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Plenarprotokoll 12/5

eutscher Bundesta g D
Stenographischer Bericht

5. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Inhalt:

Abwicklung der Tagesordnung 67 A Zusatztagesordnungspunkt:


Beratung des Antrags der Fraktion der
Erweiterung der Tagesordnung 67 B SPD:
Einsetzung von Ausschüssen (Drucksa
Tagesordnungspunkt 1: che 12/53) 90 D
Abgabe einer Erklärung der Bundesre-
gierung
Antrag auf Erweiterung der Tagesord-
Dr. Kohl, Bundeskanzler 67 B nung:
Präsidentin Dr. Süssmuth 79 A
Poppe Bündnis 90/GRÜNE 91 A
Tagesordnungspunkt 2: Bohl CDU/CSU 92 B
Beschlußfassung über das Verfahren für
die Berechnung der Stellenanteile der Dr. Struck SPD 92 D
Fraktionen (Drucksache 12/55) . . . . 90 C
Hoyer FDP 93 B
Tagesordnungspunkt 3:
Dr. Briefs PDS/LL 93 C
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP:
Einsetzung von Ausschüssen (Drucksa Nächste Sitzung 93 D
che 12/54) 90 D

b) Beratung des Antrags der Fraktion der


SPD: Anlage
Einsetzung von Ausschüssen (Drucksa
che 12/39) 90 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 94* A

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Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 67

5. Sitzung

Bonn, den 30. Januar 1991

Beginn: 10.01 Uhr

Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine Damen und Her- der Wandel auf unserem Kontinent und in anderen
ren, die Sitzung ist eröffnet. Teilen der Welt verhieß.
Bevor ich Tagesordnungspunkt 1 aufrufe, möchte Bei der Gestaltung der Zukunft wollen wir von un-
ich Sie darüber informieren, daß die Aussprache über serer gemeinsamen Freiheit verantwortlichen Ge-
die Regierungserklärung des Bundeskanzlers für mor- brauch machen. Das bedeutet, nicht nur das Wohl
gen und Freitag vorgesehen ist. unseres eigenen Volkes im Blick zu haben. Denn im
Heute sollen nach der Regierungserklärung gegen Leben jedes einzelnen wie auch für das staatliche
12 Uhr die Tagesordnungspunkte 2 und 3 behandelt Handeln gilt: Freiheit und Verantwortung gehören
werden. unauflöslich zusammen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Tages- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ordnung um die Beratung des Antrags der Fraktion
der SPD betr. Einsetzung von Ausschüssen auf Druck- Angesichts der aktuellen weltpolitischen Entwick-
sache 12/53 zu ergänzen. lungen wäre es ein verhängnisvoller Fehler, wenn wir
Ich sehe keinen Widerspruch zu dieser Regelung. vor neuen Gefährdungen von Frieden und Freiheit die
Es ist so beschlossen. Augen verschlössen. Ebenso gefährlich wären aber
auch Resignation und Flucht aus der Verantwor-
Herr Kollege Poppe hat fristgemäß eine Erweite-
tung.
rung der Tagesordnung beantragt. Dieser Antrag
wird nach Tagesordnungspunkt 3 aufgerufen. (Zustimmung bei der CDU/CSU)
Die militärischen Auseinandersetzungen am Golf
Ich rufe nun Punkt 1 der Tagesordnung auf: gehen jetzt in die dritte Woche. Kaum jemals zuvor
Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- hatte die Völkergemeinschaft ähnliche politische An-
rung strengungen unternommen, um einen bewaffneten
Das Wort hat der Herr Bundeskanzler. Konflikt abzuwenden. Sie alle scheiterten an der
kategorischen Weigerung des Irak, die Beschlüsse
der Vereinten Nationen — also den Willen der Völker-
Dr. Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Meine gemeinschaft — zu erfüllen und die gewaltsame
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Regierungs- Annexion Kuwaits rückgängig zu machen. Der iraki-
erklärung fällt in eine Zeit, in der sich viele Menschen sche Präsident Saddam Hussein allein hat diesen
weltweit große Sorgen machen: wegen des Krieges Krieg zu verantworten,
am Golf, aber auch wegen der Vorgänge im Balti-
kum. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei einzelnen Abgeordneten der SPD)
(Zuruf von der SPD: Und wegen dieser Re
gierung!) den Krieg, den er am 2. August 1990 durch den bru-
Wer könnte diese Sorgen besser nachvollziehen als talen Überfall auf Kuwait begonnen hat. Er hat es in
wir Deutschen, die wir — aus der Schuld der NS-Dik- der Hand, ihn sofort zu beenden. Er hat Kuwait unver-
tatur — die Schrecken und Leiden des Krieges am züglich und vollständig zu räumen.
eigenen Leib erfahren mußten.
Eine Bereitschaft Saddam Husseins zum Einlenken
Vor diesem geschichtlichen Hintergrund sind wir ist bis jetzt nicht erkennbar. Im Gegenteil: Die barba-
um so dankbarer, daß wir im vergangenen Jahr die rische Vorführung offensichtlich mißhandelter alliier-
gemeinsame Freiheit für alle Deutschen gewinnen ter Kriegsgefangener vor den Medien, die Aufforde-
konnten. Dies nimmt uns besonders in die Pflicht. rung zu weltweitem Terror, die vorsätzliche Verseu-
Die vergangenen Jahre waren eine Zeit der Hoff- chung des Golfs mit einer Ölpest und die jüngste Dro-
nung und der großen Zuversicht. Langgehegte hung mit dem Einsatz atomarer, biologischer und che- -
Träume gingen für uns in Erfüllung, und unser Au- mischer Waffen lassen die klare Absicht erkennen,
genmerk richtet sich vor allem auf die Chancen, die diesen Krieg zu eskalieren.
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Bundeskanzler Dr. Kohl


