
telstandsorientierte Börse noch einen anständigen nen nicht daran vorbeisehen, daß Sie 13, 14 Jahre
Zugang zu Wagniskapital oder Risikofinanzierung Politik gemacht haben, mit erheblichen Folgen für
oder irgend etwas haben? arbeitende Menschen, für sozial Schwächere usw.
Was Sie auf diesem Gebiet geboten haben und Deswegen sagen wir auch völlig offen: Forderun-
jetzt vorhaben, -ist schlicht jämmerlich. Es wird den gen nach Verbesserungen beispielsweise der Lohn-
Herausforderungen der wirtschaftlichen Zukunft in ersatzleistungen haben wir fallengelassen. Es gibt
Deutschland nicht gerecht. Bereiche, in denen der Sozialstaat dringend der lang-
(Beifall bei der SPD) fristigen Konsolidierung bedarf. Mein Freund Oskar
Lafontaine hat über die Sozialhilfe gesprochen.
Drittens. Wir wollen Normalverdiener und Lei-
(Lachen bei der CDU/CSU)
stungsträger entlasten. Es tut mir herzlich leid, aber
für mich ist ein Mensch, der sehr viel Geld auf der - Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß es in Ihrer Par-
Bank liegen hat, im Zweifel der Erbe eines Leistungs- tei unmöglich ist, daß man eine Konkurrenz ausficht
9016 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
Rudolf Scharping
und trotzdem kollegial und freundschaftlich zusam- Schlimmste ist aber: Es ist in einer so offenkundigen
menarbeitet. moralischen Schieflage.
(Beifall bei der SPD und der PDS) (Beifall bei der SPD)
Deswegen ist der Bundeskanzler Dr. Kohl zu einer Ich will Ihnen ausdrücklich ankündigen, daß wir
solch einmaligen Erscheinung geworden, daß Sie Ihnen diese Auseinandersetzung weder in wirt-
sein Abtreten fürchten müssen, weil danach nichts schaftlicher noch in finanzieller, noch in sozialer,
mehr ist. noch in kultureller Hinsicht ersparen werden. Ich
wiederhole: Sie werden keine Zustimmung finden,
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- wenn Sie an dem Unfug und an der wirklichen Ob-
ten der PDS - Joseph Fischer [Frankfurt] szönität festhalten, das Kindergeld nicht zu erhöhen
[BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Bundes- und gleichzeitig die Vermögensteuer zu beseitigen.
kanzler hat Erfahrungen mit Männerfreund
schaften, früher mit Franz-Josef Strauß!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne-
ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Wenn die Elefanten - oder man müßte sagen: Bud-
und der PDS)
dhas - auf der Wiese trampeln, wächst kein Gras
mehr. Das ist nun einmal so. So stark ist der Steuer-
Ich hatte mir im Freistaat Sachsen einigen Ärger
mann allerdings auch wieder nicht, daß Sie jetzt alle
zugezogen. Ich gebe zu, meine Bemerkung damals
hoffen können, in dieser Konstellation noch einmal
im Deutschen Bundestag war leichtfertig, und man-
bis 1998 zu kommen.
che mußten sie als Verletzung empfinden. Ich hatte
Aber ich will zurück zur Sache; die ist mir wichti- damals Kurt Biedenkopf gelobt. Von ihm gibt es den
ger. Satz, der Kapitän sei nicht so häufig auf Deck zu se-
hen - heute konnten wir ihn sehen -, er beschränke-
(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Das seine Tätigkeit darauf, die vielen Löcher im Schiff un-
merkt man die ganze Zeit schon!) ter der Wasserlinie abzudichten, um die Sinkge-
schwindigkeit zu verringern.