Zugleich versucht er, ihn auf Unbeteiligte auszu- lich ist. Dies schließt auch künftig eine Beteiligung an
dehnen. Die Angriffe irakischer Raketen auf Israel den finanziellen Lasten ein.
haben nur ein Ziel: Israel soll um jeden Preis in die Die Bundesregierung hat daher gestern beschlos-
militärischen Auseinandersetzungen am Golf hinein- sen, der Regierung der Vereinigten Staaten von Ame-
gezogen werden. Dies ist ein Anschlag auf die Unver- rika für die ersten drei Monate dieses Jahres einen
sehrtheit und auf das Lebensrecht Israels. Betrag von 5,5 Milliarden US-Dollar zur Verfügung zu
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der stellen.
SPD sowie bei einzelnen Abgeordneten der Zugleich möchte ich noch einmal betonen: Die Bun-
PDS/Linke Liste) desrepublik Deutschland wird ihre Verpflichtungen
Israel soll wissen: In diesen Tagen hat Israel unsere sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen als auch
ganze Solidarität. im Bündnis erfüllen. Das Bündnis, das uns Frieden
und Freiheit über Jahrzehnte sicherte, kann sich auf
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD unsere Solidarität verlassen. Das gilt — wie für alle
und beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Ab Partner — auch für die Türkei.
geordneten der PDS/Linke Liste)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir werden diese Solidarität auch dadurch unter Be-
weis stellen, daß wir Israel in seiner bedrängten Lage Wir werden deshalb unverzüglich Einheiten der
durch Ausrüstungs- und Materiallieferungen zum Abwehrsysteme Roland und Hawk in die Türkei ver-
Schutz seines Territoriums und seiner Bevölkerung legen.
unterstützen. Wir handeln damit entsprechend der (Aha! bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/
besonderen Verantwortung, die alle Bundesregierun- CSU]: Sehr gut!)
gen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland Die Stationierung dieser Systeme dient dem Schutz
gegenüber dem Staat und dem Volk Israel gezeigt unseres NATO-Partners Türkei und insbesondere der
haben. dorthin verlegten deutschen, belgischen und italieni-
Solidarisch verbunden sind wir auch den Streitkräf- schen Verbände.
ten der 28 Nationen, die für die Durchsetzung der Meine Damen und Herren, zu unserer Verantwor-
Resolutionen der Vereinten Nationen für die Befrei- tung gehört auch — das ist ein wichtiges Kapitel —,
ung Kuwaits kämpfen. daß wir alles in unseren Kräften Stehende tun, um
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) illegale Rüstungsexporte zu unterbinden.
Die Verbündeten aus allen Kontinenten, allen voran (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
die Vereinigten Staaten, erfüllen einen Auftrag der Zuruf von der SPD: Das wird aber auch Zeit!
Völkergemeinschaft. Sie stehen im Kampf gegen eine — Weitere Zurufe von der SPD)
Diktatur, damit wir alle — auch wir Deutschen — mor- — Meine Damen und Herren, ich glaube nicht, daß Sie
gen in einer friedlicheren Welt leben können. Grund zu Unruhe und irgendeiner Bemerkung zu die-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sem Thema haben!
Sie bringen dafür Opfer; wir alle denken in dieser (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
Stunde besonders auch an die Soldaten und ihre An- neten der FDP)
gehörigen. Ich bin sehr daran interessiert, daß wir — wenn Sie es
An dieser Stelle erinnere ich daran, daß es insbeson- wünschen — , in der nächsten Woche die Diskussion
dere die Vereinigten Staaten waren, die 40 Jahre hin- für die Regierungszeiten bis zum 1. Oktober '82 und
durch in Deutschland Frieden und Freiheit verteidigt ab dann führen.
haben. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU — Duve
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie [SPD]: Welche Moral soll dieses Argument
bei Abgeordneten der SPD) denn haben?)
— Die Moral muß für Sie heißen „Wahrhaftigkeit",
Die Vereinigten Staaten haben ganz wesentlich dazu
Herr Abgeordneter.
beigetragen, daß wir Deutschen unsere Einheit in
Freiheit verwirklichen konnten. (Zurufe von der SPD)
Um so verwerflicher ist es, wenn in diesen Wochen
eine lautstarke Minderheit versucht, statt dem Irak
Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine lieben Kollegin-
den USA die Urheberschaft für diesen Konflikt zuzu-
nen und Kollegen, ich bitte — trotz der Aufgewühlt-
schieben.
heit in der Sache — , daß wir bei Regierungserklärun-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der gen Zwischenrufe unterlassen.
FDP sowie Beifall des Abg. Koschnick
(Zuruf von der SPD: Unglaublich! — Weitere
[SPD])
Zurufe von der SPD)
Unsere amerikanischen und unsere europäischen Es muß möglich sein, daß wir zunächst in Ruhe zuhö-
Verbündeten und Freunde sollen wissen: In diesem ren. Danach folgt die Aussprache.
Kampf der Völkergemeinschaft um die Durchsetzung
des Völkerrechts und die Wiederherstellung des Frie-
dens stehen wir selbstverständlich fest zu ihnen! Dr. Kohl, Bundeskanzler: Meine Damen und Her- -
Für ihre schwere Aufgabe werden sie von uns auch ren, ich hoffe, wir sind uns wenigstens zu dem Punkt
weiterhin jede Unterstützung erhalten, die uns mög- in der Feststellung einig: Es handelt sich um kriminel-
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les Verhalten von Geschäftemachern, für die es kei- der Nahe und Mittlere Osten von einer Krise in die
nerlei Nachsicht geben darf. nächste gerät.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, zum
bei Abgeordneten der SPD) Aufbau einer Friedensordnung wie auch zur Entwick-
Wir werden daher zusätzliche Maßnahmen treffen lung der Region ihren Beitrag zu leisten.
und in den zuständigen Ausschüssen — auch mit der (Beifall bei der CDU/CSU und FDP)
Opposition — beraten, um die Exportkontrollen noch
Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität
weiter zu verschärfen und sicherzustellen, daß jeder
Verstoß die verdiente schwere Strafe findet. Ich wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfrei-
wende mich aber in diesem Zusammenhang gegen heit, sondern auch mehr Verantwortung zu. So sehen
es auch unsere Partner in der Welt. Sie erwarten vom
eine pauschale Verurteilung der deutschen Wirt-
vereinten Deutschland, daß es dieser neuen Rolle ge-
schaft.
recht wird.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Es geht dabei überhaupt nicht um nationale Allein-
Gerade weil ich dies tue, appelliere ich auch an die gänge oder gar Machtambitionen; denn für uns gibt es
Verantwortlichen der deutschen Wirtschaft, vor allem auf dieser Welt nur einen Platz: in der Gemeinschaft
an die Spitzenverbände, das Ihrige zu tun, um dieje- der freien Völker. Gefordert sind jetzt mehr denn je
nigen zu ächten, die in illegale Rüstungsgeschäfte Vernunft und Augenmaß und vor allem auch das Fest-
verwickelt sind. halten an den Zielen, die wir uns vorgenommen ha-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ben.
Wer sich in einer solch verbrecherischen Weise betä- Wir alle wissen, wir stehen am Beginn eines langen
tigt, verdient die Ächtung der ganzen Gesellschaft. und auch beschwerlichen Weges: Wir wollen
Deutschland zusammenführen, und zwar in jeder
Wir alle hoffen, daß dieser Krieg so schnell wie mög- Hinsicht: geistig-kulturell, wirtschaftlich und sozial.
lich zu Ende geht und damit auch die Leiden der Wir wollen mitwirken am Bau einer dauerhaften und
Bevölkerung und aller betroffenen Menschen in der gerechten Friedensordnung für Europa, die alle Völ-
Region ein Ende haben. Ich habe Verständnis für die ker unseres so lange geteilten Kontinents in gemein-
Angst, die manchen bei uns angesichts der Entwick- samer Freiheit zusammenführt. Wir wollen an einer
lung am Golf erfaßt. Dennoch gilt: Frieden um jeden Weltfriedensordnung mitarbeiten, die auf die Herr-
Preis kann und darf es nicht geben. schaft des Rechts gegründet ist: auf die Achtung der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts
aller Völker sowie auf den gemeinsamen Willen zur
Der Friede kann dauerhaft und verläßlich nur auf dem
Bewahrung der dem Menschen anvertrauten Schöp-
Boden von Freiheit, von Recht und Gerechtigkeit ge-
fung.
deihen.
Wir sind dankbar, daß wir Deutschen diesen Weg in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Zukunft seit dem 3. Oktober 1990 gemeinsam ge-
Das heißt für uns: Nach der Beendigung dieses Kon- hen können.
flikts — wie wir hoffen, nach der baldigen Beendi-
gung — müssen wir uns mit noch größerem Nach- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
druck als bisher auch den anderen Fragen der Region Für jedermann erkennbar hat es sich als ein großer
zuwenden. Neue zielstrebige Anstrengungen sind er- Vorteil erwiesen, daß die staatliche Wiedervereini-
forderlich, um auch im Nahen und Mittleren Osten gung Deutschlands noch vor der Zuspitzung der ge-
eine dauerhafte Friedensordnung zu erreichen. genwärtigen Konflikte vollendet werden konnte.
Es geht darum, das Selbstbestimmungsrecht des (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
palästinensischen Volkes mit dem Recht auf Existenz bei Abgeordneten der SPD)
und Sicherheit aller Staaten der Region einschließlich
Israels in Einklang zu bringen. Auch im Nahen Osten Die vor uns liegenden Aufgaben sind schwierig,
muß es gelingen, die Gegensätze zu überwinden und und wir alle können die Sorgen der Menschen in den
stabile Sicherheitsstrukturen zu entwickeln, damit neuen Bundesländern gut verstehen — Sorgen um
diese Region zu einem gerechten und dauerhaften den Arbeitsplatz, um die Zukunft; Sorgen aber auch
Frieden finden kann. um den schlimmen Zustand der Umwelt.
Zur Stabilisierung der Region sind auch erhöhte Wirtschaftliche, soziale und ökologische Fragen
Anstrengungen zur wirtschaftlichen Entwicklung und sind jetzt dringlich, aber sie sind wahrlich nicht die
zur Überwindung sozialer Unterschiede unerläßlich. einzigen, die wir lösen müssen. Es wird lange dauern,
Wir werden zu gegebener Zeit — ich hoffe, daß dies bis die immateriellen Schäden aus der Zeit der SED-
bald sein kann — zunächst mit unseren Partnern in Diktatur beseitigt sind. Ich denke vor allem an die
der Gemeinschaft die Möglichkeit eines umfassenden schwerwiegenden Folgen, die über vier Jahrzehnte
Entwicklungsplanes für den Nahen und Mittleren kommunistischer Diktatur im geistigen Leben und
Osten erörtern. auch in den Seelen der Menschen hinterlassen haben.
In freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!) Deutschlands zu vollenden — dieser Auftrag unseres
Zunächst brauchen wir jedoch eine umfassende Lö- Grundgesetzes von 1949 ist jetzt im staatsrechtlichen
sung der politischen Fragen. Dies alles duldet keinen Sinne erfüllt. Es geht nun darum, diese Einheit zu
Aufschub, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, daß gestalten. Unser Ziel ist klar: Wir wollen für alle Men-
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schen in ganz Deutschland gleiche Lebenschancen zu erweisen, das ist und bleibt Leitlinie unserer Poli-
gewinnen. tik.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
bei Abgeordneten der SPD) neten der FDP)
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, an uns
Zugleich, meine Damen und Herren, geht es darum,
Deutsche richten sich hohe Erwartungen. Dies gilt
mit aller Kraft an die zweite große Aufgabe heranzu-
nach der Wiedervereinigung gewiß noch stärker als
gehen, zu der uns das Grundgesetz verpflichtet: das
zuvor. Ob wir diesen Erwartungen genügen und unse-
vereinte Europa zu schaffen, nämlich die politische
rer Verantwortung in der Welt entsprechen können,
Einigung Europas. Unsere Verfassung trägt uns auf,
hängt in besonderer Weise auch von dem wirtschaft-
„als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten
lichen Erfolg unserer Unternehmen — der Arbeitge-
Europa dem Frieden der Welt zu dienen". In der Tat:
ber, der Arbeitnehmer — und aller anderen Gruppen
Wir dienen dem Frieden der Welt am wirkungsvoll-
in unserer Gesellschaft ab.
sten, indem wir die politische Einigung Europas be-
herzt und energisch vorantreiben. Dabei — ich will das klar aussprechen — ist wirt-
schaftlicher Erfolg kein Selbstzweck, und in ökonomi-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) scher Stärke sehen wir kein Ziel an sich. Aber hohe
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist eine notwen-
Weder das vereinte Deutschland noch das immer dige Voraussetzung für Wohlstand und soziale Sicher-
mehr zusammenwachsende Europa können es sich heit in ganz Deutschland, für den wirksamen Schutz
leisten, den sich auftürmenden Problemen in anderen von Natur und Umwelt und für die Hilfe, die wir au-
Regionen der Welt mit Gleichgültigkeit zu begegnen. ßerhalb unserer Grenzen leisten können und die von
Alle diese Probleme berühren uns unmittelbar. Indem uns erwartet wird. Erst ein solides wirtschaftliches
wir gemeinsam zur Lösung beitragen, erfüllen wir Fundament eröffnet politische, wirtschaftliche und so-
nicht nur eine moralische Pflicht, sondern wir handeln ziale Handlungsspielräume hierzulande und darüber
auch im wohlverstandenen Eigeninteresse. hinaus.
Europa wächst jetzt zusammen auf dem Fundament Meine Damen und Herren, in den kommenden Mo-
jener Werte, die durch Ch ristentum und Aufklärung naten und Jahren hat ein Ziel hohe Priorität — für
geprägt worden sind. Aber für einen selbstgefälligen mich absolute Priorität — : gleiche Lebensverhält-
Eurozentrismus bei uns im Westen besteht heute we- nisse für die Menschen in ganz Deutschland herbei-
niger Berechtigung denn je. Deutlicher denn je zeigt zuführen. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam er-
sich in diesen Tagen und Wochen, wie eng unser reichen.
Schicksal mit den Entwicklungen in unserer Nachbar-
schaft verbunden ist — im Osten unseres Kontinents (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
wie auch im Nahen und Mittleren Osten. bei Abgeordneten der SPD)
Das erfordert Solidarität und gesamtstaatliche Verant-
Deutschland und Europa, meine Damen und Her- wortung von allen Bürgern — von den Verantwortli-
ren, werden nur gedeihen, wenn sie sich weder kul- chen in der Wirtschaft, von den Tarifparteien, vom
turell noch wirtschaftlich nach außen abschotten, son- Bund, von Ländern und Gemeinden. Es ist eine Auf-
dern bereit bleiben, von anderen zu lernen und vor gabe für alle Deutschen.
allem einem friedlichen Wettbewerb nicht aus dem
Wege gehen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe ist für jedermann
erkennbar. Eingehende Prüfungen und Analysen ha-
Nationale Eigensucht während dieser Zeit wäre ben unsere Befürchtungen bestätigt: Die Erblast aus
nicht zuletzt ein Zeugnis groben Undanks gegenüber 40 Jahren Sozialismus und Kommunismus in der bis-
jenen Partnern und Freunden, die jahrzehntelang un- herigen DDR ist zutiefst bedrückend. Fehlende Wett-
sere Freiheit geschützt und uns vor allem auch bei der bewerbsfähigkeit vieler Unternehmen und Produkte,
Wiedervereinigung unseres Vaterlandes tatkräftig hohe Arbeitslosigkeit, vielfache Zerstörung der Um-
geholfen haben. Ich nenne hier insbesondere die Ver- welt, Verfall der Bausubstanz und eine verbrauchte
einigten Staaten von Amerika, Frankreich und Groß- Infrastruktur — dies ist die eine Seite der Bestandsauf-
britannien. nahme.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Dem stehen auf der anderen Seite der Wille der
bei Abgeordneten der SPD) Menschen zu Neubeginn und Wiederaufbau sowie
die Wirtschaftskraft des Vereinten Deutschlands ge-
Ich würdige an dieser Stelle aber auch ausdrücklich genüber. Ich bin sicher, dies ist ein Fundament, auf
den Beitrag von Präsident Michail Gorbatschow zur dem wir die gewaltigen Anstrengungen unternehmen
deutschen Einheit. können und dabei auch bestehen werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Die Soziale Marktwirtschaft bietet dafür beste Vor-
bei Abgeordneten der SPD und der Gruppe aussetzungen — Voraussetzungen, die wir auch in
Bündnis 90/GRÜNE) den kommenden Jahren bewahren und fortentwik-
keln wollen. Unser Bewußtsein für die Wurzeln von
Viele haben uns in dieser Zeit auf dem Weg zur Freiheit und Wohlstand ist nicht zuletzt durch die
deutschen Einheit ein hohes Maß an Vertrauen entge- historischen Umbrüche in Deutschland und Europa
gengebracht. Dieses Vertrauen zu erhalten, zu stär- gestärkt worden. Überall wo die Menschen wirklich
ken und — das sage ich auch — sich seiner als würdig die Wahl haben, votieren sie mit aller Entschiedenheit
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für die Soziale Marktwirtschaft als freiheitliche Wirt- Nachfrage von Konsumenten und Unternehmern aus
schafts- und Gesellschaftsordnung. dem Beitrittsgebiet zu einem großen Teil auf westliche
Gebrauchsgüter, Maschinen und Anlagen. Das be-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schert den Unternehmen in den alten Bundesländern
Dieser Wille findet sich eindrucksvoll bestätigt im volle Auftragsbücher, den Finanzministern und Stadt-
Abschlußdokument der Bonner KSZE-Wirtschafts- kämmerern unerwartet hohe Steuereinnahmen. Es ist
konferenz vom Frühjahr 1990. Alle Unterzeichner- deshalb ein Gebot der Solidarität, diese Mittel in die
staaten aus Ost und West unterstreichen darin den neuen Bundesländer zurückzuleiten,
unauflöslichen Zusammenhang zwischen wirtschaft-
(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der
licher und politischer Freiheit.
FDP sowie Beifall bei der SPD und bei Abge-
Auf dieser Basis hat unsere Politik — zusammen mit ordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)
der hohen Leistungsbereitschaft aller — im Westen
Deutschlands zu einem beispiellosen Maß an wirt- und zwar in Form p ri vater Investitionen und vor allem
schaftlicher Dynamik und sozialer Sicherheit ge- für eine bessere Finanzausstattung der neuen Länder
führt. Anders als bei der Regierungsübernahme der und Kommunen. Das ist ein wichtiger Beitrag zur Er-
heutigen Koalition 1982 ist die wirtschaftliche Lage füllung unserer großen gemeinsamen Aufgabe, jetzt
auch die innere Einheit unseres Vaterlandes auf wirt-
heute ausgezeichnet.
schaftlichem, sozialem und ökologischem Gebiet zu
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord verwirklichen.
neten der FDP)
Meine Damen und Herren, für diese Aufgabe gibt
Die Aussichten für die 90er Jahre sind ermutigend. In es in der Geschichte kein Vorbild. Niemals zuvor ist
den alten Bundesländern erleben wir eine Hochkon- versucht worden, eine sozialistische Kommandowirt-
junktur. schaft in eine Soziale Marktwirtschaft umzuwandeln.
(Frau Köppe [Bündnis 90/GRÜNE]: Prima! — Vor allem die Finanzpolitik muß sich in dieser Situa-
Lachen und Zurufe von der SPD und dem tion in besonderer Weise bewähren. Zum einen gilt es,
Bündnis 90/GRÜNE) Verläßlichkeit und Berechenbarkeit der Finanzpolitik
zu gewährleisten. Das ist die beste Investitionsförde-
— Meine Damen und Herren, haben Sie einmal über- rung und damit zugleich Voraussetzung für zusätzli-
legt, wie es gewesen wäre, wenn die deutsche Einheit che, neue und für sichere Arbeitsplätze.
1982 als Herausforderung auf uns zugekommen
wäre? Zum anderen gilt es, die knappen öffentlichen Mit-
tel verstärkt dorthin zu leiten, wo der Bedarf beson-
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord ders dringlich und wo die Wirkung am größten ist.
neten der FDP)
Der Eckwertebeschluß der Bundesregierung von
Die Wachstumskräfte sind gestärkt, die Investitions- Mitte November 1990 entspricht dieser Linie. Er wird
bereitschaft der Unternehmen ist hoch, die Zukunfts- durch die Koalitionsvereinbarungen ausgefüllt.
erwartungen sind günstig.
Der vorübergehend hohe Kreditbedarf der öffentli-
(Zuruf von der SPD: Und die Schulden sind chen Haushalte muß schnell und erkennbar zurück-
gestiegen!) geführt werden. Und schon gar nicht dürfen wir das
— Ich finde, ein Zwischenruf aus der sozialdemokra- Vertrauen der Kapitalmärkte in eine stabile D-Mark
tischen Fraktion zum Thema Schulden ist kein zeitge- gefährden.
mäßer Zwischenruf. (Zustimmung bei der CDU/CSU und der
(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und FDP)
bei Abgeordneten der FDP — Lachen und Meine Damen und Herren, so wie es uns nach 1982
Widerspruch bei der SPD) gelungen ist, werden wir auch jetzt die Neuverschul-
Ich kann Ihnen die Bilanz nicht ersparen, weil sie so dung so schnell wie möglich wieder verringern.
gut ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sie haben Bereits in diesem Jahr werden wir, wie im November
es gerade nötig!) angekündigt, eine Entlastung des Bundeshaushalts
Unsere Währung ist stabil und weltweit anerkannt; von 35 Milliarden DM erzielen. Die Nettokreditauf-
Löhne und Renten sind in den vergangenen Jahren nahme des Bundes wird auf höchstens 70 Milliarden
kräftig gestiegen. Ganz besonders erfreulich ist in der DM begrenzt. Notwendig ist allerdings auch, daß Län-
bisherigen Bundesrepublik der Rückgang der Ar- der und Gemeinden ihrerseits einen spürbaren Bei-
beitslosigkeit — verbunden mit einer Beschäftigungs- trag zur Begrenzung der Verschuldung leisten.
dynamik, wie wir sie seit der Aufbauzeit der 50er (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Jahre nicht mehr erlebt haben.
Hinzu kommen jetzt Belastungen, die sich aus den
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord jüngsten Veränderungen der Weltlage ergeben.
neten der FDP) Diese Veränderungen nehmen auch uns Deutsche
Meine Damen und Herren, die ungewöhnlich kräf- verstärkt in die Pflicht. Unsere Partner und Verbünde-
tige Wirtschaftsentwicklung im bisherigen Bundes- ten können die Bürde der Verteidigung von Recht und
gebiet ist zu einem erheblichen Teil auch Folge des Freiheit am Golf nicht allein tragen. Sie können wei- -
marktwirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses in terhin mit unserer Unterstützung rechnen. Auch nach
den neuen Bundesländern. Noch richtet sich die dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen
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am Golf werden die Staaten dieser Region, die darun- abrechnung für das vergangene Jahr sehr wohl erken-
ter besonders zu leiden haben, auf eine umfassende nen.
Hilfe von außen angewiesen sein.
(Großmann [SPD]: Vor allem der Bundes-
(Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Neue Waf kanzler!)
fen!)
— Ich weiß, daß Sie, wenn es um das Thema Sozial-
Auch die Bundesrepublik Deutschland ist gefordert. neid geht, absolut Spitze sind!
Wir helfen aber nicht nur in der Golfregion. Bereits
jetzt leisten wir einen erheblichen Beitrag zur Stabili- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
tät in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Dieses Engage- Conradi [SPD]: Die kleinen Leute ausplün-
ment — man kann es nicht oft genug sagen — liegt im dern und dann frech werden!)
gemeinsamen westlichen Interesse.
Mit der jetzt vereinbarten weiteren Verbesserung
Dies alles ist ein wesentlicher Beitrag zum Frieden, des Familienlastenausgleichs und der Reform der
eine Investition in eine f riedliche Zukunft und zu- Unternehmensbesteuerung setzen wir den erfolgrei-
gleich Ausdruck unserer Bereitschaft, mehr Verant- chen Kurs in den kommenden Jahren fort. Das gilt
wortung in der Welt zu übernehmen. auch für andere Bereiche, etwa die steuerliche Förde-
rung von Kunst, Kultur und Stiftungen.
Die mit alledem verbundenen Belastungen, die jetzt
neu auf uns zukommen, gehen weit über den bisheri- Meine Damen und Herren, über zehn Jahre hinweg
gen Finanzrahmen hinaus. Deshalb sind Einnahme- wird damit Schritt für Schritt ein in sich geschlossenes
verbesserungen unumgänglich. Die Bundesregierung steuerpolitisches Gesamtkonzept verwirklicht, ein
wird entsprechende Vorschläge auch für notwendige Konzept, das Wachstum und Beschäftigung für jeder-
Steuererhöhungen vorlegen. mann erkennbar fördert und das zusätzliche Chancen
für die Bewältigung kommender Herausforderungen
(Lachen bei der SPD) eröffnet.
— Ich weiß nicht, was Sie dabei erheitert. Kann ich
Ihrer Reaktion entnehmen, daß Sie der Auffassung Angesichts der Aufgaben in den neuen Bundeslän-
sind, daß wir am Golf keine Unterstützung geben oder dern und an der Schwelle zum europäischen Binnen-
die Reformstaaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa markt Ende 1992 müssen Unternehmen im Wettbe-
nicht unterstützen sollen? werb der Standorte wissen, welche Investitionsbedin-
gungen in Deutschland künftig für sie gelten. Deswe-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — gen werden wir rechtzeitig zum Beginn des europäi-
Dr. Vogel [SPD]: „Keine Erhöhung"!) schen Binnenmarktes alle notwendigen gesetzgeberi-
schen Entscheidungen zur Steuerreform abgeschlos-
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in un- sen haben.
serem eigenen Land gehört der unvermeidliche An-
stieg der Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR zu Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer
den schwierigsten Problemen. Es ist ein selbstver- heißt Vorrang für Investoren und grünes Licht für
ständliches Gebot der Solidarität, in dieser schwieri- Investitionen. Denn nur Investitionen schaffen Ar-
gen Umbruchsituation füreinander einzustehen, auch beitsplätze und Einkommen. Investitionen bringen
im Rahmen der Arbeitslosenversicherung. moderne — auch umweltschonende — Technologien
Die Bundesregierung hat deshalb eine Erhöhung in die neuen Bundesländer, und zunehmende Investi-
der Beiträge um 2,5 Prozentpunkte für das Jahr 1991 tionen sind der sichtbarste Beweis dafür, daß diesen
ab 1. April vorgesehen. Bezogen auf das ganze Jahr Regionen die Zukunft gehört. Wir brauchen Unter-
beträgt die Erhöhung etwa zwei Prozentpunkte ge- nehmensinvestitionen, und wir brauchen Infrastruk-
turinvestitionen in den Bereichen Verkehr, Telekom-
genüber 1990 und damit ebensoviel wie für die kom-
menden Jahre. Gleichzeitig werden die Beiträge zur munikation, Städtebau und Umwelt. Und wir brau-
chen in großem Umfang Qualifizierung.
Rentenversicherung um einen Prozentpunkt verrin-
gert. Hierdurch wird keine Rente in ihrer Höhe oder Ein besonders schwieriges Problem ist der zügige
Sicherheit gefährdet. Aufbau einer funktionierenden Verwaltung in Län-
(Conradi [SPD]: Und die Selbständigen? Die dern und Gemeinden. Wir müssen angesichts der
Beamten? Die Freiberufler?) Dringlichkeit dieser Probleme fähig sein, auch ganz
unkonventionelle Wege zu beschreiten.
Meine Damen und Herren, in der Steuerpolitik ver-
folgt die Koalition aus CDU/CSU und FDP seit ihrem Gerade in dieser schwierigen Übergangszeit ist mir
Amtsantritt ein klares Reformkonzept. In meiner Re- sehr an unbürokratischer Zusammenarbeit mit allen
gierungserklärung vom 4. Mai 1983 habe ich gesagt, Bundesländern gelegen.
daß es darum geht, eine gerechte Besteuerung zu ver-
wirklichen, Leistungsbereitschaft zu erhöhen, private Unbeschadet der verfassungsmäßigen Zuständig-
Initiative zu fördern und die Wettbewerbsfähigkeit keiten sollten wir daher schnell zu entsprechenden
der Wirtschaft zu stärken. Absprachen zwischen Bund und Ländern kommen,
damit wir — insbesondere beim Aufbau der Verwal-
Mit der dreistufigen Steuerreform von 1986/88/90 tungen — rasche Fortschritte erzielen. -
sind wir auf diesem Weg ein gutes Stück vorangekom-
men. Jeder kann das auf seiner Lohn- oder Gehalts (Dr. Struck [SPD]: Sehr richtig!)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 73
Bundeskanzler Dr. Kohl
Dies wird einer der Aufgabenschwerpunkte auch des nen wir die einigungsbedingten Steuermehreinnah-
Kabinett-Ausschusses „Neue Bundesländer" sein, men der alten Bundesländer in die neuen Bundeslän-
den wir gestern eingesetzt haben. der zurückleiten wollen. Und jeder weiß: Es muß sich
hier um beachtliche Beträge handeln. Ich werde des-
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)
halb in der Ministerpräsidentenkonferenz Ende Fe-
Auch zur Förderung von Investitionen in den neuen bruar auf die notwendigen Entscheidungen drän-
Bundesländern sind bereits wichtige Weichenstellun- gen.
gen erfolgt. Diese Politik haben wir mit den Koali-
tionsvereinbarungen nochmals verstärkt. So werden Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, dar-
wir die Investitionszulage durch Sonderabschreibun- über hinaus müssen wir in dieser Legislaturperiode zu
gen in Höhe der bisherigen Zonenrandförderung er- einer Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbezie-
gänzen. Bei der Einkommensteuer haben wir einen hungen kommen, die dann natürlich auch die neuen
zusätzlichen Freibetrag eingeführt. Im Vorgriff auf die Bundesländer voll einschließt. Dabei muß auch be-
Unternehmenssteuerreform verzichten wir darauf, in rücksichtigt werden, daß die neuen Bundesländer ab
den neuen Ländern die Gewerbekapital- und Vermö- 1995 am gesamtdeutschen Länderfinanzausgleich
gensteuer zu erheben. teilnehmen. Schon jetzt muß Vorsorge getroffen wer-
den, daß dieser Übergang zum gesamtdeutschen Fi-
Zusätzlich hat die Bundesregierung in diesen Tagen nanzausgleich ab 1995 nicht in einer abrupten Form,
das besonders erfolgreiche Kreditprogramm zur För- sondern in einer für alle Beteiligten annehmbaren
derung kommunaler Investitionen von 10 auf 15 Mil- Weise gestaltet wird. Wer heute rechtzeitig diesen
liarden DM erhöht. Damit geben wir den Städten, Übergang einleitet, wird eine Krise 1995 vermeiden
Gemeinden und Kreisen in den neuen Bundesländern können.
die Möglichkeit, ihre Investitionsplanungen zügig zu
verwirklichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Ich unterstreiche noch einmal: Absoluten Vorrang Damit der Strukturwandel in den neuen Bundeslän-
hat jetzt innenpolitisch die Unterstützung der neuen dern rasch vorankommt, muß schnell ein leistungsfä-
Bundesländer. higer Mittelstand entstehen, und die bisherigen
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Staatsbetriebe müssen entflochten und privatisiert
bei Abgeordneten der SPD) werden. Es kommt jetzt darauf an, daß sich eine ver-
nünftige Mischung von Betrieben in allen Bereichen,
Deshalb können staatliche Hilfen, die ihre ur- in Handwerk, Handel, Dienstleistungen und Indu-
sprüngliche Berechtigung verloren haben und die für strie, sowie von freien Berufen entwickelt. Ich danke
viele in der alten Bundesrepublik zur Gewohnheit den Kammern, den Verbänden und den Gewerk-
geworden sind, nicht auf Dauer fortgesetzt werden. schaften für ihr Engagement in den neuen Bundeslän-
Dies gilt insbesondere für die Zonenrandförderung. dern. Ich danke vor allem all jenen, die sich sofort
Teilungsbedingte Subventionen sollen — unter Be- dafür eingesetzt haben, möglichst viele Lehrstellen zu
rücksichtigung berechtigter Interessen der Betroffe- schaffen.
nen — bis Ende 1994 stufenweise abgebaut werden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Im Falle der Berlinförderung gilt es zweierlei zu
des Abg. Dr. Vogel [SPD])
berücksichtigen: Zum einen müssen wir Subventio-
nen im westlichen Teil der Stadt abbauen. Zum ande- In den wenigen Monaten seit Inkrafttreten der Wäh-
ren müssen wir gleichzeitig der schwierigen Situation rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie des Eini-
im Ostteil der Stadt entsprechen. Das bedeutet: Wir gungsvertrages haben wir schon entscheidende Wei-
müssen den Zeitplan für den Abbau der Berlinförde- chen gestellt. Jeder weiß, es gibt noch erhebliche
rung im Westteil der Stadt im Zusammenhang mit den Schwierigkeiten des Neuanfangs, aber ebenso un-
notwendigen Fördermaßnahmen für Investitionen übersehbar sind auch Signale zum Aufbruch. Annä-
und Arbeitsplätze im neuen Bundesland Berlin und in hernd 300 000 Gewerbeanmeldungen zeigen nicht
den übrigen neuen Bundesländern sehen. nur, daß die Hilfen greifen, sondern sie belegen auch
Darüber hinaus streben wir für die Berlinhilfe ein Mut und Eigeninitiative vieler Menschen, die sich
Niveau an, das es erlaubt, das Land Berlin in den ab zum Schritt in die Selbständigkeit entschließen.
1995 neu zu regelnden Finanzausgleich einzubezie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
hen. Wir werden selbstverständlich wichtige Einzel-
fragen in diesem Zusammenhang mit dem Berliner Eine Schlüsselrolle in diesem Umstrukturierungs-
Senat besprechen und klären. prozeß fällt der Treuhandanstalt zu. Sie hat die ebenso
einmalige wie ungewöhnlich schwierige Aufgabe, die
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ebenso ehemals planwirtschaftlich geführten Betriebe so
wie der Bund sind die bisherigen Bundesländer und
rasch wie möglich in den marktwirtschaftlichen Wett-
die Kommunen gefordert. Gemeinsames Ziel muß es
bewerb zu entlassen. Für uns ist vorrangiges Ziel
sein, eine sichere finanzielle Basis für die neuen Bun-
— und dies bleibt es auch — die Privatisierung. Die
desländer und die dortigen Städte und Gemeinden zu Bundesregierung unterstützt die Treuhandanstalt
schaffen. Es besteht weitgehendes Einvernehmen al-
nachdrücklich bei der Erfüllung ihres Auftrags. Wir
ler Beteiligten, daß hier die westlichen Bundesländer
wollen alle notwendigen Schritte unternehmen, um
und Kommunen mehr tun können und müssen als bis-
die Voraussetzungen für die Arbeit der Treuhandan-
her. -
stalt weiter zu verbessern. Schon sehr bald wird ein
Ich habe schon darauf hingewiesen: Ganz oben auf Gesetzentwurf zur Beseitigung rechtlicher Investi-
der Tagesordnung stehen Sofortmaßnahmen, mit de tionshemmnisse fertiggestellt.
74 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


Zugleich, meine Damen und Herren, müssen wir — Ich bin ja damit einverstanden, daß Sie gespannt
sehen: So wichtig die Umwandlung alter Bet riebe ist, sind. Aber ich hoffe, daß Sie sich dann auch entspan-
so sehr brauchen wir vor allem auch die Gründung nen und zustimmen. Das ist mein Ziel.
neuer Unternehmen in den neuen Bundesländern. (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der
Die durch viele Umfragen belegte Bereitschaft, in den CDU/CSU und der FDP — Frau Dr. Däubler-
neuen Bundesländern zu investieren, darf nicht durch Gmelin [SPD]: Es kommt darauf an, was Sie
unnötige Verzögerungen bei der Bereitstellung einer machen! — Dr. Vogel [SPD]: Bei der
wirtschaftsnahen Infrastruktur gebremst werden. Für Bahn?)
das Zusammenwachsen Deutschlands sind reibungs-
lose Kommunikationsmöglichkeiten und leistungsfä- Die vorgesehene Strukturreform der Bahn ermög-
hige Transportwege unerläßlich. Mit hohem Mittel- licht ihr künftig eine stärkere unternehmerische
einsatz werden gegenwärtig die größten Engpässe Orientierung und schafft die Voraussetzung für ein
beseitigt, aber wir stehen besonders im Bereich der einheitliches Eisenbahnwesen in Deutschland. Die
Infrastruktur vor Aufgaben, die noch über Jahre hin- Trennung von Fahrweg und Bet rieb wird geprüft.
aus große Anstrengungen verlangen. Damit Großin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
vestitionen gerade auch im Verkehrsbereich schneller der FDP)
als bisher durchgeführt werden können, wollen wir
alle rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um zeit- Die unabhängige Regierungskommission Bahn erar-
raubende Planungsverfahren nachhaltig zu verkür- beitet hierzu praktische Vorschläge. Ich hoffe, daß wir
zen. Die Vorarbeiten sind angelaufen, und ich bitte sie Mitte des Jahres in der Öffentlichkeit zur Diskus-
Sie alle, meine Damen und Herren Kollegen, sehr sion stellen können.
herzlich, in den zuständigen Ausschüssen diese Vor- Schwerpunkt der Investitionen in den kommenden
schläge zu begutachten und möglichst schnell zu ver- Jahren ist ebenso der forcierte Aufbau einer moder-
abschieden. Es geht um eine für die zukünftige Ent- nen Infrastruktur bei Post und Telekommunikation
wicklung entscheidende Frage. in den neuen Bundesländern. Binnen sechs Jahren
wird die Deutsche Bundespost dort mehr als 60 Milli-
Gleichzeitig müssen wir die Prioritäten bei den öf- arden DM investieren. Alle Sofortmaßnahmen sind
fentlichen Investitionen für ganz Deutschland neu be- darauf gerichtet, daß sich die Telefonverbindungen
stimmen, damit — ich sage es noch einmal — verstärkt für Bürger und Wirtschaft bis etwa 1992 einigermaßen
Mittel in die neuen Bundesländer fließen. Um so rasch normalisieren.
wie möglich ein höheres Investitionsvolumen für In-
frastrukturprojekte zu erreichen, müssen Bund, Län- Dazu bedarf es auch hier zusätzlicher privater In-
der und Gemeinden zusätzliche Finanzierungsquel- itiativen, etwa durch den Betrieb von Mobil- und Sa-
len auch durch den verstärkten Einsatz privaten Kapi- tellitennetzen.
tals erschließen. Die Qualität der Bundesrepublik als Standort für
Unternehmen und Investoren ist von dem hohen
Meine Damen und Herren, gerade im Verkehrsbe- Stand unserer Forschung und Wissenschaft geprägt.
reich stehen wir vor wichtigen Entscheidungen dieser Mit einem Anteil von 2,9 % am Bruttosozialprodukt
Legislaturperiode. In den 40 Jahren der Teilung wur- nehmen wir bei den Aufwendungen für Forschung
den die Verkehrswege vor allem in Nord-Süd-Rich- und Entwicklung weltweit einen Spitzenplatz ein.
tung ausgebaut. Es gilt jetzt, das Verkehrsnetz auch in Dies muß so bleiben.
West-Ost-Richtung zu entwickeln und zu verbessern.
Dies wollen wir im ersten gesamtdeutschen Verkehrs- Die wissenschaftlichen Verbindungen in der Euro-
wegeplan zum Ausdruck bringen. päischen Gemeinschaft und mit den USA wollen wir
ausbauen, die Zusammenarbeit mit den Staaten Mit-
Bedarfsgerechte und zugleich umweltverträgliche tel-, Ost- und Südosteuropas intensivieren.
Verkehrssysteme gewinnen zunehmend an Bedeu-
In den neuen Bundesländern werden wir eine lei-
tung.
stungsfähige Forschung aufbauen und Institute der
(Lachen bei Abgeordneten der SPD) ehemaligen Akademie der Wissenschaften in eine ge-
samtdeutsche Forschungslandschaft überführen.
Das betrifft in besonderer Weise die Eisenbahn als
(Hört! Hört! bei der PDS/Linke Liste)
den Verkehrsträger der Zukunft.
Wichtige Schwerpunkte sehen wir für die kommen-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den Jahre in der Weltraum-, der Energie- und der Kli-
maforschung.
Nur durch den verstärkten Ausbau der Bahn werden
wir den Verkehrsinfarkt abwenden und unsere Um- Eine wettbewerbsfähige Wirtschaft ist auf eine lei-
welt besser schützen können. stungsfähige Energieversorgung angewiesen. Vor
dem Hintergrund der Gefahren für Erdatmosphäre
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie und Klima richten sich zu Recht hohe Erwartungen an
bei Abgeordneten der SPD und des Bündnis- eine gesamtdeutsche Energiepolitik, die zugleich die
ses 90/GRÜNE) Ziele des europäischen Binnenmarktes berücksich-
tigt.
— Ich bin ja schon ganz dankbar, daß wir wenigstens
bei einem Thema Ihren Beifall finden. Sparsamkeit und Umweltverträglichkeit sind eben-
so wie Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit -
(Dr. Struck [SPD]: Abwarten, Herr Bundes Eckpunkte des energiepolitischen Gesamtkonzepts,
kanzler! — Weitere Zurufe von der SPD) das sobald wie möglich vorgelegt wird. Für die Bun-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

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desregierung steht dabei fest: Die heimische Kohle dert. Es geht um Arbeitsplätze in Unternehmen, die
muß zentraler Bestandteil dieses Konzepts sein. Stein- sich erstmals auf dem Weltmarkt behaupten müssen;
kohle und Braunkohle müssen auch im vereinten denn nur das ist eine solide Grundlage für steigende
Deutschland zu einer sicheren Energieversorgung Löhne und für sichere Renten über den Tag hinaus. Es
beitragen, allerdings auf einem niedrigeren Niveau geht für Millionen Menschen in den neuen Bundes-
als bisher. ländern vor allem um ihre ganz persönlichen Zu-
Der Einsatz heimischer Kohle bei der Verstromung kunftsperspektiven. Um so dringlicher ist es, daß jetzt
bleibt mit der Nutzung der Kernenergie verknüpft. alle Anstrengungen darauf gerichtet werden, dort
Umweltverträglichkeit, Vorsorgungssicherheit und eine breite Investitionswelle zu unterstützen, die al-
Wirtschaftlichkeit der Energieerzeugung sind ohne lein rasch für neue Arbeitsplätze und höhere Einkom-
einen substantiellen Beitrag der Kernenergie auf ab- men sorgen kann.
sehbare Zeit nicht denkbar. Nur im sozialen Dialog aller lassen sich Brücken
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bauen zwischen den verständlichen Wünschen der
der FDP) Beschäftigten in den neuen Bundesländern nach
rasch steigenden Einkommen und der begrenzten
Allerdings gibt es für uns eine klare Priorität: An dem Leistungsfähigkeit der Unternehmen, die einen
hohen Sicherheitsstandard unserer Kernkraftwerke schwierigen Strukturwandel durchmachen.
kann und wird es keine Abstriche geben. Sicherheit
geht vor Wirtschaftlichkeit. Das gilt selbstverständlich Die Tarifpartner tragen dabei eine erhebliche Mit-
auch für die Anlagen in den neuen Bundesländern. verantwortung. Ich respektiere selbstverständlich die
Tarifautonomie, aber ich appelliere eindringlich an
Die Verhandlungen mit der EG-Kommission über alle Beteiligten, bei den kommenden Lohnabschlüs-
die Steinkohleverstromung bis 1995 werden auf der sen in den westlichen Bundesländern stets auch die
Basis der im August 1989 beschlossenen Verstro- Rückwirkungen auf die Einkommensunterschiede zu
mungsmenge von 40,9 Millionen t pro Jahr geführt. den neuen Bundesländern zu beachten. In dieser Si-
Für die Zeit ab 1996 geht es darum, frühzeitig und tuation darf es nicht zu einer falschen Verteilung der
unter Einbeziehung aller Beteiligten zu einer verläßli- knappen Mittel kommen. Das würde auch und gerade
chen und zukunftsorientierten Anschlußregelung zu den Ausgleich zwischen alten und neuen Ländern
kommen. gefährden, also ein Ziel, das wir uns doch gemeinsam
Bei der weiteren Nutzung der Braunkohle in den gesetzt haben.
neuen Bundesländern sind alle Rationalisierungs-
Gefordert sind hier neue Lösungen. Es lohnt sich,
chancen zu nutzen. Ich denke, wir sind uns einig, daß
Modelle einer stärkeren Erfolgsbeteiligung und der
dabei eine höhere Umweltverträglichkeit Vorausset-
Vermögensbildung zu prüfen, die die Wirtschaftlich-
zung ist. Gebotene Strukturanpassungen werden wir
keit von Unternehmen stärken und zugleich attraktive
selbstverständlich auch künftig strukturpolitisch be-
Einkommensperspektiven für die Beschäftigten bie-
gleiten und sozial flankieren. ten.
Das Ruhrgebiet als größte Kohleregion ist ein sicht-
bares Beispiel für wirtschaftlich, sozial und regional Es muß unser gemeinsames Ziel sein, einen sozialen
erfolgreichen Strukturwandel. Dialog zu führen, der in einen Solidarpakt von Tarif-
partnern und allen wichtigen gesellschaftlichen
(Zurufe von der SPD) Gruppen unseres Landes einmünden könnte. An-
— Meine Damen und Herren, selbst in Düsseldorf knüpfend an die erfolgreiche Lehrstelleninitiative zu
hören Sie, daß dieser Erfolg das Ergebnis eines ver- Beginn meiner Regierungszeit ist auch hier eine
nünftigen Miteinanders war, nicht zuletzt das Ergeb- große, gem einsame Anstrengung notwendig. Ich
nis der gemeinsamen Arbeit in den Ruhrgebietskon- werde bald zu solchen Gesprächen einladen.
ferenzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zentrales Element vorausschauender Politik muß in
Ich glaube, es ist klug, nach diesen positiven Erfah- der gegenwärtigen Situation ein rascher Ausbau der
rungen im Ruhrgebiet auch in anderen Regionen beruflichen Qualifizierung der Arbeitnehmer sein.
— das gilt ebenso für die neuen Bundesländer — in Ich darf hier Unternehmer und Tarifpartner auffor-
ähnlicher Weise vorzugehen. dern, sich stärker zu engagieren; aber ebenso appel-
liere ich an die Arbeitnehmer, selbst jede Gelegenheit
Der Aufholprozeß in den neuen Bundesländern er- zur beruflichen Weiterbildung zu ergreifen. Qualifi-
fordert Geduld und ein hohes Maß an praktischer Soli- zierung ist — dies gilt vor allem auch für die Arbeit-
darität. Es ist aber nicht nur die Solidarität des Staates nehmer in den neuen Bundesländern — der beste
gefordert, sondern auch die des einzelnen. Eine wich- Weg zu einem sicheren Arbeitsplatz und damit zu
tige Säule bei dieser Entwicklung sind dabei die Tarif- einem steigenden Einkommen.
partner — die Gewerkschaften und die Arbeitgeber-
verbände. In entscheidenden Phasen der Geschichte (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
der Bundesrepublik haben sie sich von großem Ver-
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der
antwortungsbewußtsein für das Ganze leiten lassen.
Bund beteiligt sich maßgeblich am Aufbau von Wei-
Denken Sie insbesondere an die Jahre des Wiederauf-
baus. terbildungseinrichtungen. Für Kurzarbeit und Ar-
beitsbeschaffungsmaßnahmen gelten in den neuen -
Heute befinden wir uns erneut an einer Schwelle, Ländern besondere Bedingungen die wir über die
die in besonderem Maße Klugheit und Weitsicht erfor Jahresmitte hinaus verlängern. Der Bezug von Kurz-
76 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

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arbeitergeld wird künftig stärker als bisher mit Maß- nungen macht den Unterschied zwischen neuen und
nahmen der beruflichen Qualifizierung gekoppelt. alten Bundesländern, zwischen sozialistischer Plan-
Betriebe, Gemeinden, Kirchen und freie Träger soll- wirtschaft und Sozialer Marktwirtschaft, augenfälli-
ten die bei weitem nicht ausgeschöpften Möglichkei- ger als jede abstrakte Zahl.
ten gerade bei der Arbeitsbeschaffung nutzen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Meine Damen und Herren, im Unterschied zu den
Privates Wohneigentum muß deswegen in den
neuen Bundesländern ist die Lage im bisherigen Bun-
desgebiet von Rekordbeschäftigung einerseits und neuen Bundesländern so schnell wie möglich attraktiv
Rückgang der Arbeitslosigkeit andererseits gekenn- werden. Dazu beitragen soll der Verkauf bisher
zeichnet. Kurzarbeit und Jugendarbeitslosigkeit sind staatseigener Wohnungen vorrangig an Mieter.
hier nahezu bedeutungslos geworden. Die Arbeits- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und
marktpolitik werden wir deshalb noch stärker auf der FDP sowie des Bündnisses 90/Grüne)
benachteiligte Gruppen ausrichten. Für Mütter, die
nach einer Familienphase erneut einen Arbeitsplatz In ganz Deutschland bauen wir die steuerliche Förde-
anstreben, werden wir die Rückkehr in den Beruf rung des Wohneigentums und das Baukindergeld
durch verbesserte Qualifizierungshilfen erleichtern. rückwirkend ab Anfang 1991 aus. Dies erleichert es
den Familien mit Kindern, selbst Häuser oder Woh-
Auch im Bereich der sozialen Sicherung erstreben nungen zu erwerben.
wir in ganz Deutschland einheitliche Lebensverhält-
nisse. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die Zur sozialen Absicherung des Wohnens gehören
Reform der Alterssicherung in den neuen Bundeslän- sozialer Wohnungsbau, Wohngeld und soziales Miet-
dern zum 1. Januar 1992. Damit übertragen wir das in recht. Wir wollen dafür sorgen, daß die Fehlbele-
breitem Konsens verabschiedete Rentenreformwerk gungsabgabe bundesweit erhoben wird. Auch so kön-
auch auf die neuen Bundesländer. Wir stellen damit nen wir eine wirksamere Nutzung des Bestands miet-
auch dort die Weichen für eine dauerhafte Sicherung günstiger Wohnungen erreichen.
der Altersversorgung. Genauso werden wir dafür sor- Den Schutz von Mietern vor übermäßigen Mietstei-
gen, daß die Renten in den neuen Bundesländern zeit- gerungen werden wir verstärken. Die Mieten in den
nah an die Lohnentwicklung angepaßt werden und in neuen Bundesländern wollen wir schrittweise und so-
den nächsten Jahren schrittweise das Niveau im bis- zial verträglich anpassen. Notwendige Erhöhungen
herigen Bundesgebiet erreichen. werden an der dortigen Einkommensentwicklung
Meine Damen und Herren, mit der Gesundheitsre- orientiert. Nicht zuletzt mit speziellen Wohngeldrege-
form haben wir die Grundlagen für die finanzielle Sta- lungen stellen wir sicher, daß niemand überfordert
bilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung ge- wird.
schaffen. Nichts zeigt den Erfolg dieser Reform deut- Für ein ausreichendes Wohnungsangebot ist das
licher als die Beitragssenkungen von durchschnittlich Mitwirken von Ländern, Städten und Gemeinden un-
0,7 Prozentpunkten. erläßlich. Sie sind aufgefordert, zusätzliches Bauland
bereitzustellen und die notwendigen Planungs- und
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
Genehmigungsverfahren zügig abzuwickeln.
Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)
Der Bund wird durch Truppenabbau freiwerdende
Darüber hinaus ermöglicht die Gesundheitsreform zu-
Grundstücke kostengüngstig zur Verfügung stellen.
gleich eine weiterhin hochwertige medizinische Ver-
sorgung und den Einstieg in die finanzielle Sicherung (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
der ambulanten Pflege. Wir werden das Gesundheits neten der SPD)
Reformgesetz weiter zügig umsetzen und durch eine
Wir wollen dies insbesondere für den sozialen und
Reform der Organisations- und Finanzierungsstruktu-
studentischen Wohnungsbau tun.
ren der gesetzlichen Krankenversicherung ergän-
zen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu
den größten Herausforderungen der 90er Jahre gehört
Für das Gesundheitswesen in den neuen Ländern
der Schutz von Natur und Umwelt. Nur wenn wir den
streben wir so rasch wie möglich ein vergleichbar
Frieden mit der Schöpfung wiederherstellen, wird un-
hohes Niveau in der Versorgung der Kranken und
sere Heimat lebenswert bleiben und unversehrt auf
beim Gesundheitsschutz an.
künftige Generationen übergehen.
(Dr. Modrow [PDS/Linke Liste]: Aber erst Die weltweite Bedrohung des Klimas und der Ozon-
muß es „abgewickelt" sein!?) schicht verlangt ein entschlossenes Handeln. Im Mit-
Im Vordergrund stehen die Förderung freiberuflicher telpunkt steht dabei eine nachhaltige Reduktion der
Tätigkeiten von Ärzten, Zahnärzten und Apothekern CO2-Emissionen. Die Bundesregierung hat bereits im
sowie natürlich die Verbesserung der stationären Ver- November des vergangenen Jahres eine Verringe-
sorgung. Für eine Übergangszeit werden die Polikli- rung um 25 bis 30 % bis zum Jahr 2005 als Ziel be-
niken und Ambulatorien einen wichtigen Beitrag zur schlossen. Wir haben damit auch international Maß-
gesundheitlichen Versorgung der Bürger leisten müs- stäbe gesetzt.
sen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es marktwirt-
Meine Damen und Herren, zusätzliche Anstrengun- schaftlicher Anreize zur rationelleren Energienutzung
gen mit Schwerpunkt in den neuen Bundesländern und der verstärkten Forschung im Bereich erneuerba-
-
sind für die gesamte Städtebauförderung erforderlich. rer Energien. Den CO2-Ausstoß werden wir in Abhän-
Der Zustand von Städten, Dörfern, Häusern und Woh- gigkeit von der Restverschmutzung mit einer CO2-
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 77