Wir wissen, daß manche Bereiche des Sozialstaats,
zum Beispiel die Kuren, zum Beispiel die Frage, an (Lachen bei der SPD - Michael Glos [CDU/
die Sie sich auch nicht herantrauen, nämlich Lei- CSU]: Das trifft genau auf die SPD zu! -
stungsstrukturen und leistungsgerechte Bezahlung Dr. Helmut Kohl [CDU/CSU]: Lassen Sie
im öffentlichen Dienst, oder bestimmte Privilegien doch den Unsinn!)
bei der Beihilfe oder bestimmte Bevorzugungen von
Beamten bei der Altersversorgung - ich könnte noch Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
einige nennen -, in Ordnung gebracht werden müs- Union, Sie verzeihen mir den Hinweis: Eine klügere,
sen. Dazu sagen Sie nichts. treffendere und kürzere Zusammenfassung Ihrer
Politik ist auch mir nicht eingefallen.
(Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sie aber auch
nicht!) (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD -
Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Sie sagen nur etwas zu den Schwächeren, den sowie bei Abgeordneten der PDS)
Menschen, die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe
beziehen. Aber bei denen, die ihre Interessen organi-
sieren können, die Ihnen im Zweifel noch ein biß-
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun
chen Druck machen, da haben Sie eine absolut zyni- dem Bundeswirtschaftsminister Dr. Günter Rexrodt
sche Einschätzung, nämlich: Es habe sich in den letz-
das Wort .
ten 12, 13 Jahren herausgestellt - jetzt zum Beispiel
am 24. März -, daß man Menschen auf diese Weise
ausgrenzen, mies behandeln, ins Abseits drängen
könne, und sie würden sich nicht wehren. Ich Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft:
fürchte, Sie erliegen da einer Illusion; denn das Pro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD
testpotential, das gegen diese A rt von Politik in hat heute nacht ein Programm beschlossen, das den
Deutschland wachsen wird, wird Ihnen Schwierig- Anspruch erhebt, Alternative zu unserem Beschäfti-
keiten machen. Das wäre egal. Es wird aber auch für gungs- und Wachstumsprogramm zu sein. Ihr Pro-
die demokratische und soziale Stabilität dieses Lan- gramm ist mit heißer Nadel genäht. Herr Scharping
des eine Schwierigkeit bedeuten, wenn Sie so wei- hat die Philosophie soeben dargestellt. Es enthält
termachen. eine Reihe von Zielvorstellungen, die durchaus in
vieler Hinsicht mit dem übereinstimmen, was wir
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wollen. Das Programm enthält darüber hinaus eine
ten der PDS) ganze Reihe von konkreten Vorschlägen.
Meine Damen und Herren, was Sie uns vorlegen - Wenn ich mir diese konkreten Vorschläge ansehe,
unbeschadet mancher Einzelheiten, über die man dann muß ich feststellen, daß es entweder Vor-
dann reden kann; aber es geht hier ja um eine grund- schläge sind, die wir in den vorliegenden Program-
sätzliche Richtung -, ist in einer finanziellen, in einer men über Haushaltskonsolidierung, über Mittel-
sozialen, in einer wi rt schaftlichen Schieflage. Das standsförderung und über Vermögensbildung längst
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. Ap ri l 1996 9017
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
gemacht haben, oder aber daß sie - so kann man all ben und haben dennoch mehr Steuern eingenom-
das, Herr Scharping, was Sie soeben vorgetragen ha- men.
ben, zusammenfassen - dem alten Strickmuster fol-
gen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie
sehen doch, was dabei herausgekommen
(Ing ri d Matthäus-Maier [SPD]: Nee, nee!) ist: viereinhalb Millionen Arbeitslose!)
Erst durch die Vereinigung, die mit Aufwendungen
Dieses alte Strickmuster besteht da rin, daß Sie ent-
und Belastungen verbunden war - diese kennen Sie
weder, um - darin stimmen wir überein - Leistung zu
genau -, ist eine Situation herangewachsen, die wir
fördern und Arbeit billiger zu machen, die Wi rtschaft
jetzt dringend durch eine langfristig angelegte, sorg-
durch die Einführung einer Ökosteuer, wie Sie das
fältig vorbereitete Steuerreform revidieren müssen.
nennen, höher belasten oder daß Sie - das verbrä-
Das ist unser Programm. Das ist die Alternative zu
men Sie mit sozialpolitischem Anspruch - denen, die
dem, was Sie heute nacht mit heißer Nadel genäht
potentielle Investoren sind, mehr nehmen wollen, um
und beschlossen haben.