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Abgabe belasten. Das dadurch erzielte Aufkommen samen Ergebnis kommen — , den Umweltschutz als
muß für den Klimaschutz verwendet werden. Staatsziel im Grundgesetz zu verankern.
Moderne Umweltpolitik heißt für uns: beim Verur- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
sacher ansetzen, ihn für entstehende Schäden heran- SPD sowie beim Bündnis 90/GRÜNE)
ziehen, um so das Bewußtsein für die Kosten umwelt- Längerfristig wollen wir überdies das vielfältige
schädigenden Verhaltens zu schärfen. Eine gesunde Umweltrecht in einem eigenen Umweltgesetzbuch
Umwelt gibt es nicht zum „Nulltarif " ! zusammenführen.
Für umweltgerechtes Verhalten müssen wir auch Kern verantwortlicher Umweltpolitik ist und bleibt
jenseits unserer Grenzen werben. Wir streben so bald die Bewahrung von Natur und Schöpfung. Die Novel-
wie möglich eine europäische Konzeption für eine lierung des Bundesnaturschutzgesetzes muß hierfür
Klimaabgabe an. neue Perspektiven eröffnen. In Abstimmung mit den
Ländern — bei ihnen liegt, wie Sie wissen, die Zustän-
Durch Umweltvorsorge und eigenverantwortliches digkeit — müssen dabei ökologische Leistungen, ins-
Handeln der Bürger wollen wir Umweltgefahren im besondere auch der Land- und Forstwirtschaft, hono-
eigenen Land vermeiden und zugleich unsere techno- riert werden.
logische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit noch
stärker als bisher in den Dienst der Natur und der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Umwelt stellen. Die Bedeutung der Landwirtschaft für unser Land
geht weit über den Anteil am Bruttosozialprodukt hin-
Schon jetzt nimmt die Bundesrepublik Deutschland aus. Sie liefert einen unverzichtbaren Beitrag zur kul-
bei vielen Umwelttechniken eine internationale Spit- turellen Vielfalt des Landes und zur wirtschaftlichen
zenposition ein. Hieran wollen wir bewußt anknüp- Entwicklung des ländlichen Raumes. Eine vielseitige
fen. Das gilt für die Umwelt- und Klimaforschung Struktur wird dieser Gesamtaufgabe der Landwirt-
ebenso wie für die praktischen Fragen der Umweltpo- schaft am ehesten gerecht.
litik.
Auch in den neuen Bundesländern müssen deshalb
Gerade im alltäglichen Umgang müssen wir in Un- eine leistungsfähige Landwirtschaft und konkurrenz-
ternehmen wie im privaten Bereich das notwendige fähige Handels- und Verarbeitungsbetriebe aufge-
Verantwortungsbewußtsein für den Schutz von Natur baut werden. Alte sozialistische Strukturen müssen
und Umwelt immer neu wecken. Dazu gehört, die aufgebrochen werden. Wir werden gemeinsam mit
umweltschonende Verwertung und Entsorgung von den Bundesländern wirksame Hilfen zur Neugrün-
Produkten bei Wirtschaft und Verbrauchern einzufor- dung von selbständigen landwirtschaftlichen Betrie-
dern. ben sowie zur Umstrukturierung und Entflechtung
von früheren Produktionsgenossenschaften anbie-
Abfallvermeidung und Abfallverwertung — etwa ten.
durch Mehrwegsysteme und Pfandregelungen —
müssen selbstverständlich werden. Dem entspricht Wir wollen die europäische Agrarpolitik so weiter-
die Bundesregierung mit der Novellierung des Abfall- entwickeln, daß sie eine erfolgreiche Marktentlastung
gesetzes, die auch eine Deponieabgabe auf Sonderab- ermöglicht und stärker die Belange des Natur- und
fälle einschließt. Umweltschutzes berücksichtigt. Wir messen auch
dem Anbau nachwachsender Rohstoffe große Bedeu-
In den neuen Bundesländern haben die früheren tung bei, und zwar sowohl unter umweltpolitischen
Machthaber auch die Umwelt in einem schlimmen Gesichtspunkten als auch aus Gründen der Marktent-
Zustand hinterlassen. Kurzfristig müssen wir die un- lastung und Einkommensstabilisierung.
mittelbaren Gefahren beseitigen, die vor allem auch
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
von Altlasten ausgehen. Damit lassen sich die schwe-
ren Umweltschäden jedoch nur zu einem Teil behe- Die Bundesregierung wird sich nachdrücklich dafür
ben. einsetzen, daß zur Sicherung der Einkommen die bis-
herigen Ausgleichsmaßnahmen in ihrer Größenord-
Um die gravierenden Umweltbelastungen zu be- nung erhalten und in GATT- bzw. EG-konformer
wältigen — etwa im Braunkohletagebau der Lausitz Weise fortgeführt werden können.
oder im Uranbergbau im Vogtland — , sind Beharrlich-
keit und hoher Aufwand notwendig. Gleiches gilt für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
die Altlasten der chemischen Indust rie und für die Einkommensminderungen, die sich in Folge von
Sanierung verseuchter Böden an Industriestandorten GATT-Beschlüssen ergeben, müssen ausgeglichen
und in — hier kann man das volle Ausmaß der Schä- werden.
digung noch gar nicht überblicken — Militäranla-
gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir erwarten von der EG, das zugesagte Entlastungs-
Wir sind daher entschlossen, eine nationale Solida- programm. Es ist uns aber klar, daß dieses Programm
ritätsaktion „ökologischer Aufbau" ins Leben zu ru- auch aus nationalen Mitteln in einer angemessenen
fen. Daran sollen Wirtschaft, Bund und Länder koope- Weise unterstützt werden muß.
rativ mitwirken. Denn wir können diese gewaltige
Herausforderung nur gemeinsam bewältigen. Vor allem zur stärkeren Berücksichtigung der ein-
zelbetrieblichen Leistungsfähigkeit und zur finanziel-
Darüber hinaus halten wir daran fest — ich hoffe, len Stabilisierung des Systems, aber auch zur besse- -
daß wir in dieser Legislaturperiode zu einem gemein ren sozialen Sicherung der Bäuerinnen werden wir
78 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

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eine Reform der agrarsozialen Sicherung durchfüh- haben Partnergemeinden gefunden. Sie sind auf diese
ren. Unterstützung dringend angewiesen.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
der FDP) bei Abgeordneten der SPD)
Wir wollen den ländlichen Raum, der über Jahrhun-
derte von bäuerlicher Tradition geprägt ist, wirtschaft- Nicht im Provinzialismus, sondern in einem neuen
lich und ökologisch stärken. Wir brauchen in der Bun- schöpferischen Gemeinsinn liegt auch die Zukunft
desrepublik Deutschland auch in Zukunft den bäuer- unserer föderalen Ordnung.
lichen Familienbetrieb. Er ist Teil unseres kulturellen Der Wille zur Gemeinsamkeit muß sich z. B. auf
Erbes. dem Gebiet der Bildungspolitik jetzt in einer beson-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) deren Weise bewähren. Hier sind die Bundesländer
aufgerufen, die anstehenden Fragen in diesem Sinne
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die entschieden anzupacken. Ich denke etwa an die Ver-
Menschen suchen Geborgenheit in einer vertrauten kürzung der Ausbildungszeiten an Schulen und
Lebensumwelt. Deshalb hat die kommunale Selbst- Hochschulen. Das ist nach meiner festen Überzeu-
verwaltung, die auf Eigenverantwortung und Bürger- gung ohne einen Abbau an Qualität möglich.
sinn beruht, wegen ihrer Geschichte und Tradition für
unser Land eine so große Bedeutung. Was die kleinere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Einheit in eigener Verantwortung wirksam entschei-
den kann, soll der Staat nicht an sich ziehen. Es geht um die Zukunftschancen der jungen Genera-
tion: Unsere Hochschulabsolventen werden schon
Wie wichtig dieser Grundsatz ist, zeigt sich jetzt bald im großen europäischen Binnenmarkt gefordert
auch in den neuen Bundesländern: Die Menschen sein, um mit ihren viel früher ihr Studium abschließen-
dort haben sich nie damit abgefunden, daß eine zen- den Kollegen aus anderen Ländern mithalten zu kön-
tralistische Bürokratie geschichtlich gewachsene nen. Ich finde, jetzt ist eine gute Gelegenheit, diese
Strukturen zerschlug. Wer immer noch an die Überle- lange währende Diskussion endlich positiv abzu-
genheit der totalen Planung glaubt, der übersieht die schließen.
zutiefst humane Bedeutung von Institutionen, die den
Menschen Halt, Identität, das Gefühl der Zugehörig- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
keit — kurz: die Erfahrung von Heimat — bieten.
Unser besonderes Augenmerk wird sich in den
„Heimat" ist eben kein altmodischer Begriff und
kommenden Jahren auf eine durchgreifende Erneue-
schon gar kein Plädoyer für geistige Enge. Ohne das
rung im Bildungswesen der neuen Länder richten
Bewußtsein der eigenen Herkunft gibt es keine Zu-
müssen. Die Bundesregierung wird hierbei ihren Bei-
kunft. Wer keine Wurzeln hat, der ist auch zur Welt-
trag leisten. Für Hochschulen und Wissenschaft wer-
offenheit nicht fähig.
den wir in Kürze ein Förderungsprogramm vorlegen,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) das ich mit den Regierungschefs der Bundesländer
Ich hoffe, daß der überall trotz größter Schwierigkei- vereinbart habe.
ten zu beobachtende Aufbruch gerade im kommuna- Meine Damen und Herren, zu dem Schönsten, was
len Bereich in den neuen Bundesländern rasche Er- die neuen Bundesländer in das vereinte Deutschland
folge hat. Zur Förderung von Eigenverantwortung eingebracht haben, gehört das vielfältige historische
und Bürgersinn gilt es jetzt auch in den neuen Bun- Erbe ihrer traditionsreichen Landschaften — mit ein-
desländern, den Aufbau eines vielfältigen und unab- zigartigen Zeugnissen unserer Geschichte und Kultur.
hängigen Vereins- und Verbandslebens zu unterstüt- Wir freuen uns, daß sie nun wieder für alle zugänglich
zen. Selbstverantwortung und ehrenamtliche Mitar- geworden sind.
beit müssen dabei die tragenden Prinzipien bilden.
Viele leisten dabei schon jetzt vorbildliche Arbeit. Wir Seit vielen Jahrhunderten sind die in der Lausitz
haben dafür Dank zu sagen. lebenden slawischen Landsleute, die Sorben, in
Wir alle wissen: Die Städte, Gemeinden und Kreise Deutschland zu Hause. Die Bewahrung und Pflege
in den neuen Bundesländern befinden sich in einer ihrer Kultur und ihrer Tradition sind zu gewährlei-
schwierigen Phase des Neubeginns. Sie brauchen sten.
eine Unterstützung, die weit über das rein Finanzielle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
hinausgeht. Deshalb darf ich an dieser Stelle auch ein Abg. Frau Dr. Däubler-Gemelin [SPD]: Sehr
Wort des Dankes sagen an die vielen Städte und Ge- gut!)
meinden in den alten Bundesländern, die durch ihre
Partnerschaften direkt und ganz unbürokratisch ge- Meine Damen und Herren, die Öffnung unserer öst-
holfen haben und helfen. lichen Nachbarländer für Europa und ihr Bekenntnis
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der zur gesamteuropäischen Kultur schaffen eine neue,
FDP) vielversprechende Grundlage für ein wesentliches
Anliegen: Dort haben Deutsche in vielen Jahrhunder-
Zugleich würde ich es begrüßen — und ich hoffe, ten ein unverlierbares kulturelles und geschichtliches
daß viele dabei mitwirken — , wenn noch mehr Städte Erbe aufgebaut. Dies wollen wir gemeinsam mit unse-
und Gemeinden in den bisherigen Bundesländern ren Nachbarn erforschen, pflegen und erhalten.
weitere Partnerschaften begründeten. Denn bei wei-
tem nicht alle Gemeinden in der ehemaligen DDR (Zuruf von der PDS/Linke Liste)
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 79

Bundeskanzler Dr. Kohl


— Es ist schon wirklich unerhört, welche Zwischen- derspruch, Anpassung und innere Emigration, Selbst-
rufe Sie hier bringen. Daß aus Ihrer Ecke der Ruf tönt: verleugnung aus Angst vor Gefährdung der eigenen
„Heim ins Reich! ", das fällt auf Sie zurück. Zukunft, der Zukunft der Familie und im Beruf, dies
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie alles waren Verhaltensweisen und Erfahrungen unter
bei Abgeordneten der SPD — Zuruf des Abg. dem SED-Regime. Jene Deutschen, die das Glück hat-
Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]) ten, in dieser Zeit auf der Sonnenseite unseres Landes
und unserer Geschichte in Freiheit in der Bundesre-
publik leben zu dürfen, haben diese bitteren Erfah-
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Briefs, ich bitte Sie, rungen nicht machen müssen. Sie sollten sich vor
sich ruhig zu verhalten, und erteile Ihnen einen Ord- Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit hüten.
nungsruf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) bei Abgeordneten der SPD)
Wir müssen gerade vor denjenigen Landsleuten höch-
Dr. Kohl, Bundeskanzler: Ich begrüße es, daß bei sten Respekt bezeugen, die ihren unbeugsamen Frei-
unseren Nachbarn Verständnis und Aufgeschlossen- heitswillen bekundeten und oft Schlimmes erdulden
heit dafür wachsen. mußten.
Stellung und Ansehen des vereinten Deutschlands (Weiß [Berlin] [Bündnis 90/GRÜNE]: Keinen
in der Welt hängen nicht nur von seinem politischen Fraktionsstatus für uns!)
Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft Wir müssen aber auch Verständnis dafür haben, daß
ab, sondern mindestens ebenso von seiner kulturellen manche in über vierzig Jahren Diktatur ohne große
Ausstrahlung. Hoffnung auf Veränderungen versuchten, im Privaten
Deutsche Sprache und Literatur haben durch die ihr Glück zu finden. Wir allen wissen, daß dies oft nur
Wiedervereinigung an Attraktivität gewonnen. unter Kompromissen möglich war.
Deutschunterricht ist heute weltweit stärker gefragt
als vor Jahren. Wir sollten diese große Chance ge- Die Diktatur der SED hat gerade auch in den Herzen
der Menschen Wunden geschlagen. Gezielt versuch-
meinsam nutzen und alles tun, um die auswärtige Kul-
turpolitik zu verstärken. ten die kommunistischen Machthaber, Menschen ge-
geneinander auszuspielen, Vertrauen zu zerstören
(Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. und Haß zu säen. Wir dürfen jetzt nicht zulassen, daß
Thierse [SPD]) noch im nachhinein die Saat der SED aufgeht.
Wir wollen dabei den Reichtum unserer Kultur in
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
einen schöpferischen Dialog mit unseren europäi-
bei Abgeordneten der SPD)
schen Nachbarn in Ost und West, in die transatlanti-
sche Partnerschaft und in den Nord-Süd-Dialog ein- Wir müssen unbeirrt den Weg des Rechtsstaates
bringen. gehen; auch wenn mancher aus seiner bitteren Erfah-
Unsere gemeinsame Kultur, Sprache und Ge- rung dies nicht sofort versteht. Denn nur im Rechts-
schichte waren in der Zeit der Teilung Deutschlands staat verbindet sich die Forderung nach Gerechtigkeit
eine feste Grundlage der fortbestehenden Einheit der mit dem Willen zum inneren Frieden.
Nation. Solange die Spaltung dauerte, war die Teil- Wer schwere Schuld auf sich geladen hat, der wird
habe an der einen deutschen Kultur vielleicht das die Konsequenzen dafür tragen müssen. Er muß zur
stärkste Band gemeinsamer Identität aller Deut- Rechenschaft gezogen werden. Um jedoch für unser
schen. Volk den inneren Frieden zu gewinnen, müssen wir
Es ist eine Aufgabe von nationaler Dimension, daß auch fähig sein, die Kraft zur Aussöhnung zu fin-
die Kulturinstitutionen von europäischem Rang auf den.
dem Gebiet der früheren DDR ihre Bedeutung für (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
Deutschland und Europa bewahren. Die Bundesregie- bei Abgeordneten der SPD)
rung sorgt, unbeschadet — ich sage dies vorsorg-
lich — der grundsätzlichen Zuständigkeit der Länder, Mir ist sehr wohl bewußt — meine Damen und Her-
durch eine Übergangsfinanzierung dafür, daß diese ren, lassen Sie mich das als einer, der nicht in dieser
Einrichtungen fortbestehen können. Sie sieht in dieser Lage war, der nicht in der Versuchung war und der
Übergangshilfe auch einen Beitrag zu einer funktio- sich in diesem Felde nicht bewähren mußte, sehr per-
nierenden bundesstaatlichen Ordnung. sönlich formulieren — , wie schwierig es ist, vor allem
für viele, die gelitten haben, dies so anzunehmen.
(Zustimmung bei der CDU/CSU) Aber wir alle sollten die Herausforderung annehmen
Oder um es anders auszudrücken: Uns geht es nicht und hilfreich sein. In einem vereinten Deutschland
um neue Kompetenzen, sondern es geht uns darum, müssen wir die Lasten gemeinsam tragen — auch
daß diese wichtigen Institutionen für Deutschland er- jene, die aus der Vergangenheit stammen. Wir wür-
halten werden. den sonst die Bar ri eren, die wir niedergerissen haben,
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie in unserem Denken neu aufrichten und befestigen.
bei Abgeordneten der SPD) Eine schwere Last der Vergangenheit stellen die
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, über Akten des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen
vier Jahrzehnte hinweg mußten die Deutschen in Ost DDR dar. Sie müssen politisch, historisch und juri- -
und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Be- stisch aufgearbeitet werden. Die individuellen Rechte
dingungen gestalten. Wohlverhalten und offener Wi der Betroffenen müssen gesichert, und der einzelne
80 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


muß vor unbefugter Verwendung seiner persönlichen und Verwaltung, gemeinsam mit rücksichtslosen Pro-
Daten geschützt werden. Die Bundesregierung geht fiteuren — auch aus den alten Bundesländern — Sand
davon aus — ich darf das in einer wirklich förmlichen ins Getriebe streuen.
Bitte hier aussprechen -- , daß die Bundestagsfraktio-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
nen schon bald den verabredeten Gesetzentwurf vor-
SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnis-
legen, der die Aufbewahrung, Nutzung und Siche-
ses 90/GRÜNE)
rung dieser Unterlagen regelt. Wir bieten dabei jede
Unterstützung an. Es ist für die Zukunft unseres Gemeinwesens von
größter Bedeutung, daß die Menschen in den neuen
Die Unrechtstaten, die Menschenrechtsverletzun- Bundesländern Vertrauen in den Staat und seine Or-
gen der SED-Diktatur können nicht ungeschehen ge- gane gewinnen. Wer durch seine Tätigkeit für das
macht werden. Die Opfer der kommunistischen Des- SED-Regime gravierend belastet ist, kann dem
poten haben jedoch Anspruch auf Rehabilitierung. Rechtsstaat eben nicht glaubwürdig dienen.
Deshalb müssen Urteile überprüft werden. Neben den
bestehenden Entschädigungsregelungen werden wir (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
— soweit dies möglich ist — für weiteren Ausgleich bei Abgeordneten der SPD)
sorgen. Der Staat kann seiner Verantwortung für die Bürger
An Eigentum und Vermögen ihrer Bürger hat sich nur mit einer leistungsfähigen, zukunftsorientierten
die DDR seit ihrer Entstehung 1949 schamlos vergan- öffentlichen Verwaltung und mit einer qualifizierten
gen. Grundsätzlich müssen die in den vergangenen Justiz gerecht werden. Gerade nach dem Jahr der
vierzig Jahren enteigneten Grundstücke und Betriebe deutschen Einheit möchte ich hier die besondere An-
jetzt den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben erkennung für die hervorragenden Leistungen des
werden. Allerdings — das füge ich hinzu — können öffentlichen Dienstes bekunden und zugleich unser
wir vierzig Jahre Verletzung des Eigentums nicht un- Bekenntnis zum Berufsbeamtentum bekräftigen.
geschehen machen. Ist die Rückgabe nicht möglich, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
so gibt es eine Entschädigung. Die Einzelheiten wird
ein Gesetz regeln. Für die Entwicklung in den neuen Bundesländern
ist von entscheidender Bedeutung, daß eine funk-
Meine Damen und Herren, wir stehen bei diesem tionsfähige, rechtsstaatlichen Anforderungen ent-
Thema vor einer schwierigen Güterabwägung: Einer- sprechende Verwaltung und eine unabhängige
seits gilt der Grundsatz, daß enteignete Grundstücke Rechtspflege zügig aufgebaut werden. Die Bundesre-
und Betriebe im Interesse der früheren Eigentümer gierung wird auch in Zukunft den neuen Bundeslän-
jetzt zurückgegeben werden. Andererseits müssen dern gemeinsam mit den Ländern der bisherigen Bun-
wir im Interesse des Gemeinwohls dafür sorgen, daß desrepublik beim Aufbau fachlich und personell hel-
Grundstücke für notwendige Investitionen rasch zur fen.
Verfügung stehen. Dies ist eine wesentliche Voraus-
setzung für die wirtschaftliche Entwicklung. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, um an die-
sem Punkt zu sagen: Es sind zwar Unterschiede im
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Engagement zu verzeichnen, aber insgesamt gesehen
neten der FDP) können wir dankbar feststellen, daß nach manchen
Wir werden die gesetzlichen und administrativen Anlaufschwierigkeiten die alten Bundesländer auf
Voraussetzungen weiter ausbauen, damit die Grund- diesen Gebieten erhebliche Hilfe leisten. Vor allem
stücksübertragungen zügig erfolgen können. die Landesregierungen und diejenigen, die vor Ort
diese Arbeit verrichten, verdienen unseren Dank.
Ich weiß — ich denke, jeder von uns weiß — , daß
der endgültige Verlust von Eigentum viele Menschen (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
hart trifft, denn es geht oft um mehr als um einen blo- SPD)
ßen Vermögensgegenstand. Dies gilt vor allem für Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zum
jene, die zwischen 1945 und 1949 auf besatzungs- inneren Frieden gehört, daß der Staat seine Bürger
rechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage wirksam vor Gefahren schützen kann. Eine der gro-
enteignet wurden. Für diese Betroffenen war eine an- ßen, zunehmenden Bedrohungen unserer Sicherheit
dere Lösung in den schwierigen Verhandlungen des stellt heute die organisierte Kriminalität dar, insbe-
vergangenen Jahres nicht zu erreichen. sondere die Rauschgiftkriminalität und der Terroris-
Der Fortbestand der Maßnahmen zwischen 1945 mus. Wir werden sie mit aller Entschiedenheit be-
und 1949 wurde von der Sowjetunion zu einer Bedin- kämpfen. Ich glaube, wir haben guten Grund, unseren
gung für die Wiedervereinigung gemacht. Ich sage Polizei- und Sicherheitsbeamten gerade in diesen Ta-
klar: Die Einheit Deutschlands durfte an dieser Frage gen und Wochen für ihren Einsatz zu danken.
nicht scheitern. Eine abschließende Entscheidung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
über etwaige Ausgleichsleistungen ist dem neu ge- bei Abgeordneten der SPD)
wählten Deutschen Bundestag ausdrücklich vorbe-
Zu den Entwicklungen, die wir mit großer Wach-
halten.
samkeit beobachten müssen, gehört das Aufkommen
Meine Damen und Herren, ein besonderes Problem Mafia-ähnlicher Organisationen. Wir werden uns
stellen in den neuen Bundesländern Versuche dar, die noch viel stärker als heute auch im europäischen Rah-
Vermögensrückgabe und eine am Gemeinwohl men mit dieser Herausforderung beschäftigen müs- -
orientierte Privatisierung zu hintertreiben. Wir wer- sen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß nationale
den nicht zulassen, daß alte Seilschaften in Wirtschaft Maßnahmen allein nicht mehr ausreichen. Ich hoffe
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 81
Bundeskanzler Dr. Kohl
deshalb sehr, daß es uns gelingt, schon sehr bald auf seelischen Halts helfen sie, die Hinterlassenschaft von
europäischer Ebene zu einer gemeinsamen Einrich- über 40 Jahren Diktatur zu überwinden.
tung zur Bekämpfung Mafia-ähnlicher Organisatio- Meine Damen und Herren, der Einsatz und die viel-
nen zu kommen. fältigen Leistungen der Kirchen und vieler engagier-
Die Bedrohung unserer Gesellschaft und die per- ter Christen im sozialen Bereich verdienen unsere
sönlichen und sozialen Folgen des Mißbrauchs von Anerkennung. Ich nenne und würdige hier auch aus-
Drogen haben sich verschärft. Wir begegnen dieser drücklich den Einsatz der Wohlfahrts- und Familien-
Herausforderung mit dem nationalen Rauschgiftbe- verbände.
kämpfungsplan und einem gesetzgeberischen Ge-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
samtkonzept. Wir wollen vor allem, daß der Zugriff auf
bei Abgeordneten der SPD)
illegal erzielte Gewinne verschärft wird. Ich sage noch
einmal: Mit nationalen Maßnahmen allein ist es nicht Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unter
getan. den Institutionen, die Halt geben, steht die Familie an
erster Stelle. Gerade in einer Zeit tiefgreifender Ver-
Neue Formen der Kriminalität erfordern neue Me-
änderungen gewinnt sie als Quelle menschlicher
thoden der Verbrechensbekämpfung. Rasterfahn-
Wärme und Geborgenheit an Bedeutung. Sie bleibt
dung, polizeiliche Beobachtung, Einsatz verdeckter
der wichtigste Ort für die persönliche Entwicklung
Ermittler und die Anwendung modernster technischer
und für die Vermittlung von Werten und Tugenden.
Mittel müssen auf eine verläßliche Rechtsgrundlage
Es war und bleibt das Ziel unserer Politik, die Familie
gestellt werden. Ich sage ganz klar: Der Datenschutz
zu stärken. Wir haben hier in den vergangenen Jahren
darf nicht zum Täterschutz werden.
eine grundlegende Neuorientierung erreicht, und wir
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord wollen diese Neuorientierung auch in den neuen Bun-
neten der FDP) desländern einleiten.
Meine Damen und Herren, das Recht sichert die Wir wollen die Familien noch stärker als bisher steu-
Freiheit. Es kann seine friedensstiftende Kraft nur ent- erlich entlasten; ihre Förderung durch Kindergeld
falten, wenn die Institutionen des Rechtsstaats ihren wollen wir ausbauen. An diesem dualen System des
Auftrag im Dienste der Bürger wirksam erfüllen. Familienlastenausgleichs halten wir fest.
Unser Rechtsstaat gründet auf dem Grundgesetz. Es (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
ist die beste Verfassung der deutschen Geschichte neten der FDP)
und hat sich in den vergangenen 40 Jahren hervorra-
Die Kinderfreibeträge werden wir schrittweise so er-
gend bewährt.
höhen, daß das Existenzminimum für Familien mit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Kindern nicht mehr besteuert wird. Das Kindergeld
Dies schließt nicht aus, daß, wie in der Vergangenheit, werden wir so ausgestalten, daß es nicht allein der
die eine oder andere Bestimmung den veränderten Herstellung von Steuergerechtigkeit dient, sondern
Verhältnissen angepaßt werden muß. Wir haben ja in darüber hinaus Familien um so stärker fördert, je nied-
den vergangenen Monaten in vielen Gesprächen be- riger ihr Einkommen und je höher die Kinderzahl
reits Verabredungen zum weiteren Vorgehen getrof- ist.
fen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung
Bundestag und Bundesrat — dies ist auch mein hat mit der Einführung von Erziehungsgeld und Er-
Wunsch und der Wunsch der Bundesregierung — soll- ziehungsurlaub und der Anerkennung von Erzie-
ten aus ihrer Mitte ein paritätisch zusammengesetztes hungszeiten im Rentenrecht neue Wege beschritten.
Gremium berufen, das darüber beraten soll, welche An diesem Kurs halten wir fest. Wir werden die Zah-
Verfassungsänderungen den gesetzgebenden Kör- lung von Erziehungsgeld zum 1. Januar 1993 um wei-
perschaften vorgeschlagen werden. Ich denke, das tere sechs Monate auf zwei Jahre verlängern. Der
gemeinsame Gremium aus Bundestag und Bundesrat Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie wird
sollte sich insbesondere mit den im Einigungsvertrag schon zum 1. Januar 1992 auf drei Jahre ausge-
genannten Grundgesetzänderungen befassen, aber dehnt.
auch — darüber wird zuwenig gesprochen — mit Än- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
derungen, die für die Verwirklichung der Europäi-
Ich appelliere an die Bundesländer, ihrer Verantwor-
schen Union Europas zweifellos notwendig werden.
tung für die Familien gerecht zu werden und, soweit
Der demokratische Rechtsstaat steckt den Rahmen das noch nicht geschehen ist, ein ergänzendes Lan-
für einen verantwortlichen Gebrauch der Freiheit. Si- deserziehungsgeld einzurichten.
cherheit, Geborgenheit und Orientierung aber erfährt
Wir wollen, daß sich jeder, ob Mann oder Frau, frei
der einzelne nicht allein und nicht in erster Linie
zwischen Familie und Beruf entscheiden oder beides
durch den Staat. Der Staat kann und darf sich dies
miteinander verbinden kann. Deshalb — und auch
auch niemals anmaßen. Gerade unsere Mitbürger in
mit Rücksicht auf alleinerziehende Väter oder Müt-
den neuen Bundesländern wissen dies nur zu ge-
ter — muß das Angebot von Kindertagesstätten und
nau.
anderen Formen der Kinderbetreuung ausgebaut
Vor allem auch die Kirchen und die Religionsge- werden.
meinschaften sind gefordert. Ihr Beitrag ist unver-
zichtbar. Dies ist nicht zuletzt während der friedlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) -
Revolution des Herbstes 1989 deutlich geworden. Die Bundesregierung setzt sich mit Nachdruck dafür
Durch die Vermittlung geistiger Orientierung und ein, im Kinder- und Jugendhilfegesetz einen Rechts-
82 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


anspruch auf einen Kindergartenplatz zu veran- samtdeutsche Lösung zu finden, die unserer Verfas-
kern. sung entspricht. Das für uns alle entscheidende Krite-
rium muß sein, wie wir das Leben ungeborener Kinder
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
besser schützen können. Zugleich muß es darum ge-
Lachen bei der SPD)
hen, wie schwangeren Frauen in Konfliktsituationen
— Meine Damen und Herren, ich verstehe auch hier wirkungsvoller geholfen werden kann.
Ihre Empörung nicht. Ich habe als Ministerpräsident
in Rheinland-Pfalz mit meinem Kollegen Heiner Geiß- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir
ler über diese Themen nicht nur gesprochen, sondern brauchen ein neues Miteinander, eine neue Partner-
auch gehandelt zu einem Zeitpunkt, in dem Sie noch schaft zwischen den Generationen. Wie in fast allen
gar nicht an diese Themen gedacht haben. europäischen Ländern gibt es auch in der Bundesre-
publik Deutschland immer mehr ältere Menschen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Schon heute leben in Deutschland rund 16 Millionen
Lachen bei der SPD und dem Bündnis 90/ Menschen, die über 60 Jahre alt sind, d. h. fast ge-
GRÜNE — Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: nauso viel wie unter Zwanzigjährige. Der Anteil der
Helmut ist eben doch der Größte!) Senioren an der Bevölkerung wird in den kommenden
Frauen verlangen zu Recht ihren gleichberechtig- Jahren noch weiter deutlich ansteigen.
ten Platz in der Gesellschaft, in der Arbeitswelt ebenso Unsere Politik wird deshalb in besonderem Maße
wie im öffentlichen Leben. Mit einem Gleichberechti- auch auf die Bedürfnisse der älteren Generation aus-
gungsgesetz werden wir dafür weitere Voraussetzun- gerichtet sein. Unsere Gesellschaft muß den Älteren
gen schaffen. ein Leben in Selbständigkeit und Sicherheit, ein Le-
(Beifall bei Abgeordneten der FDP) ben in Würde ermöglichen. Gerade diese Generation
hat die Last der Geschichte in diesem Jahrhundert in
Unsere Beschlüsse zum Arbeitsförderungsgesetz
besonderer Weise tragen müssen — vor allem jene,
und zur Arbeitszeitordnung werden die Chancen von die nach der NS-Diktatur und dem Krieg auch noch
Frauen auf dem Arbeitsmarkt weiter verbessern. unter kommunistischer Herrschaft leben mußten.
Meine Damen und Herren, unsere Anerkennung,
aber auch unsere politischen Anstrengungen gelten Unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, auf
ebenso den Frauen, die sich auf Grund ihrer persönli- die aktive Teilnahme der Älteren, auf ihre Lebenser-
chen Entscheidung vor allem der Familie und der Er- fahrung, ihr Wissen und ihre Weisheit zu verzichten.
ziehung der Kinder widmen. Ich wende mich ganz Dies ist ein Gewinn für uns alle — vor allem in
entschieden dagegen, daß immer wieder die Leistung menschlicher Hinsicht.
der Hausfrau und Mutter geringer geachtet wird als (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
die Tätigkeit im Erwerbsleben. bei Abgeordneten der SPD)
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Wir brauchen insgesamt eine Kultur des Helfens
bei Abgeordneten der SPD und der PDS/ und der Nachbarschaft, den Geist freiheitlichen und
Linke Liste) sozialen Bürgersinns. Alten wie Jungen, jedem einzel-
Was Hausfrauen und Mütter Tag für Tag in der Fami- nen eröffnet sich hier ein weites Feld sinnvoller sozia-
lie leisten, ist für uns alle von unschätzbarem Wert. ler Tätigkeit.
Gerade wenn wir auf die letzten 45 Jahre deutscher Hilfe und Zuwendung brauchen insbesondere jene,
Geschichte — in der früheren DDR ebenso wie in der die wegen Krankheit oder Behinderung auf Pflege
Bundesrepublik — zurückblicken, wissen wir um den angewiesen sind. Ihnen und ihren Angehörigen müs-
großartigen Einsatz von Generationen von Müttern. sen wir beistehen, auch indem wir die finanziellen
Wir können gar nicht dankbar genug dafür sein. Lasten tragbar machen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
(Zuruf von der SPD: Wie ist es mit der Pfle-
Wir müssen uns bewußt sein: Unser Auftrag zugun- geversicherung?)
sten einer familien und kinderfreundlichen Gesell-
-

schaft ist noch lange nicht erfüllt. — Warten Sie doch ab!
(Zuruf von der SPD: Das stimmt!) Die Bundesregierung wird deshalb bis zum Sommer
1992 dem Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf
Gerade Kinder brauchen in besonderem Maße zur Sicherung bei Pflegebedürftigkeit vorlegen.
Schutz, Hilfe und Zuwendung.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP —
(Frau Dr. Wegner [SPD]: Auch von Vätern!)
Dr. Struck [SPD]: Hätte aber auch eher sein
Das gilt vor allem für die schwächste Form menschli- können, Herr Bundeskanzler!)
chen Lebens: für das ungeborene Kind.
— Meine Damen und Herren, das Problem ist nicht
(Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord neu. Sie haben von 1969 bis 1982 Zeit gehabt, und Sie
neten der FDP) haben nichts getan.
Wir werden hier im Deutschen Bundestag darüber zu (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel
beraten haben — ich hoffe, die Diskussion wird in [SPD]: Und Sie haben von 1949 bis 1969 auch
einer dem Ernst des Themas angemessenen Weise nichts getan!)
geführt werden — , wie das unterschiedliche Recht in -
Deutschland möglichst bald durch eine einheitliche — Aber, Herr Kollege Vogel, Sie werden doch nicht
Neuregelung ersetzt werden kann. Es gilt, eine ge bestreiten, daß die demographische Situation der
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 83
Bundeskanzler Dr. Kohl
Bundesrepublik Deutschland zwischen 1949 und 1969 tensport, eine große gesellschaftliche wie gesundheit-
eine andere war als die zwischen 1969 und 1982. liche Aufgabe. Ich nehme gern die Gelegenheit wahr,
den Sportverbänden und vor allem denen, die im
(Dr. Vogel [SPD]: Die ging schon genau in
Ehrenamt dort tätig sind, unseren herzlichen Dank zu
die Richtung!)
sagen.
Die Daten waren damals bekannt. Sie haben nichts
getan. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
(Dr. Vogel [SPD]: Was habt ihr denn ge
tan?) Wir werden auch in Zukunft den Sportverbänden
ein verläßlicher Partner sein. Ich will namens der Bun-
Und Ihre Zwischenrufe sollen nur davon ablenken, desregierung erklären: Wir unterstützen nachdrück-
daß Sie auf diesem Gebiet versagt haben. lich die erklärte Absicht der Sportverbände, entschie-
(Beifall bei der CDU/CSU) den gegen Dopingpraktiken vorzugehen. Der Sport
muß menschenwürdig bleiben.
Da die Menschen schnell vergessen, will ich Sie,
auch im Blick auf Ihre Unruhe vorhin beim Thema (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Gesundheitsreform, doch daran erinnern, daß der
erste wichtige Schritt zur Hilfe im Bereich der Pflege Die Förderung des Spitzensports in den neuen
Bundesländern wollen wir erhalten und in das be-
mit der Gesundheitsreform gemacht worden ist.
währte Fördersystem der Bundesrepublik einfügen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Wir unterstützen die Bewerbung Berlins um die
Im übrigen, meine Damen und Herren — lassen Sie Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahre 2000.
mich das jetzt ungeachtet unseres kleinen Geplänkels
noch anmerken — , ist die Sicherung bei Pflegebe- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
dürftigkeit ein Thema, bei dem ich uns alle einladen SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke
möchte, den Versuch zu unternehmen, zu einem Kon- Liste)
sens zu kommen. — Meine Damen und Herren, ich stelle mit Genug-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — tuung fest, daß wenigstens das ein Punkt ist, wo ich
Conradi [SPD]: Da drüben! Reden Sie doch den Beifall des ganzen Hauses habe.
mal zur FDP, Herr Bundeskanzler!) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir
— Ich weiß nicht, warum Sie immer dazwischenrufen, werden alles daransetzen, um die Chancen junger
Sie haben noch gar nicht gehört, was ich sage. Menschen in ganz Deutschland weiter zu verbessern.
Im Westen Deutschlands hat die Zahl der jugendli-
(Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Bisher ha- chen Arbeitslosen den niedrigsten Stand seit 14 Jah-
ben Sie noch nichts gesagt!) ren erreicht. Ein vergleichbares Ergebnis muß uns
Wir haben ja auch bei dem schwierigen Thema der bald auch in den neuen Ländern gelingen. Ich habe
Rentenreform nach langen und schwierigen Debatten auch hier einen Dank abzustatten: Es waren Hand-
einen Konsens gefunden. Ich könnte mir vorstellen, werk und Industrie und ihre Kammern, die sehr früh
daß dies bei dem Thema Pflegebedürftigkeit, wo es damit begonnen haben, für die Aufnahme und Ausbil-
vor allem um die ältere Generation geht, ebenfalls dung der Lehrlinge zu sorgen.
sehr gut wäre. Lassen Sie uns das doch einmal versu-
chen, bevor wir jetzt erneut Mauern des Kalten Krie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ges im Parlament errichten. Wir wollen alles tun, daß dies so weiter geht.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Wir werden die Bereitschaft junger Leute fördern,
Dr. Struck [SPD]: Das geht aber auch an die sich für die Allgemeinheit einzusetzen und sich sozial
FDP, Herr Bundeskanzler!) zu engagieren. So werden wir in dieser Legislaturpe-
Meine Damen und Herren, die Integration von be- riode einen Gesetzentwurf über die freiwilligen so-
hinderten Mitmenschen in unserer Gesellschaft ist zialen Dienste einbringen, in dem auch ein Freiwilli-
eine ständige Herausforderung — nicht nur an die ges Ökologisches Jahr vorgesehen ist.
Politik. Sie geht uns alle an. Besonders wichtig ist es, Mehr als bei früheren Generationen beeinflussen
Vorurteile abzubauen und Verständnis zu schaffen. heute internationale Erfahrungen und Begegnungen
Die Eingliederung Behinderter in Beruf und Gesell- den Alltag der jungen Generation. Hierzu trägt vor
schaft ist um so erfolgreicher, je besser die Leistungen allem der Jugendaustausch bei. Das Deutsch-Franzö-
der medizinischen, der beruflichen und der sozialen sische Jugendwerk hat sich große Verdienste erwor-
Rehabilitation aufeinander abgestimmt sind. Wir wol- ben. Es soll nach unserer Meinung auch als Modell
len es den behinderten Menschen erleichtern, ihre dienen, wenn wir jetzt Begegnungen zwischen jun-
Rechte in Anspruch zu nehmen. Deshalb werden wir gen Deutschen und jungen Polen fördern. Die junge
in dieser Legislaturperiode das Rehabilitationsrecht Generation ist aufgerufen, Brücken zu schlagen und
und das Schwerbehindertenrecht in übersichtlicher Vorurteile abzubauen.
Form zusammenfassen und in das Sozialgesetzbuch Meine Damen und Herren, Deutschland ist unser
einordnen. Vaterland, Europa unsere Zukunft. Kern und Funda-
Meine Damen und Herren, unsere besondere Aner- ment der Einigung Europas bildet für uns die Euro- -
kennung, ja Bewunderung gilt den Behindertensport- päische Gemeinschaft, die wir bald zur Europäischen
lern. Für uns alle hat der Sport, insbesondere der Brei Union ausbauen wollen.
84 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