Gerechtigkeit, wie Sie es ausdrücken, nach unten
wahren zu können. Wir bereiten demgegenüber eine große Tarifreform
bei der Einkommensteuer und eine langfristige
Dabei übersehen Sie aber, daß wir in Deutschland Sicherung der Renten sorgfältig vor.
einen Steuertarif und eine -belastung haben, die
durchaus auf die unterschiedliche Leistungsfähigkeit (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das sieht
der Wirtschaft, der Unternehmen und der Menschen man ja an Ihren Zahlen!)
abstellen, und daß immer dann, wenn wir die Steuer- Wir werden für diese Einkommensteuerreform, die
schraube zu stark anziehen, wenn wir übertreiben, sozial ausgewogen sein wird, noch in diesem Jahr
letztlich weniger Steuern fließen und damit die Res- die Eckpunkte vorlegen. Das Steuersystem wird ein--
sourcen, die wir brauchen und die ja auch Sie wollen, facher, transparenter und gerechter werden.
um Arbeit billiger zu machen, nicht mehr vorhanden
sind. Wer an der Steuerschraube dreht und dabei Bei der langfristigen Sicherung der Renten werden
überzieht, wer die Bezieher höherer Einkommen im- wir vor allem der demographischen Entwicklung
mer stärker belasten will, der führt eine Situation Rechnung tragen. Wir alle wissen, daß die Renten-
herbei, die darauf hinausläuft, daß die Investoren aus formel so, wie sie derzeit besteht, nicht mehr ange-
Deutschland abwandern, daß nicht mehr in unserem wandt werden kann. Wer eine Mitarbeit an diesen
Land, sondern anderswo investiert wird und daß Reformen, an dieser sozial ausgewogenen und ge-
Steuer vermieden und hinterzogen wird. Wir wollen rechten Steuerreform sowie an der Reform der Ren-
eine gerechte Steuerreform in diesem Land, wir wol- tenversicherung verweigert, hat mit der Zukunft un-
len eine Besteuerung entsprechend dem Einkom- seres Landes nichts im Sinn.
men; aber wir wollen kein Überziehen, und wir wol- Neben diesen mittel- und langfristigen Projekten
len nicht, daß in diesem Land am Ende weniger Steu- bedarf es jetzt einer Kostensenkung - da sind wir uns
ern fließen.
einig; das haben Sie ja auch hineingeschrieben - für
Das aber, meine Damen und Herren von der SPD, unsere Unternehmen. Das soll nun die Unterneh-
ist Ihr Strickmuster. Ich brauche das gar nicht ideolo- mensteuerreform leisten, die Sie im vorigen Jahr im
gisch zu definieren. Ich habe ja Verständnis dafür, Bundesrat verhindert haben, was eine Ursache dafür
daß eine sozialdemokratische Partei im Parlament war, daß die Konjunktur in diesem Jahr einen
und anderswo den Anspruch erhebt, die kleinen schlechteren Verlauf genommen hat, als ursprüng-
Leute, die Bezieher kleiner Einkommen zu schützen, lich angenommen. Es gibt dafür zweifellos auch noch
und, da sie Reformen machen wi ll , verkündet, oben andere Ursachen; aber das war eine unter mehreren
darauflegen zu wollen. Ich sage Ihnen aber noch ein- Ursachen.
mal: Das Beispiel anderer Länder hat gezeigt, daß Meine Damen und Herren, mit der Reform der Erb-
Sie, wenn in der Steuerpolitik überzogen wird, am schaftsteuer und, Herr Fischer, der Zusammenfas-
Ende weniger haben werden. Deshalb ist eine solche sung mit der Besteuerung privater Vermögen wollen
Politik, wie sie von Ihnen gewollt wird, im Ansatz wir dazu beitragen, daß in der schwierigen Phase der
falsch. Vielmehr haben wir gesehen, daß immer Übertragung von Vermögen auf die nächste Genera-
dann, wenn in unserem Land und anderswo Steuern tion Millionen von Arbeitsplätzen gesichert werden.