Auf dem Weg zum vereinten Europa müssen Frank- Zweitens. Unser Ziel ist das Europa ohne Grenzen.
reich und Deutschland weiterhin treibende Kraft Wir treten für weitere Fortschritte bei der Abschaffung
sein. der Grenzkontrollen ein und werden hierfür auch
unsere Präsidentschaft im Rahmen der Schengener
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Übereinkommen nutzen.
Die Freundschaft zwischen unseren beiden Völkern Der Wegfall der Grenzkontrollen bringt aber — ich
ist für uns Deutsche von existentieller Bedeutung. Die sagte es schon — viele neue Herausforderungen im
Entschlossenheit zu gemeinsamem Handeln haben Bereich der inneren Sicherheit. Wir brauchen in Eu-
Staatspräsident Mitterrand und ich in zwei grundle- ropa zwingend, und zwar bald, eine gemeinsame Poli-
genden Initiativen zur politischen Union unter Beweis tik in Kernbereichen des polizeilichen und justizpoli-
gestellt. tischen Handelns. Vordringlich sind insbesondere:
Von herausragender Bedeutung sind für uns die eine gemeinsame europäische Asyl- und Einwande-
freundschaftlichen Beziehungen zu Großbritannien, rungspolitik
auf dessen Beitrag zur Einigung Europas nicht ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
zichtet werden kann. der Abg. Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD])
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sowie eine europäische Zentrale — und zwar mit
Die Europäische Gemeinschaft hat in den vergan- Kompetenzen — zum Kampf gegen die Drogenmafia
genen Jahren neue Ausstrahlungskraft gewonnen. und gegen das organisierte internationale Verbre-
Auch die Europäische Kommission und vor allem ihr chen und den Terrorismus.
Präsident Jacques Delors haben einen ganz wesentli- (Beifall bei der CDU/CSU)
chen Anteil an dieser Entwicklung.
Wir werden im Rahmen der Regierungskonferenz
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der zur Politischen Union nachdrücklich — und, wie ich
SPD) hoffe, erfolgreich — dafür eintreten, diese Kernberei-
Marksteine auf diesem Weg sind: die Einheitliche che in die Gemeinschaftsverträge mit einzubezie-
Europäische Akte, die am 1. Juli 1987 in Kraft getre- hen.
ten ist, und die grundlegenden Reformen, die unter Um das Problem der Flüchtlings- und Wanderungs-
deutscher Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1988 ströme in und nach Europa zu lösen, müssen wir ge-
durchgesetzt wurden. meinsam die Ursachen in den Herkunftsländern be-
In der Zeit des großen Umbruchs der beiden letzten kämpfen. Dem dient die Flüchtlingskonzeption, die
Jahre hat sich die Europäische Gemeinschaft als wirt- die Bundesregierung im letzten Jahr vorgelegt hat.
schaftlicher und politischer Stabilitätsanker für ganz Wir müssen uns dabei im klaren sein, daß wir nicht
Europa bewährt. Dies ist allen Partnern, nicht zuletzt alle aufnehmen können, die zu uns kommen wollen.
uns Deutschen, zugute gekommen. Zugleich ist die Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwande-
Bedeutung der Gemeinschaft in der internationalen rungsland.
Politik gestiegen. Sie ist Modell und Vorbild der Zu- (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord-
sammenarbeit anderer Regionen und Staaten gewor- neten der FDP)
den.
Aber die Integration derjenigen, die bei uns leben,
Dennoch sage ich: Wir dürfen uns auf keinen Fall wollen wir fördern. Dem dient das neue Ausländerge-
mit dem Erreichten zufriedengeben. Denn wir müssen setz, das Ende des letzten Jahres in Kraft getreten ist
damit rechnen, daß die Zeit der Veränderungen nicht und das wir jetzt umsetzen. Es gibt den bei uns leben-
vorbei ist und neue Herausforderungen auf uns zu- den Ausländern mehr Klarheit und Sicherheit.
kommen.
(Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Das tut es
Wir brauchen ein einiges und starkes Europa. Ge- wirklich?)
rade die letzten Wochen zeigen uns, wie sehr die Zeit
drängt. Die Bundesregierung wird sich deshalb mit Das Zusammenleben mit unseren ausländischen Mit-
aller Kraft dafür einsetzen, daß noch vor den nächsten bürgern sollten wir als Chance, als eine Bereicherung
Wahlen zum Europäischen Parlament im Frühsommer für unser Volk begreifen. Wir verdanken den Auslän-
1994 die Europäische Union zustande kommt. dern, die bei uns leben, viel.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
bei Abgeordneten der SPD)
Um dies zu erreichen, brauchen wir einen umfas-
senden Ansatz. Das bedeutet im einzelnen: Drittens. Wir wollen kein zentralistisches Europa,
sondern ein Europa der Vielfalt.
Erstens. Wir wollen den großen Europäischen Bin-
nenmarkt mit 340 Millionen Menschen bis zum (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
31. Dezember 1992 vollenden. Damit werden wir die bei Abgeordneten der SPD)
erste grundlegende Etappe auf dem Weg zur Europäi- Europa lebt aus dem kulturellen Reichtum und der
schen Union zurückgelegt haben. Fülle der Tradition und Eigenarten in den Ländern
und Regionen. Dies und die geistige Einheit in den
Zwei Drittel des Binnenmarkt-Programms sind be-
Grundwerten sind eine Quelle seiner Kraft. Wir wol-
reits verwirklicht. Aber wir dürfen — und werden —
len sie bewahren.
in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Ich bin
zuversichtlich, daß wir in der verbleibenden Zeit alle Wir wollen ein vernünftiges Gleichgewicht zwi-
notwendigen Entscheidungen treffen werden. schen den Befugnissen der Gemeinschaft und denen
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 85
Bundeskanzler Dr. Kohl
ihrer Mitglieder. Föderalismus, Subsidiarität und die Sechstens. Wir wollen die Europäische Wirtschafts-
Einbeziehung der Interessen der Regionen sind und Währungsunion verwirklichen. Der Europäische
wichtige Strukturprinzipien für ein lebendiges Europa Rat hat Ende Oktober 1990 in Rom der Regierungs-
der Zukunft. konferenz klare Orientierungen vorgegeben, die mit
Der einzelne Bürger muß stärker als bisher und unseren grundlegenden Vorstellungen übereinstim-
ganz unmittelbar verspüren: Diese Gemeinschaft ist men. Unser Ziel ist eine einheitliche europäische
sein Europa. Währung, die an Stabilität unserer D-Mark nicht
nachsteht.
Neues Element eines solchen Europas der Bürger
könnte eine „Europa Bürgerschaft" sein, die auf der
-
Institutionelle Voraussetzung hierfür ist eine unab-
nationalen Staatsbürgerschaft aufbaut. Ich denke, in hängige Europäische Zentralbank, die in der Endstufe
dieser Perspektive ist dann auch die Frage des Kom- für die Geldpolitik verantwortlich ist und ebenso wie
munalwahlrechts für EG-Bürger zu prüfen. die Deutsche Bundesbank vorrangig der Sicherung
der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Das erfordert
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — von allen Beteiligten — nicht erst später, sondern
Dr. Vogel [SPD]: Ja?) schon jetzt im Vorfeld — verstärkte und dauerhafte
— Ich verstehe gar nicht, Herr Kollege Vogel, daß Sie Fortschritte bei der wirtschaftspolitischen Konvergenz
aller Beteiligten.
das verwundert. Ich bin der Vorsitzende einer Euro-
papartei, wie Sie wissen. Das ist doch ganz selbstver- Siebtens. Wir wollen ein soziales Europa. Die Ge-
ständlich. meinschaftscharta der sozialen Grundrechte muß mit
Leben erfüllt werden. Wir wollen auch die Mitgestal-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — tungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in einem sozia-
Lachen bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Ich len Europa verbessern.
freue mich, daß Sie so schnell lernen, Herr
Kollege!) Achtens. Für uns Deutsche, für die Bundesregie-
rung ist die Parallelität beider Regierungskonferen-
— Das gilt auch für die Kollegen aus der CSU und aus zen von einer grundlegenden Bedeutung. Der Zusam-
der FDP. Wir brauchen da von niemandem Nach- menhang zwischen beiden Vorhaben ist sachlich und
hilfe. politisch zwingend.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Sehr gut! bei der CDU/CSU)
Viertens wollen wir — ich hoffe, daß das Ihre Zu- So wichtig die Verwirklichung der Wirtschafts- und
stimmung findet — , daß das Europäische Parlament Währungsunion ist, sie bliebe nur Stückwerk, wenn
wesentlich mehr Befugnisse erhält. Die europäischen wir nicht gleichzeitig die Politische Union verwirk-
Wähler werden es nicht hinnehmen, im Frühsommer lichten. Um es klar und einfach zu formulieren: Aus
1994 noch einmal ein Europaparlament zu wählen, meiner Sicht ist für die Bundesrepublik nur die Zu-
wenn wir nicht dieses Defizit an Demokratie beseiti- stimmung zu beiden gleichzeitig möglich. Beide Vor-
gen. haben sind unauflöslich miteinander verbunden.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
bei Abgeordneten der SPD)
Dabei bleibt unser Kernziel die politische Einigung
Ich füge hinzu: Das hat natürlich auch Konsequenzen Europas.
für dieses Hohe Haus. Kernpunkte sind insbesondere Natürlich wissen wir alle, daß die Europäische Ge-
die Beteiligung des Parlaments an der Wahl des Prä- meinschaft nicht das ganze Europa ist.
sidenten und der Mitglieder der Kommission sowie
die Stärkung seiner Rechte im Haushaltsbereich, in (Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)
der Gesetzgebung und bei den Außenbeziehungen. Deshalb muß die Gemeinschaft grundsätzlich für an-
Fünftens muß es darum gehen, eine gemeinsame dere europäische Länder offen sein. Das bedeutet
Außen und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die
-
nicht, daß sie von heute auf morgen alle Länder Euro-
langfristig auch die Perspektiven einer gemeinsamen pas aufnehmen könnte. Aber es bedeutet ebensowe-
europäischen Verteidigung einschließt. nig, daß wir europäische Nachbarn in irgendeiner
Weise ausgrenzen wollen. Das gilt in erster Linie für
(Sehr gut! bei der CDU/CSU) die Länder der EFTA, von denen sich einige ja bereits
Das bedeutet, daß auch wir Deutschen zu einem grö- heute um eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft
ßeren Engagement bereit sein müssen. bemühen oder sich darauf hin orientieren.
Die Länder der Gemeinschaft brauchen ein wir- Aber — das füge ich mit Nachdruck hinzu — auch
kungsvolles Instrumentarium in der Außenpolitik, um unsere Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa
ihre Verantwortung besser wahrzunehmen und ihre brauchen die europäische Perspektive.
Interessen besser zur Geltung zu bringen. In der Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
cherheitspolitik wollen wir den europäischen Pfeiler bei Abgeordneten der SPD)
in der bewährten Atlantischen Allianz festigen.
Die neuen Demokratien haben immer wieder be-
Staatspräsident Mitterrand und ich haben vorge- tont, daß für sie der Aufbruch zu Freiheit immer auch
schlagen, daß die Regierungskonferenz zur Politi- eine „Heimkehr nach Europa" bedeutet. Gerade für
schen Union prüfen sollte, wie die Westeuropäische sie ist die Gemeinschaft längst auch zu einem Modell
Union gestärkt und schließlich zu einem Teil der Euro- für wirtschaftlichen Erfolg, für Wohlstand und soziale
päischen Union werden könnte. Sicherheit geworden. Wir treten daher nachdrücklich
86 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


dafür ein, daß die Gemeinschaft an ihren Anstrengun- Man kann nicht oft genug daran erinnern: Es war
gen festhält, die Reformprozesse in Mittel-, Ost- und nicht zuletzt das Bündnis, das den Wandel in Europa
Südosteuropa nach Kräften zu fördern. Die geplanten und in Deutschland entscheidend mit herbeigeführt
Assoziierungsabkommen sind dabei eine wesentliche hat.
Stütze.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Zugleich müssen auch die Länder, die die politi- Aus diesem Wandel hat das Bündnis auch die notwen-
schen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen, dige Konsequenz gezogen. So haben wir in der Gip-
die Option eines späteren Beitritts haben. felerklärung vom Juli 1990 die Weichen zu einer um-
(Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!) fassenden Überprüfung von Strategie und Strukturen
gestellt. An dem neuen Konzept wird intensiv gear-
Die Gemeinschaft wird auf diese Weise zum Kristalli- beitet. Die Bundesregierung ist daran maßgeblich be-
sationspunkt für das Europa der Freiheit, für die Ver- teiligt. Wesentliche Elemente sind: erstens ein politi-
einigten Staaten von Europa. scher Rahmen, der die Sicherheit und Stabilität in
Mit unseren Nachbarn im Mittelmeerraum müssen Europa weiterhin gewährleistet und sich dabei ver-
wir die Zusammenarbeit grundlegend verstärken. stärkt auf kontrollierte Streitkräfteverminderung, ver-
Ihre Stabilität — ich sage das auch im Blick auf die trauensbildende Maßnahmen, aktive Krisenvorsorge
aktuelle Entwicklung — liegt auch in unserem wohl- und Konfliktverhütung sowie friedliche Streitbeile-
verstandenen Interesse. gung abstützt; zweitens eine neue Strategie, die sich
weniger auf Nuklearwaffen abstützt und die die bis-
Das vereinte Deutschland will keine Rückkehr zum herige Vorneverteidigung grundlegend verändert;
Europa von gestern. Alte Rivalitäten und Nationalis- drittens eine Struktur, die sich — mit weiterhin strikt
men dürfen nicht wieder aufleben. Wir wollen ein defensiver Ausrichtung — auf kleinere, beweglichere
neues Europa, das unsere nationale Identität nicht Streitkräfte stützt. Ein weiterer neuer Ansatz könnte
aufhebt, in dem niemand mehr gegen den anderen, in sein, multinationale, d. h. aus Angehörigen verschie-
dem keine Nation im Schatten einer anderen steht, dener Partnerländer gebildete Einheiten zu schaf-
sondern in dem wir gemeinsam einstehen für eine fen.
Zukunft in Frieden und Freiheit, in Wohlstand und
(Beifall bei der CDU/CSU)
Sicherheit.
Das ist ein Weg, den wir in den 50er Jahren ja schon
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einmal beschreiten wollten. Ich bin sicher, daß damit
Dieses neue Europa darf sich nicht nach außen ab- auch der Zusammenhalt im Bündnis weiter verstärkt
schotten. Vor allem bleibt es den Demokratien Nord- werden könnte.
amerikas aufs engste verbunden. Die transatlantische Meine Damen und Herren, bei all dem ist die Prä-
Partnerschaft gründet sich eben nicht auf gemein- senz nordamerikanischer Streitkräfte in Westeuropa
same Feindbilder, sondern auf die Gemeinsamkeit vi- und auf deutschem Boden auch künftig als ein Garant
taler Interessen und grundlegender Werte — und transatlantischer Bindungen unabdingbar.
nicht zuletzt auf historisch gewachsene menschliche,
kulturelle und politische Bindungen. (Beifall bei der CDU/CSU)

Die Rolle und die Verantwortung der USA und Ka- In der „Gemeinsamen Erklärung der 22 Staaten" vom
nadas in und für Europa bleiben für den Frieden und November 1990 haben sich die Mitglieder von NATO
die Sicherheit unseres Kontinents und vor allem auch und Warschauer Pakt die Hand zur Freundschaft und
für das geeinte Deutschland in seiner Mitte von exi- Zusammenarbeit gereicht. Wir haben dies aus der
stentieller Bedeutung. Hoffnung und Überzeugung heraus getan, daß die
Konflikte von gestern endgültig der Vergangenheit
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) angehören.
Die Transatlantischen Erklärungen zwischen den Dies kann und darf aber nicht bedeuten, daß wir auf
Staaten der Europäischen Gemeinschaft und den USA die Fähigkeit verzichten, Frieden und Freiheit auch
und Kanada sind von uns, von der Bundesregierung, künftig vor Bedrohung von außen wirksam zu schüt-
initiiert worden. Wir haben das getan, um diesen zen. Dies bleibt der Auftrag der Bundeswehr an der
Kerngedanken zu bekräftigen — als ein Element der Seite unserer amerikanischen und europäischen Ver-
Kontinuität in einer Zeit großen Wandels. Freund- bündeten.
schaft und Partnerschaft mit den USA sind auch für In einer Demokratie hängt gesicherte Verteidi-
das geeinte Deutschland lebenswichtig. gungsfähigkeit nicht zuletzt vom staatsbürgerlichen
Unverzichtbarer Sicherheitsverbund zwischen Eu- Verantwortungsbewußtsein eines jeden einzelnen ab.
ropa und Nordamerika ist und bleibt die Nordatlani- Deshalb wollen wir auch bei den Bundeswehrangehö-
sche Allianz. Zwar hat der politische Wandel in Eu- ri gen aus den neuen Bundesländern das Leitbild vom
ropa die Konfrontation zwischen Ost und West abge- Staatsbürger in Uniform in überzeugender Weise ver-
baut, und die Sicherheitslage auf unserem Kontinent wirklichen. Deshalb halten wir auch entschieden fest
hat sich trotz verbleibender Risiken spürbar verbes- an der allgemeinen Wehrpflicht.
sert; gleichwohl ist das Bündnis, dem gerade wir, die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Deutschen, so viel verdanken, in keiner Weise über-
flüssig geworden. Sie verbürgt die volle Integration der Streitkräfte in
unsere Gesellschaft. Dies setzt zugleich ein wichtiges
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zeichen des Vertrauens nach außen.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 87
Bundeskanzler Dr. Kohl
Aber auch umgekehrt gilt es, in unserer Gesell- Mit dem in Paris unterzeichneten „Vertrag über die
schaft das Bewußtsein dafür wachzuhalten, daß der konventionellen Streitkräfte in Europa" ist das Funda-
Schutz unserer freiheitlichen Demokratie jeden an- ment einer neuen, ganz Europa umfassenden Sicher-
geht und daß es um des Friedens und der Freiheit heitsarchitektur gelegt. Dieser Vertrag muß zügig ra-
willen auch Lasten in Kauf genommen werden müs- tifiziert und nach Buchstaben und Geist umgesetzt
sen. werden, und zwar überall. Wir haben zum Abschluß
Deshalb ist es wichtig, daß wir bei jeder Gelegen- dieses Vertrags maßgeblich beigetragen.
heit — ich tue dies heute besonders gern — den Sol- Nach unserer Zusage, die Streitkräfte des vereinten
daten unserer Bundeswehr für den Dienst am Frieden Deutschlands auf 370 000 Mann zu vermindern, er-
danken. warten wir, daß in den weiterlaufenden Verhandlun-
gen die anderen Partner mit Maßnahmen zur Begren-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie
zung ihres Streitkräftepersonals auf nationale Höchst-
bei Abgeordneten der SDP)
stärken folgen.
Ich schließe ausdrücklich in diesen Dank auch jene Wir wollen auch den Wiener Verhandlungen über
ein, die aus ihrer persönlichen Gewissensentschei- vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen
dung heraus Zivildienst leisten und anderen helfen. neue Impulse geben, insbesondere bei der Vertrau-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ensbildung unter Nachbarstaaten.
vereinzelt bei Abgeordneten der SPD) Wir treten weiterhin für die möglichst baldige Auf-
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr wird — nahme von amerikanisch-sowjetischen Verhandlun-
der neuen Sicherheitslage in Europa entsprechend — gen über die nuklearen Kurzstreckensysteme ein. Die
grundlegend reformiert. Aber ihr Auftrag ist klar, und veränderte sicherheitspolitische Lage auf unserem
er bleibt: Er heißt Verteidigung. Kontinent erlaubt jetzt die Beseitigung der landge-
stützten nuklearen Kurzstreckenraketen sowie der
Wir werden die Zahl der Verbände und Großver-
nuklearen Artilleriemunition in ganz Europa.
bände verringern. Wir werden aber auch weiterhin
gut ausgebildete und zweckmäßig ausgerüstete Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
heiten haben. Die Verringerung und die Umgestal- Wir setzen bei den Genfer Verhandlungen über
tung der Bundeswehr werden notwendigerweise START und über chemische Waffen sowie beim
auch zu Änderungen in den Standorten führen. Jeder Atomteststopp auf den längst überfälligen Durch-
von uns weiß aus dem Wahlkreis und aus täglichen bruch. Die Fortsetzung der Gipfeldiplomatie zwischen
Erfahrungen, daß dies eine schwierige Sache ist. den USA und der Sowjetunion hat hierbei Schlüssel-
(Zuruf von der FDP: Wie wahr!) bedeutung.
Wir werden versuchen, bei den hier zu treffenden Ent- Unser großes Ziel bleibt eine dauerhafte und ge-
scheidungen auch im Gespräch mit Landesregierun- rechte europäische Friedensordnung, gegründet auf
gen und kommunalen Behörden nach Möglichkeit die Achtung der Menschenrechte, auf freiheitliche
strukturpolitische Belange der betroffenen Länder Demokratie und Soziale Marktwirtschaft.
und Gemeinden in unsere Überlegungen einzubezie- Die „Charta für ein neues Europa", von den Staats-
hen. und Regierungschefs der KSZE im November 1990 in
Meine Damen und Herren, ein Eckstein der Außen- Paris unterzeichnet, setzt hier klare Maßstäbe. Sie
und Sicherheitspolitik des vereinten Deutschlands weist neue Wege und schafft neue gesamteuropäische
bleibt das in meiner Regierungserklärung vom Okto- Institutionen. Aber weder Dokumente noch bürokrati-
ber 1982 vorgegebene Ziel: Frieden schaffen mit we- sche Einrichtungen allein garantieren wirklichen
niger Waffen. Fortschritt in der Sache. Wir werden daher weiterhin
sorgfältig darauf zu achten haben, daß das, was in der
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — „Charta von Paris" niedergelegt ist, auch mit Leben
Frau Köppe [Bündnis 90/GRÜNE]: Ohne!) erfüllt und umgesetzt wird.
Verehrte Frau Kollegin, es mag ja sein, daß Sie in den Dem ersten Treffen der KSZE-Außenminister im
letzten acht Jahren nicht in Deutschland gelebt ha- Juni 1991 in Berlin kommt dabei große Bedeutung zu:
ben; sonst würden Sie einen solchen Zwischenruf Denn dort werden die Weichen für die nächste KSZE-
nicht machen. Gipfelkonferenz in Helsinki 1992 gestellt werden.
(Zustimmung bei der CDU/CSU) Wir wollen auch den Weg zur Konstituierung einer
Meine Damen und Herren, Frieden schaffen mit Parlamentarischen Versammlung der KSZE ebnen.
weniger Waffen — wir haben Wort gehalten. Wir ha- Wir werden ferner auf neue Impulse für die gesamt-
ben auf diesem Weg große Fortschritte erreicht, und europäische Rechtsentwicklung und die marktwirt-
dieser Grundsatz muß für alle Partner des Prozesses schaftliche Kooperation, für grenzüberschreitenden
der Rüstungskontrolle gelten. Und jeder muß wissen, Umweltschutz sowie für Kulturaustausch drängen.
daß Versuche, geschlossene Verträge auf die eine Für das vereinte Deutschland ist der umfassende
oder andere Weise zu umgehen, diesen Prozeß verzö-
Schutz nationaler Minderheiten eine besondere Auf-
gern.
gabe. Wir werden uns mit Nachdruck in den Gremien
Die Bundesregierung wird mit Nachdruck dafür der KSZE, aber auch im Europarat dafür einsetzen.
eintreten, daß Rüstungskontrolle und Abrüstung trotz Der Europarat hat mit der Konvention zum Schutz der
des schwieriger gewordenen Umfeldes vorankom- Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 sehr
men. früh zukunftsweisende Maßstäbe gesetzt.
88 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


Es geht uns dabei — ich will dies unterstreichen — wiesen. Ich möchte auch hier ein Wort des Dankes
verständlicherweise nicht zuletzt um unsere deut- sagen zu der höchst erfreulichen und beispiellosen
schen Landsleute, die in den Staaten Mittel- und Süd- Welle privater Hilfsbereitschaft, die sich in diesem
osteuropas sowie in der Sowjetunion leben. Winter bei uns in Deutschland gegenüber sowjeti-
schen Bürgern in Not gezeigt hat.
(Beifall bei der CDU/CSU)
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
Wir wollen nicht, daß sie in der Ausreise den einzigen SPD)
Ausweg sehen, sondern wir wünschen, daß sie in ihrer
angestammten Heimat wieder eine gesicherte Zu- Wir werden, wie dies vertraglich zugesagt ist, den
kunft für sich und ihre Kinder finden und sich frei ent- sowjetischen Soldaten und ihren Familien, die bis spä-
scheiden können. Dies setzt den Schutz ihrer Rechts- testens 1994 Deutschland verlassen werden, die Wie-
stellung ebenso voraus wie die Chance zur Pflege dereingliederung erleichtern.
ihrer Sprache, Kultur und Tradition sowie die Freiheit Auch die Reformstaaten Mittel- und Südosteuropas
der Religionsausübung, mit einem Wort: die Erleich- werden wir wie bisher auf dem schwierigen Weg zur
terung ihrer Lebensumstände. Die Bundesregierung Sozialen Marktwirtschaft mit Rat und Tat begleiten
wird diese Anliegen auch in bilateralen Vereinbarun- und dafür eintreten, daß die westliche Hilfe wo immer
gen mit den in Frage kommenden Ländern festschrei- möglich noch verstärkt wird.
ben. Jene Deutschen aber, die in ihrer angestammten
Wir sind ganz besonders den Ungarn dankbar. Sie
Heimat für sich und ihre Familie keine Zukunft sehen,
waren es, die im Sommer 1989 ihre Grenzen für Tau-
werden wir auch weiterhin bei uns aufnehmen, und
sende unserer Landsleute geöffnet haben und damit
wir werden ihnen Heimat bieten.
den Weg zur Einheit möglich machten.
Es darf kein Zurück mehr geben auf dem Wege zu (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der
einem größeren Europa in Frieden und Freiheit, das in SPD)
politischer, wirtschaftlicher und sozialer Stabilität zu-
sammenwächst. Das vereinte Deutschland will sein Verhältnis mit
der Republik Polen durch einen Vertrag über gute
Die jüngsten Ereignisse im Baltikum waren ein Nachbarschaft und partnerschaftliche Zusammenar-
schwerer Rückschlag auf diesem Weg. Ich habe an beit umfassend regeln.
Präsident Gorbatschow mit großem Ernst und Nach-
druck appelliert, jeder weiteren Gewaltanwendung Auch mit der CSFR erstreben wir noch in diesem
Einhalt zu gebieten. Jahr — ich hoffe, vor der Sommerpause — eine umfas-
sende vertragliche Grundlage, die einen Schlußstrich
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der unter die leidvolle Vergangenheit zieht und den Weg
SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnis- in eine Zukunft der guten Nachbarschaft weist.
ses 90/GRÜNE)
Wir wollen unsere Heimatvertriebenen in das Werk
Wir haben im Deutschen Bundestag alle politischen der Versöhnung einbeziehen. Sie haben ganz ent-
Kräfte der Sowjetunion nachdrücklich aufgefordert, scheidend zum Aufbau unseres freiheitlichen Ge-
das Recht der baltischen Völker auf Selbstbestim- meinwesens beigetragen. Sie haben sich bereits vor
mung, freie Meinungsäußerung und die Wiederher- 40 Jahren in ihrer Stuttgarter Charta zum Gewaltver-
stellung der Legalität zu garantieren; eine Lösung der zicht bekannt und den Weg zur größeren Einheit Eu-
anstehenden Probleme ausschließlich auf friedlichem ropas gewiesen. Sie verdienen deshalb unseren be-
Wege zu suchen; größtmögliche Zurückhaltung zu sonderen Dank und auch unsere Solidarität. Die Bun-
üben und umgehend den politischen Dialog wieder desregierung wird ihnen und ihren Organisationen
aufzunehmen. ein fairer und verständnisvoller Gesprächspartner
bleiben.
Wir haben zugleich unsere tiefste Überzeugung
zum Ausdruck gebracht, daß nur Demokratie, Men- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
schenrechten und Rechtsstaatlichkeit die Zukunft ge- Meine Damen und Herren, Umfang und Schwere
hört; nur auf sie kann eine dauerhafte und gerechte der Aufgaben, die sich uns in unserem Lande und in
Friedensordnung in Europa gegründet werden. Europa stellen, dürfen unseren Blick nicht verengen.
Das vereinte Deutschland mißt den Beziehungen Das vereinte Deutschland muß weltoffen bleiben. Un-
zur Sowjetunion zentrale Bedeutung bei. Dies unter- sere Mitverantwortung in der Welt ist gewachsen.
streichen die zukunftsweisenden Vereinbarungen, Willy Brandt, der Alterspräsident des Deutschen
die Präsident Gorbatschow und ich im Kaukasus ge- Bundestages, hat bei der Eröffnung dieser Wahlpe-
troffen haben. Mit dem seit 1988 neu geschaffenen riode in Berlin gesagt:
deutschsowjetischen Vertragswerk und seinem
Kernstück, dem „Vertrag über gute Nachbarschaft, Deutschland würde Schuld auf sich laden, wollte
Partnerschaft und Zusammenarbeit", haben wir ein es über seinen eigenen die globalen Sorgen Welt-
festes Fundament gelegt, nicht zuletzt für die Versöh- hunger, Armutswanderungen, Umweltzerstö-
nung der Deutschen mit den Völkern der Sowjet- rung vergessen.
union. Wir werden die Sowjetunion bei ihren Refor- Ich stimme dem ausdrücklich zu.
men, insbesondere bei der Festigung der Demokratie,
(Beifall im ganzen Hause)
der Gewährleistung der Menschenrechte und der
Rechtsstaatlichkeit sowie beim Übergang zur Sozialen Diese und andere globale Herausforderungen, wie -
Marktwirtschaft weiterhin unterstützen. Wir bleiben Überschuldung und Bevölkerungsexplosion, verlan-
nicht bei Deklamationen stehen. Wir haben dies be gen ein Mehr an internationaler Zusammenarbeit.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 89
Bundeskanzler Dr. Kohl
Wir wollen, daß die Mittel und Kräfte, die durch das Gleichzeitig muß sich dort unternehmerische Initia-
Ende des Ost-West-Gegensatzes frei werden, den tive als Motor wirtschaftlicher Entwicklung verstärkt
Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika zugute entfalten können. Die Bundesregierung wird neue
kommen. Auch in diesen Teilen der Welt wird ein Wege prüfen, wie über privatwirtschaftliche Struktu-
Wandel spürbar. In einer Reihe von Ländern setzt sich ren brachliegende produktive Kräfte durch Kredite
mehr und mehr neues, freiheitliches Denken durch, in und Beratung geweckt werden können. Dies ent-
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Wir wollen diese spricht unserem Grundsatz, Hilfe zur Selbsthilfe zu
hoffnungsvolle Entwicklung bei unserer Zusammen- leisten.
arbeit mit diesen Ländern in Rechnung stellen.
Die Verschuldung vieler Entwicklungsländer bleibt
Unseren Beziehungen zum bevölkerungsreichsten eines der drängendsten Probleme der Gegenwart. Wir
und wachstumsstärksten Teil der Welt, zu Asien, mes- werden in den zuständigen internationalen Gremien
sen wir besondere Bedeutung bei. an Strategien zu ihrer Überwindung mitarbeiten. Wir
Wir wollen unsere guten, engen Beziehungen mit werden ferner Rückflüsse aus der Kapitalhilfe vorran-
Japan im wirtschaftlichen, politischen und kulturellen gig für Umweltschutz und Förderung des Privatsek-
Bereich weiter ausbauen. tors in der Dritten Welt einsetzen.

Mit großer Befriedigung stelle ich fest, daß gerade Wir, die Industrieländer und vor allem auch die
in den letzten Jahren der Handel mit Indien und die Bundesrepublik Deutschland als zweitgrößtes Export-
Investitionen dort stark zugenommen haben. land der Welt, haben ein ureigenes Interesse und na-
türlich auch die besondere Verpflichtung, einen freien
Die Volksrepublik China spielt eine verantwor- und weltoffenen Handel zu sichern.
tungsvolle, stabilisierende Rolle in der internationalen
Politik. Wir hoffen alle, daß dieses bevölkerungsreich- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
ste Land der Welt neue Anstrengungen auf dem Weg In diesem Sinne werden wir in der Europäischen
der Reformen nach innen und der Öffnung nach au- Gemeinschaft in den kommenden Wochen alles dar-
ßen unternimmt. ansetzen, die Uruguay-Runde im GATT zu einem er-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der folgreichen Abschluß zu führen. Gerade in der jetzi-
SPD) gen weltwirtschaftlichen Situation benötigen wir für
alle klare und verbindliche Regeln im Welthandel.
Im Rahmen unserer traditionell engen Partnerschaft
werden wir den Staaten Afrikas auch in Zukunft hel- Meine Damen und Herren, die 90er Jahre werden
fen, ihre wachsenden wirtschaftlichen Probleme, das Jahrzehnt des weltweiten Umweltschutzes. Wir
Hungersnöte, Flüchtlingselend und Epidemien zu lin- wissen: Die Erdatmosphäre zu schützen und Klima-
dern und möglichst auf Dauer zu überwinden. schäden zu vermeiden, muß eine weltweite Gemein-
schaftsleistung von Industrie- und Entwicklungslän-
Die Bundesregierung wird zusammen mit ihren eu- dern sein. Wir sind bereit, die Entwicklungsländer bei
ropäischen Partnern die Republik Südafrika auch ihren Bemühungen um eine umweltgerechte Ent-
künftig auf dem schwierigen Weg der inneren Er- wicklung solidarisch zu unterstützen. Dies schließt die
neuerung und Befriedung ermutigen. Ich appelliere Koppelung von Schuldenerleichterungen mit beson-
heute von dieser Stelle aus an alle politisch Verant- deren Maßnahmen zum Schutz der Umwelt ein.
wortlichen, die Apartheid endgültig zu beseitigen und
das Werk der inneren und äußeren Versöhnung zu Der Schutz der tropischen Regenwälder wird dabei
vollenden. ein Schwerpunktthema sein. Die unter maßgeblicher
Beteiligung der Bundesregierung ergriffenen interna-
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der tionalen Initiativen müssen nun so schnell wie mög-
SPD) lich — ehe es zu spät ist — konsequent weiterentwik-
Mit Lateinamerika wollen wir durch Dialog, durch kelt und umgesetzt werden. Die Empfehlungen der
Kooperation und auch durch Öffnung unserer Märkte Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages
— bilateral und im EG-Rahmen — zur Stabilisierung sind dabei eine wichtige Orientierungshilfe.
der Demokratie und der Marktwirtschaft beitragen. Meine Damen und Herren, die verantwortliche Ge-
Dialog und Ausgleich zwischen Nord und Süd wer- staltung der Zukunft zwischen Ost und West, Nord
den die großen Herausforderungen in den neunziger und Süd ist nicht nur eine Aufgabe und Verantwor-
Jahren bleiben. Wir, die Bundesrepublik Deutsch- tung des Staates, sondern eine Verpflichtung aller
land, stehen zu unserer Verantwortung für die Men- Bürger. Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich den
schen in der Dritten Welt. Das heißt konkret: Wir wer- Kirchen und den gesellschaftlichen und humanitären
den als vereintes Deutschland unsere Entwicklungs- Organisationen für ihr Engagement.
hilfe auch in Zukunft steigern.
(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei
Unsere Hilfe kann aber nur dann erfolgreich sein, Abgeordneten der SPD und des Bündnis-
wenn in den Empfängerländern die entscheidenden ses 90/GRÜNE)
Rahmenbedingungen stimmen: die Achtung der
Menschenrechte und der Menschenwürde, demokra- Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, zu Be-
tische und rechtsstaatliche Regierungsformen sowie ginn dieser Erklärung habe ich von der neuen, der
wirtschaftliche Entwicklung statt Anhäufung von Rü- größeren Verantwortung gesprochen, die uns Deut-
stungspotentialen. schen jetzt zuwächst. Dieser Verantwortung werden
wir uns — ob es uns immer genehm ist oder nicht —
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stellen müssen.
90 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Bundeskanzler Dr. Kohl


Mit Erfolg haben wir uns bisher besonders aktiv für Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
wirtschaftliche Stabilität in der Welt eingesetzt. Dies Kollegen, der Weg dorthin wird beschwerlich sein und
allein wird künftig nicht mehr ausreichen. Jetzt wird — wie wir heute mehr denn je wissen — voller Risiken,
von uns auch mehr Mitwirkung an der Lösung welt- ja Gefahren. Aber es lohnt sich, ihn zu gehen — zum
politischer Fragen erwartet. Wohle der Menschen in Deutschland und in Europa
und im Bewußtsein unserer Verantwortung für den
Dies erwarten vor allem unsere Partner und Ver-
Frieden in der Welt. Wir sind dazu bereit!
bündeten. Gemeinsame Interessen bedeuten auch ge-
meinsame Pflichten. Deutschland muß daher künftig (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und
bereit sein, auch selbst an konkreten Maßnahmen zur der FDP)
Sicherung von Frieden und Stabilität in der Welt mit-
zuwirken. Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine Damen und Her-
Eine immer wichtigere Rolle bei der Friedenssiche- ren, die Aussprache zur Regierungserklärung wird,
rung in der Welt spielen die Vereinten Nationen. Mit wie heute morgen schon gesagt, morgen und am Frei-
Recht wird erwartet, daß das vereinte Deutschland tag stattfinden.
sein Engagement in diesem Bereich verstärkt. Hierfür
wollen wir die verfassungsrechtlichen Grundlagen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
klarstellen. Die Bundesregierung wird hierüber das
notwendige Gespräch mit den Bundestagsfraktionen Beschlußfassung über das Verfahren für die
führen. Berechnung der Stellenanteile der Fraktio-
nen
Meine Damen und Herren, der neuen Verantwor-
— Drucksache 12/55 —
tung gerecht zu werden, erfordert Abkehr von man-
chen bequemen Denkschablonen der Vergangenheit. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Es erfordert Mut zur Zukunft. Damit kommen wir unmittelbar zur Abstimmung
Mit der Vereinigung unseres Vaterlandes ist über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD
Deutschland in eine neue Epoche eingetreten. Nach und FDP auf Drucksache 12/55. Wer stimmt dafür? —
fast 200 Jahren hat das Ringen um die politische Ge- Gegenprobe! — Enthaltungen? — Der Antrag ist ge-
stalt unseres Vaterlandes, um seine innere Ordnung gen die Stimmen der PDS und des Bündnisses 90/
und seinen Platz in Europa zu einem glücklichen Ende GRÜNE bei zwei Enthaltungen angenommen.
gefunden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zu-
(Zuruf vom Bündnis 90/GRÜNE: Abwar
satztagesordnungspunkt auf:
ten!)
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gehen
CSU, SPD und FDP
Einheit, Freiheit und friedliches Einvernehmen mit
unseren europäischen Nachbarn eine untrennbare Einsetzung von Ausschüssen
Verbindung ein, und dafür sind wir dankbar. — Drucksache 12/54 —
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
bei einzelnen Abgeordneten der SPD) ZP Einsetzung von Ausschüssen
Ganz Deutschland hat jetzt die Chance, sein inneres — Drucksache 12/39 —
Gleichgewicht, seine Mitte zu finden. Dazu gehört, Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
daß sich auch in Deutschland entfalten kann, was in
anderen Nationen selbstverständlich ist: gelebter Pa- Einsetzung von Ausschüssen
triotismus — — Drucksache 12/53 —
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
ein Patriotismus in europäischer Perspektive, ein Pa- Wir stimmen zunächst über den Antrag der Fraktio-
triotismus, der sich der Freiheit verpflichtet. nen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache
12/54 ab. Wer stimmt dafür? — Gegenprobe! — Ent-
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie haltungen? — Der Antrag ist gegen die Stimmen der
des Abg. Thierse [SPD]) PDS bei einigen Enthaltungen aus dem Bündnis 90/
Es geht jetzt darum, daß das vereinte Deutschland GRÜNE und der PDS angenommen.
seine Rolle im Kreis der Nationen annimmt — mit Wir kommen jetzt zu den Anträgen der Fraktion der
allen Rechten und mit allen Pflichten. Dies wird zu SPD auf den Drucksachen 12/39 und 12/53. Interfrak-
Recht von uns erwartet, und wir müssen dieser Erwar- tionell wird vorgeschlagen, diese Anträge dem Älte-
tung gerecht werden. stenrat zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden?
Es gibt für uns Deutsche keine Nische in der Welt- — Ich sehe keine Widerspruch. Dann ist es so be-
politik. Es darf für Deutschland keine Flucht aus der schlossen.
Verantwortung geben. Wir wollen unseren Beitrag Wie bereits heute morgen mitgeteilt, hat der Kol-
leisten zu einer Welt des Friedens, der Freiheit und lege Poppe fristgemäß einen Antrag auf Erweiterung
der Gerechtigkeit. Das ist unsere Vision: eine neue der Tagesordnung eingereicht. Die Tagesordnung
Odnung für Europa und die Welt, die auf dem Selbst- soll um einen Antrag der Abgeordneten des Bündnis-
bestimmungsrecht der Völker, der Unantastbarkeit ses 90/GRÜNE zur Einsetzung eines Untersuchungs- -
der Menschenwürde und der Achtung der Menschen- ausschusses „Rüstungsexporte Irak" ergänzt wer-
rechte beruht. den.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 91