gesenkt worden sind, am Ende mehr Steuern geflos-
sen sind und damit die Spielräume für eine überzeu- Es ist höchste Zeit, die steuerlichen Voraussetzun-
gende Wirtschafts- und Sozialpolitik größer gewor- gen für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Privat-
den sind. Sie wollen den anderen Weg gehen, und haushalten zu verbessern. Damit erschließen wir ein
das ist der falsche Weg. großes Potential von Dienstleistungen. Wenn ich an
die Widerstände denke, die aus der Sozialdemokratie
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord unter der Überschrift „Dienstmädchenprivileg"
neten der CDU/CSU - Wilhelm Schmidt kamen - das ist heute morgen schon angesprochen
[Salzgitter] [SPD]: Sie haben doch 13 Jahre worden -, dann bin ich sehr froh, daß wir jetzt nach
lang den falschen Weg beschritten! Hören Überwindung von Schwierigkeiten in den eigenen
Sie doch auf!) Reihen dieses Projekt mit Entschiedenheit und Ent-
schlossenheit angehen. Ich erwarte hiervon nicht die
Wir haben in den gesamten 80er Jahren eine Poli- Lösung aller Probleme von heute auf morgen. Die
tik der sozial ausgewogenen Steuersenkung betrie- Zahl der Arbeitsverhältnisse in den Haushalten wird
9018 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Völlig Meine Damen und Herren, machen Sie sich doch
unse ri ös sind die!) nichts vor! Wir treten nicht an, um den Sozialstaat ab-
zuschaffen. Wir sind angetreten, damit in den Unter-
Es sind deshalb Spielräume, weil die Senkung der nehmen wieder investiert wird, damit Beschäfti-
Lohnzusatzkosten die Wettbewerbsfähigkeit im in gungshemmnisse abgebaut werden und damit Men-
ternationalen Vergleich erhöht. Daß es bei Senkung schen in Handwerksbetrieben, in Dienstleistungsbe-
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9019
Bundesminister Dr. Günter Rexrodt
trieben und auch in großen Betrieben eingestellt wer- Die Standortbedingungen für die Wi rtschaft sind zu
den. schlecht; deshalb fehlt es an Arbeitsplätzen. Wir wer-
den dieses Problem nicht nach Ihrer Methode, der
(Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Methode Eisenbarth lösen, sondern dadurch, daß wir
ten der CDU/CSU) die Wirtschaft entlasten.
Sie mögen andere Vorstellungen über den Weg, der (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger-
zu gehen ist, haben; aber das Motiv können Sie uns lingen] [F.D.P.])
nicht absprechen. Wenn Sie mit der Wi rtschaft spre-
chen, dann werden Sie all das, was ich hier vorgetra- Daß dabei auch soziale Gerechtigkeit eine Rolle spie-
gen habe, bestätigt finden. len muß, ist doch gar keine Frage, meine Damen und
Herren.
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Wenn Sie
(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Sie wissen
solchen Unsinn erzählen, wundert es mich
ja gar nicht, wie das geschrieben wird!)
nicht!)
Ein Reformprogramm wie das unsere wird natür-
Diese wichtigen Veränderungen, die dem An- lich - das sehen wir - auf viel Sympathie stoßen. Es
spruch einer Reform wirklich Rechnung tragen, wer- wird aber auch Ablehnung und Protest erfahren. Wir
den zu höherer Wettbewerbsfähigkeit, zu besseren werden unseren Weg entschlossen gehen. Härten
Wachstumschancen und zu mehr Arbeitsplätzen füh- sind in dieses System eingebaut; sie sind unvermeid-
ren; das ist gar keine Frage. Was wir heute und in bar. Aber wir wollen keine Abschaffung des Sozial-
den letzten Tagen an sogenannten Rezepten von der staates. Es ist heute morgen schon gesagt worden:
Opposition gehört haben, wird der Bedeutung dieses Die meisten Maßnahmen, die wir durchführen, lau-
Themas nicht gerecht. Wann endlich lernen Sie, daß fen darauf hinaus, daß eine Erhöhung, die vorgese-
man Arbeit nicht verteuern darf, wenn man Arbeits- -
hen und angekündigt war, für einen bestimmten
plätze schaffen will? Sie erheben den Anspruch, Herr Zeitraum, in der Regel um ein Jahr, verschoben wird.