Präsidentin Dr. Süssmuth


Wird zu diesem Aufsetzungsantrag das Wort ge- Außenwirtschaftsrecht in keiner Weise den Erf order
wünscht? — Bitte schön. Begriff Kriegswaffe neu -nise tprchundaßer
definiert werden muß. Wir dürfen uns nicht auf die
moralische Entrüstung gegenüber einer Handvoll Fir-
Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Frau Präsidentin! men, die vor kriminellen Praktiken nicht zurück-
Meine Damen und Herren! Ich muß leider feststellen, schrecken, beschränken, sondern müssen neue Ge-
daß der Antrag wohl bisher hier noch nicht als Druck- setze schaffen, die der Welt zeigen, daß die Deutschen
sache vorliegt, obwohl wir ihn gestern abend einge- aus ihrer Vergangenheit die richtigen Lehren zu zie-
reicht haben. Das ist uns auch schon beim letzten und hen in der Lage sind. Wir sollten nicht ein sogenanntes
vorletzten Mal passiert. Ich hoffe nicht, daß das zur Drückebergertum gegenüber den Verbündeten be-
Methode wird. klagen, sondern den konsequenten Weg der Beteili-
Ich versuche trotzdem, Ihnen den Sinn des Antrages gung an friedlichen Konfliktlösungen beschreiten.
verständlich zu machen. Es handelt sich um einen Letzteres zeichnete eine Reihe deutscher Politiker in
Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsaus- den vergangenen Jahren aus.
schusses nach Art. 44 des Grundgesetzes zu Rü- Wir wären schlecht beraten, wollten wir nun dem
stungsexporten in den Irak. geduldigen und gleichermaßen konsequent auf Aus-
Das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland ist gleich und Entspannung bedachten Nachkriegsdeut-
durch illegales, verbrecherisches Verhalten deut- schen den Landser früherer Stahlgewitter als lobens-
scher Firmen schwer beschädigt worden. So oder werte Alternative gegenüberstellen. Die Glaubwür-
ähnlich haben sich in den letzten Wochen zahlreiche digkeit der Friedenspolitik darf nicht durch theatra-
deutsche Politiker wie der Bundeswirtschaftsminister lisch vorgebrachte Bündnisschwüre aufs Spiel gesetzt
oder sinngemäß heute auch der Bundeskanzler geäu- werden. Die richtigen Lehren zu ziehen heißt eben
ßert. nicht, nur einige Sündenböcke zu präsentieren, über
denen die allgemeine Entrüstung zusammenschlägt,
Jeder irakische Angriff im Verlauf des Golfkrieges sondern auf allen Ebenen die Fehler zu suchen. Hand-
wird nun von dem Hinweis begleitet werden, daß lungsbedarf besteht demnach nicht nur in der Be-
deutsche Firmen ihn mit ermöglicht haben. Giftgasan- kämpfung verabscheuungswürdiger Praktiken eini-
griffe auf das Volk, das durch von Deutschen herge- ger obskurer Wirtschafts- und Handelsunternehmen,
stelltes und verwendetes Giftgas für immer vernichtet sondern auch und gerade in der Aufdeckung und Re-
werden sollte, werden erneut mit Hilfe von deutschem vision von Versäumnissen und Fehlern des Gesetzge-
Know-how ermöglicht. Firmen aus der Bundesrepu- bers und der Exekutive.
blik wie auch Firmen und offizielle Instanzen der ehe-
maligen DDR sind daran beteiligt. Untersuchungsausschüsse haben bekanntlich unter
anderem die Aufgabe, unbequeme Fragen an die Re-
Nicht genug damit: In Konfliktsituationen wurden gierung zu richten und ihre Mitverantwortung festzu-
jeweils beide Seiten bedient, wodurch sich der Ge- stellen.
winn verdoppelt oder gar vervielfacht hat, denn die
Gestatten Sie mir, gewissermaßen im Vorgriff dar-
Lieferung in Krisengebiete garantiert eine schnellst-
auf, abschließend einige solcher möglichen Fragen
mögliche Anwendung der Waffen und damit baldigen
schon heute zu stellen. Am 25. Januar 1987 hat der
neuen Bedarf.
Außenminister der Bundesrepublik — im Moment ist
Nun wird überlegt, ob Schuld nicht dadurch abzu- er wohl nicht mehr im Raum — in der Fernsehrunde
tragen wäre, daß nach der Lieferung von Angriffswaf- zur damaligen Bundestagswahl auf eine diesbezügli-
fen an den Aggressor dem Verteidiger die Abwehr- che Feststellung sehr vehement eingeworfen: Es ist
waffen zur Verfügung gestellt würden. Das zeugt nicht wahr, daß deutsche Waffen an den Iran und den
zwar von schlechtem Gewissen, ist jedoch nicht die Irak geliefert werden.
beste Lösung. Diese kann nur darin bestehen, daß
endlich die Konsequenz gezogen wird, keine Rü- Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Poppe, Ihre Rede-
stungsexporte mehr in Krisengebiete zu tätigen, auch zeit ist abgelaufen.
nicht in Drittländer, die ihrerseits in Krisengebiete lie-
fern. Da wird es nicht ausreichen, festzustellen, daß Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich bin gleich fertig.
sie dem gleichen Verteidigungsbündnis angehören — Ich frage Sie, Herr Außenminister, ob Sie noch zu
wie die Deutschen. dieser Aussage stehen. Ich frage Sie, was deutsche
Das Beste wäre es also, es gäbe überhaupt keine Waffen sind und ob Sie nicht inzwischen mit mir der
Rüstungsexporte mehr, und das wäre im Grundgesetz Meinung sind, daß die Anlagen, die Chemikalien, das
festgeschrieben. Know-how, die von der Bundesrepublik und der Ex-
(Beifall bei Abgeordneten des Bündnis DDR in den Irak geliefert wurden, als deutsche Waffen
ses 90/GRÜNE und der PDS/Linke Liste) zu bezeichnen sind. Ich frage auch danach, ob — —
Wir wollen in diesem Hause niemandem unterstel-
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Poppe, Sie stellen
len, bewußt zur Eskalation des Golfkonflikts beige-
tragen oder gar den Ausbruch des Krieges ins politi- hier Fragen. Sie haben aber zum Tagesordnungs-
punkt „Aufsetzungsantrag" das Wort. Ihre Redezeit
sche Kalkül gezogen zu haben. Aber dann muß ange-
sichts von neun Ermittlungsverfahren, bei über 110 ist beendet.
nachrichtendienstlichen Hinweisen und angesichts
der Feststellung der Bundesregierung, seit Jahren Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich bitte darum, mich -
seien keine Kriegswaffenexporte mehr genehmigt den letzten Absatz vortragen zu lassen.
worden, festgestellt werden, daß das gegenwärtige (Zurufe von der CDU/CSU)
92 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Poppe
Da dieser Antrag nicht als Drucksache ausgeliefert allerdings nicht so ganz klar. Sie haben mehr zu Ihrem
wurde, muß ich die Gelegenheit haben, wenigstens Antrag in der Sache gesprochen und begründet, wes-
die Begründung zu beenden. halb Sie einen Untersuchungsausschuß an sich für
erforderlich hielten. Darüber wird man sicherlich
Präsidentin Dr. Süssmuth: Ich muß Ihnen sagen: streiten können, auch unterschiedlicher Meinung sein
Die Redezeit beträgt fünf Minuten. Sie haben jetzt können. Aber die Begründung, warum heute die ver-
sechs Minuten in Anspruch genommen. Kommen Sie einbarte Tagesordnung um diesen Punkt erweitert
jetzt bitte zum Abschluß. werden soll, haben Sie nicht geliefert. Weil Sie sie
nicht lieferten, konnten Sie uns auch nicht überzeu-
Poppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Ich frage auch da- gen.
nach, ob Bürgschaften, die noch 1990 mit Zustimmung
Von unserer Seite ist folgendes zu sagen. Dieses
des Bundesfinanzministers und des Ministers für wirt-
Thema ist vom Bundeskanzler in der Regierungser-
schaftliche Zusammenarbeit im Zusammenhang mit
klärung angesprochen worden und ist damit auch
dem Raketenumbauprojekt 144 der Iraki von der Bun-
Thema der Aussprache, die morgen und übermorgen
desregierung übernommen wurden, nicht ebenfalls
stattfindet. Auch in den Ausschüssen des Deutschen
mit dem Export deutscher Waffen gleichzusetzen
Bundestages ist in der letzten Woche dazu gesprochen
sind. Es ist die Frage zu stellen, was die Bundesregie-
worden. Ohne Zweifel werden weitere Berichte erfor-
rung unternommen hat — —
derlich sein. Es wird auch zu prüfen sein — das ist hier
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Poppe, es sind im- angekündigt worden — , inwieweit sich gesetzgeberi-
mer neue Fragen. Ich bitte Sie, jetzt zu beenden. sche Notwendigkeiten ergeben.
(Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE] meldet
Poppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Unser Antrag — — sich zu einer Zwischenfrage)
(Zurufe von der CDU/CSU) — Herr Ullmann, in einer Geschäftsordnungsdebatte
sind Zwischenfragen nicht möglich.
Präsidentin Dr. Süssmuth: Herr Poppe, Ihre Rede-
zeit ist zu Ende. Das alles ist selbstverständlich. Darüber wird in die-
sem Hause und in den Gremien zu beraten sein. Nicht
Poppe (Bündnis 90/GRÜNE) : Unser Antrag enthält dargetan ist, weshalb wir dafür einen Untersuchungs-
natürlich eine ganze Reihe solcher Fragen. Ich werde ausschuß brauchen. Ich sagte eben schon, darüber
Sie mit den einzelnen Fragen aber nicht belasten. könne man unterschiedlicher Meinung sein. Ich ma-
Ich möchte Sie bitten, eine angemessene Aufdek- che darauf aufmerksam: Nach den Erfahrungen, die
kung und Analyse der deutschen Verstrickung in den wir in der vergangenen Legislaturperiode im Hinblick
Golfkrieg zuzulassen und dazu einen kompetenten auf die Drittwirkung der Untersuchungsausschüsse
Untersuchungsausschuß einzusetzen, in dem alle gemacht haben, ist es sehr zweckmäßig, sich den
Fraktionen bzw. Gruppen vertreten sind. Wortlaut des Einsetzungsbeschlusses sehr genau an-
zuschauen und ihn zu prüfen, damit wir auch vor
Präsidentin Dr. Süssmuth: Punkt, Herr Poppe. Gerichten bestehen können.
Das führt mich im übrigen dazu, zu empfehlen, den
Poppe (Bündnis 90/GRÜNE): Ich ersuche Sie, der Antrag noch einmal sehr genau durchzugehen.
Bildung eines derartigen Ausschusses Ihre Zustim-
mung zu geben. Im übrigen ist kein Anlaß, jetzt und heute diesen
Ausschuß einzusetzen, auch nicht, darüber zu bera-
Schönen Dank, meine Damen und Herren. ten. Das kann zu einem späteren Zeitpunkt gerne
(Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei geschehen — aber dann auch nach der notwendigen
der Gruppe der PDS/Linke Liste sowie bei Vorbereitungszeit.
Abgeordneten der SPD)
Dies alles führt mich dazu, ohne jede Aufgeregtheit
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge- dem Hohen Haus für meine Fraktion zu empfehlen,
ordnete Herr Bohl. den Punkt heute nicht auf die Tagesordnung zu neh-
men.
Bohl (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr ver- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
ehrten Damen und Herren! Vielleicht sollten wir den
Vorgang insofern ein wenig verständlicher machen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
als wir noch einmal darauf hinweisen, daß es im Mo-
ment nur um eine Geschäftsordnungsdebatte geht. Es
gibt einen Antrag vom Bündnis 90, der vorsieht, daß Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge-
ein Untersuchungsausschuß zu dem hier genannten ordnete Herr Struck.
Themenkomplex eingesetzt werden soll. Dieser An-
trag hat nicht die Zahl Unterschriften, die nach unse-
rem Grundgesetz notwendig ist, um einen Untersu-
chungsausschuß einzusetzen, weil das Bündnis 90 Dr. Struck (SPD) : Frau Präsidentin! Meine Damen
nicht so viele Mitglieder in diesem Hause hat, daß und Herren! Um Mißverständnisse gleich von vorne-
damit ein Untersuchungsausschuß eingesetzt werden herein auszuräumen: Es geht nicht darum, daß wir
kann. nicht bereit wären, in diesem Hause die skandalösen
Nun will das Bündnis 90, daß dieser Punkt heute Vorgänge, die wir insbesondere seit gestern abend
hier behandelt wird. Die Begründung dafür war mir zur Kenntnis nehmen müssen, nämlich daß deutsche
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991 93
Dr. Struck
Firmen an der Modernisierung von Scud-Raketen be- die Tagesordnung des Deutschen Bundestages än-
teiligt gewesen sein sollen, rückhaltlos aufzuklären. dern — das zu einem Zeitpunkt, wo die Gremien des
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deutschen Bundestages noch nicht einmal die Gele-
der CDU/CSU und der PDS/Linke Liste) genheit gehabt haben, ihre Arbeit aufzunehmen, die
entsprechenden Berichte der Bundesregierung zu
Es geht auch darum, meine sehr verehrten Damen diesen Fragen entgegenzunehmen, sich die Kennt-
und Herren — das nehme ich für unsere Fraktion mit
nisse zu verschaffen, wie man gegebenenfalls einen
Recht in Anspruch — , noch einmal klar darauf hinzu- Untersuchungsauftrag sinnvollerwei se formuliert
weisen, daß wir bereits im Mai 1989 einen Antrag usw.
„Rüstungsexporte deutscher Unternehmen in den
Irak" eingebracht haben. Leider, meine Damen und (Beifall bei der FDP)
Herren, hat ihn die damalige Regierungsmehrheit ab- Aus diesem Grunde empfehle ich den Kolleginnen
gelehnt. Wir werden auf diesen Antrag wieder zu- und Kollegen vom Bündnis 90, diesen Antrag mögli-
rückkommen und ihn weiter verfolgen. cherweise doch noch im letzten Moment zurückzuzie-
(Beifall bei der SPD und der PDS/Linke hen. Ansonsten müßten wir den Antrag auf Änderung
Liste) der Tagesordnung heute zurückweisen.
Die SPD-Bundestagsfraktion wird heute einen wei- (Beifall bei der FDP)
teren Antrag einbringen, der sich mit Rüstungsexpor-
ten deutscher Unternehmen in den Irak beschäftigt.
Nach den vollmundigen Ankündigungen insbeson- Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat abschlie-
dere des neuen Wirtschaftsministers, die allerdings, ßend der Abgeordnete Herr Kollege Briefs.
muß ich sagen, im starken Gegensatz zu seinem bis-
herigen Verhalten stehen,
(Beifall bei der SPD) Briefs (PDS/Linke Liste) : Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich erkläre hiermit die volle Zu-
gehe ich davon aus, daß die Berichte, die wir über die
stimmung der Fraktion der PDS zum Antrag der Frak-
Lieferungen von Rüstungsgütern in den Irak anfor-
tion Bündnis 90/GRÜNE.
dern, von der Bundesregierung unverzüglich erarbei-
tet, vorgelegt und zum Gegenstand der Debatte im Damit wir es klar sagen: Die deutsche Rüstungsin-
Deutschen Bundestag gemacht werden. Deshalb wer- dustrie ist ein Sumpf, und dieser Sumpf muß endlich
den wir der Aufsetzung auf die Tagesordnung heute, einmal trockengelegt werden. Profitmacherei der
Herr Kollege Poppe, nicht zustimmen. Das bedeutet deutschen Rüstungsindustrie mit Mitteln des Völker-
natürlich nicht, daß wir uns dem Anliegen nicht ge- mordes darf dieses Parlament nicht zulassen. Ein Un-
nauso verpflichtet fühlten wie Sie. tersuchungsausschuß des Bundestages ist dazu ein
geeignetes Mittel: Er ist geeignet, die ordentlichen,
Aber ich möchte Ihnen auch den Hinweis geben,
daß man mit dem schärfsten Argument, das ein Parla- die kriminellen und auch die halbkriminellen Prakti-
ken der deutschen Rüstungsindustrie transparent zu
ment hat, um die Regierung zu überwachen, dem
machen, und das ist angesichts der Erfahrungen im
Untersuchungsausschuß, sorgfältig umgehen muß.
Golfkrieg überfällig.
Bevor man nicht genügend abgesicherte Fakten hat,
Herr Kollege Poppe, würde die Einsetzung des Instru- (Zurufe von der CDU/CSU)
ments Untersuchungsausschuß eher kontraproduktiv Deshalb meinen wir auch, daß es überfällig ist, heute
als produktiv wirken. Deshalb empfehle ich Ihnen, die die Tagesordnung entsprechend zu erweitern. Des-
Angelegenheit noch einmal genau zu prüfen. halb nochmals: Wir stimmen dem voll und ganz zu.
Wir werden ab morgen das Thema Rüstungsexporte (Beifall bei der PDS/Linke Liste)
in den Irak sehr eingehend hier diskutieren.
(Beifall bei der SPD)
Präsidentin Dr. Süssmuth: Meine Damen und Her-
Präsidentin Dr. Süssmuth: Das Wort hat der Abge-
ren, wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für
ordnete Herr Hoyer. diesen Aufsetzungsantrag? — Wer stimmt dagegen?
— Enthaltungen? — Damit ist der Aufsetzungsantrag
gegen die Stimmen des Bündnisses 90/GRÜNE und
Hoyer (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen und der PDS bei einer Enthaltung abgelehnt.
Herren! Es ist überhaupt keine Frage, daß die skan- Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages-
dalösen Vorgänge, die es im Zusammenhang mit Rü- ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut-
stungsexporten offensichtlich oder möglicherweise schen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den
gibt, dringend der rückhaltlosen Aufklärung bedür- 31. Januar 1991, 9 Uhr ein.
fen. Hier geht es nur um die Frage der Zweckmäßig-
keit, ob wir um der Beratung eines Antrages auf Ein- Die Sitzung ist geschlossen.
setzung eines Untersuchungsausschusses willen jetzt (Schluß der Sitzung: 12.57 Uhr)
94* Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 5. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 30. Januar 1991

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage entschuldigt bis


Abgeordnete(r) Fraktion
einschließlich
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Lüder FDP 30. 01.91
entschuldigt his Matschie SPD 30. 01.91
Abgeordnete(r) Fraktion Dr. Müller CDU/CSU 30. 01. 91*
einschlß
Dr. Neuling CDU/CSU 30. 01. 91
Antretter SPD 30. 01. 91*
Otto (Frankfurt) FDP 30. 01. 91
Bindig SPD 30. 01. 91*
Pfuhl SPD 30. 01. 91
Frau Blunck SPD 30. 01. 91*
Rappe (Hildesheim) SPD 30. 01. 91
Böhm (Melsungen) CDU/CSU 30. 01. 91*
Reddemann CDU/CSU 30. 01. 91*
Frau Brudlewsky CDU/CSU 30. 01. 91
Repnik CDU/CSU 30. 01. 91
Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 30. 01. 91*
Dr. Schäuble CDU/CSU 30. 01. 91
Buwitt CDU/CSU 30. 01. 91
Dr. Scheer SPD 30. 01. 91*
Erler SPD 30. 01. 91
Schmidbauer CDU/CSU 30. 01. 91
Frau Eymer CDU/CSU 30. 01. 91
von Schmude CDU/CSU 30. 01. 91*
Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 30. 01. 91* SPD 30. 01. 91*
Dr. Soell
Dr. Gautier SPD 30. 01. 91
Dr. Sperling SPD 30. 01. 91
Dr. Gysi PDS 30. 01. 91
Spilker CDU/CSU 30. 01. 91
Kittelmann CDU/CSU 30. 01. 91* 30. 01. 91*
Steiner SPD
Klinkert CDU/CSU 30. 01. 91 30. 01. 91
Dr. Töpfer CDU/CSU
Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 30. 01. 91 30. 01. 91
Frau Wollenberger Bündnis
90/GRÜNE
* für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Wonneberger CDU/CSU 30. 01. 91
lung des Europarates Zierer CDU/CSU 30. 01. 91*

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