Scharping - auch eben wieder -, daß Sie die Arbeits-
kosten senken wollen. Sie wollen eine Sonderabgabe Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, daß die-
für Reiche erheben. Das klingt zwar gut; aber keiner ses Land wieder wettbewerbsfähig wird und daß die
darf sich wundern, wenn dann das Geld außer Lan- viel zu hohe Arbeitslosigkeit zurückgeführt werden
des geht, weil die Menschen befürchten, daß eine kann. Wir haben uns hier ehrgeizige Ziele vorgenom-
solche Sonderabgabe dann auch für andere Zwecke, men; das weiß ich sehr wohl. Die Arbeitslosigkeit bis
für welche Zwecke auch immer, eingeführt wird. Das zum Jahre 2000 von 4 Millionen auf 2 Millionen zu-
ist das alte Denkraster: Immer oben zugreifen, dann rückzuführen setzt eine Menge voraus. Die Pro-
haben wir das Geld, um unsere Träume realisieren zu gramme, die wir im Januar und gestern verabschie-
können. det haben, sind dafür eine wichtige Voraussetzung
und Vorbedingung.
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU -
Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wer greift Es kommt jetzt darauf an, daß die Politik, daß die
hier denn zu? Sie sind der Oberzugreifer! - Wirtschaft und daß die Gewerkschaften ihre Schular-
Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Also, die beiten machen. Ich bin sicher, daß mehr Menschen in
einen dürfen betrügen, und die anderen diesem Land erkannt haben, worauf es ankommt,
müssen malochen!) daß mehr Menschen in diesem Land bereit sind, Op-
fer zu bringen, wenn dies dann dazu führt, daß Ar-
Wohlstand entsteht in unserem Lande nur, wenn es beitsplätze gehalten und geschaffen werden können.
für Kapitalanlagen und Investoren attraktiv gemacht Unsere Vorschläge, unsere Reformen erfüllen den
wird. Sehen Sie sich doch einmal die ausländische Anspruch, daß sie eine Entwicklung in diese Rich-
Presse an. Wie definie rt sie denn „german disease", tung in Gang setzen. Ich bitte um Ihrer aller Mitwir-
die deutsche Krankheit? Sie wird damit definie rt , daß kung.
die Lohnzusatzkosten zu hoch sind, daß die Steuern
zu hoch sind, daß die Spitzensteuersätze zu hoch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)
sind, daß es eine Gewerbekapitalsteuer gibt, daß es
eine Gewerbeertragsteuer gibt. Das denken wir uns Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die
doch nicht aus; das konstatiert die ganze Welt. Das Aussprache. Wir sind damit am Schluß unserer Ta-
hat dazu geführt, daß die deutsche Wi rtschaft im gesordnung.
Ausland Investitionen in Höhe von 50 Milliarden DM
im Jahre 1995 getätigt hat und in unserem Land nur Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
14 Milliarden DM investiert worden sind. destages auf Mittwoch, 8. Mai 1996, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
(Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Immer
waren F.D.P.-Minister dafür verantwortlich!) (Schluß der Sitzung: 13.25 Uhr)
Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode 102. Sitzung. Bonn, Freitag, den 26. April 1996 9021*
Anlage 1
entschuldigt
Abgeordnete(r) bis
Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich
Was unternimmt die Bundesregierung, damit die kürzlich vom Die Haltung der Bundesregierung in der Vermö-
polnischen Staatspräsidenten Aleksander Kwasniewski in ei- gensfrage, die auch die Bereitschaft einschließt,
nem Inte rv iew mit der „Frankfu rter Rundschau" als „großes Pro-
blem" angesprochene Eigentumsfrage einvernehmlich zwi- dieses Thema zum geeigneten Zeitpunkt in geeig-
schen Deutschland und Polen gelöst wird? neter Weise zur Sprache zu bringen, ist Ihnen be-
kannt.
Zu Frage 19: